Protokoll:
16143

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 143

  • date_rangeDatum: 15. Februar 2008

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:18 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/143 Reform des Erbschaftsteuer- und Bewer- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Finanzmärkte stabilisieren (Drucksache 16/7531) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aktionsplan „Finanzmärkte demokratisch kontrollieren, Konjunk- tur und Beschäftigung stärken“ – Aus den internationalen Finanzturbulenzen Konsequenzen ziehen (Drucksache 16/7191) . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . tungsrechts (Erbschaftsteuerreformgesetz – ErbStRG) (Drucksache 16/7918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 15079 B 15079 C 15079 D 15085 A 15086 B 15103 D 15103 D 15106 D 15108 B 15109 B 15111 B 15113 A 15114 D 15117 D Deutscher B Stenografisc 143. Si Berlin, Freitag, den I n h a Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Laurenz Meyer (Hamm) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: Lage der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 24: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und 15079 A 15079 B Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15088 D 15091 A undestag her Bericht tzung 15. Februar 2008 l t : Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eduard Oswald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortwin Runde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur 15093 B 15095 A 15096 C 15098 A 15099 D 15101 A 15102 C Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 15118 D 15120 A 15120 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: b) Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zwangsverheiratung durch Verbesserung des Opferschutzes wirk- sam bekämpfen (Drucksache 16/7680) . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Ekin Deligöz, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Zwangsverheira- tung bekämpfen – Opfer schützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer stär- ken und schützen – Gleichstellung durch Integration und Bildung för- dern – zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Karin Binder, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für einen Schutz der Opfer von Zwangsver- heiratungen, für die Stärkung ihrer Rechte und die längerfristige Be- kämpfung der Ursachen patriarcha- ler Gewalt (Drucksachen 16/61, 16/1156, 16/1564, 16/4910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15121 D 15122 D 15123 B 15123 C 15123 D 15125 B 15126 B 15127 D 15129 A 15130 A 15131 A 15132 A 15132 D Tagesordnungspunkt 25: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Tierschutzbericht 2007 (Drucksache 16/5044) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Tier- schutzgesetzes (Drucksache 16/7413) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerd Müller, Parl. Staatssekretär BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Jahr (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Bevölkerungsschutzsystem reformieren – Zuständigkeiten klar regeln (Drucksache 16/7520) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rechtsan- spruch auf Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkommen (Drucksachen 16/5247, 16/7171) . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von EU- Agenturen (Drucksache 16/7746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 15134 C 15134 D 15134 D 15136 C 15138 B 15139 D 15141 A 15142 A 15143 D 15145 B 15145 C 15145 C 15146 D 15147 C 15148 D 15149 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 III Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle von EU-Agenturen (Drucksache 16/8049) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Men- 15149 C 15149 D 15151 A 15152 B 15153 D 15155 A 15156 A 15156 D Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes – Entwurf eines Gesetzes für eine men- schenfreundliche Medizin – Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes – Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Em- bryonenschutzes im Zusammenhang mit menschlichen embryonalen Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG) – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes – Antrag: Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzell- forschung fördern (142. Sitzung, Tagesordnungspunkt 4 a bis e) Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bevölkerungsschutzsystem re- formieren – Zuständigkeiten klar regeln (Ta- gesordnungspunkt 26) 15151 D schen mit geringem Einkommen (Tagesord- nungspunkt 27) Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von EU-Agenturen – Gerichtliche und parlamentarische Kon- trolle von EU-Agenturen (Tagesordnungspunkt 28 und Zusatztagesord- nungspunkt 7) Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Eduard Lintner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15147 C 15148 B 15149 B 15160 A 15160 D 15161 C 15162 B 15163 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15079 (A) (C) (B) (D) 143. Si Berlin, Freitag, den Beginn: 9
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    2) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15151 (A) (C) (B) (D) ein erheblicher Standortfaktor für den Forschungsstand- ort Bundesrepublik Deutschland.Schily, Otto SPD 15.02.2008 Deutschland zu betreiben. Die Forschung an embryona- len Stammzellen ist eine große Chance, der Medizin neue Erkenntnisse zu verschaffen und der Klärung der Humangenese näher zu kommen, und nicht zuletzt auch Paula, Heinz SPD 15.02.2008 Poß, Joachim SPD 15.02.2008 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 15.02.2008 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 15.02.2008 Blumentritt, Volker SPD 15.02.2008 Bodewig, Kurt SPD 15.02.2008 Brand, Michael CDU/CSU 15.02.2008 Burchardt, Ulla SPD 15.02.2008 Eichel, Hans SPD 15.02.2008 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 15.02.2008 Grosse-Brömer, Michael CDU/CSU 15.02.2008 Dr. Hemker, Reinhold SPD 15.02.2008 Hinz (Essen), Petra SPD 15.02.2008 Hoff, Elke FDP 15.02.2008 Hoffmann (Wismar), Iris SPD 15.02.2008 Jelpke, Ulla DIE LINKE 15.02.2008 Jung (Karlsruhe), Johannes SPD 15.02.2008 Kelber, Ulrich SPD 15.02.2008 Kramer, Rolf SPD 15.02.2008 Kramme, Anette SPD 15.02.2008 Kranz, Ernst SPD 15.02.2008 Krichbaum, Gunther CDU/CSU 15.02.2008 Lafontaine, Oskar DIE LINKE 15.02.2008 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 15.02.2008 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 15.02.2008 Nitzsche, Henry fraktionslos 15.02.2008 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes – Entwurf eines Gesetzes für eine menschen- freundliche Medizin – Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes – Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonen- schutzes im Zusammenhang mit menschli- chen embryonalen Stammzellen (Stammzell- gesetz – StZG) – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stammzellgesetzes – Antrag: Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzellfor- schung fördern (142. Sitzung, Tagesordnungspunkt 4 a bis e) Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Worüber beraten wir heute? Im Prinzip über die Bereitschaft, politisch der deutschen Forschung – speziell der Gesundheitsfor- schung – zu ermöglichen, Grundlagenforschung hier in Schultz (Everswinkel), Reinhard SPD 15.02.2008 Schwabe, Frank SPD 15.02.2008 Dr. Stadler, Max FDP 15.02.2008 Steinbach, Erika CDU/CSU 15.02.2008 Steppuhn, Andreas SPD 15.02.2008 Strothmann, Lena CDU/CSU 15.02.2008 Wicklein, Andrea SPD 15.02.2008 Zeil, Martin FDP 15.02.2008 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 15152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) Die öffentliche Diskussion der vergangenen Monate rankte sich ja weitgehend um die Frage nach dem Be- ginn des Lebens und die Frage, ob menschliches Leben durch die embryonale Stammzellforschung vernichtet wird oder ein Anreiz zur Vernichtung menschlichen Le- bens gesetzt wird. Dieser ethische Disput ist wichtig – aber bei der be- stehenden Rechtslage in Deutschland nicht zu Ende ge- dacht. Wenn wir uns tatsächlich auf die Position stellen, dass jede Forschung an embryonalen Stammzellen Le- ben vernichtet, müssen wir konsequenterweise sofort jede Form der Abtreibung, der künstlichen Befruchtung, ja selbst der „Pille danach“ oder der sogenannten Spirale verbieten. Gerade bei letztgenannten Methoden werden in erheblichem Maße embryonale Zellen getötet. Wollen wir dies wirklich? Wollen wir den Abtreibungs-Touris- mus der 60er-Jahre wirklich wiederbeleben? Fakt ist, dass es weltweit ein reichliches Angebot an Stammzelllinien gibt. Keiner kann im Ernst behaupten, dass durch die deutsche Forschung ein Anreiz irgend- welcher Art entsteht, menschliches Leben zu töten. Sol- len deutsche Forscher, die auf diesem Gebiet erhebliche Kompetenz haben, gezwungen werden, ins Ausland zu gehen? Sollen die international gewonnenen Erkennt- nisse und in Zukunft möglichen Therapieformen den deutschen Patienten vorenthalten werden – oder nur per Gesundheits-Tourismus zur Verfügung stehen? Wir haben hier in der Bundesrepublik eine weltweit einmalige, sichere und öffentlich ethisch kontrollierte Forschung. Ich traue unseren Forschern und den sie be- gleitenden Ethikkommisionen zu, verantwortlich mit den Ressourcen umzugehen. Ich bin nicht sicher, ob in- ternational diese Standards überall gewahrt sind. Eines ist sicher: Es wird weltweit an embryonalen Stammzellen geforscht – egal was wir hier beschließen, welche Hürden wir errichten. Die Forschung an diesen Zellen ist erforderlich, um auch die Mechanismen der adulten Stammzellen zu verstehen. Die Frage nach der schon vorhandenen Therapierele- vanz ist nicht fair. Wir befinden uns im Stadium der Grundlagenforschung, erste Erkenntnisse sind sehr viel- versprechend – aber es ist nun mal das Wesen von For- schung, speziell von Grundlagenforschung, dass fest de- finierte Ergebnisse nicht vorformulierbar sind. Wir brauchen diese für unsere Menschen, zur Erklärung un- serer Genese und nicht zuletzt auch zur Weiterentwick- lung unserer Medizin. Vertrauen wir auf unsere Forscher, lassen wir Sie arbeiten, sie haben unser Vertrauen verdient. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bevölkerungsschutz- system reformieren – Zuständigkeiten klar re- geln (Tagesordnungspunkt 26) Beatrix Philipp (CDU/CSU): Der uns vorliegende Antrag der FDP-Fraktion zur Reformierung des Bevöl- kerungsschutzsystems – eindeutig getragen von dem Wunsch nach klaren Zuständigkeiten – zeigt deutlich, dass der Informationsfluss innerhalb der FDP-Fraktion ausgesprochen gut ist. Aber das trifft natürlich auch auf meine Fraktion zu: Auch wir wissen, was im Haushalts- ausschuss des Deutschen Bundestages am 7. November des vergangenen Jahres beschlossen wurde. Ich will es für uns alle noch einmal ins Gedächtnis rufen: Der Haushaltsausschuss forderte das BMI auf, bis zum 1. Juli 2008 – also bis in circa einem halben Jahr ab heute gerechnet – ein Konzept zum gesamten Bereich des Bevölkerungsschutzes vorzulegen. Dieses Konzept soll die rechtlichen Grundlagen und vor allem die Zu- sammenarbeit bzw. die Kompetenzregelungen zwischen Bund und Ländern ausweisen. Nun kommt der gravierende Unterschied zwischen Ihnen von der FDP und uns: Wir wissen und können uns darauf verlassen, dass das Innenministerium unter Herrn Innenminister Dr. Schäuble einen solchen Auftrag nicht nur zur Kenntnis und ernst nimmt, sondern den Auftrag auch zügig umsetzt. Ich will Ihnen nicht unbedingt un- terstellen, dass Sie mit diesem Antrag den Eindruck erwecken möchten, ohne Sie täte sich nichts, oder es be- dürfe Ihres Antrages, um die Regierung auf Trab zu brin- gen. Aber etwas merkwürdig ist Ihre Einlassung schon: Nach einer „Schamfrist“ von etwa vier Wochen setzen Sie sich hin und schreiben das auf, was bereits beschlos- sen und auf den Weg gebracht worden ist. Aber weil wir nett sind, debattieren wir Ihren Antrag heute und nutzen die Gelegenheit, den Menschen in un- serem Land zu sagen, auf welchem Stand der Verhand- lungen wir derzeit sind. Dabei ist besonders bemerkens- wert, dass hier fast ein Kunststück gelungen ist, zu dem man uns eigentlich beglückwünschen müsste: Dank des Verhandlungsgeschicks unseres Innenministers und sei- ner Beamten ist es tatsächlich gelungen, was kaum noch jemand glauben wollte und der vorigen Regierung aus unterschiedlichen Gründen eben nicht gelungen ist, einen Konsens mit den Ländern zu finden! Dabei geht es um die Ausstattung im Katastrophenschutz und die besondere Berücksichtigung des in diesem Bereich anzutreffenden besonders großen ehrenamtlichen En- gagements. Ich freue mich deshalb ganz besonders darüber, weil gerade dieses Engagement der Ehrenamtli- chen in den vergangenen Jahren erheblich in den Hinter- grund getreten war. Zeitweise gab es sogar erhebliche Befürchtungen in Bezug auf die Zukunftsaussichten der Hilfsorganisatio- nen; ich will das hier nicht weiter ausführen. Wie gesagt, Sie wissen genau, dass das Bundesministerium des In- nern längst an einer Reform des Bevölkerungsschutzes arbeitet. Wer den Mitgliedern des Haushaltsausschusses nicht glauben wollte, konnte dies sogar im Behörden Spiegel im vergangenen November nachlesen. Auch die in ihrem Antrag unter II. formulierten Forderungen sind wenig kreativ: Sie wiederholen – fast gleichlautend – die Anre- gungen, die bereits in den Beschlüssen der Innenminis- terkonferenz vom Frühjahr 2007 zu finden sind. Um es zusammenzufassen: Das Bundesinnenministerium arbei- tet aktuell an Eckwerten für einen Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Zivilschutzgesetzes. Bisher regelt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15153 (A) (C) (B) (D) das Zivilschutzgesetz nur den Schutz der Bevölkerung in militärischen Krisen und Lagen. Die bestehende Aufga- benteilung zwischen Bund und Ländern – und zwar auf- seiten des Bundes für den Verteidigungsfall und aufseiten der Länder für den Katastrophenschutz – ist heute über- holt. Das liegt darin begründet, dass einerseits der klassi- sche Verteidigungsfall glücklicherweise eher unwahr- scheinlich geworden ist und andererseits die heutigen Herausforderungen und Bedrohungen eher im Bereich der großen Naturkatastrophen bzw. des internationalen Terro- rismus liegen. Diesen aktuellen Herausforderungen wird das geltende Zivilschutzgesetz aber nicht mehr gerecht. So besteht der Bedarf für eine Anpassung des Gesetzes an die eben genannten neuen Bedrohungslagen, wie zum Beispiel ABC-Lagen oder etwa einem Massenanfall von Verletzten bei Katastrophen jeder Art. Die Leistungen des Bundes haben in den vergangenen Jahren bereits den neuen Bedrohungslagen Rechnung getragen. Dieser Anpassungs- und Umstellungsprozess wurde 2002 durch die Innenministerkonferenz in die Wege geleitet, als diese die sogenannte „Neue Strategie“ beschloss. Auf ihrer Frühjahrssitzung 2007 hat die In- nenministerkonferenz die Neuausrichtung des Bundes im Bevölkerungsschutz ausdrücklich begrüßt. Weiterhin forderte sie, dass der Bund zusätzlich zu seiner Zustän- digkeit für den Schutz der Bevölkerung im Verteidi- gungsfall auch die gesetzliche Befugnis erhalten solle, die Länder beim Schutz der Bevölkerung in Fällen terro- ristischer Anschläge sowie bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen, die das Gebiet mehr als eines Landes gefährden, zu unterstützen. Genau diesen Forderungen der Landesinnenminister bzw. den neuen Herausforde- rungen wird das neue Gesetz gerecht werden. Fragen hinsichtlich einer Stärkung der Koordinierungskompe- tenz des Bundes bei der Bewältigung von Großkatastro- phen und länderübergreifenden schweren Unglücksfäl- len befinden sich noch in der Abstimmung mit den Ländern. In diesem Zusammenhang gilt es zu berück- sichtigen, dass eine solche länderübergreifende Gefah- renlage ein einziges Bundesland bei der Gesamtkoordi- nation leicht überfordern kann. Daher könnte eine Koordinierungskompetenz des Bundes durchaus eine sinnvolle Ergänzung sein. Mit dem neuen Ausstattungskonzept ist Folgendes vorgesehen: Der Bund zieht sich aus der bisherigen flä- chendeckenden Grundversorgung, wie sie mit Blick auf den traditionellen Verteidigungsfall geboten war, zurück. Dafür konzentriert er sich angesichts aktuell in den Vor- dergrund gerückter neuer Bedrohungslagen auf Spezial- fähigkeiten mit den Schwerpunkten ABC-Schutz und Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten: weg vom Gießkannenprinzip und hin zu einer gefährdungs- orientierten und damit schwerpunktmäßigen Vorsorge für Sonderlagen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich immer dafür stark gemacht, dass der Bund für den Katastrophenschutz eigene Mittel bereithält, um die Länder in ihren Aufgaben zu unterstützen. Grundsätzlich ist Katastrophenschutz zwar Ländersache und damit auch deren Finanzierung, aber es ist eine jahrelang ge- übte Praxis, dass der Bund sich am Katastrophenschutz beteiligt. Wie gesagt, nach anfänglichen Widerständen sind die Länder nun mit diesem neuen Konzept einver- standen. Ihnen werden selbstverständlich Übergangszei- ten eingeräumt, um sich auf die veränderten Unterstüt- zungsleistungen des Bundes einzustellen und für die Bereiche, die der Bund nicht mehr prioritär ansieht, selbst Vorsorge zu treffen. Ich habe es bereits eingangs erwähnt: Ohne die vielen Menschen, die sich tagtäglich in den verschiedenen Hilfsorganisationen freiwillig engagieren und ihre Frei- zeit in Einsätzen und für Übungen opfern, wären alle Ausstattungskonzepte dieser Welt ohne Wert und unsere Gesellschaft ein deutliches Stück ärmer. Dieses ehren- amtliche Engagement gilt es zu erhalten und zu fördern. Gerade dieser Aufgabe fühlt sich die CDU/CSU-Bun- destagsfraktion in besonderem Maße verbunden und auch verpflichtet. Deshalb möchte ich es an dieser Stelle nicht versäumen, meinen ausdrücklichen Dank und vor allem meine Anerkennung allen Ehrenamtlichen für die geleistete, sehr wertvolle Arbeit auszusprechen. Auch unter diesem Aspekt ist mit dem neuen Ausstattungskon- zept eine gute Lösung gefunden worden. Natürlich ist es jeder Fraktion dieses Hauses unbenommen – und erst recht der Opposition –, mit Anträgen die Regierung zum Handeln aufzufordern. Und natürlich nehmen wir Anre- gungen auf und ernst! Dieser Antrag fällt leider nicht in diese Kategorie, weil er das umständlich fordert, was schon längst in der Mache ist. Aber einem guten parla- mentarischen Brauch folgend überweisen wir auch – ei- gentlich unnötige, weil überflüssige – Anträge in den Ausschuss; also auch diesen. Gerold Reichenbach (SPD): Für die Väter des Grundgesetzes war nur eine Situation vorstellbar, in der Infrastruktur und Aufrechterhaltung eines geregelten öf- fentlichen Lebens bundesweit bedroht sind – nämlich der Kriegs- beziehungsweise Verteidigungsfall. Darum ist im Grundgesetz unser Notfallsystem zwei- geteilt: In Friedenszeiten sind die Länder für den Kata- strophenschutz zuständig. Im Verteidigungsfall ist der Bund für den Schutz der Bevölkerung zuständig. Nach dem Ende der Blockkonfrontation hat sich die Bedrohung der Bundesrepublik durch einen umfassen- den militärischen Angriff drastisch reduziert – und damit die Anforderung an den Zivilschutz des Bundes. Spätestens die Elbeflut 2002 aber machte deutlich: Naturkatastrophen können Dimensionen erreichen, die weit über die Grenzen eines Bundeslandes hinausgreifen und deren Bewältigung die gesamte Republik fordert. Dies sind nicht mehr nur seltene Jahrhundertereignisse. Die Auswirkungen des Klimawandels werden zu einer Häufung und Verschärfung von Naturkatastrophen auch bei uns führen. Der Terroranschlag in den USA 2001 zeigt, auch Ge- walt unterhalb der Kriegsschwelle kann verheerende Schäden verursachen. Neue Bedrohungsszenarien und wachsende Verwund- barkeiten in Friedenszeiten treten ins Bewusstsein: Infra- strukturausfälle etwa in der Stromversorgung oder der IT-Kommunikation, Zusammenbruch der Lieferketten – 15154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) Katastrophen mit bundesweit oder gar europaweit ver- heerenden Auswirkungen. Dabei sind die Ursachen nicht erheblich. Technisches Versagen, Naturkatastrophen, Terroran- schläge oder eine Pandemie können solche Katastrophen auslösen. Ob bei einer Pandemie nun 10 Prozent der Be- völkerung erkranken oder 30 Prozent oder gar 50 Pro- zent und mehr – das Leben der Menschen, das von Just- in-time-Lieferketten, Stromversorgung und Kommuni- kation abhängig geworden ist, wäre zusätzlich zu der Vielzahl von Erkrankten bedroht. Die Bedrohung ist real. Unter Fachleuten ist es keine Frage mehr, ob eine Pandemie kommt, sondern nur wann. Die bestehende Aufgabenteilung zwischen Zivil- schutz als Bundesaufgabe und Katastrophenschutz als reine Länderaufgabe ist historisch überholt. Sie ist zur Bewältigung dieser neuen Bedrohungen ungeeignet. Wir haben ein bewährtes und gutes System zur Be- wältigung der alltäglichen Gefahrenabwehr und zur Be- wältigung von Großschadensereignissen, die ein oder zwei Bundesländer betreffen. Aber auf die Bewältigung solcher Szenarien, die bundesweite Auswirkungen ha- ben, sind wir völlig unzureichend vorbereitet. Es gibt er- hebliche Defizite, etwa bei der Sanitätsversorgung oder den Management- und Führungsfähigkeiten für solche zivilen Großkatastrophen. Diese Defizite werden wir auf der Länderebene alleine nicht beheben können. Es ist kein Zufall, dass nach der Erfahrung des Elbe- hochwassers im Jahre 2002 von der Innenministerkon- ferenz die „Neuen Strategien zum Schutz der Bevölke- rung“ verabschiedet wurden, um länderübergreifende Katastrophenlagen wie die erlebten Überschwemmun- gen besser bewältigen zu können. Die Koordinierung und Kooperation zwischen Bund und Ländern sollte ver- bessert werden. Die jeweilige Verantwortung sollte sich künftig nicht mehr am Anlass – ob Krieg oder Frieden –, sondern an der Schwere des Ereignisses orientieren. Seitdem wartet diese neue Strategie auf ihre Umsetzung – und zwar sowohl was ihre gesetzliche Basis als auch eine gemeinsam abgestimmte Gefährdungsanalyse be- trifft. Wir Sozialdemokraten haben vielfach auf diese Schutzlücken hingewiesen. Die Bemühungen des Bun- des – insbesondere unter der rot-grünen Regierung –, Verantwortung für zivile Katastrophenlagen zu überneh- men, sind bisher am Beharrungsvermögen der Mehrzahl der Länder gescheitert. Unsere Vorschläge dazu in der Föderalismuskommis- sion hat der Verhandlungsführer der Länder, Edmund Stoiber, brüsk zurückgewiesen. Der niedersächsische In- nenministers Schünemann fordert sogar immer wieder, hier jegliche Verantwortung des Bundes zu streichen und alles auf die Länder zu übertragen. Dennoch ist der Bund unter Rot-Grün mit dem BBK, mit DeNiS, mit ABC- Task-Forces usw. immer wieder in Vorleistung getreten. In den Koalitionsvertrag wurde auf Drängen der SPD aufgenommen, dass wir „die Steuerungs- und Koordinie- rungskompetenz des Bundes für die Bewältigung von Großkatastrophen und länderübergreifenden Katastro- phenlagen“ stärken wollen. Wir wollen auf die neuen zi- vilen Bedrohungen vorbereitet sein. Sie stehen zwar nicht so im Fokus der Öffentlichkeit wie der Terroris- mus, aber sie können in ihren Auswirkungen gleichwohl sehr viel schwerwiegender sein. Leider hat Bundes- innenminister Schäuble bislang dieses gemeinsam ver- abredete Ziel gegenüber den Ländern politisch nicht vo- ranbringen können. Gleichwohl bietet der Bund weiter in freiwilliger Vor- leistung Instrumente zur Koordinierung der Länder an. Mit dem BBK treiben wir die Ausrichtung und Vorberei- tung auf länderübergreifende Katastrophen voran. Ich nenne nur die Pandemieübung im Herbst vergangenen Jahres. In sie waren sowohl Bund und Länder als auch die Privatwirtschaft einbezogen. Wir Sozialdemokraten halten es für erforderlich und richtig, dass der Bund auch im zivilen Katastrophen- schutz Verantwortung für die Bewältigung dieser länder- übergreifenden Gefahren übernimmt. Dazu gehört auch die Bereitstellung zusätzlicher Ausstattung und ein Bei- trag zum Erhalt der ehrenamtlichen Strukturen, so wie dies mit den Innenministern der Länder vereinbart wurde. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass der Bundesrechnungshof deutlich moniert hat, dass dafür die gegenwärtige Rechtsgrundlage nicht ausreicht. Das Grundgesetz beschränkt die Verantwortung des Bundes auf den Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungs- fall. Damit diese fehlende gesetzliche Kompetenzklärung zwischen Bund und Ländern nicht zulasten der notwen- digen Anstrengung und der betroffenen ehrenamtlichen Helfer geht, hat der Haushaltsausschuss die entsprechen- den Mittel für 2008 in den Haushalt eingestellt; dies aber unter dem Vorbehalt eines Begleitbeschlusses, der die Bundesregierung auffordert, die notwendige gesetzliche Grundlage zu schaffen. Ansonsten ist die Weiterfinan- zierung gefährdet. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat ebenfalls deutlich gemacht: Dazu brauchen wir eine entsprechende Anpassung der Aufgabenzuweisung im Grundgesetz. Wir haben bereits den Auftrag. Das sollten wir ernst nehmen, und dazu bedarf es des Antrages der FDP, dem ich in seiner inhaltlichen Beschreibung ja nur zustimmen kann, nicht! Herr Kollege Wolff, überzeugen Sie Ihren Parteikolle- gen und nordrhein-westfälischen Innenminister von der Notwendigkeit dessen, was sie in Ihrem Antrag be- schreiben! Der Landesinnenminister des bevölkerungs- reichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Dr. Ingo Wolf, partei- und namensgleich mit Ihnen, lehnt dies bis- lang strikt ab. Auf dem Katastrophenschutzkongress des Jahres 2006 verstieg er sich sogar zu der Ansicht, dass der Bund für den Schutz der Bevölkerung überflüssig wäre. Die Bundesregierung dazu aufzufordern und in eige- ner Regierungsverantwortung dagegenzuarbeiten, die- ser Spagat der FDP hilft den Menschen und der Sicher- heit in unserem Land nicht weiter. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15155 (A) (C) (B) (D) Es geht nicht darum, den Ländern Kompetenzen zu entziehen. Sie sollen weiterhin die volle Verantwortung für den Katastrophenschutz tragen, und zwar nicht nur rechtlich, sondern auch materiell. Der Bund soll nicht in die Länder hineinregieren. Er soll vielmehr in die be- währte subsidiäre Systematik des zivilen Katastrophen- schutzes eingebunden werden – mit eigenen Anstren- gungen und klarer Verantwortung. Es ist auch und gerade im Interesse der vielen ehren- und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer und der Hilfsorganisationen, dass die Verantwortung des Bundes für zivile länderübergreifende Katastrophenlagen auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wird, die auch für sie verlässlich ist. Sie leisten eine hervorragende Arbeit, allein ausge- richtet an dem Ziel eines bestmöglichen Schutzes der Bevölkerung. Die Helferinnen und Helfer sowie unsere Bevölkerung haben wenig Verständnis dafür, dass dieses Ziel unter der Verteidigung von Kompetenzerbhöfen lei- det. Wir haben die Pflicht, den Bevölkerungs- und Kata- strophenschutz auf die neuen Bedrohungslagen auszu- richten und dies entsprechend im Grundgesetz abzusi- chern. Die volle Unterstützung der SPD haben Sie dazu. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen! Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des Staates. Dies darf in der aktuellen Debatte um immer neue Sicherheitsge- setze nicht vergessen werden. Im Gegenteil: Wir brau- chen im Bevölkerungsschutz dringend eine Modernisie- rung, um den Herausforderungen besser Herr werden zu können. Sicherheit entsteht nicht durch Gesetze, sondern durch gut ausgebildete und ausgerüstete Kräfte. Nach dem Sommerhochwasser 2002 sowie aufgrund der Risiken bei kritischen Infrastrukturen ist es offen- sichtlich: Bei bestimmten überregionalen Naturereignis- sen oder von Menschen verursachten Unglücksfällen können Gefahren für die Bevölkerung auftreten, denen mit gesamtstaatlichen Maßnahmen begegnet werden muss. Die bestehende Zweiteilung in den Zivilschutz im Verteidigungsfall und Katastrophenschutz im Frieden bedarf einer Neuordnung. Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden. Hierfür am bes- ten geeignet ist ein von Bund und Ländern gemeinsam getragenes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem mit allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten Zustän- digkeiten und Verantwortlichkeiten. Die bislang praktizierte Zuweisung von Zuständigkei- ten nach der Schadensursache wird der Lage nicht länger gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefahren- abwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste Prio- rität haben, um Zuständigkeitsfragen zu klären. Hier muss einfach und schnell geholfen werden. Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei der die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse im Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kom- munen bzw. beim Land, die Zuständigkeit für Großscha- densereignisse innerhalb eines Bundeslandes ohne wei- tere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den Ländern und die Zuständigkeit für außerordentliche bun- desweite Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großschadenslagen beim Bund liegt. Innerhalb dieses Rahmens ist die Ressourcenverantwortung zu regeln, um effektiv und schnellstmöglich helfen zu können. Ein neues, zeitgemäßes Ausstattungskonzept ist dabei ohne einen schlagkräftigen und wirkungsvollen Beitrag des Bundes nicht denkbar. Die Konzentration des Bun- des auf die Bereitstellung von Spezialressourcen für „Sonderlagen“ darf nicht zu einem schleichenden Rück- zug des Bundes aus der Fläche führen. Die Verteilung der Ressourcen hat vielmehr dergestalt zu erfolgen, dass eine zeitnahe Reaktion auf Ereignisse an jedem Ort in Deutschland sichergestellt ist. Dabei ist die Frage nach der Rechtsgrundlage auch für die Bundesleistungen im Bereich Ausstattung, wie sie vom Deutschen Bundestag und dem Bundesrechnungshof aufgeworfen worden ist, abschließend und eindeutig zu klären. Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange unbedingt aufrecht zu erhalten. Das ehrenamtliche En- gagement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die Si- cherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und die tragende personelle Infrastrukturkomponente des Bevölkerungsschutzes. Zur langfristigen Sicherung und Stärkung des ehrenamtlichen Engagements bedarf es eines zukunftsorientierten, tragfähigen Konzepts. Hier müssen alle Träger, Bund, Land und Kommunen, zu- sammenarbeiten. Hierzu zählen insbesondere eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit für die Förderung des Ehrenamtes, die Harmonisierung und Verbesserung helferrechtlicher, auch steuerrechtlicher Regelungen in Bund und Ländern sowie die verstärkte Zusammenarbeit mit den Arbeitge- bern ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer. Ein weiteres Ziel ist es, mehr Frauen und auch mehr Migrantinnen und Migranten für das Ehrenamt im Zivil- und Katastrophenschutz zu gewinnen. Ich begrüße nach- drücklich, dass der Präsident des Deutschen Feuerwehr- verbandes, Kröger, nach der tragischen Brandkatastro- phe in Ludwigshafen sich zu diesem Ziel bekannt hat. Zur weiteren Qualitätssteigerung muss die Ausbil- dung im Bevölkerungsschutz verbessert werden. Auch die Forschung zum Bevölkerungsschutz kann zur Ver- besserung der Vorsorge im Katastrophenfall beitragen. Hier wäre etwa neuen Risikomanagementmethoden be- sondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei können auch betriebswirtschaftliche Methoden zur Vermeidung von Geschäftsrisiken geeignet sein, das Katastrophen- verwaltungsrecht zu optimieren. Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die professionellen Helferinnen von THW und Feuerweh- 15156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) ren, von Rettungsdiensten und anderen Hilfsorganisatio- nen leisten ausgezeichnete Arbeit. Wir als Parlamentarier sind aufgefordert, die rechtli- chen Rahmenbedingungen für ein zukunftsorientiertes Bevölkerungsschutzsystem zu setzen. Jan Korte (DIE LINKE): Ich begrüße es ausdrück- lich, dass wir durch den Antrag der FDP-Fraktion einmal die Möglichkeit haben, über den Bevölkerungs- und Ka- tastrophenschutz zu debattieren, ohne gleich über den Einsatz der Bundeswehr im Innern streiten zu müssen. Zum Antrag: Aus Sicht der Linken ist der vorliegende Antrag sinnvoll und in seiner Zielstellung zu unterstüt- zen. Es ist richtig, ein einheitliches Bevölkerungsschutz- system einzurichten und Zuständigkeiten endlich ein- deutig zu regeln. Dies ist bisher nicht der Fall. Die Kolleginnen und Kollegen stellen vollkommen richtig dar, dass es notwendig ist, zukünftig ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem mit allein am Schadensmaß ausgerichteten Zuständigkeiten und Verantwortlichkei- ten aufzubauen. Die bislang vorgenommene Zuweisung von Verantwortlichkeiten nach der Schadensursache muss der Vergangenheit angehören. Es ist deshalb wichtig, diese Fragen breit zu diskutie- ren, mit den Kommunen, den Ländern und dem Bund so- wie den Verbänden und Vereinen. Ergebnis dieser Neu- justierung des Bevölkerungsschutzes darf jedoch nicht sein, dass sich der Bund aus der Verantwortung stiehlt, vielmehr muss es darum gehen, die Mitfinanzierung des Bevölkerungsschutzes durch den Bund klar zu regeln und die Basisausstattungen der Bevölkerungsschutzein- richtungen zu verbessern. Im Vordergrund müssen dabei folgende Parameter stehen: Erstens muss die Einsatzbereitschaft vor Ort er- halten und ausgebaut werden. Zum Zweiten müssen wir uns darum bemühen, wieder mehr junge Menschen an den ehrenamtlichen Bevölkerungsschutz heranzuführen. In den vielen Gesprächen, die ich vor Ort in meinem Wahlkreis und in Sachsen-Anhalt mit freiwilligen Feuer- wehren, dem THW und weiteren Einrichtungen geführt habe, wurde mir immer wieder bedeutet, dass die derzei- tigen Kernprobleme neben den Regelungen der Zustän- digkeiten vor allem in der materiellen und finanziellen Ausstattung und dem nachlassenden ehrenamtlichen Engagement der Menschen vor Ort liegen. Und die Probleme sind uns doch seit langem bekannt. Vor wenigen Wochen haben wir hier im Bundestag über die Neuordnung der Wahlkreise debattiert. Darin wurde unter anderem entschieden, dass das Bundesland Sach- sen-Anhalt aufgrund der sinkenden Bevölkerungsent- wicklung einen Wahlkreis verliert. Die Abwanderung vor allem junger Menschen aus dem Osten der Republik hält an. Es mag ja sein, dass mit der Beschlussfassung über die neue Wahlkreisstruktur eine Übergangslösung für die Abwanderung aus dem Osten gefunden wurde. Für den Bevölkerungsschutz und die Strukturen vor Ort freilich ist dies natürlich keine Lösung. Hier müssen an- dere, langfristige Lösungen gefunden und neue Anreize für ehrenamtliches Engagement gegeben werden. Die Linke hat dieses Thema mehrfach auch in diesem Hause wie auch in allen ostdeutschen Landtagen angesprochen und mit Anfragen und Anträgen inhaltlich untersetzt. Es ist also an der Zeit, partei- und fraktionsübergreifend endlich praktikable Lösungen hierfür zu finden. Aber auch das spricht der vorliegende Antrag an. Deshalb sollte aus unserer Sicht diesem auch entsprochen wer- den. Die Stärkung des Bevölkerungsschutzes und des eh- renamtlichen Engagements in diesem wird aber immer dann ad absurdum geführt, wenn unser Sicherheitsminis- ter ohne Uniform den Einsatz selbiger zu Hunderten im Innern fordert. Es ist eben nicht nachvollziehbar, die Bundeswehr im Innern einsetzen zu wollen. Weder aus Sicht des Bevölkerungsschutzes noch aus Sicht der Stär- kung und der Finanzierung des ehrenamtlichen Engage- ments oder im Hinblick auf das deutsche Grundgesetz. Zum Schluss noch eine Bemerkung, die leider in dem Antrag der FDP keinen Eingang gefunden hat, aber viel- leicht hätte dies auch zu weit geführt. Gerade an dem Beispiel des Bevölkerungsschutzes und des ehrenamtli- chen Engagements in diesem wird deutlich, wie sehr doch die Verteidigung sozialer und politischer Rechte zusammenhängen. Man kann meiner Meinung nach nicht über die Stärkung des Ehrenamts debattieren und gleichzeitig über Hartz IV das persönliche und indivi- duelle Engagement ver- oder zumindest behindern. Ein Diskurs über das Ehrenamt und über die Sicherheit in Deutschland muss deshalb auch vor dem Hintergrund der deutschen Sozialpolitik geführt werden. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema Bevölkerungsschutz braucht ei- nen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, und wir sind uns alle einig: Angesichts der zunehmenden Risiken braucht der Bevölkerungsschutz in Deutschland aber auch in Eu- ropa neue Strategien. Die Zunahme extremer Wetterla- gen, bedingt durch den Klimawandel, die Gefahren von Pandemien durch aggressive Viren, die Gefahren durch Risikotechnologien wie die Atomkraft oder die Bedro- hung durch den internationalen Terrorismus fordern von einer verantwortlichen Politik nicht nur neue Konzepte im Bereich der inneren Sicherheit, sondern auch im Be- reich der öffentlichen Sicherheit. Ein moderner Bevölkerungsschutz muss auf drei Säu- len gestellt werden: Erstens. Die Selbsthilfekräfte der Bevölkerung müssen gestärkt werden, und angesichts des demografischen Wandels brauchen wir Konzepte, die das ehrenamtliche Engagement fördern und stärken. Zweitens. Die staatlichen Ressourcen müssen gebündelt werden; wir brauchen ein modernes Bevölkerungs- schutzgesetz und den Abbau der föderalen Hemmnisse. Drittens. Kritische Infrastrukturen wie Mobilität, Ener- gieversorgung und Kommunikation sind weitgehend pri- vatisiert. Der Sicherstellungsauftrag der Wirtschaft muss neu definiert werden. Wir haben im Bundestag ein fraktionsübergreifendes Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit eingerichtet. Hier arbeiten Politiker, Experten und Verbände aus dem Be- völkerungsschutz und die Wirtschaft in Arbeitsgruppen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15157 (A) (C) (B) (D) und Foren zusammen, um in einem Konsensverfahren neue Strategien im Bereich der öffentlichen Sicherheit zu entwickeln. Noch vor der Sommerpause soll ein „Grünbuch öffentliche Sicherheit“ mit Analysen, Leit- fragen und Lösungsansätzen der Öffentlichkeit vorge- stellt werden. Lassen Sie mich sagen: Ich bedaure, dass die Bundes- tagsfraktion der FDP zu diesem Zeitpunkt mit einem An- trag zum Bevölkerungsschutz kommt. Lassen Sie uns doch fair miteinander umgehen und die Vorstellung des Grünbuches abwarten! Danach ist der richtige Zeitpunkt, aus den Bundestagsfraktionen zu erklären, welche Ant- worten wir aus der Politik geben. In der FDP heulen ja bekanntlich mehrere Wölfe: Hartfrid Wolff, der MdB, der hier heute den Antrag der Bundestagsfraktion der FDP mit der Forderung nach ei- nem einheitlichen Bevölkerungsschutzgesetz vorstellt, und Ingo Wolf, der Innenminister der FDP aus NRW, der genau dies vehement behindert. Genau hier liegt das Hauptproblem. Der Föderalismus in Deutschland ist ein Hemmnis für den Aufbau eines modernen Bevölke- rungsschutzes in Deutschland. Ohne Grundgesetzände- rung werden wir nicht zu einer vernünftigen Lösung kommen. Wir sind seit Jahren nicht in der Lage, die völlig ver- alteten Katastrophenschutz- und Zivilschutzgesetze in ein einheitliches Bevölkerungsschutzgesetz umzuwan- deln, weil die Länder hier aus machtpolitischen Gründen in unverantwortlicher Weise mauern. Dies hat zur Folge, dass es keinen Überblick über die vorhandenen Kapazi- täten gibt. Dies hat auch zur Folge, dass die Anschaffung von Feuerwehrfahrzeugen zu einem permanenten Fi- nanzstreit zwischen Kommunen, Ländern und Bund führt. Eine gemeinsame Kommunikation bei länderüber- greifenden Großlagen existiert nach wie vor nur auf dem Papier. Am Beispiel BOS-Digitalfunk wird deutlich, wie teuer und unsinnig der Föderalismus im Bereich der öf- fentlichen Sicherheit ist. In keinem europäischen Land hat die Einführung des BOS-Digitalfunks so lange ge- dauert wie in Deutschland, und in keinem anderen euro- päischen Land ist die Umsetzung so teuer wie in Deutschland. Die Länder zwingen den Bund zu völlig unsinnigen Organisationsstrukturen, wie die Einrichtung einer Bund-Länder-Anstalt. Jedes Bundesland entwickelt ein eigenes Leitstellen- konzept. Aber damit nicht genug: Es gibt auch Bundes- länder, die mehrere Leitstellenkonzepte haben. Die tech- nischen Systeme sind nicht miteinander kompatibel. Diese Kleinstaaterei führt nicht nur zu erheblichen Schutzlücken, sie ist auch ein gravierender Nachteil für die deutsche Wirtschaft. Auf dem Sicherheitsmarkt, der einer der am stärksten wachsenden Märkte weltweit ist, spielen deutsche Unternehmen keine Rolle, weil es keine vernünftigen Referenzanwendungen im eigenen Land gibt. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Der FDP-Antrag trifft nur einen kleinen, allen bekannten Teilbereich des umfassenden Problems. Die FDP in den Landesregierun- gen ist Teil des Problems. Einen Lösungsansatz hat die FDP nicht zu bieten. Die Debatte um den Antrag ist so überflüssig wie der Antrag selbst. Wir werden uns weiter konstruktiv an dem Prozess im Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit beteiligen und das Grünbuch abwarten, um dann auf einer fundierten Grundlage Konzepte für die Modernisierung des Bevöl- kerungsschutzes in Deutschland vorzulegen. Wir werden auch die Analysen und Strategien aufgreifen, die im April auf der RisiKA, der Messe für Krisenmanagement von Naturereignissen, vorgestellt werden. Zu vernünfti- gen Lösungen werden wir nur mit einem gesamtgesell- schaftlichen Ansatz kommen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkommen (Ta- gesordnungspunkt 27) Heinz-Peter Haustein (FDP): In dem Antrag der Linken, der hier zur Debatte steht, wird ein Rechtsan- spruch auf Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkommen verlangt. Die Linken begründen die Not- wendigkeit zur Einführung dieser Regelung damit, dass die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Nebenkosten- abrechnungen oder Mieterhöhungen häufig bei den Kos- tenträgern nicht vorgenommen wird, sondern dass die Mieterhöhungen oder Nebenkostenabrechnungen ein- fach so übernommen werden. Insofern, so die Logik der Linken, würde der gesetzlich verankerte Anspruch auf eine Mieterberatung zu einem effizienten Einsatz staatli- cher Mittel beitragen. Man mag ja geneigt sein, dem zuzustimmen; denn „effizient“ klingt ja gut. Und einen wirtschaftlichen Staat, der effizient arbeitet, findet jeder gut. Nur ist es so, dass uns die Erfahrung gelehrt hat, dass wir immer auf der Hut sein müssen, wenn uns die Linken etwas von effizientem Wirtschaften vorträgt. So auch hier: Was uns nämlich als notwendige Maßnahme der Steigerung der Effizienz verkauft wird, ist ja tatsächlich doch wieder eine Ausweitung der Staatstätigkeit. So eine Regelung brauchen wir nicht. Der Staat und mit ihm die Träger der „Kosten der Un- terkunft“ sind ohnehin schon zur Effizienz verpflichtet. Wo nicht auf Minimierung der Ausgaben geachtet wird, ist dies höchstens ein Fall für die die Fachaufsicht aus- übende Stelle und letztlich für die Rechnungshöfe. Ferner führen die Linken in ihrem Antrag zur Begrün- dung an, der Anspruch auf eine Mietrechtsberatung sei „aus rechtsstaatlichen Gründen“ zu befürworten. Es wird suggeriert, es gäbe eine „Gerechtigkeitslücke“. Dem ist jedoch nicht so. Wie ausgeführt, sind die Kostenträger ohnehin zu wirtschaftlichem Handeln verpflichtet. Da- rüber hinaus schreiben die Linken in ihrem Antrag selbst, dass es längst Praxis der Sozialämter ist, für die Mieter den Mitgliedsbeitrag für den Mieterverein zu 15158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) übernehmen. Wenn also der Mieter Interesse an der Überprüfung seiner Nebenkostenabrechnung oder seiner Mieterhöhung hat, so kann er sich auch heute schon Hilfe beim Mieterverein holen. Völlig kostenlos aber kann er auch beim Kostenträger auf eine Überprüfung drängen. Das müsste der erste Schritt sein. Der Mieter kann sich auch kostenlos in zahlreichen Internetforen informieren. Auch auf die Möglichkeit, Prozesskosten- hilfe zu erhalten, muss hier ausdrücklich hingewiesen werden. Von einem Mangel kann hier also nicht gespro- chen werden. Dem mündigen Bürger sind also längst ausreichend Möglichkeiten an die Hand gegeben. Und wo der Staat bei der Überprüfung von Mieterhöhungen und Sonsti- gem untätig bleibt, also unwirtschaftlich handelt, ist das der Beweis dafür, dass staatliches Handeln immer teurer ist als alles andere. Es ist nicht die Begründung für eine neue gesetzliche Regelung. Die Logik der Linken ist ja grotesk: Weil der Staat versagt, brauchen wir mehr Staat. So ja nicht, meine Damen und Herren. Wo es so ist, wie die Linken sagen, wo die Nebenkostenabrechnungen und Mieterhöhungen nicht ausreichend überprüft wer- den, muss den Verantwortlichen auf die Finger geklopft werden und auf die Einhaltung der Vorschriften gedrängt werden. Nichts anderes. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht momentan besteht eine Gerechtigkeitslücke, sondern es würde eine ge- schaffen, wenn man jetzt diesen Anspruch auf Miet- rechtsberatung einführte, wie von den Linken beantragt. Wo will man die Grenze ziehen? Wer soll denn die Bera- tung erhalten und wer nicht, und warum? Es müsste doch der schwer arbeitende Geringverdiener fragen, wa- rum er nun wieder gerade nicht mehr in den Genuss des Anspruchs auf Beratung kommt? Selbst wenn ich einen Mangel anerkennen würde, könnte der Vorschlag der Linken nicht die Lösung sein. Die einzige Lösung ist und bleibt der mündige Bürger, der sich über die Korrektheit seiner Mieterhöhungen und Nebenkostenabrechnungen informiert. Und die Lösung ist nach wie vor der Staat, der wirtschaftlich arbeitet und seiner Pflicht nachkommt, seine Ausgaben niedrig zu halten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Insofern können wir den Antrag der Linken nur ablehnen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von EU-Agenturen – Gerichtliche und parlamentarische Kon- trolle von EU-Agenturen (Tagesordnungspunkt 28 und Zusatztagesord- nungspunkt 7) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Die in den letzten Jahren drastisch gestiegene Anzahl von europäischen Agenturen bereitet Anlass zu großer Besorgnis. Ich halte es für unbedingt erforderlich, dass wir diesbezüglich die Bundesregierung in die Pflicht nehmen und in unserer Rolle als nationales Parlament unmissverständlich Stel- lung beziehen. Daher begrüße ich die heutige Debatte zum Thema ausdrücklich. Es ist unbestritten, dass mit der Übertragung von na- tionalen Kompetenzen auf die europäische Ebene gleich- zeitig ein gesteigertes Maß an Koordination innerhalb der EU notwendig geworden ist. Daher mag auch die Auslagerung der Wahrnehmung europäischer Aufgaben auf dezentral errichtete Agenturen in einzelnen Teilbe- reichen sinnvoll und auch effizient sein. Der inflationären Art und Weise jedoch, wie in jüngs- ter Vergangenheit diverse Agenturen und Beobachtungs- stellen beschlossen und EU-weit aus dem Boden ge- stampft worden sind, müssen wir entschieden entgegentreten. Vielfach ist die Einrichtung von Agentu- ren eben nicht durch ein Aufgabenbedürfnis der EU zu begründen, sondern entspringt dem Wunsch nach geo- grafischer Streuung von EU-Einrichtungen in den Mit- gliedstaaten. Eine grundlegende Konzeption ist bei die- sem „Agenturunwesen“ nicht erkennbar. Ich nenne an dieser Stelle nur das Stichwort „Agentur für Grund- rechte“. Vielfach sind mit der Einrichtung derartiger Institu- tionen Doppelstrukturen entstanden, die unter finanziel- len und bürokratischen Gesichtspunkten nicht zu recht- fertigen sind. Komplizierte Organisationsformen tragen zur wachsenden Unübersichtlichkeit bei, und Kollisio- nen mit dem Subsidiaritätsprinzip bleiben völlig unge- ahndet. Wir geben uns zudem einem uferlosen Unterfangen hin, wenn wir die Schaffung von neuen Agenturen und Beobachtungsstellen, verstreut über das gesamte Gebiet der EU, mit einer größeren Bürgernähe begründen wol- len. Wie viele Agenturen soll dann jeder Mitgliedstaat erhalten? Die Resonanz bei der Bevölkerung sieht dage- gen völlig anders aus. Wenn solche Einrichtungen von den Bürgern überhaupt wahrgenommen werden, dann als bürokratischer „Monsterapparat“, der mit Geldern aus den einzelnen Mitgliedstaaten in beliebigem Aus- maß gefüttert wird. Der Appell geht in erster Linie auch an den Europäischen Rat, in welchem sich die Mitglied- staaten mit der Einrichtung solcher Institutionen so man- che Zustimmung zu bestimmten Paketlösungen versüßen lassen. Das kann nicht der Stil transparenter demokrati- scher Politik sein! Da die Gemeinschaftsagenturen lediglich zur Entlas- tung ihrer Verwaltungshaushalte rechenschaftspflichtig sind, entziehen sich die Sinnhaftigkeit ihrer Mandats- wahrnehmung sowie die Details ihrer Finanzierung allzu oft einer gründlichen Überprüfung. Ich stimme mit den Antragstellern in ihrem Anliegen insoweit überein, dass die Agenturen einer wesentlich effizienteren und restrik- tiveren Kontrolle unterliegen müssen. Die Forderung an die Bundesregierung, dem Deut- schen Bundestag ein Gesamtkonzept zu EU-Agenturen vorzulegen, löst jedoch nicht das eigentliche Problem. Für eine solche Vorlage fehlt der Regierung auch das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15159 (A) (C) (B) (D) Initiativrecht im Europäischen Rat. Vielmehr hat uns das Beispiel Grundrechteagentur eines deutlich vor Augen geführt: dass es nämlich an einem Konzept fehlt, wie Bundesregierung und Parlament bei solchen Fragenstel- lungen zusammenarbeiten sollten. Die Position des Deutschen Bundestages muss in den Verhandlungen auf europäischer Ebene eine deutlich größere Berücksichti- gung finden. Dazu müssen wir die Bundesregierung in die Pflicht nehmen. Sie muss ihrem eigenen, immer wie- der betonten Bedenken gegenüber den EU-Agenturen endlich auch Taten folgen lassen. Der Beschluss zur Er- richtung der Grundrechteagentur muss eine absolute Ausnahme bleiben. Als Grundlage für ein erfolgreiches Vorgehen bedarf es einer gründlichen und transparenten Kosten-Nutzen- Analyse für alle zur Gründung anstehenden EU-Agentu- ren. Bereits bestehende Verwaltungsstellen müssen re- gelmäßig hinsichtlich der effizienten Erfüllung ihrer Zielvorgaben überprüft werden und bei negativen Ergeb- nissen wieder abgebaut werden. Ein von der Bundesre- gierung einseitig entwickeltes Gesamtkonzept hingegen führt uns nicht ans Ziel. Aus diesem Grunde werden wir diese Forderung aus dem zur Debatte stehenden Antrag der Grünen nicht unterstützen. Zu vielen anderen Aspek- ten könnte ich mir vorstellen, zu einem Konsens mit an- deren Fraktionen zu kommen. Ein fraktionsübergreifen- der Antrag wäre eine sehr starke Antwort des Deutschen Bundestages auf die Frage nach den Agenturen. Eduard Lintner (CDU/CSU): Es ist schon bemer- kenswert, was sich in der EU über die Jahre hinweg alles an Agenturen angesammelt hat. Man kann schon, ohne polemisch zu sein, von einem „Wildwuchs“ sprechen, denn offenbar ist es schon nicht mehr möglich, sich auf die genaue Zahl der vorhandenen Agenturen zu einigen. In der Tageszeitung Die Welt war am 10. Januar zu lesen, es gebe 23 EU-Agenturen, häufig hört man die Zahl 31, und zählt man die im Internet unter dem Stichwort „Agenturen der EU“ aufgezählten Einrichtungen zusam- men, so kommt man auf sage und schreibe 36 Agentu- ren. Es ist also durchaus berechtigt, wie es der Kollege Silberhorn einmal formuliert hat, von einer „Agenturi- tis“ der EU zu sprechen. Und weil es sich dabei um Ein- richtungen handelt, die immerhin einen jährlichen Fi- nanzaufwand von etwa 1,3 Milliarden Euro erfordern und mittlerweile fast 4 000 Mitarbeiter zählen, ist es durchaus berechtigt, dass sich der Deutsche Bundestag heute des Themas annimmt. Natürlich ist nicht jede Agentur eine Fehlkonstruktion oder überflüssig, aber viele Agenturen befassen sich mit eng benachbarten oder sogar gleichgerichteten Tätig- keitsfeldern. Hier wäre Konzentration und Präzisierung wünschenswert. So gibt es eine europäische „Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz“ und zugleich eine „Europäische Stiftung zur Verbesse- rung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“, oder neben- einander existieren zum Beispiel eine „Europäische Stif- tung für Berufsbildung“ und ein „Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung“. Darüber hinaus, und hier wird es kontraproduktiv und damit bedenklich, sind Agenturen eingerichtet worden, deren Tätigkeit zwangsläufig in die über Jahre hin be- währte Arbeit von anderen europäischen Institutionen eingreift, die sich durch gute Arbeit große und weltweite Reputation erarbeitet haben. Das gilt zum Beispiel für die erst kürzlich gegen den heftigen Widerstand des Deutschen Bundestages in Wien etablierte „Europäische Agentur für Grundrechte“. Sie soll auf einem Feld tätig werden, das bislang vom Europarat und insbesondere von seinem Europäischen Gerichtshof für Menschen- rechte in Straßburg abgedeckt worden ist, mit großem Echo in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats. Der Ge- richtshof ist für viele der insgesamt ca. 800 Millionen Menschen in diesen Ländern ein echter Hoffnungsträger. der häufig der letzte Rettungsanker im Kampf um die Beachtung der Menschenrechte ist. Seit seinem Beste- hen sind Hunderttausende von Klagen beim Gerichtshof eingereicht worden. Und dass heute ein Rückstau von etwa 100 000 Fällen besteht, an dem der Gerichtshof zu ersticken droht, zeigt seine große konkrete Bedeutung. Es wäre deshalb sinnvoller gewesen, die EU hätte sich beim Gerichtshof finanziell und gegebenenfalls perso- nell engagiert, um ihm und damit den betroffenen Men- schen aus der Bredouille zu helfen, statt mit der Grün- dung einer Agentur unnötige und teure Doppelstrukturen zu schaffen. Zwar wird jetzt durch vertragliche Verein- barungen versucht, das Nebeneinander reibungslos zu gestalten, aber dennoch besteht die Gefahr der Verwäs- serung von Standards durch unterschiedliche Akzentuie- rungen. Sorgen bereiten muss auch die Tatsache, dass die EU- Agenturen als selbstständige Institutionen konstruiert sind, sodass sie sich praktisch einer unmittelbaren Kon- trolle durch das Europäische Parlament oder den Rat ent- ziehen. Sie nehmen also an der staatsrechtlich gebotenen Gewaltenteilung gar nicht teil. Sie sind Instrumente der Kommission, entfalten ihr Wirken am Parlament vorbei und sind längst über die ursprüngliche Zielsetzung einer Agentur, nämlich der „Ausübung ganz bestimmter tech- nischer, wissenschaftlicher und verwaltungstechnischer Aufgaben“ zu dienen, hinausgewachsen, treiben konkret Politik oder gestalten sie inhaltlich und sind an der Um- setzung beteiligt, ohne einer wirksamen Kontrolle unter- worfen zu sein. Zwar sind die Rechte des Parlaments in diesem Zusammenhang kürzlich gestärkt worden, aber von einer „parlamentarischen Kontrolle“ kann dennoch nicht gesprochen werden. Leider gilt auch hier die alte Lebenserfahrung, dass einmal Geschaffenes nicht so leicht wieder abgeschafft werden kann. Dennoch sollte sich die EU dazu durchrin- gen, zu überprüfen, ob nicht manche dieser Agenturen wieder aufgegeben werden können und ob Zusammen- fassungen möglich sind. In jedem Fall sollte aber der mittlerweile leider verfestigte unselige Brauch schnells- tens unterbunden werden, dass jede Ratspräsidentschaft sich eine neue Agentur ausdenkt und die übrigen Mit- gliedsländer dies solidarisch abnicken. Ein solcher Um- gang mit Prinzipien und vor allem auch eine solch groß- zügige Umgangsweise mit dem Geld der Bürger ist nicht zu rechtfertigen und trägt nur zur Verstärkung der Aver- 15160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) sionen gegen die schon heute allgemein als ausufernd verschriene europäische Bürokratie bei. Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Komplizierte euro- päische Zusammenhänge erfordern eine differenzierte Betrachtungsweise, um angemessene Antworten zu ge- ben. Die Frage der EU-Agenturen ist dafür ein Beispiel – und zwar in jeder Hinsicht. Es zeigt, dass leider einige in diesem Hause das Ganze populistisch verpacken und deutsche Sichtweisen voranstellen, während Betroffen- heiten anderer EU-Mitgliedstaaten völlig außen vor ge- lassen werden. Im Einzelnen: Erstens. Wir wollen ein föderales Europa, keine „Zen- trale“ in Brüssel. Damit ist völlig klar, dass auch die Ver- waltung sachlich wie örtlich nicht an einer Stelle kon- zentriert werden kann. Ein Prinzip, das für uns in Deutschland gilt und das wir im Rahmen eines über sechs Jahrzehnte insgesamt erfolgreichen Föderalismus praktiziert haben, muss auch ein Maßstab für unsere europäische Beurteilung sein. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Staat wie Deutschland mit insgesamt 83 obersten Bundesbehörden und Bundesoberbehörden darf nicht in der EU so auftreten, als würden wir jede neue EU-Agentur rundweg ablehnen. Ganz im Gegen- teil: Wir sind die Letzten, die dazu moralisch legitimiert wären! Da Politik eine Frage des guten Gedächtnisses ist – wie Kurt Schumacher schon zu Recht bemerkte –, soll- ten wir uns anständigerweise ins Gedächtnis rufen: Die wichtigste institutionelle Neugründung in der EG/EU war das europäische Währungsinstitut – daraus entstand die Europäische Zentralbank; heute eine mäch- tige Institution in Europa. Ihr Sitz: Frankfurt am Main. Keine Partei in Deutschland hätte dem Euro zugestimmt, wenn dies anders wäre. Die europäische Agentur für Flugsicherung erfüllt un- bestreitbar wichtige Aufgaben. Unser Land hatte auch aus verkehrspolitischen Gründen ein großes Interesse daran, diese Behörde in Deutschland anzusiedeln. Sie residiert in Köln, wie jeder weiß. Das zeigt: Wir dürfen keinesfalls den Eindruck ver- mitteln, nachdem Deutschland zu den Mitgliedsländern mit der besten Infrastruktur an EU-Einrichtungen gehört, dass es jetzt das Mitglied ist, welches anderen Ländern eine gerechte Teilhabe an der dezentralen Organisation Europas mit einer sichtbaren Repräsentanz an vielen Or- ten des Kontinents entgegensteht. Zweitens. Es ist gut, dass wir uns vor diesem Hinter- grund kritisch mit bestehenden Entwicklungen auseinan- dersetzen. Die entscheidenden Fragen sind zum Teil von den Kolleginnen und Kollegen der Grünen sowie der FDP in ihren Anträgen aufgeworfen worden. Aber an ei- nigen Stellen ist ein völlig falscher Ansatz zu erkennen: Es kann zum Beispiel meines Erachtens nicht sein, dass die nationalen Parlamente in Zukunft über die EU-Agen- turen entscheiden – wie das die FDP will –, genauso we- nig kann die deutsche Bundesregierung ein Gesamtkon- zept für EU-Agenturen vorlegen, wie es die Grünen fordern. Beides verkennt die europäischen Strukturen völlig. Was aber viel schlimmer ist: Die geschätzten Kol- leginnen und Kollegen dieser Fraktion nehmen mit kei- nem Wort Bezug auf die tatsächlich schon erreichte Situation in der EU, wo der Entwurf für eine „Interinsti- tutionelle Vereinbarung zur Festlegung von Rahmenbe- dingungen für die europäischen Regulierungsagenturen“ von der Kommission vorgelegt worden ist, vom Europä- ischen Parlament unterstützt wird und im Rat allerdings noch nicht vorangebracht worden ist. Drittens. Da wir in Europa zusammenarbeiten wollen und auch voneinander lernen können, sollten in diesem Zusammenhang durchaus Fragen einer besseren Aufga- bentrennung – auch in der Kommission – angesprochen werden. Ich halte es für problematisch, dass die EU- Kommission als ein politisches Organ selbst unmittelbar für die Wettbewerbskontrolle zuständig ist, während in Deutschland ein unabhängiges Kartellamt viele Bei- spiele guter Arbeit vorweisen kann. Also: Auch über mehrere Richtungen, nicht nur über Einbahnstraßen nachdenken. Viertens. Ich bin davon überzeugt, dass wir jetzt be- ginnen, zu fraktionsübergreifenden gemeinsamen Ent- schließungen zu kommen – aber nicht ad hoc und übers Knie gebrochen und vor allen Dingen nicht nur mit der deutschen Sicht auf Europa, sondern auch mit europäi- scher Gesinnung in Deutschland. Deshalb ist es wichtig, dass sowohl der Bundestag in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament als auch die einzelnen Fraktio- nen dieses Hauses im Rahmen ihrer europäischen Partei- familien die Diskussion führen. Europäische Sichtweise darf nicht durch nationale Scheuklappen eingeengt wer- den. Das Ergebnis eines integrativen Ansatzes könnte auch sein, die Bundesregierung im Rat zu unterstützen, damit Blockaden überwunden und die interinstitutionelle Vereinbarung vorangebracht werden kann. Markus Löning (FDP): „Das haben wir den Part- nern zugesagt, diese Zusage können wir nicht mehr zu- rücknehmen, wir können das Paket nicht noch einmal aufschnüren.“ Wohl keine Ausrede haben wir bei der Debatte um die Grundrechtsagentur im letzten Jahr öfter gehört, als diese. Die Bundesregierung hat im Europäi- schen Rat eine – zunächst informelle – Zusage zu einem bestimmten institutionellen Paket gemacht und benutzt anschließend diese Zusage als Argument gegenüber den gewählten Vertretern des Volkes, warum sie nicht mitre- den können. Bei der Grundrechteagentur war der Anlass, nämlich die Grundrechtecharta, entfallen. Die Fraktionen des Bundestages waren sich in ihrer Kritik weitgehend einig, dass die Agentur, wenn über- haupt, dann zumindest nicht in der ursprünglich geplan- ten Größe an den Start gehen sollte. Es gab sehr ernste Bedenken hinsichtlich der gerichtlichen und parlamenta- rischen Kontrolle der Agentur. Dennoch konnten weder Ochs noch Esel das Projekt in seinem Lauf aufhalten. Die Agentur wurde gegründet. Die Planstellen wurden geschaffen. Das Budget wurde genehmigt. Dies war ein Beispiel dafür, wie es in Zukunft nicht mehr laufen soll. In Zukunft soll die Bundesregierung den Bundestag einbeziehen, bevor sie Zusagen macht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15161 (A) (C) (B) (D) Es gibt ja durchaus auch sinnvolle Aufgaben für Agentu- ren. Auch in Deutschland lagern wir ja manche Aufga- ben in Anstalten, wie zum Beispiel die Bundesanstalt für Materialforschung oder das Robert-Koch-Institut, aus. Die EU-Agentur zur Umsetzung der Chemikalien- richtlinie war sicher eine sinnvolle Gründung, denn sie bündelt sehr spezifischen Sachverstand und ist der eine Ansprechpartner für die betroffene Wirtschaft. Ich ver- stehe nicht, warum die Bundesregierung bei solch sinn- vollen Gründungen Angst vor dem Deutschen Bundes- tag hat. Es stärkt doch auch die Position der Bundesregierung, wenn die Sinnhaftigkeit einer Agentur in der Debatte mit den Abgeordneten Bestand hat. Wir wollen, dass vor einer Zusage die Zustimmung des Bundestages eingeholt wird, und wir wollen, dass es vor der Errichtung einer Agentur ein transparentes Ver- fahren gibt. Der Bundestag muss in einem geordneten Verfahren einbezogen werden. Die Mitteilung, dass man den Bundestag natürlich gerne informiere, die Entschei- dung aber längst gefallen sei, ist ein Schlag ins Gesicht der Parlamentarier. Wir wollen ein geordnetes Verfah- ren, bei dem der EU-Ausschuss, betroffene Fachaus- schüsse und gegebenenfalls das Plenum Gelegenheit zur Stellungsnahme bekommen, bevor die Entscheidung über die Errichtung endgültig fällt. Die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie gehö- ren zur gemeinsamen Wertegrundlage der EU. Sie müs- sen in allen Aspekten des Handelns der EU berücksich- tig werden. Es kann nicht sein, dass für jede EU-Agentur ein neuer Rechtsweg beschlossen werden muss, und es kann erst Recht nicht sein, dass nicht sichergestellt ist, dass es für die Bürgerinnen und Bürger immer einen Rechtsweg gibt. Hoheitliche Akte der Agenturen können schwerwiegende Eingriffe in Rechte von Personen oder Unternehmen darstellen. Jeder betroffene Bürger, jedes betroffene Unternehmen muss alle Akte von EU-Agen- turen rechtlich überprüfen lassen können. Es ist nach un- serem Rechtsstaatsverständnis schlicht inakzeptabel, wenn der Rechtsweg nicht klar – oder noch schlimmer – nicht vorhanden ist. Die Freien Demokraten fordern daher eine Rechtswe- gegarantie für alle Bürgerinnen und Bürger gegenüber allen EU-Agenturen. Genauso wichtig ist die demokrati- sche Kontrolle. Dies betrifft die Budgets, den Haushalts- vollzug und bei einigen Agenturen die inhaltliche Ar- beit. Der Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlamentes verweigert zurzeit wegen einer Reihe von ungeklärten Fragen einigen Agenturen die Entlastung. Ich kann die Kollegen im EP nur bestärken, ihre Rechte wahrzunehmen und im Sinne der europäischen Steuer- zahler auf einem transparenten und ordentlichen Haus- haltsvollzug zu bestehen. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt der demo- kratischen Kontrolle. Die Agentur für Grundrechte oder die Agentur für Gleichstellungsfragen werden gutachter- lich tätig sein. Sie werden Stellungnahmen auf Anfrage oder aus eigenem Antrieb erarbeiten und verbreiten. Da- mit sind sie Teilnehmer einer öffentlichen politischen oder juristischen Debatte. Wer legitimiert sie dazu? Sie sind weder unabhängige Gerichte, die das Recht ausle- gen und durchsetzen, noch gewählte Vertreter des Vol- kes, die der Kontrolle durch Wahl unterliegen. Dies wi- derspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung in einem demokratischen Rechtsstaat. Es muss hier eine klare Zu- ordnung geben. Auch dies stellen wir daher mit unserem Antrag klar: Alle Agenturen müssen der vollen parla- mentarischen Kontrolle unterworfen sein. Lieber Kollege Schäfer, lieber Kollege Stübgen, ich denkte, wir sind uns in den Kernanliegen auch weiterhin einig. Ich freue mich, dass die Koalitionsfraktionen in dieser Frage einen gemeinsamen Antrag mit FDP und Grünen machen wollen. Das wäre ein weiterer Schritt zur Stärkung des Deutschen Bundestages in EU-Fragen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Die heutige Debatte ist überfällig. Die Zahl der Aufgaben der Europäischen Union nimmt seit dem Vertrag von Amsterdam ständig zu, ohne dass eine wirkliche Gewaltenteilung und demo- kratische Kontrolle über diese Aufgaben möglich ist. Heute wird durch die Europäische Union in vielen Poli- tikbereichen eine faktische Entparlamentarisierung be- schleunigt. Ein Beispiel für diese Entparlamentarisierung und damit auch einer zunehmenden Entdemokratisie- rung von politischen Prozessen in der Europäischen Union ist die massive Zunahme von EU-Agenturen. Heute gibt es in der Europäischen Union 35 Agentu- ren, die von der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- politik bis zur Frage der Grundrechte hochsensible poli- tische Bereiche bearbeiten. Diese Agenturen unterliegen keinem Einfluss vonseiten eines demokratisch gewähl- ten Parlaments. Auch ist dem Haushaltsausschuss des Europäischen Parlaments zuzustimmen, wenn er auch auf die mangelhafte budgetäre Kontrolle der EU-Agen- turen hinweist. Die Struktur der Europäischen Agenturen hält einer kritischen demokratischen Betrachtung nicht stand. In der Bundesrepublik Deutschland würden sie vom Bun- desverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar aufgehoben, da sie zu einer Verwischung der Gewaltenteilung führen. Die Entwicklung der EU-Struk- turen führt zu einem Rückfall in vordemokratische Strukturen, indem die Gewaltenteilung zwischen Exeku- tive und Legislative immer weiter aufgehoben wird. Die Exekutive übernimmt in der Europäischen Union immer mehr Macht- und Entscheidungsbefugnisse. Eine solche Entwicklung dürfen Demokraten nicht weiter unwider- sprochen hinnehmen. Nehmen wir als Beispiel die sogenannte Europäische Verteidigungsagentur, bei der es sich in Realität um eine Rüstungsagentur handelt. Die Agentur ist organisato- risch direkt unterhalb des Rates für Allgemeine Angele- genheiten und Außenbeziehungen angesiedelt. Die Ver- teidigungsminister – und damit die jeweilige Exekutive der Nationalstaaten – erhalten durch die Agentur unmit- telbar die Möglichkeit, eine bessere europäische Koordi- nation der Rüstungszusammenarbeit und den beschleu- nigten Aufbau für militärische Kapazitäten für weltweite Militäreinsätze durchzusetzen. Ein demokratisches Mit- 15162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) spracherecht oder wenigstens eine demokratisch-parla- mentarische Kontrolle der Militär- und Rüstungspolitik auf europäischer Ebene wird dadurch fast unmöglich. Im Rahmen der Europäischen Verteidigungsagentur wird weder dem Europäischen Parlament noch den nationalen Parlamenten eine politische oder fiskalische Kontroll- möglichkeit eingeräumt. Gleichzeitig nimmt der Deutsche Bundestag durch die organisatorische Entwicklung der Europäischen Union hin, dass sich in der Europäischen Union immer mehr undemokratische Strukturen durchsetzen und ver- festigen. Die beiden Anträge können hier eine Grund- lage sein, diesen Prozess zu beenden. Wir müssen die zunehmende Entdemokratisierung von politischen Ent- scheidungsprozessen stoppen. Deshalb fordern wir eine grundsätzliche Debatte über die Notwendigkeit von EU- Agenturen. Unsere Position ist dabei klar: Wir setzen uns dafür ein, dass alle Entscheidungen und daraus fol- gend die exekutiven Umsetzungen solcher Entscheidun- gen nach demokratischen Gesichtspunkten organisiert werden müssen. Wir müssen auch auf europäischer Ebene die demokratische Gewaltenteilung und Kontrolle durchsetzen. Deshalb stehen wir dem Instrument von Europäischen Agenturen skeptisch gegenüber. Natürlich können wir uns vorstellen, dass in spezifischen Bereichen wie zum Beispiel der Sicherheit des See- und Luftverkehrs oder der Organisation von Übersetzungsarbeiten Agenturen als Umsetzungsinstrument von politischen Entscheidun- gen geschaffen werden. In allen grundsätzlichen politi- schen Bereichen haben Agenturen jedoch nichts verlo- ren. Wir wollen die heutige Debatte und die beiden An- träge als Aufschlag für eine grundsätzliche Debatte zur Durchsetzung von demokratischen Strukturen auf euro- päischer Ebene verstanden wissen. Eine solche grundle- gende Debatte können wir nur über die Grenzen von par- teipolitischen Diskussionen zum Erfolg führen. Deshalb steht Die Linke für die Ausarbeitung eines gemeinsamen Antrages aller Fraktionen gerne zur Verfügung. Alleine in der Zeit von 2005 bis 2007 – hier weisen Sie in Ihrem Antrag richtigerweise darauf hin – ist der Gesamthaushalt der Europäischen Agenturen auf fast 1,3 Milliarden Euro angewachsen. Wir wollen, dass diese Mittel, die alle von den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgebracht werden, demokratisch vergeben und vor allem auch de- mokratisch kontrolliert werden. Deshalb unterstützen wir das Anliegen, mit allen Parlamenten der europäi- schen Mitgliedstaaten, aber auch in enger Kooperation mit dem Europäischen Parlament, in eine Diskussion über eine Gesamtkonzeption der zukünftigen Ausgestal- tung von Europäischen Agenturen einzutreten. Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Europäische Arzneimittelagentur in London, die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen oder die Europäische Eisenbahnagentur in Valenciennes – diese zufällig herausgegriffenen Beispiele zeigen, dass zu zahlreichen und unterschiedlichsten Themen und überall verteilt in der Europäischen Union sogenannte EU- Agenturen bestehen. Zur Ausführung ihrer Aufgaben sind die EU-Agenturen nicht weisungsgebunden, ledig- lich zur Entlastung ihres Verwaltungshaushalts dem Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlamen- tes rechenschaftspflichtig. Insgesamt sind es derzeit 22 Gemeinschaftsagenturen, drei Agenturen für die Ge- meinsame Außen- und Sicherheitspolitik und drei Exe- kutivagenturen. Weitere Agenturen wie beispielsweise zur Koordinierung von nationalen Regelungsbehörden im Bereich Telekommunikation oder Energie sind in Planung. Wir Grünen unterstützen EU-Agenturen, die sinnvoll und notwendig sind und die durch ihre dezentrale Ein- richtung der Europäischen Union auch vor Ort ein weite- res Gesicht geben. Teilweise leisten die Agenturen eine sehr gute Arbeit; dies steht außer Frage. Aber mit den EU-Agenturen hat sich parallel zu den Arbeitsstrukturen in Brüssel ein riesiger Apparat zur Bewältigung neuer Aufgaben rechtlicher, technischer und wissenschaftli- cher Art aufgebaut. Gerade in den letzten Jahren ist ihre Zahl dramatisch gestiegen: So hat sich die Anzahl seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt, die Personalplan- stellen sind im selben Zeitraum um 148 Prozent ange- wachsen, und der Gesamthaushalt hatte allein in den letzten beiden Jahren einen Aufwuchs von 20 Prozent. Wir kritisieren, dass dabei nicht alle EU-Agenturen notwendig und sinnvoll sind. Mitunter werden über sie sogar Aufgaben erledigt, die bereits an anderer Stelle be- arbeitet werden. In einigen Fällen sind die Mandate der Agenturen nicht eindeutig und Doppelstrukturen zwi- schen unterschiedlichen Agenturen erkennbar. Weiterhin beanstanden wir, dass bei einigen Agenturen lange Zeit ein klar erkennbares Konzept fehlte oder sogar das Di- rektorium nicht eingesetzt wird. Und schließlich lässt die Finanzverwaltung zu wünschen übrig und wird auch vom Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Par- lamentes als mangelhaft kritisiert. Diese Mängel müssen abgeschafft werden. Die EU- Strukturen müssen genauso wie nationale Strukturen ef- fizient und effektiv arbeiten. Mit unserem Antrag for- dern wir die Bundesregierung auf, sich in den EU-Gre- mien dafür einzusetzen, dass diese Mängel abgeschafft werden. Hierzu fordern wir erstens, uns ein Gesamtkon- zept zur Einrichtung von EU-Agenturen vorzulegen, in dem klare Kriterien für die Einrichtung von EU-Agen- turen genannt werden, und zweitens, sich für die Vermei- dung von Doppelstrukturen zwischen den jeweiligen Agenturen, aber auch zwischen Agenturen und den Ge- neraldirektionen der Europäischen Kommission einzu- setzen. Schließlich fordern wir die Bundesregierung dazu auf, uns eine Stellungnahme vorzulegen, aus der ersicht- lich wird, inwieweit eine effiziente und transparente Kontrolle der Finanzverwaltung der EU-Agenturen ge- währleistet ist. Wir freuen uns sehr, wenn uns auch die anderen Frak- tionen im Deutschen Bundestag in dieser wichtigen Frage unterstützen, und fordern Sie auf, unseren Antrag zu unterstützen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15163 (A) (C) (B) (D) Anlage 6 Amtliche Mitteilungen Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben mit Schreiben vom 25. Januar 2008 mitgeteilt, dass sie den Antrag Die UN-Vertragsstaatenkonferenz in Bali – Den Grundstein für ein Kyoto-Nachfolgeabkommen legen auf Drucksache 16/7281 zurückziehen. Der Abgeordnete Gerhard Wächter hat mitgeteilt, dass er seine Unterschrift auf dem Entwurf eines Geset- zes für eine menschenfreundliche Medizin – Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Drucksache 16/7982 zurückzieht. Die Abgeordneten Johannes Jung (Karlsruhe) und Heidi Wright haben darum gebeten, bei dem Entwurf ei- nes Gesetzes für eine menschenfreundliche Medizin – Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes auf Drucksache 16/7982 nachträglich in die Liste der An- tragsteller aufgenommen zu werden. Die Abgeordnete Ingrid Fischbach hat darum gebe- ten, bei dem Antrag Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzellforschung för- dern auf Drucksache 16/7985 nachträglich in die Liste der Antragsteller aufgenommen zu werden. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühun- gen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtver- breitung sowie über die Entwicklung der Streitkräfte- potenziale (Jahresabrüstungsbericht 2004) – Drucksache 15/5801 – Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 632 07 – Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschuss- gesetzes – – Drucksachen 16/7681, 16/7793 Nr. 1.6 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 681 01 – Erziehungsgeld – sowie Kapitel 17 10 Titel 681 02 – Elterngeld – – Drucksachen 16/7723, 16/7793 Nr. 1.8 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2006 – Drucksache 16/3000 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2007 – Drucksache 16/6385 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Fortschrittsbericht zur Hightechstrategie für Deutschland – Drucksache 16/6900 – Ausschuss für Kultur und Medien – Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Bericht über das Prüfergebnis zur Sicherung eines ziel- gruppengerechten und qualitativ hochwertigen Ange- bots an interaktiven Unterhaltungsmedien – Drucksachen 16/7081, 16/7376 Nr. 1 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 16/7070 Nr. A.4 Drucksache 16/7070 Nr. A.6 Drucksache 16/7223 Nr. A.10 Drucksache 16/7393 Nr. A.27 Drucksache 16/7393 Nr. A.28 Drucksache 16/7575 Nr. A.1 Drucksache 16/7575 Nr. A.3 Drucksache 16/7575 Nr. A.16 Drucksache 16/7575 Nr. A.17 Drucksache 16/7575 Nr. A.18 Drucksache 16/7575 Nr. A.19 Drucksache 16/7575 Nr. A.23 Innenausschuss Drucksache 16/6041 Nr. 2.16 Drucksache 16/6041 Nr. 2.18 Drucksache 16/6715 Nr. 1.5 Drucksache 16/6715 Nr. 1.19 Rechtsausschuss Drucksache 16/901 Nr. 2.5 Drucksache 16/993 Nr. 2.15 Drucksache 16/3382 Nr. 2.1 Drucksache 16/4819 Nr. 1.1 Drucksache 16/4939 Nr. 3.1 Drucksache 16/5199 Nr. 2.15 Drucksache 16/5681 Nr. 1.2 Drucksache 16/6389 Nr. 1.78 Drucksache 16/6715 Nr. 1.14 Drucksache 16/6715 Nr. 1.15 Haushaltsausschuss Drucksache 16/7070 Nr. A.5 Drucksache 16/7070 Nr. A.11 15164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 (A) (C) (B) (D) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/820 Nr. 1.32 Drucksache 16/1748 Nr. 2.5 Drucksache 16/4105 Nr. 2.9 Drucksache 16/4105 Nr. 2.22 Drucksache 16/4105 Nr. 2.64 Drucksache 16/4501 Nr. 2.49 Drucksache 16/4635 Nr. 2.23 Drucksache 16/4635 Nr. 2.24 Drucksache 16/6389 Nr. 1.52 Drucksache 16/6715 Nr. 1.7 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Drucksache 16/4501 Nr. 2.18 Drucksache 16/4501 Nr. 2.33 Drucksache 16/4501 Nr. 2.34 Drucksache 16/4501 Nr. 2.42 Drucksache 16/4501 Nr. 2.45 Drucksache 16/4635 Nr. 2.5 Drucksache 16/4635 Nr. 2.8 Drucksache 16/4635 Nr. 2.9 Drucksache 16/4635 Nr. 2.10 Drucksache 16/6389 Nr. 1.9 Drucksache 16/7393 Nr. A.8 Drucksache 16/7393 Nr. A.9 Drucksache 16/7393 Nr. A.20 Drucksache 16/7393 Nr. A.21 Drucksache 16/7393 Nr. A.29 Drucksache 16/7393 Nr. A.30 Drucksache 16/7575 Nr. 1.45 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 16/6389 Nr. 1.27 Drucksache 16/6389 Nr. 1.28 Drucksache 16/6389 Nr. 1.33 Drucksache 16/6501 Nr. 1.2 Drucksache 16/7223 Nr. A.1 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 16/7070 Nr. A.14 Drucksache 16/7070 Nr. A.15 Drucksache 16/7070 Nr. A.16 Drucksache 16/7223 Nr. A.2 Drucksache 16/7223 Nr. A.9 Drucksache 16/7223 Nr. A.11 Drucksache 16/7393 Nr. A.11 Drucksache 16/7393 Nr. A.16 Drucksache 16/7393 Nr. A.18 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 16/150 Nr. 1.42 Drucksache 16/820 Nr. 1.49 Drucksache 16/5681 Nr. 1.27 Drucksache 16/5681 Nr. 1.28 Drucksache 16/6389 Nr. 2.28 Drucksache 16/6865 Nr. 1.26 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 16/1101 Nr. 2.16 Drucksache 16/7575 Nr. A.24 143. Sitzung Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614300000

Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Ganz besonders herzlich begrüße ich, falls er hier sein
sollte, den Kollegen Laurenz Meyer, der heute seinen
60. Geburtstag feiert und dem ich dazu herzlich gratu-
liere.


(Beifall – Abg. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ CSU] betritt den Plenarsaal – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da ist er ja! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Da kommt das Geburtstagskind!)


– Herr Kollege Meyer, es wird nicht allzu häufig vor-
kommen, dass Sie unter solch einem allgemeinen Jubel
in den Plenarsaal einziehen.


(Heiterkeit)


Auch deshalb werden Sie den heutigen Tag sicherlich
besonders gut in Erinnerung halten.

Wir kommen nun zu unserer Tagesordnung.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 sowie 24 a und

Rede
24 b auf:

22 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen

Lage der Finanzmärkte

24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzmärkte stabilisieren

– Drucksache 16/7531 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
tzung

15. Februar 2008

.00 Uhr

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Aktionsplan „Finanzmärkte demokratisch
kontrollieren, Konjunktur und Beschäftigung
stärken“ – Aus den internationalen Finanztur-
bulenzen Konsequenzen ziehen

– Drucksache 16/7191 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann können wir das so vereinbaren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1614300100


text
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! „Panik auf dem Börsenparkett“,
„neue Weltwirtschaftskrise“, „Börsencrash vernichtet
deutsche Arbeitsplätze“, „Börsencrash signalisiert Ende
des Finanzmarktkapitalismus“, mit diesen oder ähnli-
chen Begriffen werden die Turbulenzen und die Verwer-
fungen aufbereitet, mit denen wir es in den letzten Mo-
naten auf den internationalen Finanzmärkten zu tun
hatten.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte lauter! Ein bisschen mehr Mut! – Zurufe von der CDU/CSU: Warum sind Sie so leise, ister? – Etwas lauter!)


ikrofonanlage oder über meine Stimme?

it – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In
Herr Min

– Über die M


(Heiterke Kombination wird das sicher zu einem Erfolg!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614300200

Bisher haben Sie jedenfalls nichts Falsches gesagt,

Herr Minister.


(Heiterkeit)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1614300300

Herr Präsident, können Sie die Uhr anhalten?


(Heiterkeit – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nichts da! Die läuft auch bei uns weiter!)


– Gut. Dann ist meine Rede beendet, meine Damen und
Herren.

Um ernsthaft auf dieses wirklich schwergewichtige
Thema zurückzukommen: Es ist richtig, dass wir es in
weiten Teilen der Welt und zulasten weiter Teile der
Welt mit einer ernsthaften, ausgemachten Finanzmarkt-
krise zu tun haben. Nicht alle Teile der Welt sind von ihr
betroffen, Ostasien zum Beispiel nicht bzw. kaum, insbe-
sondere aber Nordamerika und weite Teile Europas. Sie
wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist kein
deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch nicht be-
hobene Risiken. Infektionsgefahren für die weltweite
Konjunktur und die weltweite Wachstumsentwicklung
sind nicht zu übersehen.

Aber, meine Damen und Herren, so wenig Grund es
zur Verharmlosung gibt, so unangebracht wäre auch jede
Hysterie. Nötig ist ein professionelles Krisenmanage-
ment aller infrage kommenden Partner, das sich auf die
Stabilisierung der Finanzmärkte konzentriert und sich
nicht durch Empörungen und Reflexe ablenken lässt.

Es ist ferner notwendig, die Ursachen dieser Krise
herauszuarbeiten, sie klar beim Namen zu nennen und
die sich daraus abzuleitenden Konsequenzen insbeson-
dere im internationalen Kontext zu ziehen. Denn nur so
werden wir verlorengegangenes Vertrauen auf den Fi-
nanzmärkten und bei vielen Bürgerinnen und Bürgern
zurückgewinnen.

Ich warne ausdrücklich davor, in jedem Durchsacken
des DAX im Verlauf eines einzigen Handelstages das
untrügliche Vorzeichen des Beginns einer ausgeprägten
Rezession in Deutschland zu sehen;


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


denn dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegen-
teil, wir sollten versuchen, einen kühlen Kopf zu bewah-
ren. Es gibt keinen Grund für politische Schnellschüsse,
mit denen man sich lediglich den Beifall einer zugegebe-
nermaßen verunsicherten Öffentlichkeit sichern würde.

Um die Situation richtig zu erfassen, ist es wichtig, zu
wissen, wo die Ursachen der Finanzmarktkrise liegen.
Knapp gefasst: im US-amerikanischen Markt für zweit-
klassige Hypothekenkredite, den die Experten, von we-
nigen Ausnahmen abgesehen, lange Zeit offenbar nicht
auf ihrem Radar hatten, zumindest nicht, was sein Poten-
zial anbelangt, zu einer echten Belastungsprobe für das
globale Finanzsystem zu werden.

Salopp gesprochen haben US-Banken auf der Jagd
nach der schnellen Rendite ihre Anforderungen an die
Qualität von Krediten deutlich verringert und kräftig ri-
sikoreiche, weil schlecht gesicherte Hypothekenkredite
vergeben, meist an Eigenheimkäufer mit geringer Boni-
tät. Die damit verbundenen hohen Kreditrisiken wurden
von den Banken auch deshalb in Kauf genommen, weil
man die Möglichkeit hatte, diese Risiken über soge-
nannte Verbriefungstransaktionen und strukturierte Pro-
dukte lieber jetzt als gleich aus den eigenen Büchern, aus
den eigenen Bilanzen zu bekommen, indem man sie auf
dem Markt verkauft. Ich will sagen: Eine ursprünglich
defensive Strategie, Risiken zu verteilen, wurde zu einer
spekulativen Blase, zu einer spekulativen Welle.

Die Käufer dieser hochkomplexen Produkte – ein Teil
von ihnen hat Namen, die ich gar nicht kannte – haben
diesen verpackten Sprengstoff vornehmlich außerhalb
ihrer Bilanzen geführt und damit auch außerhalb des
Einblickes von Wirtschaftsprüfern, von Aufsichtsbehör-
den, von Verwaltungsräten und von Aufsichtsräten.

Dass diese Papiere mit gebündelten Kreditrisiken bei
renditehungrigen Investoren weltweit auf große Nach-
frage stießen, auch und gerade in Deutschland, ist nicht
zuletzt den Ratingagenturen zu verdanken. Sie waren
es, die in einer fragwürdigen Doppelrolle an beiden En-
den beteiligt gewesen sind. Auf der einen Seite haben sie
diese Papiere häufig mit der höchsten Bonität bewertet,
auf der anderen Seite haben sie die Banken bei der Ver-
briefung und Vermarktung der Kreditrisiken beraten.
Das ist so ähnlich, als ob die Stiftung Warentest ein Pro-
dukt testen würde, an dessen Umsatz sie anschließend
beteiligt ist.


(Beifall des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/ CSU])


Auch hier müsste man damit rechnen, dass der Informa-
tionsgehalt des Testergebnisses, gelinde gesagt, einge-
schränkt ist.

Das Ganze ging so lange gut, wie der Markt in den
USA expandierte. Aber irgendwann ist jeder Boom zu
Ende. Steigende Zinsen und fallende Immobilienpreise
in den USA haben seit dem letzten Jahr immer mehr die-
ser Hypothekenkredite in Not gebracht. Bei den Banken,
die weltweit, auch in Deutschland, die Risiken aus die-
sen Krediten gekauft hatten, wurden Abschreibungen in
Milliardenhöhe notwendig.

Da diese Risiken nicht oder erst sehr spät auf dem Ra-
darschirm der verantwortlichen Bankmanager und
Bankaufseher aufgetaucht sind, stellt sich als Erstes die
Frage nach der Qualität des jeweiligen bankeninternen
Risikomanagements. Damit müsste die Suche nach Ver-
antwortlichen eigentlich anfangen – wenn denn diese
Suche nicht nur dem üblichen und durchsichtigen Ruf
„Haltet den Dieb!“ folgen sollte. Darin, meine Damen
und Herren, liegt auch meine sehr kritische Einlassung
über ein verbreitetes Bankmanagerversagen begründet,
an der ich festhalte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Fern einer Kollektivschelte darf ausgesprochen werden,
dass es einzelne Bankmanager gibt, die in dem Rennen
nach höherer Marge, höherem Profit auf der Grundlage
unzureichender Geschäftsmodelle, ohne ausreichende
Expertise, in einem Missverhältnis zum Eigenkapital ih-
rer Institute und unter Vernachlässigung des bankenin-
ternen Risikomanagements ein Milliardenrad gedreht
haben.

Diese Entwicklung liegt auch an der Unzulänglichkeit
der aktuellen Bilanzierungsregelungen; das gilt nicht
nur in Deutschland, das ist weit verbreitet. Sie ermögli-
chen es den Banken, eigene Risiken eigenkapitalscho-
nend außerhalb ihrer Bilanzen zu führen, sie auf spezi-
elle Zweckgesellschaften zu übertragen oder, besser
ausgedrückt, sie zu verstecken vor denjenigen, die Kon-
trollfunktionen wahrzunehmen haben.

Wie Sie wissen, haben die Probleme an den interna-
tionalen Finanzmärkten auch deutsche Kreditinstitute
in Mitleidenschaft gezogen. Hier in Deutschland gehö-
ren die Landesbanken Sachsen LB und West-LB sowie
die Privatbank IKB mit den von ihnen finanzierten
Zweckgesellschaften zu den ersten und zu den spektaku-
lärsten Opfern der sogenannten Subprime-Krise. Weitere
Institute – über die gesamte Bandbreite des deutschen
Bankensektors – sind auch betroffen, aber weniger exis-
tenziell.

Vor allem die IKB hat uns in den letzten Tagen in
Atem gehalten – nicht das erste Mal –, weil neuer Ab-
schreibungsbedarf bzw. Eigenmittelbedarf in Milliarden-
höhe erforderlich wurde. Wir haben sehr intensive De-
batten geführt, wie es mit der IKB weitergehen soll.
Wichtig war meinem Kollegen Glos und mir, dass es
über den konkreten Fall der IKB zu keiner Verschärfung
der Bankenkrise in Deutschland kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Darüber waren und sind wir uns in der Bundesregierung
einig. Wir haben die Verantwortung, Schaden vom Fi-
nanzplatz Deutschland abzuwenden.

Wir haben uns diese Entscheidung gewiss nicht ein-
fach gemacht. Sie war auch nicht einfach, weil wir nicht
einfach Vorteile gegen Nachteile, sondern nur jeweilige
Nachteile gegeneinander abwägen konnten. Der Nachteil
einer drohenden Insolvenz verbunden mit einer drohen-
den Erschütterungsdynamik für den gesamten Finanz-
platz Deutschland war gegen den Nachteil abzuwägen,
auch mit Steuergeldern ein Institut zu stützen, das sich
am Markt verzockt hat und eigentlich vom Markt bestraft
werden müsste.

Im Rahmen dieser schwierigen Abwägung zwischen
der Situation bei der IKB und den Risiken für den deut-
schen Bankenmarkt haben wir uns im Verwaltungsrat
der KfW am Mittwoch entschieden, dass die KfW der
IKB mit einer Zuweisung nach dem KfW-Gesetz ein
weiteres Mal unterstützend behilflich ist, und zwar mit
1,5 Milliarden Euro.

Der Bund wird davon mindestens 1 Milliarde Euro
tragen, die aus Dividendenerträgen stammt. Dadurch
wird die bisherige Finanzplanung nicht belastet. Die Ehr-
lichkeit gebietet es aber, zu sagen, dass diese 1 Milliar-
de Euro eines Tages als nicht eingegangene Einnahmen
zu Buche schlagen wird. Der Bundesverband deutscher
Banken hat unter der Bedingung einer letztmaligen Inan-
spruchnahme zugesagt, mit 300 Millionen Euro einen
weiteren wesentlichen Teil der Stützung zu übernehmen.
Für die restlichen 200 Millionen Euro wird es eine Lö-
sung geben. Im Zweifelsfall müssen sie im laufenden
Haushalt eingesammelt werden.

Sie können sich vorstellen, dass ich über diese Belas-
tung des Bundeshaushaltes alles andere als begeistert
bin. Auch wenn Sie mich deshalb hier mit zusammenge-
bissenen Zähnen stehen sehen – jedenfalls dann, wenn
ich nicht rede –,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


ist die Entscheidung richtig, die IKB nochmals zu stüt-
zen.

Erstens ist uns wichtig, dass die IKB verkaufsfähig
gemacht wird und dass der bereits angelaufene Verkaufs-
prozess der Bank – das betone ich – weitergehen kann
und so schnell wie möglich abgeschlossen wird. Damit
das gut funktioniert, werden das Management der IKB
und auch der KfW personell verstärkt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Stärken ist eine gute Sache!)


Zweitens ist uns wichtig, dass wir im Ergebnis ver-
meiden können, dass die Mittelstandsförderung und
der Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens – mit
Blick auf diejenigen, die im Hohen Hause in dieser Frage
sehr engagiert sind, ist mir an dieser Aussage sehr gele-
gen – durch neue Sanierungsbeiträge beeinträchtigt wer-
den. Ich wiederhole: weder die Mittelstandsförderung
noch der Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens. Um
diesbezügliche Fragen an dieser Stelle abschließend zu
beantworten: Das ist sichergestellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens ist unsere Entscheidung für die IKB ein klares
Signal an den Markt. Wir verhindern damit, dass andere
Banken durch die Krise bei der IKB in Mitleidenschaft
gezogen werden, und zwar, indem wir verhindern, dass
Einlagen der IKB in zweistelliger Milliardenhöhe – um
Ihnen eine Zahl zu nennen: knapp oberhalb von 24 Mil-
liarden Euro – verlorengehen. Diese Einlagen stammen
nicht nur von anderen Bankinstituten aus dem öffentlich-
rechtlichen, dem genossenschaftlichen und dem privaten
Bereich, sondern es handelt sich auch um Einlagen von
Nichtbanken bis hin zu Versicherungen. Wir verhindern
damit, dass diese Einlagen möglicherweise bzw. wahr-
scheinlich verlorengehen und dass damit auch der frei-
willige Einlagensicherungsfonds der privaten Geschäfts-
banken in Anspruch genommen wird, den sie dringend
brauchen, um Vorsorge für ihren eigenen Bereich zu
schaffen.

Viertens gilt es zu verhindern, dass auf dem Markt für
Hybridkapital die Preise für lang laufende Anleihen
deutlich steigen, was andere Banken, die sich mit






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
solchen Anleihen refinanzieren, ausgesprochen negativ
treffen würde.

Fünftens wäre die IKB – an dieser Aussage ist mir
sehr gelegen – die erste europäische Bank, die in der di-
rekten Folge der US-Subprime-Krise pleiteginge. Das
sollten wir uns nicht als Symbol des deutschen Banken-
marktes leisten – auch nicht im Verhältnis zu anderen eu-
ropäischen Ländern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sechstens hat ein Finanzminister sehr genau über die
steuerlichen Folgen eines solchen Risikoszenarios bzw.
unterschiedlicher Risikoszenarien nachzudenken. In wel-
chem Verhältnis stehen zu erwartende Einnahmeverluste
gegenüber dem Einsatz von Haushaltsmitteln zur Ret-
tung einer Bank? Dass es auch in diesem Hause einzelne
Personen gibt, die mit ihren technischen Mitteln schon
eine sehr genaue Summe hinsichtlich der steuerlichen
Folgen der Finanzmarktkrise errechnen und der Presse
mitteilen konnten, findet meine Bewunderung. Der deut-
schen Steuerverwaltung ist dies mit ihrer Datenverarbei-
tung bisher nicht gelungen.

Ich erwähne diese Gründe so ausführlich, meine Da-
men und Herren, damit Sie und die deutsche Öffentlich-
keit einen Einblick in die Abwägung der Bundesregie-
rung bekommen und Sie sich damit vielleicht auch etwas
stärker gegen eilfertige, undifferenzierte Urteile und Be-
wertungen immunisieren können. Uns allen sollte klar
sein: Die Bankenkrise ist noch lange nicht zu Ende. Wir
haben es hier nicht nur mit einer Bank zu tun, die sich in
unverantwortlicher Weise verzockt hat. Alle Kreditinsti-
tute, die mit Subprime-Marktpapieren gehandelt haben,
sind von dieser Krise betroffen. Schlecht ist, dass nach
wie vor niemand ganz genau weiß, welches Institut in
welchem Ausmaß betroffen ist.

Fest steht: Die teils deutlichen Abschläge bei den Ak-
tienkursen der Kreditinstitute zeigen, dass der Markt von
einem höheren Wertberichtigungsbedarf ausgeht, als
bisher transparent ist. Weltweit, so habe ich in Tokio
während des Treffens der G-7-Finanzminister erfahren,
schätzt der IMF den Wertberichtigungsbedarf auf
400 Milliarden US-Dollar, wobei die Experten sagen,
das bisher ungefähr ein Drittel davon tatsächlich wertbe-
richtigt worden ist.

Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,
kann das Gebot der Stunde nur lauten, dass die Banken
in ihren Bilanzen klar Schiff machen müssen, und zwar
ohne langen Aufschub. Wer glaubt, mögliche Wertbe-
richtigungen oder Verluste nur in Häppchen nach der
Salamitaktik offenbaren zu müssen, der provoziert nicht
nur eine eigene Abstrafung durch den Markt, sondern
der handelt zum Schaden des gesamten Finanzsektors in
der Bundesrepublik Deutschland. Um verlorenes Ver-
trauen zurückzugewinnen, dürfen wir es uns nicht leicht
machen und nur die akute Krisenbewältigung sehen, die
auch dank des entschlossenen Handelns großer Zentral-
banken bisher insgesamt gut gelungen ist. Ich möchte
der Europäischen Zentralbank ein ausdrückliches
Kompliment machen, die eine dieser Zentralbanken ge-
wesen ist, die den Markt in einer sehr angespannten
Lage mit Liquidität versorgt haben, anders als zum Bei-
spiel eine andere europäische Zentralbank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ebenso bedanke ich mich insbesondere beim Präsiden-
ten der Deutschen Bundesbank und beim Präsidenten der
BaFin, die in diesem Krisenmanagement eine wichtige,
eine verlässliche und eine unterstützende Rolle gespielt
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Frau Matthäus-Maier auch?)


Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen,
welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Natürlich
spielt das Eigeninteresse der Finanzmarktteilnehmer,
Finanzkrisen zu vermeiden, hierbei eine zentrale Rolle.
Der Markt sorgt derzeit, wenn auch schmerzlich, für eine
Anpassung: Risiken werden jetzt wieder anders einge-
preist als vor dieser Blase. Aber dieses Marktinteresse
allein wird nicht ausreichen, um Inkompetenzen, Fehl-
verhalten und Übertreibungen dieses Marktes, Exzesse
durch diesen Markt wirklich zu verhindern. Es hat ja
auch nicht gereicht, um die bisherige Krise abzuwenden.

Ich bin deshalb überzeugt, dass die Krise eine politi-
sche Reaktion erfordert und wir zu besseren, internatio-
nal abgestimmten Spielregeln kommen müssen. Beim
Treffen der G-7-Finanzminister in Tokio vom vergan-
genen Wochenende wurden deshalb auch auf deutsche
Initiative hin Vorschläge diskutiert und in dem Kommu-
nique festgehalten, mit dem wir in drei zentralen Berei-
chen das Vertrauen an den Märkten nachhaltig stärken
wollen: die Eigenkapitalunterlegung der Banken, ein
besseres Liquiditätsmanagement und eine höhere Trans-
parenz. Es versteht sich von selbst, dass für alle Maßnah-
men eine Umsetzung auf internationaler Ebene der Kö-
nigsweg ist, allein schon deshalb, um darüber einseitige
Wettbewerbsnachteile für einen einzelnen Finanzplatz
wie beispielsweise Deutschland zu vermeiden. Das heißt
aber umgekehrt nicht, dass wir nicht auch auf europäi-
scher und ebenso auf deutscher Ebene aktiv werden
müssen, zum Beispiel auch dann, wenn bei einer interna-
tionalen Umsetzung Schwierigkeiten auftauchten.

Aus Zeitgründen möchte ich hier nur die wichtigsten
Maßnahmen anreißen; ich bin sicher, dass sich nächste
Woche sowohl im Finanzausschuss wie im Haushalts-
ausschuss die Gelegenheit für eine intensivere Erörte-
rung ergeben wird.

Erstens geht es um eine verbesserte Eigenkapital-
unterlegung. Die Finanzmarktturbulenzen haben ge-
zeigt, dass wir mehr Risikovorsorge für Stressphasen am
Markt brauchen, allerdings erst nach Überwindung die-
ser Krise, um die Kreditinstitute aktuell nicht noch mehr
zu überfordern, als sie es ohnehin schon sind. Eine Mög-
lichkeit hierzu ist, im Zuge einer Nachjustierung von
Basel II von den Banken einen zusätzlichen Eigenkapi-
talpuffer zu verlangen, und zwar zusätzlich zu dem, was
nach den jetzt seit wenigen Wochen geltenden Basel-II-
Regeln für den gewöhnlichen Fall reibungslos funktio-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
nierender Märkte ermittelt wird. Aber die Märkte funk-
tionieren eben nicht immer reibungslos und so wie ge-
wöhnlich.

Hinsichtlich der Verbriefungen, einem der Dreh- und
Angelpunkte der derzeitigen Krise, empfiehlt sich da-
rüber hinaus eine Erhöhung der Risikogewichte dieser
Verbriefungen zur Bestimmung der nötigen Eigenkapi-
talunterlegung nach Basel II. Dies könnte zum einen
durch eine andere Ausübung bereits bestehender Wahl-
rechte oder zum anderen durch eine Neuberechnung der
Risikogewichte erfolgen, die bisher immer nur in Schön-
wetterzeiten erarbeitet worden sind. Je nach einer daraus
resultierenden neuen Risikogewichtung müsste dann
mehr Eigenkapital von den Instituten bereitgehalten wer-
den, was wiederum bei Investmentmanagern den Anreiz
verstärken würde, in den Bewertungen stärker auf die
wirtschaftlichen als auf die spekulativen Rahmenbedin-
gungen ihres Engagements zu achten.

Zweitens wollen wir das Liquiditätsmanagement
verbessern. Die Finanzmarktturbulenzen machen deut-
lich, dass die globalen bankaufsichtsrechtlichen Liquidi-
tätsvorschriften dringend ausgebaut werden müssen.
Handlungsbedarf sehe ich hierbei vor allem in zweierlei
Hinsicht: Erstens sprechen gute Gründe für eine Ausdeh-
nung des Anwendungsbereiches der Vorschriften über
die einzelne Bank hinaus auf einen Bankkonzern. Zwei-
tens sind Belastungstests – oder auf neudeutsch Stress-
tests – unter der Annahme einer nur eingeschränkten
Marktliquidität geboten. Die bislang übliche Annahme
liquider Märkte ist ungenügend und wird von den von
uns gemachten Erfahrungen falsifiziert.

Drittens wollen wir mehr Transparenz auf den Märk-
ten schaffen. Dies ist eine zentrale Aufgabe für die inter-
nationale Politik. Alle Marktteilnehmer – auch Anleger
und Aufsichtsgremien – müssen die Chance haben, be-
stehende Risiken angemessen bewerten zu können. Dies
ist derzeit nicht gewährleistet. Die Marktteilnehmer kön-
nen keine eigenen Risikoprofile erstellen.

Ich möchte heute nicht näher auf das Thema Hedge-
fonds eingehen, zumal diese definitiv nicht die derzeiti-
gen Finanzmarktturbulenzen verursacht haben. Aber ich
möchte daran erinnern, dass es von manchen im Inland
wie auch im Ausland – insbesondere im angloamerikani-
schen Bereich – belächelt worden ist, dass wir unter der
deutschen EU-Rats- und G-7-Präsidentschaft vor unge-
fähr einem Jahr das Thema Transparenz auf die Tages-
ordnung gesetzt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich hätte mir damals in ihrem eigenen Interesse etwas
mehr Unterstützung aus der Branche selber gewünscht.
Inzwischen ist, wie Sie wissen, einiges in Gang gekom-
men, und zwar in Großbritannien durch die Kommis-
sion, die Andrew Large, der frühere Vizepräsident der
Bank of England, in Gang gesetzt hat, wie auch in der
sogenannten President’s Working Group on Financial
Markets in den USA. Das alles sind wichtige Initiativen
im Ergebnis dessen, was wir vor einem Jahr initiiert ha-
ben. Diese Initiativen werden uns im Financial Stability
Forum und schon während des G-7-Treffens im April
stark beschäftigen.

Es wäre zu wünschen, will ich hinzufügen, dass wir
dieses Mal insbesondere von der Ratingbranche Unter-
stützung bekommen, von der wir die Schaffung eines
„set of best practices“ für strukturierte Produkte erwar-
ten. Mir ist wichtig, dass wir in Zukunft verhindern, dass
die Agenturen, wie gesagt, erst beratend an der Struktu-
rierung beteiligt sind und anschließend an der Bewer-
tung.

Unter dem Stichwort der Transparenz werden wir
auch eine eventuelle Ergänzung des Bilanzrechtes dis-
kutieren müssen, um bislang außerbilanziell durchge-
führte Transaktionen zukünftig besser sichtbar zu ma-
chen. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen,
dass der von der Kollegin Zypries bereits vorgelegte Re-
ferentenentwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgeset-
zes vorsieht, die Kriterien enger zu fassen, nach denen
Zweckgesellschaften bilanziert werden müssen.

Wenn es um nachhaltige und wirkungsvolle Konse-
quenzen aus den Finanzmarktturbulenzen geht, dann
sprechen wir automatisch auch über die Arbeit der Auf-
sichtsbehörden bei uns. Das ist sowohl national als
auch in der grenzüberschreitenden Kooperation ein
wichtiges Thema in der Eurogruppe und im Ecofin-Rat.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die
zwischen der BaFin und der Bundesbank gefundene Ver-
ständigung auf eine transparentere und reibungslosere
Aufgabenverteilung bei der Bankenaufsicht. Sie ist ein
wichtiger Beitrag zu einer handlungsfähigen stabilen
deutschen Bankenaufsicht. Nähere Auskünfte darüber
werden mit Gewissheit auch in den beiden Ausschüssen
gegeben.

Ich bin überzeugt, dass die von mir beschriebenen
Maßnahmen – vor allem, wenn sie auch im internationa-
len Kontext umgesetzt werden – eine gute Basis für eine
nachhaltige Beruhigung und Stabilisierung der Finanz-
märkte darstellen. Genauso überzeugt bin ich allerdings
davon, dass kurzfristige Konjunkturprogramme, wie sie
derzeit auch unter Verweis auf die Situation in den USA
gelegentlich reflexartig wie lautstark in Europa und in
Deutschland propagiert werden, definitiv nicht die rich-
tige und angemessene Antwort auf die jetzige Situation
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das gilt – um es gleichermaßen vorweg zu sagen – für
etwaige zusätzliche und nach Lage der Dinge wohl auch
kreditfinanzierte Ausgabenprogramme wie auch für
die von mancher Seite vorgetragene Forderung nach
Steuersenkungen auf Pump. Es gibt eine Reihe von
Gründen, die gegen beides sprechen. Erstens haben wir
es im Unterschied zu den Amerikanern in Europa und
speziell in Deutschland immer noch mit einer starken
konjunkturellen Grunddynamik zu tun. Die Finanz-
marktturbulenzen treffen auf eine wesentlich robustere
deutsche Wirtschaft als noch vor zwei oder drei Jahren.
Auch die stabilen Fundamentaldaten deuten nicht auf
eine stärkere konjunkturelle Abkühlung und erst recht






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
nicht auf eine rezessive Entwicklung in Deutschland hin.
So haben wir es beispielsweise aktuell mit einer aufwärts
gerichteten Tendenz bei den Auftragseingängen und mit
einem entsprechend positiven Ausblick für die Entwick-
lung der Industrieproduktion in den nächsten Monaten
zu tun. Einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesell-
schaft KPMG zufolge blickten die deutschen Industrie-
unternehmen im vermeintlich schwierigen Monat Januar
optimistischer in die Zukunft als vor einem halben Jahr.
Das ist ein Ausschnitt aus der aktuellen Lage. Ich könnte
das fortsetzen. Aus Zeitgründen will ich das nicht tun.

Auf der Basis der jetzt vorliegenden Erkenntnisse
rechnet die Bundesregierung, unterstützt von fast allen,
die man dazu befragen kann, mit einem gesamtwirt-
schaftlichen Wachstum in Höhe von 1,7 Prozent in die-
sem Jahr. Damit können wir trotz unbestreitbarer Risi-
ken – diese negiere ich gar nicht – zufrieden sein, wenn
es denn so kommt. Wir sollten die Kirche allerdings im
Dorf lassen. 1,7 Prozent Wachstum bedeuten nicht mehr
und nicht weniger, als dass wir damit ungefähr unser
derzeit geschätztes Wachstumspotenzial in Deutschland
ausschöpfen können. Sie alle wissen, dass das 2003 und
2004 nicht so war. Damals hätten wir bei 1,7 Prozent
Wachstum die Sektkorken knallen lassen.

Zweitens haben wir keinerlei Veranlassung, unseren
bisher so erfolgreichen wirtschafts- und finanzpoliti-
schen Kurs, eben die Kombination aus dauerhafter Wirt-
schaftsförderung und Wachstumsförderung sowie einer
soliden Haushaltspolitik, zu verlassen. Die gegenwärtig
wirksamen Strukturreformen helfen uns auch im aktuell
schwieriger werdenden konjunkturellen Fahrwasser;
denn sie wirken konjunkturunterstützend. So wird sich
im laufenden Jahr allein der Gesamteffekt durch die För-
derung von Wachstum, Beschäftigung und Familien
– Sie können sich sicherlich erinnern, dass es sich um
ein 25-Milliarden-Euro-Programm handelt, 12,5 Milliar-
den Euro ergänzt durch die Bundesländer; hinzu kamen
im letzten Jahr 10 Milliarden Euro zusätzlich –, die Sen-
kung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherung
und die Entlastung der Wirtschaft durch die seit dem
1. Januar dieses Jahres gültige Unternehmensteuer-
reform auf rund 18 Milliarden Euro belaufen. Um Ihnen
eine Relation zu geben: Diese 18 Milliarden Euro ent-
sprechen spitz gerechnet 0,75 Prozent des deutschen
Bruttosozialproduktes. Das, was der Präsident der USA
in seiner State of the Union erklärt hat, entspricht unge-
fähr 1 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts.
Das heißt, mit diesen Impulsen bewegen wir uns in etwa
in der Relation dessen, was der amerikanische Präsident
in seiner State of the Union als konjunkturfördernde
Maßnahmen angekündigt hat.

Drittens würde jede Abkehr vom notwendigen Kon-
solidierungskurs, die mit einem Konjunkturprogramm
verbunden wäre, zwangsläufig zu gegenläufigen Ent-
wicklungen führen. Es wäre sehr wahrscheinlich, dass
ein Verlassen des Konsolidierungspfades in der jetzigen
Situation nicht nur ein sträflicher Wiederholungstatbe-
stand wäre, der uns im Hinblick auf das Ziel der Genera-
tionengerechtigkeit Lügen strafen würde und der vor
allen Dingen dem verbreiteten Verdacht Vorschub leis-
tete, dass die Politik im Zweifelsfall immer bereit ist,
sich leichtfüßig in eine höhere Staatsverschuldung zu
flüchten. Diese Abkehr könnte gerade angesichts des
derzeitigen Inflationsdrucks viel mehr auch die europäi-
sche Geldpolitik betreffen. Sie könnte zu einer restrikti-
veren Geldpolitik, also zu Zinserhöhungen durch die
EZB führen. Je nach Ausmaß würde die Konjunktur da-
durch stärker belastet, als ein Konjunkturprogramm be-
schleunigend wirken könnte.

Bisher sind die Auswirkungen der globalen Finanz-
marktturbulenzen auf die deutsche Konjunktur und da-
mit auf den aktuellen Bundeshaushalt verkraftbar. Bis-
her! Es besteht Grund zu der Annahme, dass dies
weiterhin so bleibt. Aber ich rate dringend, sich von der
lieb gewordenen Vorstellung zu verabschieden, dass wir
künftig – genauso wie 2006 und 2007 – mit unerwarteten
Steuermehreinnahmen rechnen könnten, die wir bisher
zu zwei Dritteln in die Absenkung der Nettokreditauf-
nahme und zu einem Drittel in zusätzliche Investitionen
für Wachstum und Beschäftigung gesteckt haben. Ich
sage an dieser Stelle sehr prononciert: Auf unerwartete
zusätzliche Steuermehreinnahmen kann in diesem Jahr
niemand hoffen. Das Gegenteil ist nicht auszuschließen.

Vor diesem Hintergrund sehe ich die hauptsächliche
Gefahr für den weiteren notwendigen Konsolidierungs-
kurs nicht in der konjunkturellen Entwicklung, sondern
in den trotz schwieriger Rahmenbedingungen unge-
bremsten politischen Begehrlichkeiten gegenüber dem
Haushalt.


(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])


Die Gleichzeitigkeit unverträglicher politischer Forde-
rungen und Vorschläge verwirrt nicht nur die Bürgerin-
nen und Bürger, sondern behindert auch die Stetigkeit
unseres Kurses. Runter von der Staatsverschuldung, aber
rauf mit diversen Ausgaben und runter mit den Steuer-
sätzen und das alles gleichzeitig, dies funktioniert nicht.
Das sollte endlich Common Sense in diesem Haus wer-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich betreibe keine Schwarzmalerei, aber die haus-
haltsbelastenden politischen Wünsche übersteigen die
gegenwärtig sichtbaren und beherrschbaren Einnah-
meausfälle durch die etwas schwächer werdende Kon-
junktur um ein Vielfaches. Deshalb sage ich: Vorsicht an
der Bahnsteigkante! Die Große Koalition hat keinerlei
Anlass, von ihrer erfolgreichen, soliden Haushaltspolitik
abzuweichen, weder durch ökonomisch fragwürdige
Programme noch durch zusätzliche steuerliche Entlas-
tungen nach einer Serie bereits erfolgter Steuersenkun-
gen.


(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Die jüngste ist gerade einmal sieben oder acht Wochen
her. Für die anstehenden Verhandlungen zum Bundes-
haushalt 2009 kann dies nur zweierlei bedeuten: Erstens.
Die Verhandlungen werden von uns allen sehr große
Disziplin und Konzentration auf das wirklich Notwen-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
dige verlangen. Zweitens. Sie werden noch weniger ver-
gnügungssteuerpflichtig sein, als sie es je waren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614300400

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-

nächst dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1614300500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es kann gar kein Zweifel sein, dass diese
aktuelle Krise am Finanzmarkt ihren Ausgang in den
Vereinigten Staaten genommen hat, dass dort Fehler ge-
macht worden sind und dass dies zu kritisieren ist. Es ist
aber nicht Sache eines Oppositionspolitikers, sich mit
den Fehlern in den Vereinigten Staaten zu befassen, son-
dern meine Aufgabe ist es, zu prüfen, was die Bundes-
regierung getan hat, ob sie Fehler gemacht hat und wer
für diese Fehler verantwortlich ist. Darüber müssen wir
heute reden.


(Beifall bei der FDP)


Ich halte es auch für richtig, Herr Bundesfinanzminister,
und ich unterstütze – das sage ich jetzt persönlich, weil
wir das in der Fraktion nicht abgestimmt haben –, dass
Sie jetzt in einer erneuten Runde öffentliche Finanzmit-
tel beiziehen, um den endgültigen Untergang der IKB zu
vermeiden, insbesondere um Schaden vom deutschen
Finanzmarkt abzuwenden.

Aber: Wer ist verantwortlich für den riesigen Verlust
an öffentlichen Mitteln, der nun eingetreten ist? Ich will
auf die Fehler hinweisen.

Erstens. Ihr Vorgänger Hans Eichel hat die ersten
Fehler gemacht. 2001 hat er entschieden – der Bundes-
tag war mit dieser Angelegenheit nicht befasst –, dass
die KfW als Eigentümerin bei der IKB eintritt. Es war
immer unsere Auffassung, dass sich eine staatliche För-
derbank nicht an privaten, riskanten Spekulationsge-
schäften beteiligen darf.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe dies, Herr Bundesfinanzminister, auch im
Wahlkampf 2005 öffentlich gesagt. In der WiWo ist das
zitiert. Ich habe Herrn Eichel und Frau Matthäus-Maier
auch persönlich gesagt: Wenn wir 2005 Verantwortung
übernommen hätten, wäre diese Beteiligung unverzüg-
lich veräußert worden. – Dann hätten wir uns den Scha-
den erspart.


(Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wer es glaubt, wird selig!)


Sie haben nun 2005 den Fehler begangen, das zu über-
nehmen und das Engagement fortzusetzen. Sie haben die
Verantwortung dafür, dass der Staat, also der Steuerzah-
ler, an diesen riskanten Spekulationsgeschäften beteiligt
geblieben ist.
Zweiter Fehler. Herr Eichel hat die Bankenaufsicht
unzureichend geregelt. Er hat einen Kompetenzwirrwarr
zwischen Bundesbank und BaFin mit Streitigkeiten bis
jetzt ausgelöst. Jetzt soll es angeblich einen vorläufigen
Kompromiss zwischen beiden Instituten geben. Wir ha-
ben damals gefordert, die Kompetenz auf eine Institution
zu konzentrieren, und zwar am besten auf die Deutsche
Bundesbank, weil diese unabhängig ist und nicht unter
Ihrer Aufsicht steht. Sie würde Ihnen dafür aber auch die
Verantwortung ersparen.


(Beifall bei der FDP)


Auch das ist nicht gemacht worden.

Was ist dabei herausgekommen? Nicht nur Kompe-
tenzwirrwarr bei der Bankenaufsicht, sondern auch
Kompetenzwirrwarr bei der Aufsicht durch den Bundes-
finanzminister; denn Sie sind an der Aufsicht der IKB
direkt und indirekt geradezu dreifach beteiligt, nämlich
durch den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden
Herrn Leinberger, der im Vorstand der KfW sitzt, und
durch Herrn Asmussen, Abteilungsleiter im Finanz-
ministerium, der gleichzeitig im Verwaltungsrat der
BaFin und im Aufsichtsrat der IKB sitzt, sich also sozu-
sagen selbst kontrolliert. Auch das liegt in Ihrer Verant-
wortung. Schließlich hat die BaFin beansprucht, die
Überwachung der IKB selbst durchzuführen und die
Bundesbank herauszuhalten, sodass die Überwachungs-
fehler eindeutig der BaFin zuzuschreiben sind. Diese
dreifache Überwachung hat zu dem Versagen geführt.
Jetzt soll mir aber niemand erklären, das alles wäre ge-
heimnisvoll und vertuscht worden. Ich habe mir – wie es
jeder tun kann – den Geschäftsbericht der IKB aus dem
Internet heruntergeladen und ausgedruckt. Dort sind ja
alle Zahlen aufgeführt; jeder kann sie sich anschauen.
Zumindest Fachleute hätten doch aufmerksam werden
müssen.


(Zuruf von der FDP: Genau so ist es!)


Ich möchte eine Passage zitieren; das ist etwas, was
man sich nur auf der Zunge zergehen lassen kann. In
dem Geschäftsbericht steht: Unsere Investments konzen-
trieren sich zu zwei Dritteln auf US-Portfolios, insbeson-
dere auf Hypothekenkreditforderungen. – Dann kommt
das Schönste:

Wir nutzen unsere große Expertise … in diesem Be-
reich aber auch, um auf Provisionsbasis externe Ge-
sellschaften bei deren Investments in internationale
Kreditportfolien zu beraten. Dies bezieht sich ins-
besondere auf das Conduit „Rhineland Funding Ca-
pital Corporation“ in den USA.

Das ist ja eine Tochtergesellschaft der IKB. Die haben
sie beraten, damit der gleiche Mist, der bei der IKB
durchgeführt wird, auch bei dem Conduit durchgeführt
wird.

„Unsere große Expertise“ – und das hat bei Ihnen nie-
mand gemerkt? Das steht doch alles im Geschäftsbe-
richt! Der Aufsichtsrat bestätigt das ja.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms
Der nächste Fehler: das Krisenmanagement, das Sie
durchgeführt haben – jetzt wird ja schon die dritte Hilfs-
aktion durchgeführt. Die erste Hilfsaktion fand im August
statt: 3,5 Milliarden Euro sind zur Verfügung gestellt wor-
den. Die zweite Hilfsaktion fand am 30. November statt.
Dabei sind die Mittel der KfW zur Abschirmung der Ri-
siken auf 4,8 Milliarden Euro erhöht worden. Vorgestern
gab es die dritte Runde: 1,2 Milliarden Euro öffentliche
Mittel sind zur Verfügung gestellt worden. Das sind ins-
gesamt 6 Milliarden Euro. Ist das jetzt die letzte Runde?
Sind diese Aktionen jetzt abgeschlossen? Oder wie viele
Runden haben wir noch vor uns? Kann das jemand sa-
gen?

Sie beschimpfen die privaten und die anderen Ban-
ken. Sie haben in der FAS in einem Interview gesagt:

Das begründet meine Aufforderung an die anderen
Banken, jetzt schnell alles offenzulegen, was sie an
erkennbaren Risiken mitschleppen, damit der Markt
nicht im Vierzehn-Tage-Rhythmus von Hiobsbot-
schaften weiter nervös gemacht wird.

Was passiert denn in Ihrem Bereich? Was haben Sie
denn jetzt aufgedeckt? – Sie verfahren nach der Salami-
taktik: Wenn es notwendig ist, dann wird etwas aufge-
deckt. Dann wartet man bis zur nächsten Krise. Was hier
vorgeführt wird, ist wirklich dilettantisch.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, insgesamt sind mindestens
6 Milliarden Euro öffentliche Mittel verbrannt. Die sind
verbraucht. Wer ist dafür verantwortlich? Darum geht es
hier. Wir wollen kein Bauernopfer, etwa das von Frau
Matthäus-Maier, sehen. Wir wollen wissen, wer für den
Verlust von 6 Milliarden Euro Steuernmitteln hauptsäch-
lich verantwortlich ist. In diesem Fall ist das eindeutig
der Bundesfinanzminister.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614300600

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Norbert Röttgen

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1614300700

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich möchte in dieser Debatte mit einer ausländi-
schen Stimme beginnen,


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


und zwar mit dem englischen Kolumnisten Martin Wolf,
der sich in der englischen Financial Times – in meiner
freien Übersetzung – kurz so geäußert hat:


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Lesen Sie lieber den Originalton vor!)


Ein Finanzsektor, der enorme Gewinne für die Insider
und gleichzeitig wiederholte Krisen für Hunderte Millio-
nen unbeteiligter Zuschauer produziert, ist auf lange
Sicht politisch inakzeptabel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gerade diejenigen, die eine marktwirtschaftlich geprägte
Globalisierung wollen, müssen das als die Achillesferse
der Globalisierung erkennen. Effektives Handeln ist jetzt
gefordert, bevor eine noch größere globale Krise kommt.

Ich glaube, dass der sicherlich völlig unverdächtige
Kolumnist der Financial Times die politische Dimension
der Krise, in der wir uns befinden, deutlich gemacht hat.
Es gibt sicherlich eine ganze Menge bankenregulatori-
scher Fragen, aber es geht im Kern um diese politische
Dimension.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich seine Aussage noch einmal reduzieren
wollte, würde ich sagen: Es geht inzwischen nicht mehr
nur um die Rettung von Geld, es geht schon gar nicht um
Rechthaberei, sondern es geht um die Wiederherstellung
von Vertrauen. Das ist die Aufgabe und Herausforde-
rung, der wir gerecht werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das geht nicht mit Schnellschüssen. Es braucht Ent-
schlossenheit, vielleicht auch ein bisschen Mut, sich die-
ser Situation zu stellen.

Was könnten Elemente für eine konzeptionelle Ant-
wort auf die Krise sein, die ihr gerecht werden? Es geht
doch darum, aus der Krise zu lernen.

Das erste Element ist: Wir müssen erfassen, was das
Charakteristische der Finanzglobalisierung ausmacht,
was sich eigentlich so fundamental verändert hat – es
gibt fundamentale Veränderungen –, warum wir nicht
einfach mit den Instrumenten und der Art weitermachen
können, die wir in den ersten Jahrzehnten nach dem
Krieg, eingeführt unter Ludwig Erhard, mit Erfolg prak-
tiziert haben.

Ein Charakteristikum ist, dass Risiken und Krisen
zwar national oder regional entstehen, aber in ihren Aus-
wirkungen nicht mehr national oder regional begrenzbar
sind, sondern globale Auswirkungen haben, und zwar
für Politik, Wirtschaft und private Haushalte in der gan-
zen Welt. Niemand kann sich diesen Risiken und Krisen,
die an irgendeiner Stelle entstehen – diesmal in den
USA; es könnte auch Asien sein –, entziehen, auch nicht
hier in Deutschland. Wir sind miteinander verbunden.


(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das aber nicht erst seit gestern!)


Aus diesem Charakteristikum folgt eine Antwort. Es
folgt nicht die Antwort, dass der Staat überflüssig wird.
Ich bin fest überzeugt, dass die Globalisierung den Staat
alles andere als überflüssig macht. Er hat eine neue Auf-
gabe. Tatsache ist aber, dass eine adäquate Antwort auf
die Globalisierung und auch auf die Finanzglobalisie-
rung nicht rein national sein kann. Das Gebot der Stunde
ist internationale Kooperation. Darum sollte man nicht






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Röttgen
so oft damit drohen: Wenn wir uns nicht einigen, ma-
chen wir es allein. – Wir sind nicht der entscheidende
Akteur in dieser Frage, sondern internationale Koopera-
tion ist das Gebot der Stunde.


(Beifall des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU])


Ich möchte auf den Anlass dieser Regierungserklä-
rung zurückkommen, das G-7-Finanzministertreffen. Es
ist zu würdigen, dass es diese Kooperation gibt und dass
unser Land und diese Bundesregierung in ihrer Präsi-
dentschaft die Bedeutung erkannt und eine führende
Rolle übernommen haben. Ich will keine Rechthaberei
betreiben, aber doch an die Auseinandersetzungen erin-
nern, die es um Heiligendamm und das G-8-Treffen in
Deutschland gab, auch an den politischen Widerstand
– das ging bis hin zu militantem Widerstand – gegen das
Treffen und die Kooperation überhaupt. Ich glaube, dass
die Finanzmarktkrise all diejenigen, die sagen: „Wir
brauchen diese Kooperation nicht; sie ist böse; sie ist
eine Versammlung von denjenigen, die Ausbeutung be-
treiben wollen“, eines Besseren belehrt. Manche sollten
ihren Horizont weiten. Nichts ist nötiger als internatio-
nale Zusammenarbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das gilt auch im Hinblick auf die Schwellenländer
– das hat Herr Steinbrück gesagt –, die ein stabilisieren-
der Faktor sind. Darum müssen wir die vorhandenen In-
stitutionen entwickeln. Der Internationale Währungs-
fonds hat eine Geschichte und hat in seiner Geschichte
schon unterschiedliche Funktionen wahrgenommen. Ich
halte es für sinnvoll, den Internationalen Währungsfonds
zu einem globalen Frühwarnsystem für die Finanz-
märkte weiterzuentwickeln. Ein solches Instrument
brauchen wir. Wir sollten an dieser Fortentwicklung ak-
tiv mitwirken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, dass in der aktuellen Finanzmarktkrise die
Stunde Europas schlägt. Nach den großen Erfolgen der
europäischen Integration fragen wir jetzt immer wieder:
Was ist eigentlich die Legitimation Europas heute? Ist
Europa Opfer seines eigenen Erfolges geworden? Nein,
Europa erweist sich im Zeitalter der Globalisierung als
die erste und beste Antwort auf ebendiese Globalisie-
rung. Jetzt, da der Euro fast zehn Jahre alt ist, können
wir auch sagen: Der Euro erlebt in diesen Tagen – ich
glaube nicht, dass das zu hoch gesprochen ist – vielleicht
seine erste historische Rechtfertigung. Der Euro liefert
in dieser Krise den Bürgern in den Ländern der Euro-
zone einen Schutz, den die gute alte Mark nicht hätte lie-
fern können. Der Euro hat sich in dieser Krise als Garant
für Währungsstabilität und als Gestaltungsinstrument
bewährt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist es gut, dass die Entscheidung zugunsten des
Euro getroffen worden ist. Darum erkläre ich, dass wir
als Unionsfraktion – ich glaube, das ist auch die Position
Deutschlands – die entscheidende institutionelle Voraus-
setzung für Währungsstabilität, also für einen stabilen
Euro, erhalten wollen. Diese sehen wir in der unabhängi-
gen Europäischen Zentralbank.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Europa stellt, wie ich glaube, auch die unterste Ebene
für eine Regulierung des Bankensektors dar. Wenn wir
es neben der Aufgabe der Regulierung auch noch schaf-
fen wollen, die Europäische Union zu einem Schutzraum
für ihre Bürger gegen Ansteckung von solchen Gefahren
zu entwickeln, dann dürfen wir nicht weiter zuschauen
– das tun wir zurzeit noch zu sehr –, wie sich die natio-
nalen Wirtschaftspolitiken, abgesehen vom Feld der Re-
gulierung, eher weiter auseinanderentwickeln, als dass
sie zusammenkommen. Die Europäische Union braucht
neben dem Regulierungsansatz auch einen gemeinsa-
men, abgestimmten, kohärenten, insbesondere Deutsch-
land und Frankreich vereinenden wachstums- und wirt-
schaftspolitischen Ansatz. Wir brauchen mehr Kohärenz
der Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union.


(Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD])


Wir können uns nicht auf den Standpunkt zurückziehen,
Deutschland und Frankreich seien traditionell verschie-
den. Nein, das können wir uns nicht mehr leisten. Wir
brauchen eine besser abgestimmte Wirtschaftspolitik in
der Europäischen Union.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt auch für die Sozialpolitik!)


– Das gilt auch für die Sozialpolitik, völlig richtig. Man
kann übrigens Wirtschafts- und Sozialpolitik an dieser
Stelle nicht unabhängig voneinander denken. Völlig
richtig.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das gilt auch für die Steuerpolitik!)


Was bedeutet das für Deutschland? Es bedeutet, dass
Protektionismus keine vernünftige Option für unser
Land ist.


(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])


– Es ist gut, dass Sie sich melden. – Es bedeutet, dass
Stimmungsmache und Angstmache das Gegenteil von
Wahrnehmung politischer Verantwortung sind. Es ist ge-
radezu verwerflich, die Ängste von Menschen zu partei-
politischen Zwecken zu missbrauchen, wie es Ihre Me-
thode ist. Darum ist es gut, dass Sie sich als Betroffene
von sich aus gemeldet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sprechen von Roland Koch? Roland Koch wurde hier gerade zitiert!)


Das bedeutet auch, dass wir schauen müssen, wie sich
Deutschland besser auf die Globalisierung einstellen
kann. Meine Überzeugung ist, dass die entscheidende
Ursache für unser Wachstum ist, dass sich unsere Unter-
nehmen bis in den Mittelstand hinein konsequent auf die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Röttgen
Globalisierung eingestellt haben. Dieser Prozess wurde
in den letzten Jahren vollzogen und stellt die wirtschaft-
liche Basis für unseren derzeitigen Aufschwung dar. Ich
halte die Feststellung für zutreffend, dass sich der
Bankensektor in Deutschland in den letzten Jahren
nicht konsequent auf die Globalisierung eingestellt hat.
Der Bankensektor in Deutschland hat sich nicht optimal
auf die Globalisierung eingestellt.

Zu dem Fragenkomplex, wie der Bankensektor zu-
künftig aussehen soll, gehört auch eine durch die Finanz-
krise auf die Tagesordnung gekommene Frage: Was ist
die Legitimation, und was ist die Rolle öffentlicher Ban-
ken? Meine Damen und Herren, es entspricht nicht der
Wahrnehmung politischer Verantwortung, sich nur mit
den Fragen zu beschäftigen, die bequem sind. Es ist auch
nicht böse, diese Frage zu stellen; vielmehr steht die
Frage, was im Zeitalter der Finanzglobalisierung Rolle
und Legitimation öffentlicher Banken in Bezug auf das
internationale Finanzgeschäft ist, auf der Tagesordnung.


(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])


Diese Frage hat bestimmte bankenspezifische Implika-
tionen, zum Beispiel in Bezug auf die Risiko- und Boni-
tätsbewertung des Kapitalmarktes bei öffentlichen Ban-
ken. Sie hat aber eben auch eine politische Dimension.

Es ist etwas anderes, ob der Staat im Krisenfall einer
privaten Bank gegenübertritt und entscheidet, zu inter-
venieren und zu helfen oder nicht, oder ob der Staat in
Form des Vehikels einer öffentlich-rechtlichen, also
– das sage ich bewusst so – einer privatrechtlichen Bank
mit erheblicher öffentlicher Beteiligung, selber Akteur
ist und für sein Fehlverhalten die Bürgerinnen und Bür-
ger und die Steuerzahler direkt oder mittelbar mit in Haf-
tung nimmt.


(Zurufe von der LINKEN)


Diese Inhaftungnahme der Bürger und Steuerzahler
braucht eine Rechtfertigung.

Diejenigen, die Staatsbanken eine führende Rolle
zuweisen – der Bundesfinanzminister hat das ja in einem
Interview angeregt –, haben eine Bringschuld, zu be-
gründen, warum sich öffentliche Banken im internatio-
nalen Finanzgeschäft beteiligen sollen. Ich glaube, dass
sie das nicht tun sollten; denn diese Bringschuld kann an
dieser Stelle nicht erbracht werden.

Ich möchte einen letzten Punkt anmerken. Was bedeu-
tet die Finanzkrise für Deutschland? Ich glaube, dass sie
den Sinn von Konsolidierungs- und Wachstumspolitik
deutlich macht. Manche Menschen fragen sich: Was ha-
ben wir eigentlich von Haushaltskonsolidierung? Was ha-
ben wir vom Sparen? Was haben wir vom Wachstum? –
Diese Finanzmarktkrise macht deutlich, dass der Sinn
von Konsolidierungs- und Wachstumspolitik darin liegt,
dass der Staat wieder Handlungsfähigkeit gewinnt. Ein
überschuldeter Staat ist nicht krisenfähig; er kann nicht
handeln. Darum müssen wir diesen Kurs – konsolidieren,
Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, Wachstumsgrund-
lagen stärken – fortsetzen. Er macht durch die Herstel-
lung von Wettbewerbsfähigkeit und durch wirtschaftliche
Stärke unser Land stark gegenüber den Ansteckungsge-
fahren der Weltwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine Krise wünscht man sich nie. Wenn sie aber
schon da ist, sollte man das Beste daraus machen, näm-
lich aus ihr lernen. Ich glaube, dass die Veränderungen
so fundamental sind, dass dazu auch politischer Mut ge-
hört. Aber angesichts der Stärken und des Potenzials un-
seres Landes – wir haben es in den letzten zwei Jahren
gesehen – bin ich ganz sicher, dass wir genügend Opti-
mismus für diesen Mut haben können und dass wir der
Verpflichtung, unserem Land zu dienen, es in diesen Zei-
ten wetterfest zu machen und die Chancen zu nutzen,
nachkommen können. Aber es bedarf auch einer aktiven
Annahme der Herausforderungen der Globalisierung.


(Zustimmung bei der FDP)


Das ist eine Aufgabe, der wir uns auch in diesem Parla-
ment stellen müssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614300800

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614300900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Röttgen, in einem Punkt muss ich Ihnen recht geben:
Aus Krisen kann man eine Menge lernen.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber nicht alle tun es!)


Das entspricht auch meinen Erfahrungen; das will ich
gar nicht leugnen. Ich habe mich auch gefreut, dass Sie,
Herr Steinbrück, gesagt haben, die letzte Steuerkürzung
sei erst sieben Wochen her. Sie hätten aber dazusagen
sollen, dass es sich dabei um eine Kürzung der Körper-
schaftsteuer für die Kapitalgesellschaften, also die Deut-
sche Bank, handelte, während Sie vor über einem Jahr
für die Gesamtheit die Mehrwertsteuer um 3 Prozent er-
höht haben. Das ist das, was wir an Ihrer Steuerpolitik
immer kritisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde, wir müssen kurz darstellen, worum es bei
dieser Krise geht und was in den USA geschehen ist. Die
Öffentlichkeit muss das ja verstehen. Die Banken in
den USA haben Kredite an Hausbesitzer oder Leute, die
Häuser kaufen wollten, auch wenn sie kaum Geld hatten,
gegeben. Das klingt erst einmal edel, und man sagt:
Mein Gott, die geben ja sogar Ärmeren Geld.


(Zuruf von der FDP)


– Ich sagte, es klingt edel. – Das Problem ist nur, dass die
Banken davon ausgingen, dass die Häuser im Wert stei-
gen und dass man im Wege der Zwangsversteigerung al-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
les wunderbar realisieren kann. Da haben sie sich ver-
spekuliert; denn der Wert der Grundstücke ist gesunken.
Weil sie aber schlau sind, haben sie gesagt: „Das Risiko
wollen wir nicht alleine tragen“, Wertpapierfonds gebil-
det und diese den Europäern angeboten. US-hörig, wie
die Europäer sind, allen voran die öffentlich-rechtlichen
Banken, haben sie sich gesagt: Das müssen wir unbe-
dingt kaufen; da machen wir ein todsicheres Geschäft. –
Damit sind sie furchtbar auf die Schnauze gefallen. So
einfach ist das Ganze.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Röttgen, Sie haben gefragt, was das Typische an
der Finanzglobalisierung ist. Das kann ich Ihnen sagen;
denn dafür gibt es eine unwiderlegbare Zahl: Täglich
werden weltweit 1 900 Milliarden Dollar umgesetzt. Für
den gesamten Waren- und Dienstleistungsbereich sind
das täglich 38 Milliarden Dollar, also 2 Prozent davon.
Das heißt, dass 1 862 Milliarden Dollar täglich zu reinen
Spekulationszwecken umgesetzt werden. Das hat die
Politik ermöglicht,


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hat nicht die Politik ermöglicht!)


und das bezahlen wir heute in dieser Krise teuer. Das ist
die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann nämlich entgegen der Annahme mancher
Banker aus Geld nicht Geld machen. Das funktioniert
nie oder nur kurzfristig, und irgendwann hat man den
Schaden. Herr Steinbrück, Sie haben die Bankvorstände
kritisiert. Ich muss hier Herrn Solms zustimmen – ich
weiß nicht, ob ihm das angenehm ist oder mir; das spielt
auch keine Rolle; auf jeden Fall muss ich ihm zustim-
men –: Sie, Herr Steinbrück, haben nichts zur Verant-
wortung der staatlichen Kontrolle gesagt und damit auch
nichts zu Ihrer eigenen Verantwortung. Das ist nicht hin-
nehmbar.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich führe einmal die entsprechenden Beispiele an. Die
Westdeutsche Landesbank aus NRW hat sich an den un-
sicheren Geschäften mit 23 Milliarden Euro beteiligt,
und zwar in der Zeit, Herr Steinbrück, als Sie als Finanz-
minister bzw. Ministerpräsident die Aufsicht hatten.
Aber Sie haben nichts dazu gesagt.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP)


Die Bayerische Landesbank hat unter Aufsicht des
Finanzministers und heutigen CSU-Vorsitzenden Huber
Risikogeschäfte im Umfang von 16 Milliarden Euro ge-
macht. Dazu ist nichts gesagt worden.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP)


Die Sachsen-Landesbank hat unter Verantwortung
des früheren Finanzministers und heutigen Ministerprä-
sidenten Milbradt sowie des heutigen Finanzministers
Tillich Risikogeschäfte im Umfang von 18 Milliar-
den Euro gemacht. Dazu ist nichts gesagt worden.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP)

Dann gibt es noch die Industriekreditbank, eine pri-
vate Mittelstandsbank, die mindestens 15 Milliarden
Euro in diese Risikogeschäfte gesteckt hat. Nur hat sich
– da hat Herr Solms völlig recht – eine öffentlich-rechtli-
che Einrichtung, nämlich die Kreditanstalt für Wieder-
aufbau, an dieser Privatbank zu 38 Prozent beteiligt und
haftet jetzt für alles mit. Das ist das Problem, vor dem
wir unter anderem stehen.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Steinbrück, Sie haben nichts dazu gesagt, dass
ein Angehöriger Ihres Ministeriums im Aufsichtsrat der
Industriekreditbank sitzt. Was hat er da eigentlich getrie-
ben? Sie und auch Herr Glos haben Kontrollfunktionen
bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Wie haben Sie
diese eigentlich wahrgenommen? Sie hätten sagen müs-
sen: Alle diese Kontrollfunktionen haben nichts, aber
auch gar nichts diesbezüglich verhindert. – Das wäre die
erste ehrliche Feststellung gewesen.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP)


Dann gibt es noch – auch da hat Herr Solms recht –
die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht.
Man fragt sich, wozu wir die eigentlich haben, wenn sie
nichts davon mitkriegt, was an Spekulationsgeschäften
weltweit läuft.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP)


Damit komme ich zur zweiten Seite, zur Deregulie-
rung. Herr Steinbrück, Sie haben – im Übrigen völlig zu
Recht – vor einem Jahr in einem Interview gesagt, dass
es da „komische Produkte“ und eine „irrationale Ent-
wicklung“ auf dem Finanzmarkt gibt. Das stimmt. Aber
Sie vergaßen zu erwähnen, dass diese komischen Pro-
dukte und diese irrationale Entwicklung überhaupt erst
durch die SPD/Grünen-Regierung erlaubt worden ist.
Wenigstens das müssen Sie doch einmal feststellen.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP)


Es war Ihr Vorgänger, Hans Eichel, der die Hedge-
fonds zugelassen hat, über die dann später Müntefering
gemeckert hat. Es war die Änderung des Finanzmarkt-
förderungsgesetzes und des Kreditwesengesetzes, mit
denen die komischen Produkte und die Spekulation in
Deutschland zugelassen wurden. Sie selber, Herr
Steinbrück, haben gesagt, dass die Kreditverbriefungen
das Ziel der Finanzmarktförderung sind. Wissen Sie,
was die USA gemacht haben? Sie haben das alles als
Kreditverbriefungen angeboten. Ihr Ziel ist also erreicht
worden, und damit sind wir jetzt auf die Schnauze gefal-
len. Das ist die Wahrheit; das muss man doch einmal sa-
gen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will den Nobelpreisträger für Wirtschaft Joseph
Stiglitz erwähnen, damit Sie nicht denken, die Einwände
kämen nur von der Linken oder gelegentlich von der
FDP; sie kommen auch von anderer Seite.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von der DKP!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
– Dazu würde ich an Ihrer Stelle jetzt gar nichts sagen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn?)


Joseph Stiglitz hat der taz gesagt:

Die wichtigste Ursache der gegenwärtigen Turbu-
lenzen ist ein Übermaß an Deregulierung.

Das ist das Problem. Wir wollen eine Re-Regulierung.
Wenn die Politik die direkte Verantwortung für die Fi-
nanzmärkte weltweit aufgibt, dann schwächen wir die
Demokratie. Denn die Wahlmöglichkeit zwischen der
Union und der Linken würde diesbezüglich nichts mehr
bringen, wenn beide in diesen Fragen nichts mehr zu
entscheiden haben. Genau das wollen wir aber nicht. Wir
wollen ein Primat der Politik, auch über die Finanz-
märkte, und nicht umgekehrt.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt: Wir fordern ein Verbot von Nebengeschäf-
ten und Zweckgesellschaften. Wir meinen, dass ange-
sichts dieser Unsummen, mit denen dort jongliert wird,
entsprechende Sicherheiten hinterlegt werden müssen
und es eine wirksame Kontrolle geben muss.

Es ist schon absurd. Sie müssen den Bürgerinnen und
Bürgern einmal Folgendes erklären: Wenn ein Bäcker-
meister eine zweite Filiale eröffnet und er die Umsätze
nicht angibt, dann hat er mehrere Staatsanwälte und das
Finanzamt auf dem Hals; da ist dann was los. Wenn ein
ALG-II-Bezieher falsche Angaben macht und dadurch
50 Euro monatlich mehr bekommt, als ihm zusteht, dann
werden wir aber aktiv. Aber wenn Milliarden weltweit
verschleudert und verspielt werden, dann gibt es kein Fi-
nanzamt und keinen Staat, die sich darum kümmern. Das
ist nicht vermittelbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt kommt der eigentliche Nachteil. Wer haftet denn
für eintretende Verluste? Das sind doch nicht Ihre Privat-
kassen. Dann haften die Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler. Das ist nicht vermittelbar. Herr Röttgen hat recht,
wenn er das sagt. Das ist wirklich nicht vermittelbar.

Das Problem ist, dass Sie, Herr Steinbrück, erst ge-
sagt haben, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wür-
den diesmal nicht haften; dafür würden Sie sorgen. Jetzt
sagen Sie: Na ja, 1,5 Milliarden Euro! – Als ob das
nichts wäre! 1,5 Milliarden Euro ist der Betrag, den die
Union brauchte, um die Umsetzung ihrer Kindergeldfor-
derung zu finanzieren. Dann kommt nachher wieder das
Argument: Jetzt haben wir leider kein Geld mehr. – Ver-
stehen Sie, das sind die Zusammenhänge, die die Leute
immer besser durchschauen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Steuermindereinnahmen sind doch ein gesell-
schaftliches Problem. Ich kenne die Zahlen nicht genau;
ich tue auch nicht so, als ob ich sie genau kenne. Sie
nennen als Größenordnung eine Summe von 5 bis 6 Mil-
liarden Euro. Ich kann das nicht einschätzen. Es geht
hier aber um Verluste in Milliardenhöhe. Wer muss die
denn ausgleichen? Wollen Sie das wieder mit einer
Mehrwertsteuererhöhung machen, oder wie müssen die
Bürgerinnen und Bürger das bezahlen? Entweder Sie
kürzen Leistungen oder Sie erhöhen Steuern; das ist
nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht aber nicht nur darum. Die Länder überneh-
men Bürgschaften. Viele Bürgschaften in Milliarden-
höhe werden übernommen. Keiner von uns kann ein-
schätzen, wie viel Geld davon fällig wird und wie viel
Geld nicht fällig wird.

Dann haben wir noch die Westdeutsche Landesbank.
Die entscheidet sich, 1 500 Menschen zu entlassen. Da
trifft es direkt die Beschäftigten, die jetzt für die Verluste
herhalten müssen. Das ist das, was mich so stört; Ban-
kenkrise für Bankenkrise passiert dasselbe: Die Gewinne
streichen die privaten Banken ein. Da schreien sie alle:
Wir wollen keinen Staat. Kommt bloß nicht zu uns! Das
sind unsere Gewinne. Es ist furchtbar, wenn wir dafür
ein paar Steuern zahlen müssen etc. – Die Gewinne strei-
chen sie ein. Aber sobald Verluste vorhanden sind, rufen
sie nach den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, die
das ausgleichen sollen. Die Zeche bezahlen letztlich im-
mer dieselben. Es sind die Rentnerinnen und Rentner,
die Arbeitslosen, die Kranken, die abhängig Beschäftig-
ten und – nicht zu vergessen – die kleinen und mittleren
Unternehmen; denn diese werden steuerlich ganz anders
kontrolliert als die Großkonzerne. Das ist ein Problem,
das wir haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt will ich gar nicht auf Herrn Zumwinkel zu spre-
chen kommen. Aber all das ist Symbolik. Wir haben
– das habe ich schon mehrfach gesagt – einen Reichtum,
der maßlos wird. Wir haben zunehmende Armut. Jede
Gesellschaft verträgt hier nur eine bestimmte Spanne.
Wenn diese Spanne immer größer wird, ist dies gesell-
schaftlich zerstörerisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb sage ich Ihnen: Machen Sie etwas dagegen! Das
sollte sich nicht so weiterentwickeln.

Herr Röttgen hat zu Recht gesagt, dass wir über die
Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Banken neu disku-
tieren müssen. Das stimmt. Ich möchte daran erinnern:
Landesbanken sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie
sollen auch kleine Kredite an Bürgerinnen und Bürger
sowie an kleine und mittlere Unternehmen gewähren. Es
muss ihnen untersagt werden, weltweit zu spekulieren –
und dann noch frei von Kenntnis, also ohne jede Sach-
kenntnis, ohne wirksame Kontrolle und das Ganze zum
Nachteil der Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen die
Aufgaben der Landesbanken deutlich formulieren. Wir
wissen das aus Berlin. Wir wissen das aus Sachsen und
jetzt auch aus Bayern.

Nun lassen Sie uns doch einmal etwas unternehmen,
indem wir festlegen, was deren Aufgabe eigentlich ist.
Sie sollen fördern und helfen und nicht weltweit speku-
lieren, wovon sie nichts verstehen, und dann müssen die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler das alles bezahlen.
Genau das ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614301000

Ludwig Stiegler ist der nächste Redner für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1614301100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege

Röttgen hat gerade vergessen,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hat vor allen Dingen eine gute Rede gehalten!)


Steinbrück und Glos dafür zu danken, dass sie in dieser
Krise gemeinsam wie weiland Plüsch und Plum so be-
sonnen und beherzt gehandelt haben. Deshalb sage ich
dies in seinem Namen an die Adresse der beiden Minis-
ter.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich denke, wir sollten froh sein, dass sie manches Tren-
nende hintangestellt, die Sache gemeinsam vorange-
bracht und Schaden von diesem Lande abgewendet ha-
ben. Es ist leicht, demagogisch zu reden, wie es Kollege
Gysi getan hat.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Es ist aber schwer, dann im harten Alltag Schaden von
den Menschen und von unserer Ökonomie abzuwenden.
Das ist die Hauptaufgabe, die die Politik in diesen Tagen
hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben hier wieder ein schönes Déjà-vu-Erlebnis.
Wir Sozialdemokraten haben in unserem Grundsatzpro-
gramm stehen: So viel Staat wie nötig und so viel Markt
wie möglich. Wir haben gesehen: Wenn ein alleingelas-
sener Markt versagt, ist die internationale Staatenge-
meinschaft genötigt, wieder für Recht und Ordnung zu
sorgen. Die Krise ist da. Sie ist tiefgreifend und hässlich.

Ich möchte an dieser Stelle auch den Zentralbanken
danken. Sie haben die Liquiditätskrise großartig gemeis-
tert. Die Banken haben einander nicht mehr vertraut. Sie
wären an ihrem gegenseitigen Misstrauen erstickt. Sie
haben gedacht: Wenn die anderen bei ihren Papieren so
einen Mist haben wie wir, können wir ihnen kein Geld
geben. – Die Banken waren nicht in der Lage, sich selbst
zu disziplinieren. Die Zentralbanken haben ihre
„wealthy and successful asses“ gerettet. Sage mir also
keiner, der Staat habe in der Finanzindustrie nichts zu
suchen. Wir haben jetzt den Beweis dafür.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In der Not flüchten alle in Staatsanleihen. In der Not sind
die Zentralbanken Lender of last resort.

Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Krise in
der Finanzindustrie nicht auf die Realwirtschaft durch-
schlägt. Das ist das Entscheidende. Wir haben eine gute
Konjunktur. Wir müssen sie retten und bewahren. Das
werden wir auch tun.

Die Bedenken sind es durchaus wert, darüber zu dis-
kutieren. Wer gestern die Rede von Bernanke gehört
bzw. gelesen hat und wer die Äußerungen von Strauss-
Kahn vom IMF vernommen hat, weiß das. Zum ersten
Mal seit 25 Jahren fordert der IMF einen Fiskalimpuls.
Früher hat er immer genau das Gegenteil gesagt. Des-
halb sage ich auch an die Adresse der Bundesregierung:
Halten wir es wie die klugen Jungfrauen, und bereiten
wir uns auf den Tag und die Stunde vor, wo wir handeln
müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will keine Hektik verbreiten; das ist auch keine
Übertreibung. Aber es muss Vorsorge getroffen werden.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614301200

Herr Kollege Stiegler, ich mache vorsichtshalber da-

rauf aufmerksam, dass ich den Einzug mit Öllampen in
das Parlament aus Sicherheitsgründen nicht gestatten
könnte.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo, Herr Präsident!)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1614301300

Dann werden wir sie modernisieren und Elektro-

lampen daraus machen.

Das Positive ist, dass es in Deutschland keine Kredit-
klemme gibt. Die Sparkassen und Genossenschafts-
banken haben genügend Geld, um die Kreditbedürfnisse
zu befriedigen. Wir haben keine amerikanischen oder
englischen Verhältnisse. Wir haben derzeit mehr Geld,
als gebraucht wird. Unser Bankensystem hat sich in Kri-
senzeiten bewährt. Was mussten wir in den letzten Jah-
ren über die Überlegenheit des angelsächsischen Sys-
tems lesen! Ganze Bibliotheken sind mit Büchern
darüber gefüllt worden. Jetzt wissen wir: Das At-Arm’s-
Length-Banking hat dazu geführt, dass alle in die Grube
gefallen sind. Ein gutes Banking in Zusammenarbeit mit
Einlegern, Kunden und Unternehmen, das ist es, was wir
auch in Zukunft in Deutschland brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Röttgen, wir haben keinen Grund, die öffentli-
chen Banken schlechtzureden. Wir haben Gott sei Dank
die Sparkassen; die Sparkassen sind in Zeiten des Sturms
ein Stabilitätsfaktor in den Regionen. Man darf die
Transformationsprobleme einiger Landesbanken nicht
hernehmen, um die öffentlichen Banken insgesamt ins
Gerede zu bringen. Der öffentliche Sektor ist unsere
Rückversicherung, gerade im Zeitalter der Globalisie-
rung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU]: Die Sparkassen müssen zahlen!)







(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
Ich stimme Ihnen zu: Diese Banken sollten nicht mit den
großen Hunden pinkeln gehen, weil sie am Ende das
Bein nicht hochbringen. Das haben wir jetzt mehrfach
feststellen können. Entweder sind die Landesbanken
Partner der Sparkassen


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Davon habe ich gesprochen!)


und helfen ihnen daheim bzw. auf internationaler Ebene
bei der Syndizierung von Krediten, oder sie nehmen
diese Aufgabe nicht wahr. Dann sollten sie die Gelder
zurückgeben, und die Sparkassen erledigen das selber.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das war mein Thema!)


Der öffentliche Finanzsektor darf aber nicht nebenbei ins
Gerede gebracht werden. Das Dreisäulensystem ist für
uns eine wichtige Rückversicherung.

Wir müssen das Hauptproblem angehen. Was ist denn
die Hauptursache? Was steckt hinter all dem, was pas-
siert ist? Das ist die Gier nach übermäßiger Rendite. Wer
mehr Rendite haben will, als man realistischerweise er-
warten kann, kauft diese schlimmen Produkte. Wir brau-
chen wieder mehr Moral und Selbstbeherrschung in der
Finanzindustrie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])


Anders als diejenigen, die die Gier zu solchem Verhalten
gebracht hat, sollten wir auf dem Boden bleiben und
nicht das ganze System infrage stellen.

Wir haben – in den USA wie bei uns – Lehren zu zie-
hen. Ich orientiere mich dabei an dem, was das Finan-
cial Stability Forum aufgezeigt hat. Verheerende Kre-
ditprüfungsstandards gibt es bei uns nicht. Wir vergeben
keine Kredite an Kreditnehmer, bei denen nur die
Adresse stimmen muss; wir haben ordentliche Kreditbe-
ziehungen. Ich war froh, dass die Sparkassen gestern
auch gesagt haben, dass sie ordentliche Kredite nicht
weiterverkaufen und dafür auch nicht mehr Geld verlan-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In den USA gab es betrügerische Praktiken. Wenn ein
Institut wie das Financial Stability Forum Begriffe wie
„betrügerische Praktiken“ benutzt, dann muss das schon
gewaltig gewesen sein. Ich denke, man wird mit den
Amerikanern reden müssen, wieso es unter Aufsicht der
Fed und Tausender von Agenturen zu diesen betrü-
gerischen Praktiken – Drückerkolonnen wurden in ir-
gendwelche Gegenden geschickt und haben Kredite
verkauft – kommen konnte und wie das in Zukunft ver-
hindert werden kann, aber auch darüber, wer für den
Schaden geradesteht. Ich denke, man sollte nicht einfach
sagen, dass wir das hinnehmen. Diejenigen, die Mist in
Goldpapier verpackt und ihn als werthaltig verkauft ha-
ben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Daran war auch die Deutsche Bank beteiligt. Es ist er-
staunlich, dass die Deutsche Bank in ihrer Pressekonfe-
renz gesagt hat: Wir waren so schlau und sind frühzeitig
ausgestiegen. – Gleichzeitig haben sie den Mist noch ge-
handelt. Kann man als ordentlicher Kaufmann einem
Partner Mist verkaufen? Sie sollten einmal das Protokoll
der Pressekonferenz der Deutschen Bank nachlesen und
überlegen, ob das so in Ordnung ist.


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber wer kauft das?)


– Einverstanden, es gibt den Grundsatz „caveat emptor“,
der Käufer soll aufpassen. Aber Betrug ist selbst unter
diesen Bedingungen nicht erlaubt. Wenn ich weiß, dass
ich mit Mist handele, dann muss ich es auch als Mist de-
klarieren und nicht als Gold.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])


Bei den Banken gibt es ein schwaches Risikomanage-
ment. Da sollten sie in sich gehen. Wir haben gutgläu-
bige Investoren, die nicht selber geprüft haben, was sie
gekauft haben, sondern sich auf Triple A verlassen ha-
ben. Wir müssen mit den Ratingagenturen hadern, die
falsche Illusionen geweckt haben. Sie sollen in Zukunft
für das, was sie empfehlen, haften. Hier ist Moral Ha-
zard im Spiel. Die Ratingagenturen dürfen nicht etwas
als Triple A deklarieren, was sie selber gestrickt haben
und wofür sie bezahlt worden sind; das muss in Zukunft
getrennt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hinzu kommen die Verlockungen im Bezahlungssys-
tem der Beteiligten. Diese Boni-Sklaverei vieler Banker
ist eine der Ursachen dafür, dass sie moralisch schwach
geworden sind. Wir haben gerade im Zusammenhang
mit Managergehältern darüber gesprochen. Wir müssen
auch darüber reden, dass die Bezahlung in der Finanzin-
dustrie nicht dazu verleiten darf, andere zu betrügen und
nur auf kurzfristigen Vorteil zu achten.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Schauen Sie sich das bei der IKB an!)


Wir müssen Modelle entwickeln, die man durch-
schauen kann. Wer heute die verschiedenen CDOs an-
schaut, der braucht große Rechnerwerke, um die Finanz-
flusskaskaden überhaupt zu überblicken. Wir müssen
dafür sorgen – national, international und europäisch –,
dass in der Branche wieder nach Regeln gespielt wird.
Erst dann wird das Vertrauen zurückkehren. Kredit
kommt von Vertrauen. Wenn das Vertrauen fort ist, dann
bricht alles zusammen. Zum Vertrauen gehören klare
Regeln, eine strenge Aufsicht, aber auch die Beherr-
schung der Gier.

An Warnungen hat es in den letzten Jahren nicht ge-
fehlt. Aber sie sind international nicht befolgt worden.
Es ist lächerlich, allein auf ein paar deutsche Institute,
auf ein privates Institut, die IKB, einzuprügeln. Wenn
ich in die Schweiz, nach Frankreich oder nach England
schaue, dann stelle ich fest: Unter vielen anderen Sün-






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
dern befindet sich auch ein deutscher. Dieses Problem
müssen wir bewältigen. Ein Stück weit haben wir das
bereits getan, indem wir gesagt haben: Wir wollen nicht
Tausende von anderen schädigen. Der Finanzminister
hat diese Angelegenheit ordentlich gemanagt. Wir dür-
fen die Finanzmärkte in Zukunft nicht der Gier überlas-
sen, sondern wir müssen hier eine ordentliche Arbeit
machen.

Gerade was die IKB betrifft, stelle ich mir so manche
Frage. Die Ackermänner und die Müller von den priva-
ten Banken rühmen sich in Pressekonferenzen ihrer gro-
ßen Gewinne. Wenn es aber um die Rettung einer priva-
ten Bank geht, dann sagen sie, wie die Schwaben es
ausdrücken: Wir habbet nix, wir gebbet nix, wir hän
schon gegebbe.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])


Auch das ist kein Verhalten, das sich hier zur Nach-
ahmung empfiehlt.

Wir haben eine schwere Krise. Mit Jammerei und Be-
schuldigungen kommen wir da nicht heraus. Wenn die
Feuerwehrleute darüber diskutieren, wer am Brand
schuld ist, dann ist ein warmer Abbruch die Folge. Wir
haben jetzt miteinander diese Krise zu bewältigen und
Schaden von der Realwirtschaft abzuwenden.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist ihre eigene Verantwortung!)


Wir haben uns darauf vorzubereiten, dass die Krise nicht
anhält. Das ist unsere Aufgabe, die wir gemeinsam erfül-
len werden.


(Zurufe von der LINKEN)


– Sie können weiterhin am Wegesrand quengeln. Das ist
Ihre Rolle; das ist okay. Dafür braucht man nicht viel
Hirnschmalz. Wir werden uns anstrengen, das Notwen-
dige zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614301400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun

der Kollege Fritz Kuhn das Wort.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614301500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Stiegler, ich fand übrigens nicht, dass
Herr Gysi unverantwortlich dahergeredet hat.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Lesen Sie das noch mal nach!)


Er hat eine analytisch präzise Aussage gemacht: Wenn
die kleinen Leute Mist bauen, dann werden sie zur Re-
chenschaft gezogen; wenn eine große private Bank plei-
tegeht, dann hilft der Staat aus. – Das war kein Populis-
mus, sondern eine Analyse.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wir haben ein Problem zu lösen!)

Sie haben mit irgendwelchen feuilletonistischen Aussa-
gen herumgeeiert, ohne wirklich konkret zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Finanzminister, als Sie Ihre Regierungserklärung
abgegeben haben, hatte ich das Gefühl: Da redet jemand,
der für irgendeine große Tageszeitung die internationa-
len Finanzmärkte analysiert; er stellt hier und da eine
kleine These auf, und der Text, den er vorträgt, wirkt
rund. Ich habe nicht den Eindruck gehabt: Hier redet
jemand, der als Finanzminister der Bundesrepublik
Deutschland, auch als Chef der Finanzaufsicht die Ver-
antwortung für das hat, was am Finanzmarkt in Deutsch-
land geschehen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Steinbrück, außerdem hatte ich den Eindruck: Je
länger Sie reden, je schneller Sie reden, je witziger Sie in
Ihrer Ironie reden, desto mehr entziehen Sie sich dieser
Verantwortung. Sie glauben wohl, Sie könnten dieses
Parlament mit Ihrer Analyse in den entscheidenden Fra-
gen täuschen: Was haben Sie eigentlich falsch gemacht?
Hätten Sie etwas anders machen müssen? An welchen
Punkten hat dieser Finanzminister versagt?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die erste Warnung vor den Subprime-Krediten und
vor der amerikanischen Immobilienkrise hat der IWF im
Dezember 2005 schriftlich – also für alle lesbar – ausge-
sprochen; ich erspare Ihnen jetzt das entsprechende Zi-
tat. Im Dezember 2005 wurde klargemacht: Es sind in
den Vereinigten Staaten viele ungesicherte Kredite un-
terwegs; die internationale Finanzgemeinschaft möge
damit vorsichtig umgehen.

Jetzt stelle ich mir die Frage: Was macht eigentlich
ein Finanzminister, der dies liest? Im Aufsichtsrat der
IKB sitzt ein Abteilungsleiter seines Ministeriums. Der
Finanzminister weiß zudem, dass Landesbanken – sein
Ministerium ist für sie nicht zuständig; dennoch ist er
von den Steuereinnahmen der Länder abhängig – in die-
sen Bereichen spekulieren. Das war kein Geheimnis; das
steht ja auch in den Geschäftsberichten. Herr Solms hat
es richtig gelesen. Ich frage noch einmal: Was macht ei-
gentlich dieser Finanzminister? Herr Steinbrück, haben
Sie Ihre Mitarbeiter, die dem Kontrollorgan der IKB an-
gehören, aufgefordert, festzustellen, inwiefern Sub-
prime-Kredite Spekulationsgegenstand der IKB sind?
Haben Sie dies als Mitverantwortlicher für dieses Geld-
institut getan, ja oder nein? Sehr verehrter Herr
Steinbrück, darüber hätten Sie hier einmal reden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Der Chef von Eon, Herr Dr. Hartmann, ist der Vorsit-
zende des Aufsichtsrats der IKB. Hat er genug Zeit, um
diese private Bank effektiv kontrollieren zu können,






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
oder nicht? Da frage ich mich: Wann reden wir hier ein-
mal über die Aufsichtsratsstrukturen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])


Wir fordern seit langem: Es sollten nicht mehr als fünf
Aufsichtsratsmandate pro Person erlaubt sein. Außer-
dem sollten Aufsichtsratsmitglieder die notwendige Zeit
und Kompetenz haben, um sich mit den Details zu be-
schäftigen. Herr Steinbrück, hierfür sind Sie verantwort-
lich.


(Peer Steinbrück, Bundesminister: Nein! Dafür bin ich nicht verantwortlich!)


– Selbstverständlich haben Sie hier eine Verantwortung.
Ich wünsche mir einen Finanzminister, der darauf achtet,
dass in Deutschland keine unerträglichen Risiken vor-
handen sind, für deren Beseitigung im Zweifel der Staat
einspringen muss.

Reden wir doch einmal konkret über die IKB. Bisher
sind dort 7,6 Milliarden Euro verbraten worden. Obwohl
der Anteil des Bundes an der IKB nur 38 Prozent be-
trägt, hat er davon indirekt über die KfW schon
6 Milliarden Euro übernommen. Dabei ist die IKB eine
private Bank; viele wissen das nicht. Ich frage mich:
Was ist mit den privaten Banken? Wo ist ihr Beitrag?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Erste, was ich von Ihnen verlange, Herr Minister,
ist, dass Sie durchsetzen, dass die privaten Banken einen
höheren Anteil erbringen, wenn die IKB gerettet werden
soll. An dieser Stelle möchte ich festhalten: Es ist rich-
tig, dass die IKB gerettet wird. Würde man das nicht tun,
würden viele, die gar nichts dafür können, darunter lei-
den.

Zweitens. Da sich der Bund über die KfW mit jetzt
noch einmal 1 Milliarde Euro – vielleicht wird dieser
Betrag sogar noch höher – an der Beseitigung des ent-
standenen Schadens beteiligt, würde mich interessieren:
Können Sie diesem Hohen Hause eigentlich garantieren,
dass es das dann war? Oder ist in der nächsten Woche
oder in drei Wochen die nächste Milliarde fällig? Sie
müssen ausschließen, dass sich das wiederholt. Sonst
stellt sich die Frage: Wie viel Geld stecken wir in dieses
Kartenhaus noch hinein? Das wäre nicht zu verantwor-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])


Herr Finanzminister, Ihre Darstellung, was auf inter-
nationaler Ebene, zum Beispiel im Rahmen der G 7, zu
tun ist, war schön. Sie haben viele Vorschläge aufge-
führt, die wir schon einmal gemacht haben. Indem Sie
diese Debatte führen, lenken Sie aber davon ab, dass die
Bundesregierung und ganz speziell Sie als Finanzminis-
ter Verantwortung für das tragen, was in diesem Sektor
geschieht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hermann Otto Solms [FDP])


Jetzt möchte ich noch etwas zur Verantwortung der
Länder und zu den Landesbanken sagen. Bei mir hat es
geraschelt, als der Ramsauer Peter am Dienstag dieser
Woche gesagt hat: Wenn es nach ihm ginge, dann gäbe
es schon lange einen Untersuchungsausschuss.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Stimmt überhaupt nicht! Das nehmen Sie zurück! Zitieren Sie doch richtig! Sie verfälschen! Wenn Sie das sagen, dann sind Sie ein Fälscher!)


Ich habe mir gleich gedacht: Wenn der Ramsauer Peter
so daherredet, dann will er nur von der Bayerischen Lan-
desbank ablenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie Fälscher und Verleumder!)


– Jetzt schreien Sie. Es ist immer ein gutes Zeichen,
wenn Herr Ramsauer schreit; denn dann ist er getroffen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie fälschen und verleumden!)


Was ist da geschehen? Die „schlaue“ CSU wollte die
Veröffentlichung des Ergebnisses der Bayerischen Lan-
desbank am liebsten auf die Zeit nach der Kommunal-
wahl hinauszögern.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! So war es!)


Das hat aber – Gott sei Dank! – nicht funktioniert, weil
die Finanzmärkte in solchen Situationen etwas kritischer
sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Zu Ihrem Parteivorsitzenden kann man nur sagen:
Entweder ist er verlogen, oder er ist einfach dumm.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Denn als Finanzminister von Bayern ist er unter anderem
für die Aufsicht der Bayerischen Landesbank zuständig.
Er muss wirklich von Tuten und Blasen keine Ahnung
gehabt haben; er wusste nicht, was bei diesem Geldinsti-
tut los war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE] – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie erzählen ja den gleichen Blödsinn wie Ihre Kollegen von den Grünen im Bayerischen Landtag!)


– Herr Ramsauer, Sie können es sich aussuchen: dumm
oder verlogen. Es liegt an Ihnen, die bessere Alternative
zu wählen.

Ich komme zum Schluss. Wir haben viele kluge Vor-
schläge dazu gehört, wie man auf internationaler Ebene
vorgehen sollte. Die Bundesregierung hat sich ihrer Ver-






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
antwortung aber nicht gestellt. Das werden wir, die Op-
position – ich glaube, hier sind sich alle drei Opposi-
tionsfraktionen einig –, Ihnen nicht durchgehen lassen.
Sie sind für das, was geschehen ist, mitverantwortlich.
Dieser Verantwortung müssen Sie sich stellen. Bereiten
Sie sich auf intensive Debatten in den nächsten Wochen
vor!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614301600

Ich erteile das Wort dem Kollegen Eduard Oswald für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1614301700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

debattieren heute im deutschen Parlament die Finanz-
marktentwicklung und die Finanzmarktkrise. Wir wür-
den allerdings einen großen Fehler machen, wenn wir
diese Diskussion so führen würden, als handele es sich
dabei vor allem um ein deutsches Problem. Schließlich
hat diese Krise ihren Ausgang an den US-Immobilien-
märkten genommen. Es wäre wünschenswert gewesen,
wenn die amerikanische Finanzaufsicht der wundersa-
men Geldvermehrung, die uns auf dem Wege der Ver-
briefung und des weltweiten Verkaufs strukturierter Fi-
nanzprodukte erreicht hat, nicht so lange zugeschaut
hätte.

Ich sage ein Zweites: Risikofreude bei Unternehmen
und Investoren darf, ja soll sich lohnen. Wenn aber risi-
kofreudige Investoren stets damit rechnen können, dass
sie bei Turbulenzen von der Politik aus der Risikohaf-
tung ausgelöst werden, dann ist dies eine Quelle von In-
stabilität.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die bisherige Diskussion zeigt: Für die Zukunft müs-
sen die nationalen und internationalen Regeln neu jus-
tiert werden. Wir sollten uns bei dieser Debatte darüber
im Klaren sein, dass man Turbulenzen nie gänzlich wird
verhindern können. Dies wäre nur um den Preis einer
Strangulierung der Finanzmärkte möglich. Diese könn-
ten dann aber nicht mehr ihrer zentralen Aufgabe nach-
kommen, nämlich der Bereitstellung von Investitionska-
pital für die Weltwirtschaft. Es gilt daher, die nationalen
und internationalen Aufsichtsregeln mit den von den
Marktteilnehmern eingegangenen Risiken in eine bes-
sere Balance zu bringen.

Es ist richtig, wenn wir angesichts der gegenwärtigen
Situation einen kühlen Kopf behalten und genau überle-
gen, anstatt uns zu Maßnahmen hinreißen zu lassen. Wir
brauchen eine Diskussion über die Fragen: Wie viel
Freiheit der Märkte wollen und brauchen wir, und wel-
che systemischen Risiken sind mit dieser Freiheit ver-
bunden? Ab wann produziert die Jagd der Finanzmarkt-
teilnehmer nach Spitzenrenditen Auswüchse, die der
Realwirtschaft mehr schaden als nützen? Ich stelle fest:
Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine Alter-
native. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern neue An-
lage- und Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet, und sie
hat zur Risikostreuung beigetragen. Zugleich hat sie das
Sortiment an Finanzprodukten so komplex gemacht,
dass Bankmanager und Aufsichtsbehörden gleicherma-
ßen den Überblick verloren haben. Genau hier gilt es an-
zusetzen.

Wir haben erfahren: Es gibt Finanzprodukte, bei de-
nen niemand weiß, was sich eigentlich darin befindet.
Wir haben erfahren: Es gibt anscheinend Bankvorstände,
die mit solchen Produkten in großem Umfang arbeiten
und sich nur auf die Bewertung der Ratingagenturen
verlassen. Das kann doch nicht wahr sein, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So entstehen die Probleme, die wir haben.

Aus all dem, was wir bisher erfahren haben – mögli-
cherweise werden wir in den kommenden Wochen und
Monaten noch mehr erfahren –, ziehe ich folgende
Schlüsse:

Erstens. Das, was wir gerade erleben – die Aus-
wüchse, die ich eben skizziert habe –, darf sich so nicht
wiederholen.

Zweitens. Alle Finanzmarktteilnehmer, Banken und
Aufsicht haben den Ratings eine viel zu entscheidende
Rolle zugeteilt. Anstatt Risiken selber vernünftig einzu-
schätzen, haben sich die Marktteilnehmer fast blind auf
die Ratings verlassen, oft sogar ohne die gerateten Pro-
dukte selbst zu verstehen.

Ein Sachverständiger hat in unserer Anhörung zur
Rolle der Ratingagenturen in dieser Woche festgestellt:
Ratingagenturen haben in großem Stil bei der Vorher-
sage der Finanzkrise versagt. Es ist ihnen nur beschränkt
gelungen, Investoren frühzeitig vor Fehlentwicklungen
zu warnen. Sie sind damit in der aktuellen Krise den ih-
nen zugedachten Aufgaben nicht ausreichend gerecht
geworden. – Damit ist alles gesagt.

Gleichwohl sind die Ratingagenturen in der aktuellen
Finanzkrise nicht die Schuldigen. Sie haben sie nicht
ausgelöst; sie haben sie aber befördert. Nach dem, was
wir wissen, bleibt für mich festzustellen: Ratingagentu-
ren und Ratings wurden von Banken und Investoren
überschätzt. Zu Beginn der 90er-Jahre gab es die Forde-
rung, die Europäer sollten ein eigenes, europäisch ge-
prägtes Ratingsystem entwickeln. Leider scheiterte der
Versuch damals an zu unterschiedlichen Interessen. Wir
sollten die derzeitige Umbruchphase nutzen, um einen
neuen Anlauf zu unternehmen. Möglicherweise könnten
Banken, Versicherer und/oder die EZB unterstützend
wirken.

Drittens. Wir müssen uns überlegen, ob wir genug ge-
tan haben, um zu verhindern, dass Kreditinstitute in gro-
ßem Stil Geschäfte außerhalb ihrer Bilanzen, ohne die
erforderliche Transparenz und Aufsicht, durchführen
können. Ich halte nichts davon, in diesem Zusammen-
hang von der Notwendigkeit eines Basel III zu sprechen.






(A) (C)



(B) (D)


Eduard Oswald
Man muss erst einmal Basel II ordentlich anwenden.
Aber wir müssen darüber nachdenken, ob die Siche-
rungsmechanismen, die wir mit Basel II in nationales
Recht umgesetzt haben und die seit Beginn dieses Jahres
gelten, ausreichen. In anderen Bereichen, zum Beispiel
im Bilanzrecht, sind weitere gesetzliche Konsequenzen
bereits in Vorbereitung; der Finanzminister hat darauf
hingewiesen.

