Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Ganz besonders herzlich begrüße ich, falls er hier sein
sollte, den Kollegen Laurenz Meyer, der heute seinen
60. Geburtstag feiert und dem ich dazu herzlich gratu-
liere.
– Herr Kollege Meyer, es wird nicht allzu häufig vor-
kommen, dass Sie unter solch einem allgemeinen Jubel
in den Plenarsaal einziehen.
Auch deshalb werden Sie den heutigen Tag sicherlich
besonders gut in Erinnerung halten.
Wir kommen nun zu unserer Tagesordnung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 sowie 24 a und
Rede
24 b auf:
22 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
Lage der Finanzmärkte
24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzmärkte stabilisieren
– Drucksache 16/7531 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
tzung
15. Februar 2008
.00 Uhr
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Aktionsplan „Finanzmärkte demokratisch
kontrollieren, Konjunktur und Beschäftigung
stärken“ – Aus den internationalen Finanztur-
bulenzen Konsequenzen ziehen
– Drucksache 16/7191 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann können wir das so vereinbaren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
textSehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! „Panik auf dem Börsenparkett“,„neue Weltwirtschaftskrise“, „Börsencrash vernichtetdeutsche Arbeitsplätze“, „Börsencrash signalisiert Endedes Finanzmarktkapitalismus“, mit diesen oder ähnli-chen Begriffen werden die Turbulenzen und die Verwer-fungen aufbereitet, mit denen wir es in den letzten Mo-naten auf den internationalen Finanzmärkten zu tunhatten.
ikrofonanlage oder über meine Stimme?it – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: InHerr Min– Über die M
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Bisher haben Sie jedenfalls nichts Falsches gesagt,
Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, können Sie die Uhr anhalten?
– Gut. Dann ist meine Rede beendet, meine Damen undHerren.Um ernsthaft auf dieses wirklich schwergewichtigeThema zurückzukommen: Es ist richtig, dass wir es inweiten Teilen der Welt und zulasten weiter Teile derWelt mit einer ernsthaften, ausgemachten Finanzmarkt-krise zu tun haben. Nicht alle Teile der Welt sind von ihrbetroffen, Ostasien zum Beispiel nicht bzw. kaum, insbe-sondere aber Nordamerika und weite Teile Europas. Siewird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist keindeutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch nicht be-hobene Risiken. Infektionsgefahren für die weltweiteKonjunktur und die weltweite Wachstumsentwicklungsind nicht zu übersehen.Aber, meine Damen und Herren, so wenig Grund eszur Verharmlosung gibt, so unangebracht wäre auch jedeHysterie. Nötig ist ein professionelles Krisenmanage-ment aller infrage kommenden Partner, das sich auf dieStabilisierung der Finanzmärkte konzentriert und sichnicht durch Empörungen und Reflexe ablenken lässt.Es ist ferner notwendig, die Ursachen dieser Kriseherauszuarbeiten, sie klar beim Namen zu nennen unddie sich daraus abzuleitenden Konsequenzen insbeson-dere im internationalen Kontext zu ziehen. Denn nur sowerden wir verlorengegangenes Vertrauen auf den Fi-nanzmärkten und bei vielen Bürgerinnen und Bürgernzurückgewinnen.Ich warne ausdrücklich davor, in jedem Durchsackendes DAX im Verlauf eines einzigen Handelstages dasuntrügliche Vorzeichen des Beginns einer ausgeprägtenRezession in Deutschland zu sehen;
denn dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegen-teil, wir sollten versuchen, einen kühlen Kopf zu bewah-ren. Es gibt keinen Grund für politische Schnellschüsse,mit denen man sich lediglich den Beifall einer zugegebe-nermaßen verunsicherten Öffentlichkeit sichern würde.Um die Situation richtig zu erfassen, ist es wichtig, zuwissen, wo die Ursachen der Finanzmarktkrise liegen.Knapp gefasst: im US-amerikanischen Markt für zweit-klassige Hypothekenkredite, den die Experten, von we-nigen Ausnahmen abgesehen, lange Zeit offenbar nichtauf ihrem Radar hatten, zumindest nicht, was sein Poten-zial anbelangt, zu einer echten Belastungsprobe für dasglobale Finanzsystem zu werden.Salopp gesprochen haben US-Banken auf der Jagdnach der schnellen Rendite ihre Anforderungen an dieQualität von Krediten deutlich verringert und kräftig ri-sikoreiche, weil schlecht gesicherte Hypothekenkreditevergeben, meist an Eigenheimkäufer mit geringer Boni-tät. Die damit verbundenen hohen Kreditrisiken wurdenvon den Banken auch deshalb in Kauf genommen, weilman die Möglichkeit hatte, diese Risiken über soge-nannte Verbriefungstransaktionen und strukturierte Pro-dukte lieber jetzt als gleich aus den eigenen Büchern, ausden eigenen Bilanzen zu bekommen, indem man sie aufdem Markt verkauft. Ich will sagen: Eine ursprünglichdefensive Strategie, Risiken zu verteilen, wurde zu einerspekulativen Blase, zu einer spekulativen Welle.Die Käufer dieser hochkomplexen Produkte – ein Teilvon ihnen hat Namen, die ich gar nicht kannte – habendiesen verpackten Sprengstoff vornehmlich außerhalbihrer Bilanzen geführt und damit auch außerhalb desEinblickes von Wirtschaftsprüfern, von Aufsichtsbehör-den, von Verwaltungsräten und von Aufsichtsräten.Dass diese Papiere mit gebündelten Kreditrisiken beirenditehungrigen Investoren weltweit auf große Nach-frage stießen, auch und gerade in Deutschland, ist nichtzuletzt den Ratingagenturen zu verdanken. Sie warenes, die in einer fragwürdigen Doppelrolle an beiden En-den beteiligt gewesen sind. Auf der einen Seite haben siediese Papiere häufig mit der höchsten Bonität bewertet,auf der anderen Seite haben sie die Banken bei der Ver-briefung und Vermarktung der Kreditrisiken beraten.Das ist so ähnlich, als ob die Stiftung Warentest ein Pro-dukt testen würde, an dessen Umsatz sie anschließendbeteiligt ist.
Auch hier müsste man damit rechnen, dass der Informa-tionsgehalt des Testergebnisses, gelinde gesagt, einge-schränkt ist.Das Ganze ging so lange gut, wie der Markt in denUSA expandierte. Aber irgendwann ist jeder Boom zuEnde. Steigende Zinsen und fallende Immobilienpreisein den USA haben seit dem letzten Jahr immer mehr die-ser Hypothekenkredite in Not gebracht. Bei den Banken,die weltweit, auch in Deutschland, die Risiken aus die-sen Krediten gekauft hatten, wurden Abschreibungen inMilliardenhöhe notwendig.Da diese Risiken nicht oder erst sehr spät auf dem Ra-darschirm der verantwortlichen Bankmanager undBankaufseher aufgetaucht sind, stellt sich als Erstes dieFrage nach der Qualität des jeweiligen bankeninternenRisikomanagements. Damit müsste die Suche nach Ver-antwortlichen eigentlich anfangen – wenn denn dieseSuche nicht nur dem üblichen und durchsichtigen Ruf„Haltet den Dieb!“ folgen sollte. Darin, meine Damenund Herren, liegt auch meine sehr kritische Einlassungüber ein verbreitetes Bankmanagerversagen begründet,an der ich festhalte.
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Bundesminister Peer SteinbrückFern einer Kollektivschelte darf ausgesprochen werden,dass es einzelne Bankmanager gibt, die in dem Rennennach höherer Marge, höherem Profit auf der Grundlageunzureichender Geschäftsmodelle, ohne ausreichendeExpertise, in einem Missverhältnis zum Eigenkapital ih-rer Institute und unter Vernachlässigung des bankenin-ternen Risikomanagements ein Milliardenrad gedrehthaben.Diese Entwicklung liegt auch an der Unzulänglichkeitder aktuellen Bilanzierungsregelungen; das gilt nichtnur in Deutschland, das ist weit verbreitet. Sie ermögli-chen es den Banken, eigene Risiken eigenkapitalscho-nend außerhalb ihrer Bilanzen zu führen, sie auf spezi-elle Zweckgesellschaften zu übertragen oder, besserausgedrückt, sie zu verstecken vor denjenigen, die Kon-trollfunktionen wahrzunehmen haben.Wie Sie wissen, haben die Probleme an den interna-tionalen Finanzmärkten auch deutsche Kreditinstitutein Mitleidenschaft gezogen. Hier in Deutschland gehö-ren die Landesbanken Sachsen LB und West-LB sowiedie Privatbank IKB mit den von ihnen finanziertenZweckgesellschaften zu den ersten und zu den spektaku-lärsten Opfern der sogenannten Subprime-Krise. WeitereInstitute – über die gesamte Bandbreite des deutschenBankensektors – sind auch betroffen, aber weniger exis-tenziell.Vor allem die IKB hat uns in den letzten Tagen inAtem gehalten – nicht das erste Mal –, weil neuer Ab-schreibungsbedarf bzw. Eigenmittelbedarf in Milliarden-höhe erforderlich wurde. Wir haben sehr intensive De-batten geführt, wie es mit der IKB weitergehen soll.Wichtig war meinem Kollegen Glos und mir, dass esüber den konkreten Fall der IKB zu keiner Verschärfungder Bankenkrise in Deutschland kommt.
Darüber waren und sind wir uns in der Bundesregierungeinig. Wir haben die Verantwortung, Schaden vom Fi-nanzplatz Deutschland abzuwenden.Wir haben uns diese Entscheidung gewiss nicht ein-fach gemacht. Sie war auch nicht einfach, weil wir nichteinfach Vorteile gegen Nachteile, sondern nur jeweiligeNachteile gegeneinander abwägen konnten. Der Nachteileiner drohenden Insolvenz verbunden mit einer drohen-den Erschütterungsdynamik für den gesamten Finanz-platz Deutschland war gegen den Nachteil abzuwägen,auch mit Steuergeldern ein Institut zu stützen, das sicham Markt verzockt hat und eigentlich vom Markt bestraftwerden müsste.Im Rahmen dieser schwierigen Abwägung zwischender Situation bei der IKB und den Risiken für den deut-schen Bankenmarkt haben wir uns im Verwaltungsratder KfW am Mittwoch entschieden, dass die KfW derIKB mit einer Zuweisung nach dem KfW-Gesetz einweiteres Mal unterstützend behilflich ist, und zwar mit1,5 Milliarden Euro.Der Bund wird davon mindestens 1 Milliarde Eurotragen, die aus Dividendenerträgen stammt. Dadurchwird die bisherige Finanzplanung nicht belastet. Die Ehr-lichkeit gebietet es aber, zu sagen, dass diese 1 Milliar-de Euro eines Tages als nicht eingegangene Einnahmenzu Buche schlagen wird. Der Bundesverband deutscherBanken hat unter der Bedingung einer letztmaligen Inan-spruchnahme zugesagt, mit 300 Millionen Euro einenweiteren wesentlichen Teil der Stützung zu übernehmen.Für die restlichen 200 Millionen Euro wird es eine Lö-sung geben. Im Zweifelsfall müssen sie im laufendenHaushalt eingesammelt werden.Sie können sich vorstellen, dass ich über diese Belas-tung des Bundeshaushaltes alles andere als begeistertbin. Auch wenn Sie mich deshalb hier mit zusammenge-bissenen Zähnen stehen sehen – jedenfalls dann, wennich nicht rede –,
ist die Entscheidung richtig, die IKB nochmals zu stüt-zen.Erstens ist uns wichtig, dass die IKB verkaufsfähiggemacht wird und dass der bereits angelaufene Verkaufs-prozess der Bank – das betone ich – weitergehen kannund so schnell wie möglich abgeschlossen wird. Damitdas gut funktioniert, werden das Management der IKBund auch der KfW personell verstärkt.
Zweitens ist uns wichtig, dass wir im Ergebnis ver-meiden können, dass die Mittelstandsförderung undder Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens – mitBlick auf diejenigen, die im Hohen Hause in dieser Fragesehr engagiert sind, ist mir an dieser Aussage sehr gele-gen – durch neue Sanierungsbeiträge beeinträchtigt wer-den. Ich wiederhole: weder die Mittelstandsförderungnoch der Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens. Umdiesbezügliche Fragen an dieser Stelle abschließend zubeantworten: Das ist sichergestellt.
Drittens ist unsere Entscheidung für die IKB ein klaresSignal an den Markt. Wir verhindern damit, dass andereBanken durch die Krise bei der IKB in Mitleidenschaftgezogen werden, und zwar, indem wir verhindern, dassEinlagen der IKB in zweistelliger Milliardenhöhe – umIhnen eine Zahl zu nennen: knapp oberhalb von 24 Mil-liarden Euro – verlorengehen. Diese Einlagen stammennicht nur von anderen Bankinstituten aus dem öffentlich-rechtlichen, dem genossenschaftlichen und dem privatenBereich, sondern es handelt sich auch um Einlagen vonNichtbanken bis hin zu Versicherungen. Wir verhinderndamit, dass diese Einlagen möglicherweise bzw. wahr-scheinlich verlorengehen und dass damit auch der frei-willige Einlagensicherungsfonds der privaten Geschäfts-banken in Anspruch genommen wird, den sie dringendbrauchen, um Vorsorge für ihren eigenen Bereich zuschaffen.Viertens gilt es zu verhindern, dass auf dem Markt fürHybridkapital die Preise für lang laufende Anleihendeutlich steigen, was andere Banken, die sich mit
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Bundesminister Peer Steinbrücksolchen Anleihen refinanzieren, ausgesprochen negativtreffen würde.Fünftens wäre die IKB – an dieser Aussage ist mirsehr gelegen – die erste europäische Bank, die in der di-rekten Folge der US-Subprime-Krise pleiteginge. Dassollten wir uns nicht als Symbol des deutschen Banken-marktes leisten – auch nicht im Verhältnis zu anderen eu-ropäischen Ländern.
Sechstens hat ein Finanzminister sehr genau über diesteuerlichen Folgen eines solchen Risikoszenarios bzw.unterschiedlicher Risikoszenarien nachzudenken. In wel-chem Verhältnis stehen zu erwartende Einnahmeverlustegegenüber dem Einsatz von Haushaltsmitteln zur Ret-tung einer Bank? Dass es auch in diesem Hause einzelnePersonen gibt, die mit ihren technischen Mitteln schoneine sehr genaue Summe hinsichtlich der steuerlichenFolgen der Finanzmarktkrise errechnen und der Pressemitteilen konnten, findet meine Bewunderung. Der deut-schen Steuerverwaltung ist dies mit ihrer Datenverarbei-tung bisher nicht gelungen.Ich erwähne diese Gründe so ausführlich, meine Da-men und Herren, damit Sie und die deutsche Öffentlich-keit einen Einblick in die Abwägung der Bundesregie-rung bekommen und Sie sich damit vielleicht auch etwasstärker gegen eilfertige, undifferenzierte Urteile und Be-wertungen immunisieren können. Uns allen sollte klarsein: Die Bankenkrise ist noch lange nicht zu Ende. Wirhaben es hier nicht nur mit einer Bank zu tun, die sich inunverantwortlicher Weise verzockt hat. Alle Kreditinsti-tute, die mit Subprime-Marktpapieren gehandelt haben,sind von dieser Krise betroffen. Schlecht ist, dass nachwie vor niemand ganz genau weiß, welches Institut inwelchem Ausmaß betroffen ist.Fest steht: Die teils deutlichen Abschläge bei den Ak-tienkursen der Kreditinstitute zeigen, dass der Markt voneinem höheren Wertberichtigungsbedarf ausgeht, alsbisher transparent ist. Weltweit, so habe ich in Tokiowährend des Treffens der G-7-Finanzminister erfahren,schätzt der IMF den Wertberichtigungsbedarf auf400 Milliarden US-Dollar, wobei die Experten sagen,das bisher ungefähr ein Drittel davon tatsächlich wertbe-richtigt worden ist.Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,kann das Gebot der Stunde nur lauten, dass die Bankenin ihren Bilanzen klar Schiff machen müssen, und zwarohne langen Aufschub. Wer glaubt, mögliche Wertbe-richtigungen oder Verluste nur in Häppchen nach derSalamitaktik offenbaren zu müssen, der provoziert nichtnur eine eigene Abstrafung durch den Markt, sondernder handelt zum Schaden des gesamten Finanzsektors inder Bundesrepublik Deutschland. Um verlorenes Ver-trauen zurückzugewinnen, dürfen wir es uns nicht leichtmachen und nur die akute Krisenbewältigung sehen, dieauch dank des entschlossenen Handelns großer Zentral-banken bisher insgesamt gut gelungen ist. Ich möchteder Europäischen Zentralbank ein ausdrücklichesKompliment machen, die eine dieser Zentralbanken ge-wesen ist, die den Markt in einer sehr angespanntenLage mit Liquidität versorgt haben, anders als zum Bei-spiel eine andere europäische Zentralbank.
Ebenso bedanke ich mich insbesondere beim Präsiden-ten der Deutschen Bundesbank und beim Präsidenten derBaFin, die in diesem Krisenmanagement eine wichtige,eine verlässliche und eine unterstützende Rolle gespielthaben.
Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen,welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Natürlichspielt das Eigeninteresse der Finanzmarktteilnehmer,Finanzkrisen zu vermeiden, hierbei eine zentrale Rolle.Der Markt sorgt derzeit, wenn auch schmerzlich, für eineAnpassung: Risiken werden jetzt wieder anders einge-preist als vor dieser Blase. Aber dieses Marktinteresseallein wird nicht ausreichen, um Inkompetenzen, Fehl-verhalten und Übertreibungen dieses Marktes, Exzessedurch diesen Markt wirklich zu verhindern. Es hat jaauch nicht gereicht, um die bisherige Krise abzuwenden.Ich bin deshalb überzeugt, dass die Krise eine politi-sche Reaktion erfordert und wir zu besseren, internatio-nal abgestimmten Spielregeln kommen müssen. BeimTreffen der G-7-Finanzminister in Tokio vom vergan-genen Wochenende wurden deshalb auch auf deutscheInitiative hin Vorschläge diskutiert und in dem Kommu-nique festgehalten, mit dem wir in drei zentralen Berei-chen das Vertrauen an den Märkten nachhaltig stärkenwollen: die Eigenkapitalunterlegung der Banken, einbesseres Liquiditätsmanagement und eine höhere Trans-parenz. Es versteht sich von selbst, dass für alle Maßnah-men eine Umsetzung auf internationaler Ebene der Kö-nigsweg ist, allein schon deshalb, um darüber einseitigeWettbewerbsnachteile für einen einzelnen Finanzplatzwie beispielsweise Deutschland zu vermeiden. Das heißtaber umgekehrt nicht, dass wir nicht auch auf europäi-scher und ebenso auf deutscher Ebene aktiv werdenmüssen, zum Beispiel auch dann, wenn bei einer interna-tionalen Umsetzung Schwierigkeiten auftauchten.Aus Zeitgründen möchte ich hier nur die wichtigstenMaßnahmen anreißen; ich bin sicher, dass sich nächsteWoche sowohl im Finanzausschuss wie im Haushalts-ausschuss die Gelegenheit für eine intensivere Erörte-rung ergeben wird.Erstens geht es um eine verbesserte Eigenkapital-unterlegung. Die Finanzmarktturbulenzen haben ge-zeigt, dass wir mehr Risikovorsorge für Stressphasen amMarkt brauchen, allerdings erst nach Überwindung die-ser Krise, um die Kreditinstitute aktuell nicht noch mehrzu überfordern, als sie es ohnehin schon sind. Eine Mög-lichkeit hierzu ist, im Zuge einer Nachjustierung vonBasel II von den Banken einen zusätzlichen Eigenkapi-talpuffer zu verlangen, und zwar zusätzlich zu dem, wasnach den jetzt seit wenigen Wochen geltenden Basel-II-Regeln für den gewöhnlichen Fall reibungslos funktio-
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Bundesminister Peer Steinbrücknierender Märkte ermittelt wird. Aber die Märkte funk-tionieren eben nicht immer reibungslos und so wie ge-wöhnlich.Hinsichtlich der Verbriefungen, einem der Dreh- undAngelpunkte der derzeitigen Krise, empfiehlt sich da-rüber hinaus eine Erhöhung der Risikogewichte dieserVerbriefungen zur Bestimmung der nötigen Eigenkapi-talunterlegung nach Basel II. Dies könnte zum einendurch eine andere Ausübung bereits bestehender Wahl-rechte oder zum anderen durch eine Neuberechnung derRisikogewichte erfolgen, die bisher immer nur in Schön-wetterzeiten erarbeitet worden sind. Je nach einer darausresultierenden neuen Risikogewichtung müsste dannmehr Eigenkapital von den Instituten bereitgehalten wer-den, was wiederum bei Investmentmanagern den Anreizverstärken würde, in den Bewertungen stärker auf diewirtschaftlichen als auf die spekulativen Rahmenbedin-gungen ihres Engagements zu achten.Zweitens wollen wir das Liquiditätsmanagementverbessern. Die Finanzmarktturbulenzen machen deut-lich, dass die globalen bankaufsichtsrechtlichen Liquidi-tätsvorschriften dringend ausgebaut werden müssen.Handlungsbedarf sehe ich hierbei vor allem in zweierleiHinsicht: Erstens sprechen gute Gründe für eine Ausdeh-nung des Anwendungsbereiches der Vorschriften überdie einzelne Bank hinaus auf einen Bankkonzern. Zwei-tens sind Belastungstests – oder auf neudeutsch Stress-tests – unter der Annahme einer nur eingeschränktenMarktliquidität geboten. Die bislang übliche Annahmeliquider Märkte ist ungenügend und wird von den vonuns gemachten Erfahrungen falsifiziert.Drittens wollen wir mehr Transparenz auf den Märk-ten schaffen. Dies ist eine zentrale Aufgabe für die inter-nationale Politik. Alle Marktteilnehmer – auch Anlegerund Aufsichtsgremien – müssen die Chance haben, be-stehende Risiken angemessen bewerten zu können. Diesist derzeit nicht gewährleistet. Die Marktteilnehmer kön-nen keine eigenen Risikoprofile erstellen.Ich möchte heute nicht näher auf das Thema Hedge-fonds eingehen, zumal diese definitiv nicht die derzeiti-gen Finanzmarktturbulenzen verursacht haben. Aber ichmöchte daran erinnern, dass es von manchen im Inlandwie auch im Ausland – insbesondere im angloamerikani-schen Bereich – belächelt worden ist, dass wir unter derdeutschen EU-Rats- und G-7-Präsidentschaft vor unge-fähr einem Jahr das Thema Transparenz auf die Tages-ordnung gesetzt haben.
Ich hätte mir damals in ihrem eigenen Interesse etwasmehr Unterstützung aus der Branche selber gewünscht.Inzwischen ist, wie Sie wissen, einiges in Gang gekom-men, und zwar in Großbritannien durch die Kommis-sion, die Andrew Large, der frühere Vizepräsident derBank of England, in Gang gesetzt hat, wie auch in dersogenannten President’s Working Group on FinancialMarkets in den USA. Das alles sind wichtige Initiativenim Ergebnis dessen, was wir vor einem Jahr initiiert ha-ben. Diese Initiativen werden uns im Financial StabilityForum und schon während des G-7-Treffens im Aprilstark beschäftigen.Es wäre zu wünschen, will ich hinzufügen, dass wirdieses Mal insbesondere von der Ratingbranche Unter-stützung bekommen, von der wir die Schaffung eines„set of best practices“ für strukturierte Produkte erwar-ten. Mir ist wichtig, dass wir in Zukunft verhindern, dassdie Agenturen, wie gesagt, erst beratend an der Struktu-rierung beteiligt sind und anschließend an der Bewer-tung.Unter dem Stichwort der Transparenz werden wirauch eine eventuelle Ergänzung des Bilanzrechtes dis-kutieren müssen, um bislang außerbilanziell durchge-führte Transaktionen zukünftig besser sichtbar zu ma-chen. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen,dass der von der Kollegin Zypries bereits vorgelegte Re-ferentenentwurf des Bilanzrechtsmodernisierungsgeset-zes vorsieht, die Kriterien enger zu fassen, nach denenZweckgesellschaften bilanziert werden müssen.Wenn es um nachhaltige und wirkungsvolle Konse-quenzen aus den Finanzmarktturbulenzen geht, dannsprechen wir automatisch auch über die Arbeit der Auf-sichtsbehörden bei uns. Das ist sowohl national alsauch in der grenzüberschreitenden Kooperation einwichtiges Thema in der Eurogruppe und im Ecofin-Rat.Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich diezwischen der BaFin und der Bundesbank gefundene Ver-ständigung auf eine transparentere und reibungslosereAufgabenverteilung bei der Bankenaufsicht. Sie ist einwichtiger Beitrag zu einer handlungsfähigen stabilendeutschen Bankenaufsicht. Nähere Auskünfte darüberwerden mit Gewissheit auch in den beiden Ausschüssengegeben.Ich bin überzeugt, dass die von mir beschriebenenMaßnahmen – vor allem, wenn sie auch im internationa-len Kontext umgesetzt werden – eine gute Basis für einenachhaltige Beruhigung und Stabilisierung der Finanz-märkte darstellen. Genauso überzeugt bin ich allerdingsdavon, dass kurzfristige Konjunkturprogramme, wie siederzeit auch unter Verweis auf die Situation in den USAgelegentlich reflexartig wie lautstark in Europa und inDeutschland propagiert werden, definitiv nicht die rich-tige und angemessene Antwort auf die jetzige Situationsind.