Viertens. Das Wort „Transparenz“ wird in den Dis-
kussionen natürlich stark strapaziert. Wir müssen aber
genauer definieren, was wir darunter eigentlich verste-
hen. Es reicht nicht, allein das Wort zu sagen. Für mich
gilt es, Transparenz stärker zu adressieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Fünftens. Die internationale Zusammenarbeit der
Aufsichtsbehörden muss weiter verbessert werden; das
ist für mich ganz klar. Ich stelle eindeutig fest: Die Ban-
kenaufsicht in Deutschland hat nicht versagt. Sie ist
nicht dazu da, die Geschäftspolitiken der Marktteilneh-
mer zu bewerten. Ich sage auch: Wir haben in der Bun-
desrepublik Deutschland keine Systemkrise, sondern wir
haben ein stabiles Drei-Säulen-Modell. Auch Ludwig
Stiegler hat gerade darauf hingewiesen. Ich sehe in die-
sem Bereich also kein Versagen. Dass die internationale
Zusammenarbeit im Bereich der Aufsicht verbessert
werden muss, ist in den ganzen Diskussionen aber un-
missverständlich klar geworden.

Für mich heißt das keinesfalls, dass ich eine einheitli-
che europäische Aufsichtsbehörde befürworte. Ganz im
Gegenteil: Entsprechende Ideen auf europäischer Ebene,
etwa die Lamfalussy-Gremien zu stärken, weisen uns
nicht den richtigen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir reden in diesen Wo-
chen viel über Subprime, über Bankenkrise und über Fi-
nanzmärkte. Weitaus direkter betrifft die Krise jedoch
die Menschen in den eigenen vier Wänden, die ihre Ra-
ten nicht bezahlen können und denen eine Zwangsver-
steigerung ihrer Häuser droht. Dies erleben wir in den
USA zurzeit in großem Ausmaß. Gott sei Dank können
wir sagen: nicht in Deutschland. Dies ist kein Zufall.
Hier gibt es keine Immobilienpreisblase. Hier gibt es
Banken, Sparkassen und Bausparkassen, die in Überein-
stimmung mit ihren Kunden seit jeher auf die Karte
Sicherheit setzten. Festzinskultur, ausreichender Eigen-
kapitaleinsatz, solider Blick auf die Einkommensverhält-
nisse und Bausparverträge, so lauten die Stichworte für
diese Sicherheit. Das ist beruhigend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])


Aber nicht nur das. Es sollte uns auch Selbstbewusst-
sein für die Debatten geben, die wir in Europa führen,
nicht zuletzt für die Debatte über die Bewältigung der
aktuellen Finanzkrise. Diese Sicherheit wollen wir uns
bewahren. Das sage ich auch mit Blick auf das Weiß-
buch der Europäischen Kommission zum Hypothekar-
kredit.
Ein Unternehmer in meiner bayerischen Heimat, der
im Bankgeschäft tätig ist, hat in diesen Tagen gesagt:

Aber das Bankgeschäft bleibt immer auch eine
Dienstleistung. Es geht nie allein um den eigenen
Vorteil, sondern um einen Dienst und eine Leistung
für einen anderen, und daraus entsteht der kostbare
Wert des Vertrauens.

Wir müssen uns hier gemeinsam wünschen, dass die
Banken das verlorene Vertrauen wiederherstellen; denn
Vertrauen ist nicht nur die Grundlage für die Finanzge-
schäfte, sondern auch für unser Wirtschaftssystem insge-
samt. Wenn das Vertrauen in die Finanzmärkte in unse-
rem Land nicht vorhanden ist, dann gibt es auch kein
Vertrauen in unser Wirtschaftssystem der sozialen
Marktwirtschaft, das wir aber benötigen, weil es dazu
keine brauchbare und vernünftige Alternative gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614301800

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1614301900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Spätestens seit dieser Woche müsste eigentlich
allen klar sein: Die IKB ist eine Staatsbank, für deren
Wirken die Bundesregierung unmittelbar Verantwor-
tung trägt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das kann nur einem liberalen Hirn einfallen!)


Dabei hat diese Bundesregierung unendlich versagt,
nicht nur im Risikomanagement, sondern auch im Kri-
senmanagement; wir erleben es tagtäglich.

Ingrid Matthäus-Maier hat am 14. Juli 2007 erklärt,
die IKB sei für die KfW im Mittelstandsgeschäft ein
wichtiges Ohr am Markt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genauso!)


Wenige Tage später hat der Markt sie eingeholt. Die
Bundesregierung hat die notwendige Sorgfalt bei der
Kontrolle der IKB vermissen lassen.


(Beifall bei der FDP)


Herr Solms hat auf die Rolle des Abteilungsleiters im
Finanzministerium hingewiesen. Es hat schon ein Ge-
schmäckle, wenn der zuständige Abteilungsleiter für die
Finanzmarktaufsicht gleichzeitig im Aufsichtsrat einer
privaten Bank sitzt und stellvertretender Verwaltungsrat-
vorsitzender der BaFin ist. Wenn das kein Geschmäckle
hat, dann frage ich mich, was heutzutage noch ein Ge-
schmäckle hat. Das stinkt zum Himmel.


(Beifall bei der FDP)


Ein KfW-Vorstand ist Vorsitzender des Finanz- und Prü-
fungsausschusses des IKB-Aufsichtsrates und soll jetzt
für seine gute Leistung auch noch Aufsichtsratsvorsit-
zender werden. Sie als Regierung halten den Corporate






(A) (C)



(B) (D)


Frank Schäffler
Governance Kodex ständig hoch, halten sich in Ihren
eigenen Unternehmen aber nicht daran. Bemerkenswert
ist die Begründung, wieso im Falle der IKB zum Bei-
spiel keine Selbstbeteiligung an der Haftpflichtversiche-
rung für den Vorstand und den Aufsichtsrat für notwen-
dig erachtet wurde, wie es im Kodex ausdrücklich
vorgesehen ist. Ich zitiere aus dem Geschäftsbericht
2005:

Wir sind unverändert der Auffassung, dass die Ver-
einbarung eines Selbstbehalts nicht geeignet ist, die
Motivation und das Verantwortungsbewusstsein zu
verbessern.

Dann heißt es von der Regierung, Sie seien vom Vor-
stand getäuscht und über die Risiken nicht informiert
worden. Auch dazu ist ein nochmaliger Blick in den Ge-
schäftsbericht 2006/2007 sinnvoll:


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


In dem Posten „Andere Verpflichtungen“ sind Kre-
ditzusagen über insgesamt 11,9 Milliarden Euro
Gegenwert an Spezialgesellschaften enthalten, die
nur im Falle kurzfristiger Liquiditätsengpässe bzw.
vertraglich definierter Kreditausfallereignisse von
diesen in Anspruch genommen werden können.

Genau das ist passiert.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau!)


Es war eine bewusste Entscheidung der IKB, in den US-
Immobilienmarkt zu investieren, und über die Verant-
wortung hierfür, darüber, wer diese Entscheidung getrof-
fen hat, haben Sie, Herr Finanzminister, hier in diesem
Haus heute nichts gesagt.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Zu Hause haben Sie die Mittelstandsbank IKB als Mit-
telstandsfinanzierer verkauft; tatsächlich war es ein
schlecht geführter Hedgefonds, der internationale Spe-
kulationsgeschäfte gemacht hat. Das ist der eigentliche
Skandal.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn wir heute zum Krisenmanagement kommen,
dann müssen Sie sich auch für das verantworten, was Sie
im letzten Dreivierteljahr hier in Deutschland gemacht
haben. Es war der Kardinalfehler am Anfang, dass Sie
über die außerbilanzielle Zweckgesellschaft Rhineland
Funding von Beginn an eine Liquiditätszusage ge-
macht haben, ohne andere Beteiligte mit ins Boot zu
nehmen. Es war ein Kardinalfehler, dass Sie bis heute
80 Prozent der Lasten bei der IKB übernehmen, obwohl
wir nur 38 Prozent der Anteile halten. Darin liegt Ihre ei-
gentliche Verantwortung.


(Beifall bei der FDP)


Die privaten Banken und die anderen Marktteilnehmer
sagen inzwischen, der Staat werde das schon richten.
Diese Ihre Verantwortung müssen Sie tatsächlich tragen,
und diese Konstellation ist auch die Voraussetzung da-
für, dass Sie bei jeder neuen Runde dabei sind und die
anderen sich zurückziehen.

Außerdem haben Sie die Dimension völlig unter-
schätzt. Die geschassten Vorstände haben bis Ende des
Jahres noch ihr Gehalt erhalten, eine fristlose Kündigung
ist nicht erfolgt, und die Gratifikationen in sechs- und
siebenstelliger Höhe aus dem Vorjahr sind in diesem
Jahr noch ausgezahlt worden. Erst jetzt ist der Aussichts-
rat eingeschritten. Da frage ich mich: Ist das ein Indiz
dafür, dass der Aufsichtsrat, also auch das Finanzminis-
terium, über das Engagement und über die Risiken, die
die IKB eingegangen ist, tatsächlich unterrichtet war?

Außerdem haben Sie nichts aus der Finanzkrise ge-
lernt. Wir haben seit Anfang dieses Jahres die IPEX-
Bank ausgegliedert, unter dem Dach der KfW, und man
könnte meinen, bei der Besetzung der Aufsichtsräte ach-
tete man jetzt ein bisschen mehr auf Qualität. Nichts ist
geschehen: Sie haben Ihren Staatssekretär in den Auf-
sichtsrat geschickt,


(Bundesminister Peer Steinbrück: Na und?)


der Wirtschaftsminister hat seinen Staatssekretär in den
Aufsichtsrat geschickt. Man muss da nur hoffen, dass
künftig nichts passiert, sondern tatsächlich nur Risiken
eingegangen werden, die im Zweifel den Steuerzahler
nicht weiter belasten.

Aus meiner Sicht hätten Sie die IPEX-Bank an dieser
Stelle verkaufen sollen. Es wäre sicherlich falsch gewe-
sen, Steuergelder aus dem Verkauf der IPEX-Bank für
die Rettung der IKB einzusetzen, aber ich glaube, Sie
hätten ordnungspolitisch damit eine richtige Entschei-
dung getroffen, denn Sie hätten die Flanke auf dieser
Seite beseitigt.

Der Skandal setzt sich letzte Woche fort. Der Wirt-
schaftsminister und der Finanzminister stellten sich am
Mittwoch vor die Kamera und verkündeten eine weitere
Stützung des Bundes in Höhe von 1 Milliarde Euro. Ges-
tern wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass Sie die
Öffentlichkeit nicht richtig informiert haben. Tatsächlich
werden weitere 700 Millionen Euro fließen, die Sie von
einem künftigen Verkaufserlös abziehen wollen. Sie ha-
ben damit einen ungedeckten Scheck auf die Zukunft
ausgestellt und das Parlament – das haben Sie heute
Morgen auch gemacht – wissentlich falsch informiert.

Unser Fazit: Sie haben schon heute dem Bund ein
Verlustrisiko von weit mehr als 6 Milliarden Euro hin-
terlassen. Das entspricht der Lohn- und Einkommen-
steuer von 4 Millionen Familien mit einem Durch-
schnittseinkommen von 30 000 Euro brutto oder – wir
diskutieren viel über Kindergelderhöhung – 30 Euro
mehr Kindergeld in diesem Land.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614302000

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1614302100

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Dass Frau

Matthäus-Maier – wie ich gestern in der Presse lesen
musste – dann im Krisengespräch eine Verlängerung






(A) (C)



(B) (D)


Frank Schäffler
ihres Vertrages als KfW-Chefin angesprochen hat,
schlägt das dem Fass den Boden aus. Herr Minister, räu-
men Sie endlich in Ihrem Laden auf!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614302200

Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ortwin Runde (SPD):
Rede ID: ID1614302300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Solms, Sie haben vorhin Ihre Rolle defi-
niert und gesagt, dass Sie sich als Opposition nicht mit
der Finanzmarktkrise in den Vereinigten Staaten befas-
sen müssten; Ihnen geht es vielmehr darum, der Regie-
rung eins zu verpulen. Angesichts der Dimension und
der Auswirkungen dieser Krise müssen Sie sich aber fra-
gen lassen: Verstehen Sie Ihre Rolle da richtig? Wäre es
angesichts dieser Finanzmarktkrise nicht angebracht,
einmal selbstkritisch die Position der FDP in der Vergan-
genheit zum Thema Finanzmärkte zu reflektieren?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Totale Deregulierung!)


Welche Stellung haben Sie zum Thema Hedgefonds
bezogen? Welche Stellung haben Sie zum Thema REITs
bezogen, bei dem es darum geht, Wohnungen an die
Börse zu bringen und dort zum Handelsobjekt zu ma-
chen? Stellen wir uns vor, welche Auswirkungen es in
solchen Finanzmarktkrisen für die Bevölkerung gehabt
hätte, wenn das Realität geworden wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der FDP: Kommen Sie mal zum Thema zurück! Haben Sie dazu nichts zu sagen?)


Weitere Beispiele sind die Private-Equity-Beteiligungs-
gesellschaften und das Risikobegrenzungsgesetz. Wel-
che Positionen haben Sie dazu vertreten? Wo haben Sie
gewirkt? Haben Sie zur Verminderung der Risiken an
den Finanzmärkten beigetragen, oder ist das inhärent in
dem, was Sie vertreten?


(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Zum Thema!)


– Damit sind wir exakt beim Thema.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Gysi, Sie haben völlig zu Recht darauf hinge-
wiesen, dass die Subprime-Krise der Ausgangspunkt
war. Die Amerikaner haben fröhlich ihren Mist – wie
Ludwig Stiegler es ebenfalls zu Recht nannte – in die
Märkte geschickt. Aber Ihre weitere Analyse verrät nicht
sonderlich viel wirtschaftlichen Sachverstand. Sie haben
gesagt, die öffentlich-rechtlichen Banken in Deutschland
hätten sich wegen ihrer Amerikahörigkeit in dem Ge-
schäft besonders engagiert.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]): Die europäi-

schen, nicht nur die deutschen!)

Diese Analyse erscheint mir zu stark verkürzt. Sie er-
klärt auch nicht, warum nicht etwa die öffentlich-rechtli-
chen Banken in Deutschland und die IKB am stärksten
von der Subprime-Krise betroffen sind, sondern die
amerikanischen Großbanken und damit diejenigen, die
am besten Bescheid wissen, wie Kapitalmärkte funktio-
nieren. Insofern trifft das so nicht zu.

Erstaunlich ist auch, dass zum Beispiel die UBS,
Merrill Lynch und Morgan Stanley mit Summen im
zweistelligen Milliardenbereich betroffen sind. Insofern
muss man vorsichtig sein, Herr Solms, die IKB-Krise als
singulären Akt völlig unabhängig von kritischen Bewe-
gungen an den Finanzmärkten zu betrachten.

Ich meine, die Krise bei der IKB ist nicht von irgend-
welchen Laienspielgruppen bei mittelgroßen deutschen
Banken im öffentlichen oder privaten Bereich verursacht
worden. Dies ist vielmehr eine Krise, die in dieser Tiefe
nur Profis haben anrichten können.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde es bezeichnend, dass ein Vorstand einer großen
deutschen Privatbank sagt: Ich habe auf das Triple A der
Ratingagenturen vertraut. Warum soll ich mir weitere
Gedanken machen? Dazu kann ich nur sagen: Hier ist
natürlich etwas verloren gegangen. Nur die Banken sind
nicht betroffen, deren Bankvorstände – diese sind für das
operative Geschäft und die Ausrichtung der Geschäfts-
felder von entscheidender Bedeutung – gesagt haben:
Ich handele nur mit Sachen, deren Risiken ich selbst
überschauen kann. Ich habe Bankvorstände erlebt, die
gesagt haben: Obwohl uns alle unsere Investmentbanker
geraten haben, uns auf Derivate und Subprime-Pakete
einzulassen, haben wir das nicht getan. Diese Vorstände
fühlen sich heute bestätigt.

Warum es zu einer Vertrauenskrise im gesamten
Bankensektor gekommen ist, haben wir in der Anhörung
erfahren: Die Geschäfte sind inzwischen so komplex,
dass sie keiner mehr überblickt. Die Ratingagenturen ha-
ben bei Eintritt der Krise gesagt: Auch Bankvorstände
müssen genauso wie ein Patient, der ein Rezept einlöst,
auf die Nebenwirkungen und das Kleingedruckte achten.
Ein gutes Rating wie Triple A bedeutet noch lange nicht,
dass es wirtschaftlich gut geht. Diese Zusammenhänge
müssen wir sehen.

Herr Schäffler, Sie haben gefragt, welches die Auf-
gabe eines Finanzministers in dieser Zeit ist. Herr
Röttgen hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir
es mit den Auswirkungen globaler Finanzmärkte zu tun
haben. Wenn sich der deutsche Finanzminister als Ver-
treter einer der größten Volkswirtschaften nicht um Re-
gelwerke der internationalen Finanzmärkte kümmerte,
hätte er seine Aufgabe verfehlt. Er hat aber auf dem Gip-
fel in Heiligendamm – das haben Sie bereits erwähnt –
Anstöße gegeben und gesagt: Wenn ihr mit ganz gerin-
gem Eigenkapital so große Räder dreht, gefährdet dies






(A) (C)



(B) (D)


Ortwin Runde
das System der internationalen Finanzmärkte. Das ist der
richtige Ansatz.


(Beifall bei der SPD)


Wenn man sich anschaut, welche Räder sowohl bei
den Hedgefonds als auch bei den Private-Equity-Fonds
und in den Zweckgesellschaften gedreht werden, dann
muss man feststellen: Darum müssen wir uns kümmern.
Es verwundert mich allerdings, dass parallel zu Basel II
– hier haben wir uns infolge der letzten Finanzmarkt-
krise um eine bessere Eigenkapitalunterlegung von
Bankgeschäften gekümmert – der regulierte Bankensek-
tor fröhlich Auswege in Form von Zweckgesellschaften
sucht.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)


Das bedeutet, dass fast alle Banken neben dem eigent-
lichen Bankgeschäft Glücksräder aufgebaut und darauf
vertraut haben, dass ihnen das Glück ewig hold ist. Das
funktioniert im Bankenbereich aber ganz offenkundig
nicht.

In einer Situation, in der die Märkte im Finanzsektor
zum großen Teil zusammengebrochen sind und Ver-
trauen nur durch eine Liquiditätsversorgung der Zentral-
banken, von der EZB bis hin zur Fed, geschaffen werden
konnte, ist es unsere Aufgabe, die Stabilität der
Finanzmärkte auf Dauer sicherzustellen. Dabei sind
Aspekte der globalen, der europäischen und der nationa-
len Ebene zu berücksichtigen. Auch auf der nationalen
Ebene gibt es viel zu tun. Kredite müssen ein Gesicht ha-
ben. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, wer
Kreditgeber ist. Das gilt nicht nur für gut bediente Kre-
dite, sondern auch dann, wenn jemand aufgrund von
Brüchen in seiner Biografie wie Arbeitslosigkeit vo-
rübergehend in Schwierigkeiten gerät. Dann dürfen diese
Kredite nicht an irgendwelche Kreditverwerter ver-
kauft werden, sondern dann muss er mit seiner Spar-
kasse darüber reden können. Deswegen ist das System,
das wir haben, das Dreisäulensystem, etwas Verteidi-
genswertes und Stabilisierendes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dass wir eine neue Aufgabenbestimmung der Landes-
banken nach den Veränderungen, die die Privatbanken
in Brüssel erzwungen haben, vornehmen müssen, ist
richtig. Aber ich glaube, auch die haben jetzt gelernt. In
Sachsen haben sie gelernt, in Bayern und in anderen
Ländern. Auch ich habe meine Erfahrung als Aufsichts-
ratsvorsitzender einer Landesbank, die ein bestimmtes
Geschäftsfeld hatte. Wir sind nicht so darin verwickelt.
Das ist aber nach meiner Zeit, und ich übernehme keine
Verantwortung für die Geschäfte, die jetzt dort gemacht
werden.

Ich glaube, die Aufgabe des Finanzministers der Bun-
desrepublik Deutschland ist in der Tat auch, auf Regel-
werke Einfluss zu nehmen. Allein mit Schuldzuweisun-
gen bei der IKB kommen wir nicht weiter.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614302400

Herr Kollege Runde.

Ortwin Runde (SPD):
Rede ID: ID1614302500

Ein letzter Satz, Herr Präsident. – Die entscheidende

Frage haben Sie alle nicht beantwortet.


(Frank Schäffler [FDP]: Sie auch nicht!)


Wie würden Sie bei der IKB vorgehen?


(Frank Schäffler [FDP]: Habe ich gesagt!)


Würden Sie sie in Insolvenz gehen lassen, oder würden
auch Sie sie wegen der Auswirkungen auf die Finanz-
märkte stabilisieren? Das ist die entscheidende Frage.


(Frank Schäffler [FDP]: Nicht 80 Prozent, sondern 38 Prozent!)


Dass ich mir einen größeren Anteil und ein anderes
Engagement der Privatbanken wünschen würde, ist rich-
tig, aber diese Frage müssen Sie beantworten.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614302600

Ich erlaube mir den gut gemeinten Hinweis, dass es

für die Bewirtschaftung der knappen Redezeiten außer-
ordentlich hilfreich ist, die entscheidenden Fragen nicht
nach Ablauf der gewährten Zeit zu stellen, sondern mög-
lichst gleich zu Beginn. Dann kann man sie noch in vol-
ler Schönheit entfalten.

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard
Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dann will ich genau das tun, was Sie, Herr Präsident, an-
mahnen, nämlich die zentralen Fragen in den Mittel-
punkt stellen, und zwar gleich am Anfang der Rede. Ich
glaube, das tut auch not, nachdem einige Beiträge aus
den Koalitionsfraktionen relativ wolkig blieben. Herr
Oswald hat darüber gesprochen, dass die Banken wieder
Vertrauen herstellen sollen,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Stimmt auch!)


Herr Stiegler hat Moralappelle an die Banken gerichtet.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Auch nicht falsch!)


Sagen Sie einmal, was ist denn eigentlich die Aufgabe
der Politik, und was ist die Aufgabe eines Parlaments?
Es ist doch nicht die Aufgabe, leere Appelle zu richten,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Appelle sind nicht leer! Das waren inhaltsreiche Appelle!)


sondern es ist die Aufgabe, die notwendigen Hausaufga-
ben, die in Deutschland zu machen sind, jetzt endlich an-
zugehen. Dazu möchte ich von Ihnen Antworten hören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gerhard Schick
Sie können sich doch nicht um die Beantwortung der
entscheidenden Fragen drücken. Erste Frage: Wie geht
es mit der Finanzaufsicht in Deutschland weiter? Sie
überlassen es der BaFin und der Bundesbank, die sich
seit Monaten und Jahren beharken, sich zu einigen. Es
läge in der Verantwortung der Regierung, aus Anlass
dieser Krise, in der einige Sachen falsch gelaufen sind,
diesen Prozess selber zu gestalten, eine Neugestaltung
der Aufsicht durchzuführen und die Fragen, die sich aus
der Krise ergeben – sie sind schon angeklungen –, wirk-
lich zu beantworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Der Finanzminister lehnt sich locker zurück und gibt
keine Antwort auf die heutige Frage, was die Zukunft
der deutschen Finanzaufsicht ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Unsinn!)


Ich komme zur zweiten Frage. Die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht hat ungefähr 1 600 Mit-
arbeiter, die KfW ungefähr 3 800 Mitarbeiter. Das sind
zwei große Institutionen unter dem Dach des Bundes-
finanzministeriums, von dem wir jetzt wissen, dass es
viele Probleme in diesem Bereich überhaupt nicht gese-
hen hat. Herr Steinbrück hat gesagt, die Experten hätten
die Lage nicht richtig eingeschätzt. Ja, aber auch die Ex-
perten des Finanzministeriums haben die Lage nicht
richtig eingeschätzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Herr Steinbrück hat davon gesprochen, dass es Inkompe-
tenzen bei Bankmanagern gegeben habe. Da fragen wir
uns natürlich: Ist es für die Zukunft machbar, mit einer
Hand voll Leuten zu überprüfen, was die Finanzaufsicht
und die KfW in Deutschland tun? Ich meine: Nein.

Sie müssen hier einmal erläutern, wie Ihr Ministerium
das in Zukunft überwachen will. Zu diesen Fragen haben
wir heute Antworten von Ihnen erwartet. Die kamen
aber nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dritte Frage: Wie sieht die Zukunft des öffentlichen
Bankensektors in Deutschland aus? In Sachsen stellen
wir ein dramatisches Versagen der Politik beim Control-
ling der Landesbank fest. Es gibt kein Geschäftsmodell,
und es entstehen hohe Lasten für die Steuerzahler in
Sachsen. Wir erleben, dass Herr Rüttgers und Herr
Oettinger im CDU-Präsidium aus irgendwelchen politi-
schen Gründen nicht miteinander können und deswegen
sinnvolle Verhandlungen um die Zukunft der Landes-
bank nicht möglich sind. Wir erleben weiter, dass ein
CSU-Vorsitzender und Finanzminister in Bayern nicht
weiß, welche Rolle man im Verwaltungsrat einer öffent-
lichen Bank hat. Wie antwortet also die Bundesregierung
auf die Frage: Wie geht es im öffentlichen Bankensektor
weiter?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der FDP: Der Staat ist ein schlechter Banker!)


Wollen Sie denn wirklich die Zukunft des öffentli-
chen Bankensektors den Sargnägeln dieses Banken-
sektors, den CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, über-
lassen? Lassen Sie sich doch einmal auf der Zunge
zergehen, was von der Union in diesem Bereich in den
letzten Jahren geleistet worden ist: Landowsky in Berlin,
Milbradt in Sachsen, Rüttgers bei der West-LB und jetzt
das Chaos unter Herrn Huber in Bayern. Das ist doch
eine Katastrophe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir erwarten vom deutschen Finanzminister, dass er
die Initiative ergreift, um den öffentlichen Bankensektor
in Deutschland zu stützen und ihm eine Zukunfts-
perspektive zu eröffnen, dass er die Konsolidierung vo-
rantreibt und ein solides Geschäftsmodell errichtet. Aber
dazu haben Sie nichts gesagt. Sie verweigern die Mode-
ratorenrolle, die Sie dringend einnehmen müssten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Bundesminister Peer Steinbrück: Das sind Landesparlamente! Das ist Landesgesetzgebung)


– Ja, aber wenn diese Landesparlamente und Landes-
regierungen miteinander verhandeln sollen, dann wird
nur etwas Gutes dabei herauskommen, wenn man die
Egoismen – die Sicherung der einzelnen Minifinanz-
plätze, die überhaupt nicht gelingen kann – überwindet
und eine gemeinsame Antwort für Deutschland findet.
Anders wird es nicht gehen, Herr Steinbrück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Runde, Sie haben die ganze Zeit über die großen
internationalen Dinge gesprochen. Sie haben ja recht:
Wir müssen auch über das Internationale sprechen.
Dann muss man sich einmal die Frage stellen, ob es ei-
gentlich sinnvoll ist, dass Produkte fünfmal hin- und her-
geschoben werden – Stichwort „Repackaging“ –, sodass
am Schluss niemand mehr den Inhalt kennt. Ich erinnere
an die gestrige Debatte über eine Mehrwertsteuerermäßi-
gung für Produkte für Kinder. Wir haben gesagt: Es darf
keine Ausnahmen geben. – Wenn Sie auch die Verant-
wortung für den internationalen Bereich – einen Finanz-
markt, der immer mehr Produkte hin- und herschiebt –
wahrnehmen wollen und das Internationale in den Vor-
dergrund rücken, dann stellt sich schon die Frage, wa-
rum aus der deutschen Bundesregierung keine Initiative
in Richtung Devisenumsatzsteuer, Finanztransaktions-
steuer – das hat die österreichische Bundesregierung
vorgeschlagen – kommt. Ich erwarte auch auf diese
Frage eine Antwort von der deutschen Bundesregierung.
Diese werden wir als Grüne in Zukunft einfordern. Wir
haben in unserem Antrag einige Vorschläge gemacht.
Folgen Sie ihnen!

Danke schön.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1614302700

Nun erhält der Kollege Otto Bernhardt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1614302800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich will mit den Ursachen, dem Ausmaß und der
Verantwortung für diese Krise beginnen. Zu den Ursa-
chen: Wir haben gehört – das ist richtig –, es handelt sich
um bonitätsmäßig schlechte Immobilienkredite, die ver-
brieft, gemischt – man nennt das „strukturiert“ – und
dann von anderen Banken gekauft wurden. Die Größen-
ordnung liegt irgendwo bei 1,5 Billionen Euro. Das ent-
spricht den Gesamtschulden der öffentlichen Hand in
Deutschland.

Der Abschreibungsbedarf, das hat sich am Wochen-
ende in Tokio gezeigt, liegt zurzeit bei etwa 275 Milliar-
den Euro. Ich sage bewusst „zurzeit“, denn der Wert die-
ser Papiere wird jeden Tag neu festgelegt. Insofern kann
heute auch noch niemand sagen: Wir wissen schon ganz
genau, wie groß der Schaden ist. – Zum überwiegenden
Teil handelt es sich Gott sei Dank noch um Buchver-
luste, die nur abgeschrieben werden. Was das wirklich
bringt, wissen wir nicht.

Nach den Informationen, die heute vorliegen, liegen
auf jeden Fall Papiere im Wert von über 100 Milliarden
Euro bei deutschen Banken. Dementsprechend haben
wir zurzeit einen Abschreibungsbedarf, der irgendwo bei
20 Milliarden Euro liegt. Herr Minister, dann kann man
auch ausrechnen, wie hoch die Steuerausfälle sind:
39 Prozent, es geht noch um das Jahr 2007. Das heißt,
sie liegen irgendwo bei 8 Milliarden Euro.

Jetzt kommt das Problem mit den Verantwortlichen.
Wenn man von einer Sache viel versteht, ist es schwie-
rig; dann kann man sich dem Thema wirklich nur sehr
differenziert zuwenden. Es gibt mindestens sechs Gre-
mien oder Institutionen, die die Probleme nicht erkannt
haben, deren Vertreter heute aber tolle Reden halten.

Natürlich liegt die Hauptverantwortung bei den Vor-
ständen der Banken; das ist völlig klar.

Aber auch die Aufsichtsgremien der Banken haben
es nicht gemerkt. Ich finde es nicht fair, wenn hier im-
mer darauf hingewiesen wird, dass der Wirtschaftsminis-
ter und der Finanzminister zum Beispiel im Aufsichts-
gremium der KfW sitzen. Alle Fraktionen sind dort
vertreten. Auch Herr Lafontaine sitzt in diesem Gre-
mium. Man muss das ganz nüchtern wissen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Er hat solche Entscheidungen aber nicht mit getroffen!)


Auch die Aufsichtsgremien haben es also nicht gemerkt.

Viel schlimmer ist das jedoch bei den Ratingagen-
turen, die hier schon angesprochen worden sind. Was da
passiert ist, ist eine Katastrophe.


(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Ja, schiebt es nur auf andere!)

All die Prüfungsgesellschaften mit klingenden Namen,
die nicht nur intensiv geprüft haben,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sondern auch bestätigt haben!)


sondern auch hohe Rechnungen gestellt haben, haben es
nicht gemerkt.

Ich muss an dieser Stelle ebenfalls, auch wenn ich die
beiden Institutionen schätze, die Bundesbank und die
Bankenaufsicht nennen. Heute wissen sie genau, um
welche Papiere es sich handelt und wie schlecht und
schwach die sind. Deshalb warne ich davor, mit der
Schuldzuweisung so ganz schnell zu sein.

Was die Organisation der Bankenaufsicht anbe-
trifft, Herr Kollege Dr. Schick: Es gibt eine klare Rege-
lung im Gesetz. Darin steht: Die beiden sollen sich eini-
gen. Wenn sie sich nicht einigen, muss der Minister tätig
werden. Das war übrigens 2003 bei der Gründung der
BaFin der Fall. Damals wurden sie sich nicht einig. Da
gab es einen Erlass. Ich bin froh, dass sie sich jetzt geei-
nigt haben. Damit ist der Minister nicht mehr am Zug.
Die gesetzliche Anforderung ist erfüllt. Sie haben sich
geeinigt. Ich bin die Richtlinie ziemlich genau durchge-
gangen und darf sagen: Sie haben sich auf einer vernünf-
tigen Basis geeinigt.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaube ich nicht!)


Die Arbeitsteilung ist jetzt deutlich klarer.

In diesem Zusammenhang gibt es natürlich weitere
Fragen, so zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Be-
reichs. Ich sage in großer Bescheidenheit, die gar nicht
eine meiner Stärken ist: Wir dürfen uns hier nur mit un-
serem Bereich auseinandersetzen. Für das Thema Lan-
desbanken sind wir nicht zuständig. Ich persönlich habe
die klare Vorstellung: Landesbanken, Sparkassen, das ist
ausschließlich Ländersache. Wir haben genug Probleme
bei uns. Lassen wir das die Länder machen! Dort ist Lö-
sungsbedarf.


(Frank Schäffler [FDP]: Reden wir mal über die KfW!)


Wir haben nur ein Problem, und das ist die KfW. Das
ist eine Bank, die wir brauchen; darüber sind wir alle uns
im Klaren. Sie hat etwas gemacht, wozu mit Recht ge-
sagt worden ist: Es war sogar die Empfehlung eines
Ministers, dass sie sich da beteiligen soll. Ich sage hier
sehr deutlich: Natürlich ist die IKB rechtlich gesehen
eine Privatbank, aber faktisch – das zeigt nun mal die
Diskussion – ist sie schon eine ziemlich öffentlich-recht-
liche Bank.

Ich sage genauso deutlich: Ich bin froh, dass man am
Mittwoch eine Lösung gefunden hat, einen Weg, um die
Bank zu retten. Bedenken Sie die Auswirkungen, wenn
sie in die Insolvenz gegangen wäre! Wir hätten heute
eine ganz andere Diskussion. Beide, Finanz- und Wirt-
schaftsminister, wären gescholten worden. Man kann
nicht in Euro ausrechnen, was die Insolvenz kosten
würde. Ich verweise nur auf die hier genannten
24 Milliarden Euro Einlagen bei der Bank. Die würden






(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt
mit einer Konkursquote bedient. Wie hoch die wäre,
wenn man erst einmal die Papiere abgewickelt hätte – –
Ich warne Neugierige!

Vor dem Hintergrund bin ich enttäuscht – ich ver-
mute, Sie, Herr Minister, sind es auch –, dass von den
rund 7 Milliarden Euro, die bisher eingesetzt wurden,
über 80 Prozent von der KfW, vom öffentlichen Bereich,
aufgebracht worden sind, während der andere Bereich
nur knapp 20 Prozent beigesteuert hat. Ich sage sehr
deutlich: Das ist zu wenig. Das finde ich nicht so toll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Insolvenz wäre nämlich eine katastrophale Entwick-
lung für den Einlagensicherungsfonds; die Bank gehört
zum privaten Einlagensicherungsfonds.

Ich glaube, ich spreche im Namen zumindest der bei-
den großen Fraktionen, wenn ich sage: Eine solche Ak-
tion wie bei der IKB darf nicht Schule machen. Es wird
befürchtet, dass jetzt die Ministerpräsidenten hier anrei-
sen usw. Um es klar zu sagen: Wir sind nur für das hier
zuständig. Das ist ein einmaliger Fall.

Ich gehöre aber nicht zu denen, die behaupten: Das
Problem ist endgültig gelöst; da kommt nichts mehr. –
Das kann man bei der Bewertungsproblematik wirklich
nicht sagen. Wer dies von der Regierung fordert, der for-
dert etwas, was sie heute nicht bringen kann. Deswegen
ist die Aussage des Ministers richtig: Wir haben noch ein
schwieriges Jahr vor uns, aber wir hoffen, das war sozu-
sagen der letzte Akt.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, abschlie-
ßend Folgendes sagen: Schnellschüsse sind populär; das
weiß ich. Ich glaube aber, es ist richtig, wie die Regie-
rung vorgeht: zunächst ausführlich zu analysieren und
das Ganze insbesondere – der Kollege Röttgen hat schon
darauf hingewiesen – im internationalen Bereich abzu-
klären. Wir können das Thema nicht isoliert betrachten.
Wer das glaubt, der hat noch nicht begriffen, was Globa-
lisierung bedeutet. Deshalb müssen wir eines tun: klar-
machen, dass Deutschland diese Krise ab kann. Unser
Banken- und Wirtschaftssystem ist stabil genug; wir
können sie ab. Natürlich würde es uns noch besser ge-
hen, wenn es die Krise nicht gäbe; denn sie kostet viel
Geld.

Es gibt also keinen Anlass zur Panik – wir lösen die
Krise –, aber natürlich auch keinen Anlass zur Verharm-
losung. Wir brauchen jetzt ein Stück Gelassenheit und
ein Stück Internationalität. Im Rahmen der G-7-Staaten
werden wir dieses Problem gemeinsam lösen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614302900

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-

legen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort.

Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1614303000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir führen heute keine Debatte über eine ein-
zelne private Geschäftsbank, sondern wir führen eine
Debatte über die internationale Finanzmarktlage und
über ihre Auswirkungen auf Deutschland.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig! Das ist das Thema!)


Ich sage sehr freimütig: Wenn es nicht den Hinter-
grund dieser Finanzmarktkrise gäbe, wäre natürlich die
Frage, ob man eine einzelne Bank stützen muss, ganz an-
ders zu beurteilen.


(Zuruf von der LINKEN: Sie stützen ja nicht nur eine Bank! Sachsen LB!)


Da wäre sicher auch die schon ordnungspolitisch nahe-
liegende Frage zu prüfen gewesen, ob man nicht besser
eine geregelte Abwicklung der IKB vornimmt. Das hätte
natürlich bedeutet, dass der Einlagensicherungsfonds
des Bundesverbandes deutscher Banken, das heißt der
privaten Geschäftsbanken, heftig hätte bluten müssen.
Das wäre aber durchaus eine ernst zu nehmende Alterna-
tive gewesen.

Angesichts der Situation, in der wir uns heute befin-
den, kann ich für meine Fraktion nur sagen: Wir haben
Respekt vor dem,


(Frank Schäffler [FDP]: Das kann man so und so interpretieren!)


was der Bundesfinanzminister und der Bundeswirt-
schaftsminister in dieser Woche zur Stabilisierung der
Bank in die Wege geleitet haben. Ich teile die Auffas-
sung des Kollegen Bernhardt, dass die private Seite noch
ein bisschen mehr bringen könnte. Aber die Grundent-
scheidung war in der jetzigen Situation erforderlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich teile ausdrücklich den Respekt, den mehrere hier
schon gegenüber den Maßnahmen geäußert haben, die
der Bundesfinanzminister ja nicht erst in den letzten Wo-
chen, sondern schon das ganze Jahr 2007 über unternom-
men hat, um auf internationaler Ebene – auf europäischer
Ebene wie auf der Ebene der G 7 bzw. der G 8 – für eine
Stabilisierung der Finanzmärkte und für eine Verbes-
serung ihrer Transparenz zu sorgen.

Wir haben im Finanzausschuss des Bundestages am
Mittwoch ein Fachgespräch über und mit Ratingagen-
turen geführt. Das war aufseiten der Ratingagenturen
– alle großen waren vertreten – nicht gerade von über-
mäßigen Selbstzweifeln geprägt. Sie legten eher ein
dreistes Selbstbewusstsein an den Tag. Das kam in ihrer
Kernaussage zum Ausdruck, sie hätten alles richtig ge-
macht. Bedauerlicherweise hätten die Banker sie aber
missverstanden; denn die hätten eine Triple-A-Note für
ein Gütesiegel gehalten. So sei das aber nicht gemeint
gewesen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Triple A ist aber Triple A!)







(A) (C)



(B) (D)


Jörg-Otto Spiller
Das ist eine neue Erkenntnis. Das haben die Ratingagen-
turen bisher nicht so deutlich gesagt, dass man ihnen im
Grunde genommen nicht glauben sollte bzw. ihre Aussa-
gen zumindest nicht überbewerten sollte.


(Beifall des Abg. Dieter Grasedieck [SPD])


Auch Folgendes ist in dem Gespräch von mehreren
Seiten herausgearbeitet worden: Erstens ist es notwen-
dig, dass Bankvorstände selbst versuchen, zu verste-
hen, welche Finanzprodukte sie kaufen oder vielleicht
sogar verkaufen wollen. Das Zweite ist: Wenn sie sich
bei der Bewertung eines schwer durchschaubaren Pro-
duktes durch Ratingagenturen unterstützen lassen wol-
len, dann dürfen sie sich nicht mit einer simplen Note
begnügen, sondern müssen nachfragen. Dann müssen
die Ratingagenturen genau sagen, was sie untersucht und
eingeschätzt haben und worauf sich ihre Bewertung be-
zieht.

Das alles ist keine wirklich neue Erkenntnis. Die
Bundesbank hat in den letzten Jahren jedes Jahr einen
– wie ich finde, gut lesbaren – sogenannten Finanzsta-
bilitätsbericht vorgelegt. Sie hat sich seit 2005 beson-
ders mit der Frage der Wirkung von Kreditveräußerun-
gen, Derivaten und Verbriefungen befasst. Ein Derivat
ist – das ist wie in der Mathematik – eine Ableitung, aber
nicht unbedingt die erste, sondern manchmal schon die
zweite, dritte, vierte oder fünfte. Wenn es fünf Ableitun-
gen geben kann, muss das Produkt sehr kompliziert sein.

Die Bundesbank hat darauf hingewiesen, dass die ur-
sprüngliche Vorstellung war, die Risiken zu mindern;


(Ortwin Runde [SPD]: Richtig!)


auch durch Kreditveräußerungen, durch die Bildung
von Paketen könne man eine Risikostreuung erreichen
und nebenbei mehr Spielraum für neue, angemessene
Kreditfinanzierungen der Unternehmen schaffen. Das
klang alles sehr plausibel. Aber schon vor drei, vier Jah-
ren hat die Bundesbank zu Recht darauf hingewiesen,
dass das nur funktioniert, wenn die Produkte nicht zu
komplex sind und wenn die Bankvorstände, die Ent-
scheidungsträger, wissen, worüber sie entscheiden.


(Frank Schäffler [FDP]: Das hätte das Finanzministerium mal lesen müssen!)


– Das Finanzministerium, lieber Herr Kollege Schäffler,
ist nicht zuständig für Entscheidungen von Bankvorstän-
den. Sie haben hier eine für mich sehr verblüffende Ar-
gumentation gebracht,


(Frank Schäffler [FDP]: Immer für eine Überraschung gut!)


als wäre der Staat für alles oder manchmal eben auch für
gar nichts zuständig. Das ist nicht wirklich überzeugend.

Was müssen wir jetzt tun? Da folge ich dem, was der
Kollege Bernhardt, aber auch der Kollege Schick gesagt
hat: Wir müssen uns fragen, welche Aufgaben und wel-
che Möglichkeiten der Staat hat. Natürlich betrifft das in
erster Linie die beiden Behörden in Deutschland, die
sich um die Bankenaufsicht kümmern: die Bundesbank,
die für die laufende Kontrolle der Institute zuständig ist,
und die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht. Beide haben ein hohes Maß an Kenntnis;
das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Da ist viel
Expertise. Aber die Instrumente müssen offenbar verbes-
sert werden, damit diese hochkarätigen Fachleute auch
handeln können. Wir dürfen jetzt nicht, sozusagen aus
der Defensive heraus, so tun, als hätten sie alles richtig
gemacht. Nein, es gibt einen Bedarf, die Bankenaufsicht
zu stärken, und es gibt einen Bedarf, die Verantwortung
von Wirtschaftsprüfern zu stärken und möglicherweise
auch Haftungsansprüche zu präzisieren. Das werden wir
uns vornehmen müssen.

Die letzten Wochen und Monate waren oft mit Feuer-
wehraktionen belastet. Wenn das Haus lichterloh brennt,
muss man löschen. Aber die Hauptaufgabe von Feuer-
wehren ist nicht der gelegentliche Löscheinsatz, sondern
der Brandschutz,


(Ortwin Runde [SPD]: Vorbeugung!)


der vorbeugende Brandschutz. Es muss darauf hingewie-
sen werden: Wenn eine Bank meint, sie müsste im Hei-
zungskeller Nitroglycerin und auf dem Dachboden Ben-
zin lagern, dann muss man ihr sagen, dass das nicht geht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614303100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7531 und 16/7191 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts

(Erbschaftsteuerreformgesetz – ErbStRG)


– Drucksache 16/7918 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister der Finanzen, Peer Steinbrück, das Wort.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ein Großkampftag für den Finanzminister! Er ist heute schwer im Einsatz!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1614303200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es gäbe noch viel zu sagen zu einigen Bemerkungen
aus der vorhergehenden Debatte, die dadurch gekenn-
zeichnet waren, dass sie sehr selektiv und sehr undiffe-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
renziert waren und nicht die ganze Bandbreite wider-
spiegelten, wie es erforderlich gewesen wäre.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es gibt auch mal andere Auffassungen als die des Bundesfinanzministers!)


Das gilt insbesondere mit Blick auf die Situation der
IKB. Es bekümmert mich sehr, dass ich nicht die Mög-
lichkeit habe, auf die entsprechenden Bemerkungen zu
replizieren. Aber dies ist nicht der Ort dafür. Es wird im
Haushalts- und im Finanzausschuss möglich sein.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle trotzdem, dass ich
für einen Mitarbeiter meines Hauses Partei ergreife. Ich
werde es nicht dulden, dass in diesem Haus ein Abtei-
lungsleiter meines Hauses aufgrund seiner Funktion im
Aufsichtsrat der IKB auf diese Weise angegriffen wird.
Das halte ich schlicht und einfach für unanständig. Wenn
Sie sich jemanden vorknöpfen wollen, dann bin ich es,
aber nicht der Abteilungsleiter meines Hauses.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Da hat er recht! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir haben Sie ja auch angegriffen!)


– Greifen Sie dann bitte alle an! Greifen Sie auch Ihnen
nahestehende Leute an! Greifen Sie einen Aufsichtsrats-
vorsitzenden und einen ehemaligen Vorstandsvorsitzen-
den an, der mit diesen Geschäften begonnen hat! Knöp-
fen Sie sich aber nicht meinen Abteilungsleiter vor, nur
weil er im Aufsichtsrat sitzt.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sie sind gemeint und nicht Ihr Abteilungsleiter!)


– Das ist mir bei Ihnen schon klar. Aber es war unanstän-
dig, wie Herr Schäffler in seinen Ausführungen auf die
Rolle des Abteilungsleiters meines Hauses eingegangen
ist.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist der letzte Tagesordnungspunkt wieder eröffnet, Herr Präsident? Dann würden wir uns noch mal melden!)


– Sie erlauben mir, dass ich meinen Spielraum wahr-
nehme.

Das Thema dieser Debatte ist aber ein anderes.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das Thema ist ein anderes!)


Ein altes schlesisches Sprichwort lautet: Eine halbe
Stunde gut erben ist besser als fünf Jahre arbeiten. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Reform des Erb-
schaftsteuer- und Bewertungsrechts wird Erben in
Deutschland nicht nur günstiger, sondern auch wieder
verfassungskonform. Darüber hinaus sichert die Reform
den Ländern – nicht dem Bund – stabile Erbschaftsteu-
ereinnahmen auf dem heutigen Niveau, sich dann dyna-
misch entwickelnd, von 4 Milliarden Euro.

Dieser Entwurf setzt nicht nur die Vorgabe des Bun-
desverfassungsgerichtes um, wonach sich die Bewer-
tung des anfallenden Vermögens künftig in allen
Fällen am sogenannten allgemeinen Wert, also am Ver-
kehrswert, orientieren muss. Ich habe gelegentlich den
Eindruck, dass die Kritiker dieses Gesetzentwurfs insbe-
sondere mit Blick auf die zukünftige Bewertung von
Vermögensbeständen nicht richtig zur Kenntnis genom-
men haben, dass diese Bewertungsmaßnahmen nicht auf
irgendeine politische Initiative von einigen, die sich da-
bei vergaloppieren, zurückgehen, sondern auf ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts.

Das heißt: Wenn einige Erben nicht in den Genuss der
Vergünstigungen kommen, wie es das Gesetz generell be-
absichtigt – das wird sicher Gegenstand der Kritik sein –,
dann liegt dies daran, dass hohe Immobilienstände ge-
halten werden, die einer neuen Bewertung zugeführt
werden. Diese neue Bewertung geht aber, wie gesagt,
nicht etwa zurück auf eine Initiative der Koch/
Steinbrück-Arbeitsgruppe oder derjenigen, die in der
Koalitionsarbeitsgruppe zugearbeitet haben, sondern auf
das Bundesverfassungsgericht. Ich wäre dankbar, wenn
in den anschließenden Debatten dies deutlich gemacht
werden könnte.

Der Entwurf macht darüber hinaus auch von einer vom
Bundesverfassungsgericht, aufbauend auf eine gleichmä-
ßige Vermögensbewertung, eröffneten Möglichkeit Ge-
brauch, „bei Vorliegen ausreichender Gemeinwohlgründe“
normenklare steuerliche Verschonungsregelungen für
den Erwerb bestimmter Vermögensgegenstände steuer-
rechtlich folgerichtig auszugestalten. Dies ist die Öff-
nung dafür, dass wir ein Steuerprivileg verteilen. Das
steht am Anfang jeder Debatte. Diese Erbschaftsteuerno-
velle gibt ein Steuerprivileg. Das hat es bisher so nicht
gegeben. Denn 85 Prozent des vererbten betrieblichen
Vermögens werden nach einer Stundung von zehn Jah-
ren steuerfrei gestellt. Das ist der erste Satz, bevor wir
uns dann vielleicht über Details zu unterhalten haben
und einige sagen: Damit und hiermit bin ich nicht zufrie-
den. Der erste Satz ist: Es findet zum ersten Mal in
Deutschland im Rahmen der Vererbung von Betriebsver-
mögen eine Steuerbefreiung von pauschal 85 Prozent
statt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und darauf sind Sie auch noch stolz!)


Bei mancher Kritik, die die Protagonisten der Arbeits-
gruppe erfahren haben, war der Reflex nicht so ganz
fernliegend, noch ein bisschen mehr zu fordern. Ich
stelle den Kritikern die Frage, ob sie es bei dem jetzigen
Erbschaftsteuerrecht belassen wollen. Nun weiß ich,
dass dies ein gefährlicher Satz ist; denn das Bundesver-
fassungsgericht hat deutlich gemacht: Wenn man sich
bis Ende dieses Jahres nicht einigt, dann passiert mit der
Erbschaftsteuer dasselbe wie mit der Vermögensteuer.
Aber angesichts der fundamentalen, aus meiner Sicht
manchmal völlig überzeichneten und sehr stark von par-
tikularen Interessen gekennzeichneten Kritik, die eine
Art pauschalen Verriss des vorliegenden Entwurfes bein-
haltete, hat es mir in den Fingern gejuckt, zu sagen:
Wenn das so ist, Herr Förster, dann legen wir das Reh
wieder auf die Lichtung; dann bleibt es so, wie es ist.
Dann werden wir es nicht mit einer pauschalen Steuerbe-
freiung von Betriebsvermögen zu tun haben.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Deshalb bitte ich, in richtiger Reihenfolge zunächst
einmal festzustellen, dass der Entwurf der Bundesregie-
rung, zurückgehend auf eine Bund-Länder-Arbeits-
gruppe der Koalitionsparteien, eine Begünstigung in
Gang setzt, die es so vorher nicht gegeben hat. Das sage
ich in aller Ernsthaftigkeit.

Ich sage zweitens, dass ein solches Steuerprivileg
kein Selbstzweck ist. Ein solches Steuerprivileg kann
nicht einfach so gewährt werden.


(Ortwin Runde [SPD]: Nach Verfassungsrecht!)


– Genau; das Stichwort ist richtig. – Dann verhält man
sich nämlich gleichheitswidrig gegenüber denjenigen,
die nicht in den Genuss eines solchen Steuerprivilegs
kommen. Das sind all diejenigen, die privat vererben
oder erben. Das heißt, diesem Steuerprivileg muss eine
Gegenleistung zugrunde liegen. Die Gegenleistung zu
dieser Steuerprivilegierung rechtfertigt sich daraus, dass
die zu vererbenden Betriebe erhalten werden – in weiten
Teilen auch mit Blick auf die Beschäftigung. Das heißt,
diejenigen, die dieses Steuerprivileg in Anspruch neh-
men wollen, müssen wissen, dass sie eine Gegenleistung
zu erbringen haben, und zwar eine nachvollziehbare und
belegbare, damit wir nicht wieder in einen Verfassungs-
konflikt hineingeraten.


(Beifall bei der SPD)


Das sage ich besonders an die Adresse derjenigen in
Industrie, Wirtschaft und auch in Lobbyverbänden – sie
machen ja viel Lärm –, die unwissend oder bewusst mei-
nen, über die Bedingungen und die Ausgestaltung dieses
Steuerprivilegs könne man quasi verhandeln oder feil-
schen wie auf dem Markt – das kann man nicht –, nach
dem Motto: Darf es vielleicht ein etwas höherer Freibe-
trag oder eine etwas geringere Behaltefrist im Hinblick
auf das steuerbegünstigte Vermögen sein?

Vielleicht wird freundlicherweise auch zur Kenntnis
genommen, dass der Reformentwurf neben dieser Ver-
schonung von pauschal 85 Prozent insbesondere für
kleine und mittlere Unternehmen einen gleitenden
Abzugsbetrag von 150 000 Euro vorsieht. Das bedeutet,
dass im Ergebnis ein Betriebsvermögen bis zu einem
Gesamtwert von 1 Million Euro unbesteuert bleibt. Dies
wiederum bedeutet, dass deutlich mehr als drei Viertel
aller Unternehmen in Deutschland mit der Erbschaft-
steuer zukünftig nichts mehr zu tun haben werden. Ich
wiederhole: drei Viertel aller Unternehmen in Deutsch-
land! Wenn wir dies an den Anfang stellen könnten,
dann würde sich die Diskussion vielleicht etwas mehr
versachlichen. Dies sage ich mit Blick auf eine Kritik,
bei der man den Eindruck hat, man müsste sich fast über
das Ergebnis der Koalitionsarbeitsgruppe unter der Lei-
tung von Herrn Koch und mir schämen.

Wenn im Übrigen einige fragen: „Warum nicht eine
100-prozentige Freistellung, also nicht nur eine 85-pro-
zentige pauschale Freistellung?“, dann liegen dem, dass
wir so nicht vorgehen können, die sehr großen Schwie-
rigkeiten einer Abgrenzung zwischen Privatvermögen
und produktivem Vermögen zugrunde, wie viele von
Ihnen wissen. Im ersten Regierungsentwurf waren wir
noch so weit, dass wir versucht haben, diese Abgrenzung
herzustellen, um die Möglichkeit der Verschiebebahn-
höfe zu beseitigen, von denen Sie, auch soweit Sie Kriti-
ker sind, doch wissen. Denn Sie werden nicht erwarten
können, dass der Gesetzgeber, Sie, auf der Basis eines
Vorschlages der Bundesregierung Tür und Tor dazu
öffnet, dass Sie, ich und andere gewisse Teile ihres Pri-
vatvermögens fröhlich in das Betriebsvermögen ver-
schieben, in der klaren Erwartung, dass dann eine Steu-
erfreistellung erfolgt.

Das übereinstimmende Ergebnis aller Teilnehmer die-
ser Koalitionsarbeitsgruppe – mit viel Sachverstand auch
aus den Ländern – war: Das Unbürokratischste, was wir
machen können, ist: Wir nehmen umgekehrt einfach ei-
nen Pauschalsatz, den wir abziehen, bzw. wir nehmen
85 Prozent und sagen: Hier kümmern wir uns gar nicht
mehr um die Abgrenzung von produktivem Vermögen
gegenüber privatem Vermögen und beseitigen damit die-
sen leidigen bürokratischen Aufwand. All denjenigen,
die sagen: „Wir wollen wieder eine Freistellung zu
100 Prozent“, antworte ich: Sie handeln sich damit auto-
matisch Abgrenzungsprobleme bezüglich der Verschie-
bemöglichkeiten im Hinblick auf das private Vermögen
und das Betriebsvermögen ein.

Der zentrale Grundgedanke des Entwurfes, den wir
vorgelegt haben, lautet: generationsübergreifende
Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass einerseits die Weiter-
gabe der weitaus meisten Erbschaften – ich wiederhole
es: bei 75 Prozent der Vererbung von betrieblichem Ver-
mögen wird man mit der Erbschaftsteuer nichts mehr zu
tun haben – nicht über Gebühr belastet wird. Anderer-
seits wollen wir, dass höchste Vermögen und Vermö-
gensübertragungen insbesondere außerhalb des engen
Familienumfeldes einen höheren Beitrag zum Steuerauf-
kommen leisten und damit zur Gegenfinanzierung bei-
tragen. Diese Logik spiegelt sich in diesem Gesetzent-
wurf, wie ich finde, wider.

Ich weiß, dass einige sagen: Schafft doch die Erb-
schaftsteuer ab. Sie verweisen auf andere europäische
Länder, fügen aber nicht hinzu, wie die Steuersysteme
dieser Länder insgesamt aussehen. Das heißt, sie betrei-
ben Kirschenpflücken.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das machen Sie doch nicht anders!)


Sie suchen sich aus anderen europäischen Steuersyste-
men nur das heraus, was mit Blick auf ihre Partialinte-
ressenlage das Günstigste ist. Das kann ich auch. Neh-
men wir das Beispiel Schweden: Schweden hat keine
Erbschaftsteuer. Ich kann Sie ja mal fragen, ob Sie im
Gegenzug die schwedischen Einkommensteuersätze
zahlen möchten. Das können wir uns ja mal überlegen.
Ich kann Ihnen sagen: Verglichen mit den Ländern, in
denen es eine Erbschaftsteuer gibt, ist das deutsche Erb-
schaftsteuersystem mit das günstigste in Europa. Ver-
gleichen Sie es mit dem englischen oder dem französi-
schen Erbschaftsteuersystem. Das heißt: Die Vergleiche,
die mir, der Bundesregierung und der Arbeitsgruppe der
Koalition entgegengehalten werden, zeugen von einem
ziemlichen Tunnelblick. Es wird nur das gesehen, was
gerade passt, und was nicht passt, wird nicht in die Ana-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
lyse der Gesamtsituation, mit der wir es gerade zu tun
haben, einbezogen.

Im Ergebnis werden nicht mehr Steuerpflichtige als
bisher mit der Erbschaftsteuer belastet. Anders ausge-
drückt – ich beziehe mich jetzt nicht nur auf das betrieb-
liche, sondern auf jedwedes Vermögen –: Oma ihr klein
Häusken bleibt steuerfrei, auch wenn es frisch renoviert
ist; aber die Erben von Oma ihrer Villa mit Park und
Seezugang werden einen höheren Beitrag leisten. Das ist
Vorsatz, das ist Absicht, und das halte ich auch für ge-
rechtfertigt.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ein grandioses Bild! Das hätte auch Herrn Lafontaine einfallen können! Ein tolles Bild, Herr Minister!)


– Herr Westerwelle, wenn ich mir Ihre Bilder vor Augen
führe, muss ich feststellen, dass man Sie dafür auch nicht
loben kann.

Die politische Arbeitsgruppe, die wir einberufen ha-
ben, bestand aus sehr vielen Vertretern, insbesondere der
Länder. Ich habe die Arbeit dieser politischen Arbeits-
gruppe immer als sehr hilfreich empfunden, insbeson-
dere was die Zuarbeit der technischen Arbeitsgruppe be-
trifft. Da wurde sehr viel gerechnet.