Das gilt – um es gleichermaßen vorweg zu sagen – füretwaige zusätzliche und nach Lage der Dinge wohl auchkreditfinanzierte Ausgabenprogramme wie auch fürdie von mancher Seite vorgetragene Forderung nachSteuersenkungen auf Pump. Es gibt eine Reihe vonGründen, die gegen beides sprechen. Erstens haben wires im Unterschied zu den Amerikanern in Europa undspeziell in Deutschland immer noch mit einer starkenkonjunkturellen Grunddynamik zu tun. Die Finanz-marktturbulenzen treffen auf eine wesentlich robusteredeutsche Wirtschaft als noch vor zwei oder drei Jahren.Auch die stabilen Fundamentaldaten deuten nicht aufeine stärkere konjunkturelle Abkühlung und erst recht
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Bundesminister Peer Steinbrücknicht auf eine rezessive Entwicklung in Deutschland hin.So haben wir es beispielsweise aktuell mit einer aufwärtsgerichteten Tendenz bei den Auftragseingängen und miteinem entsprechend positiven Ausblick für die Entwick-lung der Industrieproduktion in den nächsten Monatenzu tun. Einer Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesell-schaft KPMG zufolge blickten die deutschen Industrie-unternehmen im vermeintlich schwierigen Monat Januaroptimistischer in die Zukunft als vor einem halben Jahr.Das ist ein Ausschnitt aus der aktuellen Lage. Ich könntedas fortsetzen. Aus Zeitgründen will ich das nicht tun.Auf der Basis der jetzt vorliegenden Erkenntnisserechnet die Bundesregierung, unterstützt von fast allen,die man dazu befragen kann, mit einem gesamtwirt-schaftlichen Wachstum in Höhe von 1,7 Prozent in die-sem Jahr. Damit können wir trotz unbestreitbarer Risi-ken – diese negiere ich gar nicht – zufrieden sein, wennes denn so kommt. Wir sollten die Kirche allerdings imDorf lassen. 1,7 Prozent Wachstum bedeuten nicht mehrund nicht weniger, als dass wir damit ungefähr unserderzeit geschätztes Wachstumspotenzial in Deutschlandausschöpfen können. Sie alle wissen, dass das 2003 und2004 nicht so war. Damals hätten wir bei 1,7 ProzentWachstum die Sektkorken knallen lassen.Zweitens haben wir keinerlei Veranlassung, unserenbisher so erfolgreichen wirtschafts- und finanzpoliti-schen Kurs, eben die Kombination aus dauerhafter Wirt-schaftsförderung und Wachstumsförderung sowie einersoliden Haushaltspolitik, zu verlassen. Die gegenwärtigwirksamen Strukturreformen helfen uns auch im aktuellschwieriger werdenden konjunkturellen Fahrwasser;denn sie wirken konjunkturunterstützend. So wird sichim laufenden Jahr allein der Gesamteffekt durch die För-derung von Wachstum, Beschäftigung und Familien– Sie können sich sicherlich erinnern, dass es sich umein 25-Milliarden-Euro-Programm handelt, 12,5 Milliar-den Euro ergänzt durch die Bundesländer; hinzu kamenim letzten Jahr 10 Milliarden Euro zusätzlich –, die Sen-kung des Beitragssatzes in der Arbeitslosenversicherungund die Entlastung der Wirtschaft durch die seit dem1. Januar dieses Jahres gültige Unternehmensteuer-reform auf rund 18 Milliarden Euro belaufen. Um Ihneneine Relation zu geben: Diese 18 Milliarden Euro ent-sprechen spitz gerechnet 0,75 Prozent des deutschenBruttosozialproduktes. Das, was der Präsident der USAin seiner State of the Union erklärt hat, entspricht unge-fähr 1 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts.Das heißt, mit diesen Impulsen bewegen wir uns in etwain der Relation dessen, was der amerikanische Präsidentin seiner State of the Union als konjunkturförderndeMaßnahmen angekündigt hat.Drittens würde jede Abkehr vom notwendigen Kon-solidierungskurs, die mit einem Konjunkturprogrammverbunden wäre, zwangsläufig zu gegenläufigen Ent-wicklungen führen. Es wäre sehr wahrscheinlich, dassein Verlassen des Konsolidierungspfades in der jetzigenSituation nicht nur ein sträflicher Wiederholungstatbe-stand wäre, der uns im Hinblick auf das Ziel der Genera-tionengerechtigkeit Lügen strafen würde und der vorallen Dingen dem verbreiteten Verdacht Vorschub leis-tete, dass die Politik im Zweifelsfall immer bereit ist,sich leichtfüßig in eine höhere Staatsverschuldung zuflüchten. Diese Abkehr könnte gerade angesichts desderzeitigen Inflationsdrucks viel mehr auch die europäi-sche Geldpolitik betreffen. Sie könnte zu einer restrikti-veren Geldpolitik, also zu Zinserhöhungen durch dieEZB führen. Je nach Ausmaß würde die Konjunktur da-durch stärker belastet, als ein Konjunkturprogramm be-schleunigend wirken könnte.Bisher sind die Auswirkungen der globalen Finanz-marktturbulenzen auf die deutsche Konjunktur und da-mit auf den aktuellen Bundeshaushalt verkraftbar. Bis-her! Es besteht Grund zu der Annahme, dass diesweiterhin so bleibt. Aber ich rate dringend, sich von derlieb gewordenen Vorstellung zu verabschieden, dass wirkünftig – genauso wie 2006 und 2007 – mit unerwartetenSteuermehreinnahmen rechnen könnten, die wir bisherzu zwei Dritteln in die Absenkung der Nettokreditauf-nahme und zu einem Drittel in zusätzliche Investitionenfür Wachstum und Beschäftigung gesteckt haben. Ichsage an dieser Stelle sehr prononciert: Auf unerwartetezusätzliche Steuermehreinnahmen kann in diesem Jahrniemand hoffen. Das Gegenteil ist nicht auszuschließen.Vor diesem Hintergrund sehe ich die hauptsächlicheGefahr für den weiteren notwendigen Konsolidierungs-kurs nicht in der konjunkturellen Entwicklung, sondernin den trotz schwieriger Rahmenbedingungen unge-bremsten politischen Begehrlichkeiten gegenüber demHaushalt.
Die Gleichzeitigkeit unverträglicher politischer Forde-rungen und Vorschläge verwirrt nicht nur die Bürgerin-nen und Bürger, sondern behindert auch die Stetigkeitunseres Kurses. Runter von der Staatsverschuldung, aberrauf mit diversen Ausgaben und runter mit den Steuer-sätzen und das alles gleichzeitig, dies funktioniert nicht.Das sollte endlich Common Sense in diesem Haus wer-den.
Ich betreibe keine Schwarzmalerei, aber die haus-haltsbelastenden politischen Wünsche übersteigen diegegenwärtig sichtbaren und beherrschbaren Einnah-meausfälle durch die etwas schwächer werdende Kon-junktur um ein Vielfaches. Deshalb sage ich: Vorsicht ander Bahnsteigkante! Die Große Koalition hat keinerleiAnlass, von ihrer erfolgreichen, soliden Haushaltspolitikabzuweichen, weder durch ökonomisch fragwürdigeProgramme noch durch zusätzliche steuerliche Entlas-tungen nach einer Serie bereits erfolgter Steuersenkun-gen.
Die jüngste ist gerade einmal sieben oder acht Wochenher. Für die anstehenden Verhandlungen zum Bundes-haushalt 2009 kann dies nur zweierlei bedeuten: Erstens.Die Verhandlungen werden von uns allen sehr großeDisziplin und Konzentration auf das wirklich Notwen-
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Bundesminister Peer Steinbrückdige verlangen. Zweitens. Sie werden noch weniger ver-gnügungssteuerpflichtig sein, als sie es je waren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es kann gar kein Zweifel sein, dass dieseaktuelle Krise am Finanzmarkt ihren Ausgang in denVereinigten Staaten genommen hat, dass dort Fehler ge-macht worden sind und dass dies zu kritisieren ist. Es istaber nicht Sache eines Oppositionspolitikers, sich mitden Fehlern in den Vereinigten Staaten zu befassen, son-dern meine Aufgabe ist es, zu prüfen, was die Bundes-regierung getan hat, ob sie Fehler gemacht hat und werfür diese Fehler verantwortlich ist. Darüber müssen wirheute reden.
Ich halte es auch für richtig, Herr Bundesfinanzminister,und ich unterstütze – das sage ich jetzt persönlich, weilwir das in der Fraktion nicht abgestimmt haben –, dassSie jetzt in einer erneuten Runde öffentliche Finanzmit-tel beiziehen, um den endgültigen Untergang der IKB zuvermeiden, insbesondere um Schaden vom deutschenFinanzmarkt abzuwenden.Aber: Wer ist verantwortlich für den riesigen Verlustan öffentlichen Mitteln, der nun eingetreten ist? Ich willauf die Fehler hinweisen.Erstens. Ihr Vorgänger Hans Eichel hat die erstenFehler gemacht. 2001 hat er entschieden – der Bundes-tag war mit dieser Angelegenheit nicht befasst –, dassdie KfW als Eigentümerin bei der IKB eintritt. Es warimmer unsere Auffassung, dass sich eine staatliche För-derbank nicht an privaten, riskanten Spekulationsge-schäften beteiligen darf.
Ich habe dies, Herr Bundesfinanzminister, auch imWahlkampf 2005 öffentlich gesagt. In der WiWo ist daszitiert. Ich habe Herrn Eichel und Frau Matthäus-Maierauch persönlich gesagt: Wenn wir 2005 Verantwortungübernommen hätten, wäre diese Beteiligung unverzüg-lich veräußert worden. – Dann hätten wir uns den Scha-den erspart.
Sie haben nun 2005 den Fehler begangen, das zu über-nehmen und das Engagement fortzusetzen. Sie haben dieVerantwortung dafür, dass der Staat, also der Steuerzah-ler, an diesen riskanten Spekulationsgeschäften beteiligtgeblieben ist.Zweiter Fehler. Herr Eichel hat die Bankenaufsichtunzureichend geregelt. Er hat einen Kompetenzwirrwarrzwischen Bundesbank und BaFin mit Streitigkeiten bisjetzt ausgelöst. Jetzt soll es angeblich einen vorläufigenKompromiss zwischen beiden Instituten geben. Wir ha-ben damals gefordert, die Kompetenz auf eine Institutionzu konzentrieren, und zwar am besten auf die DeutscheBundesbank, weil diese unabhängig ist und nicht unterIhrer Aufsicht steht. Sie würde Ihnen dafür aber auch dieVerantwortung ersparen.
Auch das ist nicht gemacht worden.Was ist dabei herausgekommen? Nicht nur Kompe-tenzwirrwarr bei der Bankenaufsicht, sondern auchKompetenzwirrwarr bei der Aufsicht durch den Bundes-finanzminister; denn Sie sind an der Aufsicht der IKBdirekt und indirekt geradezu dreifach beteiligt, nämlichdurch den stellvertretenden AufsichtsratsvorsitzendenHerrn Leinberger, der im Vorstand der KfW sitzt, unddurch Herrn Asmussen, Abteilungsleiter im Finanz-ministerium, der gleichzeitig im Verwaltungsrat derBaFin und im Aufsichtsrat der IKB sitzt, sich also sozu-sagen selbst kontrolliert. Auch das liegt in Ihrer Verant-wortung. Schließlich hat die BaFin beansprucht, dieÜberwachung der IKB selbst durchzuführen und dieBundesbank herauszuhalten, sodass die Überwachungs-fehler eindeutig der BaFin zuzuschreiben sind. Diesedreifache Überwachung hat zu dem Versagen geführt.Jetzt soll mir aber niemand erklären, das alles wäre ge-heimnisvoll und vertuscht worden. Ich habe mir – wie esjeder tun kann – den Geschäftsbericht der IKB aus demInternet heruntergeladen und ausgedruckt. Dort sind jaalle Zahlen aufgeführt; jeder kann sie sich anschauen.Zumindest Fachleute hätten doch aufmerksam werdenmüssen.
Ich möchte eine Passage zitieren; das ist etwas, wasman sich nur auf der Zunge zergehen lassen kann. Indem Geschäftsbericht steht: Unsere Investments konzen-trieren sich zu zwei Dritteln auf US-Portfolios, insbeson-dere auf Hypothekenkreditforderungen. – Dann kommtdas Schönste:Wir nutzen unsere große Expertise … in diesem Be-reich aber auch, um auf Provisionsbasis externe Ge-sellschaften bei deren Investments in internationaleKreditportfolien zu beraten. Dies bezieht sich ins-besondere auf das Conduit „Rhineland Funding Ca-pital Corporation“ in den USA.Das ist ja eine Tochtergesellschaft der IKB. Die habensie beraten, damit der gleiche Mist, der bei der IKBdurchgeführt wird, auch bei dem Conduit durchgeführtwird.„Unsere große Expertise“ – und das hat bei Ihnen nie-mand gemerkt? Das steht doch alles im Geschäftsbe-richt! Der Aufsichtsrat bestätigt das ja.
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Dr. Hermann Otto SolmsDer nächste Fehler: das Krisenmanagement, das Siedurchgeführt haben – jetzt wird ja schon die dritte Hilfs-aktion durchgeführt. Die erste Hilfsaktion fand im Auguststatt: 3,5 Milliarden Euro sind zur Verfügung gestellt wor-den. Die zweite Hilfsaktion fand am 30. November statt.Dabei sind die Mittel der KfW zur Abschirmung der Ri-siken auf 4,8 Milliarden Euro erhöht worden. Vorgesterngab es die dritte Runde: 1,2 Milliarden Euro öffentlicheMittel sind zur Verfügung gestellt worden. Das sind ins-gesamt 6 Milliarden Euro. Ist das jetzt die letzte Runde?Sind diese Aktionen jetzt abgeschlossen? Oder wie vieleRunden haben wir noch vor uns? Kann das jemand sa-gen?Sie beschimpfen die privaten und die anderen Ban-ken. Sie haben in der FAS in einem Interview gesagt:Das begründet meine Aufforderung an die anderenBanken, jetzt schnell alles offenzulegen, was sie anerkennbaren Risiken mitschleppen, damit der Marktnicht im Vierzehn-Tage-Rhythmus von Hiobsbot-schaften weiter nervös gemacht wird.Was passiert denn in Ihrem Bereich? Was haben Siedenn jetzt aufgedeckt? – Sie verfahren nach der Salami-taktik: Wenn es notwendig ist, dann wird etwas aufge-deckt. Dann wartet man bis zur nächsten Krise. Was hiervorgeführt wird, ist wirklich dilettantisch.
Meine Damen und Herren, insgesamt sind mindestens6 Milliarden Euro öffentliche Mittel verbrannt. Die sindverbraucht. Wer ist dafür verantwortlich? Darum geht eshier. Wir wollen kein Bauernopfer, etwa das von FrauMatthäus-Maier, sehen. Wir wollen wissen, wer für denVerlust von 6 Milliarden Euro Steuernmitteln hauptsäch-lich verantwortlich ist. In diesem Fall ist das eindeutigder Bundesfinanzminister.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Norbert Röttgen
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich möchte in dieser Debatte mit einer ausländi-schen Stimme beginnen,
und zwar mit dem englischen Kolumnisten Martin Wolf,der sich in der englischen Financial Times – in meinerfreien Übersetzung – kurz so geäußert hat:
Ein Finanzsektor, der enorme Gewinne für die Insiderund gleichzeitig wiederholte Krisen für Hunderte Millio-nen unbeteiligter Zuschauer produziert, ist auf langeSicht politisch inakzeptabel.
Gerade diejenigen, die eine marktwirtschaftlich geprägteGlobalisierung wollen, müssen das als die Achillesferseder Globalisierung erkennen. Effektives Handeln ist jetztgefordert, bevor eine noch größere globale Krise kommt.Ich glaube, dass der sicherlich völlig unverdächtigeKolumnist der Financial Times die politische Dimensionder Krise, in der wir uns befinden, deutlich gemacht hat.Es gibt sicherlich eine ganze Menge bankenregulatori-scher Fragen, aber es geht im Kern um diese politischeDimension.
Wenn ich seine Aussage noch einmal reduzierenwollte, würde ich sagen: Es geht inzwischen nicht mehrnur um die Rettung von Geld, es geht schon gar nicht umRechthaberei, sondern es geht um die Wiederherstellungvon Vertrauen. Das ist die Aufgabe und Herausforde-rung, der wir gerecht werden müssen.
Das geht nicht mit Schnellschüssen. Es braucht Ent-schlossenheit, vielleicht auch ein bisschen Mut, sich die-ser Situation zu stellen.Was könnten Elemente für eine konzeptionelle Ant-wort auf die Krise sein, die ihr gerecht werden? Es gehtdoch darum, aus der Krise zu lernen.Das erste Element ist: Wir müssen erfassen, was dasCharakteristische der Finanzglobalisierung ausmacht,was sich eigentlich so fundamental verändert hat – esgibt fundamentale Veränderungen –, warum wir nichteinfach mit den Instrumenten und der Art weitermachenkönnen, die wir in den ersten Jahrzehnten nach demKrieg, eingeführt unter Ludwig Erhard, mit Erfolg prak-tiziert haben.Ein Charakteristikum ist, dass Risiken und Krisenzwar national oder regional entstehen, aber in ihren Aus-wirkungen nicht mehr national oder regional begrenzbarsind, sondern globale Auswirkungen haben, und zwarfür Politik, Wirtschaft und private Haushalte in der gan-zen Welt. Niemand kann sich diesen Risiken und Krisen,die an irgendeiner Stelle entstehen – diesmal in denUSA; es könnte auch Asien sein –, entziehen, auch nichthier in Deutschland. Wir sind miteinander verbunden.
Aus diesem Charakteristikum folgt eine Antwort. Esfolgt nicht die Antwort, dass der Staat überflüssig wird.Ich bin fest überzeugt, dass die Globalisierung den Staatalles andere als überflüssig macht. Er hat eine neue Auf-gabe. Tatsache ist aber, dass eine adäquate Antwort aufdie Globalisierung und auch auf die Finanzglobalisie-rung nicht rein national sein kann. Das Gebot der Stundeist internationale Kooperation. Darum sollte man nicht
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Dr. Norbert Röttgenso oft damit drohen: Wenn wir uns nicht einigen, ma-chen wir es allein. – Wir sind nicht der entscheidendeAkteur in dieser Frage, sondern internationale Koopera-tion ist das Gebot der Stunde.
Ich möchte auf den Anlass dieser Regierungserklä-rung zurückkommen, das G-7-Finanzministertreffen. Esist zu würdigen, dass es diese Kooperation gibt und dassunser Land und diese Bundesregierung in ihrer Präsi-dentschaft die Bedeutung erkannt und eine führendeRolle übernommen haben. Ich will keine Rechthabereibetreiben, aber doch an die Auseinandersetzungen erin-nern, die es um Heiligendamm und das G-8-Treffen inDeutschland gab, auch an den politischen Widerstand– das ging bis hin zu militantem Widerstand – gegen dasTreffen und die Kooperation überhaupt. Ich glaube, dassdie Finanzmarktkrise all diejenigen, die sagen: „Wirbrauchen diese Kooperation nicht; sie ist böse; sie isteine Versammlung von denjenigen, die Ausbeutung be-treiben wollen“, eines Besseren belehrt. Manche solltenihren Horizont weiten. Nichts ist nötiger als internatio-nale Zusammenarbeit.
Das gilt auch im Hinblick auf die Schwellenländer– das hat Herr Steinbrück gesagt –, die ein stabilisieren-der Faktor sind. Darum müssen wir die vorhandenen In-stitutionen entwickeln. Der Internationale Währungs-fonds hat eine Geschichte und hat in seiner Geschichteschon unterschiedliche Funktionen wahrgenommen. Ichhalte es für sinnvoll, den Internationalen Währungsfondszu einem globalen Frühwarnsystem für die Finanz-märkte weiterzuentwickeln. Ein solches Instrumentbrauchen wir. Wir sollten an dieser Fortentwicklung ak-tiv mitwirken.
Ich glaube, dass in der aktuellen Finanzmarktkrise dieStunde Europas schlägt. Nach den großen Erfolgen dereuropäischen Integration fragen wir jetzt immer wieder:Was ist eigentlich die Legitimation Europas heute? IstEuropa Opfer seines eigenen Erfolges geworden? Nein,Europa erweist sich im Zeitalter der Globalisierung alsdie erste und beste Antwort auf ebendiese Globalisie-rung. Jetzt, da der Euro fast zehn Jahre alt ist, könnenwir auch sagen: Der Euro erlebt in diesen Tagen – ichglaube nicht, dass das zu hoch gesprochen ist – vielleichtseine erste historische Rechtfertigung. Der Euro liefertin dieser Krise den Bürgern in den Ländern der Euro-zone einen Schutz, den die gute alte Mark nicht hätte lie-fern können. Der Euro hat sich in dieser Krise als Garantfür Währungsstabilität und als Gestaltungsinstrumentbewährt.
Deshalb ist es gut, dass die Entscheidung zugunsten desEuro getroffen worden ist. Darum erkläre ich, dass wirals Unionsfraktion – ich glaube, das ist auch die PositionDeutschlands – die entscheidende institutionelle Voraus-setzung für Währungsstabilität, also für einen stabilenEuro, erhalten wollen. Diese sehen wir in der unabhängi-gen Europäischen Zentralbank.
Europa stellt, wie ich glaube, auch die unterste Ebenefür eine Regulierung des Bankensektors dar. Wenn wires neben der Aufgabe der Regulierung auch noch schaf-fen wollen, die Europäische Union zu einem Schutzraumfür ihre Bürger gegen Ansteckung von solchen Gefahrenzu entwickeln, dann dürfen wir nicht weiter zuschauen– das tun wir zurzeit noch zu sehr –, wie sich die natio-nalen Wirtschaftspolitiken, abgesehen vom Feld der Re-gulierung, eher weiter auseinanderentwickeln, als dasssie zusammenkommen. Die Europäische Union brauchtneben dem Regulierungsansatz auch einen gemeinsa-men, abgestimmten, kohärenten, insbesondere Deutsch-land und Frankreich vereinenden wachstums- und wirt-schaftspolitischen Ansatz. Wir brauchen mehr Kohärenzder Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union.
Wir können uns nicht auf den Standpunkt zurückziehen,Deutschland und Frankreich seien traditionell verschie-den. Nein, das können wir uns nicht mehr leisten. Wirbrauchen eine besser abgestimmte Wirtschaftspolitik inder Europäischen Union.
– Das gilt auch für die Sozialpolitik, völlig richtig. Mankann übrigens Wirtschafts- und Sozialpolitik an dieserStelle nicht unabhängig voneinander denken. Völligrichtig.
Was bedeutet das für Deutschland? Es bedeutet, dassProtektionismus keine vernünftige Option für unserLand ist.
– Es ist gut, dass Sie sich melden. – Es bedeutet, dassStimmungsmache und Angstmache das Gegenteil vonWahrnehmung politischer Verantwortung sind. Es ist ge-radezu verwerflich, die Ängste von Menschen zu partei-politischen Zwecken zu missbrauchen, wie es Ihre Me-thode ist. Darum ist es gut, dass Sie sich als Betroffenevon sich aus gemeldet haben.
Das bedeutet auch, dass wir schauen müssen, wie sichDeutschland besser auf die Globalisierung einstellenkann. Meine Überzeugung ist, dass die entscheidendeUrsache für unser Wachstum ist, dass sich unsere Unter-nehmen bis in den Mittelstand hinein konsequent auf die
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Dr. Norbert RöttgenGlobalisierung eingestellt haben. Dieser Prozess wurdein den letzten Jahren vollzogen und stellt die wirtschaft-liche Basis für unseren derzeitigen Aufschwung dar. Ichhalte die Feststellung für zutreffend, dass sich derBankensektor in Deutschland in den letzten Jahrennicht konsequent auf die Globalisierung eingestellt hat.Der Bankensektor in Deutschland hat sich nicht optimalauf die Globalisierung eingestellt.Zu dem Fragenkomplex, wie der Bankensektor zu-künftig aussehen soll, gehört auch eine durch die Finanz-krise auf die Tagesordnung gekommene Frage: Was istdie Legitimation, und was ist die Rolle öffentlicher Ban-ken? Meine Damen und Herren, es entspricht nicht derWahrnehmung politischer Verantwortung, sich nur mitden Fragen zu beschäftigen, die bequem sind. Es ist auchnicht böse, diese Frage zu stellen; vielmehr steht dieFrage, was im Zeitalter der Finanzglobalisierung Rolleund Legitimation öffentlicher Banken in Bezug auf dasinternationale Finanzgeschäft ist, auf der Tagesordnung.
Diese Frage hat bestimmte bankenspezifische Implika-tionen, zum Beispiel in Bezug auf die Risiko- und Boni-tätsbewertung des Kapitalmarktes bei öffentlichen Ban-ken. Sie hat aber eben auch eine politische Dimension.Es ist etwas anderes, ob der Staat im Krisenfall einerprivaten Bank gegenübertritt und entscheidet, zu inter-venieren und zu helfen oder nicht, oder ob der Staat inForm des Vehikels einer öffentlich-rechtlichen, also– das sage ich bewusst so – einer privatrechtlichen Bankmit erheblicher öffentlicher Beteiligung, selber Akteurist und für sein Fehlverhalten die Bürgerinnen und Bür-ger und die Steuerzahler direkt oder mittelbar mit in Haf-tung nimmt.
Diese Inhaftungnahme der Bürger und Steuerzahlerbraucht eine Rechtfertigung.Diejenigen, die Staatsbanken eine führende Rollezuweisen – der Bundesfinanzminister hat das ja in einemInterview angeregt –, haben eine Bringschuld, zu be-gründen, warum sich öffentliche Banken im internatio-nalen Finanzgeschäft beteiligen sollen. Ich glaube, dasssie das nicht tun sollten; denn diese Bringschuld kann andieser Stelle nicht erbracht werden.Ich möchte einen letzten Punkt anmerken. Was bedeu-tet die Finanzkrise für Deutschland? Ich glaube, dass sieden Sinn von Konsolidierungs- und Wachstumspolitikdeutlich macht. Manche Menschen fragen sich: Was ha-ben wir eigentlich von Haushaltskonsolidierung? Was ha-ben wir vom Sparen? Was haben wir vom Wachstum? –Diese Finanzmarktkrise macht deutlich, dass der Sinnvon Konsolidierungs- und Wachstumspolitik darin liegt,dass der Staat wieder Handlungsfähigkeit gewinnt. Einüberschuldeter Staat ist nicht krisenfähig; er kann nichthandeln. Darum müssen wir diesen Kurs – konsolidieren,Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, Wachstumsgrund-lagen stärken – fortsetzen. Er macht durch die Herstel-lung von Wettbewerbsfähigkeit und durch wirtschaftlicheStärke unser Land stark gegenüber den Ansteckungsge-fahren der Weltwirtschaft.
Eine Krise wünscht man sich nie. Wenn sie aberschon da ist, sollte man das Beste daraus machen, näm-lich aus ihr lernen. Ich glaube, dass die Veränderungenso fundamental sind, dass dazu auch politischer Mut ge-hört. Aber angesichts der Stärken und des Potenzials un-seres Landes – wir haben es in den letzten zwei Jahrengesehen – bin ich ganz sicher, dass wir genügend Opti-mismus für diesen Mut haben können und dass wir derVerpflichtung, unserem Land zu dienen, es in diesen Zei-ten wetterfest zu machen und die Chancen zu nutzen,nachkommen können. Aber es bedarf auch einer aktivenAnnahme der Herausforderungen der Globalisierung.
Das ist eine Aufgabe, der wir uns auch in diesem Parla-ment stellen müssen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrRöttgen, in einem Punkt muss ich Ihnen recht geben:Aus Krisen kann man eine Menge lernen.
Das entspricht auch meinen Erfahrungen; das will ichgar nicht leugnen. Ich habe mich auch gefreut, dass Sie,Herr Steinbrück, gesagt haben, die letzte Steuerkürzungsei erst sieben Wochen her. Sie hätten aber dazusagensollen, dass es sich dabei um eine Kürzung der Körper-schaftsteuer für die Kapitalgesellschaften, also die Deut-sche Bank, handelte, während Sie vor über einem Jahrfür die Gesamtheit die Mehrwertsteuer um 3 Prozent er-höht haben. Das ist das, was wir an Ihrer Steuerpolitikimmer kritisieren.
Ich finde, wir müssen kurz darstellen, worum es beidieser Krise geht und was in den USA geschehen ist. DieÖffentlichkeit muss das ja verstehen. Die Banken inden USA haben Kredite an Hausbesitzer oder Leute, dieHäuser kaufen wollten, auch wenn sie kaum Geld hatten,gegeben. Das klingt erst einmal edel, und man sagt:Mein Gott, die geben ja sogar Ärmeren Geld.
– Ich sagte, es klingt edel. – Das Problem ist nur, dass dieBanken davon ausgingen, dass die Häuser im Wert stei-gen und dass man im Wege der Zwangsversteigerung al-
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Dr. Gregor Gysiles wunderbar realisieren kann. Da haben sie sich ver-spekuliert; denn der Wert der Grundstücke ist gesunken.Weil sie aber schlau sind, haben sie gesagt: „Das Risikowollen wir nicht alleine tragen“, Wertpapierfonds gebil-det und diese den Europäern angeboten. US-hörig, wiedie Europäer sind, allen voran die öffentlich-rechtlichenBanken, haben sie sich gesagt: Das müssen wir unbe-dingt kaufen; da machen wir ein todsicheres Geschäft. –Damit sind sie furchtbar auf die Schnauze gefallen. Soeinfach ist das Ganze.
Herr Röttgen, Sie haben gefragt, was das Typische ander Finanzglobalisierung ist. Das kann ich Ihnen sagen;denn dafür gibt es eine unwiderlegbare Zahl: Täglichwerden weltweit 1 900 Milliarden Dollar umgesetzt. Fürden gesamten Waren- und Dienstleistungsbereich sinddas täglich 38 Milliarden Dollar, also 2 Prozent davon.Das heißt, dass 1 862 Milliarden Dollar täglich zu reinenSpekulationszwecken umgesetzt werden. Das hat diePolitik ermöglicht,
und das bezahlen wir heute in dieser Krise teuer. Das istdie Wahrheit.
Man kann nämlich entgegen der Annahme mancherBanker aus Geld nicht Geld machen. Das funktioniertnie oder nur kurzfristig, und irgendwann hat man denSchaden. Herr Steinbrück, Sie haben die Bankvorständekritisiert. Ich muss hier Herrn Solms zustimmen – ichweiß nicht, ob ihm das angenehm ist oder mir; das spieltauch keine Rolle; auf jeden Fall muss ich ihm zustim-men –: Sie, Herr Steinbrück, haben nichts zur Verant-wortung der staatlichen Kontrolle gesagt und damit auchnichts zu Ihrer eigenen Verantwortung. Das ist nicht hin-nehmbar.
Ich führe einmal die entsprechenden Beispiele an. DieWestdeutsche Landesbank aus NRW hat sich an den un-sicheren Geschäften mit 23 Milliarden Euro beteiligt,und zwar in der Zeit, Herr Steinbrück, als Sie als Finanz-minister bzw. Ministerpräsident die Aufsicht hatten.Aber Sie haben nichts dazu gesagt.
Die Bayerische Landesbank hat unter Aufsicht desFinanzministers und heutigen CSU-Vorsitzenden HuberRisikogeschäfte im Umfang von 16 Milliarden Euro ge-macht. Dazu ist nichts gesagt worden.
Die Sachsen-Landesbank hat unter Verantwortungdes früheren Finanzministers und heutigen Ministerprä-sidenten Milbradt sowie des heutigen FinanzministersTillich Risikogeschäfte im Umfang von 18 Milliar-den Euro gemacht. Dazu ist nichts gesagt worden.
Dann gibt es noch die Industriekreditbank, eine pri-vate Mittelstandsbank, die mindestens 15 MilliardenEuro in diese Risikogeschäfte gesteckt hat. Nur hat sich– da hat Herr Solms völlig recht – eine öffentlich-rechtli-che Einrichtung, nämlich die Kreditanstalt für Wieder-aufbau, an dieser Privatbank zu 38 Prozent beteiligt undhaftet jetzt für alles mit. Das ist das Problem, vor demwir unter anderem stehen.
Herr Steinbrück, Sie haben nichts dazu gesagt, dassein Angehöriger Ihres Ministeriums im Aufsichtsrat derIndustriekreditbank sitzt. Was hat er da eigentlich getrie-ben? Sie und auch Herr Glos haben Kontrollfunktionenbei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Wie haben Siediese eigentlich wahrgenommen? Sie hätten sagen müs-sen: Alle diese Kontrollfunktionen haben nichts, aberauch gar nichts diesbezüglich verhindert. – Das wäre dieerste ehrliche Feststellung gewesen.
Dann gibt es noch – auch da hat Herr Solms recht –die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht.Man fragt sich, wozu wir die eigentlich haben, wenn sienichts davon mitkriegt, was an Spekulationsgeschäftenweltweit läuft.
Damit komme ich zur zweiten Seite, zur Deregulie-rung. Herr Steinbrück, Sie haben – im Übrigen völlig zuRecht – vor einem Jahr in einem Interview gesagt, dasses da „komische Produkte“ und eine „irrationale Ent-wicklung“ auf dem Finanzmarkt gibt. Das stimmt. AberSie vergaßen zu erwähnen, dass diese komischen Pro-dukte und diese irrationale Entwicklung überhaupt erstdurch die SPD/Grünen-Regierung erlaubt worden ist.Wenigstens das müssen Sie doch einmal feststellen.
Es war Ihr Vorgänger, Hans Eichel, der die Hedge-fonds zugelassen hat, über die dann später Münteferinggemeckert hat. Es war die Änderung des Finanzmarkt-förderungsgesetzes und des Kreditwesengesetzes, mitdenen die komischen Produkte und die Spekulation inDeutschland zugelassen wurden. Sie selber, HerrSteinbrück, haben gesagt, dass die Kreditverbriefungendas Ziel der Finanzmarktförderung sind. Wissen Sie,was die USA gemacht haben? Sie haben das alles alsKreditverbriefungen angeboten. Ihr Ziel ist also erreichtworden, und damit sind wir jetzt auf die Schnauze gefal-len. Das ist die Wahrheit; das muss man doch einmal sa-gen können.
Ich will den Nobelpreisträger für Wirtschaft JosephStiglitz erwähnen, damit Sie nicht denken, die Einwändekämen nur von der Linken oder gelegentlich von derFDP; sie kommen auch von anderer Seite.
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Dr. Gregor Gysi– Dazu würde ich an Ihrer Stelle jetzt gar nichts sagen.
Joseph Stiglitz hat der taz gesagt:Die wichtigste Ursache der gegenwärtigen Turbu-lenzen ist ein Übermaß an Deregulierung.Das ist das Problem. Wir wollen eine Re-Regulierung.Wenn die Politik die direkte Verantwortung für die Fi-nanzmärkte weltweit aufgibt, dann schwächen wir dieDemokratie. Denn die Wahlmöglichkeit zwischen derUnion und der Linken würde diesbezüglich nichts mehrbringen, wenn beide in diesen Fragen nichts mehr zuentscheiden haben. Genau das wollen wir aber nicht. Wirwollen ein Primat der Politik, auch über die Finanz-märkte, und nicht umgekehrt.
Das heißt: Wir fordern ein Verbot von Nebengeschäf-ten und Zweckgesellschaften. Wir meinen, dass ange-sichts dieser Unsummen, mit denen dort jongliert wird,entsprechende Sicherheiten hinterlegt werden müssenund es eine wirksame Kontrolle geben muss.Es ist schon absurd. Sie müssen den Bürgerinnen undBürgern einmal Folgendes erklären: Wenn ein Bäcker-meister eine zweite Filiale eröffnet und er die Umsätzenicht angibt, dann hat er mehrere Staatsanwälte und dasFinanzamt auf dem Hals; da ist dann was los. Wenn einALG-II-Bezieher falsche Angaben macht und dadurch50 Euro monatlich mehr bekommt, als ihm zusteht, dannwerden wir aber aktiv. Aber wenn Milliarden weltweitverschleudert und verspielt werden, dann gibt es kein Fi-nanzamt und keinen Staat, die sich darum kümmern. Dasist nicht vermittelbar.
Jetzt kommt der eigentliche Nachteil. Wer haftet dennfür eintretende Verluste? Das sind doch nicht Ihre Privat-kassen. Dann haften die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler. Das ist nicht vermittelbar. Herr Röttgen hat recht,wenn er das sagt. Das ist wirklich nicht vermittelbar.Das Problem ist, dass Sie, Herr Steinbrück, erst ge-sagt haben, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wür-den diesmal nicht haften; dafür würden Sie sorgen. Jetztsagen Sie: Na ja, 1,5 Milliarden Euro! – Als ob dasnichts wäre! 1,5 Milliarden Euro ist der Betrag, den dieUnion brauchte, um die Umsetzung ihrer Kindergeldfor-derung zu finanzieren. Dann kommt nachher wieder dasArgument: Jetzt haben wir leider kein Geld mehr. – Ver-stehen Sie, das sind die Zusammenhänge, die die Leuteimmer besser durchschauen.
Die Steuermindereinnahmen sind doch ein gesell-schaftliches Problem. Ich kenne die Zahlen nicht genau;ich tue auch nicht so, als ob ich sie genau kenne. Sienennen als Größenordnung eine Summe von 5 bis 6 Mil-liarden Euro. Ich kann das nicht einschätzen. Es gehthier aber um Verluste in Milliardenhöhe. Wer muss diedenn ausgleichen? Wollen Sie das wieder mit einerMehrwertsteuererhöhung machen, oder wie müssen dieBürgerinnen und Bürger das bezahlen? Entweder Siekürzen Leistungen oder Sie erhöhen Steuern; das istnicht hinnehmbar.
Es geht aber nicht nur darum. Die Länder überneh-men Bürgschaften. Viele Bürgschaften in Milliarden-höhe werden übernommen. Keiner von uns kann ein-schätzen, wie viel Geld davon fällig wird und wie vielGeld nicht fällig wird.Dann haben wir noch die Westdeutsche Landesbank.Die entscheidet sich, 1 500 Menschen zu entlassen. Datrifft es direkt die Beschäftigten, die jetzt für die Verlusteherhalten müssen. Das ist das, was mich so stört; Ban-kenkrise für Bankenkrise passiert dasselbe: Die Gewinnestreichen die privaten Banken ein. Da schreien sie alle:Wir wollen keinen Staat. Kommt bloß nicht zu uns! Dassind unsere Gewinne. Es ist furchtbar, wenn wir dafürein paar Steuern zahlen müssen etc. – Die Gewinne strei-chen sie ein. Aber sobald Verluste vorhanden sind, rufensie nach den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, diedas ausgleichen sollen. Die Zeche bezahlen letztlich im-mer dieselben. Es sind die Rentnerinnen und Rentner,die Arbeitslosen, die Kranken, die abhängig Beschäftig-ten und – nicht zu vergessen – die kleinen und mittlerenUnternehmen; denn diese werden steuerlich ganz anderskontrolliert als die Großkonzerne. Das ist ein Problem,das wir haben.
Jetzt will ich gar nicht auf Herrn Zumwinkel zu spre-chen kommen. Aber all das ist Symbolik. Wir haben– das habe ich schon mehrfach gesagt – einen Reichtum,der maßlos wird. Wir haben zunehmende Armut. JedeGesellschaft verträgt hier nur eine bestimmte Spanne.Wenn diese Spanne immer größer wird, ist dies gesell-schaftlich zerstörerisch.
Deshalb sage ich Ihnen: Machen Sie etwas dagegen! Dassollte sich nicht so weiterentwickeln.Herr Röttgen hat zu Recht gesagt, dass wir über dieAufgabe der öffentlich-rechtlichen Banken neu disku-tieren müssen. Das stimmt. Ich möchte daran erinnern:Landesbanken sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Siesollen auch kleine Kredite an Bürgerinnen und Bürgersowie an kleine und mittlere Unternehmen gewähren. Esmuss ihnen untersagt werden, weltweit zu spekulieren –und dann noch frei von Kenntnis, also ohne jede Sach-kenntnis, ohne wirksame Kontrolle und das Ganze zumNachteil der Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen dieAufgaben der Landesbanken deutlich formulieren. Wirwissen das aus Berlin. Wir wissen das aus Sachsen undjetzt auch aus Bayern.Nun lassen Sie uns doch einmal etwas unternehmen,indem wir festlegen, was deren Aufgabe eigentlich ist.Sie sollen fördern und helfen und nicht weltweit speku-lieren, wovon sie nichts verstehen, und dann müssen die
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Dr. Gregor GysiSteuerzahlerinnen und Steuerzahler das alles bezahlen.Genau das ist nicht hinnehmbar.
Ludwig Stiegler ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Röttgen hat gerade vergessen,
Steinbrück und Glos dafür zu danken, dass sie in dieser
Krise gemeinsam wie weiland Plüsch und Plum so be-
sonnen und beherzt gehandelt haben. Deshalb sage ich
dies in seinem Namen an die Adresse der beiden Minis-
ter.
Ich denke, wir sollten froh sein, dass sie manches Tren-
nende hintangestellt, die Sache gemeinsam vorange-
bracht und Schaden von diesem Lande abgewendet ha-
ben. Es ist leicht, demagogisch zu reden, wie es Kollege
Gysi getan hat.
Es ist aber schwer, dann im harten Alltag Schaden von
den Menschen und von unserer Ökonomie abzuwenden.
Das ist die Hauptaufgabe, die die Politik in diesen Tagen
hat.
Wir haben hier wieder ein schönes Déjà-vu-Erlebnis.
Wir Sozialdemokraten haben in unserem Grundsatzpro-
gramm stehen: So viel Staat wie nötig und so viel Markt
wie möglich. Wir haben gesehen: Wenn ein alleingelas-
sener Markt versagt, ist die internationale Staatenge-
meinschaft genötigt, wieder für Recht und Ordnung zu
sorgen. Die Krise ist da. Sie ist tiefgreifend und hässlich.
Ich möchte an dieser Stelle auch den Zentralbanken
danken. Sie haben die Liquiditätskrise großartig gemeis-
tert. Die Banken haben einander nicht mehr vertraut. Sie
wären an ihrem gegenseitigen Misstrauen erstickt. Sie
haben gedacht: Wenn die anderen bei ihren Papieren so
einen Mist haben wie wir, können wir ihnen kein Geld
geben. – Die Banken waren nicht in der Lage, sich selbst
zu disziplinieren. Die Zentralbanken haben ihre
„wealthy and successful asses“ gerettet. Sage mir also
keiner, der Staat habe in der Finanzindustrie nichts zu
suchen. Wir haben jetzt den Beweis dafür.
In der Not flüchten alle in Staatsanleihen. In der Not sind
die Zentralbanken Lender of last resort.
Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Krise in
der Finanzindustrie nicht auf die Realwirtschaft durch-
schlägt. Das ist das Entscheidende. Wir haben eine gute
Konjunktur. Wir müssen sie retten und bewahren. Das
werden wir auch tun.
Die Bedenken sind es durchaus wert, darüber zu dis-
kutieren. Wer gestern die Rede von Bernanke gehört
bzw. gelesen hat und wer die Äußerungen von Strauss-
Kahn vom IMF vernommen hat, weiß das. Zum ersten
Mal seit 25 Jahren fordert der IMF einen Fiskalimpuls.
Früher hat er immer genau das Gegenteil gesagt. Des-
halb sage ich auch an die Adresse der Bundesregierung:
Halten wir es wie die klugen Jungfrauen, und bereiten
wir uns auf den Tag und die Stunde vor, wo wir handeln
müssen.
Ich will keine Hektik verbreiten; das ist auch keine
Übertreibung. Aber es muss Vorsorge getroffen werden.
Herr Kollege Stiegler, ich mache vorsichtshalber da-
rauf aufmerksam, dass ich den Einzug mit Öllampen in
das Parlament aus Sicherheitsgründen nicht gestatten
könnte.
Dann werden wir sie modernisieren und Elektro-lampen daraus machen.Das Positive ist, dass es in Deutschland keine Kredit-klemme gibt. Die Sparkassen und Genossenschafts-banken haben genügend Geld, um die Kreditbedürfnissezu befriedigen. Wir haben keine amerikanischen oderenglischen Verhältnisse. Wir haben derzeit mehr Geld,als gebraucht wird. Unser Bankensystem hat sich in Kri-senzeiten bewährt. Was mussten wir in den letzten Jah-ren über die Überlegenheit des angelsächsischen Sys-tems lesen! Ganze Bibliotheken sind mit Bücherndarüber gefüllt worden. Jetzt wissen wir: Das At-Arm’s-Length-Banking hat dazu geführt, dass alle in die Grubegefallen sind. Ein gutes Banking in Zusammenarbeit mitEinlegern, Kunden und Unternehmen, das ist es, was wirauch in Zukunft in Deutschland brauchen.
Herr Röttgen, wir haben keinen Grund, die öffentli-chen Banken schlechtzureden. Wir haben Gott sei Dankdie Sparkassen; die Sparkassen sind in Zeiten des Sturmsein Stabilitätsfaktor in den Regionen. Man darf dieTransformationsprobleme einiger Landesbanken nichthernehmen, um die öffentlichen Banken insgesamt insGerede zu bringen. Der öffentliche Sektor ist unsereRückversicherung, gerade im Zeitalter der Globalisie-rung.
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Ludwig StieglerIch stimme Ihnen zu: Diese Banken sollten nicht mit dengroßen Hunden pinkeln gehen, weil sie am Ende dasBein nicht hochbringen. Das haben wir jetzt mehrfachfeststellen können. Entweder sind die LandesbankenPartner der Sparkassen
und helfen ihnen daheim bzw. auf internationaler Ebenebei der Syndizierung von Krediten, oder sie nehmendiese Aufgabe nicht wahr. Dann sollten sie die Gelderzurückgeben, und die Sparkassen erledigen das selber.
Der öffentliche Finanzsektor darf aber nicht nebenbei insGerede gebracht werden. Das Dreisäulensystem ist füruns eine wichtige Rückversicherung.Wir müssen das Hauptproblem angehen. Was ist denndie Hauptursache? Was steckt hinter all dem, was pas-siert ist? Das ist die Gier nach übermäßiger Rendite. Wermehr Rendite haben will, als man realistischerweise er-warten kann, kauft diese schlimmen Produkte. Wir brau-chen wieder mehr Moral und Selbstbeherrschung in derFinanzindustrie.
Anders als diejenigen, die die Gier zu solchem Verhaltengebracht hat, sollten wir auf dem Boden bleiben undnicht das ganze System infrage stellen.Wir haben – in den USA wie bei uns – Lehren zu zie-hen. Ich orientiere mich dabei an dem, was das Finan-cial Stability Forum aufgezeigt hat. Verheerende Kre-ditprüfungsstandards gibt es bei uns nicht. Wir vergebenkeine Kredite an Kreditnehmer, bei denen nur dieAdresse stimmen muss; wir haben ordentliche Kreditbe-ziehungen. Ich war froh, dass die Sparkassen gesternauch gesagt haben, dass sie ordentliche Kredite nichtweiterverkaufen und dafür auch nicht mehr Geld verlan-gen.
In den USA gab es betrügerische Praktiken. Wenn einInstitut wie das Financial Stability Forum Begriffe wie„betrügerische Praktiken“ benutzt, dann muss das schongewaltig gewesen sein. Ich denke, man wird mit denAmerikanern reden müssen, wieso es unter Aufsicht derFed und Tausender von Agenturen zu diesen betrü-gerischen Praktiken – Drückerkolonnen wurden in ir-gendwelche Gegenden geschickt und haben Krediteverkauft – kommen konnte und wie das in Zukunft ver-hindert werden kann, aber auch darüber, wer für denSchaden geradesteht. Ich denke, man sollte nicht einfachsagen, dass wir das hinnehmen. Diejenigen, die Mist inGoldpapier verpackt und ihn als werthaltig verkauft ha-ben, müssen zur Verantwortung gezogen werden.
Daran war auch die Deutsche Bank beteiligt. Es ist er-staunlich, dass die Deutsche Bank in ihrer Pressekonfe-renz gesagt hat: Wir waren so schlau und sind frühzeitigausgestiegen. – Gleichzeitig haben sie den Mist noch ge-handelt. Kann man als ordentlicher Kaufmann einemPartner Mist verkaufen? Sie sollten einmal das Protokollder Pressekonferenz der Deutschen Bank nachlesen undüberlegen, ob das so in Ordnung ist.
– Einverstanden, es gibt den Grundsatz „caveat emptor“,der Käufer soll aufpassen. Aber Betrug ist selbst unterdiesen Bedingungen nicht erlaubt. Wenn ich weiß, dassich mit Mist handele, dann muss ich es auch als Mist de-klarieren und nicht als Gold.
Bei den Banken gibt es ein schwaches Risikomanage-ment. Da sollten sie in sich gehen. Wir haben gutgläu-bige Investoren, die nicht selber geprüft haben, was siegekauft haben, sondern sich auf Triple A verlassen ha-ben. Wir müssen mit den Ratingagenturen hadern, diefalsche Illusionen geweckt haben. Sie sollen in Zukunftfür das, was sie empfehlen, haften. Hier ist Moral Ha-zard im Spiel. Die Ratingagenturen dürfen nicht etwasals Triple A deklarieren, was sie selber gestrickt habenund wofür sie bezahlt worden sind; das muss in Zukunftgetrennt werden.
Hinzu kommen die Verlockungen im Bezahlungssys-tem der Beteiligten. Diese Boni-Sklaverei vieler Bankerist eine der Ursachen dafür, dass sie moralisch schwachgeworden sind. Wir haben gerade im Zusammenhangmit Managergehältern darüber gesprochen. Wir müssenauch darüber reden, dass die Bezahlung in der Finanzin-dustrie nicht dazu verleiten darf, andere zu betrügen undnur auf kurzfristigen Vorteil zu achten.
Wir müssen Modelle entwickeln, die man durch-schauen kann. Wer heute die verschiedenen CDOs an-schaut, der braucht große Rechnerwerke, um die Finanz-flusskaskaden überhaupt zu überblicken. Wir müssendafür sorgen – national, international und europäisch –,dass in der Branche wieder nach Regeln gespielt wird.Erst dann wird das Vertrauen zurückkehren. Kreditkommt von Vertrauen. Wenn das Vertrauen fort ist, dannbricht alles zusammen. Zum Vertrauen gehören klareRegeln, eine strenge Aufsicht, aber auch die Beherr-schung der Gier.An Warnungen hat es in den letzten Jahren nicht ge-fehlt. Aber sie sind international nicht befolgt worden.Es ist lächerlich, allein auf ein paar deutsche Institute,auf ein privates Institut, die IKB, einzuprügeln. Wennich in die Schweiz, nach Frankreich oder nach Englandschaue, dann stelle ich fest: Unter vielen anderen Sün-
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Ludwig Stieglerdern befindet sich auch ein deutscher. Dieses Problemmüssen wir bewältigen. Ein Stück weit haben wir dasbereits getan, indem wir gesagt haben: Wir wollen nichtTausende von anderen schädigen. Der Finanzministerhat diese Angelegenheit ordentlich gemanagt. Wir dür-fen die Finanzmärkte in Zukunft nicht der Gier überlas-sen, sondern wir müssen hier eine ordentliche Arbeitmachen.Gerade was die IKB betrifft, stelle ich mir so mancheFrage. Die Ackermänner und die Müller von den priva-ten Banken rühmen sich in Pressekonferenzen ihrer gro-ßen Gewinne. Wenn es aber um die Rettung einer priva-ten Bank geht, dann sagen sie, wie die Schwaben esausdrücken: Wir habbet nix, wir gebbet nix, wir hänschon gegebbe.
Auch das ist kein Verhalten, das sich hier zur Nach-ahmung empfiehlt.Wir haben eine schwere Krise. Mit Jammerei und Be-schuldigungen kommen wir da nicht heraus. Wenn dieFeuerwehrleute darüber diskutieren, wer am Brandschuld ist, dann ist ein warmer Abbruch die Folge. Wirhaben jetzt miteinander diese Krise zu bewältigen undSchaden von der Realwirtschaft abzuwenden.
Wir haben uns darauf vorzubereiten, dass die Krise nichtanhält. Das ist unsere Aufgabe, die wir gemeinsam erfül-len werden.
– Sie können weiterhin am Wegesrand quengeln. Das istIhre Rolle; das ist okay. Dafür braucht man nicht vielHirnschmalz. Wir werden uns anstrengen, das Notwen-dige zu tun.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nun
der Kollege Fritz Kuhn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Stiegler, ich fand übrigens nicht, dassHerr Gysi unverantwortlich dahergeredet hat.
Er hat eine analytisch präzise Aussage gemacht: Wenndie kleinen Leute Mist bauen, dann werden sie zur Re-chenschaft gezogen; wenn eine große private Bank plei-tegeht, dann hilft der Staat aus. – Das war kein Populis-mus, sondern eine Analyse.
Sie haben mit irgendwelchen feuilletonistischen Aussa-gen herumgeeiert, ohne wirklich konkret zu werden.
Herr Finanzminister, als Sie Ihre Regierungserklärungabgegeben haben, hatte ich das Gefühl: Da redet jemand,der für irgendeine große Tageszeitung die internationa-len Finanzmärkte analysiert; er stellt hier und da einekleine These auf, und der Text, den er vorträgt, wirktrund. Ich habe nicht den Eindruck gehabt: Hier redetjemand, der als Finanzminister der BundesrepublikDeutschland, auch als Chef der Finanzaufsicht die Ver-antwortung für das hat, was am Finanzmarkt in Deutsch-land geschehen ist.
Herr Steinbrück, außerdem hatte ich den Eindruck: Jelänger Sie reden, je schneller Sie reden, je witziger Sie inIhrer Ironie reden, desto mehr entziehen Sie sich dieserVerantwortung. Sie glauben wohl, Sie könnten diesesParlament mit Ihrer Analyse in den entscheidenden Fra-gen täuschen: Was haben Sie eigentlich falsch gemacht?Hätten Sie etwas anders machen müssen? An welchenPunkten hat dieser Finanzminister versagt?
Die erste Warnung vor den Subprime-Krediten undvor der amerikanischen Immobilienkrise hat der IWF imDezember 2005 schriftlich – also für alle lesbar – ausge-sprochen; ich erspare Ihnen jetzt das entsprechende Zi-tat. Im Dezember 2005 wurde klargemacht: Es sind inden Vereinigten Staaten viele ungesicherte Kredite un-terwegs; die internationale Finanzgemeinschaft mögedamit vorsichtig umgehen.Jetzt stelle ich mir die Frage: Was macht eigentlichein Finanzminister, der dies liest? Im Aufsichtsrat derIKB sitzt ein Abteilungsleiter seines Ministeriums. DerFinanzminister weiß zudem, dass Landesbanken – seinMinisterium ist für sie nicht zuständig; dennoch ist ervon den Steuereinnahmen der Länder abhängig – in die-sen Bereichen spekulieren. Das war kein Geheimnis; dassteht ja auch in den Geschäftsberichten. Herr Solms hates richtig gelesen. Ich frage noch einmal: Was macht ei-gentlich dieser Finanzminister? Herr Steinbrück, habenSie Ihre Mitarbeiter, die dem Kontrollorgan der IKB an-gehören, aufgefordert, festzustellen, inwiefern Sub-prime-Kredite Spekulationsgegenstand der IKB sind?Haben Sie dies als Mitverantwortlicher für dieses Geld-institut getan, ja oder nein? Sehr verehrter HerrSteinbrück, darüber hätten Sie hier einmal reden müssen.