Ich wundere mich darüber, dass über dieses Thema
eine fast irreführende öffentliche Diskussion geführt
wird. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Bei-
spiel wurden ganzseitige Anzeigen geschaltet. Eine
Anzeige der KPMG, die wohl mit Unterstützung eines
Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ent-
standen ist, enthält drei fundamentale Fehler, die ich aus
Zeitgründen jetzt nicht darlegen will. In einem Brief-
wechsel hat mein Staatssekretär Nawrath dies insbeson-
dere gegenüber Herrn Nonnenmacher und der KPMG
deutlich gemacht. Was im Zusammenhang mit der Erb-
schaftsteuerreform inzwischen an Lobbyarbeit, an inte-
ressengeleiteter Verunglimpfung und Irreführung statt-
findet, ist teilweise sehr schwer erträglich.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum Ergebnis: Mir ist sehr wohl bewusst,
dass es Ihnen im parlamentarischen Beratungsprozess
offensteht, an der einen oder anderen Stelle zu anderen
Ergebnissen zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist sehr großzügig! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Der König gibt Gnade!)


– Nicht so schnell. – Wir haben in der Koalitionsarbeits-
gruppe, an der viele von denen, die hier sitzen, beteiligt
waren, einen Kompromiss gefunden, der nicht beliebig
aufzulösen ist.


(Beifall bei der SPD)


Bei der Frage der pauschalen Berücksichtigung hat es na-
türlich andere Auffassungen gegeben. Es hat auch eine
sehr lange Debatte über die Berücksichtigung des Be-
triebsvermögens, das über Aktivitäten der Vermögens-
verwaltung hinausgeht, gegeben. Wir haben die 50-Pro-
zent-Grenze und die Lohnsummenregelung – 70 Prozent –
sehr genau definiert.

Das heißt – ich möchte an dieser Stelle auch für die
SPD und nicht nur als Bundesfinanzminister sprechen –:
Wer an einem Faden des Pullovers zieht, muss wissen,
dass der Pullover dann leicht weg sein kann. Deswegen
sage ich abschließend sehr deutlich: Diese Bund-Länder-
Arbeitsgruppe hat einen Kompromiss gefunden. Wenn
der Bundestag als Souverän Änderungen vornehmen
will, dann muss im parlamentarischen Verfahren ein
neuer Kompromiss gefunden werden. Man sollte nicht
glauben, dass man nur auf einen Bestandteil des Kom-
promisses Druck ausüben muss, um einen völlig anders
ausbalancierten Gesetzentwurf zum Erbschaftsteuerrecht
zu erhalten.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zu dem Ergebnis, dass wir es geschafft
haben, den Generationswechsel in kleinen und mittleren
Unternehmen zu erleichtern. Es ist zum ersten Mal so,
dass wir die Vererbung von betrieblichem Vermögen
weitgehend freistellen. Wir erreichen eine verbesserte
Arbeitsplatzsicherheit. Wir kommen, wie ich finde, für
die nächsten Verwandten auch bei der Vererbung von
privaten Vermögen zu deutlich besseren Regeln als jetzt.
Ich halte es für völlig angemessen, dass große Vermögen
von Erblassern, insbesondere von denjenigen in einem
entfernten Verwandtschaftsgrad, stärker als bisher zur
Finanzierung des Erbschaftsteueraufkommens herange-
zogen werden. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende
Regierungsentwurf eine solide und sehr ausbalancierte
Grundlage für das jetzt in Ihrer Hand liegende Gesetzge-
bungsverfahren ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614303300

Für die FDP-Fraktion spricht nun Carl-Ludwig

Thiele.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1614303400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Herr Finanzminister, erstens
muss ich sagen, dass Ihre pampige Einlassung zu den Fi-
nanzmärkten zeigt, dass Sie getroffen sind. Ich kann nur
sagen: Es ist richtig, dass sie getroffen sind; denn Sie tra-
gen die Verantwortung. Deshalb haben wir Sie bezüglich
der Finanzmärkte angesprochen. Darüber muss hier dis-
kutiert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der SPD)


Zweitens möchte ich mich herzlich für den Gnaden-
akt bedanken, dass der Gesetzgeber nach Ihrer Auffas-
sung tatsächlich an einem Gesetzgebungsverfahren mit-
wirken darf.






(A) (C)



(B) (D)


Carl-Ludwig Thiele

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist in der Großen Koalition relativ neu, aber warum
nicht; vielleicht findet das bei diesem Gesetz einmal
statt. Herzlichen Dank für die Gnade!

Drittens. Es gibt verfassungsrechtliche Vorgaben; das
ist richtig. Aber das Verfassungsgericht hat nicht erklärt,
dass diese in diesem Gesetzentwurf so Gesetz werden
müssen. Sie hätten ganz andere Gesetze machen können.
Sie hätten auch bessere Gesetze machen sollen. Dieser
Gesetzentwurf ist nicht die Lösung der Probleme im in-
ternationalen Wettbewerb und auch nicht für die Bevöl-
kerung unseres Landes.


(Beifall bei der FDP)


Insofern möchte ich sagen: Diese Erbschaftsteuerre-
form kennt nicht nur Gewinner – das ist der Eindruck,
den Sie immer erwecken wollen –, sondern auch Verlie-
rer. Die Große Koalition setzt bei dieser Erbschaftsteuer-
reform den roten Faden der Politik der Steuererhöhungen
fort. Das Durchschnittsaufkommen der Erbschaftsteuer
der letzten zehn Jahre betrug 3,2 Milliarden Euro pro
Jahr. Hier ist das Ziel 4 Milliarden Euro pro Jahr. Ich per-
sönlich habe den Eindruck, dass klammheimlich noch er-
heblich mehr Geld von den steuerpflichtigen Erben in
unserem Lande eingesammelt werden soll, als das Fi-
nanztableau bisher ausweist.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte auf ein paar Punkte kurz eingehen. Verlie-
rer sind vor allem die Mittelständler in unserem Land.
Einige Diskussionen passen überhaupt nicht zusammen.
Auf der einen Seite diskutieren wir darüber, wie Investi-
tionen mit Millionensubventionen gefördert werden.
Diese Firmen müssen fünf Jahre lang die Arbeitsplätze
erhalten. Auf der anderen Seite soll der Mittelstand, der
in Deutschland die Arbeitsplätze schafft und in die Ver-
günstigungsregelung kommt, 15 Jahre lang die Arbeits-
plätze erhalten. Das kann mir niemand erklären und hat
mir auch noch niemand erklären können. Herr Finanzmi-
nister, ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auch Ihre Erklä-
rung heute hat mich nicht überzeugen können.


(Beifall bei der FDP)


Der Mittelstand wird durch dieses Gesetz in einer
Form benachteiligt, wie es leider das Kennzeichen der
Großen Koalition ist.


(Florian Pronold [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Denn wer Arbeitsplätze in unserem Lande schaffen und
erhalten will, muss sich insbesondere darum kümmern,
dass die Familienunternehmen gefördert und nicht belas-
tet werden. 95 Prozent der Betriebe in unserem Land
sind mittelständische Betriebe. 57 Prozent der Beschäf-
tigten sind im Mittelstand tätig. Auch in den letzten Jah-
ren, als in der Industrie Arbeitsplätze abgebaut wurden,
hat der deutsche Mittelstand zusätzliche Arbeitsplätze
geschaffen. In inhabergeführten Familienunternehmen
ist dies erfolgt und nicht in den großen DAX-Konzernen.


(Beifall bei der FDP)

Die Erbschaftsteuer ist eine reine Mittelstandsteuer.
Denn kein DAX-Konzern hat je 1 Cent Kapital durch die
Erbschaftsteuer verloren. Wenn ein Aktionär verstirbt,
werden seine Aktien beim Erben bewertet. Die Steuer
wird festgesetzt, und Aktien können dann über den Ka-
pitalmarkt veräußert werden. Aber VW, Bayer und sons-
tige Firmen haben nie 1 Cent Kapital verloren. Das ist
im deutschen Mittelstand anders. Da ist das Vermögen in
die Firma investiert, teilweise über Generationen hin-
weg. In diesen Familien gilt der Grundsatz: Die Firma
steht vor der Familie. 90 Prozent der Ausschüttungen
müssen häufig in das Unternehmen reinvestiert werden,
um die Zukunft des Unternehmens langfristig sicherzu-
stellen.

Wenn hier mit der Erbschaftsteuer eingegriffen wird,
dann liegt das Geld, das eingenommen werden soll, nicht
in irgendwelchen Banktresoren, sondern es ist in der
Firma gebunden. Um Erbschaftsteuer zu zahlen, muss
Geld aus der Firma genommen werden, Teile der Firma
müssen veräußert werden oder die Firma muss belastet
werden.

Zum angeblichen Vorteil der Stundungsregelung.
Allein durch die Stundungsregelung wird das Rating der
Unternehmen drastisch verschlechtert. Das heißt, die
Kreditzinsen steigen, weil es sich um eine latente Steuer-
last des Unternehmens handelt. Sie betrifft massiv die
Refinanzierung des Unternehmens.


(Beifall bei der FDP)


Wer hier ein solches Gesetz auf den Weg bringt, der
muss sich wirklich fragen lassen, ob er es mit dem Erhalt
und der Schaffung von Arbeitsplätzen ernst meint und
wie er es eigentlich mit den Unternehmen in unserem
Lande hält. Betroffen sind nämlich zahlreiche familien-
geführte Unternehmen, die zum Wohle der Beschäftig-
ten, aber auch unseres Landes mit Engagement und Ka-
pital arbeiten.

Ich möchte weitere Punkte ansprechen.

Zur Steuerklasse II. Der Freibetrag wird zwar ge-
ringfügig erhöht; aber der Eingangssteuersatz steigt um
150 Prozent, von 12 Prozent auf 30 Prozent. Das gilt für
enge Familienangehörige; das gilt auch für Personen, die
in Steuerklasse III sind.

Überall wird gesagt: Schafft Vermögen! Betreibt Al-
tersvorsorge! Wenn von zwei Personen, die zusammen-
leben – auch als nichteheliche Lebensgemeinschaft –
und die es im Laufe ihres Lebens geschafft haben, ein
Haus im Wert von 240 000 Euro zu entschulden, um den
Lebensabend ohne Miete bestreiten zu können, eine ver-
stirbt, dann erbt die andere Person die Hälfte des Wertes
dieses Hauses. Das sind in diesem Fall 120 000 Euro.
Bei einem Freibetrag von 20 000 Euro müssen dann
100 000 Euro mit 30 Prozent versteuert werden, sprich:
Steuern in Höhe von 30 000 Euro sind einen Monat nach
Erhalt des Steuerbescheids fällig. Mir liegen schon jetzt
viele Briefe von Bürgern vor, in denen steht: Das können
wir nicht leisten. Wir sind jetzt alt. Wir haben für uns,
für unser Land und für unsere Altersversorgung gearbei-
tet. Jetzt, da wir alt sind, sollen uns von diesem Erarbei-






(A) (C)



(B) (D)


Carl-Ludwig Thiele
teten 30 Prozent weggenommen werden. Das kann nicht
richtig sein.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Insofern appelliere ich hier an Sie: Dieser Gesetzent-
wurf kann so nicht bleiben, auch wenn Herr Koch an sei-
nem Zustandekommen mitgewirkt hat. Wir erleben, dass
Teile der Union sich von diesem Gesetzentwurf distan-
zieren. Das Kabinett hat ihn gleichwohl beschlossen.

In Österreich – dort ist ebenfalls eine Große Koali-
tion tätig – ist die Situation anders. Herr Finanzminister,
ich zitiere den österreichischen Bundeskanzler, der der
SPÖ und damit vermutlich auch der Sozialistischen In-
ternationale angehört – es handelt sich also um einen
Parteifreund eines Nachbarlandes –:

Tatsache ist, dass es von Mitte 2008 an in Öster-
reich keine Erbschaftssteuer mehr gibt. Ich bitte
Sie, das möglichst breit zu publizieren!

Was bezweckt er denn damit? Einen Wettbewerbsvor-
teil für Österreich! In der Vergangenheit haben wir er-
lebt, dass in ganzseitigen Anzeigen dafür geworben
wurde, seinen Sitz nur wegen der Erbschaftsteuer in die
Schweiz zu verlegen. Wer einmal im Ausland ist, der
kommt nicht wieder, der trifft Investitionsentscheidun-
gen nicht mehr aus deutscher Sicht und der zahlt Jahr für
Jahr weder Einkommensteuer noch Körperschaftsteuer
noch Lohnsteuer noch Verbrauchsteuer. Wir müssen al-
les daransetzen, unseren Standort Deutschland attraktiv
zu machen, und wir müssen uns diesem Wettbewerb stel-
len. Dieses Gesetz unter einer Großen Koalition mit ei-
ner christdemokratischen Kanzlerin auf den Weg zu
bringen, halte ich für abenteuerlich. Es wird Zeit, dass
die Bevölkerung endlich merkt, welche Steuererhöhun-
gen damit vorgenommen werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP – Florian Pronold [SPD]: Sie kann nichts merken, weil es keine gibt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614303500

Das Wort hat nun Kollege Michael Meister, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1614303600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir füh-

ren heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts
durch. Für uns gibt es in dieser Debatte zwei Ausgangs-
punkte: Der eine Ausgangspunkt ist die Erleichterung
der Unternehmensnachfolge beim Übergang in die
nächste Generation. Der zweite Ausgangspunkt ist das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns vorgibt,
dass wir auf der Bewertungsebene den in Art. 3 des
Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz beach-
ten müssen.

Ich möchte zunächst einmal sagen: Es ist uns ein
wichtiges Anliegen, dass die Sozialbindung des Eigen-
tums deutlich hervorgehoben wird. Wir haben in
Deutschland die Kultur, dass es viele mittelständische
Familienunternehmen gibt. Diese Familienunternehmen
haben zur Erfolgsstory der vergangenen zwei Jahre maß-
geblich beigetragen. Denn in diesen Unternehmen war
ein überproportional großer Aufwuchs an Arbeitsplätzen
zu verzeichnen. Im Interesse des Standortes Deutschland
müssen wir dafür sorgen, dass der mittelständische Sek-
tor auch in Zukunft gestärkt wird. Damit tun wir etwas
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-
land. Das ist unser zentrales Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Firmeneigentü-
mer und Firmenlenker haben eine soziale Verantwortung
für ihre Mitarbeiter, die sie auch wahrnehmen. Wir spre-
chen jetzt nicht über anonyme Kapitalgesellschaften,
sondern über Gesellschaften, deren Eigentümer eine so-
ziale Verantwortung für ihre Mitarbeiter haben. Wir wol-
len sicherstellen, dass diese Kultur nicht zerstört wird.
Die Kultur der sozialen Verantwortung im unternehmeri-
schen Bereich muss gewahrt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb müssen wir bei der Erbschaftsteuer eine Rege-
lung treffen, die die Weitergabe eines Unternehmens an
die nächste Generation ermöglicht, und zwar unter Er-
halt dieser Kultur, unter Wahrung der Arbeitsplätze und
unter Fortführung der Unternehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])


Der zweite Punkt, der Anlass für die heutige Debatte
ist, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach
dem wir alle Vermögensarten – unternehmerisches Ver-
mögen, Immobilienvermögen, Barvermögen und land-
und forstwirtschaftliches Vermögen – zum gemeinen
Wert, sprich: zum Verkehrswert, einheitlich zu bewerten
haben. Durch dieses Urteil werden die Handlungsmög-
lichkeiten des Gesetzgebers maßgeblich eingeschränkt.
Wir haben keinerlei Spielraum. Da wir aufgrund der Vor-
gaben des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind, ist
es auch ein Stück weit fahrlässig, den Status quo mit der
künftigen Gesetzgebung zu vergleichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Für viele steht die Frage im Mittelpunkt: Wie wird der
Verkehrswert überhaupt ermittelt? Wir haben gefordert,
die Wertermittlungsverordnung, die eigentlich nicht Ge-
genstand der Beratungen im Deutschen Bundestag ist,
rechtzeitig vorzulegen und im Rahmen einer Anhörung
zu thematisieren, damit wir auch die Frage, wie die
Werte ermittelt werden, im parlamentarischen Verfahren
gemeinsam erörtern können. Ich glaube, dieser Aspekt
ist für alle Betroffenen sehr wichtig. Wir werden die
Wertermittlung ernsthaft beraten und versuchen, hier zu
vernünftigen Lösungen zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In Anbetracht des Urteils des Bundesverfassungsge-
richts kann es uns nur darum gehen, Begünstigungsrege-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
lungen auf der Ebene der Besteuerung zu treffen. Ich
möchte aber, bevor ich zu den Details komme, zunächst
einmal die zwei Grundfragen offenlegen, die wir uns zu
Beginn gestellt haben.

Erstens. Brauchen wir in Deutschland in Zukunft
überhaupt eine Erbschaftsteuer? Nachdem wir alle Argu-
mente, die dafür und dagegen sprechen, abgewogen ha-
ben, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir an
der Erbschaftsteuer festhalten wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Herr Kollege Thiele, auf diese Frage habe ich eigentlich
auch von Ihnen eine Antwort erwartet. Sie haben viele
Fragen gestellt. Ich habe aber keine Aussage dazu ge-
hört, ob die FDP für die Abschaffung oder für die Beibe-
haltung der Erbschaftsteuer ist. Dazu haben Sie kein
Wort gesagt. Offensichtlich hat die FDP hierzu keine
Meinung. Sie haben sich zu dieser Frage nicht geäußert.


(Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Oh doch! Dazu gibt es sogar einen Parteitagsbeschluss der FDP!)


Zweitens. Wir haben uns Gedanken darüber gemacht,
ob wir eine Steuer, deren Aufkommen den Ländern zu-
fließt und die von den Ländern gestaltet werden könnte,
tatsächlich auf Bundesebene regeln müssen. In unserer
Arbeitsgruppe haben wir den Vertretern der Länder an-
geboten, das Steuerrecht selbst zu bestimmen. Die Län-
der waren aber der Meinung, dass es besser sei, dies auf
Bundesebene einheitlich zu regeln. Deshalb unterzieht
sich der Deutsche Bundestag nun der Übung, ein bun-
desweit einheitliches Erbschaftsteuerrecht zu entwi-
ckeln, und wir stehen gerade erst am Beginn unserer Be-
ratungen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614303700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Thiele?


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1614303800

Gerne, Herr Präsident.


Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1614303900

Herr Kollege Meister, da Sie gesagt haben, Sie wüss-

ten nicht, welche Vorstellungen die FDP zur Erbschaft-
steuer hat, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist,
dass der Bundesparteitag der FDP einen Beschluss ge-
fasst hat, der besagt, dass die Erbschaftsteuer als reine
Ländersteuer von den Ländern gestaltet und erhoben
werden sollte. Das verstehen wir unter Wettbewerbsfö-
deralismus.


(Ortwin Runde [SPD]: Von wegen! Das ist Demokratieabbau!)


Der Bund muss nicht alle Steuern selbst regeln. Das
gilt erst recht für die Steuern, aus denen er überhaupt
keine Einnahmen erzielt. Dieses Vorgehen funktioniert
auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz.
Nach unserer Auffassung würde das auch in Deutsch-
land funktionieren. Es ist also nicht so, dass die FDP
keine Vorstellungen zur Erbschaftsteuer hat. Ich bitte
Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP sehr wohl
eine Meinung zu diesem Thema hat. Den genauen Wort-
laut unseres Parteitagsbeschlusses stelle ich Ihnen im
Anschluss an diese Debatte jederzeit gerne zur Verfü-
gung.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1614304000

Lieber Herr Kollege Thiele, Sie haben in Ihrer Rede

bedauerlicherweise nichts zu dieser Frage gesagt. Ich be-
danke mich deshalb ausdrücklich, dass Sie jetzt in Ihrer
Frage darauf Bezug genommen haben.

Ich habe die Frage gestellt, ob die FDP an der Erb-
schaftsteuer festhalten möchte und, wenn ja, ob sie bun-
desweit gelten soll oder ob jedes Land für sich darüber
entscheiden soll. Dazu haben Sie weder in Ihrer Rede et-
was gesagt, noch geht das aus dem Beschluss Ihres Bun-
desparteitages hervor.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das sollen die Länder entscheiden!)


Sie sagen lediglich, dass diese Entscheidung auf die
Länderebene delegiert werden soll. Sie sind ja in einigen
Landtagen vertreten und an einigen Landesregierungen
beteiligt. Deshalb müssen Sie in dieser grundsätzlichen
Frage einmal Position beziehen! Dieser Frage dürfen Sie
nicht ständig auszuweichen versuchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben es den Ländern anheimgestellt, diese Frage
selbst zu regeln. Die Länder haben uns gesagt, dass sie
an einer bundesweit einheitlichen Lösung interessiert
sind. Deshalb beraten wir hier gemeinsam. Ich möchte
ausdrücklich festhalten, dass ich glaube, dass die Ar-
beitsgruppe, die getagt und die Eckpunkte für den Ent-
wurf für diese erste Lesung vorgelegt hat, eine gute
Grundlage für die Beratungen geschaffen hat, wenn-
gleich wir Änderungsbedarf sehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will auf beide Punkte eingehen, zum Ersten auf
die Beratungsgrundlage und zum Zweiten auf den Ände-
rungsbedarf. Ich will an dieser Stelle in Erinnerung ru-
fen, was der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion
gesagt hat: Kein Gesetz, das dieses Haus betritt, wird es
auch so verlassen. Wir als Unionsfraktion werden zei-
gen, dass dieses Struck’sche Gesetz auch für dieses Ge-
setzgebungsverfahren gilt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Zeigen genügt nicht!)


Zunächst einmal zu den positiven Aspekten. Wir ha-
ben durch eine deutliche Erhöhung der Freibeträge in
allen Steuerklassen dafür gesorgt, dass normales Ge-
brauchsvermögen – auch ein Einfamilienhaus, das inner-
halb der Familie vererbt wird – steuerfrei vererbt werden
kann. Das ist natürlich in extremen Lagen schwer darzu-
stellen, wenn man bundeseinheitliche Gesetze macht.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
Aber im Regelfall können wir davon ausgehen, dass die
Freibeträge im vorliegenden Gesetzentwurf so gestaltet
sind, dass die Menschen bessergestellt werden, obwohl
der Wert von Immobilien jetzt höher angesetzt werden
muss.

Wir wollen, dass unternehmerisches Vermögen leich-
ter an die nächste Generation weitergegeben werden
kann. Wir haben diesen Ansatz mit der Abschmelzrege-
lung realisiert. Man kann – Herr Steinbrück hat das an-
gesprochen – darüber streiten, ob man Privatvermögen
und Unternehmensvermögen voneinander abgrenzen
sollte oder ob eine pauschalierte Regelung angebracht
wäre. Ich habe mich persönlich mehr als fünf Jahre mit
dieser Thematik auseinandergesetzt und muss sagen: Es
gibt keine saubere Lösung dafür, wie man eine solche
Abgrenzung vornehmen sollte. Deshalb glaube ich, dass
der Pauschalierungsansatz vertretbar ist und in die rich-
tige Richtung weist. Über die Höhe haben wir gerungen;
die 15 Prozent sind ein Kompromiss. Bei unserem jetzi-
gen Ansatz wird das Weltvermögen des Unternehmens
einbezogen. Das will ich klar und deutlich sagen; denn
der eine oder andere hat daran Zweifel geäußert. Auch
das ist ein gewaltiger Schritt nach vorne.

In der Debatte ist zu Recht die Lösung für Kleinbe-
triebe angesprochen worden, die dafür sorgt, dass viele
Unternehmen von der Erbschaftsteuer überhaupt nicht
tangiert werden. Damit stellt sich die Frage der Bürokra-
tie an dieser Stelle nicht. Wir sollten da nicht für Verun-
sicherung sorgen.

Im Immobilienbereich wird ein 10-Prozent-Abschlag
gewährt. Auch das ist ein Schritt in die richtige Rich-
tung, wenn auch möglicherweise nicht ausreichend. Es
muss überlegt werden, wie wir mit großen Immobilien-
beständen umgehen, wenn Arbeitsplätze daran hängen.
Möglicherweise müssen wir ähnlich wie bei privaten
Banken, ähnlich wie bei Unternehmen, die mit Edel-
metallen handeln, überlegen, wie wir die Strukturen be-
wahren. Denn auch am Immobiliensektor hängen viele
Arbeitsplätze. Deshalb glaube ich, dass wir uns diesen
Punkt noch einmal anschauen müssen.

Herr Thiele hat das Rating von Unternehmen ange-
sprochen. Der Steuerschuldner ist nicht das Unterneh-
men, der Steuerschuldner ist der Eigentümer. Deshalb
hat die ganze Geschichte auf die Frage des Ratings eines
Unternehmens keinerlei Auswirkungen. Die Frage einer
Verschuldung des Unternehmens ist nämlich nicht tan-
giert.

Die Begünstigung der Landwirtschaft, die wir mit
dem Bewertungsverfahren zur adäquaten Abbildung der
Verhältnisse in der Landwirtschaft einzuführen versu-
chen, ist dargestellt worden.

Meine Fraktion hat das Ansinnen, die Anhörung und
die Hinweise aus dem Bundesrat, der ja zeitgleich mit
uns tagt, ernst zu nehmen und zu schauen, wie wir die
Anregungen, die gegeben werden, miteinander umsetzen
können. Wenn ich das richtig sehe, gibt es ein Problem
bei Geschwistern; Kollege Thiele hat das angesprochen.
Wir müssen überlegen, ob der Tarifverlauf in der Steuer-
klasse II im Verhältnis zu dem in der Steuerklasse III
adäquat ist oder ob nicht, wenn es zwischen Geschwis-
tern, Neffen und Nichten zur Vererbung kommt, eine an-
dere als die gegenwärtig vorgeschlagene Tarifierung an-
gebracht wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sehen eine 15-jährige Bindungsfrist vor, wäh-
rend der man aus dem Unternehmen nichts ins Privatver-
mögen übernehmen darf. Die Berechnung dieser Frist
könnte Ihnen ein Mathematiker sauber darstellen. Man
kann sich ausrechnen, dass es genau dieser Zeitraum
sein muss, um Steuerneutralität zu erreichen.

Wir reden hier aber nicht nur über Steuern, sondern
auch über betriebswirtschaftliche Entscheidungen und
Planungshorizonte von Unternehmen. Deshalb glaube
ich, dass wir trotz der Steuerneutralität noch einmal prü-
fen müssen, ob die 15 Jahre angemessen sind oder ob
wir an dieser Stelle nicht zu einer Vereinheitlichung der
Fristen auf 10 Jahre kommen können, die ja auch bei der
Abschmelzung vorgesehen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein riesiges Problem ist die Beantwortung der Frage,
was die Pönale ist, wenn es zur Verletzung der Kriterien
zur Begünstigung kommt. Ich glaube, an dieser Stelle
gilt es zu bedenken: Wenn sich jemand 14 bzw. 9 Jahre
lang ordentlich verhalten hat, dann sollte er nicht so be-
handelt werden wie derjenige, der schon im ersten Jahr
die Regeln verletzt. Deshalb müssen wir über eine Diffe-
renzierung der Pönale nachdenken und müssen uns über-
legen, ob wir hier nicht zu einer entsprechenden Redu-
zierung kommen sollten, wie das dem Gedanken des
Abschmelzmodells entspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Normenkontrollrat weist uns darauf hin, dass ein
großer Bürokratie- und Administrationsaufwand er-
forderlich ist, um die Begünstigung einzuführen und die
Wertermittlung vernünftig zu vollziehen. Deshalb wer-
den wir den Gesetzentwurf in den Beratungen mit Si-
cherheit noch einmal darauf überprüfen, ob wir den Ad-
ministrations- und Bürokratieaufwand im Interesse der
Finanzverwaltung und der Steuerzahler vermeiden kön-
nen. Ein Punkt dabei ist die vorhandene Dynamisierung
der Lohnsumme. Ich glaube, an dieser Stelle müssen wir
prüfen, welcher Administrationsaufwand verursacht
wird.

Ich komme zu den letzten zwei Punkten, die ich be-
nennen will.

Bei dem ersten Punkt geht es um ein Phänomen, das
es bisher nicht gab, nämlich die theoretisch mögliche
Doppelbelastung durch Erbschaft- und Einkommen-
steuer. Dazu gibt es zwar keine Vorlage im Gesetzent-
wurf, aber es liegt eine Protokollnotiz der Arbeitsgruppe
von Herrn Koch und Herrn Steinbrück vor, aus der her-
vorgeht, dass wir uns diesem Problem zuwenden wollen.

Dieses Problem tritt auf, weil sowohl bei der Erb-
schaft- als auch bei der Einkommensteuer die Verkehrs-
werte für die Besteuerungsgrundlage herangezogen wer-
den. Das haben wir bisher nicht getan. Bisher sind wir in






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
der Erbschaftsteuer von Bilanzwerten ausgegangen. Um
diesen Effekt auszugleichen, müssen wir uns das Pro-
blem der Doppelbelastung noch einmal anschauen und
hier zu einer Lösung kommen. Ich glaube nicht, dass wir
das Problem durch dieses Gesetz lösen; aber wir müssen
uns ernsthaft vornehmen, durch Regelungen hinsichtlich
der Einkommensteuer eine Lösung für die Betroffenen
zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die deutsche
Landwirtschaft. Wir haben hier einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der dazu führen wird, dass die deutsche Land-
wirtschaft durch die Erbschaftsteuer nicht stärker belas-
tet wird, als das heute der Fall ist. Wir haben nach langen
Diskussionen Verfahren gefunden, die dazu führen, dass
es an dieser Stelle zu einer adäquaten Bewertung
kommt. Ich glaube, wir müssen uns auch noch einmal
das Problem der Pachtflächen anschauen und prüfen,
welche adäquaten Lösungen wir für große Pachtbetriebe
finden können.

In diesem Sinne lade ich dazu ein, dass wir dieses
Verfahren gemeinsam konstruktiv begleiten, die Emotio-
nen ein Stück weit außen vor lassen und versuchen, mit
Ratio gemeinsame Lösungen für die angesprochenen
Probleme zu finden. Ich würde mich freuen, wenn das in
den nächsten Wochen in diesem Hause hier und auch bei
den Kollegen im Bundesrat möglich wäre.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614304100

Ich erteile Kollegin Barbara Höll, Fraktion Die Linke,

das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614304200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Meister, mir fällt es in dieser Debatte schwer, meine
Emotionen zu beherrschen.


(Daniela Raab [CDU/CSU]: Uns auch!)


Herr Steinbrück hat sich hier hingestellt und hoch-
zufrieden verkündet: Erben wird günstiger in Deutsch-
land. – Richtig!


(Florian Pronold [SPD]: Die FDP sagt das Gegenteil! Was stimmt jetzt?)


Wenn man die Debatten am gestrigen und am heutigen
Tag betrachtet, dann bemerkt man, dass Sie das mit ei-
nem hohen Grad an Befriedigung erreicht haben.

1,2 Milliarden Euro müssen wir der IKB zuschießen.
Gestern haben wir hier in diesem Hause einen ermäßig-
ten Mehrwertsteuersatz für Waren und Dienstleistungen
für Kinder beantragt, nämlich eine Senkung von 19 Pro-
zent, die Sie beschlossen haben, auf 7 Prozent.


(Florian Pronold [SPD]: Unsinn muss man nicht beschließen!)

Herr Bernhardt meinte, dass das etwa 1,5 Milliarden
Euro kosten würde. Dafür ist kein Geld da; das geht
nicht.

Schauen Sie sich die Regelsätze bei Hartz IV an. Ich
habe sie mir für diese Debatte noch einmal herausge-
sucht. Für ein Kind im Alter von unter 14 Jahren werden
208,20 Euro im Monat gezahlt. Das sind am Tag
6,94 Euro. 38 Prozent davon – also 2,64 Euro – sind für
Lebensmittel, Getränke und Tabak vorgesehen. Es ist
übrigens schön, dass Sie den Tabak auch schon für Ba-
bys vorsehen. Wissen Sie, was ein Schulessen kostet?
Kein Schulessen in Deutschland, wenn es überhaupt an-
geboten wird, kostet im Durchschnitt unter 2 Euro, son-
dern 2,20 bis 2,70 Euro; dort, wo Ökologisches angebo-
ten wird, wird es meistens noch teurer. Aber Sie sagen
hier: Erben wird günstiger. Na schön, prima! Das kann
sich unsere Gesellschaft leisten? Nein, das kann sich un-
sere Gesellschaft eben nicht leisten!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Unternehmensberatung BBE geht für die nächs-
ten Jahre davon aus, dass zwischen 2006 und 2015
2,5 Billionen Euro von Familien an junge Menschen
übergehen. Sie streben eine Belastung von 2 Prozent an,
jährlich 4 Milliarden Euro. 98 Prozent des Vermögens-
übergangs sollen nach Ihrer Auffassung steuerfrei blei-
ben. Das können wir uns leisten? Wie hoch ist denn die
Lohnsteuer? Wie hoch sind andere Steuern? Da greift
der Staat zu; er greift zwar nicht gerecht, aber berechtigt
zu, denn wir alle leben im Gemeinwesen.

Folgende Zahlen, wonach 1 Prozent der Bevölkerung
über 20 Prozent des Vermögens der Bundesrepublik
Deutschland besitzen oder, wenn wir es etwas erweitern,
10 Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens
besitzen, aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerung
über 17 Jahre nichts oder fast nichts besitzen, belegen
klar, dass die Vermögensverteilung in Deutschland
noch ungerechter als die Einkommensverteilung ist. Wir
sind doch einfach in der Pflicht, dies etwas gerechter zu
gestalten,


(Beifall bei der LINKEN)


um Aufgaben wie Bildung und Chancengleichheit für
Kinder finanzieren zu können.

Da hier der internationale Vergleich immer so hoch-
gehalten wird, wäre es wichtig, Folgendes zu betrachten:
Von 30 OECD-Ländern erheben lediglich sieben Staaten
keine Erbschaftsteuer. In drei Staaten davon wurde bei
der Abschaffung dieser Steuer allerdings eine Teilkom-
pensierung eingeführt.

Für wichtig halte ich, wie hoch der Anteil der Erb-
schaftsteuer am Bruttoinlandsprodukt ist. In Deutsch-
land beträgt er 0,16 Prozent, in Großbritannien hingegen
0,28 Prozent. Das sind 3 Milliarden Euro pro Jahr mehr,
eine Summe, die ja wohl nicht zu verachten ist, mit der
man das kostenfreie Mittagessen für alle Kinder sicher-
lich finanzieren könnte. In den Niederlanden liegt dieser
Anteil bei 0,34 Prozent und im Durchschnitt der EU der
15 bei 0,31 Prozent.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und in Kuba?)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Barbara Höll
Wenn wir nur den Durchschnitt erreichten, hätten wir
wesentlich mehr Geld für anstehende wichtige Aufga-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Sie sagen: Erben wird günstiger. – Schön! Wir
brauchen das Geld nicht. – Denn vor dem Hintergrund
der ansteigenden Erbmasse bedeutet Ihr Vorschlag kon-
kret eine massive Senkung der Erbschaftsteuer.


(Florian Pronold [SPD]: Die FDP sagt das Gegenteil!)


– Ja, weil das zu vererbende Vermögen steigt.


(Florian Pronold [SPD]: Wer hat jetzt recht: die FDP oder Sie?)


Außerdem beachten Sie nicht die Vorgabe des Bun-
desverfassungsgerichts, dass eine tatsächlich realisti-
sche Bewertung von Immobilien und Betriebsvermögen
erfolgen soll. Mit welcher Berechtigung sollen
85 Prozent des Betriebsvermögens verschont werden?
Darauf antworte nicht ich; vielmehr sollten wir uns an
dem orientieren, was die Industrie selber sagt. Heute
steht ein wunderbarer Artikel in der Frankfurter Rund-
schau, in dem Herr Stratthaus, Finanzminister von Ba-
den-Württemberg, zitiert wird: Niemand von den Mittel-
ständlern, die immer über die Erbschaftsteuer jammern,
muss sie bezahlen. – Es ist ein Phantomschmerz.


(Florian Pronold [SPD]: Aber der tut auch weh!)


Ich möchte Ihnen noch ein Zitat vom DIW vortragen:

So gibt es keine empirische Evidenz zu besonderen
erbschaftsteuerbedingten Problemen bei der Nach-
folge von Familienunternehmen, …

– ich habe in einer Kleinen Anfrage danach gefragt, ob
überhaupt ein Fall bekannt ist, in dem die Erbschaft-
steuer dazu geführt hat, dass es beim Übergang des
Unternehmens zu Schwierigkeiten gekommen ist; Sie
konnten nicht einen Fall benennen, es ist heute kein Pro-
blem –

… auch die bisherige Stundung wird offenbar kaum
in Anspruch genommen.

Diese Möglichkeit gibt es ja schon.

Unternehmen können auch von Nichtfamilienmit-
gliedern erfolgreich fortgeführt werden. Das Ab-
schmelzmodell würde die Übertragung von millio-
nenschweren Unternehmensvermögen steuerfrei
stellen, bei denen keine nennenswerten steuerlich
bedingten Liquiditätsprobleme auftauchen.

Das Ganze hat nichts mit Existenzgefährdung zu tun,
es hat nichts mit Gefährdung der Unternehmensfortfüh-
rung zu tun. Ihre Entlastung ist überflüssig und unnötig,
und sie belastet die Allgemeinheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Interessant ist auch, wie Sie Ihr Vorhaben ausgestal-
ten. Wenn man die bestehende und die geplante Rege-
lung vergleicht, ist bei einer Unternehmensübergabe
an Nichtfamilienmitglieder eine massive Höherbelas-
tung für Unternehmen mit einem Verkehrswert bis zu
1 Million Euro festzustellen. Das ist der einzige Bereich,
in dem Sie wirklich eine massive Anhebung planen. Das
heißt, bei den kleinen Betrieben mit einem Verkehrswert
bis zu 1 Million Euro planen Sie eine Anhebung; bei den
anderen Unternehmen bleiben die Steuersätze im We-
sentlichen unverändert. Das kann doch nicht wahr sein.


(Widerspruch des Abg. Florian Pronold [SPD])


Es ist doch ein Hohn, wenn Sie sagen, dass kleine und
mittelständische Unternehmen entlastet werden. Gerade
ihnen gegenüber ist Ihr Vorhaben nicht gerecht.

Herr Steinbrück hat das Beispiel des Einfamilienhau-
ses genannt, für das auch künftig keine Erbschaftsteuer
gezahlt werden müsse. Mit Ihrer Diskussion zur Unter-
nehmensnachfolge lenken Sie davon ab, dass Sie die
Ausgestaltung der Erbschaftsteuer, die bereits heute nur
zu 8 Prozent von den Unternehmen gezahlt wird – 92 Pro-
zent entfallen auf den Übergang von Privatvermögen
durch Erbschaft –, zur massiven Entlastung der Unter-
nehmen wieder durch die Privatvermögen finanzieren
lassen wollen. Sie sehen eine massive Besserstellung der
traditionellen Familie – Vater, Muter, Kind – bei einer
Schlechterstellung der Steuersätze in Steuerklasse II
und III für andere Verwandte und sonstige Erben vor.
Das erwähnte Beispiel der Geschwister spricht wirklich
Hohn.

Lassen Sie mich mit einem Blick auf die Zahlen
schließen. Die Zahlen des vergangenen Jahres – Herrn
Steinbrücks Beispiel des Einfamilienhauses und der
Villa und die daraus scheinbar resultierenden Freibeträge
sind an den Haaren herbeigezogen – zeigen, dass es in
Deutschland ganze vier Städte gibt – nämlich Hamburg,
München, Stuttgart und Düsseldorf –, in denen der Ver-
kehrswert eines normalen Einfamilienhauses mit einem
kleinen Grundstück über 300 000 Euro beträgt. Sie se-
hen also auch in dem Bereich eine massive Anhebung
der Freibeträge vor. Offenbar wollen Sie weniger Geld
einnehmen.

Wenn Sie behaupten, die 4 Milliarden Euro seien eine
solide Grundlage, sage ich Ihnen: Ich zweifele die Zah-
len massiv an. Auf unsere Nachfragen hat das Finanz-
ministerium angegeben, über keine entsprechenden Zah-
len zu verfügen. Den Berechnungen wurden zum
Beispiel bei einer Übergabe im Unternehmensbereich
erst Zahlen ab 50 Millionen Euro zugrunde gelegt.

Sie haben also gar keine Zahlen. Konkret wird damit
zu rechnen sein, dass noch weniger Geld für Bildung,
Kinder und damit für unsere Zukunft zur Verfügung
steht.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614304300

Das Wort hat nun Christine Scheel, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614304400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sollten auch darüber reden, dass maßgebliche Kräfte in
dieser Gesellschaft das Ziel haben, die Erbschaftsteuer
abzuschaffen. Diese Kräfte finden sich in der FDP, und
da hilft es nichts, wenn Herr Thiele feststellt, die FDP
wolle zwar, dass die Erbschaftsteuer erhoben wird, aber
in Verantwortung der einzelnen Bundesländer, das heißt,
nicht durch ein Rahmengesetz des Bundes, sondern in
ausschließlicher Zuständigkeit der Länder. Ich behaupte,
dass es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver handelt.
Denn Sie weisen bei jeder Gelegenheit darauf hin, in
welchen Ländern die Erbschaftsteuer nicht mehr erho-
ben wird, dass sie hochbürokratisch


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist ja auch so!)


und im Übrigen unnötig ist. Deswegen plädiere ich für
mehr Ehrlichkeit und Offenheit, statt so zu tun, als ob
man für ein anderes Modell wäre, obwohl man in Wirk-
lichkeit die Erbschaftsteuer abschaffen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das stimmt ja gar nicht!)


Das gilt übrigens auch für einzelne in der Union und
für diejenigen, die wir als Wirtschaftselite bezeichnen.
Auch dort findet die Debatte statt. In der Diskussion
muss bei allem, was sich in der heutigen Zeit ereignet
– Herr Zumwinkel hat wohl zwischenzeitlich seinen
Rücktritt angeboten –,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die Regierung hat ihn angenommen!)


auch berücksichtigt werden, wie sich ein solches Vorha-
ben auf das Gerechtigkeitsgefühl in dieser Gesellschaft
auswirkt. Wie wirkt sich eine solche Diskussion auf den
sozialen Zusammenhalt aus, den wir in unserer Bundes-
republik dringend brauchen?


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Fragen Sie mal Frau Höll!)


Wir alle haben Verantwortung, wenn es um den Zusam-
menhalt in dieser Gesellschaft geht. Hierzu gehört eine
vernünftig ausgestaltete Erbschaftsteuer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die soziale Kluft in der Gesellschaft vergrößert sich.
Die reichsten 10 Prozent der Deutschen besitzen zwei
Drittel des gesamten Volksvermögens, die ärmste Hälfte
dagegen fast gar nichts. Wir wissen, dass Deutschland so
wohlhabend wie noch nie ist. Das Gesamtvermögen der
Bundesrepublik Deutschland beträgt 5,4 Billionen Euro.
Das zeigt, dass Deutschland ein reiches Land ist, und das
ist auch gut so. Bei gleichmäßiger Verteilung wären das
81 000 Euro pro Kopf. Realität ist aber, dass immer
mehr Menschen immer weniger und einige immer mehr
haben. Die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung
verharrt nicht beim Status quo, sondern nimmt zu. In
diesem Kontext bedeutet die geplante Ausgestaltung der
Erbschaftsteuer, die eine stärkere Entlastung der Vermö-
genden zur Folge hätte, dass sich diese Schere noch wei-
ter öffnet. Genau das wollen wir nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Laut einer in der FAZ veröffentlichten Allensbach-
Untersuchung sehen nur 15 Prozent der Deutschen die
wirtschaftlichen Verhältnisse als gerecht an. Man muss
insbesondere von den Leistungsträgern und Leistungs-
trägerinnen in dieser Gesellschaft mehr Geld verlangen,
um das zu tun, was wir für die Zukunft brauchen. Nicht
nur meine Fraktion stellt die Bildung immer wieder in
den Vordergrund. Bildung wird von allen als Himmels-
leiter für den sozialen Aufstieg beschworen. Doch der
Zugang zu dieser Leiter hängt zunehmend davon ab, ob
Familien Vermögen haben, ob Kinder von den Bildungs-
investitionen der Familie profitieren können. Begüterte
Familien vererben praktisch die Bildungschancen, die
für einen höheren sozialen Status entscheidend sind, an
die nächste Generation. Wir brauchen aber Einnahmen,
um etwas für Kinder und Jugendliche aus bildungsarmen
Schichten zu tun. Das Ganze hat schließlich einen mate-
riellen Hintergrund.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wollen mehr Ganztagsbetreuung und mehr
Bildungsinvestitionen. Deshalb brauchen die Bundeslän-
der – die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer – Einnah-
men, um Bildungsinvestitionen tätigen zu können. Wir
können auf der Bundesebene nur an die Bundesländer
appellieren: Kommt auch ihr eurer Verantwortung nach
und sorgt dafür, dass die Einnahmen aus der Erbschaft-
steuer für Bildungsinvestitionen in die Zukunft unserer
Kinder verwendet werden und nicht zum Beispiel für
den Straßenbau!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dann verstehen die Menschen auch, warum es diese
Steuer gibt und dass die Einnahmen daraus einen Beitrag
zur Umverteilung des Vermögens zwischen den Genera-
tionen leisten kann. Das ist der Kern der Überlegungen.

In einem weiteren Schritt müssen wir darüber nach-
denken, wie wir die Erbschaftsteuer nach den Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts so ausgestalten können,
dass es gesellschaftspolitisch stimmig ist. Herr Finanz-
minister, die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts erzwingt eine gleichmäßige Besteuerung aller
Vermögensarten. Gleichzeitig müssen aber die Bewer-
tungsregeln geändert werden. In der letzten Woche gab
es erste Vorschläge, wie die Bewertungsregeln in ver-
schiedene Rechtsverordnungen überführt werden kön-
nen und wie sie ausgestaltet werden sollen. Ich kann für
unsere Fraktion nur sagen: Weil das Parlament zu ent-
scheiden hat, ist es zwingend, dass wenigstens die we-
sentlichen Eckwerte dieses Verfahrens für die Ermittlung
der Verkehrswerte von Betrieben und Immobilien im
Gesetz geregelt werden und nicht lediglich in einer
Rechtsverordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel
Wir als Parlament wollen darüber entscheiden. Wir wol-
len die Regelung der Eckwerte für die Ermittlung nicht
der Exekutive überlassen. Auch das muss ich an dieser
Stelle ganz klar sagen. Ich habe da ein anderes Parla-
mentsverständnis als anscheinend viele in der Großen
Koalition.

Unsere Kritik richtet sich auch dagegen, dass Sie von
einem sehr antiquierten Gesellschaftsbild ausgehen.
Das hehre Bild intakter Familienverhältnisse wird in
dem Gesetzentwurf festgeschrieben. Die Freibeträge und
die drei Steuerklassen sind nach dem Verwandtschafts-
grad geordnet. Begünstigt werden nahe Verwandte
– Kollegen haben bereits darauf hingewiesen –, alle an-
deren werden sehr hoch belastet. Das passt nicht in die
heutige Zeit. Wir haben Wahlverwandtschaften, die stän-
dig zunehmen, wir haben Patchworkfamilien, in denen
die Menschen zusammenhalten, wir haben einen demo-
grafischen Wandel in dieser Gesellschaft, und wir haben
ein stetig steigendes durchschnittliches Lebensalter, was
dazu führt, dass das solidarische Helfen im Alter einen
immer größeren Stellenwert bekommt. Wenn man diese
Fakten zugrunde legt, dann stellt man fest, dass dieser
Gesetzentwurf auf eine solche Lebensrealität überhaupt
nicht reagiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es reicht nicht, wenn man die geplante Erbrechts-
reform ein bisschen daran anpasst, aber die Erbschaft-
steuerreform diese Realität außen vor lässt. Deswegen
brauchen wir eine Zusammenführung der Überlegungen
zur Erbrechtsreform und zur Erbschaftsteuerreform, da-
mit die beiden zusammenpassen. Alles andere ergibt kei-
nen Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht einzusehen, dass Menschen, die im hohen
Alter nicht verheiratet zusammenleben, derartig stark
durch diesen Regierungsvorschlag belastet werden. Es
ist doch oft so, dass hochbetagte Geschwister, von denen
einer bzw. eine noch fit ist und die in einem gemeinsa-
men Haushalt leben, den Bruder bzw. die Schwester
pflegen können. Die werden durch diese Erbschaftsteu-
erreform gegenüber der heutigen Gesetzgebung enorm
benachteiligt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Das kann es nicht sein.

Vielmehr müssen wir uns überlegen, ob Ihr Vorschlag
mit den Steuerklassen, die Sie vorgelegt haben, richtig
ist. Wir sagen: Nein. Wir müssen uns überlegen, ob so
viele Steuerklassen überhaupt Sinn machen oder ob es
besser ist, diese Steuerklassen auf eine oder zwei zu re-
duzieren und zum Ausgleich der Verwandtschaftsver-
hältnisse Freibeträge einzuführen. Letzteres wäre eine
moderne Herangehensweise, mit der man auch die wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit bzw. die Größe des Ver-
mögens berücksichtigen könnte. Es sollte also nicht nur
der Verwandtschaftsgrad entscheidend sein, sondern
auch die Art und Weise des Zusammenlebens in dieser
Gesellschaft und die Verantwortung, die im Einzelnen
für die jeweiligen Personen übernommen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt, den wir kritisieren, ist, dass Verer-
ben und Schenken hochkompliziert werden. Das wird
eine Spielwiese – das garantiere ich Ihnen – für Berater
und Beraterinnen. Das betrifft vor allen Dingen Be-
triebsinhaber und Betriebsinhaberinnen, die ihren Be-
trieb einem Nachfolger übergeben. Es stehen Zehntau-
sende von Betriebsübergaben an.

Ich glaube, dass es keinen Sinn ergibt, jahrelang zu
warten, bis die Verschonungsregelung greift. Das zu-
ständige Finanzamt muss nämlich die Betriebsfortfüh-
rung über 15 Jahre überwachen – das muss man sich ein-
mal überlegen –, bei land- und forstwirtschaftlichen
Betrieben sind es sogar 20 Jahre. Wir hingegen sagen
– übrigens genauso wie der Bundesrat –, dass diese Ver-
schonungsregelung einen zu langen Zeitraum umfasst und
zu bürokratisch ist. Wir brauchen kein Arbeitsbeschaf-
fungsprogramm für Finanzbehörden und explodierende
Bürokratiekosten für Finanzämter und Unternehmen. Wir
haben von einem Bürokratiemonster gesprochen. Es
werden auch viele Streitigkeiten entstehen.


(Florian Pronold [SPD]: Was bleibt jetzt von deiner Erbschaftsteuer übrig?)


Ich habe kein Interesse daran, dass hier Gesetze verab-
schiedet werden, die die Finanzgerichte lahmlegen. Wir
sollten vielmehr alles dafür tun, damit im Gesetz Klar-
heit, Transparenz und eine einfache Anwendung geregelt
werden. Wir dürfen das nicht erneut der Rechtsprechung
zur Nachjustierung überlassen.

In dem Sinne hoffe ich, dass wir im laufenden Verfah-
ren in den Ausschüssen einen Schritt weiterkommen.

Ich bin gespannt darauf, wie die Diskussionen vonsei-
ten der Koalition geführt werden. Anscheinend ist man
sich in vielen Punkten überhaupt noch nicht einig. Wir
werden jedenfalls unseren Beitrag leisten und Vor-
schläge zu dem Gesetzentwurf einbringen, um zu einem
fairen Ausgleich zwischen den Generationen zu kom-
men, damit unser Land für die Zukunft vernünftig aufge-
stellt ist.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614304500

Das Wort hat nun Florian Pronold für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1614304600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Debatte über die Erbschaftsteuer erinnert
mich ein bisschen an die Debatte über die Abgeltung-
steuer. Die Banken haben jahrelang die Einführung der
Abgeltungsteuer gefordert, um zu verhindern, dass das
Kapital ins Ausland flüchtet. Dann hat man die Abgel-
tungsteuer nach langen politischen Debatten eingeführt


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber wie!)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
mit dem Ergebnis, dass den Bürgerinnen und Bürgern
pro Jahr 1,7 Milliarden Euro Steuern geschenkt werden.


(Ortwin Runde [SPD]: Ein Skandal!)


Das trifft überwiegend diejenigen, die bisher stark belas-
tet sind. Bei denjenigen, die nicht so stark belastet sind,
ändert sich im Prinzip nichts; Stichworte „Steuerfrei-
betrag“ und „Nachveranlagung mit dem persönlichen
Steuersatz“.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Für wen spricht er gerade?)


Anstatt die Banken nun die Einführung der Abgel-
tungsteuer gelobt hätten, machen sie nun in jedem
Schaufenster und in vielen Werbebriefen darauf auf-
merksam, dass man von der Abgeltungsteuer bedroht
wird und dringend zur Bank gehen sollte, um sich bera-
ten zu lassen. Damit wird das, was wir mit der Einfüh-
rung der Abgeltungsteuer erreichen wollten, sozusagen
auf den Kopf gestellt. Die Banken führen die Beratungs-
gespräche nur aus Eigeninteresse; denn sie müssen nicht
vor der Abgeltungsteuer warnen. Sie wollen in diesen
Gesprächen mit den Leuten Geschäfte machen.

Ähnlich läuft es jetzt bei der Erbschaftsteuerreform.
Aus der Wirtschaft kamen Forderungen nach einem Ab-
schmelzmodell. Über zehn Jahre soll abgeschmolzen
werden. Das bedeutet aber – egal wie die Regelungen
sind –, dass die Fortführung des Betriebes zehn Jahre
lang überprüft und an bestimmte Kriterien gebunden
werden muss. Die öffentliche Verwaltung muss das zehn
Jahre lang überprüfen; das bezieht sich auf das alte Mo-
dell. Zur Frage, wie sich das auf die Banken auswirkt, ist
anzumerken: Wenn man die Kriterien des Abschmelz-
modells nicht einhält, dann muss man später Steuern
nachzahlen, und die Banken werden selbstverständlich
in ihrem Rating die Kreditwürdigkeit bewerten. Wie ge-
sagt, die Forderung nach diesem Modell kam aus der
Wirtschaft, das hat sich nicht die Politik ausgedacht.

Jetzt beginnt die Rosinenpickerei. Man will nur die
Rosinen, aber nichts vom Rest des Kuchens. Aber einen
Kuchen, der nur aus Rosinen besteht, gibt es nicht.


(Ute Kumpf [SPD]: Der schmeckt auch gar nicht!)


Die öffentliche Debatte wird genauso geführt. Man will
nur die Rosinen herauspicken. So macht man den Men-
schen Angst, obwohl es dafür überhaupt keine Grund-
lage gibt.

Wir als Sozialdemokraten hätten sehr gerne mehr
Erbschaftsteuer eingenommen. Wir finden, nur 2 Pro-
zent des gesamten zu vererbenden Vermögens in mehr
Forschung, mehr Bildung, mehr Kinderbetreuung zu in-
vestieren, ist zu wenig. Aber wir haben einen Koalitions-
partner, der zwar auch die Kinderarmut bekämpfen will,
aber offensichtlich nicht über die Erbschaftsteuereinnah-
men. Wir mussten uns einigen und haben einen Betrag
von 4 Milliarden Euro errechnet.

Es gibt in diesem Zusammenhang allerdings eine
spannende Differenz. Die Linkspartei meint, das Erb-
schaftsteueraufkommen wird viel geringer sein als
4 Milliarden Euro. Die FDP sagt, es wird viel höher sein.
Das ist ein spannendes Thema, das müssen wir uns ge-
nauer anschauen. Aus meiner Sicht könnten dann auch
bestimmte Ängste beseitigt werden. Bisher liegt das Erb-
schaftsteueraufkommen bei 4 Milliarden Euro. Herr
Thiele, für dieses Jahr sind übrigens 4,2 Milliarden Euro
prognostiziert. Man kann nicht so rechnen und sagen:
Der Durchschnitt der letzten zehn Jahre liegt bei
3,2 Milliarden Euro, jetzt werden es 4 Milliarden Euro
sein, das ist dann eine Steuererhöhung um 800 000 Euro.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es waren zweimal über vier!)


Was Sie hier verbreiten, ist wahnwitziger Unsinn.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – CarlLudwig Thiele [FDP]: Nein!)


Wir haben für das nächste Jahr 4,2 Milliarden Euro ein-
geplant. Wenn man sich jetzt 4 Milliarden Euro als Ziel
setzt, ist das mit Sicherheit keine Mehreinnahme.


(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Haben Sie schon mal gehört, dass eine Schätzung gestimmt hat?)


– Eine Schätzung von der FDP hat noch nie gestimmt;
da bin ich mir relativ sicher.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben bisher Einnahmen von 300 Millionen Euro
aus Betriebsvermögen. Das wird nicht mehr. Wir haben
bisher 20 Millionen Euro aus dem Bereich Landwirt-
schaft. Auch das wird nicht mehr.

Jetzt bin ich überrascht, wie anhand dieser Zahlen sol-
che Horrorszenarien und Untergangsszenarien an die
Wand gemalt werden können. Die sind schlichtweg
falsch.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wer sagt das denn? Wieso das denn?)


– Wir können gern in die Bereiche gehen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Gern!)


– Gern.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir als Parlament haben die nie gesehen! Wir haben nie eine Berechnung vorgelegt bekommen! Das können Sie mal machen! Wir sollen es glauben!)


Gehen wir zu der Frage über, über die jetzt öffentlich
mit Spannung diskutiert wird: Wie lang sollen die Halte-
fristen sein? Über diese Frage kann man durchaus re-
den. Wir haben auch in der Koch/Steinbrück-Arbeits-
gruppe ausführlich über diese Frage gesprochen. Peer
Steinbrück hat dargelegt, warum wir von einem reinen
Abschmelzmodell zu einem pauschalierten Ansatz ge-
kommen sind. Wenn ich das in Erinnerung rufen darf:
Der erste Vorschlag war übrigens, 30 Prozent pauschal
zu besteuern.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das wäre fatal gewesen, Herr Pronold!)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
– Deshalb hat die Union auch darauf gedrängt, dass das
niedriger wird.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Mit Recht!)


– Ja. – Weil die Union die verfassungsrechtlichen Pro-
bleme hinsichtlich der Gleichbehandlung sehr wohl
sieht, hat sie aber zugestanden, dass man im Gegenzug
die Haltefristen verlängern und auch die Frage der ver-
mögensverwaltenden Gesellschaften beantworten muss.
Diese beiden Parameter, die im Entwurf zunächst anders
waren, sind verschärft worden, um dem Gleichbehand-
lungsgrundsatz der Verfassung und dem Aufkommens-
aspekt Rechnung zu tragen.

Natürlich kann man über die Frist von 15 Jahren dis-
kutieren. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Aber
man muss wissen, dass dann an anderer Stelle Änderun-
gen erforderlich werden, erstens um das Aufkommen si-
cherzustellen und zweitens um die Verfassungsgemäß-
heit hinsichtlich der Behandlung der unterschiedlichen
Vermögensarten sicherzustellen.

Jetzt darf ich denjenigen in der Union und anderswo,
die immer Zweifel an der Regelung haben, einmal etwas
vorlesen. Günter Weber, Herausgeber des Steuertip
– kein Freund der Erbschaftsteuer –, schreibt:

Kaum zu glauben aber, dass ausgerechnet aus Krei-
sen der CDU und vor allem der CSU verlangt wird,
dass die 15-Jahre-Haltefrist auf 10 Jahre gesenkt
werden soll. Spielt doch jede Verkürzung den Play-
boys der jungen Generation in die Karten, die mög-
lichst schnell das in jahrzehntelanger Arbeit von
den Eltern Aufgebaute auf Ibiza, den Seychellen
oder in Spielerparadiesen verjuxen wollen.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Das habe nicht ich gesagt.