Der Chef von Eon, Herr Dr. Hartmann, ist der Vorsit-zende des Aufsichtsrats der IKB. Hat er genug Zeit, umdiese private Bank effektiv kontrollieren zu können,
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Fritz Kuhnoder nicht? Da frage ich mich: Wann reden wir hier ein-mal über die Aufsichtsratsstrukturen?
Wir fordern seit langem: Es sollten nicht mehr als fünfAufsichtsratsmandate pro Person erlaubt sein. Außer-dem sollten Aufsichtsratsmitglieder die notwendige Zeitund Kompetenz haben, um sich mit den Details zu be-schäftigen. Herr Steinbrück, hierfür sind Sie verantwort-lich.
– Selbstverständlich haben Sie hier eine Verantwortung.Ich wünsche mir einen Finanzminister, der darauf achtet,dass in Deutschland keine unerträglichen Risiken vor-handen sind, für deren Beseitigung im Zweifel der Staateinspringen muss.Reden wir doch einmal konkret über die IKB. Bishersind dort 7,6 Milliarden Euro verbraten worden. Obwohlder Anteil des Bundes an der IKB nur 38 Prozent be-trägt, hat er davon indirekt über die KfW schon6 Milliarden Euro übernommen. Dabei ist die IKB eineprivate Bank; viele wissen das nicht. Ich frage mich:Was ist mit den privaten Banken? Wo ist ihr Beitrag?
Das Erste, was ich von Ihnen verlange, Herr Minister,ist, dass Sie durchsetzen, dass die privaten Banken einenhöheren Anteil erbringen, wenn die IKB gerettet werdensoll. An dieser Stelle möchte ich festhalten: Es ist rich-tig, dass die IKB gerettet wird. Würde man das nicht tun,würden viele, die gar nichts dafür können, darunter lei-den.Zweitens. Da sich der Bund über die KfW mit jetztnoch einmal 1 Milliarde Euro – vielleicht wird dieserBetrag sogar noch höher – an der Beseitigung des ent-standenen Schadens beteiligt, würde mich interessieren:Können Sie diesem Hohen Hause eigentlich garantieren,dass es das dann war? Oder ist in der nächsten Wocheoder in drei Wochen die nächste Milliarde fällig? Siemüssen ausschließen, dass sich das wiederholt. Sonststellt sich die Frage: Wie viel Geld stecken wir in diesesKartenhaus noch hinein? Das wäre nicht zu verantwor-ten.
Herr Finanzminister, Ihre Darstellung, was auf inter-nationaler Ebene, zum Beispiel im Rahmen der G 7, zutun ist, war schön. Sie haben viele Vorschläge aufge-führt, die wir schon einmal gemacht haben. Indem Siediese Debatte führen, lenken Sie aber davon ab, dass dieBundesregierung und ganz speziell Sie als Finanzminis-ter Verantwortung für das tragen, was in diesem Sektorgeschieht.
Jetzt möchte ich noch etwas zur Verantwortung derLänder und zu den Landesbanken sagen. Bei mir hat esgeraschelt, als der Ramsauer Peter am Dienstag dieserWoche gesagt hat: Wenn es nach ihm ginge, dann gäbees schon lange einen Untersuchungsausschuss.
Ich habe mir gleich gedacht: Wenn der Ramsauer Peterso daherredet, dann will er nur von der Bayerischen Lan-desbank ablenken.
– Jetzt schreien Sie. Es ist immer ein gutes Zeichen,wenn Herr Ramsauer schreit; denn dann ist er getroffen.
Was ist da geschehen? Die „schlaue“ CSU wollte dieVeröffentlichung des Ergebnisses der Bayerischen Lan-desbank am liebsten auf die Zeit nach der Kommunal-wahl hinauszögern.
Das hat aber – Gott sei Dank! – nicht funktioniert, weildie Finanzmärkte in solchen Situationen etwas kritischersind.
Zu Ihrem Parteivorsitzenden kann man nur sagen:Entweder ist er verlogen, oder er ist einfach dumm.
Denn als Finanzminister von Bayern ist er unter anderemfür die Aufsicht der Bayerischen Landesbank zuständig.Er muss wirklich von Tuten und Blasen keine Ahnunggehabt haben; er wusste nicht, was bei diesem Geldinsti-tut los war.
– Herr Ramsauer, Sie können es sich aussuchen: dummoder verlogen. Es liegt an Ihnen, die bessere Alternativezu wählen.Ich komme zum Schluss. Wir haben viele kluge Vor-schläge dazu gehört, wie man auf internationaler Ebenevorgehen sollte. Die Bundesregierung hat sich ihrer Ver-
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Fritz Kuhnantwortung aber nicht gestellt. Das werden wir, die Op-position – ich glaube, hier sind sich alle drei Opposi-tionsfraktionen einig –, Ihnen nicht durchgehen lassen.Sie sind für das, was geschehen ist, mitverantwortlich.Dieser Verantwortung müssen Sie sich stellen. BereitenSie sich auf intensive Debatten in den nächsten Wochenvor!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Eduard Oswald für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute im deutschen Parlament die Finanz-marktentwicklung und die Finanzmarktkrise. Wir wür-den allerdings einen großen Fehler machen, wenn wirdiese Diskussion so führen würden, als handele es sichdabei vor allem um ein deutsches Problem. Schließlichhat diese Krise ihren Ausgang an den US-Immobilien-märkten genommen. Es wäre wünschenswert gewesen,wenn die amerikanische Finanzaufsicht der wundersa-men Geldvermehrung, die uns auf dem Wege der Ver-briefung und des weltweiten Verkaufs strukturierter Fi-nanzprodukte erreicht hat, nicht so lange zugeschauthätte.Ich sage ein Zweites: Risikofreude bei Unternehmenund Investoren darf, ja soll sich lohnen. Wenn aber risi-kofreudige Investoren stets damit rechnen können, dasssie bei Turbulenzen von der Politik aus der Risikohaf-tung ausgelöst werden, dann ist dies eine Quelle von In-stabilität.
Die bisherige Diskussion zeigt: Für die Zukunft müs-sen die nationalen und internationalen Regeln neu jus-tiert werden. Wir sollten uns bei dieser Debatte darüberim Klaren sein, dass man Turbulenzen nie gänzlich wirdverhindern können. Dies wäre nur um den Preis einerStrangulierung der Finanzmärkte möglich. Diese könn-ten dann aber nicht mehr ihrer zentralen Aufgabe nach-kommen, nämlich der Bereitstellung von Investitionska-pital für die Weltwirtschaft. Es gilt daher, die nationalenund internationalen Aufsichtsregeln mit den von denMarktteilnehmern eingegangenen Risiken in eine bes-sere Balance zu bringen.Es ist richtig, wenn wir angesichts der gegenwärtigenSituation einen kühlen Kopf behalten und genau überle-gen, anstatt uns zu Maßnahmen hinreißen zu lassen. Wirbrauchen eine Diskussion über die Fragen: Wie vielFreiheit der Märkte wollen und brauchen wir, und wel-che systemischen Risiken sind mit dieser Freiheit ver-bunden? Ab wann produziert die Jagd der Finanzmarkt-teilnehmer nach Spitzenrenditen Auswüchse, die derRealwirtschaft mehr schaden als nützen? Ich stelle fest:Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine Alter-native. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern neue An-lage- und Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet, und siehat zur Risikostreuung beigetragen. Zugleich hat sie dasSortiment an Finanzprodukten so komplex gemacht,dass Bankmanager und Aufsichtsbehörden gleicherma-ßen den Überblick verloren haben. Genau hier gilt es an-zusetzen.Wir haben erfahren: Es gibt Finanzprodukte, bei de-nen niemand weiß, was sich eigentlich darin befindet.Wir haben erfahren: Es gibt anscheinend Bankvorstände,die mit solchen Produkten in großem Umfang arbeitenund sich nur auf die Bewertung der Ratingagenturenverlassen. Das kann doch nicht wahr sein, meine liebenKolleginnen und Kollegen.
So entstehen die Probleme, die wir haben.Aus all dem, was wir bisher erfahren haben – mögli-cherweise werden wir in den kommenden Wochen undMonaten noch mehr erfahren –, ziehe ich folgendeSchlüsse:Erstens. Das, was wir gerade erleben – die Aus-wüchse, die ich eben skizziert habe –, darf sich so nichtwiederholen.Zweitens. Alle Finanzmarktteilnehmer, Banken undAufsicht haben den Ratings eine viel zu entscheidendeRolle zugeteilt. Anstatt Risiken selber vernünftig einzu-schätzen, haben sich die Marktteilnehmer fast blind aufdie Ratings verlassen, oft sogar ohne die gerateten Pro-dukte selbst zu verstehen.Ein Sachverständiger hat in unserer Anhörung zurRolle der Ratingagenturen in dieser Woche festgestellt:Ratingagenturen haben in großem Stil bei der Vorher-sage der Finanzkrise versagt. Es ist ihnen nur beschränktgelungen, Investoren frühzeitig vor Fehlentwicklungenzu warnen. Sie sind damit in der aktuellen Krise den ih-nen zugedachten Aufgaben nicht ausreichend gerechtgeworden. – Damit ist alles gesagt.Gleichwohl sind die Ratingagenturen in der aktuellenFinanzkrise nicht die Schuldigen. Sie haben sie nichtausgelöst; sie haben sie aber befördert. Nach dem, waswir wissen, bleibt für mich festzustellen: Ratingagentu-ren und Ratings wurden von Banken und Investorenüberschätzt. Zu Beginn der 90er-Jahre gab es die Forde-rung, die Europäer sollten ein eigenes, europäisch ge-prägtes Ratingsystem entwickeln. Leider scheiterte derVersuch damals an zu unterschiedlichen Interessen. Wirsollten die derzeitige Umbruchphase nutzen, um einenneuen Anlauf zu unternehmen. Möglicherweise könntenBanken, Versicherer und/oder die EZB unterstützendwirken.Drittens. Wir müssen uns überlegen, ob wir genug ge-tan haben, um zu verhindern, dass Kreditinstitute in gro-ßem Stil Geschäfte außerhalb ihrer Bilanzen, ohne dieerforderliche Transparenz und Aufsicht, durchführenkönnen. Ich halte nichts davon, in diesem Zusammen-hang von der Notwendigkeit eines Basel III zu sprechen.
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Eduard OswaldMan muss erst einmal Basel II ordentlich anwenden.Aber wir müssen darüber nachdenken, ob die Siche-rungsmechanismen, die wir mit Basel II in nationalesRecht umgesetzt haben und die seit Beginn dieses Jahresgelten, ausreichen. In anderen Bereichen, zum Beispielim Bilanzrecht, sind weitere gesetzliche Konsequenzenbereits in Vorbereitung; der Finanzminister hat daraufhingewiesen.Viertens. Das Wort „Transparenz“ wird in den Dis-kussionen natürlich stark strapaziert. Wir müssen abergenauer definieren, was wir darunter eigentlich verste-hen. Es reicht nicht, allein das Wort zu sagen. Für michgilt es, Transparenz stärker zu adressieren.
Fünftens. Die internationale Zusammenarbeit derAufsichtsbehörden muss weiter verbessert werden; dasist für mich ganz klar. Ich stelle eindeutig fest: Die Ban-kenaufsicht in Deutschland hat nicht versagt. Sie istnicht dazu da, die Geschäftspolitiken der Marktteilneh-mer zu bewerten. Ich sage auch: Wir haben in der Bun-desrepublik Deutschland keine Systemkrise, sondern wirhaben ein stabiles Drei-Säulen-Modell. Auch LudwigStiegler hat gerade darauf hingewiesen. Ich sehe in die-sem Bereich also kein Versagen. Dass die internationaleZusammenarbeit im Bereich der Aufsicht verbessertwerden muss, ist in den ganzen Diskussionen aber un-missverständlich klar geworden.Für mich heißt das keinesfalls, dass ich eine einheitli-che europäische Aufsichtsbehörde befürworte. Ganz imGegenteil: Entsprechende Ideen auf europäischer Ebene,etwa die Lamfalussy-Gremien zu stärken, weisen unsnicht den richtigen Weg.
Meine Damen und Herren, wir reden in diesen Wo-chen viel über Subprime, über Bankenkrise und über Fi-nanzmärkte. Weitaus direkter betrifft die Krise jedochdie Menschen in den eigenen vier Wänden, die ihre Ra-ten nicht bezahlen können und denen eine Zwangsver-steigerung ihrer Häuser droht. Dies erleben wir in denUSA zurzeit in großem Ausmaß. Gott sei Dank könnenwir sagen: nicht in Deutschland. Dies ist kein Zufall.Hier gibt es keine Immobilienpreisblase. Hier gibt esBanken, Sparkassen und Bausparkassen, die in Überein-stimmung mit ihren Kunden seit jeher auf die KarteSicherheit setzten. Festzinskultur, ausreichender Eigen-kapitaleinsatz, solider Blick auf die Einkommensverhält-nisse und Bausparverträge, so lauten die Stichworte fürdiese Sicherheit. Das ist beruhigend.
Aber nicht nur das. Es sollte uns auch Selbstbewusst-sein für die Debatten geben, die wir in Europa führen,nicht zuletzt für die Debatte über die Bewältigung deraktuellen Finanzkrise. Diese Sicherheit wollen wir unsbewahren. Das sage ich auch mit Blick auf das Weiß-buch der Europäischen Kommission zum Hypothekar-kredit.Ein Unternehmer in meiner bayerischen Heimat, derim Bankgeschäft tätig ist, hat in diesen Tagen gesagt:Aber das Bankgeschäft bleibt immer auch eineDienstleistung. Es geht nie allein um den eigenenVorteil, sondern um einen Dienst und eine Leistungfür einen anderen, und daraus entsteht der kostbareWert des Vertrauens.Wir müssen uns hier gemeinsam wünschen, dass dieBanken das verlorene Vertrauen wiederherstellen; dennVertrauen ist nicht nur die Grundlage für die Finanzge-schäfte, sondern auch für unser Wirtschaftssystem insge-samt. Wenn das Vertrauen in die Finanzmärkte in unse-rem Land nicht vorhanden ist, dann gibt es auch keinVertrauen in unser Wirtschaftssystem der sozialenMarktwirtschaft, das wir aber benötigen, weil es dazukeine brauchbare und vernünftige Alternative gibt.
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Spätestens seit dieser Woche müsste eigentlichallen klar sein: Die IKB ist eine Staatsbank, für derenWirken die Bundesregierung unmittelbar Verantwor-tung trägt.
Dabei hat diese Bundesregierung unendlich versagt,nicht nur im Risikomanagement, sondern auch im Kri-senmanagement; wir erleben es tagtäglich.Ingrid Matthäus-Maier hat am 14. Juli 2007 erklärt,die IKB sei für die KfW im Mittelstandsgeschäft einwichtiges Ohr am Markt.
Wenige Tage später hat der Markt sie eingeholt. DieBundesregierung hat die notwendige Sorgfalt bei derKontrolle der IKB vermissen lassen.
Herr Solms hat auf die Rolle des Abteilungsleiters imFinanzministerium hingewiesen. Es hat schon ein Ge-schmäckle, wenn der zuständige Abteilungsleiter für dieFinanzmarktaufsicht gleichzeitig im Aufsichtsrat einerprivaten Bank sitzt und stellvertretender Verwaltungsrat-vorsitzender der BaFin ist. Wenn das kein Geschmäcklehat, dann frage ich mich, was heutzutage noch ein Ge-schmäckle hat. Das stinkt zum Himmel.
Ein KfW-Vorstand ist Vorsitzender des Finanz- und Prü-fungsausschusses des IKB-Aufsichtsrates und soll jetztfür seine gute Leistung auch noch Aufsichtsratsvorsit-zender werden. Sie als Regierung halten den Corporate
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Frank SchäfflerGovernance Kodex ständig hoch, halten sich in Ihreneigenen Unternehmen aber nicht daran. Bemerkenswertist die Begründung, wieso im Falle der IKB zum Bei-spiel keine Selbstbeteiligung an der Haftpflichtversiche-rung für den Vorstand und den Aufsichtsrat für notwen-dig erachtet wurde, wie es im Kodex ausdrücklichvorgesehen ist. Ich zitiere aus dem Geschäftsbericht2005:Wir sind unverändert der Auffassung, dass die Ver-einbarung eines Selbstbehalts nicht geeignet ist, dieMotivation und das Verantwortungsbewusstsein zuverbessern.Dann heißt es von der Regierung, Sie seien vom Vor-stand getäuscht und über die Risiken nicht informiertworden. Auch dazu ist ein nochmaliger Blick in den Ge-schäftsbericht 2006/2007 sinnvoll:
In dem Posten „Andere Verpflichtungen“ sind Kre-ditzusagen über insgesamt 11,9 Milliarden EuroGegenwert an Spezialgesellschaften enthalten, dienur im Falle kurzfristiger Liquiditätsengpässe bzw.vertraglich definierter Kreditausfallereignisse vondiesen in Anspruch genommen werden können.Genau das ist passiert.
Es war eine bewusste Entscheidung der IKB, in den US-Immobilienmarkt zu investieren, und über die Verant-wortung hierfür, darüber, wer diese Entscheidung getrof-fen hat, haben Sie, Herr Finanzminister, hier in diesemHaus heute nichts gesagt.
Zu Hause haben Sie die Mittelstandsbank IKB als Mit-telstandsfinanzierer verkauft; tatsächlich war es einschlecht geführter Hedgefonds, der internationale Spe-kulationsgeschäfte gemacht hat. Das ist der eigentlicheSkandal.
Wenn wir heute zum Krisenmanagement kommen,dann müssen Sie sich auch für das verantworten, was Sieim letzten Dreivierteljahr hier in Deutschland gemachthaben. Es war der Kardinalfehler am Anfang, dass Sieüber die außerbilanzielle Zweckgesellschaft RhinelandFunding von Beginn an eine Liquiditätszusage ge-macht haben, ohne andere Beteiligte mit ins Boot zunehmen. Es war ein Kardinalfehler, dass Sie bis heute80 Prozent der Lasten bei der IKB übernehmen, obwohlwir nur 38 Prozent der Anteile halten. Darin liegt Ihre ei-gentliche Verantwortung.
Die privaten Banken und die anderen Marktteilnehmersagen inzwischen, der Staat werde das schon richten.Diese Ihre Verantwortung müssen Sie tatsächlich tragen,und diese Konstellation ist auch die Voraussetzung da-für, dass Sie bei jeder neuen Runde dabei sind und dieanderen sich zurückziehen.Außerdem haben Sie die Dimension völlig unter-schätzt. Die geschassten Vorstände haben bis Ende desJahres noch ihr Gehalt erhalten, eine fristlose Kündigungist nicht erfolgt, und die Gratifikationen in sechs- undsiebenstelliger Höhe aus dem Vorjahr sind in diesemJahr noch ausgezahlt worden. Erst jetzt ist der Aussichts-rat eingeschritten. Da frage ich mich: Ist das ein Indizdafür, dass der Aufsichtsrat, also auch das Finanzminis-terium, über das Engagement und über die Risiken, diedie IKB eingegangen ist, tatsächlich unterrichtet war?Außerdem haben Sie nichts aus der Finanzkrise ge-lernt. Wir haben seit Anfang dieses Jahres die IPEX-Bank ausgegliedert, unter dem Dach der KfW, und mankönnte meinen, bei der Besetzung der Aufsichtsräte ach-tete man jetzt ein bisschen mehr auf Qualität. Nichts istgeschehen: Sie haben Ihren Staatssekretär in den Auf-sichtsrat geschickt,
der Wirtschaftsminister hat seinen Staatssekretär in denAufsichtsrat geschickt. Man muss da nur hoffen, dasskünftig nichts passiert, sondern tatsächlich nur Risikeneingegangen werden, die im Zweifel den Steuerzahlernicht weiter belasten.Aus meiner Sicht hätten Sie die IPEX-Bank an dieserStelle verkaufen sollen. Es wäre sicherlich falsch gewe-sen, Steuergelder aus dem Verkauf der IPEX-Bank fürdie Rettung der IKB einzusetzen, aber ich glaube, Siehätten ordnungspolitisch damit eine richtige Entschei-dung getroffen, denn Sie hätten die Flanke auf dieserSeite beseitigt.Der Skandal setzt sich letzte Woche fort. Der Wirt-schaftsminister und der Finanzminister stellten sich amMittwoch vor die Kamera und verkündeten eine weitereStützung des Bundes in Höhe von 1 Milliarde Euro. Ges-tern wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass Sie dieÖffentlichkeit nicht richtig informiert haben. Tatsächlichwerden weitere 700 Millionen Euro fließen, die Sie voneinem künftigen Verkaufserlös abziehen wollen. Sie ha-ben damit einen ungedeckten Scheck auf die Zukunftausgestellt und das Parlament – das haben Sie heuteMorgen auch gemacht – wissentlich falsch informiert.Unser Fazit: Sie haben schon heute dem Bund einVerlustrisiko von weit mehr als 6 Milliarden Euro hin-terlassen. Das entspricht der Lohn- und Einkommen-steuer von 4 Millionen Familien mit einem Durch-schnittseinkommen von 30 000 Euro brutto oder – wirdiskutieren viel über Kindergelderhöhung – 30 Euromehr Kindergeld in diesem Land.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Dass FrauMatthäus-Maier – wie ich gestern in der Presse lesenmusste – dann im Krisengespräch eine Verlängerung
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Frank Schäfflerihres Vertrages als KfW-Chefin angesprochen hat,schlägt das dem Fass den Boden aus. Herr Minister, räu-men Sie endlich in Ihrem Laden auf!Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Solms, Sie haben vorhin Ihre Rolle defi-niert und gesagt, dass Sie sich als Opposition nicht mitder Finanzmarktkrise in den Vereinigten Staaten befas-sen müssten; Ihnen geht es vielmehr darum, der Regie-rung eins zu verpulen. Angesichts der Dimension undder Auswirkungen dieser Krise müssen Sie sich aber fra-gen lassen: Verstehen Sie Ihre Rolle da richtig? Wäre esangesichts dieser Finanzmarktkrise nicht angebracht,einmal selbstkritisch die Position der FDP in der Vergan-genheit zum Thema Finanzmärkte zu reflektieren?
Welche Stellung haben Sie zum Thema Hedgefondsbezogen? Welche Stellung haben Sie zum Thema REITsbezogen, bei dem es darum geht, Wohnungen an dieBörse zu bringen und dort zum Handelsobjekt zu ma-chen? Stellen wir uns vor, welche Auswirkungen es insolchen Finanzmarktkrisen für die Bevölkerung gehabthätte, wenn das Realität geworden wäre.
Weitere Beispiele sind die Private-Equity-Beteiligungs-gesellschaften und das Risikobegrenzungsgesetz. Wel-che Positionen haben Sie dazu vertreten? Wo haben Siegewirkt? Haben Sie zur Verminderung der Risiken anden Finanzmärkten beigetragen, oder ist das inhärent indem, was Sie vertreten?
– Damit sind wir exakt beim Thema.
Herr Gysi, Sie haben völlig zu Recht darauf hinge-wiesen, dass die Subprime-Krise der Ausgangspunktwar. Die Amerikaner haben fröhlich ihren Mist – wieLudwig Stiegler es ebenfalls zu Recht nannte – in dieMärkte geschickt. Aber Ihre weitere Analyse verrät nichtsonderlich viel wirtschaftlichen Sachverstand. Sie habengesagt, die öffentlich-rechtlichen Banken in Deutschlandhätten sich wegen ihrer Amerikahörigkeit in dem Ge-schäft besonders engagiert.
: Die europäi-
schen, nicht nur die deutschen!)Diese Analyse erscheint mir zu stark verkürzt. Sie er-klärt auch nicht, warum nicht etwa die öffentlich-rechtli-chen Banken in Deutschland und die IKB am stärkstenvon der Subprime-Krise betroffen sind, sondern dieamerikanischen Großbanken und damit diejenigen, dieam besten Bescheid wissen, wie Kapitalmärkte funktio-nieren. Insofern trifft das so nicht zu.Erstaunlich ist auch, dass zum Beispiel die UBS,Merrill Lynch und Morgan Stanley mit Summen imzweistelligen Milliardenbereich betroffen sind. Insofernmuss man vorsichtig sein, Herr Solms, die IKB-Krise alssingulären Akt völlig unabhängig von kritischen Bewe-gungen an den Finanzmärkten zu betrachten.Ich meine, die Krise bei der IKB ist nicht von irgend-welchen Laienspielgruppen bei mittelgroßen deutschenBanken im öffentlichen oder privaten Bereich verursachtworden. Dies ist vielmehr eine Krise, die in dieser Tiefenur Profis haben anrichten können.
Ich finde es bezeichnend, dass ein Vorstand einer großendeutschen Privatbank sagt: Ich habe auf das Triple A derRatingagenturen vertraut. Warum soll ich mir weitereGedanken machen? Dazu kann ich nur sagen: Hier istnatürlich etwas verloren gegangen. Nur die Banken sindnicht betroffen, deren Bankvorstände – diese sind für dasoperative Geschäft und die Ausrichtung der Geschäfts-felder von entscheidender Bedeutung – gesagt haben:Ich handele nur mit Sachen, deren Risiken ich selbstüberschauen kann. Ich habe Bankvorstände erlebt, diegesagt haben: Obwohl uns alle unsere Investmentbankergeraten haben, uns auf Derivate und Subprime-Paketeeinzulassen, haben wir das nicht getan. Diese Vorständefühlen sich heute bestätigt.Warum es zu einer Vertrauenskrise im gesamtenBankensektor gekommen ist, haben wir in der Anhörungerfahren: Die Geschäfte sind inzwischen so komplex,dass sie keiner mehr überblickt. Die Ratingagenturen ha-ben bei Eintritt der Krise gesagt: Auch Bankvorständemüssen genauso wie ein Patient, der ein Rezept einlöst,auf die Nebenwirkungen und das Kleingedruckte achten.Ein gutes Rating wie Triple A bedeutet noch lange nicht,dass es wirtschaftlich gut geht. Diese Zusammenhängemüssen wir sehen.Herr Schäffler, Sie haben gefragt, welches die Auf-gabe eines Finanzministers in dieser Zeit ist. HerrRöttgen hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wires mit den Auswirkungen globaler Finanzmärkte zu tunhaben. Wenn sich der deutsche Finanzminister als Ver-treter einer der größten Volkswirtschaften nicht um Re-gelwerke der internationalen Finanzmärkte kümmerte,hätte er seine Aufgabe verfehlt. Er hat aber auf dem Gip-fel in Heiligendamm – das haben Sie bereits erwähnt –Anstöße gegeben und gesagt: Wenn ihr mit ganz gerin-gem Eigenkapital so große Räder dreht, gefährdet dies
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Ortwin Rundedas System der internationalen Finanzmärkte. Das ist derrichtige Ansatz.
Wenn man sich anschaut, welche Räder sowohl beiden Hedgefonds als auch bei den Private-Equity-Fondsund in den Zweckgesellschaften gedreht werden, dannmuss man feststellen: Darum müssen wir uns kümmern.Es verwundert mich allerdings, dass parallel zu Basel II– hier haben wir uns infolge der letzten Finanzmarkt-krise um eine bessere Eigenkapitalunterlegung vonBankgeschäften gekümmert – der regulierte Bankensek-tor fröhlich Auswege in Form von Zweckgesellschaftensucht.
Das bedeutet, dass fast alle Banken neben dem eigent-lichen Bankgeschäft Glücksräder aufgebaut und daraufvertraut haben, dass ihnen das Glück ewig hold ist. Dasfunktioniert im Bankenbereich aber ganz offenkundignicht.In einer Situation, in der die Märkte im Finanzsektorzum großen Teil zusammengebrochen sind und Ver-trauen nur durch eine Liquiditätsversorgung der Zentral-banken, von der EZB bis hin zur Fed, geschaffen werdenkonnte, ist es unsere Aufgabe, die Stabilität derFinanzmärkte auf Dauer sicherzustellen. Dabei sindAspekte der globalen, der europäischen und der nationa-len Ebene zu berücksichtigen. Auch auf der nationalenEbene gibt es viel zu tun. Kredite müssen ein Gesicht ha-ben. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, werKreditgeber ist. Das gilt nicht nur für gut bediente Kre-dite, sondern auch dann, wenn jemand aufgrund vonBrüchen in seiner Biografie wie Arbeitslosigkeit vo-rübergehend in Schwierigkeiten gerät. Dann dürfen dieseKredite nicht an irgendwelche Kreditverwerter ver-kauft werden, sondern dann muss er mit seiner Spar-kasse darüber reden können. Deswegen ist das System,das wir haben, das Dreisäulensystem, etwas Verteidi-genswertes und Stabilisierendes.
Dass wir eine neue Aufgabenbestimmung der Landes-banken nach den Veränderungen, die die Privatbankenin Brüssel erzwungen haben, vornehmen müssen, istrichtig. Aber ich glaube, auch die haben jetzt gelernt. InSachsen haben sie gelernt, in Bayern und in anderenLändern. Auch ich habe meine Erfahrung als Aufsichts-ratsvorsitzender einer Landesbank, die ein bestimmtesGeschäftsfeld hatte. Wir sind nicht so darin verwickelt.Das ist aber nach meiner Zeit, und ich übernehme keineVerantwortung für die Geschäfte, die jetzt dort gemachtwerden.Ich glaube, die Aufgabe des Finanzministers der Bun-desrepublik Deutschland ist in der Tat auch, auf Regel-werke Einfluss zu nehmen. Allein mit Schuldzuweisun-gen bei der IKB kommen wir nicht weiter.
Herr Kollege Runde.
Ein letzter Satz, Herr Präsident. – Die entscheidende
Frage haben Sie alle nicht beantwortet.
Wie würden Sie bei der IKB vorgehen?
Würden Sie sie in Insolvenz gehen lassen, oder würden
auch Sie sie wegen der Auswirkungen auf die Finanz-
märkte stabilisieren? Das ist die entscheidende Frage.
Dass ich mir einen größeren Anteil und ein anderes
Engagement der Privatbanken wünschen würde, ist rich-
tig, aber diese Frage müssen Sie beantworten.
Schönen Dank.
Ich erlaube mir den gut gemeinten Hinweis, dass esfür die Bewirtschaftung der knappen Redezeiten außer-ordentlich hilfreich ist, die entscheidenden Fragen nichtnach Ablauf der gewährten Zeit zu stellen, sondern mög-lichst gleich zu Beginn. Dann kann man sie noch in vol-ler Schönheit entfalten.Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. GerhardSchick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dann will ich genau das tun, was Sie, Herr Präsident, an-mahnen, nämlich die zentralen Fragen in den Mittel-punkt stellen, und zwar gleich am Anfang der Rede. Ichglaube, das tut auch not, nachdem einige Beiträge ausden Koalitionsfraktionen relativ wolkig blieben. HerrOswald hat darüber gesprochen, dass die Banken wiederVertrauen herstellen sollen,
Herr Stiegler hat Moralappelle an die Banken gerichtet.
Sagen Sie einmal, was ist denn eigentlich die Aufgabeder Politik, und was ist die Aufgabe eines Parlaments?Es ist doch nicht die Aufgabe, leere Appelle zu richten,
sondern es ist die Aufgabe, die notwendigen Hausaufga-ben, die in Deutschland zu machen sind, jetzt endlich an-zugehen. Dazu möchte ich von Ihnen Antworten hören.
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Dr. Gerhard SchickSie können sich doch nicht um die Beantwortung derentscheidenden Fragen drücken. Erste Frage: Wie gehtes mit der Finanzaufsicht in Deutschland weiter? Sieüberlassen es der BaFin und der Bundesbank, die sichseit Monaten und Jahren beharken, sich zu einigen. Esläge in der Verantwortung der Regierung, aus Anlassdieser Krise, in der einige Sachen falsch gelaufen sind,diesen Prozess selber zu gestalten, eine Neugestaltungder Aufsicht durchzuführen und die Fragen, die sich ausder Krise ergeben – sie sind schon angeklungen –, wirk-lich zu beantworten.
Der Finanzminister lehnt sich locker zurück und gibtkeine Antwort auf die heutige Frage, was die Zukunftder deutschen Finanzaufsicht ist.
Ich komme zur zweiten Frage. Die Bundesanstalt fürFinanzdienstleistungsaufsicht hat ungefähr 1 600 Mit-arbeiter, die KfW ungefähr 3 800 Mitarbeiter. Das sindzwei große Institutionen unter dem Dach des Bundes-finanzministeriums, von dem wir jetzt wissen, dass esviele Probleme in diesem Bereich überhaupt nicht gese-hen hat. Herr Steinbrück hat gesagt, die Experten hättendie Lage nicht richtig eingeschätzt. Ja, aber auch die Ex-perten des Finanzministeriums haben die Lage nichtrichtig eingeschätzt.
Herr Steinbrück hat davon gesprochen, dass es Inkompe-tenzen bei Bankmanagern gegeben habe. Da fragen wiruns natürlich: Ist es für die Zukunft machbar, mit einerHand voll Leuten zu überprüfen, was die Finanzaufsichtund die KfW in Deutschland tun? Ich meine: Nein.Sie müssen hier einmal erläutern, wie Ihr Ministeriumdas in Zukunft überwachen will. Zu diesen Fragen habenwir heute Antworten von Ihnen erwartet. Die kamenaber nicht.
Dritte Frage: Wie sieht die Zukunft des öffentlichenBankensektors in Deutschland aus? In Sachsen stellenwir ein dramatisches Versagen der Politik beim Control-ling der Landesbank fest. Es gibt kein Geschäftsmodell,und es entstehen hohe Lasten für die Steuerzahler inSachsen. Wir erleben, dass Herr Rüttgers und HerrOettinger im CDU-Präsidium aus irgendwelchen politi-schen Gründen nicht miteinander können und deswegensinnvolle Verhandlungen um die Zukunft der Landes-bank nicht möglich sind. Wir erleben weiter, dass einCSU-Vorsitzender und Finanzminister in Bayern nichtweiß, welche Rolle man im Verwaltungsrat einer öffent-lichen Bank hat. Wie antwortet also die Bundesregierungauf die Frage: Wie geht es im öffentlichen Bankensektorweiter?
Wollen Sie denn wirklich die Zukunft des öffentli-chen Bankensektors den Sargnägeln dieses Banken-sektors, den CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, über-lassen? Lassen Sie sich doch einmal auf der Zungezergehen, was von der Union in diesem Bereich in denletzten Jahren geleistet worden ist: Landowsky in Berlin,Milbradt in Sachsen, Rüttgers bei der West-LB und jetztdas Chaos unter Herrn Huber in Bayern. Das ist docheine Katastrophe.
Wir erwarten vom deutschen Finanzminister, dass erdie Initiative ergreift, um den öffentlichen Bankensektorin Deutschland zu stützen und ihm eine Zukunfts-perspektive zu eröffnen, dass er die Konsolidierung vo-rantreibt und ein solides Geschäftsmodell errichtet. Aberdazu haben Sie nichts gesagt. Sie verweigern die Mode-ratorenrolle, die Sie dringend einnehmen müssten.
– Ja, aber wenn diese Landesparlamente und Landes-regierungen miteinander verhandeln sollen, dann wirdnur etwas Gutes dabei herauskommen, wenn man dieEgoismen – die Sicherung der einzelnen Minifinanz-plätze, die überhaupt nicht gelingen kann – überwindetund eine gemeinsame Antwort für Deutschland findet.Anders wird es nicht gehen, Herr Steinbrück.
Herr Runde, Sie haben die ganze Zeit über die großeninternationalen Dinge gesprochen. Sie haben ja recht:Wir müssen auch über das Internationale sprechen.Dann muss man sich einmal die Frage stellen, ob es ei-gentlich sinnvoll ist, dass Produkte fünfmal hin- und her-geschoben werden – Stichwort „Repackaging“ –, sodassam Schluss niemand mehr den Inhalt kennt. Ich erinnerean die gestrige Debatte über eine Mehrwertsteuerermäßi-gung für Produkte für Kinder. Wir haben gesagt: Es darfkeine Ausnahmen geben. – Wenn Sie auch die Verant-wortung für den internationalen Bereich – einen Finanz-markt, der immer mehr Produkte hin- und herschiebt –wahrnehmen wollen und das Internationale in den Vor-dergrund rücken, dann stellt sich schon die Frage, wa-rum aus der deutschen Bundesregierung keine Initiativein Richtung Devisenumsatzsteuer, Finanztransaktions-steuer – das hat die österreichische Bundesregierungvorgeschlagen – kommt. Ich erwarte auch auf dieseFrage eine Antwort von der deutschen Bundesregierung.Diese werden wir als Grüne in Zukunft einfordern. Wirhaben in unserem Antrag einige Vorschläge gemacht.Folgen Sie ihnen!Danke schön.
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Nun erhält der Kollege Otto Bernhardt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich will mit den Ursachen, dem Ausmaß und derVerantwortung für diese Krise beginnen. Zu den Ursa-chen: Wir haben gehört – das ist richtig –, es handelt sichum bonitätsmäßig schlechte Immobilienkredite, die ver-brieft, gemischt – man nennt das „strukturiert“ – unddann von anderen Banken gekauft wurden. Die Größen-ordnung liegt irgendwo bei 1,5 Billionen Euro. Das ent-spricht den Gesamtschulden der öffentlichen Hand inDeutschland.Der Abschreibungsbedarf, das hat sich am Wochen-ende in Tokio gezeigt, liegt zurzeit bei etwa 275 Milliar-den Euro. Ich sage bewusst „zurzeit“, denn der Wert die-ser Papiere wird jeden Tag neu festgelegt. Insofern kannheute auch noch niemand sagen: Wir wissen schon ganzgenau, wie groß der Schaden ist. – Zum überwiegendenTeil handelt es sich Gott sei Dank noch um Buchver-luste, die nur abgeschrieben werden. Was das wirklichbringt, wissen wir nicht.Nach den Informationen, die heute vorliegen, liegenauf jeden Fall Papiere im Wert von über 100 MilliardenEuro bei deutschen Banken. Dementsprechend habenwir zurzeit einen Abschreibungsbedarf, der irgendwo bei20 Milliarden Euro liegt. Herr Minister, dann kann manauch ausrechnen, wie hoch die Steuerausfälle sind:39 Prozent, es geht noch um das Jahr 2007. Das heißt,sie liegen irgendwo bei 8 Milliarden Euro.Jetzt kommt das Problem mit den Verantwortlichen.Wenn man von einer Sache viel versteht, ist es schwie-rig; dann kann man sich dem Thema wirklich nur sehrdifferenziert zuwenden. Es gibt mindestens sechs Gre-mien oder Institutionen, die die Probleme nicht erkannthaben, deren Vertreter heute aber tolle Reden halten.Natürlich liegt die Hauptverantwortung bei den Vor-ständen der Banken; das ist völlig klar.Aber auch die Aufsichtsgremien der Banken habenes nicht gemerkt. Ich finde es nicht fair, wenn hier im-mer darauf hingewiesen wird, dass der Wirtschaftsminis-ter und der Finanzminister zum Beispiel im Aufsichts-gremium der KfW sitzen. Alle Fraktionen sind dortvertreten. Auch Herr Lafontaine sitzt in diesem Gre-mium. Man muss das ganz nüchtern wissen.
Auch die Aufsichtsgremien haben es also nicht gemerkt.Viel schlimmer ist das jedoch bei den Ratingagen-turen, die hier schon angesprochen worden sind. Was dapassiert ist, ist eine Katastrophe.
All die Prüfungsgesellschaften mit klingenden Namen,die nicht nur intensiv geprüft haben,
sondern auch hohe Rechnungen gestellt haben, haben esnicht gemerkt.Ich muss an dieser Stelle ebenfalls, auch wenn ich diebeiden Institutionen schätze, die Bundesbank und dieBankenaufsicht nennen. Heute wissen sie genau, umwelche Papiere es sich handelt und wie schlecht undschwach die sind. Deshalb warne ich davor, mit derSchuldzuweisung so ganz schnell zu sein.Was die Organisation der Bankenaufsicht anbe-trifft, Herr Kollege Dr. Schick: Es gibt eine klare Rege-lung im Gesetz. Darin steht: Die beiden sollen sich eini-gen. Wenn sie sich nicht einigen, muss der Minister tätigwerden. Das war übrigens 2003 bei der Gründung derBaFin der Fall. Damals wurden sie sich nicht einig. Dagab es einen Erlass. Ich bin froh, dass sie sich jetzt geei-nigt haben. Damit ist der Minister nicht mehr am Zug.Die gesetzliche Anforderung ist erfüllt. Sie haben sichgeeinigt. Ich bin die Richtlinie ziemlich genau durchge-gangen und darf sagen: Sie haben sich auf einer vernünf-tigen Basis geeinigt.
Die Arbeitsteilung ist jetzt deutlich klarer.In diesem Zusammenhang gibt es natürlich weitereFragen, so zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Be-reichs. Ich sage in großer Bescheidenheit, die gar nichteine meiner Stärken ist: Wir dürfen uns hier nur mit un-serem Bereich auseinandersetzen. Für das Thema Lan-desbanken sind wir nicht zuständig. Ich persönlich habedie klare Vorstellung: Landesbanken, Sparkassen, das istausschließlich Ländersache. Wir haben genug Problemebei uns. Lassen wir das die Länder machen! Dort ist Lö-sungsbedarf.
Wir haben nur ein Problem, und das ist die KfW. Dasist eine Bank, die wir brauchen; darüber sind wir alle unsim Klaren. Sie hat etwas gemacht, wozu mit Recht ge-sagt worden ist: Es war sogar die Empfehlung einesMinisters, dass sie sich da beteiligen soll. Ich sage hiersehr deutlich: Natürlich ist die IKB rechtlich geseheneine Privatbank, aber faktisch – das zeigt nun mal dieDiskussion – ist sie schon eine ziemlich öffentlich-recht-liche Bank.Ich sage genauso deutlich: Ich bin froh, dass man amMittwoch eine Lösung gefunden hat, einen Weg, um dieBank zu retten. Bedenken Sie die Auswirkungen, wennsie in die Insolvenz gegangen wäre! Wir hätten heuteeine ganz andere Diskussion. Beide, Finanz- und Wirt-schaftsminister, wären gescholten worden. Man kannnicht in Euro ausrechnen, was die Insolvenz kostenwürde. Ich verweise nur auf die hier genannten24 Milliarden Euro Einlagen bei der Bank. Die würden
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Otto Bernhardtmit einer Konkursquote bedient. Wie hoch die wäre,wenn man erst einmal die Papiere abgewickelt hätte – –Ich warne Neugierige!Vor dem Hintergrund bin ich enttäuscht – ich ver-mute, Sie, Herr Minister, sind es auch –, dass von denrund 7 Milliarden Euro, die bisher eingesetzt wurden,über 80 Prozent von der KfW, vom öffentlichen Bereich,aufgebracht worden sind, während der andere Bereichnur knapp 20 Prozent beigesteuert hat. Ich sage sehrdeutlich: Das ist zu wenig. Das finde ich nicht so toll.
Die Insolvenz wäre nämlich eine katastrophale Entwick-lung für den Einlagensicherungsfonds; die Bank gehörtzum privaten Einlagensicherungsfonds.Ich glaube, ich spreche im Namen zumindest der bei-den großen Fraktionen, wenn ich sage: Eine solche Ak-tion wie bei der IKB darf nicht Schule machen. Es wirdbefürchtet, dass jetzt die Ministerpräsidenten hier anrei-sen usw. Um es klar zu sagen: Wir sind nur für das hierzuständig. Das ist ein einmaliger Fall.Ich gehöre aber nicht zu denen, die behaupten: DasProblem ist endgültig gelöst; da kommt nichts mehr. –Das kann man bei der Bewertungsproblematik wirklichnicht sagen. Wer dies von der Regierung fordert, der for-dert etwas, was sie heute nicht bringen kann. Deswegenist die Aussage des Ministers richtig: Wir haben noch einschwieriges Jahr vor uns, aber wir hoffen, das war sozu-sagen der letzte Akt.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, abschlie-ßend Folgendes sagen: Schnellschüsse sind populär; dasweiß ich. Ich glaube aber, es ist richtig, wie die Regie-rung vorgeht: zunächst ausführlich zu analysieren unddas Ganze insbesondere – der Kollege Röttgen hat schondarauf hingewiesen – im internationalen Bereich abzu-klären. Wir können das Thema nicht isoliert betrachten.Wer das glaubt, der hat noch nicht begriffen, was Globa-lisierung bedeutet. Deshalb müssen wir eines tun: klar-machen, dass Deutschland diese Krise ab kann. UnserBanken- und Wirtschaftssystem ist stabil genug; wirkönnen sie ab. Natürlich würde es uns noch besser ge-hen, wenn es die Krise nicht gäbe; denn sie kostet vielGeld.Es gibt also keinen Anlass zur Panik – wir lösen dieKrise –, aber natürlich auch keinen Anlass zur Verharm-losung. Wir brauchen jetzt ein Stück Gelassenheit undein Stück Internationalität. Im Rahmen der G-7-Staatenwerden wir dieses Problem gemeinsam lösen.Herzlichen Dank.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir führen heute keine Debatte über eine ein-zelne private Geschäftsbank, sondern wir führen eineDebatte über die internationale Finanzmarktlage undüber ihre Auswirkungen auf Deutschland.
Ich sage sehr freimütig: Wenn es nicht den Hinter-grund dieser Finanzmarktkrise gäbe, wäre natürlich dieFrage, ob man eine einzelne Bank stützen muss, ganz an-ders zu beurteilen.
Da wäre sicher auch die schon ordnungspolitisch nahe-liegende Frage zu prüfen gewesen, ob man nicht bessereine geregelte Abwicklung der IKB vornimmt. Das hättenatürlich bedeutet, dass der Einlagensicherungsfondsdes Bundesverbandes deutscher Banken, das heißt derprivaten Geschäftsbanken, heftig hätte bluten müssen.Das wäre aber durchaus eine ernst zu nehmende Alterna-tive gewesen.Angesichts der Situation, in der wir uns heute befin-den, kann ich für meine Fraktion nur sagen: Wir habenRespekt vor dem,
was der Bundesfinanzminister und der Bundeswirt-schaftsminister in dieser Woche zur Stabilisierung derBank in die Wege geleitet haben. Ich teile die Auffas-sung des Kollegen Bernhardt, dass die private Seite nochein bisschen mehr bringen könnte. Aber die Grundent-scheidung war in der jetzigen Situation erforderlich.
Ich teile ausdrücklich den Respekt, den mehrere hierschon gegenüber den Maßnahmen geäußert haben, dieder Bundesfinanzminister ja nicht erst in den letzten Wo-chen, sondern schon das ganze Jahr 2007 über unternom-men hat, um auf internationaler Ebene – auf europäischerEbene wie auf der Ebene der G 7 bzw. der G 8 – für eineStabilisierung der Finanzmärkte und für eine Verbes-serung ihrer Transparenz zu sorgen.Wir haben im Finanzausschuss des Bundestages amMittwoch ein Fachgespräch über und mit Ratingagen-turen geführt. Das war aufseiten der Ratingagenturen– alle großen waren vertreten – nicht gerade von über-mäßigen Selbstzweifeln geprägt. Sie legten eher eindreistes Selbstbewusstsein an den Tag. Das kam in ihrerKernaussage zum Ausdruck, sie hätten alles richtig ge-macht. Bedauerlicherweise hätten die Banker sie abermissverstanden; denn die hätten eine Triple-A-Note fürein Gütesiegel gehalten. So sei das aber nicht gemeintgewesen.
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Jörg-Otto SpillerDas ist eine neue Erkenntnis. Das haben die Ratingagen-turen bisher nicht so deutlich gesagt, dass man ihnen imGrunde genommen nicht glauben sollte bzw. ihre Aussa-gen zumindest nicht überbewerten sollte.
Auch Folgendes ist in dem Gespräch von mehrerenSeiten herausgearbeitet worden: Erstens ist es notwen-dig, dass Bankvorstände selbst versuchen, zu verste-hen, welche Finanzprodukte sie kaufen oder vielleichtsogar verkaufen wollen. Das Zweite ist: Wenn sie sichbei der Bewertung eines schwer durchschaubaren Pro-duktes durch Ratingagenturen unterstützen lassen wol-len, dann dürfen sie sich nicht mit einer simplen Notebegnügen, sondern müssen nachfragen. Dann müssendie Ratingagenturen genau sagen, was sie untersucht undeingeschätzt haben und worauf sich ihre Bewertung be-zieht.Das alles ist keine wirklich neue Erkenntnis. DieBundesbank hat in den letzten Jahren jedes Jahr einen– wie ich finde, gut lesbaren – sogenannten Finanzsta-bilitätsbericht vorgelegt. Sie hat sich seit 2005 beson-ders mit der Frage der Wirkung von Kreditveräußerun-gen, Derivaten und Verbriefungen befasst. Ein Derivatist – das ist wie in der Mathematik – eine Ableitung, abernicht unbedingt die erste, sondern manchmal schon diezweite, dritte, vierte oder fünfte. Wenn es fünf Ableitun-gen geben kann, muss das Produkt sehr kompliziert sein.Die Bundesbank hat darauf hingewiesen, dass die ur-sprüngliche Vorstellung war, die Risiken zu mindern;
auch durch Kreditveräußerungen, durch die Bildungvon Paketen könne man eine Risikostreuung erreichenund nebenbei mehr Spielraum für neue, angemesseneKreditfinanzierungen der Unternehmen schaffen. Dasklang alles sehr plausibel. Aber schon vor drei, vier Jah-ren hat die Bundesbank zu Recht darauf hingewiesen,dass das nur funktioniert, wenn die Produkte nicht zukomplex sind und wenn die Bankvorstände, die Ent-scheidungsträger, wissen, worüber sie entscheiden.
– Das Finanzministerium, lieber Herr Kollege Schäffler,ist nicht zuständig für Entscheidungen von Bankvorstän-den. Sie haben hier eine für mich sehr verblüffende Ar-gumentation gebracht,
als wäre der Staat für alles oder manchmal eben auch fürgar nichts zuständig. Das ist nicht wirklich überzeugend.Was müssen wir jetzt tun? Da folge ich dem, was derKollege Bernhardt, aber auch der Kollege Schick gesagthat: Wir müssen uns fragen, welche Aufgaben und wel-che Möglichkeiten der Staat hat. Natürlich betrifft das inerster Linie die beiden Behörden in Deutschland, diesich um die Bankenaufsicht kümmern: die Bundesbank,die für die laufende Kontrolle der Institute zuständig ist,und die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht. Beide haben ein hohes Maß an Kenntnis;das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Da ist vielExpertise. Aber die Instrumente müssen offenbar verbes-sert werden, damit diese hochkarätigen Fachleute auchhandeln können. Wir dürfen jetzt nicht, sozusagen ausder Defensive heraus, so tun, als hätten sie alles richtiggemacht. Nein, es gibt einen Bedarf, die Bankenaufsichtzu stärken, und es gibt einen Bedarf, die Verantwortungvon Wirtschaftsprüfern zu stärken und möglicherweiseauch Haftungsansprüche zu präzisieren. Das werden wiruns vornehmen müssen.Die letzten Wochen und Monate waren oft mit Feuer-wehraktionen belastet. Wenn das Haus lichterloh brennt,muss man löschen. Aber die Hauptaufgabe von Feuer-wehren ist nicht der gelegentliche Löscheinsatz, sondernder Brandschutz,
der vorbeugende Brandschutz. Es muss darauf hingewie-sen werden: Wenn eine Bank meint, sie müsste im Hei-zungskeller Nitroglycerin und auf dem Dachboden Ben-zin lagern, dann muss man ihr sagen, dass das nicht geht.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7531 und 16/7191 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts
– Drucksache 16/7918 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes-
minister der Finanzen, Peer Steinbrück, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es gäbe noch viel zu sagen zu einigen Bemerkungenaus der vorhergehenden Debatte, die dadurch gekenn-zeichnet waren, dass sie sehr selektiv und sehr undiffe-
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Bundesminister Peer Steinbrückrenziert waren und nicht die ganze Bandbreite wider-spiegelten, wie es erforderlich gewesen wäre.
Das gilt insbesondere mit Blick auf die Situation derIKB. Es bekümmert mich sehr, dass ich nicht die Mög-lichkeit habe, auf die entsprechenden Bemerkungen zureplizieren. Aber dies ist nicht der Ort dafür. Es wird imHaushalts- und im Finanzausschuss möglich sein.Erlauben Sie mir an dieser Stelle trotzdem, dass ichfür einen Mitarbeiter meines Hauses Partei ergreife. Ichwerde es nicht dulden, dass in diesem Haus ein Abtei-lungsleiter meines Hauses aufgrund seiner Funktion imAufsichtsrat der IKB auf diese Weise angegriffen wird.Das halte ich schlicht und einfach für unanständig. WennSie sich jemanden vorknöpfen wollen, dann bin ich es,aber nicht der Abteilungsleiter meines Hauses.
– Greifen Sie dann bitte alle an! Greifen Sie auch Ihnennahestehende Leute an! Greifen Sie einen Aufsichtsrats-vorsitzenden und einen ehemaligen Vorstandsvorsitzen-den an, der mit diesen Geschäften begonnen hat! Knöp-fen Sie sich aber nicht meinen Abteilungsleiter vor, nurweil er im Aufsichtsrat sitzt.
– Das ist mir bei Ihnen schon klar. Aber es war unanstän-dig, wie Herr Schäffler in seinen Ausführungen auf dieRolle des Abteilungsleiters meines Hauses eingegangenist.
– Sie erlauben mir, dass ich meinen Spielraum wahr-nehme.Das Thema dieser Debatte ist aber ein anderes.