Ich darf daran erinnern, wie die Debatte war. Es ging
darum, dass wir etwas für Familienunternehmen tun
wollen, die das Vermögen an die nächste Generation
übergeben wollen, bei denen das Vermögen nicht aus
dem Betrieb genommen werden soll, um es zu verjuxen.


(Beifall bei der SPD)


Was diese Frist von 15 Jahren angeht, so sehen wir
– das ist vielleicht noch nicht bekannt – eine Reinvesti-
tionsklausel vor. Es geht dabei nicht um die Fälle, in de-
nen der Betrieb aufgelöst werden soll, sondern um die, in
denen er umstrukturiert werden soll, wobei vielleicht ein
Teil zu verkaufen ist. Wenn das Geld im Betrieb bleibt,
ist das nach der jetzt vorgesehenen Regelung alles kein
Problem. Aber wenn das Geld entnommen wird, das zu-
vor zu 85 Prozent verschont worden ist, dann müssen
Steuern gezahlt werden, und nur darum geht es. Das ist
keine Behinderung wirtschaftlicher Aktivitäten, sondern
das trägt genau dem Grundsatz Rechnung, mit dem wir
angetreten sind,


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist Mittelstandsförderung!)

nämlich die Familienunternehmen zu stärken. Das muss
man einfach einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Keine Ahnung hat der Mann!)


– Herr Michelbach, entschuldigen Sie! Lesen Sie halt
den Gesetzentwurf, und reden Sie mit den Kollegen, die
in der Koch/Steinbrück-Arbeitsgruppe dabei waren!


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Vielleicht können wir mal im Parlament reden!)


Wir haben uns das alles wirklich im Detail angeschaut.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist ja eine Käseglocke! Das ist doch keine Transparenz!)


Wir haben eine gemeinsame Zielsetzung, nämlich die
Betriebsfortführung, und zwar wegen des Erhalts der Ar-
beitsplätze und wegen der Gemeinwohlverpflichtung.
Deswegen soll das begünstigt werden, deshalb die
85 Prozent. Das ist ein ordentliches Steuergeschenk;
aber es gibt dieses Steuergeschenk nur, wenn im Gegen-
zug dazu auch eine Gemeinwohlorientierung vorhanden
ist.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das war doch eine reine Verwaltungskäseglocke!)


Darüber werden wir nicht mit uns reden lassen: Darüber
können wir auch gar nicht mehr mit uns reden lassen,
weil wir ansonsten Gefahr laufen, dass diese Regelung
als verfassungswidrig eingestuft wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ansonsten stellt ja derjenige, der privat erbt, mit Recht
die Frage, warum er mehr Erbschaftsteuer zahlen soll als
andere.

Lassen Sie mich auch noch etwas zu einem Punkt sa-
gen, über den wir in diesem Hause schon diskutiert ha-
ben, der aber heute noch gar nicht zur Sprache gekom-
men ist, obwohl sich damals fast alle einig waren. Kurz
vor dem Christopher Street Day haben wir darüber ge-
sprochen, dass wir Menschen, die Verantwortung für-
einander übernehmen, zum Beispiel in Lebenspartner-
schaften, besserstellen wollen. Wir waren uns einig, dass
die bisherigen Regelungen zur Erbschaftsteuer nicht ge-
recht sind. In diesem Gesetzentwurf haben wir dieses
Vorhaben nun umgesetzt. Wir geben Menschen in Le-
benspartnerschaften dieselben Freibeträge wie Eheleu-
ten. Dabei handelt es sich um 500 000 Euro, wobei der
durchschnittliche Wert von Einfamilienhäusern, die in
Deutschland vererbt werden, bei 160 000 Euro liegt.
Meistens geht es dann auch nur um den halben Wert ei-
nes Hauses, weil es gemeinsam angeschafft wurde. Hier
reichen 500 000 Euro also locker aus.

Nun haben wir in diesem Gesetz also für eine Gleich-
stellung von Menschen in Lebenspartnerschaften und
Eheleuten gesorgt. Aber was passiert? In dieser Debatte
werden wieder neue Haare in der Suppe gesucht. Mir
kommt es manchmal so vor, als ob sich Leute, die beim
Friseur waren, einige der abgeschnittenen Haare einste-
cken und sie dann in die Suppe werfen, um noch etwas






(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
zu finden. Dabei haben wir für die Lebenspartnerschaf-
ten wirklich etwas Gutes und Richtiges umgesetzt.

Nun zur Frage der nahen Angehörigen: Die durch-
schnittliche Steigerung des Wertes von Grundstücken
aufgrund des neuen Wertermittlungsverfahrens wird bei
etwa 40 Prozent liegen. Zugleich haben wir die Freibe-
träge für die nahen Angehörigen praktisch verdoppelt.
Aber wenn wir insgesamt 4 Milliarden Euro an Erb-
schaftsteuer einnehmen wollen – das sieht die Vereinba-
rung ja vor –, dann muss es auch irgendjemanden geben,
der für dieses Aufkommen sorgt. Da beißt doch die
Maus keinen Faden ab. Deswegen haben wir die Ent-
scheidung getroffen, entferntere Verwandte und Nicht-
verwandte mit höheren Steuern zu belegen.

Das ist eine politische Entscheidung. Natürlich kann
man diese wieder revidieren. Aber wenn man sie revi-
diert, dann heißt das, dass die Begünstigung für Fami-
lienmitglieder geringer ausfallen müsste. Das kann man
alles machen. Darüber kann man diskutieren. Ich bitte
aber, immer ehrlich die beiden Seiten ein und derselben
Medaille zu benennen und nicht immer so zu tun, als
wäre die Welt erst dann in Ordnung, wenn man jede
Menge Änderungen vorgenommen hat. Das mag sein.
Aber dann, wenn wir all diese Änderungen berücksichti-
gen, rutschen wahrscheinlich die Einnahmen aus der
Erbschaftsteuer ins Minus und wir müssten am Ende
noch etwas auszahlen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiteres Beispiel, Frau Kollegin Scheel. Für die
Landwirtschaft haben wir folgendes Modell gefunden:
Wir übernehmen die langen Haltezeiten aus dem Zivil-
recht, und zwar aus dem Grund, weil wir ganz bewusst
festgeschrieben haben, dass die Bewertung einer Land-
wirtschaft auf Basis der Ertragswerte vorgenommen
wird. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinem
Beschluss ziemlich eindeutig gesagt, das sei eigentlich
vom Grundsatz her nicht möglich. Wir machen das aber
trotzdem, weil es bei landwirtschaftlichen Betrieben
häufig geringe Ertragswerte und hohe Substanzwerte
gibt. Für weichende Hoferben gilt nun folgende Rege-
lung: Wenn die Landwirtschaft fortgeführt wird, ist alles
in Ordnung. Sobald aber innerhalb der Haltefrist von
20 Jahren Anteile verkauft werden, müssen die weichen-
den Hoferben beteiligt werden, und dementsprechend er-
zielt der Staat dann auch entsprechende Erbschaftsteuer.
Das ist ein wirklich gutes Modell.

Ich will hier nicht verschweigen, dass mir ein hoher
Funktionär des Deutschen Bauernverbandes einen Ge-
denkstein für mein Engagement bei dieser Regelung ver-
sprochen hat.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch peinlich! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Direkt hier einen Gedenkstein aufstellen!)


– Ja, damit hätte ich nicht gerechnet.

Ich möchte nun aber alle ermahnen, nicht das, was er-
reicht worden ist, infrage zu stellen, indem man auf ein-
mal andere Probleme, die eigentlich gar nicht vorhanden
sind, aufbläst. Ich halte die gefundene Regelung für rich-
tig. Unser Interesse muss es doch sein, dass die Land-
wirtschaft fortgeführt wird. Es gibt ja einen deutlichen
Unterschied zwischen einer Villa am Starnberger See
und einem Betrieb bzw. einer Landwirtschaft. Denn bei
Letzterem geht es um Arbeitsplätze und um gemein-
wohlverpflichtende Elemente. Das ist die einzige Be-
gründung, warum wir diese Ausnahme machen können.

Der Grundsatz ist: Erbschaftsteuer müssen alle zah-
len. Wenn man nachlassen will, dann muss man das be-
gründen. – Das haben wir für die Landwirtschaft und
auch für das Betriebsvermögen gut geregelt. Trotzdem
haben wir jetzt im Wege der Verordnungen ein Bewer-
tungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit werden die
Verfassungsvorgaben erfüllt, und wir werden zukünftig
– vielleicht mit anderen politischen Mehrheiten – die
Möglichkeit haben, die Erbschaftsteuer so zu erheben,
dass man sie besser zur Bekämpfung von Bildungs- und
Kinderarmut einsetzen kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614304700

Das Wort hat nun Volker Wissing, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1614304800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Zunächst, Herr Pronold: Ich gönne Ihnen jeden Ge-
denkstein, und für den Fall, dass Sie Deutschland von Ih-
ren schrecklichen Steuergesetzen verschonen, sage ich
Ihnen zu, dass Sie von der FDP noch einen Gedenkstein
dazubekommen.


(Beifall bei der FDP)


Die Bundeskanzlerin kündigt an, mehr Freiheit wagen
zu wollen. Was Sie uns hier vorlegen, ist ein Vorschlag,
nach dem Unternehmer nach Betriebsübergang für
15 Jahre unter die Staatsaufsicht der Finanzbehörden
gestellt werden. Wir haben heute Morgen über die IKB
gesprochen und darüber, dass es nicht sinnvoll ist, wenn
sich der Staat an Geschäften beteiligt, die die Privaten
besser erledigen können. Wir haben gehört, dass da
6 Milliarden Euro in den Sand gesetzt worden sind. Ich
dachte eigentlich, dass man daraus etwas lernt. Aber das
hält bei Ihnen ja keine Stunde an. Sie schlagen jetzt vor,
dass staatliche Beamte die Personalpolitik von privaten
Unternehmern für 15 Jahre wesentlich mitgestalten. Das
kann nicht funktionieren. Das ist eine Zumutung für den
deutschen Mittelstand, und das wird dazu führen, dass
Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen, weil die
Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes in Deutschland
durch Ihr Gesetz zurückgeht.


(Beifall bei der FDP)


Wenn Arbeitsplätze gefährdet sind, dann ist das auch
eine Gefahr und ein Risiko für den Bundeshaushalt.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Volker Wissing
Weil Sie über die Landwirtschaft gesprochen haben,
Herr Pronold: Es ist in Deutschland in vielen landwirt-
schaftlichen Bereichen sehr schwer, Betriebsnachfolger
zu finden. Wir reden viel über Kulturlandschaftspflege
und darüber, wie wichtig es ist, dass solche Betriebe
übernommen werden. Deswegen sollten Sie Hürden ab-
bauen und nicht aufbauen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


15 Jahre Staatsaufsicht für landwirtschaftliche Betriebe
bedeuten eine neue Hürde.


(Beifall bei der FDP)


Deswegen ist der Landwirtschaft mit Ihrem Gesetz nicht
geholfen. Vielmehr schwächen Sie den landwirtschaftli-
chen Sektor in Deutschland mit Ihren Vorschlägen.

Das ist nicht das einzige Problem dieses Erbschaft-
steuergesetzentwurfes. Sie reden von Sozialbindung des
Eigentums. Aber dann müssen Sie sich auch einmal die
Frage stellen, was Sie da eigentlich besteuern. Sie be-
steuern Vorsorge der Menschen, Vorsorge fürs Alter, für
Notsituationen, für Enkel.


(Florian Pronold [SPD]: Ist Ihnen bekannt, dass die Erblasser nie die Erbschaftsteuer zahlen?)


Sie stellen die Gerechtigkeitsfrage; aber im Grunde ge-
nommen behandeln Sie die Menschen ungleich. Wer
konsumiert und nichts auf die hohe Kante legt, zahlt
keine Steuer, und derjenige, der anspart, wird von Ihnen
zur Kasse gebeten.


(Florian Pronold [SPD]: Wenn er stirbt, muss er keine Steuer zahlen!)


Das ist schon ein merkwürdiges Verständnis von Politik.

Sie haben es nicht geschafft, heute ein tragfähiges
Konzept vorzulegen. Was Sie uns präsentieren, ist sehr
unausgegoren und auch verfassungsrechtlich äußerst
problematisch. Sie kennen sicherlich das Gutachten von
Herrn Professor Crezelius. Er sagt, die vorliegende Re-
form der Erbschaftsteuer führe zu einer grundgesetzwid-
rigen Mehrfachbesteuerung; die Doppelbelastung werde
durch die massive Erhöhung der Grund- und Unterneh-
menswerte enorm gesteigert. Das ist ein Gutachten für
die Familienunternehmer. Dazu haben Sie heute nichts
gesagt. Aber Sie nehmen es mit der Verfassungsgemäß-
heit des Steuerrechts seit der Pendlerpauschale ja ohne-
hin nicht mehr so genau.

Wenn wir über Verfassungsfragen reden, dann müs-
sen wir auch über die Frage des Wesentlichkeitsprin-
zips reden. Es kann doch nicht sein, dass die Kernfrage
dieser Erbschaftsteuerreform, nämlich die Bewertungs-
frage, in einer Rechtsverordnung geregelt wird. Das
macht keinen Sinn. Deswegen ist das, was uns der
Finanzminister heute vorgelegt hat, äußerst dürftig.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Wir können festhalten: Sie sind nicht in der Lage, hier
ein vernünftiges Konzept auf den Tisch zu legen. Herr
Meister, es ist gut, dass Sie fragen, welche Vorschläge
die FDP macht. Ich finde es richtig, dass Sie auf unsere
Konzepte in der Steuer- und Finanzpolitik schauen. Da
können Sie viel lernen. Wenn Sie die Erbschaftsteuer
wirklich reformieren wollen, ist es an Ihnen, ein Konzept
vorzulegen, das die deutschen Unternehmer in ihrer
Wettbewerbsfähigkeit stärkt und nicht schwächt. Des-
wegen ist das, was Sie uns bieten, wirklich nicht ausrei-
chend.


(Beifall bei der FDP)


Zu der internationalen Wettbewerbsfähigkeit haben
Sie überhaupt kein Wort gesagt. Aber das ist doch die
entscheidende Frage. Wir beobachten – der Kollege
Thiele hat es schon angesprochen –, dass sich andere
Länder überlegen, wie sie ihr Steueraufkommen sichern
können. Dabei kommen sie vielfach zu dem Ergebnis,
dass sie die Erbschaftsteuer nicht brauchen. Hier wurde
gesagt, dass die Bundesländer diese Steuer brauchen, um
in Bildung zu investieren. Dazu sage ich Ihnen: Die Län-
der sind für ihre Haushalte selbst verantwortlich. Es ist
nicht Sache des Deutschen Bundestages, Länderhaus-
halte aufzustellen, Frau Kollegin Scheel. Das liegt in der
ureigenen Verantwortung der Bundesländer.


(Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das sieht der Finanzminister in Niedersachsen genauso!)


Wenn das Erbschaftsteueraufkommen den Bundeslän-
dern zufließen soll, dann sollen sie darüber entscheiden,
ob und wie sie die Erbschaftsteuer erheben. Wir haben
dazu Vorschläge in der Föderalismuskommission ge-
macht. Die Verantwortung soll dort getragen werden, wo
sie getragen werden muss. Deswegen schlage ich Ihnen
vor, dass Sie Ihren Gesetzentwurf zurückziehen und die
Vorschläge, die wir in der Föderalismuskommission ge-
macht haben, übernehmen. In unseren Vorschlägen wird
die Verantwortung dort angesiedelt, wo sie zu tragen ist.
Wenn den Ländern das Aufkommen zufließt, dann sollen
sie auch über die Erhebung der Erbschaftsteuer entschei-
den. Wenn Sie nicht in der Lage sind, dazu einen tragba-
ren Vorschlag zu machen, dann sollten Sie sich unserem
Vorschlag anschließen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614304900

Nun erteile ich Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/

CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1614305000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Große Koalition hat sich zu Beginn zum
Ziel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu
verbessern. Dies ist im unternehmenspolitischen Bereich
durch die Unternehmensteuerreform geschehen. Ich
denke, wir nehmen da zwischenzeitlich einen guten Mit-
telplatz unter den Industrienationen ein.

Wir haben uns aber auch vorgenommen, die Unter-
nehmensnachfolge zu erleichtern und zu verbessern. Es
geht darum, dass der Unternehmensübergang so gestaltet
wird, dass die Betriebe fortbestehen können und dass zu






(A) (C)



(B) (D)


Bartholomäus Kalb
Investitionen ermutigt wird. Die Betriebe sollen im Rah-
men eines Generationenwechsels neu ausgerichtet und
für die Zukunft fit gemacht werden können. Wir müssen
dafür sorgen, dass ihnen keine Substanz entzogen wird.
Es geht auch darum, die persönliche Verantwortung zu
stärken und nicht zu schmälern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Letztlich geht es gerade im mittelständischen Bereich
darum, dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze erhalten und
zukunftsfähig gemacht werden.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Genau das ist es!)


Daher hätte ich mir sogar gewünscht, dass wir diese Re-
gelung zur Unternehmensteuerreform zeitnäher hätten
umsetzen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Pronold, bei aller Freundschaft: Neid ist
hier ein schlechter Ratgeber.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die steuerliche Belastung bei Privatentnahmen wird von
der Erbschaftsteuer jedenfalls nicht berührt. Auch wir
wollen keine Playboys begünstigen; sie werden auch
nicht begünstigt. Das ist meine Entgegnung auf Ihren
Einwand.

Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist schwierig
genug. Das Bundesverfassungsgericht hat uns, wie
schon vorgetragen wurde, aufgegeben, das Erbschaft-
steuerrecht insgesamt neu zu regeln. Dies hat auch er-
hebliche Auswirkungen auf den Umgang mit dem Erbe.
In Deutschland ist es eine gute Tradition, dass wir mit
dem Erbe sorgsam und verantwortungsbewusst umge-
hen. Das gilt für das geistige, für das kulturelle und na-
türlich auch für das materielle Erbe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem Erbe sorgsam und verantwortungsbewusst
umzugehen, ist ganz entscheidend für die Stabilität einer
Gesellschaft. Es geht uns darum, dafür zu sorgen, dass
der generationenübergreifende Verantwortungsver-
bund gestärkt und nicht geschwächt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Kollege Meister hat es gesagt: Wir haben eine äußerst
schwierige Aufgabe zu erfüllen. Wir haben die Aufgabe,
das Recht neu zu gestalten. Wir ernten mit Sicherheit
Kritik, wir beziehen die Prügel – und die Länder das
Geld. Das macht es für uns nicht ganz einfach. Ich habe
deswegen Verständnis für viele Kolleginnen und Kolle-
gen, die fragen: Warum beschränkt sich der Bund nicht
auf eine Rahmengesetzgebung und überlässt dann die
Ausführungen den Bundesländern?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich weiß wohl, dass die Länder diese Aufgabe nicht so
gerne erfüllen, weil natürlich auch sie die Schwierigkei-
ten sehen. Aber natürlich weisen die Kolleginnen und
Kollegen zu Recht darauf hin, dass die Verhältnisse in
Frankfurt, Stuttgart, München und Hamburg anders sind
als etwa in Rostock oder bei uns in Deggendorf, in Hof,
Chemnitz oder weiß Gott wo.

Wir werden und wir müssen die parlamentarische Be-
ratung mit großer Intensität und Sorgfalt führen. Die Ar-
beitsgruppe Koch/Steinbrück hat zweifellos eine wich-
tige Vorarbeit geleistet und schon viele Probleme dem
Grunde nach beseitigt. Aber ich weise darauf hin: Das
parlamentarische Verfahren beginnt erst jetzt. Wir ha-
ben die Aufgabe, dieses Verfahren entsprechend zu ge-
stalten. Wir werden uns die Beschlüsse des Bundesrates,
der zeitgleich tagt, ganz genau ansehen und in die Bera-
tungen mit einbeziehen. Am 5. März, Herr Vorsitzender
des Finanzausschusses, wird eine Anhörung dazu statt-
finden.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! – CarlLudwig Thiele [FDP]: Wann? Das ist noch nicht beschlossen!)


– Dies soll auf Vorschlag der Koalitionsarbeitsgruppe so
beschlossen werden, Herr Kollege Thiele. – Wir werden
die Ergebnisse der Anhörung natürlich ganz intensiv be-
raten und in die Arbeit mit einfließen lassen.

Gerade wir von der CSU-Landesgruppe, lieber
Dr. Peter Ramsauer, sehen noch erheblichen Beratungs-
bedarf in wesentlichen Punkten, die zum Teil schon
vom Kollegen Meister angesprochen worden sind, bei-
spielsweise bei der Abschmelzregelung, der Behaltefrist
und der Verschonungsregelung, dem Verhältnis von Be-
triebsvermögen und Verwaltungsvermögen insbesondere
mit Blick auf die Landwirtschaft, aber auch auf den Be-
reich der Immobilien. Bei der Landwirtschaft ist in be-
sonderer Weise zu erwähnen, dass die Rückwirkung auf
die Agrarstruktur von ganz entscheidender Bedeutung
ist. Das muss natürlich in besonderer Weise beachtet
werden.

Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, den wir uns
intensiver anschauen werden – dies ist schon im Laufe
der Debatte angesprochen worden –: Es geht um die
Frage, wie wir mit den weiteren Verwandten – dies be-
trifft die Steuerklasse II –, also mit Geschwistern, Nich-
ten, Neffen usw., umzugehen haben. Das werden wir uns
genau ansehen müssen. Natürlich werden wir uns, bevor
wir zu einem Abschluss kommen – so ist es besprochen
worden –, die Bewertungsverordnung vornehmen müs-
sen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es darf auch ein Gesetz sein!)


Wir werden beachten müssen, wie das alles wirkt.

Nur dann, wenn wir dies alles tun, werden wir zu
einem guten Ergebnis kommen können. Das heißt, uns
stehen die Bewältigung schwieriger Aufgaben und inten-
sive Beratungen bevor. Wir sind für Hinweise jedweder
Art, die uns die Chance eröffnen, die Dinge zu verbes-
sern, sehr dankbar.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614305100

Nun hat Axel Troost für die Fraktion Die Linke das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614305200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute scheint ein besonderer Tag zu sein. Während uns
sonst immer nur Gesetzentwürfe vorgelegt werden,
durch die Unternehmen und Reiche entlastet werden sol-
len, besteht diesmal scheinbare Aufkommensneutrali-
tät. Aber wenn man sich das genau anschaut, dann stellt
man fest, dass diese Aufkommensneutralität nur vor dem
Hintergrund zustande gekommen ist, dass wir deutlich
höhere Erbschaften und eine Andersbewertung von Im-
mobilien zu verzeichnen haben. Das heißt nichts ande-
res, als dass es wieder zu einer Steuersenkung kommt,
weil das eigentlich zu besteuernde Volumen viel größer
geworden ist.

Wenn wir uns aber die Prozesse in den letzten zehn
Jahren anschauen, dann ist viel entscheidender: 1998,
genau vor zehn Jahren, sind SPD und Grüne in den Bun-
destagswahlkampf gezogen und haben gesagt: Wir sind
für die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Sie haben
die Wahl gewonnen; sie haben eine Koalitionsvereinba-
rung getroffen, in der von der Wiedereinführung der Ver-
mögensteuer die Rede war.

1999 hat der Basta-Kanzler Schröder auf dem Partei-
tag der SPD gesagt: Mit mir ist eine Vermögensteuer
nicht machbar; aber bei der Erbschaftsteuer werden wir
richtig zulangen; da werden wir Reformen machen; da
werden wir Chancengleichheit hinbekommen. Seitdem
aber ist nichts passiert, weder unter Rot-Grün noch wäh-
rend der Großen Koalition. Jetzt wird uns ein Entwurf
vorgelegt, der im Ergebnis aufkommensneutral ist: keine
Vermögensteuer und reduzierter Erbschaftsteuersatz.
Dazu sagen wir: Das ist mit uns Linken nicht machbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sagen nach wie vor: Wir brauchen dringend das
Steuermehraufkommen aus Vermögensteuer und Erb-
schaftsteuer, das den Länder zufließt. Wir brauchen die-
ses Mehraufkommen für die Finanzierung von Bildung,
aber auch, weil die Föderalismuskommission bestrebt
ist, die Verschuldungsmöglichkeiten der Bundesländer
einzuschränken. Die FDP ist konsequent, wenn sie sagt:
Steuern runter, Schulden runter und anschließend bitte
auch die Ausgaben runter. Wenn wir aber sagen, dass wir
die öffentliche Hand, Bildung und vieles andere mehr
brauchen, dann brauchen wir auch ein entsprechendes
Steueraufkommen.

Wir sind der Ansicht, dass die Vermögensteuer wie-
der erhoben werden muss und wir eine echte Reform der
Erbschaftsteuer brauchen, die ein wesentlich höheres
Steueraufkommen nach sich zieht. Das ist nicht populis-
tisch formuliert. Dafür gibt es ganz konkrete Konzepte.
Diese Konzepte werden von den Gewerkschaften
IG Metall, Verdi und vielen anderen unterstützt. Wenn
wir das umsetzen, bekommen wir wieder solide Länder-
finanzen. Dann kann man in der Föderalismuskommis-
sion darüber diskutieren, wie man zu einer Konsolidie-
rung der Länderhaushalte kommen kann.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614305300

Nun hat Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion, das

Wort.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da müssen jetzt einige Sachen klargestellt werden! Zwischen Gedenkstein und Grabstein ist nämlich ein Unterschied!)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1614305400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte

Gäste auf den Tribünen! Lieber Florian Pronold, ich rufe
dir einmal zu: Ich habe dir das nicht versprochen. Ich
will das gleich klarzustellen, nicht dass da ein Verdacht
aufkommt. Es ist ein Unterschied, ob man über einen
Gedenkstein, einen Grabstein oder vielleicht nur einen
Grenzstein redet.

Ich möchte die grundsätzliche Feststellung treffen:
Wir haben uns das Thema nicht ans Revers geheftet. Ur-
sächlich ist die Entscheidung von Karlsruhe. Die Länder
machen sich jetzt keinen faulen Lenz. Sie waren bei den
Debatten im Vorfeld voll im Einsatz. Es ist aber der
Deutsche Bundestag, der das Erbschaftsteuerrecht für
die gesamte Bundesrepublik Deutschland vorgibt. Ich
finde, das ist gut so, auch wenn es die eine oder andere
populistische Äußerung dazu gibt.

Zur Klarstellung sage ich insbesondere in Richtung
der FDP: Wir kommen um eine Reform des Erbschaft-
steuerrechts nicht herum. Klar ist aber auch, dass man
bei so einem Thema keine guten Karten hat, weil es
schnell in eine Neiddebatte führt. Schließlich fühlen nur
8 oder 10 Prozent der Bevölkerung entsprechend mit,
während die anderen sagen: Da ist etwas zu holen. Die-
ses Thema hat auch mit Wahltaktik zu tun. Ich warne vor
entsprechenden Überlegungen.

Ich sage aber auch sehr deutlich: Ich hätte mit dem al-
ten Erbschaftsteuerrecht weiterhin gut leben können.
Dieses Erbschaftsteuerrecht haben wir 1997 beschlos-
sen. Ich habe schon Probleme damit, dass man liegendes
Vermögen so behandelt wie Aktien oder reines Geldver-
mögen, weil es nicht so mobil ist.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Die Frage ist, wie man das bewertet, wie man damit um-
geht. Die Tatsache, dass Karlsruhe uns die Freiheit gege-
ben hat, sogenannte Verschonungsfristen zu gestalten,
entspricht der Interessenlage der deutschen Landwirt-
schaft; denn bäuerliches Vermögen wird in der Regel
drei- oder viermal vererbt, bevor es einmal verkauft
wird. Für Wald gilt das erst recht. Wir sind der Überzeu-
gung, dass Erbschaftsteuerrecht so gestaltet sein muss,
dass die Sache rentabel bleibt. Daher bin ich der Koch/
Steinbrück-Kommission ausgesprochen dankbar dafür,
dass sie diesen Weg beschritten hat. Es ist ja nicht alles
schlecht.






(A) (C)



(B) (D)


Norbert Schindler
Ich will das, was der Finanzminister gesagt hat, unter-
streichen: Die allermeisten deutschen Grundbesitzer
müssen auch in Zukunft keine Erbschaftsteuer zahlen, da
wir eine kleinflächige Struktur haben. Man muss aber
auch darauf hinweisen, dass ein Bauer, der sein Erbe von
10 oder 15 Hektar auf 30 Hektar erweitert hat, diese Er-
weiterung nach Zahlung der Einkommensteuer finan-
ziert hat.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Später müssen seine Kinder, je nachdem wie die Ein-
schätzung war – Stichwort: Kaufpreissammlung –, ent-
sprechend nachzahlen. Es ist nicht gerecht, dass man
Leistung doppelt abstraft. Deswegen sind die nächsten
Schritte, dass wir im Bewertungsgesetz – ich plädiere
dafür, dass es ins Gesetz kommt und nicht in die Verord-
nungen,


(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


weil ich den Beamten auf mittlerem Weg absolut nicht
traue –,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! Originäre Verantwortung des Gesetzgebers!)


klare Vorgaben machen.
Einen Punkt muss man nachhaltig zur Diskussion

stellen: Bleiben wir bei den Fristen von zehn und 15 Jah-
ren? Ich weiß, sie kommen aus dem Höferecht, also ge-
rade aus der Landwirtschaft; Herr Pronold hat mit Recht
darauf hingewiesen. Aber wo will der Staat das Geld
herholen, wenn der Betrieb im letzten Jahr bankrott ist?
Hier muss man auch danach fragen, wie abgerechnet
wird, wenn ein Notverkauf dringend notwendig ist.
Schließlich spielt das Einkommensteuerrecht bei einer
solchen Veräußerung eine gewisse Rolle. Ziel unserer
Anstrengungen muss sein, einen Betrieb, ob im Mittel-
stand oder in der Landwirtschaft, auf Dauer zu erhalten.
Wenn die internen Zahlen über das Abschmelzen stim-
men, sollte man darüber konstruktiv nachdenken. Ange-
sichts des Strukturwandels, den wir überall erleben, ist
das ein denkenswerter Ansatz. Damit nähmen wir eine
gewisse Furcht und würden das Erbschaftsteuerrecht
mittelstandsfreundlich gestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Ich nenne noch einen Punkt: die Einbeziehung der
verpachteten Flächen. Wir haben – das räume ich ein –
bei der Unternehmensnachfolge in der Landwirtschaft
einen Kompromiss zwischen Schwarz und Rot gefun-
den. Dass sich die SPD da deutlich bewegt hat, erkenne
ich mit großem Respekt dankend an.

Aber es kann zu Unruhe führen, wenn verpachtetes
Vermögen, das im Verwaltungsvermögen geparkt ist, in
der Erbschaftsteuer extrem anders bewertet wird. Bei der
engen Hofnachfolge können die Regelungen funktionie-
ren. Sie könnten jedoch auch zu der Überlegung führen:
Ich verpachte meine Fläche nicht mehr, bremse den
Strukturwandel, nehme dieses Land in einen passiven
Betrieb und schließe nur noch Bewirtschaftungsverträge
von Jahr zu Jahr. – Dies würde vor allem in den west-
deutschen Bundesländern zu Unruhe führen. Aber – das
gebe ich zu bedenken – auch in den jungen Bundeslän-
dern sind 80 bis 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flä-
chen verpachtete Flächen. Die Frage, welche Unruhe die
unterschiedliche Bewertung hinsichtlich des Pachtlands
auslösen könnte, will ich heute als Anstoß für die Bera-
tungen mitgeben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614305500

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1614305600

Eine letzte Frage: Hat das bäuerliche Wohnhaus, das

eng am Stall oder an Wirtschaftsgebäuden gebaut ist,
den gleichen Wert wie ein vergleichbar anderes Wohn-
haus, muss man nicht einen Abschlag vornehmen? Man
muss berücksichtigen, dass alte Bauernhäuser in der Re-
gel viel Wohnfläche haben. Die Berechnung des Ver-
kehrswertes muss agrarstrukturell vorgenommen wer-
den. Die Anhörung findet ja in den nächsten Wochen
statt und die Beratungen mit Sicherheit auch.

Ein Satz muss mir noch erlaubt sein, weil mir das ein
Anliegen ist: Das Recht sollte bitte nicht schon 14 Tage
nach Unterschrift des Bundespräsidenten in Kraft treten.
Die Betroffenen brauchen eine Schonzeit, um abzuwä-
gen. Sie sollten nicht aus Angst schnell zum Notar ren-
nen und etwas Verkehrtes tun. Ich wünsche mir eine
Wirksamwerdung des Gesetzes am 1. Januar 2009.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614305700

Nun hat das Wort Kollege Christian Freiherr von

Stetten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1614305800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wer die heutige Debatte aufmerksam verfolgt hat


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: So wie wir alle hier!)


und die Änderungsanträge des Bundesrates kennt, dem
ist klar geworden, wie wichtig es war, dass wir den Ge-
setzentwurf des Bundesfinanzministeriums in alle seine
Einzelteile zerlegt haben, um zu überprüfen, ob das ei-
gentliche Ziel, das wir im Koalitionsvertrag vereinbart
haben, nämlich die Entlastung der Familienbetriebe bei
Betriebsübergang, tatsächlich erreicht wird.

Lieber Florian Pronold, in unserem Koalitionsvertrag
ist von einem Abschmelzungsmodell und von 10 Jahren
die Rede, nicht von 15 Jahren und nicht von einem fall-
beilartigen Übergang.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir als Koalition
und ich in der Fraktion dafür werben, dass wir diesen
Koalitionsvertrag einhalten. Ich glaube, das sollte in un-
serem eigenen Sinne sein.


(Florian Pronold [SPD]: Jeder ist der Debatte offensichtlich nicht gefolgt!)







(A) (C)



(B) (D)


Christian Freiherr von Stetten
– So ist es.

Welche Änderungen wir uns als CDU/CSU-Fraktion
vorstellen, haben die Vorredner bereits deutlich gemacht.
Wir sollten uns auch den Bericht des Normenkontrollrats
ganz genau anschauen. Hier wird klargemacht, wie stark
die Bürokratie den Staat belastet und was auf die betrof-
fenen Bürger zukommt.

Ich möchte mein Augenmerk auf die Bundesratsit-
zung legen, die parallel zu unserer heutigen Sitzung
stattfindet.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die sind schon fertig!)


Die Vertreter der Regierungen der Bundesländer – den
Bundesländern stehen die Erbschaftsteuereinnahmen zu –
haben Änderungsanträge verabschiedet, durch die betrof-
fene Familienunternehmen entlastet werden sollen. Ich
sage Ihnen: Hinter die Beschlüsse des Bundesrates soll-
ten wir bei den anstehenden Beratungen des Bundestages
nicht zurückfallen. Wir sollten das respektieren, was uns
die Länder – sie bekommen die Einnahmen aus der Erb-
schaftsteuer – vorschlagen, und wir sollten dahinter nicht
zurückfallen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn man sich die Äußerungen der Bundesländer ge-
nauer anschaut, dann stellt man fest, dass zumindest hier
ein weiteres Umdenken eingesetzt hat. Es ist vorhin er-
wähnt worden: Wir wollten am Anfang dafür werben,
dass die Bundesländer selber entscheiden können, ob sie
eine Erbschaftsteuer erheben und, wenn ja, wie hoch die
Sätze und die Freibeträge sind. In der Vergangenheit ha-
ben die Bundesländer dies immer abgelehnt, übrigens
auch die Bundesländer, in denen die FDP an der Regie-
rung beteiligt war.

Der Vertreter von Baden-Württemberg hat heute Mor-
gen im Bundesrat erklärt: Den vorliegenden Gesetzent-
wurf der Bundesregierung lehne ich ab; die Gesetzge-
bungskompetenz für die Erbschaftsteuer sollte auf die
Bundesländer übertragen werden; das darf man zu Be-
ginn unserer jetzigen Debatte zur Erbschaftsteuer ruhig
auch einmal erwähnen.


(Florian Pronold [SPD]: Ich denke, Sie sind der Berichterstatter für die Fraktion!)


– Herr Kollege Pronold, wenn Sie hier nicht so aufge-
dreht hätten, dann würde ich auf Folgendes heute nicht
eingehen:

Auch die rheinland-pfälzische Landesregierung unter
Führung des SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck hat
heute im Bundesrat einen Antrag gestellt und damit eine
Art Provokation betrieben. Im Antrag 42/08 wird eine
Überprüfung der Verwaltungsvermögensgrenze von 50 Pro-
zent gefordert. Angeregt wird, den Wert von 50 Prozent,
der schon jetzt fast zu niedrig ist, auf 25 Prozent zu sen-
ken.


(Florian Pronold [SPD]: Aha! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Einigkeit bei den Sozialdemokraten!)

Dadurch würde sofort ein Viertel der betroffenen Be-
triebe nicht mehr begünstigt werden. Das können Sie
wirklich nicht wollen.

Sie fordern weiterhin eine Überprüfung der zu ge-
währleistenden Lohnsumme, die heute bei 70 Prozent
liegt. Wir wollen auch noch darüber sprechen, ob eine
weniger bürokratische Lösung möglich ist. Sie wollen
– zumindest prüfen Sie das – den Grenzwert von 70 Pro-
zent – er bereitet schon jetzt vielen große Schwierigkei-
ten – auf 90 Prozent erhöhen. Das ist doch Wahnsinn
und völlig realitätsfremd. Bei diesem Gedankengut ma-
che ich mir um die mittelständische Wirtschaft in Rhein-
land-Pfalz wirklich Sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Linksfraktion und die Grünen möchte ich daran
erinnern: Noch vor wenigen Jahren haben Sie ein Gesetz
gefordert, das verhindert, dass sich Pensionsfonds und
andere Heuschrecken in Deutschland breitmachen und
große Firmen und Wohnungsbestände aufkaufen. Frau
Höll, was glauben Sie denn, was passiert, wenn große
Familienbetriebe in Zukunft plötzlich mit 50 Prozent ih-
res Verwaltungsvermögens bewertet werden, weswegen
sofort 30 Prozent Erbschaftsteuer fällig sind? Wenn ein
Bruder oder ein Cousin erbt, sind sofort 50 Prozent Erb-
schaftsteuer fällig. Finanzierbar ist das doch nur durch
den Verkauf des Unternehmens oder zumindest eines
Teils des Unternehmens.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614305900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sie

können damit Ihre Redezeit verlängern. Sie ist gerade zu
Ende gegangen.


Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1614306000

Sehr gerne, Herr Präsident. Ich sehe 007.


(Heiterkeit – Sibylle Laurischk [FDP]: Die Heuschrecken stehen schon vor der Tür!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1614306100

Frau Höll, bitte.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614306200

Herr Kollege, ich möchte einfach nur nachfragen, ob

Sie in Vorbereitung der heutigen Debatte eventuell den
Antrag der Linken zur Erbschaftsbesteuerung zur Kennt-
nis genommen haben. Darin machen wir einen Vor-
schlag zur Behandlung des Betriebsvermögens. Wir sind
gegen eine pauschale Freistellung von 85 Prozent, wie
Sie sie vertreten, vielmehr treten wir dafür ein, das Anla-
gevermögen als Bezugsgröße zu nehmen. Unser Vor-
schlag ist also wirklich zielgerichtet.

Ich denke, das ist eine Möglichkeit, über die man dis-
kutieren kann. Wir, die Linke, sehen hier durchaus
Handlungsbedarf. Eine Bewertung des Verkehrswertes
ist nicht einfach. Wir brauchen allerdings eine Eins-zu-
eins-Umsetzung, und es muss sachgerecht entschieden
werden. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Sie sollten
ihn zur Kenntnis nehmen.






(A) (C)



(B) (D)


Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1614306300

Ich nehme ihn zur Kenntnis und freue mich auf die in-

tensive Beratung im Ausschuss. Ich kann Ihnen allen nur
empfehlen: Besuchen Sie einmal einen Familienbetrieb,
und sprechen Sie mit seinen Mitarbeitern. Fragen Sie die
Belegschaft und die Mieter einmal, ob sie gerne Mit-
arbeiter bzw. Mieter eines Familienbetriebs sind oder ob
sie lieber Mitarbeiter bzw. Mieter eines Großkonzerns
aus dem Ausland wären.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Eine sehr gute Antwort! – Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] nimmt wieder Platz)


– Sie dürfen ruhig stehenbleiben; denn sonst muss ich
aufhören, zu reden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ich dachte, damit ist meine Frage beantwortet!)


Ich sage Ihnen noch etwas: Sie von der Linken sind
doch die ersten, die auf der Straße stehen werden, wenn
ein Betrieb aufgrund der Folgen dieses Gesetzes ver-
kauft werden muss,


(Florian Pronold [SPD]: Kein einziger Betrieb wird aufgrund dieses Gesetzes verkauft werden!)


und die uns dann auffordern, ein neues Gesetzgebungs-
verfahren einzuleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen: Jetzt können wir etwas für die Mieter,
die Belegschaften und die Familienbetriebe tun. Ich lade
Sie alle ein, in den nächsten Wochen gemeinsam mit uns
an einem ausführlichen Gesetzentwurf zu arbeiten, der
diesen Wünschen gerecht wird. Dann können wir uns in
diesem Hohen Hause einigen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ein sehr guter Mann!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614306400

Damit ist die Aussprache geschlossen.

Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache
16/7918 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse zu überweisen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 b und 8 a
auf:

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zwangsverheiratung durch Verbesserung des
Opferschutzes wirksam bekämpfen
– Drucksache 16/7680 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zwangsverheiratung bekämpfen – Opfer
schützen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer
stärken und schützen – Gleichstellung durch
Integration und Bildung fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Karin Binder, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für einen Schutz der Opfer von Zwangsver-
heiratungen, für die Stärkung ihrer Rechte
und die längerfristige Bekämpfung der
Ursachen patriarchaler Gewalt

– Drucksachen 16/61, 16/1156, 16/1564, 16/4910 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Angelika Graf (Rosenheim)

Sibylle Laurischk
Sevim Dağdelen
Irmingard Schewe-Gerigk

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf
Minuten Redezeit erhalten soll. – Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk
für das Bündnis 90/Die Grünen.


(Unruhe)


Ich denke, dass sie erst anfängt, wenn die Gespräche
zum vorigen Tagesordnungspunkt nach draußen verlegt
worden sind.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Frau Präsidentin.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614306500

Es scheint zu klappen. Es sind ja auch fast nur noch

Frauen hier.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! So nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
– Ich habe gesagt: fast.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja. Auch das ist ein wichtiges Thema.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der vergangenen Woche hat sich der Todestag von
Hatun Sürücü zum dritten Mal gejährt. Sie brach aus ei-
ner erzwungenen Ehe aus und wollte ihr eigenes Leben
leben, frei von Zwang und Gewalt. Ihre Familie erach-
tete dies als Verbrechen und bestrafte es mit dem Tod.
Hatun Sürücü ist zu einem Symbol geworden: zu einem
Symbol für Migrantinnen, die von ihrer Familie daran
gehindert werden, selbst über sich und ihren Körper zu
bestimmen, und zwar aufgrund autoritärer und patriar-
chaler Vorstellungen, die nicht nur den Frauen, sondern
auch den jungen Männern massiv schaden. Darüber
müssen wir eine Debatte führen, allerdings nicht, indem
man die Opfer benutzt, um eine Angstkampagne gegen
Migranten zu entfachen und damit Fremdenhass zu
schüren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was?)


Dass Sie uns Grünen ständig vorwerfen, wir hätten
aufgrund unserer Multikulti-Ideologie die Augen vor
den Menschenrechtsverletzungen an Frauen verschlos-
sen,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Oh ja! Allerdings!)


ist eine Frechheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist nichts als die Wahrheit! Das kann man täglich bestaunen!)


Wenn Sie sich unsere Initiativen der letzten Jahre anse-
hen,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das habe ich getan!)


stellen Sie fest: Wir haben dafür gesorgt, dass Zwangs-
verheiratung seit 2005 explizit als Straftatbestand ausge-
wiesen ist und dass ausländische Ehefrauen im Falle von
Gewalt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten.
Wir haben Ihnen in unseren Anträgen außerdem vor Au-
gen geführt, was noch zu tun ist.

Sie wissen ganz genau, wie die Opfer von Zwangs-
verheiratung am besten zu schützen wären. Sie kennen
die Vorschläge, die in der Sachverständigenanhörung im
Ausschuss vorgetragen wurden. Alle Sachverständigen
waren sich darin einig, dass es zum Schutz der in das
Herkunftsland der Eltern verschleppten und zwangsver-
heirateten Frauen am wichtigsten ist, ihnen das Recht
zur Rückkehr nach Deutschland einzuräumen. Das wis-
sen Sie ganz genau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Sibylle Laurischk [FDP] – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Das gibt es ja!)


Sie haben auch gehört, dass für die nach Deutschland
zwangsverheirateten Migrantinnen – die ja boshaft „Im-
portbräute“ genannt werden – ein eigenständiges Auf-
enthaltsrecht der beste Schutz ist. Denn erst dann können
die anderen Maßnahmen greifen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das gibt es doch!)


Was machen Sie? Außer Verschlechterungen auf dem
Rücken der Frauen machen Sie nichts. Da können Sie
sich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, nicht wegducken, auch wenn Ihnen das peinlich
ist. Seit 2005 liegt unser Antrag auf dem Tisch. Sie ha-
ben uns immer wieder damit vertröstet, es gebe bald ei-
nen Koalitionsvorschlag. Nun haben sich Union und
SPD zwei Jahre lang darüber gestritten. Eine hat sich da-
bei herausgehalten – sie sitzt wieder nicht auf der Regie-
rungsbank –, nämlich Frau Böhmer, die Integrationsbe-
auftragte.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die fehlt immer!)


Frau Böhmer hat ihr Pokerface aufgesetzt und gesagt,
das müsse man politisch entscheiden.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist jetzt ein bisschen blöd, Frau Kollegin!)


Dabei wäre es ihre Pflicht gewesen, für die Rechte der
Migrantinnen zu kämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Geschwiegen hat sie auch, als Roland Koch in Hessen
diesen unsäglichen Wahlkampf geführt hat. Da war von
ihr nichts zu hören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dieser Wahlkampf war wirklich ein Skandal!)


Verteidigt hat sie hingegen die Verschärfung beim Fami-
liennachzug, die die Große Koalition im Rahmen der
Reform des Aufenthaltsrechts beschlossen hat. Sie hat
schon eine seltsame Auffassung von der Rolle einer Inte-
grationsbeauftragten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das zeigt gerade, dass Sie es nicht begriffen haben! Damit schützt sie die Frauen!)


– Dazu werde ich Ihnen gleich etwas sagen, Herr
Grindel.

Voraussetzung für die Einreise ausländischer Ehegat-
ten nach Deutschland ist seit dem Sommer das Bestehen
eines Sprachtests für Deutsch.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Genau! Zu Recht!)







(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
Diese Regelung gilt aber nicht für alle, sondern nur für
Ehegatten aus bestimmten Ländern.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht um den Integrationsbedarf!)


Und dann wundern Sie sich darüber, dass dieses Gesetz
in der Türkei als Antitürkengesetz angesehen wird! Ha-
ben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wo eine Frau
in Ostanatolien die deutsche Sprache lernen soll?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Das werden wir Ihnen gleich erklären!)


Sie stellen jede Türkin vom Lande mit geringer Bildung
unter den Generalverdacht der Zwangsverheiratung. Was
ist mit dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Fa-
milie, wenn Ehepartner und Kinder wegen fehlender
Deutschkenntnisse jahrelang getrennt leben müssen?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht einmal Schwangere dürfen einreisen!)


Das hätte ich einer christlich orientierten Partei nicht zu-
getraut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist keine Maßnahme zur Bekämpfung von Zwangs-
verheiratungen, das ist eine Maßnahme zur Verhinde-
rung von Zuwanderung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614306600

Frau Schewe-Gerigk, möchten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Grindel zulassen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bitte schön, gerne.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1614306700

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, da viele Bürger, die

uns zuschauen, die aktuelle Diskussion nicht kennen
werden, möchte ich Sie bitten, ihnen zu erklären, wie
Frauen, die von Zwangsverheiratung betroffen sind, die
zahlreichen Beratungsangebote – die es zu Recht gibt –
annehmen können sollen, wenn sie die deutsche Sprache
nicht beherrschen, wenn sie nicht einmal in der Lage
sind, die Polizei anzurufen, sich Hilfe zu holen, sich zu-
rechtzufinden.

Erklären Sie uns, warum es nicht sinnvoll sein soll,
dass diese Frauen vor der Übersiedlung nach Deutsch-
land Deutsch lernen! So können sie sich schließlich ge-
gen Zwangsverheiratung wehren.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau!)


Erkennen Sie also an, dass das sehr wohl eine wichtige
Maßnahme ist, um Zwangsverheiratungen zu bekämp-
fen?

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, Herr Grindel, ich erkenne das nicht an. Das
reicht nicht aus, um zu begründen, dass verheiratete
Frauen – möglicherweise mit Kindern –, die zu ihrem
Ehemann nach Deutschland ziehen wollen, schon zum
Zeitpunkt der Einreise Deutschkenntnisse nachweisen
müssen. Ich bin dafür, dass die Migrantinnen nach
Deutschland kommen können; wenn sie hier sind, können
sie sofort Deutschkurse und Integrationskurse belegen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! In Deutschland! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was ist, wenn sie nicht hingehen? – Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man doch verpflichtend machen!)


Das ist der richtige Weg. Aber dafür stehen in den Re-
gionen, in denen Sie zuständig sind, keine Mittel zur
Verfügung.

Natürlich müssen die Frauen die deutsche Sprache
lernen, und das ist die beste Möglichkeit der Integration,
gar keine Frage. Natürlich ist das eine Voraussetzung da-
für, die Beratungsangebote zu nutzen. Aber warum sol-
len sie diesen Sprachtest vorher machen?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Damit sie sich wehren können! – Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können sie ja nicht!)


Sie wissen, dass solche Kurse in der Türkei nicht ange-
boten werden.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Natürlich werden sie das!)


Sie befinden sich mit Ihrer Position ja noch weit hinter
der Position des Innenministers, die ich Ihnen gleich
vortragen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Regelungen verstoßen nach Ansicht vieler Rich-
ter und Richterinnen klar gegen unsere Verfassung, und
erste Klagen liegen bereits vor. Offensichtlich – damit
komme ich zum Bundesinnenminister, Herr Grindel –
musste der Bundesinnenminister erst in die Türkei rei-
sen, um festzustellen, welchen Murks er mit diesem Ge-
setz gemacht hat. Herr Schäuble hat mittlerweile zuge-
sagt, zu überprüfen, ob der Sprachnachweis nicht auch in
Deutschland erbracht werden kann.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Damit befindet sich der Innenminister schon ein Stück-
chen näher an der Position der Grünenfraktion als Sie,
Herr Grindel.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Sibylle Laurischk [FDP]: Er bewegt sich bereits! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Union ist lernfähig!)







(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
Der Innenminister sagt aber: Wer innerhalb eines halben
Jahres an dieser Prüfung scheitert, der muss wieder aus-
reisen. – Man müsste wahrscheinlich „die“ sagen. Das
finde ich besonders perfide. Das ist alles andere als eine
gute Integrationspolitik.

Ich komme zum Schluss. Mich wundert es darum
auch gar nicht, dass die CDU die für die nächste Woche
vereinbarte Integrationsdebatte so kurz vor der Ham-
burgwahl abgesagt hat. Sie haben in Hessen gemerkt,
dass die Menschen auf ausländerfeindliche Parolen nicht
hereinfallen, und wollen alles tun, um zu vermeiden,
dass so etwas auch im weltoffenen Hamburg ankommt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten Angst, dass Frau Böhmer redet!)


Ich sage Ihnen: Geben Sie den Menschen, die auf
Dauer bei uns bleiben wollen, endlich die Perspektive,
deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger zu
werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sibylle Laurischk [FDP] und der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614306800

Michaela Noll hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1614306900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Schewe-Gerigk, jedes Mal, wenn ich
hier stehe und nach Ihnen reden muss, muss ich mich re-
lativ mäßigen, um nicht richtig wütend zu werden;


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Werden Sie das doch!)


denn das, was Sie hier zum Teil vortragen, ist in der Sa-
che und vor dem Hintergrund dessen, was wir in einem
Jahr hier auf den Weg gebracht haben, nicht gerecht.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was denn?)


Ich werde Ihnen einfach einmal sagen, was in einem
Jahr möglich war und passiert ist. Dafür reichen die fünf
Minuten gar nicht aus. Ich nenne Ihnen ein paar Bei-
spiele:

Zur Forschung. Das Familienministerium hat den ers-
ten Sammelband zu Zwangsverheiratungen in Deutsch-
land herausgegeben.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aus der Forschung muss man auch Konsequenzen ziehen!)


Als wir im letzten Jahr hier darüber diskutiert haben, war
das wie das Fischen im Trüben, weil wir weder Daten
noch Fakten hatten. Mittlerweile liegen sie vor. Es sind
neue Forschungsuntersuchungen in Auftrag gegeben
worden. Das haben Sie im Familienausschuss selber ge-
hört; die Ministerin hat das erzählt.

Zu Onlineberatungen. Es gibt endlich eine anonyme
und niedrigschwellige Beratung, sodass sich die Frauen
direkt an die entsprechende Stelle wenden können.

Im Zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen wird das Thema Zwangsverheiratung auf-
geführt. Wir haben einen Nothilfe-Flyer verteilt, damit
die Frauen ihre Rechte kennenlernen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Flyer gab es schon zu anderen Zeiten!)


Wir haben den Integrationsgipfel veranstaltet, auf dem
mit den und nicht über die Migranten geredet wurde.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Drei Stunden waren das!)


Wir haben einen Nationalen Integrationsplan auf den
Weg gebracht. Wir haben das Zuwanderungsgesetz ver-
abschiedet. Dazu komme ich gleich gerne noch, wenn es
um die Deutschkenntnisse geht.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Machen Sie sich doch nicht lächerlich!)


– Ich möchte jetzt gerne zu Ende sprechen.

Auch in den Bundesländern geschieht einiges. Ich
nenne den Zehnpunkteplan in NRW, interkulturelle Be
rater usw. usf. Was hier in einem Jahr passiert ist, das ha-
ben Sie in der Zeit, in der Sie in der Verantwortung wa-
ren, nicht auf die Beine gebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollege Mayer hat gesagt, Deutschland sei kein Einwanderungsland!)


An dieser Stelle müssen wir unserer Ministerin auch ein-
mal dafür danken, dass das in so kurzer Zeit möglich
war.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das können Sie machen!)


Ich nenne Ihnen jetzt zwei Beispiele für praxisorien-
tierte Maßnahmen:

Erstes Beispiel: Onlineberatung. Ich glaube, die
Onlineberatung ist für diese Frauen ausgesprochen wich-
tig.


(Ina Lenke [FDP]: Haben sie alle Computer?)


Bei der häuslichen Gewalt hat man es häufig nur mit ei-
nem Täter zu tun. Bei der Zwangsverheiratung hat man
es aber meistens mit der Familie zu tun, die Druck aus-
übt. Ich glaube: Wenn die Frauen unter Kontrolle bzw.
Beobachtung stehen, dann brauchen sie solche niedrig-
schwelligen Angebote, um einen unkomplizierten Zu-
gang zur Hilfe zu erhalten. Deswegen haben wir diese
Angebote geschaffen. Ob per E-Mail oder Gruppen-
chats: Sie erhalten Informationen. Die Mitarbeiterinnen
helfen auch bei der Suche nach Beratungsstellen.






(A) (C)



(B) (D)


Michaela Noll

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber niemand kritisiert, Frau Noll!)


– Nein, aber ich möchte einfach einmal sagen, was wir
auf die Beine gestellt haben. Sie erwecken hier ja den
Eindruck, als ob sich nichts getan hätte. – Diese Projekte
gibt es in Berlin, in Frankfurt, in Stuttgart und – seit ei-
nem Jahr – in NRW. Auf einer Seite waren 5 000 Klicks
zu verzeichnen. Das heißt: Wir haben etwas auf den Weg
gebracht, was den Frauen vor Ort tatsächlich hilft.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zweites Beispiel: Deutschkenntnisse. Alle, die in un-
serem Ausschuss sind, wissen, dass ich immer für
Deutschkenntnisse vor der Einreise gekämpft habe. Da-
von werden Sie mich nicht abbringen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht das Verfassungsgericht schon!)


Es ist unser Ziel, zuziehenden Ehegatten ein selbstbe-
stimmtes Leben in Deutschland zu ermöglichen, weil sie
nur dann eine Chance auf Integration haben. Das geht
aber eben nur über die Sprache.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie stellen sich hier hin und sagen, es sei nichts getan
worden, wir hätten keine Strukturen. Weit gefehlt!
Schauen Sie sich doch einmal an, was die Goethe-Insti-
tute in dem einen Jahr auf den Weg gebracht haben. Sie
haben Angebote geschaffen: Sie bieten Sprachkurse an,
zum Beispiel auch mittels CD-ROM.

Die Deutsche Welle bietet kostenlose Sprachkurse an.
Es gibt Faltblätter und Angebote vom Bundesamt für
Migration. Flächendeckend ist ein breites Netz von An-
geboten entstanden. Das heißt, die vorhandene Nach-
frage wird auch befriedigt. Es gibt das Angebot, das wir
brauchen. Die Frauen müssen diese Kurse nutzen, wo-
durch sie eine Chance haben, hier in Deutschland zu-
rechtzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie in allen Ländern der Welt gemacht?)


Für mich sind die Deutschkenntnisse ein wichtiger
Faktor im Hinblick auf den Opferschutz. Wie soll sich
sonst eine junge Frau, die zwangsverheiratet werden
soll, hier wehren können? Nur dann, wenn sie Grund-
kenntnisse hat, kann sie auf ihre Not aufmerksam ma-
chen und sagen, dass sie Hilfe braucht. Anders wird es
nicht funktionieren. Ich glaube, das ist langfristig eine
Maßnahme, um Mädchen vor dem Schicksal als Import-
braut zu schützen. Das ist in keinem Ihrer Anträge ent-
halten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht! Wir sind nämlich dagegen!)


Ich wünsche den jungen Frauen, die nach Deutsch-
land einreisen, dass sie eben nicht in irgendwelchen
Wohnungen verschwinden und dadurch keine Chance
haben, an unserem Leben hier teilzuhaben. Deswegen
können Sie mich nicht davon abbringen, dass dies der
richtige Schritt für die jungen Frauen war, um sie prä-
ventiv zu schützen. Nicht nur wir denken so. Schauen
Sie einmal über die Grenzen hinweg, werfen Sie einen
Blick nach Holland oder nach Frankreich. Die Franzosen
gehen sogar noch viel weiter.

Im letzten Jahr habe ich Ihnen – daran können Sie
sich vielleicht noch erinnern – von dem jungen marokka-
nischen Mädchen Latifa erzählt. Ihr Schicksal hat mich
persönlich sehr betroffen gemacht, weil sie zu mir kam,
um Hilfe zu holen. Und warum kam sie zu mir? Sie
konnte Deutsch. Ich konnte ihr helfen, weil wir uns mit-
einander verständigen konnten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen ja auch Deutsch lernen! In Deutschland!)


Die Pflicht, vor der Einreise Deutschkenntnisse zu ha-
ben, fördert die Integration, und wenn Sie Zwangsver-
heiratungen wirklich bekämpfen wollen, dann sehe ich
darin die echte Prävention.