Ein altes schlesisches Sprichwort lautet: Eine halbeStunde gut erben ist besser als fünf Jahre arbeiten. Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf zur Reform des Erb-schaftsteuer- und Bewertungsrechts wird Erben inDeutschland nicht nur günstiger, sondern auch wiederverfassungskonform. Darüber hinaus sichert die Reformden Ländern – nicht dem Bund – stabile Erbschaftsteu-ereinnahmen auf dem heutigen Niveau, sich dann dyna-misch entwickelnd, von 4 Milliarden Euro.Dieser Entwurf setzt nicht nur die Vorgabe des Bun-desverfassungsgerichtes um, wonach sich die Bewer-tung des anfallenden Vermögens künftig in allenFällen am sogenannten allgemeinen Wert, also am Ver-kehrswert, orientieren muss. Ich habe gelegentlich denEindruck, dass die Kritiker dieses Gesetzentwurfs insbe-sondere mit Blick auf die zukünftige Bewertung vonVermögensbeständen nicht richtig zur Kenntnis genom-men haben, dass diese Bewertungsmaßnahmen nicht aufirgendeine politische Initiative von einigen, die sich da-bei vergaloppieren, zurückgehen, sondern auf ein Urteildes Bundesverfassungsgerichts.Das heißt: Wenn einige Erben nicht in den Genuss derVergünstigungen kommen, wie es das Gesetz generell be-absichtigt – das wird sicher Gegenstand der Kritik sein –,dann liegt dies daran, dass hohe Immobilienstände ge-halten werden, die einer neuen Bewertung zugeführtwerden. Diese neue Bewertung geht aber, wie gesagt,nicht etwa zurück auf eine Initiative der Koch/Steinbrück-Arbeitsgruppe oder derjenigen, die in derKoalitionsarbeitsgruppe zugearbeitet haben, sondern aufdas Bundesverfassungsgericht. Ich wäre dankbar, wennin den anschließenden Debatten dies deutlich gemachtwerden könnte.Der Entwurf macht darüber hinaus auch von einer vomBundesverfassungsgericht, aufbauend auf eine gleichmä-ßige Vermögensbewertung, eröffneten Möglichkeit Ge-brauch, „bei Vorliegen ausreichender Gemeinwohlgründe“normenklare steuerliche Verschonungsregelungen fürden Erwerb bestimmter Vermögensgegenstände steuer-rechtlich folgerichtig auszugestalten. Dies ist die Öff-nung dafür, dass wir ein Steuerprivileg verteilen. Dassteht am Anfang jeder Debatte. Diese Erbschaftsteuerno-velle gibt ein Steuerprivileg. Das hat es bisher so nichtgegeben. Denn 85 Prozent des vererbten betrieblichenVermögens werden nach einer Stundung von zehn Jah-ren steuerfrei gestellt. Das ist der erste Satz, bevor wiruns dann vielleicht über Details zu unterhalten habenund einige sagen: Damit und hiermit bin ich nicht zufrie-den. Der erste Satz ist: Es findet zum ersten Mal inDeutschland im Rahmen der Vererbung von Betriebsver-mögen eine Steuerbefreiung von pauschal 85 Prozentstatt.
Bei mancher Kritik, die die Protagonisten der Arbeits-gruppe erfahren haben, war der Reflex nicht so ganzfernliegend, noch ein bisschen mehr zu fordern. Ichstelle den Kritikern die Frage, ob sie es bei dem jetzigenErbschaftsteuerrecht belassen wollen. Nun weiß ich,dass dies ein gefährlicher Satz ist; denn das Bundesver-fassungsgericht hat deutlich gemacht: Wenn man sichbis Ende dieses Jahres nicht einigt, dann passiert mit derErbschaftsteuer dasselbe wie mit der Vermögensteuer.Aber angesichts der fundamentalen, aus meiner Sichtmanchmal völlig überzeichneten und sehr stark von par-tikularen Interessen gekennzeichneten Kritik, die eineArt pauschalen Verriss des vorliegenden Entwurfes bein-haltete, hat es mir in den Fingern gejuckt, zu sagen:Wenn das so ist, Herr Förster, dann legen wir das Rehwieder auf die Lichtung; dann bleibt es so, wie es ist.Dann werden wir es nicht mit einer pauschalen Steuerbe-freiung von Betriebsvermögen zu tun haben.
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Bundesminister Peer SteinbrückDeshalb bitte ich, in richtiger Reihenfolge zunächsteinmal festzustellen, dass der Entwurf der Bundesregie-rung, zurückgehend auf eine Bund-Länder-Arbeits-gruppe der Koalitionsparteien, eine Begünstigung inGang setzt, die es so vorher nicht gegeben hat. Das sageich in aller Ernsthaftigkeit.Ich sage zweitens, dass ein solches Steuerprivilegkein Selbstzweck ist. Ein solches Steuerprivileg kannnicht einfach so gewährt werden.
– Genau; das Stichwort ist richtig. – Dann verhält mansich nämlich gleichheitswidrig gegenüber denjenigen,die nicht in den Genuss eines solchen Steuerprivilegskommen. Das sind all diejenigen, die privat vererbenoder erben. Das heißt, diesem Steuerprivileg muss eineGegenleistung zugrunde liegen. Die Gegenleistung zudieser Steuerprivilegierung rechtfertigt sich daraus, dassdie zu vererbenden Betriebe erhalten werden – in weitenTeilen auch mit Blick auf die Beschäftigung. Das heißt,diejenigen, die dieses Steuerprivileg in Anspruch neh-men wollen, müssen wissen, dass sie eine Gegenleistungzu erbringen haben, und zwar eine nachvollziehbare undbelegbare, damit wir nicht wieder in einen Verfassungs-konflikt hineingeraten.
Das sage ich besonders an die Adresse derjenigen inIndustrie, Wirtschaft und auch in Lobbyverbänden – siemachen ja viel Lärm –, die unwissend oder bewusst mei-nen, über die Bedingungen und die Ausgestaltung diesesSteuerprivilegs könne man quasi verhandeln oder feil-schen wie auf dem Markt – das kann man nicht –, nachdem Motto: Darf es vielleicht ein etwas höherer Freibe-trag oder eine etwas geringere Behaltefrist im Hinblickauf das steuerbegünstigte Vermögen sein?Vielleicht wird freundlicherweise auch zur Kenntnisgenommen, dass der Reformentwurf neben dieser Ver-schonung von pauschal 85 Prozent insbesondere fürkleine und mittlere Unternehmen einen gleitendenAbzugsbetrag von 150 000 Euro vorsieht. Das bedeutet,dass im Ergebnis ein Betriebsvermögen bis zu einemGesamtwert von 1 Million Euro unbesteuert bleibt. Dieswiederum bedeutet, dass deutlich mehr als drei Viertelaller Unternehmen in Deutschland mit der Erbschaft-steuer zukünftig nichts mehr zu tun haben werden. Ichwiederhole: drei Viertel aller Unternehmen in Deutsch-land! Wenn wir dies an den Anfang stellen könnten,dann würde sich die Diskussion vielleicht etwas mehrversachlichen. Dies sage ich mit Blick auf eine Kritik,bei der man den Eindruck hat, man müsste sich fast überdas Ergebnis der Koalitionsarbeitsgruppe unter der Lei-tung von Herrn Koch und mir schämen.Wenn im Übrigen einige fragen: „Warum nicht eine100-prozentige Freistellung, also nicht nur eine 85-pro-zentige pauschale Freistellung?“, dann liegen dem, dasswir so nicht vorgehen können, die sehr großen Schwie-rigkeiten einer Abgrenzung zwischen Privatvermögenund produktivem Vermögen zugrunde, wie viele vonIhnen wissen. Im ersten Regierungsentwurf waren wirnoch so weit, dass wir versucht haben, diese Abgrenzungherzustellen, um die Möglichkeit der Verschiebebahn-höfe zu beseitigen, von denen Sie, auch soweit Sie Kriti-ker sind, doch wissen. Denn Sie werden nicht erwartenkönnen, dass der Gesetzgeber, Sie, auf der Basis einesVorschlages der Bundesregierung Tür und Tor dazuöffnet, dass Sie, ich und andere gewisse Teile ihres Pri-vatvermögens fröhlich in das Betriebsvermögen ver-schieben, in der klaren Erwartung, dass dann eine Steu-erfreistellung erfolgt.Das übereinstimmende Ergebnis aller Teilnehmer die-ser Koalitionsarbeitsgruppe – mit viel Sachverstand auchaus den Ländern – war: Das Unbürokratischste, was wirmachen können, ist: Wir nehmen umgekehrt einfach ei-nen Pauschalsatz, den wir abziehen, bzw. wir nehmen85 Prozent und sagen: Hier kümmern wir uns gar nichtmehr um die Abgrenzung von produktivem Vermögengegenüber privatem Vermögen und beseitigen damit die-sen leidigen bürokratischen Aufwand. All denjenigen,die sagen: „Wir wollen wieder eine Freistellung zu100 Prozent“, antworte ich: Sie handeln sich damit auto-matisch Abgrenzungsprobleme bezüglich der Verschie-bemöglichkeiten im Hinblick auf das private Vermögenund das Betriebsvermögen ein.Der zentrale Grundgedanke des Entwurfes, den wirvorgelegt haben, lautet: generationsübergreifendeGerechtigkeit. Das bedeutet, dass einerseits die Weiter-gabe der weitaus meisten Erbschaften – ich wiederholees: bei 75 Prozent der Vererbung von betrieblichem Ver-mögen wird man mit der Erbschaftsteuer nichts mehr zutun haben – nicht über Gebühr belastet wird. Anderer-seits wollen wir, dass höchste Vermögen und Vermö-gensübertragungen insbesondere außerhalb des engenFamilienumfeldes einen höheren Beitrag zum Steuerauf-kommen leisten und damit zur Gegenfinanzierung bei-tragen. Diese Logik spiegelt sich in diesem Gesetzent-wurf, wie ich finde, wider.Ich weiß, dass einige sagen: Schafft doch die Erb-schaftsteuer ab. Sie verweisen auf andere europäischeLänder, fügen aber nicht hinzu, wie die Steuersystemedieser Länder insgesamt aussehen. Das heißt, sie betrei-ben Kirschenpflücken.
Sie suchen sich aus anderen europäischen Steuersyste-men nur das heraus, was mit Blick auf ihre Partialinte-ressenlage das Günstigste ist. Das kann ich auch. Neh-men wir das Beispiel Schweden: Schweden hat keineErbschaftsteuer. Ich kann Sie ja mal fragen, ob Sie imGegenzug die schwedischen Einkommensteuersätzezahlen möchten. Das können wir uns ja mal überlegen.Ich kann Ihnen sagen: Verglichen mit den Ländern, indenen es eine Erbschaftsteuer gibt, ist das deutsche Erb-schaftsteuersystem mit das günstigste in Europa. Ver-gleichen Sie es mit dem englischen oder dem französi-schen Erbschaftsteuersystem. Das heißt: Die Vergleiche,die mir, der Bundesregierung und der Arbeitsgruppe derKoalition entgegengehalten werden, zeugen von einemziemlichen Tunnelblick. Es wird nur das gesehen, wasgerade passt, und was nicht passt, wird nicht in die Ana-
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Bundesminister Peer Steinbrücklyse der Gesamtsituation, mit der wir es gerade zu tunhaben, einbezogen.Im Ergebnis werden nicht mehr Steuerpflichtige alsbisher mit der Erbschaftsteuer belastet. Anders ausge-drückt – ich beziehe mich jetzt nicht nur auf das betrieb-liche, sondern auf jedwedes Vermögen –: Oma ihr kleinHäusken bleibt steuerfrei, auch wenn es frisch renoviertist; aber die Erben von Oma ihrer Villa mit Park undSeezugang werden einen höheren Beitrag leisten. Das istVorsatz, das ist Absicht, und das halte ich auch für ge-rechtfertigt.
– Herr Westerwelle, wenn ich mir Ihre Bilder vor Augenführe, muss ich feststellen, dass man Sie dafür auch nichtloben kann.Die politische Arbeitsgruppe, die wir einberufen ha-ben, bestand aus sehr vielen Vertretern, insbesondere derLänder. Ich habe die Arbeit dieser politischen Arbeits-gruppe immer als sehr hilfreich empfunden, insbeson-dere was die Zuarbeit der technischen Arbeitsgruppe be-trifft. Da wurde sehr viel gerechnet.Ich wundere mich darüber, dass über dieses Themaeine fast irreführende öffentliche Diskussion geführtwird. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Bei-spiel wurden ganzseitige Anzeigen geschaltet. EineAnzeige der KPMG, die wohl mit Unterstützung einesHerausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ent-standen ist, enthält drei fundamentale Fehler, die ich ausZeitgründen jetzt nicht darlegen will. In einem Brief-wechsel hat mein Staatssekretär Nawrath dies insbeson-dere gegenüber Herrn Nonnenmacher und der KPMGdeutlich gemacht. Was im Zusammenhang mit der Erb-schaftsteuerreform inzwischen an Lobbyarbeit, an inte-ressengeleiteter Verunglimpfung und Irreführung statt-findet, ist teilweise sehr schwer erträglich.
Ich komme zum Ergebnis: Mir ist sehr wohl bewusst,dass es Ihnen im parlamentarischen Beratungsprozessoffensteht, an der einen oder anderen Stelle zu anderenErgebnissen zu kommen.
– Nicht so schnell. – Wir haben in der Koalitionsarbeits-gruppe, an der viele von denen, die hier sitzen, beteiligtwaren, einen Kompromiss gefunden, der nicht beliebigaufzulösen ist.
Bei der Frage der pauschalen Berücksichtigung hat es na-türlich andere Auffassungen gegeben. Es hat auch einesehr lange Debatte über die Berücksichtigung des Be-triebsvermögens, das über Aktivitäten der Vermögens-verwaltung hinausgeht, gegeben. Wir haben die 50-Pro-zent-Grenze und die Lohnsummenregelung – 70 Prozent –sehr genau definiert.Das heißt – ich möchte an dieser Stelle auch für dieSPD und nicht nur als Bundesfinanzminister sprechen –:Wer an einem Faden des Pullovers zieht, muss wissen,dass der Pullover dann leicht weg sein kann. Deswegensage ich abschließend sehr deutlich: Diese Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat einen Kompromiss gefunden. Wennder Bundestag als Souverän Änderungen vornehmenwill, dann muss im parlamentarischen Verfahren einneuer Kompromiss gefunden werden. Man sollte nichtglauben, dass man nur auf einen Bestandteil des Kom-promisses Druck ausüben muss, um einen völlig andersausbalancierten Gesetzentwurf zum Erbschaftsteuerrechtzu erhalten.
Ich komme zu dem Ergebnis, dass wir es geschaffthaben, den Generationswechsel in kleinen und mittlerenUnternehmen zu erleichtern. Es ist zum ersten Mal so,dass wir die Vererbung von betrieblichem Vermögenweitgehend freistellen. Wir erreichen eine verbesserteArbeitsplatzsicherheit. Wir kommen, wie ich finde, fürdie nächsten Verwandten auch bei der Vererbung vonprivaten Vermögen zu deutlich besseren Regeln als jetzt.Ich halte es für völlig angemessen, dass große Vermögenvon Erblassern, insbesondere von denjenigen in einementfernten Verwandtschaftsgrad, stärker als bisher zurFinanzierung des Erbschaftsteueraufkommens herange-zogen werden. Ich bin überzeugt, dass der vorliegendeRegierungsentwurf eine solide und sehr ausbalancierteGrundlage für das jetzt in Ihrer Hand liegende Gesetzge-bungsverfahren ist.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun Carl-Ludwig
Thiele.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Herr Finanzminister, erstensmuss ich sagen, dass Ihre pampige Einlassung zu den Fi-nanzmärkten zeigt, dass Sie getroffen sind. Ich kann nursagen: Es ist richtig, dass sie getroffen sind; denn Sie tra-gen die Verantwortung. Deshalb haben wir Sie bezüglichder Finanzmärkte angesprochen. Darüber muss hier dis-kutiert werden.
Zweitens möchte ich mich herzlich für den Gnaden-akt bedanken, dass der Gesetzgeber nach Ihrer Auffas-sung tatsächlich an einem Gesetzgebungsverfahren mit-wirken darf.
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Carl-Ludwig Thiele
Das ist in der Großen Koalition relativ neu, aber warumnicht; vielleicht findet das bei diesem Gesetz einmalstatt. Herzlichen Dank für die Gnade!Drittens. Es gibt verfassungsrechtliche Vorgaben; dasist richtig. Aber das Verfassungsgericht hat nicht erklärt,dass diese in diesem Gesetzentwurf so Gesetz werdenmüssen. Sie hätten ganz andere Gesetze machen können.Sie hätten auch bessere Gesetze machen sollen. DieserGesetzentwurf ist nicht die Lösung der Probleme im in-ternationalen Wettbewerb und auch nicht für die Bevöl-kerung unseres Landes.
Insofern möchte ich sagen: Diese Erbschaftsteuerre-form kennt nicht nur Gewinner – das ist der Eindruck,den Sie immer erwecken wollen –, sondern auch Verlie-rer. Die Große Koalition setzt bei dieser Erbschaftsteuer-reform den roten Faden der Politik der Steuererhöhungenfort. Das Durchschnittsaufkommen der Erbschaftsteuerder letzten zehn Jahre betrug 3,2 Milliarden Euro proJahr. Hier ist das Ziel 4 Milliarden Euro pro Jahr. Ich per-sönlich habe den Eindruck, dass klammheimlich noch er-heblich mehr Geld von den steuerpflichtigen Erben inunserem Lande eingesammelt werden soll, als das Fi-nanztableau bisher ausweist.
Ich möchte auf ein paar Punkte kurz eingehen. Verlie-rer sind vor allem die Mittelständler in unserem Land.Einige Diskussionen passen überhaupt nicht zusammen.Auf der einen Seite diskutieren wir darüber, wie Investi-tionen mit Millionensubventionen gefördert werden.Diese Firmen müssen fünf Jahre lang die Arbeitsplätzeerhalten. Auf der anderen Seite soll der Mittelstand, derin Deutschland die Arbeitsplätze schafft und in die Ver-günstigungsregelung kommt, 15 Jahre lang die Arbeits-plätze erhalten. Das kann mir niemand erklären und hatmir auch noch niemand erklären können. Herr Finanzmi-nister, ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auch Ihre Erklä-rung heute hat mich nicht überzeugen können.
Der Mittelstand wird durch dieses Gesetz in einerForm benachteiligt, wie es leider das Kennzeichen derGroßen Koalition ist.
Denn wer Arbeitsplätze in unserem Lande schaffen underhalten will, muss sich insbesondere darum kümmern,dass die Familienunternehmen gefördert und nicht belas-tet werden. 95 Prozent der Betriebe in unserem Landsind mittelständische Betriebe. 57 Prozent der Beschäf-tigten sind im Mittelstand tätig. Auch in den letzten Jah-ren, als in der Industrie Arbeitsplätze abgebaut wurden,hat der deutsche Mittelstand zusätzliche Arbeitsplätzegeschaffen. In inhabergeführten Familienunternehmenist dies erfolgt und nicht in den großen DAX-Konzernen.
Die Erbschaftsteuer ist eine reine Mittelstandsteuer.Denn kein DAX-Konzern hat je 1 Cent Kapital durch dieErbschaftsteuer verloren. Wenn ein Aktionär verstirbt,werden seine Aktien beim Erben bewertet. Die Steuerwird festgesetzt, und Aktien können dann über den Ka-pitalmarkt veräußert werden. Aber VW, Bayer und sons-tige Firmen haben nie 1 Cent Kapital verloren. Das istim deutschen Mittelstand anders. Da ist das Vermögen indie Firma investiert, teilweise über Generationen hin-weg. In diesen Familien gilt der Grundsatz: Die Firmasteht vor der Familie. 90 Prozent der Ausschüttungenmüssen häufig in das Unternehmen reinvestiert werden,um die Zukunft des Unternehmens langfristig sicherzu-stellen.Wenn hier mit der Erbschaftsteuer eingegriffen wird,dann liegt das Geld, das eingenommen werden soll, nichtin irgendwelchen Banktresoren, sondern es ist in derFirma gebunden. Um Erbschaftsteuer zu zahlen, mussGeld aus der Firma genommen werden, Teile der Firmamüssen veräußert werden oder die Firma muss belastetwerden.Zum angeblichen Vorteil der Stundungsregelung.Allein durch die Stundungsregelung wird das Rating derUnternehmen drastisch verschlechtert. Das heißt, dieKreditzinsen steigen, weil es sich um eine latente Steuer-last des Unternehmens handelt. Sie betrifft massiv dieRefinanzierung des Unternehmens.
Wer hier ein solches Gesetz auf den Weg bringt, dermuss sich wirklich fragen lassen, ob er es mit dem Erhaltund der Schaffung von Arbeitsplätzen ernst meint undwie er es eigentlich mit den Unternehmen in unseremLande hält. Betroffen sind nämlich zahlreiche familien-geführte Unternehmen, die zum Wohle der Beschäftig-ten, aber auch unseres Landes mit Engagement und Ka-pital arbeiten.Ich möchte weitere Punkte ansprechen.Zur Steuerklasse II. Der Freibetrag wird zwar ge-ringfügig erhöht; aber der Eingangssteuersatz steigt um150 Prozent, von 12 Prozent auf 30 Prozent. Das gilt fürenge Familienangehörige; das gilt auch für Personen, diein Steuerklasse III sind.Überall wird gesagt: Schafft Vermögen! Betreibt Al-tersvorsorge! Wenn von zwei Personen, die zusammen-leben – auch als nichteheliche Lebensgemeinschaft –und die es im Laufe ihres Lebens geschafft haben, einHaus im Wert von 240 000 Euro zu entschulden, um denLebensabend ohne Miete bestreiten zu können, eine ver-stirbt, dann erbt die andere Person die Hälfte des Wertesdieses Hauses. Das sind in diesem Fall 120 000 Euro.Bei einem Freibetrag von 20 000 Euro müssen dann100 000 Euro mit 30 Prozent versteuert werden, sprich:Steuern in Höhe von 30 000 Euro sind einen Monat nachErhalt des Steuerbescheids fällig. Mir liegen schon jetztviele Briefe von Bürgern vor, in denen steht: Das könnenwir nicht leisten. Wir sind jetzt alt. Wir haben für uns,für unser Land und für unsere Altersversorgung gearbei-tet. Jetzt, da wir alt sind, sollen uns von diesem Erarbei-
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Carl-Ludwig Thieleteten 30 Prozent weggenommen werden. Das kann nichtrichtig sein.
Insofern appelliere ich hier an Sie: Dieser Gesetzent-wurf kann so nicht bleiben, auch wenn Herr Koch an sei-nem Zustandekommen mitgewirkt hat. Wir erleben, dassTeile der Union sich von diesem Gesetzentwurf distan-zieren. Das Kabinett hat ihn gleichwohl beschlossen.In Österreich – dort ist ebenfalls eine Große Koali-tion tätig – ist die Situation anders. Herr Finanzminister,ich zitiere den österreichischen Bundeskanzler, der derSPÖ und damit vermutlich auch der Sozialistischen In-ternationale angehört – es handelt sich also um einenParteifreund eines Nachbarlandes –:Tatsache ist, dass es von Mitte 2008 an in Öster-reich keine Erbschaftssteuer mehr gibt. Ich bitteSie, das möglichst breit zu publizieren!Was bezweckt er denn damit? Einen Wettbewerbsvor-teil für Österreich! In der Vergangenheit haben wir er-lebt, dass in ganzseitigen Anzeigen dafür geworbenwurde, seinen Sitz nur wegen der Erbschaftsteuer in dieSchweiz zu verlegen. Wer einmal im Ausland ist, derkommt nicht wieder, der trifft Investitionsentscheidun-gen nicht mehr aus deutscher Sicht und der zahlt Jahr fürJahr weder Einkommensteuer noch Körperschaftsteuernoch Lohnsteuer noch Verbrauchsteuer. Wir müssen al-les daransetzen, unseren Standort Deutschland attraktivzu machen, und wir müssen uns diesem Wettbewerb stel-len. Dieses Gesetz unter einer Großen Koalition mit ei-ner christdemokratischen Kanzlerin auf den Weg zubringen, halte ich für abenteuerlich. Es wird Zeit, dassdie Bevölkerung endlich merkt, welche Steuererhöhun-gen damit vorgenommen werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Michael Meister, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir füh-ren heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzeszur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechtsdurch. Für uns gibt es in dieser Debatte zwei Ausgangs-punkte: Der eine Ausgangspunkt ist die Erleichterungder Unternehmensnachfolge beim Übergang in dienächste Generation. Der zweite Ausgangspunkt ist dasUrteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns vorgibt,dass wir auf der Bewertungsebene den in Art. 3 desGrundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz beach-ten müssen.Ich möchte zunächst einmal sagen: Es ist uns einwichtiges Anliegen, dass die Sozialbindung des Eigen-tums deutlich hervorgehoben wird. Wir haben inDeutschland die Kultur, dass es viele mittelständischeFamilienunternehmen gibt. Diese Familienunternehmenhaben zur Erfolgsstory der vergangenen zwei Jahre maß-geblich beigetragen. Denn in diesen Unternehmen warein überproportional großer Aufwuchs an Arbeitsplätzenzu verzeichnen. Im Interesse des Standortes Deutschlandmüssen wir dafür sorgen, dass der mittelständische Sek-tor auch in Zukunft gestärkt wird. Damit tun wir etwasfür die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-land. Das ist unser zentrales Ziel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Firmeneigentü-mer und Firmenlenker haben eine soziale Verantwortungfür ihre Mitarbeiter, die sie auch wahrnehmen. Wir spre-chen jetzt nicht über anonyme Kapitalgesellschaften,sondern über Gesellschaften, deren Eigentümer eine so-ziale Verantwortung für ihre Mitarbeiter haben. Wir wol-len sicherstellen, dass diese Kultur nicht zerstört wird.Die Kultur der sozialen Verantwortung im unternehmeri-schen Bereich muss gewahrt werden.
Deshalb müssen wir bei der Erbschaftsteuer eine Rege-lung treffen, die die Weitergabe eines Unternehmens andie nächste Generation ermöglicht, und zwar unter Er-halt dieser Kultur, unter Wahrung der Arbeitsplätze undunter Fortführung der Unternehmen.
Der zweite Punkt, der Anlass für die heutige Debatteist, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nachdem wir alle Vermögensarten – unternehmerisches Ver-mögen, Immobilienvermögen, Barvermögen und land-und forstwirtschaftliches Vermögen – zum gemeinenWert, sprich: zum Verkehrswert, einheitlich zu bewertenhaben. Durch dieses Urteil werden die Handlungsmög-lichkeiten des Gesetzgebers maßgeblich eingeschränkt.Wir haben keinerlei Spielraum. Da wir aufgrund der Vor-gaben des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind, istes auch ein Stück weit fahrlässig, den Status quo mit derkünftigen Gesetzgebung zu vergleichen.
Für viele steht die Frage im Mittelpunkt: Wie wird derVerkehrswert überhaupt ermittelt? Wir haben gefordert,die Wertermittlungsverordnung, die eigentlich nicht Ge-genstand der Beratungen im Deutschen Bundestag ist,rechtzeitig vorzulegen und im Rahmen einer Anhörungzu thematisieren, damit wir auch die Frage, wie dieWerte ermittelt werden, im parlamentarischen Verfahrengemeinsam erörtern können. Ich glaube, dieser Aspektist für alle Betroffenen sehr wichtig. Wir werden dieWertermittlung ernsthaft beraten und versuchen, hier zuvernünftigen Lösungen zu kommen.