Noch ein Wort zur Einführung eines eigenen Straftat-
bestandes;


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den haben wir schon eingeführt!)


denn davon geht meines Erachtens eine höhere Signal-
wirkung aus. Damit könnten wir deutlich machen, dass
Zwangsehen integrationshemmende Menschenrechts-
verletzungen sind, die wir in Deutschland nicht dulden,
nicht tolerieren und nicht akzeptieren werden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb hat Rot-Grün das zum Straftatbestand erklärt!)


Wir werden erst dann aufhören, uns weiter dafür ein-
zusetzen, wenn es in Deutschland keine Zwangsverhei-
ratungen mehr gibt. Mit den Deutschkenntnissen vor
Einreise sind wir auf einem guten Weg.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt Herr Schäuble dazu?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614307000

Für die FDP hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk

das Wort.


Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1614307100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Integrationspolitik stand durch den Besuch
des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland in
dieser Woche wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Lassen Sie es mich klar sagen: Der FDP geht es nicht um
Assimilation, was unserem Verständnis vom freien Men-
schen gar nicht entspräche,






(A) (C)



(B) (D)


Sibylle Laurischk

(Beifall bei der FDP – Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Das verlangt doch auch keiner!)


sondern um Integration dieser Gesellschaft und um das
Miteinander aller Menschen auf der Basis unseres
Grundgesetzes.

Der Auftritt von Herrn Erdogan in Köln und die be-
geisterte Reaktion seiner Zuhörer und Zuhörerinnen hat
schlagartig deutlich gemacht, dass Integrationspläne und
-gipfel allenfalls Instrumente, aber keine Ziele sind. Wir
sind allenfalls auf dem Weg; vielleicht sind die ersten
Schritte erfolgt.

Ich hätte es begrüßt, wenn der türkische Ministerprä-
sident Zwangsheirat als Straftat gegen die Menschlich-
keit bezeichnet hätte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies steht nämlich auch in der Türkei unter Strafe.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum soll er das dann noch einmal extra sagen?)


Zwangsverheiratungen sind Ausdruck eines archaischen
Gesellschaftsverständnisses, das insbesondere Frauen
die Entwicklung einer eigenen Identität nicht zugesteht
und deshalb auch keine freie Partnerwahl zulässt. In ge-
ringerem Maße trifft dies übrigens auch auf Männer zu.
Eine solche Menschenrechtsverletzung können wir nicht
hinnehmen, weshalb diese Form der Nötigung auch in
§ 240 Abs. 4 StGB seit 2005 unter Strafe steht.

Im Jahr 2006 – ich gehe davon aus, ähnlich auch in
2007 – gab es keine 20 Ermittlungsverfahren in Deutsch-
land, geschweige denn Anklagen oder Verurteilungen.
Dies suggeriert, dass hier kaum Probleme existieren. Der
Blick in die Praxis ergibt ein anderes Bild. Mehrere hun-
dert junge Frauen und Männer werden jedes Jahr Opfer
von Zwangsverheiratungen, wie ich höre, auch und ge-
rade hier in Berlin.

Die obige Beurteilung von Zwangsverheiratungen ist
allseits Konsens. Trotzdem hat es die Große Koalition
nicht geschafft, hierzu einen gemeinsamen Antrag zu-
stande zu bringen. Zusätzlich hat man mit der Neurege-
lung des Aufenthaltsrechts im letzten Sommer Regelun-
gen eingeführt, die das Etikett der Verhinderung von
Zwangsheiraten tragen, in Wahrheit aber Ehen zweiter
Klasse einführen und Ressentiments verstärken.

Die Möglichkeit, Unterricht in der deutschen Sprache
zu nehmen, ist in den Hauptherkunftsländern außerhalb
der Großstädte kaum bis gar nicht vorhanden und mit er-
heblichen Kosten verbunden.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist falsch! Fragen Sie doch mal die Goethe-Institute!)


Darüber hinaus ist doch fraglich, was mit der Kenntnis
von 300 Wörtern auf Deutsch hier erreicht werden kann.
Wichtig sind eine konsequente und verpflichtende
Sprachförderung hier in Deutschland, denn darum geht
es doch, damit Frauen und Männer Arbeit finden und in
dieser Gesellschaft leben können.

Diese Sprachregelung als Nachzugsvoraussetzung ist
offenbar nur ein neuer Hebel, um dem Familiennachzug
Steine in den Weg zu legen. Dazu passt, dass jetzt schon
standardisiert DNA-Tests verlangt werden, um eine Ab-
stammung nachzuweisen, obwohl zum Beispiel in der
Türkei ein funktionstüchtiges Personenstandswesen
existiert. Die Antragsteller akzeptieren diesen Test im ei-
genen Interesse, aber ich frage Sie: Wo ist denn die Frei-
willigkeit, wenn einem gesagt wird, mach den Test oder
bleib zu Hause?

Ich erwähne dies in dem Zusammenhang, um eines zu
verdeutlichen: Wer das Signal setzt, jemand sei hier nur
bedingt erwünscht, muss sich nicht wundern, wenn diese
Bevölkerungsgruppe das eigene Heimatland bejubelt.

Von der Großen Koalition kommen zum Thema
Zwangsheirat keine Vorschläge für weitere Maßnahmen
mehr, obwohl doch jedem klar ist, dass die aufenthalts-
rechtlichen Gesetzesänderungen denen nicht helfen, die
hier Opfer einer Zwangsheirat werden oder geworden
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die im Antrag der FDP-Fraktion vorgeschlagenen
Maßnahmen wie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für
Opfer von Zwangsheirat


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das gibt es doch!)


ohne die Zweijahresfrist, ein Rückkehrrecht für im Hei-
matland Zwangsverheiratete und der weitere Ausbau
von Beratungsstellen, Hotlines und Ähnlichem sind not-
wendig, um wirkliche Verbesserungen zu erreichen. Wir
brauchen eine höhere Sensibilität im Umfeld der Opfer,
also in Schulen, Jugendeinrichtungen und Behörden. Ich
möchte in diesem Zusammenhang den angekündigten
Leitfaden erwähnen, der in Baden-Württemberg erstellt
wird und Verhaltensweisen im Umgang mit konkreten
Bedrohungssituationen sowie Kontaktadressen zur wei-
terführenden Hilfe vermittelt.

Der Ausbau und die Sicherstellung der Finanzierung
von Schutzeinrichtungen wie den Frauenhäusern liegen
mir besonders am Herzen. Die Finanzierung der Frauen-
häuser ist seit ihrem Bestehen unsicher und von Bundes-
land zu Bundesland unterschiedlich geregelt. Dies führt
zu nicht hinnehmbaren Unterschieden in der Chance,
Hilfe bei drohender Zwangsverheiratung und der Bedro-
hung mit körperlicher Gewalt oder dem Tode zu bekom-
men.

Die FDP-Fraktion vertritt hierzu klar die folgende
Auffassung: Nur flankierende Maßnahmen, die greifen,
werden den Ausstieg aus dem Teufelskreis Zwangsver-
heiratung und Gewalt bewirken. Strafgesetze haben wir
schon.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614307200

Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1614307300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die freie Wahl des Ehe- bzw. Lebenspartners ist für die
meisten von uns eine Selbstverständlichkeit. Dies gilt
jedoch für manche Menschen, die in Deutschland leben,
nicht. Opfer von Zwangsverheiratungen sind meist junge
Menschen mit – allerdings nicht nur türkischem – Mi-
grationshintergrund. Ihnen wird aus patriarchalischen
Familien- und Geschlechtertraditionen heraus die freie
Partnerwahl verwehrt. Die Betroffenen werden zum
Zwecke der Verheiratung aus Deutschland verschleppt,
im Rahmen einer Zwangsehe nach Deutschland ver-
bracht oder auch innerhalb Deutschlands zwangsverhei-
ratet. Ein Unrechtsbewusstsein besteht bei den Tätern
meistens nicht.

Wir wissen relativ wenig über das Ausmaß von
Zwangsverheiratung bei uns in Deutschland. Kurze Ein-
blicke in die Situation erhalten wir nur, wenn es zu öf-
fentlich sichtbarer Gewalt kommt – wie im Fall Hatun
Sürücü – oder wenn sich Betroffene wehren, vor der
Verheiratung fliehen oder nach der Hochzeit die Qual
nicht aushalten. Der Bericht des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der eine bundes-
weite Evaluierung von Praxisarbeit bei der Bekämpfung
von Zwangsverheiratung vorgenommen hat, und der
Reader des Deutschen Instituts für Menschenrechte lie-
fern erste hilfreiche Einsichten hierzu. Auf ihrer Grund-
lage müssen wir weiter daran arbeiten, die Opfer zu stär-
ken und in den Migranten-Communities aufklärend zu
wirken. Denn letztlich ist jeder Fall von Zwangsverhei-
ratung in Deutschland ein Indiz für eine nicht gelungene
Integration.

Der Deutsche Bundestag war in der Vergangenheit bei
der Bekämpfung des Phänomens nicht untätig. Irmingard
Schewe-Gerigk hat von „wir“ gesprochen. Damit meinte
sie wohl die rot-grüne Bundesregierung; denn wir haben
als rot-grüne Bundesregierung mit dem Gewaltschutzge-
setz, der Absenkung der Frist zur Erlangung eines eigen-
ständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehepartner
von vier auf zwei Jahre sowie der Aufnahme der
Zwangsverheiratung ins Strafgesetzbuch als besonders
schwerem Fall der Nötigung bereits einiges erreicht.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Auch die derzeitige Koalition war aktiv. Frau Noll ist
bereits darauf eingegangen. Zu erwähnen ist besonders
der Nationale Integrationsplan, der zahlreiche Selbstver-
pflichtungen der Bundesregierung enthält.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles unverbindlich!)


So ist zum Beispiel die in allen Oppositionsanträgen ge-
forderte Evaluation des Nötigungsparagrafen bereits vor-
gesehen. Im Nationalen Integrationsplan finden sich noch
weitere konkrete Maßnahmen, allerdings nicht vonseiten
der Länder und Kommunen. An dieser Stelle ist eine stär-
kere Konkretisierung wünschenswert. Denn der Opfer-
schutz vor Ort ist das Wichtigste von allem.

Im Zuge der Beratungen zum EU-Richtlinienumset-
zungsgesetz zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Aspek-
ten war es trotz harten Ringens von unserer Seite leider
nicht möglich, die zum Beispiel vom Deutschen Juristin-
nenbund, aber auch von vielen anderen geforderten
wichtigen Verbesserungen zugunsten der von Zwangs-
heirat Betroffenen durchzusetzen. Ich nenne hier insbe-
sondere die Forderung, dass der Aufenthaltstitel bei einer
Zwangsverheiratung nicht bereits nach sechs Monaten
erlöschen darf. Auch ich halte es für skandalös, dass eine
junge Frau mit einem ausländischen Pass, die aus
Deutschland verschleppt wird, nicht mehr nach Deutsch-
land zurückkehren kann, wenn die Halbjahresfrist über-
schritten ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Gleiche gilt für das eigenständige Aufenthalts-
recht bei Auflösung der Ehe. Es ist hochproblematisch,
ein Opfer von Zwangsverheiratung zu zwingen, mindes-
tens zwei Jahre bis zum Erreichen des eigenen Aufent-
haltsrechts in der Zwangssituation zu verbleiben. Kann-
bestimmungen bzw. Härtefallregelungen helfen Frauen
in dieser Situation nicht; denn die Frauen brauchen Si-
cherheit, um sich aus der Zwangssituation lösen zu kön-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bedauere es sehr, dass wir uns in diesen Punkten
nicht durchsetzen konnten; denn gerade beim Rückkehr-
recht sind es die integrierten jungen Frauen, die betrof-
fen sind. Wer das verschweigt, ist definitiv nicht im rich-
tigen Film.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Antrag auf Bekämpfung der Zwangsverheiratung
ohne die essenziellen ausländerrechtlichen Regelungen
kam für die SPD nicht infrage, wobei wir nicht verken-
nen, dass es in anderen Rechtsbereichen wie beim
KJHG, im Erbrecht oder beim Schutz der persönlichen
Daten im Familienrecht für den Bund noch deutlichen
Regelungsbedarf gibt. Ich verspreche, dass wir weiter
daran arbeiten werden. Ich warne allerdings ausdrück-
lich davor, alle muslimischen Ehen unter Generalver-
dacht zu stellen nach dem Motto: Jede zweite türkische
Familie ist von Zwangsverheiratung betroffen. Das ist
definitiv nicht so.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Fest steht: Wir brauchen weiterhin Aufklärung, damit
Zwangsverheiratungen als das gesehen werden, was sie
sind, nämlich keine private Familienangelegenheit, son-
dern eine Form von häuslicher Gewalt. Gegen die müs-
sen wir gemeinsam kämpfen.






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Graf (Rosenheim)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614307400

Die Kollegin Sevim Dağdelen hat jetzt das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614307500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir alle sind uns in diesem Hohen Hause einig:
Zwangsverheiratung stellt ein Höchstmaß an Gewalt dar.
Das immer wieder deutlich zu machen, darf aber kein
Selbstzweck sein. Leider ist diese Debatte symptoma-
tisch dafür, wie zumeist über Integrationspolitik debat-
tiert wird, nämlich weitgehend losgelöst von gesell-
schaftlichen und sozialen Bedingungen. Dabei ist die
sozioökonomische Lage der entscheidende Grund für
Zwangsverheiratungen. Das sieht selbst die Bundes-
regierung so. Die Ursachen von Zwangsverheiratung
einseitig als ethnisch, religiös oder kulturell zu erklären,
hält sie ebenfalls für falsch, nachzulesen in der gestrigen
Antwort auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zu die-
sem Thema.

Leider ist die Debatte aber gerade vonseiten der
Union nicht so differenziert geführt, dafür aber umso
mehr instrumentalisiert worden. Es handelt sich um ein
Manöver zur Ablenkung vom integrations- und sozial-
politischen Versagen der bisherigen Bundesregierungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zwangsheirat wurde als ein Grund mehr genutzt, um be-
sonders muslimische Migrantinnen und Migranten ver-
allgemeinernd als rückschrittlich oder minderwertig zu
stigmatisieren. Bei vielen haben die einseitigen Schuld-
zuweisungen eher eine Abwehrhaltung ausgelöst. Der
Aufklärungs- und Präventionsarbeit ist somit ein Bären-
dienst erwiesen worden, vor allem aber auch den betrof-
fenen Frauen.

Gerade jene, die seit Jahren in diesem Haus Gleich-
stellungsmaßnahmen konsequent verhindern, machen
sich plötzlich Sorgen um Frauenrechte. Die Notlagen von
Frauen werden instrumentalisiert und funktionalisiert. So
begrenzt die Bundesregierung den Ehegattennachzug.
Sie versteht das natürlich vor allem als präventive Maß-
nahme zur Verhinderung von Zwangsverheiratungen.
Dabei spricht sie noch von präventiver Integration. Das
vorgegebene Motiv ist aber mehr als scheinheilig; denn
mit dieser Maßnahme wird kein einziger Fall von
Zwangsverheiratung verhindert. Was hier als Opfer-
schutz getarnt wird, zielt ganz einfach auf die Verhinde-
rung von Einwanderung. Ihr Wunsch scheint sich zu er-
füllen. Wie der Antwort auf meine schriftliche Frage zu
entnehmen ist, ging der Ehegattennachzug infolge der
Neuregelungen insgesamt um 40 Prozent und aus der
Türkei um mehr als zwei Drittel – genau 67,5 Prozent –
zurück.
Selbst die Bundesregierung macht in ihrer Antwort
klar, dass das sehr wohl mit dem EU-Richtlinien-Umset-
zungsgesetz vom Sommer letzten Jahres zu tun hat. Das
zeigt: Ihnen geht es nicht um den Schutz von Frauen.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Unverschämt, was Sie hier sagen!)


Faktisch kann das Gesetz jetzt nämlich bei bestimmten
Konstellationen sogar dazu führen, dass sich die Lage
dieser Frauen noch verschärft. So könnten sie sich genö-
tigt sehen, schnellstmöglich ein Kind zu gebären. Nach
der Geburt können sie als Mutter eines deutschen Kindes
auch ohne Sprachtest hier einreisen.

Zwangsweise verheiratete Frauen müssen vor den
Konsequenzen einer Scheidung geschützt werden. Das
haben wir immer wieder gesagt. Unter den Fraktionen
besteht auch weitgehend Einigkeit, abgesehen von der
CDU/CSU-Fraktion, dass aufenthaltsrechtliche Verbes-
serungen für Betroffene notwendig sind. Das haben alle
Sachverständigen bei der Anhörung im Juni 2006 ge-
sagt. Allerdings ist sich die SPD leider auch beim Thema
Zwangsverheiratungen treu geblieben. Erst stimmt sie
den aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen im Richtli-
nien-Umsetzungsgesetz zu, im Nachhinein fordert sie
dann auf ihrem Hamburger Parteitag im Oktober 2007
aufenthaltsrechtliche Verbesserungen. Eine klare Linie
bei der SPD – wie immer.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Aber der Handlungsbedarf liegt klar auf der Hand. Die
Sachverständigen sind sich einig. Wir brauchen starke,
vor allen Dingen aber gestärkte Frauen. Deshalb fordert
die Linke aufenthaltsrechtliche Verbesserungen und die
Schaffung angemessener Hilfsangebote. Die Betroffenen
und auch die Bedrohten müssen aus ihrer Zwangsehe
ausbrechen oder sich dem Willen ihrer Familie verwei-
gern können. Opfer von Zwangsverheiratung müssen die
Möglichkeit haben, als Nebenklägerin aufzutreten; denn
dann könnten sie auch aktiv am Prozess teilnehmen. Sie
würden über besondere Verfahrensrechte verfügen. Zu-
dem müsste es doch allgemein einleuchten, wie notwen-
dig zum Beispiel die Anonymisierung der Adresse der
Betroffenen ist. Wir haben in unserem Antrag Vorschläge
zu den Verfahrensregelungen gemacht.

Wer Frauen schützen will, darf Schutzregelungen
nicht vom Aufenthaltsstatus abhängig machen, wie das
im Moment der Fall ist. Deshalb müssen diese auch für
Frauen ohne gesicherten Aufenthaltstitel gelten. Für den
Schritt aus Unterdrückung und Abhängigkeit brauchen
diese Frauen Ermutigung und Rechtssicherheit.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Dafür müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen
geschaffen werden. Ich möchte an die Bundesregierung
appellieren. Wir haben im Dezember 2005 diese Debatte
zum ersten Mal geführt. Seit dieser Zeit bin ich Mitglied
dieses Hauses. Jetzt haben wir Februar 2008. Nichts ist






(A) (C)



(B) (D)


Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
geschehen, außer einer Verschlechterung der Lage der
betroffenen und bedrohten Frauen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614307600

Frau Kollegin, Sie müssen bitte dringend zum Ende

kommen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614307700

Ich fordere Sie auf: Lassen Sie endlich den Sachver-

stand entscheiden! Hören Sie auf die Sachverständigen
und die Vertreter der Beratungsprojekte, die seit Jahren
in diesem Bereich arbeiten!

Danke sehr.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614307800

Jetzt spricht der Kollege Stephan Mayer für die CDU/

CSU-Fraktion.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1614307900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! In einem Punkt
sind wir uns einig: Zwangsverheiratung ist eine gravie-
rende und schwerwiegende Menschenrechtsverletzung
und durch nichts zu entschuldigen, insbesondere des-
halb, weil die Fälle der Zwangsverheiratung häufig mit
sowohl brutaler physischer als auch psychischer innerfa-
miliärer Gewalt, mit Demütigung, mit Unterdrückung
und mit Vergewaltigung und teilweise, wie wir leider
Gottes auch schon in Deutschland feststellen mussten,
mit unsäglichen sogenannten Ehrenmorden, die uner-
trägliche und verabscheuungswürdige Straftaten sind,
verbunden sind.

Das Hauptaugenmerk muss darauf liegen, alles dafür
zu tun und effiziente Regelungen zu schaffen, um
Zwangsverheiratungen zu verhindern. Das ist das große
Defizit aller Anträge der Opposition, mit denen wir uns
heute beschäftigen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie haben sie nicht gelesen!)


Sie setzen sich nicht damit auseinander, was getan wer-
den muss, um Zwangsverheiratungen präventiv zu ver-
hindern. Dies ist ihr großes Defizit.

Die Große Koalition hat, wie schon erwähnt, durch
das Gesetz zur Umsetzung asyl- und ausländerrechtli-
cher Richtlinien der Europäischen Union einiges getan,
um im präventiven Bereich Zwangsverheiratungen effi-
zient zu verhindern, zum Beispiel indem wir das Nach-
zugsalter für Ehegatten auf 18 Jahre festgelegt haben.
Frauen, die über 18 sind, sind selbstständiger, eigenver-
antwortlicher, haben einen ausgeprägteren Charakter
und laufen damit nicht so schnell Gefahr, Opfer von
Zwangsverheiratungen zu werden.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie dürfen ja auch erst mit 18 heiraten!)

Mit dem Erfordernis des Nachweises von einfachen
– wohlgemerkt: einfachen – Sprachkenntnissen, die vor
der Einreise nach Deutschland im Herkunftsland erwor-
ben werden müssen, wird gewährleistet, dass die Frauen,
insbesondere die aus muslimisch geprägten Ländern,
zum Beispiel aus der Türkei, schon mit ordentlichen
Deutschkenntnissen nach Deutschland kommen, sie sich
somit in der deutschen Gesellschaft zurechtfinden kön-
nen, eigenständig einkaufen gehen und sich einen Freun-
deskreis aufbauen können. Auch dies stärkt die Frauen
und verhindert, dass sie in größerem Maße Opfer von
Zwangsverheiratung werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine wesentliche Leistung der Großen Koalition ist
auch, dass die Bundesrepublik 150 Millionen Euro im
Jahr für Sprachkurse, Orientierungskurse und Integra-
tionskurse ausgibt. Auch dadurch stärken wir Migrantin-
nen und Migranten, die nach Deutschland kommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es trifft ein-
fach nicht zu, dass im Ausland nicht ausreichende Mög-
lichkeiten geschaffen werden, um im Vorfeld Sprach-
kurse zu besuchen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sieht es denn zum Beispiel in Indien aus?)


Ich habe mich selbst davon überzeugt: Das Goethe-
Institut bietet zum Beispiel in der Türkei, auch in Süd-
ostanatolien, die Möglichkeit an, Sprachkurse zu besu-
chen. Dafür beauftragt es in Diyarbakir andere Agentu-
ren. Es ist eine Mär, dass es im Ausland nicht möglich
ist, Deutsch zu lernen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kostet aber sehr viel Geld, wie Sie wissen!)


Dieses Umsetzungsgesetz ist mitnichten diskriminie-
rend und mitnichten türkenfeindlich. Ganz im Gegenteil:
Es ist ein integrations- und frauenfreundliches Gesetz
und deshalb meines Achtens der richtige Schritt in die
richtige Richtung.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es richtet sich überwiegend gegen die Türkei!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614308000

Herr Kollege, es fällt schwer, Ihren Schwung zu stop-

pen, aber Frau Dağdelen würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen, was Ihnen zu noch mehr Schwung
und noch mehr Redezeit verhelfen würde.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1614308100

Sehr gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614308200

Bitte schön!






(A) (C)



(B) (D)


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614308300

Vielen, Dank, Herr Kollege Mayer. Sie haben gesagt,

es stimmt nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, Sprach-
kurse zu belegen, und dass es keine Stellen gibt, wo man
Sprachtests ablegen kann. Haben Sie Kenntnis davon,
dass betroffene Menschen zum Beispiel in Nicaragua
weder die Möglichkeit haben, Sprachkurse zu belegen,
noch die Möglichkeit, bei irgendeiner Stelle – es gibt
dort keine Goethe-Institute – Sprachtests abzulegen?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1614308400

Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, zunächst möchte

ich festhalten: Deutschland ist nicht das Haupteinreise-
land für Bürger aus Nicaragua.


(Sönke Rix [SPD]: Aber gleiches Recht für alle!)


Die meisten Immigranten, die nach Deutschland kom-
men, kommen nun einmal aus der Türkei. In der Türkei
gibt es ausreichende Möglichkeiten – in Südostanatolien
sogar flächendeckend –, zum einen Deutsch zu lernen
und zum anderen den Deutschtest zu absolvieren.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die sind nicht preiswert!)


Natürlich besteht immer wieder einmal die Notwendig-
keit, nachzujustieren. Ich bin der Meinung, man sollte
sich durchaus neuen Möglichkeiten öffnen. Zum Bei-
spiel sind die Niederlande in diesem Bereich sehr weit.
Sie bieten das Belegen von Kursen und das Ablegen von
Tests mittels Computer an. Ich könnte mir durchaus vor-
stellen, dass man diese Möglichkeit auch an deutschen
Botschaften etabliert,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Nehmen Sie zur Kenntnis: Nicaragua!)


auch in Nicaragua. Es ist sicherlich nichts so gut, als dass
es nicht noch verbessert werden kann, werte Kollegin.
Aber in den Ländern, für die Deutschland Haupteinreise-
land ist – zum Beispiel die Türkei und der Kosovo –, gibt
es bereits ausreichende Möglichkeiten, Deutsch zu ler-
nen und einen Deutschtest abzulegen.


(Beifall des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ CSU])


Es ist ebenfalls eine Mär, dass es erst nach einer zwei-
jährigen Ehebestandszeit möglich ist, dass ein geschie-
dener Ehepartner, der Opfer von Zwangsverheiratung
oder Gewalt in der Familie geworden ist, ein eigenstän-
diges Aufenthaltsrecht bekommt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist in der Regel so!)


Nach der Härtefallregelung in § 31 Abs. 2 des Aufent-
haltsgesetzes ist es bereits vor dem Ablauf der zweijähri-
gen Ehebestandszeit möglich – meine sehr verehrte Frau
Kollegin, die Hürden sind dabei relativ niedrigschwel-
lig –, dass der betroffene Ehegatte ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht erhält.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie oft war das denn? – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Wie oft gab es solche Sachen?)


Darüber hinaus muss man natürlich zur Kenntnis neh-
men, dass das eigenständige Aufenthaltsrecht, das dem
von Zwangsverheiratung betroffenen Ehegatten erwächst,
nicht über das Aufenthaltsrecht hinausgehen kann, von
dem er sein Aufenthaltsrecht zunächst einmal ableitet,
nämlich von dem des Stammberechtigten. Das ist nun
einmal so. Wir haben die Familienachzugsrichtlinie der
Europäischen Union in vollem Umfang umgesetzt. Es
handelt sich um ein verfassungsgemäßes Gesetz. Das
werden Sie sehen, wenn die Verfassungsbeschwerde in
Karlsruhe geprüft wird.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifeln wir!)


Die Professoren Hailbronner und Hillgruber haben in der
öffentlichen Anhörung vor dem Innenausschuss in seiner
Sitzung am 21. Mai ausführlich dazu Stellung genom-
men.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren Einzelmeinungen!)


Darüber hinausgehende Besserstellungen und eine Per-
petuierung einer Opferrolle auf Dauer wäre falsch. Ent-
scheidend ist es, effiziente Regelungen zu schaffen, um
Zwangsverheiratungen zu verhindern und dann, wenn es
wirklich zu Zwangsverheiratungen und innerfamiliärer
Gewalt kommt, die Möglichkeit zu schaffen, dass sich
der betroffene Ehegatte möglichst schnell und unbüro-
kratisch von seinem Partner trennen kann.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614308500

Herr Kollege, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu

kommen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1614308600

Es geht also nicht darum, eine Opferrolle auf Lebens-

zeit zu perpetuieren.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist ein zynischer Ansatz!)


Die heute zu beratenden Anträge der Opposition sind
nicht zielführend und gehen völlig am Thema vorbei. Sie
sind abzulehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einmal Opfer, immer Opfer!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614308700

Jetzt spricht Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1614308800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gewalt gegen Frauen und Kinder ist verabscheuungs-
würdig. Das gilt auch für die besondere Ausprägung der
Zwangsverheiratung, die gegen das Recht auf Selbstbe-
stimmung gerichtet ist, wovon vorzugsweise Frauen und
Mädchen betroffen sind. Insoweit, Herr Kollege Stephan






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit
Mayer, bin ich mit dem Anfang Ihres engagierten Rede-
beitrags ausdrücklich einverstanden; ich sage das auch
namens der SPD-Fraktion.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur mit dem Anfang!)


Dieses Einverständnis reicht dann noch so weit: Ehe-
gattennachzug, Altersgrenze von 18 Jahren, das ist okay.
Das entspricht unserem Rechtssystem. Der Regelfall für
die Eheschließung ist nun einmal die Volljährigkeit, es
sei denn, das Vormundschaftsgericht bestimmt das an-
ders. Wir sollten darauf achten – das möchte ich bei der
Gelegenheit einmal sagen –, dass, etwa bei der Umset-
zung von EU-Recht, entsprechend deutschem Rechts-
verständnis ausgeschlossen wird, dass Minderjährige
heiraten können.

Damit endet dann schon fast die Übereinstimmung.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das beruhigt mich! Ich bin schon unsicher geworden, Herr Veit!)


Ich persönlich – das gilt auch für einen großen Teil der
SPD-Fraktion – halte überhaupt nichts davon, den vor-
herigen Erwerb von Deutschkenntnissen zur Bedingung
für den Ehegattennachzug zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Das haben wir in der Koalition aber beschlossen! Das ist Ihnen schon bewusst, nicht?)


– Lieber Kollege Grindel, ich weiß, dass wir das be-
schlossen haben. Ich werde aber doch noch sagen dür-
fen, dass mich das schmerzt und dass das nicht meiner
Überzeugung entspricht.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir sind hier nicht in der Therapiegruppe, sondern im Deutschen Bundestag, Herr Kollege! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber die hätten Sie nötig!)


Ich halte sehr viel mehr davon, zu sagen, die Betreffen-
den möchten bitte in Deutschland Deutsch lernen.


(Sönke Rix [SPD]: Aber Fraktionen dürfen doch eigene Positionen haben! – Weitere Zurufe)


– Frau Präsidentin, geht dieser Dialog von meiner Rede-
zeit ab? – Gut.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614308900

Sie haben den Vorteil, dass Sie das Mikrofon haben.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1614309000

Ich komme zurück zum Thema. Wenn Sie mir freund-

licherweise zuhören würden!

Straftatbestand der Zwangsverheiratung. Die Sach-
verständigenanhörung im Familienausschuss hat jeden-
falls nach meiner Überzeugung ergeben: Der durch
Rot-Grün geschaffene Strafrahmen in § 240 StGB – be-
sonders schwerer Fall der Nötigung – reicht völlig aus.
Einige Sachverständige haben uns aber gesagt: Wegen
der generalpräventiven Wirkung, wegen der besseren
Sichtbarmachung für alle, die sonst unter Umständen
Täter werden könnten, wäre eine Änderung sinnvoll. Da
bin ich bei Ihnen, Frau Kollegin Noll. Wenn wir darüber
einig sind, dies unter eine eigene Überschrift, unter einen
eigenen Paragrafen zu fassen: Wer sollte uns dann daran
hindern?

Nächster Punkt: eigenständiges Aufenthaltsrecht für
von Zwangsverheiratung Betroffene. Ich darf darauf hin-
weisen, dass nach der Gesetzesvorschrift – sie ist übri-
gens nicht verschärft worden, liebe Kollegin Dağdelen;
sie hat so schon existiert – in besonderen Härtefällen von
der Frist von zwei Jahren – Rot-Grün hat sie 1999 auf
zwei Jahre festgesetzt – abgewichen werden kann. Aber
ich stimme meiner Kollegin Graf darin zu, dass es natür-
lich besser wäre, wenn man das ausdrücklich ins Gesetz
schreiben würde. Ich sage wiederum an das ganze Haus,
insbesondere aber an die Kolleginnen und Kollegen von
der Union: Wenn wir uns auch darüber einig sind, dann
sollten wir uns nicht daran hindern lassen, entsprechend
zu verfahren.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme auf einen letzten Punkt zu sprechen; ich
halte ihn für den allersensibelsten. Es geht um das Wie-
derkehrrecht, sowohl für Minderjährige als auch für
Volljährige, die im Ausland – sei es, dass sie verschleppt
worden sind, sei es, dass sie aus einem anderen Grund
dort waren – gegen ihren Willen verheiratet worden sind.
Hier müssen wir alle aufpassen, dass wir uns durch die
Untätigkeit des Gesetzgebers nicht selbst zum Vollstre-
cker an den Opfern machen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das richtet sich aber bitte nicht an alle! Es reicht, wenn es an die Union gerichtet ist!)


sie dort, wo sie verheiratet worden sind, in ihrer Zwangs-
lage sozusagen noch festhalten, anstatt dafür zu sorgen,
dass sie unter vernünftigen Bedingungen nach Deutsch-
land zurückkehren können. Ich weiß, dass das ein Punkt
ist, über den in der Unionsfraktion und unter Regie-
rungsmitgliedern aus der Union nachgedacht wird. Ich
hatte in der Sachverständigenanhörung auch den Ein-
druck, dass wir uns darüber parteiübergreifend eigentlich
einig waren.

Ich sage noch einmal: Es kann nicht sein, dass je-
mand, der gegen seinen Willen in einem anderen Land
festgehalten wird – vorzugsweise geht es um junge
Frauen –, gehindert wird, nach Deutschland zurückzu-
kehren, um sich so aus dieser Zwangslage zu befreien,
indem wir sagen: Nach sechs Monaten erlischt das Auf-
enthaltsrecht. – Das dürfen wir nicht zulassen.

Neben allem, über das wir uns vielleicht einig sind
– eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehefrauen, eige-
ner Straftatbestand, Wiederkehrrecht –, sage ich etwas
noch einmal ganz pointiert.






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614309100

Herr Kollege!


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1614309200

Ich komme zum Schluss. – Letzter Satz: Wir müssen

wirklich aufpassen, dass wir nicht zum Vollstrecker an
den Opfern der Täter werden, die sie gegen ihren Willen
zwangsverheiratet haben. Das meine ich sehr ernst. Ich
bitte Sie alle, darüber noch einmal nachzudenken und
vielleicht mitzuhelfen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614309300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7680 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Fe-
derführung strittig. Während die Fraktionen von CDU/
CSU und SPD die Federführung beim Innenausschuss
wünschen, möchte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Darüber müssen wir abstimmen.

Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Wer für diesen Überweisungsvor-
schlag ist, möge bitte die Hand heben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dieser Vorschlag ist damit bei
Zustimmung durch die drei Oppositionsfraktionen und
bei Gegenstimmen von den Koalitionsfraktionen abge-
lehnt.

Ich lasse jetzt abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Fe-
derführung beim Innenausschuss. Wer ist für diesen
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist dieser Überweisungsvorschlag so ange-
nommen.

Ich komme zum Tagesordnungspunkt 8 a, nämlich
der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/4910.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/61 mit
dem Titel: „Zwangsverheiratung bekämpfen – Opfer
schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen und bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal-
tung der FDP-Fraktion angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1156
mit dem Titel: „Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Op-
fer stärken und schützen – Gleichstellung durch Inte-
gration und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Diese Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen
von FDP und der Linken und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/4910 empfiehlt der Ausschuss schließlich die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/1564 mit dem Titel: „Für einen Schutz
der Opfer von Zwangsverheiratungen, für die Stärkung
ihrer Rechte und die längerfristige Bekämpfung der Ur-
sachen patriarchaler Gewalt“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustim-
mung durch die Koalitionsfraktionen, bei Gegenstim-
men von der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung von
FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b
auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Tierschutzbericht 2007

– Drucksache 16/5044 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Tierschutzgesetzes

– Drucksache 16/7413 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Es ist verabredet, hierüber eine Stunde zu debattie-
ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Gerd Müller für die
Bundesregierung.

Dr
Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1614309400


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr gern hätte ich auch gesagt: „Liebe Tiere!“;


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Hat hier jemand seinen Hund mitgebracht? – Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Wo sind die Tiere? Hier dürfen sie nicht rein!)


denn bei diesem Tierschutzbericht geht es schließlich
um die Situation der Tiere im Land.

Ich erhebe die Stimme für die Tiere in unserem Land.
Wenn der eine oder andere sich die Frage stellt, ob die






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
heutige Debatte überhaupt notwendig ist, antworte ich:
Ja, selbstverständlich! In Deutschland gibt es 23 Millio-
nen Haustiere und über 100 Millionen Nutztiere in den
Ställen, zum Beispiel 26 Millionen Schweine. In jedem
dritten Haushalt gibt es ein Tier; 7,5 Millionen Katzen
und 5 Millionen Hunde. Hinzu kommen noch die vielen
freilebenden Tiere.

Ehrfurcht vor dem Leben gebietet auch den besonde-
ren Schutz unserer Tiere und die Fürsorge. Auch Tiere
haben eine Würde und ein Recht darauf, dass Probleme
im Zusammenhang mit der Nutzung und der Tierschutz
hier im Parlament behandelt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Denn ohne Tiere stirbt die Natur, und ohne Natur stirbt
der Mensch.

Wir hatten im vergangenen Jahr das Thema „Sterben
unsere Bienen?“. In Amerika ist das millionenfach ge-
schehen. An dieser Stelle zeigt sich der Kreislauf der
Natur: Stirbt die Biene, gibt es keinen Frühling, keine
Bestäubung, keine Natur. An diesem kleinen, aber dra-
matischen Beispiel wird deutlich, welche herausragende
Bedeutung im Zusammenspiel zwischen Mensch, Tier
und Natur den Tieren, auch den freilebenden, zukommt.

Tierschutz ist deshalb sowohl Naturschutz als auch
Menschenschutz. Mit der Vorlage des Tierschutzberich-
tes wollen wir darauf eingehen und über die Fortschritte
in der Frage, wie wir mit unseren Tieren umgehen, be-
richten.

Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle-
gen, nicht nur denen, die jetzt hier anwesend sind. Wir
hatten im letzten Jahr viele fraktionsübergreifende De-
batten. Wir haben den Tierschutz als Staatsziel im
Grundgesetz verankert. Das haben Sie ganz wesentlich
bewirkt. Wir haben heute hohe Tierschutz- und Tierhal-
tungsstandards, und zwar nicht nur in Deutschland. Viel-
mehr haben wir dieses Thema im Rahmen der EU-Rats-
präsidentschaft auch in Europa auf die Agenda gesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das verdient natürlich ein Lob.

Beim Thema Tierschutz geht es ganz besonders um
die Frage, welche Standards wir in Deutschland und Eu-
ropa setzen. Bundesminister Seehofer hat im Rahmen
der deutschen Ratspräsidentschaft ganz erheblich dazu
beigetragen, dass auch auf europäischer Ebene das
Schützen und Nützen von Tieren in einem ausgewoge-
nen Verhältnis steht. Dazu nenne ich einige Punkte, die
ich natürlich nur kurz markieren kann: Wir haben uns für
eine europäische Tierschutzkennzeichnung stark ge-
macht. Minister Seehofer und die Bundesregierung ha-
ben sich des Weiteren für international gültige Mindest-
standards eingesetzt; denn es nützt nichts, nur in
Deutschland Standards zu setzen. Denn ansonsten gibt
es eine Abwanderung insbesondere im Nutztierbereich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das ist uns gelungen. Ich nenne den Punkt Cross-
Compliance. Dieser Rahmen gilt für die Haltung von
Nutztieren in den 27 Staaten der EU. Ich nenne die
Richtlinie zur Haltung von Masthühnern und die Verord-
nung hinsichtlich eines Importverbots von Hunde- und
Katzenfellen, ein ganz entscheidendes Thema.

Ein weiteres Anliegen auf europäischer Ebene war
uns, allen Fraktionen – ausgegangen ist das von den Re-
gierungsfraktionen –, die Bekämpfung der illegalen Fi-
scherei im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft. Es nützt
nichts, in mühseligen Verhandlungen Schutzquoten zu
vereinbaren, wenn wir dieses Problem international,
nicht nur in Europa, nicht in den Griff bekommen. Tier-
schutz muss deshalb auch auf die Agenda der WTO.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber wer sich europa- und weltweit durchsetzen will,
muss zunächst zu Hause vorbildliche Arbeit leisten. Dies
haben wir getan. Diese Koalition geht in Deutschland
mit der Schaffung von vorbildlichen Standards voran. So
ist es uns gelungen, den Tierschutz bei der Nutztierhal-
tung fortzuentwickeln, ohne die Wettbewerbsfähigkeit
unserer Landwirtschaft aus den Augen zu verlieren. Herr
Goldmann, nicht nur den Bauern, sondern auch den Tie-
ren in den Ställen geht es unter dieser Regierung besser.
Das ist ganz wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst Burgbacher [FDP]: Fragen Sie mal die Tiere!)


Wir haben neue und bessere Standards für die Tierhal-
tung nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt. In-
nerhalb von zwölf Monaten haben wir neue Standards
für die Haltung von Schweinen und Legehennen ge-
schaffen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die
Einführung der Kleingruppenhaltung bei Legehennen.
Deutschland ist hier vorangegangen, um eine sinnvolle
und tragfähige Alternative zur Käfighaltung zu entwi-
ckeln. Wir haben auch neue Standards für die Haltung
von Pelztieren – ebenfalls ein wichtiges Thema – und
von Zirkustieren geschaffen. Das sind vier sehr zentrale
und wichtige Bereiche.

Ich möchte noch kurz zum Thema Tiertransporte
kommen. Bei den Tiertransporten ist es uns auf europäi-
scher Ebene durch politischen Druck endlich gelungen
auf, den Irrsinn zu beenden, dass nur der Subventionen
wegen Tiere durch Europa transportiert werden. Lange
haben wir darüber diskutiert. Nun ist es endlich gelun-
gen, ein klares Signal auszusenden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Man konnte die schrecklichen Bilder im Fernsehen se-
hen. Zwischenzeitlich haben wir in Deutschland hohe
und höchste Standards beim Tiertransport gesetzt: vom
Tränken bis zur Temperatur in den Lkws.

Die Bundesregierung geht Schritt für Schritt erfolg-
reich voran. Wir machen Front gegen das brutale Ab-
schlachten der Robben. In dieser Woche stand dieses
Thema im Bundeskabinett auf der Tagesordnung. Wir






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
setzen die Forderung aller Fraktionen des Bundestages
um, ein nationales Verbot für den Import, die Verarbei-
tung und das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen
zu erlassen. Wir sind alle einer Meinung: Die Robben-
jagd muss ein Ende haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deutschland muss noch ein Stück Überzeugungsarbeit
mit Blick auf die Mitgliedstaaten der EU und die WTO
leisten.

Ebenso klar ist unsere Position gegen den Walfang
und die illegale Fischerei, die ich schon genannt habe.
Bei der Fischerei ist uns sehr wichtig, dass – über die eu-
ropäischen Meere hinaus – die Abfischung der Welt-
meere Beachtung findet. Der weltweite Artenschutz,
nicht nur bei Fischen, verlangt unseren vollen Einsatz.
Von weltweit circa 1,5 Millionen Tierarten sterben täg-
lich zwischen 100 bis 150 aus. Auch hier dürfen wir die
Probleme nicht nur beklagen und auf die europäische Ta-
gesordnung setzen, sondern wir müssen national han-
deln. Deshalb hat die Bundesregierung mit der Strategie
zur biologischen Vielfalt, einem Programm zur Erhal-
tung von Arten und Lebensräumen, 330 konkrete Maß-
nahmen auf den Weg gebracht.

Ich verkenne aber nicht, dass es in der Zukunft noch
Problembereiche gibt. Ein Problembereich, der auch im
Tierschutzbericht angesprochen worden ist, ist das
Thema Tierversuche. Leider haben wir in den vergange-
nen zwei Jahren eine Steigerung der Anzahl der Tierver-
suche. Wir brauchen die Erkenntnisse aus Tierexperi-
menten, aber der Trend einer steigenden Anzahl von
Tierversuchen muss gestoppt und umgekehrt werden.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Jahr [CDU/CSU])


Wir wissen, dass diese Steigerung mit den rechtlichen
Folgerungen aus der Umsetzung von REACH zusam-
menhängt. Aber es kann nicht sein, dass wir in den
nächsten Jahren eine Steigerung von 4,5 Prozent haben.
Deshalb brauchen wir Alternativmethoden. Auch hier
geht die Bundesregierung voran. Wir werden die ZEBET
stärken und dort ein nationales Referenzzentrum einrich-
ten. Doppelversuche müssen vermieden werden. Wir
werden in den nächsten Monaten über dieses Thema im
Rahmen der Novelle zur EU-Tierschutztransportverord-
nung mit den europäischen Partnern diskutieren.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614309500

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr
Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1614309600


Der Tierschutzbericht wird in Zukunft alle vier Jahre
vorgelegt. Wir wollen mit dem zukünftigen Tierschutz-
bericht ein Stück weit Grundsatzfragen angehen und
langfristige Entwicklungen aufzeigen, über aktuelle Da-
ten aber permanent, also jedes Jahr, über das Internet,
aber auch hier im Parlament mit Ihnen diskutieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614309700

Herr Kollege!

Dr
Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1614309800


Tierschutz hat viele Dimensionen und einen hohen
Stellenwert. Er geht uns alle an.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614309900

Hans-Michael Goldmann hat jetzt das Wort für die

FDP-Fraktion.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1614310000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich werde jetzt ein bisschen abprüfen, ge-
schätzter Herr Staatssekretär, ob das, was Sie gesagt ha-
ben, nämlich dass es den Bauern und den Tieren besser
geht, etwas mit Ihrer Politik zu tun hat.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vorweg möchte ich feststellen: Ganz so toll kann Ihre
Politik nicht sein; denn ansonsten wäre gar nicht zu ver-
stehen, warum der Tierschutzbericht zukünftig nur noch
alle vier Jahre vorgelegt wird.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Normalerweise versucht eine Regierung, mit ihren Er-
folgen zu glänzen. Deswegen gehe ich einmal davon aus
– ich werde jetzt versuchen, das zu belegen –, dass die
Erfolge vergleichsweise bescheiden sind. Oder sehen Sie
die Vorlage des Tierschutzberichtes nur noch alle vier
Jahre als eine Maßnahme im Sinne des Bürokratieab-
baus, über den wir in dieser Woche schon im Ausschuss
diskutiert haben?

Ich beginne einmal mit ein paar formalen Dingen.
Man muss dem einen oder anderen Zuhörer einmal klar-
machen, über was wir heute reden. Wir reden im We-
sentlichen über die Zahlen und Ergebnisse des Jahres
2005, wenn es zum Beispiel um die Tierversuche geht.
Diese sind Bestandteil des Tierschutzberichtes 2007. Sie
haben es angesprochen: Die Zahlen sind gestiegen. Die
Zahl der Wirbeltierversuche hat sich von über 2 412 000
auf 2 518 000 erhöht. Unser gemeinsames Ziel war es ei-
gentlich immer, in diesem Bereich besser zu werden. Ich
kann die Wissenschaft und uns selbst nur immer wieder
dazu auffordern, auf Alternativmethoden zu setzen, sich
klarzumachen, dass Tierversuche wirklich nur dann
durchgeführt werden, wenn sie zwingend notwendig
sind, um ganzheitliche Prozesse zu erfahren. Wir sind in
diesem Bereich nicht gut; wir alle müssen in diesem Be-
reich besser werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann
Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Bei
diesem Thema ist man ja meist sehr direkt betroffen. Ich
selbst liebe Tiere. Wir haben eine Katze. Sie hört jetzt zu
Hause auch zu, so nehme ich an.


(Heiterkeit bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


– Die liegt jetzt wahrscheinlich bei meiner Frau auf dem
Schoß und muss mit zuhören.

Es gab bei Mastkaninchen unerträgliche Haltungsbe-
dingungen. Was haben Sie gemacht? Sie haben nichts
gemacht. Wer etwas getan hat, war die Wirtschaft. Die
hat nämlich eine Qualitätsgemeinschaft für Kaninchen-
fleisch gegründet und hat im Grunde genommen eine in-
ternationale Vernetzung hinbekommen, also nicht nur
auf dem nationalen Markt, sondern auch im Hinblick auf
südamerikanische Märkte. Hier zeigt sich: Da man die
Dinge national nicht aufgreift und auch auf europäischer
Ebene keine Initiativen in Gang bringt, kann man richtig
froh sein, dass die auch von Ihnen manchmal sehr ge-
scholtene Wirtschaft hier Vorreiter ist. Ich bedanke mich
bei der Wirtschaft dafür, dass sie entscheidend dazu bei-
getragen hat, dass sich die Bedingungen des Schutzes
von Kaninchen verbessert haben.


(Beifall bei der FDP)


Nehmen wir ein drittes Beispiel. Wir haben in dieser
Woche im Ausschuss über die Blauzungenkrankheit ge-
sprochen. Ich weiß, dem einen oder anderen passt es
nicht; aber die Bundesregierung hat geschlafen. Die
Bundesregierung hat falsche Aussagen getätigt. Sie hat
auf der Grünen Woche signalisiert – Kollege Priesmeier
hat dies im Ausschuss deutlich gemacht –: Wir stehen
unmittelbar vor der Chance des Impfens. Die Chance des
Impfens hat nicht nur etwas mit dem Schutz der Tiere zu
tun, wenn es darum geht, sie zu exportieren, sondern
ganz entscheidend damit, dass Schmerzen bei den Tieren
vermieden werden. Nun mussten wir im Ausschuss fest-
stellen: Es ist kein Impfstoff da. Er kommt möglicher-
weise in ein paar Wochen oder auch erst in Monaten.
Nur, dann ist es viel zu spät, um den Schutz der Tiere zu
gewährleisten.

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie hätten das
Ohr an allen Dingen, die sich entwickeln. Ich frage
mich: Wie kann so etwas passieren? Vier große ernst zu
nehmende Firmen kündigen an, dass sie einen Impfstoff
haben. Diese Information landet in Ihrem Haus und bei
den Forschungseinrichtungen, zum Beispiel auf Riems.
Dann stellen Sie auf einmal fest: April, April! Es wurde
noch gar kein Feldversuch mit diesen Impfstoffen ge-
macht; wir können sie überhaupt nicht einsetzen. – Dann
fordern wir die Länder auf: Besorgt euch Impfstoffe!
Hessen koordiniert das. Jedem wird gesagt: Seht bloß zu,
dass ihr etwas davon bekommt; denn nachher ist nichts
mehr da. – Ich meine, dass es im Sinne des Tierschutzes
ein eklatantes Versagen ist, was die Bundesregierung da
an den Tag legt.


(Beifall bei der FDP)

Ich will noch einmal betonen: Wir sagen seit gerau-
mer Zeit, dass wir impfen müssen anstatt zu töten. Die
intensiven Haltungsformen, die wir heute haben, sind
nur marktfähig und ethisch vertretbar, wenn wir auch
impfen. Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass bei Seu-
chenausbrüchen Millionen von Tieren gekeult, totge-
schlagen werden. Das versteht kein Verbraucher. Man
muss darauf drängen, dass geimpft wird, und wenn man
die Tiere geimpft hat, muss man mit den Ländern, die
diese abnehmen, in Verhandlung treten. Man muss ihnen
ganz klar sagen: Ihr könnt Fleisch oder Zuchtmaterial
von uns bekommen, aber möglicherweise ist es von Tie-
ren, die geimpft sind. – Darauf muss man hinarbeiten.

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass es den Tie-
ren in Deutschland besser ergangen ist. Ich bin sehr da-
mit einverstanden, dass wir heute nicht mehr darüber re-
den, welche Haltungsform für Legehennen notwendig
ist; das ist abgefrühstückt. Ich bin dafür, dass wir die
Verbesserungen, die wir im Zusammenhang mit der Hal-
tung von Legehennen beschlossen haben, jetzt auch
durchsetzen. Wie Sie aber auf die – ich sage das in An-
führungsstrichen – Schnapsidee gekommen sind, für
jede Haltungsform einen Tierschutz-TÜV einzuführen,
weiß ich nicht.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist für die Tiere gut!)


Sie können doch selber feststellen, zum Beispiel bei den
Schweinen, dass die Landwirte die Dinge hervorragend
regeln. Die Landwirte machen das, was für ihre Tiere gut
ist, weil sie ihre Tiere lieben und weil sie nur mit gutge-
henden Tieren wirtschaftlichen Erfolg haben. Man muss
auch bedenken, dass es schon ein Kuratorium für Tech-
nik und Bauwesen in der Landwirtschaft gibt, das mit
finanzieller Unterstützung Ihres Hauses Standards erar-
beitet. Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regie-
rungserklärung gesagt, man wolle zurück zur Fachlich-
keit. Dabei ist die Fachlichkeit doch bei den Fachleuten
vor Ort gegeben. Ich verstehe daher nicht, warum Sie
hier auf dem Tierschutz-TÜV herumreiten.

Herr Staatssekretär, wie war das denn mit den Hunde-
und Katzenfellen und den Wildvögelimporten? Sie wer-
den sich daran erinnern: Die Regelung ist im Ausschuss
von den Oppositionsfraktionen erkämpft worden.


(Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Oh! Wie wollen Sie das denn stimmenmäßig umsetzen?)


– Waren Sie damals schon dabei, Frau Kollegin? Vor-
sicht!


(Mechthild Rawert [SPD]: Rechnen kann ich auch für die Vergangenheit!)


Wir haben immer gesagt: Lasst uns beim Verbot der
Einfuhr von Hunde- und Katzenfellen Vorreiter sein.
Uns wurde immer gesagt, das gehe nicht,


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau!)


bis die Dänen auf einmal den Vorreiter gespielt haben.
Als wir gesagt haben: „Jetzt wollen wir hinterher, und
zwar mit aller Gewalt“, sind dann die großen Fraktionen






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann
hinzugetreten, und wir haben diese Regelung gemein-
sam erreicht.


(Beifall bei der FDP)


Die Spielregeln sind in diesem Fall relativ klar. Auch bei
der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz waren
wir Vorreiter. Wir sind eindeutig diejenigen, die die
Dinge in Schwung gebracht haben.

Wir können ja versuchen, gemeinsam etwas hinzube-
kommen, was das Thema Wale anbelangt. Ich erinnere
an die furchtbaren Bilder, wie die Walmutter und ihr
Jungtier an Bord gezogen wurden. Ich finde es gut, dass
solche Bilder veröffentlicht werden, so traurig sie auch
sind. Dadurch wird klar, welcher Schwachsinn da betrie-
ben wird und welche Brutalität hier an den Tag gelegt
wird. Wir machen mit den Japanern ein Geschäft nach
dem anderen, und die behaupten rotzfrech: Wir betreiben
den Walfang aus Forschungsgründen. Das ist glatt gelo-
gen. So ähnlich ist die Sache mit den Robben und den
Kanadiern. Es ist überflüssig wie ein Kropf, wenn Tiere
auf diese Art und Weise abgeschlachtet werden.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Das ist in keinerlei Hinsicht mit dem Tierschutz in Ein-
klang zu bringen. Lassen Sie uns gemeinsam vorange-
hen. Dann können wir erfolgreich sein.

Ich bitte Sie aber, noch einmal darüber nachzudenken,
ob es wirklich klug ist, dass wir nur alle vier Jahre über
den Tierschutz debattieren. Schließlich werden Millio-
nen Tiere in Haushalten gehalten, wo die Tierhaltung
zum Teil sicherlich diskussionswürdig ist. Außerdem
werden Millionen Tiere als Nutztiere gehalten, und es
gibt viele internationale Probleme. Wir werden versu-
chen, das Thema Tierschutz im Bundestag auch zukünf-
tig intensiv zur Sprache zu bringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ CSU: Das können Sie alle drei Wochen machen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614310100

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin

Mechthild Rawert.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1614310200

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Werte Gäste! Ich habe keine Katze, die vor dem
Fernseher sitzt, Herr Goldmann. Ich denke auch, dass
das aus Tierschutzgründen ernsthaft überdacht werden
sollte.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich rufe meine Frau an! Die holt die Katze da weg!)


270 000 Sattelrobben wurden im vergangenen Jahr
vom kanadischen Fischerei- und Meeresministerium of-
fiziell zum Töten freigegeben. 270 000 Sattelrobben
wurden allein 2007 in Kanada getötet. Tierschutzorgani-
sationen sprechen von mehr als 400 000 Robben welt-
weit. Dabei gehen die Robbenjäger nicht zimperlich mit
den Robben um. Ich erspare Ihnen Einzelheiten über das
Töten der Robben und das Abziehen der Felle bei leben-
den Robben. Ich bin mir sicher, dass viele von Ihnen
schon Fotos und Reportagen darüber gesehen haben.
Seit Jahren protestieren Öffentlichkeit und Tierschützer
gegen das alljährlich weltweite Abschlachten von Rob-
ben.

Der Bundestag hat der Bundesregierung am 19. Okto-
ber 2006 einvernehmlich – ich betone: fraktionsüber-
greifend einvernehmlich – einen klaren Auftrag erteilt.
Die Bundesregierung wurde aufgefordert, den Import,
die Be- und Verarbeitung und das Inverkehrbringen von
Robbenprodukten wirkungsvoll zu unterbinden. Wir
Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben der Bun-
desregierung den Auftrag gegeben, sich erstens aktiv da-
für einzusetzen, dass es ein europaweites Einfuhr- und
Handelsverbot für Robbenprodukte gibt. Sollte dies
nicht umsetzbar sein, soll es zweitens zu einem nationa-
len Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte
kommen. Der Auftrag ist klar.

Dem Bundeskabinett, also allen Ministerinnen und
Ministern unserer Bundesregierung, wurde diese Woche
ein entsprechender Entwurf seitens des Hauses Seehofer
vorgelegt. Dieser Entwurf wurde vom Bundeskabinett
zur Kenntnis genommen. Das heißt, es passiert erst ein-
mal gar nichts. Ich kenne die Gründe für diese bloße
Kenntnisnahme nicht, aber ich wiederhole: Es gibt einen
klaren Auftrag des Parlamentes. Daher fordern wir von
der SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, diesem in
Bälde nachzukommen. Wir Parlamentarierinnen und
Parlamentarier wollen ein geltendes Verbot. Wir erklä-
ren: Wir wollen es jetzt. Wir wollen in Deutschland
keine gehandelten Robbenprodukte.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE] und der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir setzen ein Verbot für Hundefelle und Katzenfelle
um. Es gibt keinen Grund, Vergleichbares nicht für Rob-
benprodukte zu machen.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: So ist es!)


Die Bundesregierung kann sich nicht zurücklehnen
und zuschauen, wie andere Staaten – beispielhaft die
Niederlande und Belgien – Robben schützen. Durch
Nichtstun verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit in der
eigenen Bevölkerung und auch international. Wer derzeit
in diesem Bereich arbeitet und seine E-Mails liest, weiß,
wie viel Post wir im Augenblick dazu bekommen. Der
Zeitraum vom 19. Oktober 2006 bis heute war für eine
Prüfung lang genug. Wir wollen einen Gesetzentwurf.
Wir haben einen Antrag. Wenn es zu keinem Handeln
kommt, dann werden wir aus dem Parlament einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf vorlegen.






(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Rawert

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiteres Thema – es wurde schon angesprochen –
sind die Wale. Für die SPD-Fraktion – Herr Jahr wird
vielleicht gleich für die CDU/CSU-Fraktion noch etwas
dazu sagen – wiederhole ich das, was Herr Goldmann
sagte: Ja, es ist unsäglich, was weltweit, zurzeit insbe-
sondere von Japan, unter dem Schlagwort „Walfang aus
wissenschaftlichen Gründen“ an Schindluder getrieben
wird. Ich weiß, dass die Bundesregierung hier aktiv ist;
aber das reicht noch nicht. Es gibt demnächst in Japan
ein G-8-Treffen. Die Welt weiß, dass das, was derzeit
unter dem Stichwort „Wissenschaftlichkeit“ verkauft
wird – jetzt bin ich aus Freundschaft gegenüber Japan
einmal sehr nett –, absolut antiquiert ist. Es wäre eine
Schande, wenn das, was derzeit als wissenschaftlicher
Standard in Bezug auf Wale propagiert wird, tatsächlich
der wissenschaftliche Standard in Japan wäre. Ich bitte
darum, dem in bilateralen Verhandlungen sehr viel stär-
ker nachzugehen.