In Anbetracht des Urteils des Bundesverfassungsge-richts kann es uns nur darum gehen, Begünstigungsrege-
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Dr. Michael Meisterlungen auf der Ebene der Besteuerung zu treffen. Ichmöchte aber, bevor ich zu den Details komme, zunächsteinmal die zwei Grundfragen offenlegen, die wir uns zuBeginn gestellt haben.Erstens. Brauchen wir in Deutschland in Zukunftüberhaupt eine Erbschaftsteuer? Nachdem wir alle Argu-mente, die dafür und dagegen sprechen, abgewogen ha-ben, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir ander Erbschaftsteuer festhalten wollen.
Herr Kollege Thiele, auf diese Frage habe ich eigentlichauch von Ihnen eine Antwort erwartet. Sie haben vieleFragen gestellt. Ich habe aber keine Aussage dazu ge-hört, ob die FDP für die Abschaffung oder für die Beibe-haltung der Erbschaftsteuer ist. Dazu haben Sie keinWort gesagt. Offensichtlich hat die FDP hierzu keineMeinung. Sie haben sich zu dieser Frage nicht geäußert.
Zweitens. Wir haben uns Gedanken darüber gemacht,ob wir eine Steuer, deren Aufkommen den Ländern zu-fließt und die von den Ländern gestaltet werden könnte,tatsächlich auf Bundesebene regeln müssen. In unsererArbeitsgruppe haben wir den Vertretern der Länder an-geboten, das Steuerrecht selbst zu bestimmen. Die Län-der waren aber der Meinung, dass es besser sei, dies aufBundesebene einheitlich zu regeln. Deshalb unterziehtsich der Deutsche Bundestag nun der Übung, ein bun-desweit einheitliches Erbschaftsteuerrecht zu entwi-ckeln, und wir stehen gerade erst am Beginn unserer Be-ratungen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Thiele?
Gerne, Herr Präsident.
Herr Kollege Meister, da Sie gesagt haben, Sie wüss-
ten nicht, welche Vorstellungen die FDP zur Erbschaft-
steuer hat, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist,
dass der Bundesparteitag der FDP einen Beschluss ge-
fasst hat, der besagt, dass die Erbschaftsteuer als reine
Ländersteuer von den Ländern gestaltet und erhoben
werden sollte. Das verstehen wir unter Wettbewerbsfö-
deralismus.
Der Bund muss nicht alle Steuern selbst regeln. Das
gilt erst recht für die Steuern, aus denen er überhaupt
keine Einnahmen erzielt. Dieses Vorgehen funktioniert
auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Schweiz.
Nach unserer Auffassung würde das auch in Deutsch-
land funktionieren. Es ist also nicht so, dass die FDP
keine Vorstellungen zur Erbschaftsteuer hat. Ich bitte
Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP sehr wohl
eine Meinung zu diesem Thema hat. Den genauen Wort-
laut unseres Parteitagsbeschlusses stelle ich Ihnen im
Anschluss an diese Debatte jederzeit gerne zur Verfü-
gung.
Lieber Herr Kollege Thiele, Sie haben in Ihrer Redebedauerlicherweise nichts zu dieser Frage gesagt. Ich be-danke mich deshalb ausdrücklich, dass Sie jetzt in IhrerFrage darauf Bezug genommen haben.Ich habe die Frage gestellt, ob die FDP an der Erb-schaftsteuer festhalten möchte und, wenn ja, ob sie bun-desweit gelten soll oder ob jedes Land für sich darüberentscheiden soll. Dazu haben Sie weder in Ihrer Rede et-was gesagt, noch geht das aus dem Beschluss Ihres Bun-desparteitages hervor.
Sie sagen lediglich, dass diese Entscheidung auf dieLänderebene delegiert werden soll. Sie sind ja in einigenLandtagen vertreten und an einigen Landesregierungenbeteiligt. Deshalb müssen Sie in dieser grundsätzlichenFrage einmal Position beziehen! Dieser Frage dürfen Sienicht ständig auszuweichen versuchen.
Wir haben es den Ländern anheimgestellt, diese Frageselbst zu regeln. Die Länder haben uns gesagt, dass siean einer bundesweit einheitlichen Lösung interessiertsind. Deshalb beraten wir hier gemeinsam. Ich möchteausdrücklich festhalten, dass ich glaube, dass die Ar-beitsgruppe, die getagt und die Eckpunkte für den Ent-wurf für diese erste Lesung vorgelegt hat, eine guteGrundlage für die Beratungen geschaffen hat, wenn-gleich wir Änderungsbedarf sehen.
Ich will auf beide Punkte eingehen, zum Ersten aufdie Beratungsgrundlage und zum Zweiten auf den Ände-rungsbedarf. Ich will an dieser Stelle in Erinnerung ru-fen, was der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktiongesagt hat: Kein Gesetz, das dieses Haus betritt, wird esauch so verlassen. Wir als Unionsfraktion werden zei-gen, dass dieses Struck’sche Gesetz auch für dieses Ge-setzgebungsverfahren gilt.
Zunächst einmal zu den positiven Aspekten. Wir ha-ben durch eine deutliche Erhöhung der Freibeträge inallen Steuerklassen dafür gesorgt, dass normales Ge-brauchsvermögen – auch ein Einfamilienhaus, das inner-halb der Familie vererbt wird – steuerfrei vererbt werdenkann. Das ist natürlich in extremen Lagen schwer darzu-stellen, wenn man bundeseinheitliche Gesetze macht.
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Dr. Michael MeisterAber im Regelfall können wir davon ausgehen, dass dieFreibeträge im vorliegenden Gesetzentwurf so gestaltetsind, dass die Menschen bessergestellt werden, obwohlder Wert von Immobilien jetzt höher angesetzt werdenmuss.Wir wollen, dass unternehmerisches Vermögen leich-ter an die nächste Generation weitergegeben werdenkann. Wir haben diesen Ansatz mit der Abschmelzrege-lung realisiert. Man kann – Herr Steinbrück hat das an-gesprochen – darüber streiten, ob man Privatvermögenund Unternehmensvermögen voneinander abgrenzensollte oder ob eine pauschalierte Regelung angebrachtwäre. Ich habe mich persönlich mehr als fünf Jahre mitdieser Thematik auseinandergesetzt und muss sagen: Esgibt keine saubere Lösung dafür, wie man eine solcheAbgrenzung vornehmen sollte. Deshalb glaube ich, dassder Pauschalierungsansatz vertretbar ist und in die rich-tige Richtung weist. Über die Höhe haben wir gerungen;die 15 Prozent sind ein Kompromiss. Bei unserem jetzi-gen Ansatz wird das Weltvermögen des Unternehmenseinbezogen. Das will ich klar und deutlich sagen; dennder eine oder andere hat daran Zweifel geäußert. Auchdas ist ein gewaltiger Schritt nach vorne.In der Debatte ist zu Recht die Lösung für Kleinbe-triebe angesprochen worden, die dafür sorgt, dass vieleUnternehmen von der Erbschaftsteuer überhaupt nichttangiert werden. Damit stellt sich die Frage der Bürokra-tie an dieser Stelle nicht. Wir sollten da nicht für Verun-sicherung sorgen.Im Immobilienbereich wird ein 10-Prozent-Abschlaggewährt. Auch das ist ein Schritt in die richtige Rich-tung, wenn auch möglicherweise nicht ausreichend. Esmuss überlegt werden, wie wir mit großen Immobilien-beständen umgehen, wenn Arbeitsplätze daran hängen.Möglicherweise müssen wir ähnlich wie bei privatenBanken, ähnlich wie bei Unternehmen, die mit Edel-metallen handeln, überlegen, wie wir die Strukturen be-wahren. Denn auch am Immobiliensektor hängen vieleArbeitsplätze. Deshalb glaube ich, dass wir uns diesenPunkt noch einmal anschauen müssen.Herr Thiele hat das Rating von Unternehmen ange-sprochen. Der Steuerschuldner ist nicht das Unterneh-men, der Steuerschuldner ist der Eigentümer. Deshalbhat die ganze Geschichte auf die Frage des Ratings einesUnternehmens keinerlei Auswirkungen. Die Frage einerVerschuldung des Unternehmens ist nämlich nicht tan-giert.Die Begünstigung der Landwirtschaft, die wir mitdem Bewertungsverfahren zur adäquaten Abbildung derVerhältnisse in der Landwirtschaft einzuführen versu-chen, ist dargestellt worden.Meine Fraktion hat das Ansinnen, die Anhörung unddie Hinweise aus dem Bundesrat, der ja zeitgleich mituns tagt, ernst zu nehmen und zu schauen, wie wir dieAnregungen, die gegeben werden, miteinander umsetzenkönnen. Wenn ich das richtig sehe, gibt es ein Problembei Geschwistern; Kollege Thiele hat das angesprochen.Wir müssen überlegen, ob der Tarifverlauf in der Steuer-klasse II im Verhältnis zu dem in der Steuerklasse IIIadäquat ist oder ob nicht, wenn es zwischen Geschwis-tern, Neffen und Nichten zur Vererbung kommt, eine an-dere als die gegenwärtig vorgeschlagene Tarifierung an-gebracht wäre.
Wir sehen eine 15-jährige Bindungsfrist vor, wäh-rend der man aus dem Unternehmen nichts ins Privatver-mögen übernehmen darf. Die Berechnung dieser Fristkönnte Ihnen ein Mathematiker sauber darstellen. Mankann sich ausrechnen, dass es genau dieser Zeitraumsein muss, um Steuerneutralität zu erreichen.Wir reden hier aber nicht nur über Steuern, sondernauch über betriebswirtschaftliche Entscheidungen undPlanungshorizonte von Unternehmen. Deshalb glaubeich, dass wir trotz der Steuerneutralität noch einmal prü-fen müssen, ob die 15 Jahre angemessen sind oder obwir an dieser Stelle nicht zu einer Vereinheitlichung derFristen auf 10 Jahre kommen können, die ja auch bei derAbschmelzung vorgesehen sind.
Ein riesiges Problem ist die Beantwortung der Frage,was die Pönale ist, wenn es zur Verletzung der Kriterienzur Begünstigung kommt. Ich glaube, an dieser Stellegilt es zu bedenken: Wenn sich jemand 14 bzw. 9 Jahrelang ordentlich verhalten hat, dann sollte er nicht so be-handelt werden wie derjenige, der schon im ersten Jahrdie Regeln verletzt. Deshalb müssen wir über eine Diffe-renzierung der Pönale nachdenken und müssen uns über-legen, ob wir hier nicht zu einer entsprechenden Redu-zierung kommen sollten, wie das dem Gedanken desAbschmelzmodells entspricht.
Der Normenkontrollrat weist uns darauf hin, dass eingroßer Bürokratie- und Administrationsaufwand er-forderlich ist, um die Begünstigung einzuführen und dieWertermittlung vernünftig zu vollziehen. Deshalb wer-den wir den Gesetzentwurf in den Beratungen mit Si-cherheit noch einmal darauf überprüfen, ob wir den Ad-ministrations- und Bürokratieaufwand im Interesse derFinanzverwaltung und der Steuerzahler vermeiden kön-nen. Ein Punkt dabei ist die vorhandene Dynamisierungder Lohnsumme. Ich glaube, an dieser Stelle müssen wirprüfen, welcher Administrationsaufwand verursachtwird.Ich komme zu den letzten zwei Punkten, die ich be-nennen will.Bei dem ersten Punkt geht es um ein Phänomen, dases bisher nicht gab, nämlich die theoretisch möglicheDoppelbelastung durch Erbschaft- und Einkommen-steuer. Dazu gibt es zwar keine Vorlage im Gesetzent-wurf, aber es liegt eine Protokollnotiz der Arbeitsgruppevon Herrn Koch und Herrn Steinbrück vor, aus der her-vorgeht, dass wir uns diesem Problem zuwenden wollen.Dieses Problem tritt auf, weil sowohl bei der Erb-schaft- als auch bei der Einkommensteuer die Verkehrs-werte für die Besteuerungsgrundlage herangezogen wer-den. Das haben wir bisher nicht getan. Bisher sind wir in
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Dr. Michael Meisterder Erbschaftsteuer von Bilanzwerten ausgegangen. Umdiesen Effekt auszugleichen, müssen wir uns das Pro-blem der Doppelbelastung noch einmal anschauen undhier zu einer Lösung kommen. Ich glaube nicht, dass wirdas Problem durch dieses Gesetz lösen; aber wir müssenuns ernsthaft vornehmen, durch Regelungen hinsichtlichder Einkommensteuer eine Lösung für die Betroffenenzu finden.
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die deutscheLandwirtschaft. Wir haben hier einen Gesetzentwurfvorgelegt, der dazu führen wird, dass die deutsche Land-wirtschaft durch die Erbschaftsteuer nicht stärker belas-tet wird, als das heute der Fall ist. Wir haben nach langenDiskussionen Verfahren gefunden, die dazu führen, dasses an dieser Stelle zu einer adäquaten Bewertungkommt. Ich glaube, wir müssen uns auch noch einmaldas Problem der Pachtflächen anschauen und prüfen,welche adäquaten Lösungen wir für große Pachtbetriebefinden können.In diesem Sinne lade ich dazu ein, dass wir diesesVerfahren gemeinsam konstruktiv begleiten, die Emotio-nen ein Stück weit außen vor lassen und versuchen, mitRatio gemeinsame Lösungen für die angesprochenenProbleme zu finden. Ich würde mich freuen, wenn das inden nächsten Wochen in diesem Hause hier und auch beiden Kollegen im Bundesrat möglich wäre.Vielen Dank.
Ich erteile Kollegin Barbara Höll, Fraktion Die Linke,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMeister, mir fällt es in dieser Debatte schwer, meineEmotionen zu beherrschen.
Herr Steinbrück hat sich hier hingestellt und hoch-zufrieden verkündet: Erben wird günstiger in Deutsch-land. – Richtig!
Wenn man die Debatten am gestrigen und am heutigenTag betrachtet, dann bemerkt man, dass Sie das mit ei-nem hohen Grad an Befriedigung erreicht haben.1,2 Milliarden Euro müssen wir der IKB zuschießen.Gestern haben wir hier in diesem Hause einen ermäßig-ten Mehrwertsteuersatz für Waren und Dienstleistungenfür Kinder beantragt, nämlich eine Senkung von 19 Pro-zent, die Sie beschlossen haben, auf 7 Prozent.
Herr Bernhardt meinte, dass das etwa 1,5 MilliardenEuro kosten würde. Dafür ist kein Geld da; das gehtnicht.Schauen Sie sich die Regelsätze bei Hartz IV an. Ichhabe sie mir für diese Debatte noch einmal herausge-sucht. Für ein Kind im Alter von unter 14 Jahren werden208,20 Euro im Monat gezahlt. Das sind am Tag6,94 Euro. 38 Prozent davon – also 2,64 Euro – sind fürLebensmittel, Getränke und Tabak vorgesehen. Es istübrigens schön, dass Sie den Tabak auch schon für Ba-bys vorsehen. Wissen Sie, was ein Schulessen kostet?Kein Schulessen in Deutschland, wenn es überhaupt an-geboten wird, kostet im Durchschnitt unter 2 Euro, son-dern 2,20 bis 2,70 Euro; dort, wo Ökologisches angebo-ten wird, wird es meistens noch teurer. Aber Sie sagenhier: Erben wird günstiger. Na schön, prima! Das kannsich unsere Gesellschaft leisten? Nein, das kann sich un-sere Gesellschaft eben nicht leisten!
Die Unternehmensberatung BBE geht für die nächs-ten Jahre davon aus, dass zwischen 2006 und 20152,5 Billionen Euro von Familien an junge Menschenübergehen. Sie streben eine Belastung von 2 Prozent an,jährlich 4 Milliarden Euro. 98 Prozent des Vermögens-übergangs sollen nach Ihrer Auffassung steuerfrei blei-ben. Das können wir uns leisten? Wie hoch ist denn dieLohnsteuer? Wie hoch sind andere Steuern? Da greiftder Staat zu; er greift zwar nicht gerecht, aber berechtigtzu, denn wir alle leben im Gemeinwesen.Folgende Zahlen, wonach 1 Prozent der Bevölkerungüber 20 Prozent des Vermögens der BundesrepublikDeutschland besitzen oder, wenn wir es etwas erweitern,10 Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögensbesitzen, aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerungüber 17 Jahre nichts oder fast nichts besitzen, belegenklar, dass die Vermögensverteilung in Deutschlandnoch ungerechter als die Einkommensverteilung ist. Wirsind doch einfach in der Pflicht, dies etwas gerechter zugestalten,
um Aufgaben wie Bildung und Chancengleichheit fürKinder finanzieren zu können.Da hier der internationale Vergleich immer so hoch-gehalten wird, wäre es wichtig, Folgendes zu betrachten:Von 30 OECD-Ländern erheben lediglich sieben Staatenkeine Erbschaftsteuer. In drei Staaten davon wurde beider Abschaffung dieser Steuer allerdings eine Teilkom-pensierung eingeführt.Für wichtig halte ich, wie hoch der Anteil der Erb-schaftsteuer am Bruttoinlandsprodukt ist. In Deutsch-land beträgt er 0,16 Prozent, in Großbritannien hingegen0,28 Prozent. Das sind 3 Milliarden Euro pro Jahr mehr,eine Summe, die ja wohl nicht zu verachten ist, mit derman das kostenfreie Mittagessen für alle Kinder sicher-lich finanzieren könnte. In den Niederlanden liegt dieserAnteil bei 0,34 Prozent und im Durchschnitt der EU der15 bei 0,31 Prozent.
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15112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008
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Dr. Barbara HöllWenn wir nur den Durchschnitt erreichten, hätten wirwesentlich mehr Geld für anstehende wichtige Aufga-ben.
Aber Sie sagen: Erben wird günstiger. – Schön! Wirbrauchen das Geld nicht. – Denn vor dem Hintergrundder ansteigenden Erbmasse bedeutet Ihr Vorschlag kon-kret eine massive Senkung der Erbschaftsteuer.
– Ja, weil das zu vererbende Vermögen steigt.
Außerdem beachten Sie nicht die Vorgabe des Bun-desverfassungsgerichts, dass eine tatsächlich realisti-sche Bewertung von Immobilien und Betriebsvermögenerfolgen soll. Mit welcher Berechtigung sollen85 Prozent des Betriebsvermögens verschont werden?Darauf antworte nicht ich; vielmehr sollten wir uns andem orientieren, was die Industrie selber sagt. Heutesteht ein wunderbarer Artikel in der Frankfurter Rund-schau, in dem Herr Stratthaus, Finanzminister von Ba-den-Württemberg, zitiert wird: Niemand von den Mittel-ständlern, die immer über die Erbschaftsteuer jammern,muss sie bezahlen. – Es ist ein Phantomschmerz.
Ich möchte Ihnen noch ein Zitat vom DIW vortragen:So gibt es keine empirische Evidenz zu besonderenerbschaftsteuerbedingten Problemen bei der Nach-folge von Familienunternehmen, …– ich habe in einer Kleinen Anfrage danach gefragt, obüberhaupt ein Fall bekannt ist, in dem die Erbschaft-steuer dazu geführt hat, dass es beim Übergang desUnternehmens zu Schwierigkeiten gekommen ist; Siekonnten nicht einen Fall benennen, es ist heute kein Pro-blem –… auch die bisherige Stundung wird offenbar kaumin Anspruch genommen.Diese Möglichkeit gibt es ja schon.Unternehmen können auch von Nichtfamilienmit-gliedern erfolgreich fortgeführt werden. Das Ab-schmelzmodell würde die Übertragung von millio-nenschweren Unternehmensvermögen steuerfreistellen, bei denen keine nennenswerten steuerlichbedingten Liquiditätsprobleme auftauchen.Das Ganze hat nichts mit Existenzgefährdung zu tun,es hat nichts mit Gefährdung der Unternehmensfortfüh-rung zu tun. Ihre Entlastung ist überflüssig und unnötig,und sie belastet die Allgemeinheit.
Interessant ist auch, wie Sie Ihr Vorhaben ausgestal-ten. Wenn man die bestehende und die geplante Rege-lung vergleicht, ist bei einer Unternehmensübergabean Nichtfamilienmitglieder eine massive Höherbelas-tung für Unternehmen mit einem Verkehrswert bis zu1 Million Euro festzustellen. Das ist der einzige Bereich,in dem Sie wirklich eine massive Anhebung planen. Dasheißt, bei den kleinen Betrieben mit einem Verkehrswertbis zu 1 Million Euro planen Sie eine Anhebung; bei denanderen Unternehmen bleiben die Steuersätze im We-sentlichen unverändert. Das kann doch nicht wahr sein.
Es ist doch ein Hohn, wenn Sie sagen, dass kleine undmittelständische Unternehmen entlastet werden. Geradeihnen gegenüber ist Ihr Vorhaben nicht gerecht.Herr Steinbrück hat das Beispiel des Einfamilienhau-ses genannt, für das auch künftig keine Erbschaftsteuergezahlt werden müsse. Mit Ihrer Diskussion zur Unter-nehmensnachfolge lenken Sie davon ab, dass Sie dieAusgestaltung der Erbschaftsteuer, die bereits heute nurzu 8 Prozent von den Unternehmen gezahlt wird – 92 Pro-zent entfallen auf den Übergang von Privatvermögendurch Erbschaft –, zur massiven Entlastung der Unter-nehmen wieder durch die Privatvermögen finanzierenlassen wollen. Sie sehen eine massive Besserstellung dertraditionellen Familie – Vater, Muter, Kind – bei einerSchlechterstellung der Steuersätze in Steuerklasse IIund III für andere Verwandte und sonstige Erben vor.Das erwähnte Beispiel der Geschwister spricht wirklichHohn.Lassen Sie mich mit einem Blick auf die Zahlenschließen. Die Zahlen des vergangenen Jahres – HerrnSteinbrücks Beispiel des Einfamilienhauses und derVilla und die daraus scheinbar resultierenden Freibeträgesind an den Haaren herbeigezogen – zeigen, dass es inDeutschland ganze vier Städte gibt – nämlich Hamburg,München, Stuttgart und Düsseldorf –, in denen der Ver-kehrswert eines normalen Einfamilienhauses mit einemkleinen Grundstück über 300 000 Euro beträgt. Sie se-hen also auch in dem Bereich eine massive Anhebungder Freibeträge vor. Offenbar wollen Sie weniger Geldeinnehmen.Wenn Sie behaupten, die 4 Milliarden Euro seien einesolide Grundlage, sage ich Ihnen: Ich zweifele die Zah-len massiv an. Auf unsere Nachfragen hat das Finanz-ministerium angegeben, über keine entsprechenden Zah-len zu verfügen. Den Berechnungen wurden zumBeispiel bei einer Übergabe im Unternehmensbereicherst Zahlen ab 50 Millionen Euro zugrunde gelegt.Sie haben also gar keine Zahlen. Konkret wird damitzu rechnen sein, dass noch weniger Geld für Bildung,Kinder und damit für unsere Zukunft zur Verfügungsteht.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Christine Scheel, FraktionBündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsollten auch darüber reden, dass maßgebliche Kräfte indieser Gesellschaft das Ziel haben, die Erbschaftsteuerabzuschaffen. Diese Kräfte finden sich in der FDP, undda hilft es nichts, wenn Herr Thiele feststellt, die FDPwolle zwar, dass die Erbschaftsteuer erhoben wird, aberin Verantwortung der einzelnen Bundesländer, das heißt,nicht durch ein Rahmengesetz des Bundes, sondern inausschließlicher Zuständigkeit der Länder. Ich behaupte,dass es sich dabei um ein Ablenkungsmanöver handelt.Denn Sie weisen bei jeder Gelegenheit darauf hin, inwelchen Ländern die Erbschaftsteuer nicht mehr erho-ben wird, dass sie hochbürokratisch
und im Übrigen unnötig ist. Deswegen plädiere ich fürmehr Ehrlichkeit und Offenheit, statt so zu tun, als obman für ein anderes Modell wäre, obwohl man in Wirk-lichkeit die Erbschaftsteuer abschaffen will.
Das gilt übrigens auch für einzelne in der Union undfür diejenigen, die wir als Wirtschaftselite bezeichnen.Auch dort findet die Debatte statt. In der Diskussionmuss bei allem, was sich in der heutigen Zeit ereignet– Herr Zumwinkel hat wohl zwischenzeitlich seinenRücktritt angeboten –,
auch berücksichtigt werden, wie sich ein solches Vorha-ben auf das Gerechtigkeitsgefühl in dieser Gesellschaftauswirkt. Wie wirkt sich eine solche Diskussion auf densozialen Zusammenhalt aus, den wir in unserer Bundes-republik dringend brauchen?
Wir alle haben Verantwortung, wenn es um den Zusam-menhalt in dieser Gesellschaft geht. Hierzu gehört einevernünftig ausgestaltete Erbschaftsteuer.
Die soziale Kluft in der Gesellschaft vergrößert sich.Die reichsten 10 Prozent der Deutschen besitzen zweiDrittel des gesamten Volksvermögens, die ärmste Hälftedagegen fast gar nichts. Wir wissen, dass Deutschland sowohlhabend wie noch nie ist. Das Gesamtvermögen derBundesrepublik Deutschland beträgt 5,4 Billionen Euro.Das zeigt, dass Deutschland ein reiches Land ist, und dasist auch gut so. Bei gleichmäßiger Verteilung wären das81 000 Euro pro Kopf. Realität ist aber, dass immermehr Menschen immer weniger und einige immer mehrhaben. Die Ungleichheit bei der Vermögensverteilungverharrt nicht beim Status quo, sondern nimmt zu. Indiesem Kontext bedeutet die geplante Ausgestaltung derErbschaftsteuer, die eine stärkere Entlastung der Vermö-genden zur Folge hätte, dass sich diese Schere noch wei-ter öffnet. Genau das wollen wir nicht.
Laut einer in der FAZ veröffentlichten Allensbach-Untersuchung sehen nur 15 Prozent der Deutschen diewirtschaftlichen Verhältnisse als gerecht an. Man mussinsbesondere von den Leistungsträgern und Leistungs-trägerinnen in dieser Gesellschaft mehr Geld verlangen,um das zu tun, was wir für die Zukunft brauchen. Nichtnur meine Fraktion stellt die Bildung immer wieder inden Vordergrund. Bildung wird von allen als Himmels-leiter für den sozialen Aufstieg beschworen. Doch derZugang zu dieser Leiter hängt zunehmend davon ab, obFamilien Vermögen haben, ob Kinder von den Bildungs-investitionen der Familie profitieren können. BegüterteFamilien vererben praktisch die Bildungschancen, diefür einen höheren sozialen Status entscheidend sind, andie nächste Generation. Wir brauchen aber Einnahmen,um etwas für Kinder und Jugendliche aus bildungsarmenSchichten zu tun. Das Ganze hat schließlich einen mate-riellen Hintergrund.