Der Tierschutz-TÜV wurde schon angesprochen und
– nicht nur liebevoll – kritisiert. Wir von der SPD-Frak-
tion sagen eindeutig: Er ist uns wichtig. Wir fordern die
Einführung des Tierschutz-TÜV. Wir nehmen das Staats-
ziel Tierschutz damit ausgesprochen ernst. Ich freue
mich, dass heute in erster Lesung der Entwurf eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes
beraten wird. Dieser Gesetzentwurf hat den Tierschutz-
TÜV zum Gegenstand.

Ziel dieses Tierschutz-TÜV ist es, dass serienmäßig
hergestellte Haltungssysteme und Stalleinrichtungen da-
raufhin geprüft werden, ob sie den Bedürfnissen und den
Verhaltensweisen der Tiere entsprechen, ob sie somit
tiergerecht sind. Dies muss natürlich geschehen, bevor
die Haltungssysteme und Stalleinrichtungen in den Han-
del kommen. Nur durch ein solches obligatorisches Prüf-
verfahren können Schmerzen, Leiden und Krankheiten
unzähliger Tiere, die durch nicht tiergerechte Haltungs-
systeme entstehen, wirksam und endgültig verhindert
werden.

Das geplante Prüf- und Zulassungsverfahren soll also
dazu dienen, dass zukünftig nur noch auf Tiergerechtig-
keit geprüfte und zugelassene serienmäßig hergestellte
Stalleinrichtungen in den Verkehr kommen. Ich betone
ausdrücklich: Dieses Verfahren dient also auch den Hal-
tern von Nutztieren und den Stallbaufirmen. Es bringt
Rechtssicherheit bezüglich des Einsatzes neuer Hal-
tungssysteme. Stallbaufirmen können auf fachkundige
Beratung bei der Weiterentwicklung von Haltungssyste-
men bauen. Es liegen schon entsprechende Standards,
entwickelt von einem Kreis von Expertinnen und Exper-
ten, vor.

Auch als Verbraucherschützerin fordere ich den Tier-
schutz-TÜV. Das Prüf- und Zulassungsverfahren ent-
spricht dem Wunsch vieler Verbraucherinnen und Ver-
braucher nach einer tiergerechten Haltung von
Nutztieren in der Landwirtschaft. Viele Verbraucherin-
nen und Verbraucher achten bei ihrem Einkauf darauf,
dass sie gute und hochwertige Produkte kaufen. Sie le-
gen damit großen Wert auf die Haltungsbedingungen der
jeweiligen Tiere. Durch die serienmäßige Prüfung von
Haltungssystemen und Stalleinrichtungen kann somit
auch einer Irreführung von Verbraucherinnen und Ver-
brauchern vorgebeugt werden. Der Aspekt „tiergerechte
Haltung“ ist letztendlich ein unbestimmter, manchmal
auch vager Begriff. Diesen wollen wir hiermit konkreti-
sieren. Es muss endlich selbstverständlich werden, dass
unsere Nutztiere tiergerecht aufwachsen und gehalten
werden.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal
den vielen Tierschützerinnen und Tierschützern in
Deutschland danken, die sich dem Staatsziel Tierschutz
durch ihre tagtägliche – häufig ehrenamtliche – Arbeit
widmen. Sie leisten Großartiges für das Zusammenleben
von Mensch und Tier.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die SPD ist und bleibt eine Tierschutzpartei.


(Lachen des Abg. Dr. Peter Jahr [CDU/ CSU] – Peter Bleser [CDU/CSU]: Wenn das alles ist!)


Von der heutigen Debatte erwarten wir also das baldigste
Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte, die
schnelle Einführung eines Tierschutz-TÜV durch die
Verabschiedung dieses Gesetzes und ein noch stärkeres
Eintreten der Bundesregierung für den Schutz der Wale.
Wir wollen der Würde von Tier, Mensch und Umwelt
tatkräftig gerecht werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614310300

Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614310400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Tierschutzbericht 2007 dokumentiert die
beharrliche Lethargie der Bundesregierung, auch wenn
Staatssekretär Müller die Würde der Tiere angesprochen
hat; Herr Müller, Ihre Rede war ja nett. Aber auch die
meisten Landesregierungen sind da nicht besser; denn
einiges, wofür Tierschutzverbände und Öffentlichkeit
jahrelang gekämpft haben, wurde im Bundesrat zurück-
gedreht.

2002 wurde nach langem Gezerre endlich das Käfig-
halteverbot für Legehennen beschlossen – mit unseren
Stimmen. 2006 wurde es wieder aufgehoben – gegen un-
sere Stimmen. Der Renner sollen jetzt die sogenannten
ausgestalteten Käfige sein. In ihnen darf bald lustig ge-
pickt und gescharrt werden. Die glücklichen Hühner
bekommen sogar eine Sitzstange, auf dass sie fleißig
Eier legen – das Ganze allerdings auf 800 Quadratzenti-
metern je Huhn. Das sind ganze 50 Quadratzentimeter
mehr als bei der konventionellen Käfighaltung. Damit
steht einem Huhn statt des Platzes eines DIN-A4-Blattes






(A) (C)



(B) (D)


Eva Bulling-Schröter
nun der Platz eineinhalb DIN-A4-Blätter zur Verfügung.
Ich finde, diese Form der Käfighaltung ist nach wie vor
ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Diese Käfige erlauben nicht einmal annähernd eine ver-
haltensgerechte Unterbringung. Nach wie vor gilt: Sie
gehören verboten.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun liegt ein neuer Gesetzentwurf vor, durch den die
Lage der Tiere verbessert werden soll. Die Bundesregie-
rung will in das Tierschutzgesetz eine Verordnungser-
mächtigung aufnehmen, um mit einer Verordnung ir-
gendwann ein Verfahren zur Prüfung und Zulassung
serienmäßig hergestellter Stalleinrichtungen zu regeln.
Dabei handelt es sich, kurz gesagt, um eine Art TÜV für
Haltungseinrichtungen. Dieser soll gewährleisten, dass
Nutztiere nur noch in Stallungen gehalten werden, die
tierschutzkonform sind bzw. – besser gesagt – dem ent-
sprechen, was der Gesetzgeber unter „tierschutzkon-
form“ versteht.

Die Linke begrüßt natürlich, dass Haltungseinrichtun-
gen, die gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen, gar nicht
erst in den Verkehr kommen; das war längst überfällig.
Aber zu Ihrer Information: In der Schweiz wird ein sol-
ches Zulassungsverfahren bereits seit 1981 praktiziert.
Sie sind ein bisschen spät dran, meine Damen und Her-
ren.

Wer eine artgerechte und tierfreundliche Nutztierhal-
tung will, der muss natürlich an den Kriterien ansetzen.
Im Falle der Legehennen wurde das Rad der Geschichte
gerade zurückgedreht. Schließlich haben die ausgestalte-
ten Minikäfige mit Tierschutz genauso wenig zu tun wie
Horst Seehofer – leider ist er heute nicht hier – mit der
Nürnberger Flocke, selbst wenn die Gatter künftig ein
Siegel tragen werden.

Es geht aber nicht nur um Legehennen. Was wir brau-
chen, ist eine tiergerechte Geflügelhaltung, die auch
Masthühner umfasst. Im Mai 2007 beschloss der EU-
Agrarministerrat eine Richtlinie zum Schutz von Mast-
hühnern in Beständen mit mehr als 500 Tieren. Dem-
nach dürfen pro Quadratmeter 33 Kilogramm gehalten
werden. Wenn die Bedingungen besonders exzellent
sind, dürfen sich sogar bis zu 42 Kilogramm auf einem
Quadratmeter tummeln. Doch bereits ab 25 Kilogramm
pro Quadratmeter lassen sich Verhaltensauffälligkeiten
und körperliche Schäden an Fußballen und Gelenken
von Masthühnern nachweisen. Herr Seehofer lobte diese
Katastrophe als großen Erfolg für die tiergerechte Mast-
huhnhaltung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst kürzlich hat die
Koalition dem Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung
und Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen
Genehmigungsverfahren zugestimmt. Der Vorwand da-
für war unter anderem der Bürokratieabbau. In Wirklich-
keit ging es jedoch um den Abbau von Bürgerbeteili-
gung und Umweltstandards. Zudem ist dieses Gesetz ein
Verrat am Tierschutz. So wurde die Höhe der Immis-
sionswerte, ab der Umweltverträglichkeitsprüfungen
stattzufinden haben, teilweise mehr als verdoppelt. Jetzt
können großindustrielle Mastanlagen, zum Beispiel für
Schweine, viel einfacher gebaut werden als früher. Auch
der Ablauf des Genehmigungsverfahrens wurde verän-
dert. Erörterungstermine, eine wichtige Einrichtung zur
Beteiligung der Öffentlichkeit an bestimmten Bauvorha-
ben, können stattfinden oder nicht; sie müssen nicht
stattfinden. Das liegt ganz im Ermessen der Genehmi-
gungsbehörde und der Investoren, die sich natürlich die
Hände reiben; das ist klar.

Jetzt zum Tierschutzbericht 2007. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Zahl der Tierversuche in Deutschland
nimmt nicht ab, sondern, wie wir gehört haben, weiter
zu. Insbesondere der Bereich der biotechnologischen
Forschung ist für die Zunahme der Zahl der Tierversu-
che verantwortlich. Bis ein transgenes Tiermodell – ich
finde übrigens, das Wort „Tiermodell“ sollte zum Un-
wort des Jahres gewählt werden – forschungsreif eta-
bliert ist, stellen 99 Prozent der bis dahin verwendeten
Tiere sogenannten Ausschuss dar. Ich wiederhole:
99 Prozent. Diese Tiere erscheinen übrigens nicht in der
Tierversuchsstatistik. Einer Studie zufolge lassen sich
Tierversuchsergebnisse nicht einmal in 1 Prozent der
Fälle auf den Menschen übertragen. Ein armseliges Er-
gebnis für den hochgepriesenen medizinischen Nutzen!
Ein Armutszeugnis für das Staatsziel Tierschutz! Ich
meine, hier muss sich schleunigst etwas ändern.

Ich fordere die Bundesregierung auf, sich für ein so-
fortiges Ende von versteckten Tierversuchen für Kosme-
tikartikel, fragwürdigen Chemikalientests und Versu-
chen an Affen einzusetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir alle wissen, dass mit Versuchen an Primaten auch
der Handel mit wild gefangenen Arten verbunden ist.
Das darf nicht länger geduldet werden. Schließlich wer-
den in Europa jährlich 10 000 Affen für Giftigkeitstests
und Hirnversuche „verbraucht“; allein hierzulande sind
es 2 000.

Stellen Sie sich also nicht länger quer, auch nicht,
wenn es darum geht, ein Verbandsklagerecht für Tier-
schutzverbände einzuführen! Werden Sie aktiv! Lassen
Sie dem Staatsziel Tierschutz endlich Taten folgen! Der
Tierschutzbericht darf auch nicht nur alle vier Jahre er-
scheinen. Meine Kollegen von der Opposition haben es
bereits gesagt: Wir müssen zurück zu einem Abstand
von höchstens zwei Jahren. Oder wollen Sie dem Philo-
sophen Max Horkheimer recht geben? Er hat schon 1934
über die Tiere geschrieben, sie seien die unterdrücktes-
ten aller Klassen im Kapitalismus.


(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert [SPD]: Der Schluss war wirklich philosophisch; das muss ich anerkennen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614310500

Jetzt hat Cornelia Behm das Wort für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614310600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Staatssekretär Müller hat für die Tiere
gesprochen oder wollte es zumindest tun. Schöne Worte;
aber die Praxis sieht anders aus. Denn lässt man Revue
passieren, wie es unter Schwarz-Rot um den Tierschutz
steht, muss man leider feststellen, dass es kaum Fort-
schritte gibt, dafür aber massive Rückschritte.

Insbesondere im Bereich der industriellen und land-
wirtschaftlichen Haltung von Tieren besteht deutlicher
Verbesserungsbedarf. Die Zahl der tierschutzwidrigen
Haltungsformen ist entgegen vieler schöner Worte und
Beschwichtigungen erheblich. Beispielsweise werden
Kaninchen in Käfigen unter Bedingungen gehalten, die
von der Bevölkerung zu Recht als abstoßend empfunden
werden. Meist stehen den Tieren nicht einmal Ruhebe-
reiche zur Verfügung, und das, obwohl das Bundesver-
fassungsgericht bereits 1999 in seinem Legehennenurteil
dem artgemäßen, ungestörten Ruhen aller Tiere – nicht
nur der Legehennen – besonderes Gewicht verliehen hat.

Legehennen werden weiterhin in Käfigen gehalten.
Zwar hat die rot-grüne Bundesregierung in Folge des Le-
gehennenurteils die Abschaffung dieser Haltungsform
zum 31. Dezember 2006 beschlossen. Durch die Zweite
Verordnung zur Änderung der Geflügel-Aufstallungs-
verordnung zugunsten der Einführung neuer, geringfü-
gig vergrößerter Käfige hat diese Regierung den tier-
schutzrechtlichen Fortschritt jedoch wieder aufgehoben.
Da nützt es auch nichts, dass diese Käfige in Kleinvolie-
ren umbenannt wurden. Legehennen brauchen keine
Wortakrobatik, sie brauchen anständige, artgerechte Le-
bensbedingungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mastschweine und Ferkel werden weiterhin in ein-
streulosen Ställen auf Vollspaltenböden gehalten, sind
gezwungen, ständig die durch die Spalten dringenden
Ausdünstungen des eigenen und des fremden Kots ein-
zuatmen, weshalb sie in großer Zahl unter Husten und
Lungenschäden leiden. Muttersauen werden unter er-
bärmlichen Bedingungen eingepfercht. Auch Kälber und
Mastrinder werden vielfach auf Vollspaltenböden ohne
Liegebereiche mit Einstreu und ohne ausreichenden Be-
wegungsraum gehalten.

Wenn wir als Gesellschaft dem Anspruch des im
Grundgesetz verankerten Staatsziels Tierschutz gerecht
werden wollen und wenn sich die Politik von dem Vor-
wurf befreien will, nur dann aktiv zu werden, wenn es
um Wählerstimmen geht, dann muss hier gehandelt wer-
den.

Deshalb müssen umfassend tiergerechte Haltungssys-
teme eingeführt werden, und wir brauchen anspruchs-
volle Prüf- und Zulassungsverfahren für serienmäßige
Haltungssysteme und Zubehöre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der von der Bundesregierung vorgelegte Regelungs-
vorschlag ist hier aber völlig unzureichend. So ist in ihm
entgegen früheren Zusagen von Minister Seehofer keine
Beteiligung der Tierschutzverbände vorgesehen. Die
Prüfung soll – ich zitiere – auf juristische Personen des
privaten Rechts übertragen werden. Derartig unspezi-
fisch formuliert eröffnet dies auch die Möglichkeit, dass
Nutzerorganisationen damit betraut werden. Ich hoffe,
dass das nicht ernsthaft Ihr Ansinnen ist.

Warum fehlt ein Verbot nicht zugelassener Haltungs-
einrichtungen? Warum wird der Verkauf ungeprüfter
Einrichtungen nicht untersagt? Es finden sich in Ihrem
Vorschlag viele Halbherzigkeiten – zu viele.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Schlachttier-
transporte gilt zwar die am 5. Januar 2007 in Kraft getre-
tene EU-Verordnung vom Dezember 2004, mit der die
Ausfuhrerstattungen für Schlachtrinder aus der EU abge-
schafft worden sind, aber das reicht nicht. Diese Verord-
nung steht etwaigen strengeren einzelstaatlichen Maß-
nahmen, mit denen ein besserer Tierschutz für die
transportierten Tiere bezweckt wird, überhaupt nicht ent-
gegen. Solange es um Tiere geht, die ausschließlich im
Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder vom Hoheits-
gebiet eines Mitgliedstaates aus auf dem Seeweg beför-
dert werden – in diesem Falle von Deutschland aus –, ist
der Minister sehr wohl in der Lage – das können Sie ihm
von hier mitnehmen, Herr Staatssekretär –, zu handeln.
Tun sie es endlich!

Es ist unerlässlich, durch eine Änderung des Tier-
schutzgesetzes Schlachttiertransporte zeitlich so zu be-
grenzen, dass die Tiere nur bis zur einer nahe gelegenen
Schlachtstätte, in keinem Fall aber länger als insgesamt
vier Stunden transportiert werden. Das ist zwar noch
keine Lösung des drängenden Problems der internationa-
len Schlachttiertransporte, für die ebenfalls unbedingt
eine nicht verlängerbare Beförderungshöchstdauer von
maximal zweimal vier Stunden eingeführt werden sollte,
aber das wäre ein erster richtiger Schritt.

Die Bundesrepublik Deutschland kann ihr Ziel, eine
solche Transportzeitbegrenzung EU-weit durchzusetzen,
aber nur dann glaubwürdig verfolgen, wenn sie auf na-
tionaler Ebene von den entsprechenden Berechtigungen
Gebrauch macht und damit ein positives Beispiel gibt.
Ich erinnere an die Robben. Dort gibt es genau die glei-
che Situation. Aus den Nationalstaaten müssen positive
Anregungen in Richtung der EU gegeben werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bündnis 90/Die
Grünen steht – das ist wohl allgemein bekannt – für eine
kontinuierliche Verbesserung des Verbraucherschutzes.
Aber es gibt keinen umfassenden Verbraucherschutz
ohne eine artgerechte Haltung und ohne Respekt vor den
Tieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Verbraucher wollen keine Schweine aus Mastfabri-
ken, keine Eier aus Legebatterien und kein Fleisch von
mit Genmais gefütterten Rindern. Wir müssen aber auch
das Bewusstsein dafür schärfen, dass gesunde und artge-
recht erzeugte Produkte ihren Preis haben und auch wert
sind.






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm
Sarah Wiener hat kürzlich die Frage gestellt:

Wie kann denn ein Huhn 3,50 Euro kosten, so viel,
wie eine halbe Stunde Parkplatz in Berlin-Mitte?
Was sind das für Relationen? Wenn ein Tier nichts
wert ist, wird es auch so behandelt.

Schmackhafte und gesunde Lebensmittel haben ihren
Wert und ihren Preis. „Geiz ist geil“ war gestern,
„Klasse statt Masse“ ist Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter Bleser [CDU/CSU]: Der letzte Satz war gut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614310700

Jetzt hat der Kollege Dr. Peter Jahr das Wort für die

Fraktion CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Peter Jahr (CDU):
Rede ID: ID1614310800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, Kollege Goldmann ist gerade verzweifelt dabei,
seine Katze vom Fernseher wegzubekommen.


(Heiterkeit)


Ich habe auch eine Katze und will ihr auch einen Hin-
weis geben: Wenn du jetzt vor dem Fernseher sitzt, dann
scher dich weg und mach das, wozu wir dich gekauft ha-
ben, nämlich in der Natur Mäuse zu fangen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt vom Tierschutz reden!)


Bevor ich dann zum Thema komme, habe ich noch
eine Richtigstellung an den Kollegen Goldmann: Ich
weiß, dass die Opposition manchmal davon lebt, von im
Ausschuss erstatteten Berichten nur den ersten Teil wie-
derzugeben und den zweiten Teil gern zu vergessen.
Hinsichtlich des Impfstoffes zur Blauzungenkrankheit
hat Minister Seehofer eindeutig gesagt, sobald es einen
praxistauglichen Impfstoff gebe, werde er dessen Zulas-
sung mit einer Eilverordnung genehmigen, sodass es aus
dieser Warte überhaupt keinen Zeitverzug gibt. Wir
brauchen natürlich erst einmal einen praxistauglichen
Impfstoff, bevor wir ihn einsetzen können. Es ist redlich
und richtig, dass man, wenn man den ersten Teil eines
Berichtes zitiert, dann auch noch das Ende vorliest. So
viel Zeit muss ganz einfach sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Uns liegt bereits der zehnte Tierschutzbericht der Re-
gierung vor; er muss entsprechend dem Tierschutzgesetz
alle zwei Jahre vorgelegt werden. Er umfasst diesmal
den Zeitraum 2005/2006. Die Bundesregierung stellt be-
reits in der Einleitung fest:

In diesem Zeitraum konnten in konsequenter Um-
setzung des Verfassungsauftrages spürbare Fort-
schritte für den Tierschutz erzielt werden.

Das ist eine bemerkenswert optimistische Einschätzung,
die ich jedoch ausdrücklich teile.
Die gute Arbeit im Verbraucherschutzausschuss des
Deutschen Bundestages und die erfreuliche, konstruk-
tive Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen
untereinander haben erfreuliche Ergebnisse erzielt. Tier-
schutz ist in unserer Gesellschaft und für die verantwort-
lichen Volksvertreter gegenwärtig eine echte Herausfor-
derung zum Handeln, weit über die netten Bilder von
Knut und Flocke hinaus.

Ich führe gern einige Beispiele unserer erfolgreichen
Arbeit an: Mit dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD zur Sicherstellung des Schutzes der
Wale setzten wir uns nachträglich für einen umfassenden
globalen Schutz der Walbestände ein. Das ist schon er-
wähnt worden, aber ich halte es für sehr wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Jeglicher kommerzielle Walfang wurde in diesem An-
trag abgelehnt. Aber auch der wissenschaftliche Wal-
fang, den sich einige Länder noch erlauben, ist nur eine
andere Bezeichnung für eine tödliche Jagd, die dazu bei-
trägt, den Bestand weiter zu dezimieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich erinnere auch an die Robben; wir haben im Aus-
schuss und auch mit der Bundesregierung sehr lange um
eine entsprechende Formulierung gerungen. Die Not-
wendigkeit, hier etwas zu unternehmen, ist begründet
worden, und wir haben uns dafür eingesetzt, dass den
tierquälerischen Grausamkeiten durch ein striktes Ein-
fuhr- und Handelsverbot zu begegnen ist. Eine europäi-
sche Lösung und damit die Bündelung vorhandener na-
tionaler Gesetze wäre sicherlich die bessere Alternative
gewesen, aber solange dieses EU-weite Einfuhrverbot
nicht zustande kommt, ist die Unterbindung des Inver-
kehrbringens von Robbenprodukten in Deutschland die
beste Chance, der jährlichen massenhaften Robbentö-
tung ein Ende zu setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass das Bun-
deskabinett in dieser Woche ein entsprechendes Vorha-
ben auf den Weg gebracht hat. Wir werden es im Aus-
schuss noch bekommen und uns dann gemeinsam
darüber freuen.

Ein weiterer Fortschritt aus tierschutzpolitischer Sicht
ist die Erfassung mobiler Tierschauen und Zirkusbe-
triebe mit Tierhaltung in einem entsprechenden Register.
Dieses Zirkuszentralregister wurde vor allem aufgrund
nicht immer zufriedenstellender Haltungsbedingungen
von Zirkustieren gefordert. Ich halte diesen Ansatz für
weitaus wirkungsvoller, als das Halten von verschiede-
nen Tieren im Zirkus zu verbieten.

Ein weiteres positives Beispiel, bei dem eine europäi-
sche Lösung möglich war, ist das europaweite Einfuhr-
verbot von Hunde- und Katzenfellen. Unter deutscher
Ratspräsidentschaft konnte dieses Vorhaben erfolgreich
abgeschlossen werden. Diese Verordnung tritt am 31. De-
zember 2008 in Kraft.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, der
Tierschutzbericht zeigt jedoch auch neue Handlungsfel-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Jahr
der auf. Angesichts der hohen Zahl der getöteten Ver-
suchstiere – von allen Rednern bisher kritisiert – müssen
wir endlich zu wirksamen nationalen und europäischen
Lösungen kommen. Leider ist im Jahr 2000 die Anzahl
der insgesamt für Versuche und andere wissenschaftliche
Zwecke verwendeten Tiere auf unvorstellbare 2,5 Mil-
lionen Tiere gestiegen. Das war im Vergleich zu 2004 ein
Anstieg um 6,5 Prozent. Das ist zu viel. Um das erklärte
Ziel zu erreichen, die Tierversuche auf das absolut not-
wendige Maß zu verringern, gilt es, weiterhin verstärkt
mögliche Alternativmethoden zu fördern. Erfreulich ist
– Staatssekretär Müller hat es schon erwähnt –, dass
Deutschland mit zwei Förderprogrammen zur Entwick-
lung von Alternativmethoden zu Tierversuchen den weit-
aus größten Beitrag aller EU-Mitgliedstaaten leistet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Auch müssen Wiederholungsversuche eingeschränkt
werden. Wie bereits festgestellt wurde – auch ich bin
dieser Meinung –, ist die europäische Chemikalienver-
ordnung REACH hierbei ein schlechtes Beispiel, weil
der Schadensnachweis von sogenannten Altchemikalien
oft mittels Tierversuchen erbracht wird.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Die bisherigen Ausnahmeregelungen des betäubungs-
losen Tötens von Schlachttieren – gemeinhin als Schäch-
ten bezeichnet – sind aus tierschutzpolitischer Sicht ein
weiteres Ärgernis.


(Kurt Segner [CDU/CSU]: Jawohl!)


Ich werbe an dieser Stelle ausdrücklich für eine Ände-
rung des Tierschutzgesetzes. Ich bin mir sicher, dass im
parlamentarischen Verfahren für alle Beteiligten und da-
von Betroffenen ein praxistauglicher Kompromiss er-
reichbar ist. Ich persönlich bin fest davon überzeugt,
dass auch ein Schächtverfahren inklusive vorheriger Be-
täubung zulässig sein kann. In dieser konkreten Debatte
wünsche ich mir mehr Sachlichkeit und weniger Ideolo-
gie im Interesse der Tiere.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bevor ich schließe, möchte ich auf einen weiteren
positiven Mosaikstein des Tierschutzes, nämlich den
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Änderung des Tierschutzgesetzes – den sogenannten
Tierschutz-TÜV –, eingehen. Neben dem Grundgesetz
legt § 2 des Tierschutzgesetzes fest, dass derjenige, der
ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, sicherstellen
muss, dass das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen
entsprechend angemessen ernährt, gepflegt und verhal-
tensgerecht untergebracht wird. Um es vorwegzuneh-
men: Die meisten Landwirte in Deutschland werden die-
sem Anspruch gerecht.

Der Gesetzentwurf sieht ein obligatorisches Prüf- und
Zulassungsverfahren für serienmäßig hergestellte Stall-
einrichtungen für Nutztiere vor, das für das Inverkehr-
bringen und den Einbau solcher Einrichtungen Voraus-
setzung sein soll. Das Verfahren soll dazu dienen, dass
zukünftig nur serienmäßig hergestellte Stalleinrichtun-
gen zugelassen werden, die auf Tiergerechtheit geprüft
wurden.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Der vorliegende Gesetzentwurf unterstützt insbeson-
dere unsere Landwirte. Wenn jemand seine Stalleinrich-
tungen modernisieren und den wissenschaftlich-techni-
schen Fortschritt nutzen möchte, dann muss er sich beim
Kauf dieser Anlage von einem namhaften Hersteller
auch sicher sein, dass die Stalleinrichtung nicht nur tech-
nisch, sondern auch im Sinne des Tierschutzes auf dem
neuesten Stand ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Nicht mehr, aber auch nicht weniger will der vorliegende
Gesetzentwurf erreichen. Wir werden in den Ausschuss-
beratungen dafür sorgen, dass aus diesem Anspruch kein
bürokratisches Monster, sondern ein tierartengerechtes
Gesetz wird.

Tierschutz ist und bleibt eine echte tagtägliche He-
rausforderung. Ich wünsche uns das Herz und den Ver-
stand, gute Ideen und reichlich Mut, weiter zum Wohle
unserer Tiere zu arbeiten.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614310900

Der Kollege Wilhelm Priesmeier hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1614311000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, die
heutige Debatte ist im Sinne aller und des Tierschutzes
recht zufriedenstellend verlaufen. Es ist in der Tat zu be-
klagen, dass die Zahl der Tierversuche gestiegen ist. Es
ist zu überlegen, welche Maßnahmen dagegen unter-
nommen werden können. Es gibt durchaus einige Mög-
lichkeiten, und wir geben uns dabei große Mühe.

Seit Beginn der schwarz-roten Koalition haben wir
4 Millionen Euro für die Entwicklung von Alternativen
zu Tierversuchen in den Haushalt eingestellt. Dies kann
sich europaweit sehen lassen; das gibt es in keinem an-
deren europäischen Mitgliedstaat. Unter Rot-Grün ist es
uns nicht gelungen, diesen Ansatz aufzustocken.

Die Aufstockung der Mittel in diesem Bereich zeigt
bereits eine positive Wirkung. Es ist eine Reihe von Ver-
fahren in Zusammenarbeit mit der ZEBET entwickelt
worden, die mittlerweile auch von ECVAM anerkannt
worden sind und deren Validierung bei der OECD voran-
getrieben wird. Das wird eine wesentliche Vorausset-
zung sein, um gerade im Hinblick auf die REACH-Pro-
blematik die Zahl der Versuchstiere zu begrenzen.

Dazu gehört aber auch – das ist als eine Replik auf das
gestern diskutierte Thema zu verstehen – die Forschung
an humanen Stammzellen. Gerade in diesem Bereich er-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wilhelm Priesmeier
geben sich interessante Möglichkeiten, in In-vitro-Versu-
chen die Toxikologie von verschiedenen chemischen
Substanzen und Verbindungen, denen wir tagtäglich aus-
gesetzt sind, zu bewerten und Risiken auszuschließen.
Das sind weitere Verfahren, die man einsetzen kann, um
die Zahl der Tierversuche drastisch zu reduzieren. Das
gilt auch für die Zulassung von Arzneimitteln. Auf den
LD-50-Test, mit dem der Zusammenhang zwischen Do-
sis und Mortalität bestimmt wird, kann man in vielen
Bereichen verzichten. Wir müssen uns aber Gedanken
darüber machen, inwieweit die Vorgaben für die Zulas-
sungsverfahren von Arzneimitteln in bestimmten Sub-
stanzklassen verändert werden können. Hier lässt sich im
Detail sicherlich noch einiges verbessern.

Man sollte zudem hinterfragen, ob viele Tierversuche
tatsächlich zweckdienlich sind. Es ist sicherlich sinnvoll,
bei ethisch umstrittenen Versuchen zu verlangen, in der
Bewertung nachvollziehbar darzulegen, ob der Ver-
suchszweck überhaupt erreicht wurde. Das bewahrt an-
dere gegebenenfalls davor, den gleichen Versuchsansatz
zu wählen. Das Spannungsfeld zwischen der Freiheit
von Forschung und Lehre einerseits und dem Staatsziel
Tierschutz und dem Anspruch, den Einsatz von Ver-
suchstieren zu minimieren, andererseits muss nach mei-
ner Einschätzung ständig neu überdacht werden. Unter
Umständen sind andere gesetzliche Regelungen notwen-
dig. Ein Instrument – das wurde bereits angesprochen –
kann in begrenztem Umfang die Verbandsklage sein.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Wir Sozialdemokraten sind dafür offen,


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Wir nicht!)


insbesondere wenn es um die Ausgestaltung geht. Das
kann sicherlich nicht darauf hinauslaufen, dass man da-
mit eine Verhinderungspolitik betreibt und versucht, die
Bestimmungen zur Genehmigung von Tierhaltungsanla-
gen konsequent zu unterlaufen. Das ist sicherlich nicht
die Zweckbestimmung solcher Rechtsinstrumente; denn
dieses Instrument soll jemandem die Klage ermöglichen,
der rechtlich an sich nicht betroffen ist. Aber ich möchte
den Dialog mit den Verbänden darüber führen, obwohl
dieses Vorhaben in dieser Koalition vielleicht nicht
gleich umgesetzt werden kann. Man kann zumindest da-
für werben und das zum politischen Ziel machen.


(Beifall bei der SPD)


Bei der Ausgestaltung muss man sich den Modalitäten
und Bedingungen anpassen. Aber ich glaube, dass die
Verbände recht offen sind.

Man könnte zudem die Rechtsposition der Tierschutz-
beauftragten in den Unternehmen verbessern, die eine
große und intensive Nutztierhaltung betreiben. Dort
müssen die Verantwortlichkeiten deutlich geregelt wer-
den, um die Voraussetzungen für eine präzise Einhaltung
der durch Haltungsverordnungen vorgegebenen Bedin-
gungen zu schaffen. Die Kommission, die im Sommer
die Einhaltung der Tierschutzstandards in den Bundes-
ländern überprüft hat, hat eine ganze Reihe von Proble-
men festgestellt, zum Beispiel in Niedersachsen und in
Mecklenburg-Vorpommern. Das hängt also nicht davon
ab, wer in den jeweiligen Bundesländern regiert, sondern
von bestimmten Vorbedingungen und eventuell von der
Kontrollfrequenz. Die Einhaltung der Standards ist
wichtig. Es reicht nicht aus, ein paar Millionen Euro in
die Forschung zu investieren. Dazu müssen wir einen
entsprechenden Forschungscluster schaffen. Das ist mit
Celle und Umgebung – sprich: Tierärztliche Hochschule
und andere Beteiligte – angedacht. Das ist wichtig im
Hinblick auf die finanziellen Möglichkeiten.

Wenn man sich den Siebten Forschungsrahmenplan
der EU anschaut, dann erkennt man, dass Tierschutzfor-
schung ein Schwerpunkt ist. Dies müssen wir nutzen, um
in diesem Zusammenhang wissenschaftlich begründbare
Standards zu erforschen, anhand deren wir Haltungssys-
teme bewerten können. Da liegt vieles im Argen. Da
müssen wir noch viel Arbeit leisten. Wir haben uns bis-
lang immer auf die Hennenhaltung, hauptsächlich Lege-
hennenhaltung, konzentriert. Das ist der erste Ansatz,
weil er in der Gesellschaft am heftigsten diskutiert wor-
den ist. Wir müssen aber auch alle anderen Bereiche ein-
beziehen. Dazu bietet das Gesetz zur Änderung des Tier-
schutzgesetzes ausreichend Möglichkeiten. Die beiden
Verordnungsgrundlagen, die dort enthalten sind, bieten
auch Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf das zu
wählende Verfahren.

Ich appelliere von hier aus an die Bundesländer – das
ist zwischenzeitlich auch bei der Beratung dieses Ent-
wurfes vom Bundesrat signalisiert worden –, dass keine
Kamingespräche der Agrarminister der deutschen Län-
der stattfinden und ein Konsens darüber hergestellt wird,
was später im Rahmen einer Verordnung umgesetzt wird
und was nicht. Das wäre unfair; denn die Rechtsetzungs-
kompetenz für den Tierschutz liegt beim Bund. Das soll-
ten auch die Länder wissen. Das ist auch nach der Föde-
ralismusreform so. Dieses Feld eignet sich nicht dazu,
über die Bande zu spielen. Ich hoffe auf die tatkräftige
Unterstützung des Koalitionspartners, wenn es darum
geht, die B-Länder in bestimmten Punkten zu überzeu-
gen. Es wird nicht nach dem Motto funktionieren: Ma-
chen wir das Gesetz, aber die Verordnung lassen wir vor
die Wand fahren. – Das kann nicht die Gesetzeswirklich-
keit sein. Dann können wir uns dieses Gesetz sparen.
Oder wir gehen einen anderen Weg und schreiben die
gesamten Vorgaben, die man benötigt, in das Gesetz sel-
ber. Dann haben wir eine ganz andere Position. Das sind
die beiden Alternativen.

In diesem Zusammenhang erwarte ich ein klares Si-
gnal seitens der Länder, wie sie denn gedenken, in die-
sem Punkt weiter zu verfahren, damit etwas Struktur und
Ernsthaftigkeit in die Diskussion zurückkehrt. Diese
kann man in vielen Bereichen nicht unbedingt vorausset-
zen. Ich als jemand, der Bundespolitik gestaltet, bin je-
denfalls nicht bereit, so mit mir umgehen zu lassen. Das
widerspricht auch meinem Selbstverständnis als Bundes-
tagsabgeordneter. Ich lasse mich da von den Ländern
nicht an der Nase ziehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wilhelm Priesmeier
In dem Zusammenhang kann ich auch keinen Konflikt
innerhalb der Koalition erkennen, der von vielen Journa-
listen konstruiert worden ist. Ich glaube, wir sind auf ei-
nem vernünftigen und zielführenden Weg.

Das Käfigverbot auf europäischer Ebene bleibt erhal-
ten. Danke schön für die klare Position der Bundesregie-
rung. Ich kann die jetzige Regelung, die Verlässlichkeit
bietet, nur unterstützen. Über die Frage von Systemen
kann man sich natürlich streiten. Aber ich finde, dass
das, was wir mit der Hennenhaltungsverordnung in
Gang gesetzt haben, ein gelungener Kompromiss ist. Zu
diesem bekennen wir uns. Aus diesem Grunde fordern
wir auch die andere Seite dieses Kompromisses ein. Die
andere Seite dieses Kompromisses lautet: Ab 2012 wer-
den nur noch geprüfte Systeme in den Verkehr gebracht,
und ab 2020 gibt es keine Systeme mehr, die ungeprüft
sind. Das ist die Grundlage. Darauf beziehe ich mich
hier. Das fordern wir ein. Wenn wir das gemeinsam hier
umsetzen, dann kann dieser Tag der Einbringung des
Gesetzentwurfes ein guter Tag für den deutschen Tier-
schutz werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614311100

Ich schließe die Aussprache.

Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen
16/5044 und 16/7413 an die Ausschüsse zu überweisen,
die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit sind
Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist so beschlos-
sen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Bevölkerungsschutzsystem reformieren – Zu-
ständigkeiten klar regeln

– Drucksache 16/7520 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Hierzu sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff

(Rems-Murr), Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn

zu Protokoll gegeben worden.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7520 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

1) Anlage 3
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Men-
schen mit geringem Einkommen

– Drucksachen 16/5247, 16/7171 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Karl Schiewerling

Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1614311200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem heute vorgelegten Antrag „Rechtsanspruch auf
Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkom-
men“ greift die Linksfraktion ein Thema auf, das weder
in unsere bundespolitische Zuständigkeit fällt noch den
Menschen vor Ort weiterhilft.

„Jede Leistung ist besser als keine Leistung“, das,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, ist
das Motto Ihrer Sozialpolitik.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Besser als keine Leistung ist eine Leistung, oder?)


Warum sollte also nicht jeder, der Arbeitslosengeld II,
Sozialhilfe oder Wohngeld bezieht, auch noch eine Mie-
terberatung auf Kosten der Steuerzahler obendrauf
erhalten? Ganz egal, ob das sinnvoll ist oder nicht. Sie
sind sich dabei auch nicht zu schade, gegen besseres
Wissen Geld zu verteilen, das Sie überhaupt nicht haben,
und großzügig andere Ebenen auf Kosten des Bundes-
haushaltes zu entlasten. Wir lehnen den Antrag ab.

Kosten der Unterkunft, also Miete und Heizung der
Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe, sind
Sache der Kommunen. Die Träger der Grundsicherung
vor Ort – das sind Sozialämter und Argen – müssen des-
halb ebenso wie die Mieter daran interessiert sein, dass
es keine unberechtigten Erhöhungen gibt. Sie sind damit
auch Ansprechpartner der Grundsicherungsempfänger,
wenn der Protest beim Vermieter erfolglos war. Sie kön-
nen dann selber aktiv werden oder Rechtsberatung von
außerhalb einholen.

Selbstverständlich sind die Kommunen verpflichtet,
gewissenhaft mit Steuergeldern umzugehen und überzo-
genen Forderungen von Vermietern energisch entgegen-
zutreten. Warum also sollten wir Sozialämter und Argen
aus ihrer Verantwortung und Zuständigkeit entlassen?






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Hiller-Ohm
Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es über-
haupt keinen Grund.

Die Linksfraktion begründet ihre Antragsinitiative
mit einer deutlichen Einsparung bei den Trägern. Dies ist
jedoch mehr als fragwürdig, eigentlich geradezu absurd.
Millionen von Menschen sollen einen Rechtsanspruch
auf kostenlose und unabhängige Mieterberatung erhal-
ten, so lautet die Forderung der Linksfraktion. Es gibt
7 Millionen Menschen in 3,6 Millionen Bedarfsgemein-
schaften allein im SGB II. Hinzu kommen über 2 Mil-
lionen Sozialhilfe- und Wohngeldempfänger. Millionen
von Menschen sollen also in Mietervereinen angemeldet
werden, und die Beiträge dafür sollen vom Staat über-
nommen werden. Die Mietervereine werden sich freuen.
Wo aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollen hier
Einsparungen sein? Ich sehe keine. Im Gegenteil: Die
Kosten stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu dem
Nutzen. Den Menschen weismachen zu wollen, mit der
Übernahme des Mieterschutzes für alle Leistungsemp-
fänger würden Kosten gesenkt, grenzt ja geradezu an
Volksverdummung.

Gerade bei der Mieterberatung haben wir insgesamt
gesehen ganz gute Strukturen, von denen auch Men-
schen mit kleinen Einkommen profitieren, die nicht im
ALG-II- oder Sozialhilfebezug sind. Für sie könnte ein
Mietstreit tatsächlich zu einer großen Belastung werden.
Aber natürlich lassen wir diese Menschen nicht im Re-
gen stehen. So gibt es im Rahmen der Beratungshilfe für
10 Euro eine fast kostenlose Mietrechtsberatung, die
durch örtliche Rechtsanwälte durchgeführt wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Und die wird noch erstattet!)


Auch die Wohlfahrtsverbände stellen eine umfas-
sende Beratungsstruktur zur Verfügung.

Wenn wir uns die Kosten der Unterkunft anschauen,
wird deutlich, dass die Mieterberatung und der Mieter-
schutz keine Probleme sind. Viel spannender ist hinge-
gen die Frage der Bemessung der Kosten der Unterkunft.
Hier gibt es abhängig vom jeweiligen Träger und Ort
ganz unterschiedliche Berechnungsverfahren und damit
auch individuelle Ungerechtigkeiten. Darauf hat der
Bundesrechnungshof in seiner letzten Unterrichtung des
Bundestages hingewiesen. Durch die willkürliche Be-
messung der Kosten der Unterkunft entstehe die Situa-
tion, so der Rechnungshof, dass einem Teil der Hilfe-
empfänger übermäßig hohe Kosten erstattet würden,
während anderen zu schnell und zu drastisch die Leis-
tungen gekürzt würden.

Leider gibt es Fälle, in denen zum Beispiel bei Miet-
erhöhungen aufstockende Zahlungen verweigert werden,
ohne dass die Konsequenzen im Einzelfall geklärt wür-
den. Hierzu heißt es im Bericht des Rechnungshofes:

Teilweise überschritten die vom Hilfeempfänger
selbst zu zahlenden Beträge sogar die ausgezahlte
Regelleistung. Diese Verfahrensweisen … laufen
einem umfassenden Fallmanagement, das auch die
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der
Hilfebedürftigen einbezieht, zuwider.

(Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Inzwischen hat das Bundessozialgericht zu dieser
Problematik geurteilt und dabei allgemeinverbindliche
Maßstäbe für die Bemessung der Kosten der Unterkunft
festgelegt. Jetzt kommt es darauf an, dass alle Länder
und Kommunen diese Maßstäbe vor Ort anwenden und
so zu einer gerechteren Berechnung der Kosten der Un-
terkunft beitragen.

Die Linksfraktion spricht in ihrem Antrag auch den
Kreis der wohngeldberechtigten Personen an. Im Hin-
blick auf Mieterberatung hatte ich bereits erwähnt, dass
hier das Instrument der Beratungshilfe greift. Für diese
Menschen ist aber viel wichtiger, dass es in Kürze eine
Anpassung des Wohngeldes geben soll. Die SPD-Bun-
destagsfraktion und sozialdemokratische Bundesminis-
ter haben sich in den vergangenen Tagen öffentlich dafür
eingesetzt. Profitieren werden von diesem Schritt Men-
schen mit geringen Einkommen, die trotz Arbeit nur
knapp über der Armutsgrenze liegen. Besonders sind
hier Familien mit Kindern betroffen. Auch Menschen
mit kleinen Renten wird durch die Wohngelderhöhung
der Gang in die Sozialhilfe erspart.

Wir wollen das Wohngeld deutlich erhöhen und damit
Mietsteigerungen seit der letzten Anpassung 2001 nach-
vollziehen. Ganz wichtig ist aber auch, dass wir auf die
kontinuierlich angestiegenen Energiekosten reagieren,
und das machen wir mit unserem Vorschlag.


(Beifall bei der SPD)


Mit der Anhebung des Wohngeldes setzen wir ein kla-
res Zeichen: Wir lassen bedürftige Menschen mit stei-
genden Wohnkosten nicht alleine. Im Gegensatz zur
Linksfraktion packen wir da an, wo tatsächlich Hand-
lungsbedarf besteht und wo wir als Bund nach der Ver-
fassung auch die Zuständigkeit haben.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614311300

Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1614311400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Hiller-Ohm, es ist eine Katastrophe. Mit großer
Selbstsicherheit tragen Sie hier etwas als Erfolg Ihrer ei-
genen Politik vor. Mit dem, wie das im Leben derjenigen
aussieht, die das auszubaden haben, ist das überhaupt
nicht in Übereinstimmung zu bringen.

Nach Angaben des Deutschen Mieterbundes zahlen
Mieterinnen und Mieter in der Bundesrepublik im Jahr
circa 250 Millionen Euro mehr Miete, als nach der recht-
lichen Grundlage möglich wäre.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ist das!)


Dieses Zuviel an Miete geht in die Kassen der Vermieter,
insbesondere der privaten Vermieter, aber sicherlich






(A) (C)



(B) (D)


Heidrun Bluhm
auch in die der kommunalen Vermieter. Hier wird Steu-
ergeld, das Familien in Form von Transferleistungen er-
halten, weil sie von der eigenen Arbeit, vom eigenen
Einkommen nicht leben können, letztlich also nur in die
Privatwirtschaft hinein durchgeleitet.

Ein Drittel der Betriebskostenabrechnungen, die jähr-
lich zu erstellen sind, sind, wie der Mieterbund feststellt,
falsch, überhöht, nicht nachprüfbar oder Ähnliches.
Auch hier werden also Steuergelder über falsche Be-
triebskostenabrechnungen in die Hände der Privaten, die
solche Abrechnungen erstellen, durchgeleitet.

Sie, Frau Hiller-Ohm, sagen, der Bund sei nicht zu-
ständig. Selbstverständlich ist der Bund zuständig. Man
kann nicht die Hartz-IV-Gesetze verabschieden, darin
die Verantwortung für diese Aufgabe den Kommunen
zuweisen und dann hier sagen, man mische sich in die
Angelegenheiten der Kommunen ein.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Die sind halt zuständig!)


Es ist einfach nur arrogant, wenn man jetzt die Kommu-
nen mit ihren Belastungen alleine lässt. Schon Ende letz-
ten Jahres konnten wir im Rahmen der Haushaltsbera-
tungen sehr wohl sehen, wie sich der Bund immer weiter
aus der Finanzierung der Unterkunftskosten zurückzie-
hen will.


(Beifall bei der LINKEN – Gerd Andres [SPD]: Ist doch Quatsch! So ein Unsinn!)


Sie sprechen von 10 Euro für Mietrechtsberatung für
Wohngeldempfänger. Wohngeldempfänger bekommen
deshalb Wohngeld, weil sie mit ihrem eigenen Geld die
Miete nicht bezahlen können. Aber sie sollen die
10 Euro für die entsprechende Beratung ausgeben.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden erstattet!)


Das ist doch lächerlich. Es wäre doch ganz einfach mög-
lich, in der von Ihnen angekündigten Wohngeldnovelle
entsprechende Regelungen vorzusehen. Diese Novelle
wird sich die Regierung übrigens auch nicht als Erfolg
anrechnen lassen können. Der erste Entwurf nämlich,
den Sie vorgelegt haben, war noch schlechter als das
derzeitige Wohngeldgesetz. Erst als die von Ihnen be-
stellten Sachverständigen und Gutachter in der von der
Opposition beantragten Anhörung Ihnen bescheinigt ha-
ben, dass die Novelle das Papier nicht wert ist, auf dem
sie steht, sind Sie nachdenklich geworden und haben re-
agiert.


(Beifall bei der LINKEN)


Irgendwann in naher Zukunft werden Sie uns dann etwas
vorlegen, worüber man diskutieren kann.

Ich denke also, dass all das, was Sie uns hier vorgetra-
gen haben, scheinheilig war.


(Gerd Andres [SPD]: Hört! Hört!)


Wir sind der Auffassung, es wäre leicht und einfach zu
regeln, indem ein Rechtsanspruch auf Inanspruchnahme
einer Mieterberatung im Gesetz verankert würde. 3 Euro
pro Monat würde zum Beispiel eine Mitgliedschaft für
einen Transferempfänger in einem Mieterverein kosten.
An der Tatsache, dass dadurch gleichzeitig durchschnitt-
lich 160 Euro im Jahr pro Wohngeldempfänger einge-
spart werden könnten, also ganz konkret weniger Steuer-
gelder aufzuwenden wären, wird deutlich, dass dieses
Vorhaben sehr wohl wirtschaftlich wäre.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614311500

Karl Schiewerling spricht jetzt für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Gerd Andres [SPD]: Jetzt kommt wenigstens einer, der von der Sache Ahnung hat!)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1614311600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Viele Dinge hat Frau Hiller-Ohm vorhin schon darge-
stellt. Ich will noch auf einige Punkte kurz eingehen.

Frau Bluhm, es mag ja sein, dass die Feststellung des
Mieterbundes, dass jährlich 250 Millionen Euro zu viel
gezahlt würden, zutrifft. Ich kann die Zahlen nicht über-
prüfen. Es sind ja viele verschiedene Zahlen in der Welt.
Das trifft aber ganz sicher nicht ausschließlich auf Perso-
nen zu, die Transferleistungen gemäß SGB II oder
SGB XII erhalten. Ich weiß auch nicht, wen alles Sie mit
Ihren Zwangsberatungen beglücken wollen. Unserer
Vorstellung entspricht das nicht.

Mit ihrem Antrag will die Linke erwirken, dass Be-
zieher von Grundsicherung nach SGB II und SGB XII,
also Bezieher von Arbeitslosengeld II oder der alten
Sozialhilfe, und alle weiteren wohngeldberechtigten Per-
sonen einen Rechtsanspruch auf eine kostenlose, unab-
hängige Mietrechtsberatung erhalten. Wie ein derartiger
Rechtsanspruch umgesetzt werden soll, sagen Sie nicht.
Offen bleibt auch die Kostenfrage. Die meisten Men-
schen, die von einer solchen Regelung betroffen wären,
beziehen übrigens Leistungen vom Staat.

Die Behauptung in der Begründung, dass die Kom-
munen automatisch alle Kosten unkritisch übernehmen,
geht schlichtweg an der Wirklichkeit vorbei.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau!)


Es mag ja den einen oder anderen Fall geben, wo man
sich wundert, dass Kostensteigerungen ungeprüft über-
nommen werden. Aber das kann doch nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass alle Kommunen ein ureigenes Inte-
resse daran haben, die Wohnkosten so gering wie
möglich zu halten.


(Gerd Andres [SPD]: Ja!)


Abrechnungen müssen konkret, korrekt und nachvoll-
ziehbar sein. Die örtlichen Träger können dafür alle ge-
eigneten und erforderlichen Maßnahmen treffen. Dazu
gehört auch die Unterstützung einer Beratung in Miet-
angelegenheiten. Dies kann über eigene Einrichtungen
oder über Kooperationsvereinbarungen beispielsweise






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
mit Mieterverbänden geschehen. Das geschieht bereits
heute, und es geschieht flächendeckend. Die Betroffenen
werden auf diese Möglichkeiten hingewiesen. Dass die
Wahl angesichts der bereits vorhandenen vielfältigen
Beratungsangebote den Betroffenen nicht immer leicht
fällt, bestätigt doch nur, dass wir ein flächendeckendes
Netz an Beratungsmöglichkeiten haben, und zwar durch
die Wohlfahrtsverbände, durch den Mieterbund und
durch die Verbraucherzentralen.

Eine von den Sozialämtern vor Ort bereits ange-
wandte Praxis ist, Mietberatungsscheine auszustellen,
um zum Beispiel augenscheinlich zu hohe Abrechnun-
gen von Experten auf ihre Korrektheit überprüfen zu las-
sen. In vielen Fällen stellen sich dabei Mängel heraus,
die in großen Abzügen zugunsten der Mieter bzw. der
Kostenträger resultieren. Denn wenn der betroffene
Leistungsträger Zweifel an der Richtigkeit zum Beispiel
der Betriebskostenabrechnung oder der Mieterhöhung
hat, dann wird er immer im Gespräch den Leistungsemp-
fänger auffordern, im Rahmen seiner Eigenverantwor-
tung die Richtigkeit überprüfen zu lassen und notfalls
auch eine Korrektur beizubringen. Wir haben es hier also
mit einem ureigenen Interesse der öffentlichen Hand zu
tun, dass die Mieten ordentlich und sachgerecht behan-
delt werden.

Wenn wir jetzt zusätzliche Mietrechtsberatungen ein-
führen, dann finanzieren wir mit öffentlichen Geldern
zweimal dieselbe Leistung. Das kann es nicht sein. Oder
haben Sie einfach nur gemeint, dass es dem Hilfeemp-
fänger nicht zuzumuten wäre, selbst dafür zu sorgen,
dass seine Mietabrechnung korrekt ist? Da sage ich Ih-
nen: Jeder, der Geld vom Staat in Anspruch nimmt, muss
eigenverantwortlich im Sinne des öffentlichen Interesses
für einen sachgerechten Nachweis sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Träger haben eigene Kooperationsvereinbarun-
gen mit Beratungsstellen. Das entspricht dem Prinzip der
Subsidiarität. Das hat sich bewährt; darauf lassen wir
nichts kommen.

Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch
daran, dass das Beratungshilfegesetz den Rechtsuchen-
den mit niedrigem Einkommen gegen – Frau Hiller-Ohm
hat vorhin darauf hingewiesen – eine geringe Eigenleis-
tung von 10 Euro – die im Einzelfall, was nicht selten
geschieht, völlig erlassen werden – auch Rechtsberatung
und Vertretung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens
und im Rahmen eines Güteverfahrens gewährleistet.

Deswegen frage ich also: Warum müssen wir das
Ganze zu einem Rechtsanspruch erheben? Die Sozial-
ämter oder andere Träger vor Ort haben, wie bereits an-
gemerkt, ein eigenes Interesse daran, die Kosten niedrig
zu halten. Ich halte die Schaffung einer zusätzlichen ge-
setzlichen Regelung für nicht erforderlich. Dadurch wür-
den nur zusätzliche Nachweis- und Kontrollpflichten
eingeführt, und das würde zu zusätzlicher Bürokratie
führen. Davon haben wir genug. Wir sind gerade dabei,
sie abzubauen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614311700

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Bluhm zulassen?


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1614311800

Nein.

Darüber hinaus stellt sich mir die Frage, was wir mit
den anderen Rechtsbereichen machen. Debattieren wir
dann demnächst auch über Rechtsansprüche in anderen
Bereichen, zum Beispiel bei Haftpflichtversicherungen
oder ähnlichen Dingen? Vor allem frage ich die Antrag-
steller: Wer soll das Ganze eigentlich bezahlen? Der An-
trag ist eine staatliche Einkommensbeschaffungsmaß-
nahme für Juristen; das sage ich Ihnen in aller Klarheit.

Die Union wird diesen Antrag ablehnen. Wir halten
die Schaffung einer zusätzlichen gesetzlichen Regelung,
die ihrerseits nur ein Mehr an Bürokratie mit Nachweis-
und Kontrollpflichten mit sich brächte, für nicht notwen-
dig. Ich sage Ihnen deutlich: Den betroffenen Menschen
nützt es nichts.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614311900

Markus Kurth hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614312000

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin ja bei den meisten hier durchaus als je-
mand bekannt, der mit Kritik am Sozialgesetzbuch II,
insbesondere an seinen leistungsrechtlichen Bestandtei-
len, da, wo sie angebracht ist, nicht spart.


(Gerd Andres [SPD]: Leider wahr!)


– „Leider wahr“ ruft der Staatssekretär a. D. Gerd
Andres. Aber ich stehe dazu. Ich finde es gut, dass das
wahr ist. – Aber Sie schaden mit diesem Antrag


(Iris Gleicke [SPD]: Allerdings! So ist das!)


allen, die eine ehrliche und konstruktive Kritik am
Sozialgesetzbuch II üben. Mit diesem fachlich armseli-
gen und politisch wirklich erbarmungswürdigen Antrag,
der gänzlich überflüssig ist, stehlen Sie Papier und uns
hier die Zeit am Freitagnachmittag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Die Argumente sind eigentlich fast alle schon gefal-
len, sodass ich mit meiner knapp bemessenen Redezeit
auf jeden Fall auskommen werde. Ich will noch einmal
betonen, dass es das Beratungshilfegesetz gibt. Es gibt
einen Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung. Die
10 Euro, von denen die Kollegin Hiller-Ohm gesprochen
hat, können im Rahmen des Justizwesens erstattet wer-
den. Es gibt die Prozesskostenhilfe. Wir haben also
durchaus eine kostenlose Beratungsstruktur.






(A) (C)



(B) (D)


Markus Kurth

Ich will den Beispielen noch ein prägnantes aus mei-
nem Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen anfügen.
Herr Schiewerling hat bereits die Mieterberatungs-

Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung von
EU-Agenturen
scheine genannt. Bei der Stadt Köln gibt es beispiels-
weise die Fachkonferenz „Teure Mieten“. Dort sitzt der
Kostenträger mit Mietervereinen und mit der Arge zu-
sammen an einem Tisch. Diese schauen sich gezielt Ein-
zelfälle überteuerter Mieten an. Schritt für Schritt wird
überprüft, ob falsch abgerechnet wurde und ob man
nicht die Kosten im Rahmen des Mietspiegels senken
kann. Diese Beispiele und noch viele andere können
überall gefunden werden. Ihr Antrag ist wirklich gänz-
lich überflüssig.

Warum stellen Sie dann diesen Antrag? Ich persönlich
glaube, dass es Ihnen auch darum geht, die Lobbyinte-
ressen der Mietervereine zu bedienen. Um nicht miss-
verstanden zu werden, sage ich: Wir unterstützen die Ar-
beit der Mietervereine; das ist gar keine Frage. Aber
nach Ihrer Auffassung soll die Rechtsberatung auf der
Ebene der Mietervereine stattfinden. Das wäre sozusa-
gen die Einführung einer Dauermitgliedschaft.

All das ist weit entfernt von einer zielführenden Poli-
tik. Ich wiederhole es: Es ist einer parlamentarischen Be-
ratung und einer konstruktiven Kritik an Gesetzen nicht
würdig, solche dürren und dürftigen Anträge zu stellen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1614312100

Der Kollege Heinz-Peter Haustein hat seine Rede zu

Protokoll gegeben.1)

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rechtsanspruch auf
Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkom-
men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/7171, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/5247 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 sowie Zu-
satzpunkt 7 auf:

28 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

1) Anlage 4
– Drucksache 16/7746 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link (Heilbronn), Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle
von EU-Agenturen

– Drucksache 16/8049 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Veronika
Bellmann, Eduard Lintner, Axel Schäfer, Markus
Löning, Heike Hänsel und Rainder Steenblock wurden
zu Protokoll gegeben.2)

Es ist verabredet worden, die Vorlagen auf den
Drucksachen 16/7746 und 16/8049 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind
Sie damit einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.

Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 20. Februar 2008, 13 Uhr,
ein.

Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und das
Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.