Wir alle wollen mehr Ganztagsbetreuung und mehrBildungsinvestitionen. Deshalb brauchen die Bundeslän-der – die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer – Einnah-men, um Bildungsinvestitionen tätigen zu können. Wirkönnen auf der Bundesebene nur an die Bundesländerappellieren: Kommt auch ihr eurer Verantwortung nachund sorgt dafür, dass die Einnahmen aus der Erbschaft-steuer für Bildungsinvestitionen in die Zukunft unsererKinder verwendet werden und nicht zum Beispiel fürden Straßenbau!
Dann verstehen die Menschen auch, warum es dieseSteuer gibt und dass die Einnahmen daraus einen Beitragzur Umverteilung des Vermögens zwischen den Genera-tionen leisten kann. Das ist der Kern der Überlegungen.In einem weiteren Schritt müssen wir darüber nach-denken, wie wir die Erbschaftsteuer nach den Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts so ausgestalten können,dass es gesellschaftspolitisch stimmig ist. Herr Finanz-minister, die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts erzwingt eine gleichmäßige Besteuerung allerVermögensarten. Gleichzeitig müssen aber die Bewer-tungsregeln geändert werden. In der letzten Woche gabes erste Vorschläge, wie die Bewertungsregeln in ver-schiedene Rechtsverordnungen überführt werden kön-nen und wie sie ausgestaltet werden sollen. Ich kann fürunsere Fraktion nur sagen: Weil das Parlament zu ent-scheiden hat, ist es zwingend, dass wenigstens die we-sentlichen Eckwerte dieses Verfahrens für die Ermittlungder Verkehrswerte von Betrieben und Immobilien imGesetz geregelt werden und nicht lediglich in einerRechtsverordnung.
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Christine ScheelWir als Parlament wollen darüber entscheiden. Wir wol-len die Regelung der Eckwerte für die Ermittlung nichtder Exekutive überlassen. Auch das muss ich an dieserStelle ganz klar sagen. Ich habe da ein anderes Parla-mentsverständnis als anscheinend viele in der GroßenKoalition.Unsere Kritik richtet sich auch dagegen, dass Sie voneinem sehr antiquierten Gesellschaftsbild ausgehen.Das hehre Bild intakter Familienverhältnisse wird indem Gesetzentwurf festgeschrieben. Die Freibeträge unddie drei Steuerklassen sind nach dem Verwandtschafts-grad geordnet. Begünstigt werden nahe Verwandte– Kollegen haben bereits darauf hingewiesen –, alle an-deren werden sehr hoch belastet. Das passt nicht in dieheutige Zeit. Wir haben Wahlverwandtschaften, die stän-dig zunehmen, wir haben Patchworkfamilien, in denendie Menschen zusammenhalten, wir haben einen demo-grafischen Wandel in dieser Gesellschaft, und wir habenein stetig steigendes durchschnittliches Lebensalter, wasdazu führt, dass das solidarische Helfen im Alter einenimmer größeren Stellenwert bekommt. Wenn man dieseFakten zugrunde legt, dann stellt man fest, dass dieserGesetzentwurf auf eine solche Lebensrealität überhauptnicht reagiert.
Es reicht nicht, wenn man die geplante Erbrechts-reform ein bisschen daran anpasst, aber die Erbschaft-steuerreform diese Realität außen vor lässt. Deswegenbrauchen wir eine Zusammenführung der Überlegungenzur Erbrechtsreform und zur Erbschaftsteuerreform, da-mit die beiden zusammenpassen. Alles andere ergibt kei-nen Sinn.
Es ist nicht einzusehen, dass Menschen, die im hohenAlter nicht verheiratet zusammenleben, derartig starkdurch diesen Regierungsvorschlag belastet werden. Esist doch oft so, dass hochbetagte Geschwister, von deneneiner bzw. eine noch fit ist und die in einem gemeinsa-men Haushalt leben, den Bruder bzw. die Schwesterpflegen können. Die werden durch diese Erbschaftsteu-erreform gegenüber der heutigen Gesetzgebung enormbenachteiligt.
Das kann es nicht sein.Vielmehr müssen wir uns überlegen, ob Ihr Vorschlagmit den Steuerklassen, die Sie vorgelegt haben, richtigist. Wir sagen: Nein. Wir müssen uns überlegen, ob soviele Steuerklassen überhaupt Sinn machen oder ob esbesser ist, diese Steuerklassen auf eine oder zwei zu re-duzieren und zum Ausgleich der Verwandtschaftsver-hältnisse Freibeträge einzuführen. Letzteres wäre einemoderne Herangehensweise, mit der man auch die wirt-schaftliche Leistungsfähigkeit bzw. die Größe des Ver-mögens berücksichtigen könnte. Es sollte also nicht nurder Verwandtschaftsgrad entscheidend sein, sondernauch die Art und Weise des Zusammenlebens in dieserGesellschaft und die Verantwortung, die im Einzelnenfür die jeweiligen Personen übernommen wird.
Ein weiterer Punkt, den wir kritisieren, ist, dass Verer-ben und Schenken hochkompliziert werden. Das wirdeine Spielwiese – das garantiere ich Ihnen – für Beraterund Beraterinnen. Das betrifft vor allen Dingen Be-triebsinhaber und Betriebsinhaberinnen, die ihren Be-trieb einem Nachfolger übergeben. Es stehen Zehntau-sende von Betriebsübergaben an.Ich glaube, dass es keinen Sinn ergibt, jahrelang zuwarten, bis die Verschonungsregelung greift. Das zu-ständige Finanzamt muss nämlich die Betriebsfortfüh-rung über 15 Jahre überwachen – das muss man sich ein-mal überlegen –, bei land- und forstwirtschaftlichenBetrieben sind es sogar 20 Jahre. Wir hingegen sagen– übrigens genauso wie der Bundesrat –, dass diese Ver-schonungsregelung einen zu langen Zeitraum umfasst undzu bürokratisch ist. Wir brauchen kein Arbeitsbeschaf-fungsprogramm für Finanzbehörden und explodierendeBürokratiekosten für Finanzämter und Unternehmen. Wirhaben von einem Bürokratiemonster gesprochen. Eswerden auch viele Streitigkeiten entstehen.
Ich habe kein Interesse daran, dass hier Gesetze verab-schiedet werden, die die Finanzgerichte lahmlegen. Wirsollten vielmehr alles dafür tun, damit im Gesetz Klar-heit, Transparenz und eine einfache Anwendung geregeltwerden. Wir dürfen das nicht erneut der Rechtsprechungzur Nachjustierung überlassen.In dem Sinne hoffe ich, dass wir im laufenden Verfah-ren in den Ausschüssen einen Schritt weiterkommen.Ich bin gespannt darauf, wie die Diskussionen vonsei-ten der Koalition geführt werden. Anscheinend ist mansich in vielen Punkten überhaupt noch nicht einig. Wirwerden jedenfalls unseren Beitrag leisten und Vor-schläge zu dem Gesetzentwurf einbringen, um zu einemfairen Ausgleich zwischen den Generationen zu kom-men, damit unser Land für die Zukunft vernünftig aufge-stellt ist.Danke schön.
Das Wort hat nun Florian Pronold für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte über die Erbschaftsteuer erinnertmich ein bisschen an die Debatte über die Abgeltung-steuer. Die Banken haben jahrelang die Einführung derAbgeltungsteuer gefordert, um zu verhindern, dass dasKapital ins Ausland flüchtet. Dann hat man die Abgel-tungsteuer nach langen politischen Debatten eingeführt
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Florian Pronoldmit dem Ergebnis, dass den Bürgerinnen und Bürgernpro Jahr 1,7 Milliarden Euro Steuern geschenkt werden.
Das trifft überwiegend diejenigen, die bisher stark belas-tet sind. Bei denjenigen, die nicht so stark belastet sind,ändert sich im Prinzip nichts; Stichworte „Steuerfrei-betrag“ und „Nachveranlagung mit dem persönlichenSteuersatz“.
Anstatt die Banken nun die Einführung der Abgel-tungsteuer gelobt hätten, machen sie nun in jedemSchaufenster und in vielen Werbebriefen darauf auf-merksam, dass man von der Abgeltungsteuer bedrohtwird und dringend zur Bank gehen sollte, um sich bera-ten zu lassen. Damit wird das, was wir mit der Einfüh-rung der Abgeltungsteuer erreichen wollten, sozusagenauf den Kopf gestellt. Die Banken führen die Beratungs-gespräche nur aus Eigeninteresse; denn sie müssen nichtvor der Abgeltungsteuer warnen. Sie wollen in diesenGesprächen mit den Leuten Geschäfte machen.Ähnlich läuft es jetzt bei der Erbschaftsteuerreform.Aus der Wirtschaft kamen Forderungen nach einem Ab-schmelzmodell. Über zehn Jahre soll abgeschmolzenwerden. Das bedeutet aber – egal wie die Regelungensind –, dass die Fortführung des Betriebes zehn Jahrelang überprüft und an bestimmte Kriterien gebundenwerden muss. Die öffentliche Verwaltung muss das zehnJahre lang überprüfen; das bezieht sich auf das alte Mo-dell. Zur Frage, wie sich das auf die Banken auswirkt, istanzumerken: Wenn man die Kriterien des Abschmelz-modells nicht einhält, dann muss man später Steuernnachzahlen, und die Banken werden selbstverständlichin ihrem Rating die Kreditwürdigkeit bewerten. Wie ge-sagt, die Forderung nach diesem Modell kam aus derWirtschaft, das hat sich nicht die Politik ausgedacht.Jetzt beginnt die Rosinenpickerei. Man will nur dieRosinen, aber nichts vom Rest des Kuchens. Aber einenKuchen, der nur aus Rosinen besteht, gibt es nicht.
Die öffentliche Debatte wird genauso geführt. Man willnur die Rosinen herauspicken. So macht man den Men-schen Angst, obwohl es dafür überhaupt keine Grund-lage gibt.Wir als Sozialdemokraten hätten sehr gerne mehrErbschaftsteuer eingenommen. Wir finden, nur 2 Pro-zent des gesamten zu vererbenden Vermögens in mehrForschung, mehr Bildung, mehr Kinderbetreuung zu in-vestieren, ist zu wenig. Aber wir haben einen Koalitions-partner, der zwar auch die Kinderarmut bekämpfen will,aber offensichtlich nicht über die Erbschaftsteuereinnah-men. Wir mussten uns einigen und haben einen Betragvon 4 Milliarden Euro errechnet.Es gibt in diesem Zusammenhang allerdings einespannende Differenz. Die Linkspartei meint, das Erb-schaftsteueraufkommen wird viel geringer sein als4 Milliarden Euro. Die FDP sagt, es wird viel höher sein.Das ist ein spannendes Thema, das müssen wir uns ge-nauer anschauen. Aus meiner Sicht könnten dann auchbestimmte Ängste beseitigt werden. Bisher liegt das Erb-schaftsteueraufkommen bei 4 Milliarden Euro. HerrThiele, für dieses Jahr sind übrigens 4,2 Milliarden Europrognostiziert. Man kann nicht so rechnen und sagen:Der Durchschnitt der letzten zehn Jahre liegt bei3,2 Milliarden Euro, jetzt werden es 4 Milliarden Eurosein, das ist dann eine Steuererhöhung um 800 000 Euro.
Was Sie hier verbreiten, ist wahnwitziger Unsinn.
Wir haben für das nächste Jahr 4,2 Milliarden Euro ein-geplant. Wenn man sich jetzt 4 Milliarden Euro als Zielsetzt, ist das mit Sicherheit keine Mehreinnahme.
– Eine Schätzung von der FDP hat noch nie gestimmt;da bin ich mir relativ sicher.
Wir haben bisher Einnahmen von 300 Millionen Euroaus Betriebsvermögen. Das wird nicht mehr. Wir habenbisher 20 Millionen Euro aus dem Bereich Landwirt-schaft. Auch das wird nicht mehr.Jetzt bin ich überrascht, wie anhand dieser Zahlen sol-che Horrorszenarien und Untergangsszenarien an dieWand gemalt werden können. Die sind schlichtwegfalsch.
– Wir können gern in die Bereiche gehen.
– Gern.
Gehen wir zu der Frage über, über die jetzt öffentlichmit Spannung diskutiert wird: Wie lang sollen die Halte-fristen sein? Über diese Frage kann man durchaus re-den. Wir haben auch in der Koch/Steinbrück-Arbeits-gruppe ausführlich über diese Frage gesprochen. PeerSteinbrück hat dargelegt, warum wir von einem reinenAbschmelzmodell zu einem pauschalierten Ansatz ge-kommen sind. Wenn ich das in Erinnerung rufen darf:Der erste Vorschlag war übrigens, 30 Prozent pauschalzu besteuern.
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Florian Pronold– Deshalb hat die Union auch darauf gedrängt, dass dasniedriger wird.
– Ja. – Weil die Union die verfassungsrechtlichen Pro-bleme hinsichtlich der Gleichbehandlung sehr wohlsieht, hat sie aber zugestanden, dass man im Gegenzugdie Haltefristen verlängern und auch die Frage der ver-mögensverwaltenden Gesellschaften beantworten muss.Diese beiden Parameter, die im Entwurf zunächst anderswaren, sind verschärft worden, um dem Gleichbehand-lungsgrundsatz der Verfassung und dem Aufkommens-aspekt Rechnung zu tragen.Natürlich kann man über die Frist von 15 Jahren dis-kutieren. Damit habe ich überhaupt kein Problem. Aberman muss wissen, dass dann an anderer Stelle Änderun-gen erforderlich werden, erstens um das Aufkommen si-cherzustellen und zweitens um die Verfassungsgemäß-heit hinsichtlich der Behandlung der unterschiedlichenVermögensarten sicherzustellen.Jetzt darf ich denjenigen in der Union und anderswo,die immer Zweifel an der Regelung haben, einmal etwasvorlesen. Günter Weber, Herausgeber des Steuertip– kein Freund der Erbschaftsteuer –, schreibt:Kaum zu glauben aber, dass ausgerechnet aus Krei-sen der CDU und vor allem der CSU verlangt wird,dass die 15-Jahre-Haltefrist auf 10 Jahre gesenktwerden soll. Spielt doch jede Verkürzung den Play-boys der jungen Generation in die Karten, die mög-lichst schnell das in jahrzehntelanger Arbeit vonden Eltern Aufgebaute auf Ibiza, den Seychellenoder in Spielerparadiesen verjuxen wollen.
– Das habe nicht ich gesagt.Ich darf daran erinnern, wie die Debatte war. Es gingdarum, dass wir etwas für Familienunternehmen tunwollen, die das Vermögen an die nächste Generationübergeben wollen, bei denen das Vermögen nicht ausdem Betrieb genommen werden soll, um es zu verjuxen.
Was diese Frist von 15 Jahren angeht, so sehen wir– das ist vielleicht noch nicht bekannt – eine Reinvesti-tionsklausel vor. Es geht dabei nicht um die Fälle, in de-nen der Betrieb aufgelöst werden soll, sondern um die, indenen er umstrukturiert werden soll, wobei vielleicht einTeil zu verkaufen ist. Wenn das Geld im Betrieb bleibt,ist das nach der jetzt vorgesehenen Regelung alles keinProblem. Aber wenn das Geld entnommen wird, das zu-vor zu 85 Prozent verschont worden ist, dann müssenSteuern gezahlt werden, und nur darum geht es. Das istkeine Behinderung wirtschaftlicher Aktivitäten, sonderndas trägt genau dem Grundsatz Rechnung, mit dem wirangetreten sind,
nämlich die Familienunternehmen zu stärken. Das mussman einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
– Herr Michelbach, entschuldigen Sie! Lesen Sie haltden Gesetzentwurf, und reden Sie mit den Kollegen, diein der Koch/Steinbrück-Arbeitsgruppe dabei waren!
Wir haben uns das alles wirklich im Detail angeschaut.
Wir haben eine gemeinsame Zielsetzung, nämlich dieBetriebsfortführung, und zwar wegen des Erhalts der Ar-beitsplätze und wegen der Gemeinwohlverpflichtung.Deswegen soll das begünstigt werden, deshalb die85 Prozent. Das ist ein ordentliches Steuergeschenk;aber es gibt dieses Steuergeschenk nur, wenn im Gegen-zug dazu auch eine Gemeinwohlorientierung vorhandenist.
Darüber werden wir nicht mit uns reden lassen: Darüberkönnen wir auch gar nicht mehr mit uns reden lassen,weil wir ansonsten Gefahr laufen, dass diese Regelungals verfassungswidrig eingestuft wird.
Ansonsten stellt ja derjenige, der privat erbt, mit Rechtdie Frage, warum er mehr Erbschaftsteuer zahlen soll alsandere.Lassen Sie mich auch noch etwas zu einem Punkt sa-gen, über den wir in diesem Hause schon diskutiert ha-ben, der aber heute noch gar nicht zur Sprache gekom-men ist, obwohl sich damals fast alle einig waren. Kurzvor dem Christopher Street Day haben wir darüber ge-sprochen, dass wir Menschen, die Verantwortung für-einander übernehmen, zum Beispiel in Lebenspartner-schaften, besserstellen wollen. Wir waren uns einig, dassdie bisherigen Regelungen zur Erbschaftsteuer nicht ge-recht sind. In diesem Gesetzentwurf haben wir diesesVorhaben nun umgesetzt. Wir geben Menschen in Le-benspartnerschaften dieselben Freibeträge wie Eheleu-ten. Dabei handelt es sich um 500 000 Euro, wobei derdurchschnittliche Wert von Einfamilienhäusern, die inDeutschland vererbt werden, bei 160 000 Euro liegt.Meistens geht es dann auch nur um den halben Wert ei-nes Hauses, weil es gemeinsam angeschafft wurde. Hierreichen 500 000 Euro also locker aus.Nun haben wir in diesem Gesetz also für eine Gleich-stellung von Menschen in Lebenspartnerschaften undEheleuten gesorgt. Aber was passiert? In dieser Debattewerden wieder neue Haare in der Suppe gesucht. Mirkommt es manchmal so vor, als ob sich Leute, die beimFriseur waren, einige der abgeschnittenen Haare einste-cken und sie dann in die Suppe werfen, um noch etwas
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Florian Pronoldzu finden. Dabei haben wir für die Lebenspartnerschaf-ten wirklich etwas Gutes und Richtiges umgesetzt.Nun zur Frage der nahen Angehörigen: Die durch-schnittliche Steigerung des Wertes von Grundstückenaufgrund des neuen Wertermittlungsverfahrens wird beietwa 40 Prozent liegen. Zugleich haben wir die Freibe-träge für die nahen Angehörigen praktisch verdoppelt.Aber wenn wir insgesamt 4 Milliarden Euro an Erb-schaftsteuer einnehmen wollen – das sieht die Vereinba-rung ja vor –, dann muss es auch irgendjemanden geben,der für dieses Aufkommen sorgt. Da beißt doch dieMaus keinen Faden ab. Deswegen haben wir die Ent-scheidung getroffen, entferntere Verwandte und Nicht-verwandte mit höheren Steuern zu belegen.Das ist eine politische Entscheidung. Natürlich kannman diese wieder revidieren. Aber wenn man sie revi-diert, dann heißt das, dass die Begünstigung für Fami-lienmitglieder geringer ausfallen müsste. Das kann manalles machen. Darüber kann man diskutieren. Ich bitteaber, immer ehrlich die beiden Seiten ein und derselbenMedaille zu benennen und nicht immer so zu tun, alswäre die Welt erst dann in Ordnung, wenn man jedeMenge Änderungen vorgenommen hat. Das mag sein.Aber dann, wenn wir all diese Änderungen berücksichti-gen, rutschen wahrscheinlich die Einnahmen aus derErbschaftsteuer ins Minus und wir müssten am Endenoch etwas auszahlen.
Ein weiteres Beispiel, Frau Kollegin Scheel. Für dieLandwirtschaft haben wir folgendes Modell gefunden:Wir übernehmen die langen Haltezeiten aus dem Zivil-recht, und zwar aus dem Grund, weil wir ganz bewusstfestgeschrieben haben, dass die Bewertung einer Land-wirtschaft auf Basis der Ertragswerte vorgenommenwird. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinemBeschluss ziemlich eindeutig gesagt, das sei eigentlichvom Grundsatz her nicht möglich. Wir machen das abertrotzdem, weil es bei landwirtschaftlichen Betriebenhäufig geringe Ertragswerte und hohe Substanzwertegibt. Für weichende Hoferben gilt nun folgende Rege-lung: Wenn die Landwirtschaft fortgeführt wird, ist allesin Ordnung. Sobald aber innerhalb der Haltefrist von20 Jahren Anteile verkauft werden, müssen die weichen-den Hoferben beteiligt werden, und dementsprechend er-zielt der Staat dann auch entsprechende Erbschaftsteuer.Das ist ein wirklich gutes Modell.Ich will hier nicht verschweigen, dass mir ein hoherFunktionär des Deutschen Bauernverbandes einen Ge-denkstein für mein Engagement bei dieser Regelung ver-sprochen hat.
– Ja, damit hätte ich nicht gerechnet.Ich möchte nun aber alle ermahnen, nicht das, was er-reicht worden ist, infrage zu stellen, indem man auf ein-mal andere Probleme, die eigentlich gar nicht vorhandensind, aufbläst. Ich halte die gefundene Regelung für rich-tig. Unser Interesse muss es doch sein, dass die Land-wirtschaft fortgeführt wird. Es gibt ja einen deutlichenUnterschied zwischen einer Villa am Starnberger Seeund einem Betrieb bzw. einer Landwirtschaft. Denn beiLetzterem geht es um Arbeitsplätze und um gemein-wohlverpflichtende Elemente. Das ist die einzige Be-gründung, warum wir diese Ausnahme machen können.Der Grundsatz ist: Erbschaftsteuer müssen alle zah-len. Wenn man nachlassen will, dann muss man das be-gründen. – Das haben wir für die Landwirtschaft undauch für das Betriebsvermögen gut geregelt. Trotzdemhaben wir jetzt im Wege der Verordnungen ein Bewer-tungsgesetz auf den Weg gebracht. Damit werden dieVerfassungsvorgaben erfüllt, und wir werden zukünftig– vielleicht mit anderen politischen Mehrheiten – dieMöglichkeit haben, die Erbschaftsteuer so zu erheben,dass man sie besser zur Bekämpfung von Bildungs- undKinderarmut einsetzen kann.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Volker Wissing, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Zunächst, Herr Pronold: Ich gönne Ihnen jeden Ge-denkstein, und für den Fall, dass Sie Deutschland von Ih-ren schrecklichen Steuergesetzen verschonen, sage ichIhnen zu, dass Sie von der FDP noch einen Gedenksteindazubekommen.
Die Bundeskanzlerin kündigt an, mehr Freiheit wagenzu wollen. Was Sie uns hier vorlegen, ist ein Vorschlag,nach dem Unternehmer nach Betriebsübergang für15 Jahre unter die Staatsaufsicht der Finanzbehördengestellt werden. Wir haben heute Morgen über die IKBgesprochen und darüber, dass es nicht sinnvoll ist, wennsich der Staat an Geschäften beteiligt, die die Privatenbesser erledigen können. Wir haben gehört, dass da6 Milliarden Euro in den Sand gesetzt worden sind. Ichdachte eigentlich, dass man daraus etwas lernt. Aber dashält bei Ihnen ja keine Stunde an. Sie schlagen jetzt vor,dass staatliche Beamte die Personalpolitik von privatenUnternehmern für 15 Jahre wesentlich mitgestalten. Daskann nicht funktionieren. Das ist eine Zumutung für dendeutschen Mittelstand, und das wird dazu führen, dassArbeitsplätze in Deutschland verloren gehen, weil dieWettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes in Deutschlanddurch Ihr Gesetz zurückgeht.
Wenn Arbeitsplätze gefährdet sind, dann ist das aucheine Gefahr und ein Risiko für den Bundeshaushalt.
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15118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008
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Dr. Volker WissingWeil Sie über die Landwirtschaft gesprochen haben,Herr Pronold: Es ist in Deutschland in vielen landwirt-schaftlichen Bereichen sehr schwer, Betriebsnachfolgerzu finden. Wir reden viel über Kulturlandschaftspflegeund darüber, wie wichtig es ist, dass solche Betriebeübernommen werden. Deswegen sollten Sie Hürden ab-bauen und nicht aufbauen.
15 Jahre Staatsaufsicht für landwirtschaftliche Betriebebedeuten eine neue Hürde.
Deswegen ist der Landwirtschaft mit Ihrem Gesetz nichtgeholfen. Vielmehr schwächen Sie den landwirtschaftli-chen Sektor in Deutschland mit Ihren Vorschlägen.Das ist nicht das einzige Problem dieses Erbschaft-steuergesetzentwurfes. Sie reden von Sozialbindung desEigentums. Aber dann müssen Sie sich auch einmal dieFrage stellen, was Sie da eigentlich besteuern. Sie be-steuern Vorsorge der Menschen, Vorsorge fürs Alter, fürNotsituationen, für Enkel.
Sie stellen die Gerechtigkeitsfrage; aber im Grunde ge-nommen behandeln Sie die Menschen ungleich. Werkonsumiert und nichts auf die hohe Kante legt, zahltkeine Steuer, und derjenige, der anspart, wird von Ihnenzur Kasse gebeten.
Das ist schon ein merkwürdiges Verständnis von Politik.Sie haben es nicht geschafft, heute ein tragfähigesKonzept vorzulegen. Was Sie uns präsentieren, ist sehrunausgegoren und auch verfassungsrechtlich äußerstproblematisch. Sie kennen sicherlich das Gutachten vonHerrn Professor Crezelius. Er sagt, die vorliegende Re-form der Erbschaftsteuer führe zu einer grundgesetzwid-rigen Mehrfachbesteuerung; die Doppelbelastung werdedurch die massive Erhöhung der Grund- und Unterneh-menswerte enorm gesteigert. Das ist ein Gutachten fürdie Familienunternehmer. Dazu haben Sie heute nichtsgesagt. Aber Sie nehmen es mit der Verfassungsgemäß-heit des Steuerrechts seit der Pendlerpauschale ja ohne-hin nicht mehr so genau.Wenn wir über Verfassungsfragen reden, dann müs-sen wir auch über die Frage des Wesentlichkeitsprin-zips reden. Es kann doch nicht sein, dass die Kernfragedieser Erbschaftsteuerreform, nämlich die Bewertungs-frage, in einer Rechtsverordnung geregelt wird. Dasmacht keinen Sinn. Deswegen ist das, was uns derFinanzminister heute vorgelegt hat, äußerst dürftig.
Wir können festhalten: Sie sind nicht in der Lage, hierein vernünftiges Konzept auf den Tisch zu legen. HerrMeister, es ist gut, dass Sie fragen, welche Vorschlägedie FDP macht. Ich finde es richtig, dass Sie auf unsereKonzepte in der Steuer- und Finanzpolitik schauen. Dakönnen Sie viel lernen. Wenn Sie die Erbschaftsteuerwirklich reformieren wollen, ist es an Ihnen, ein Konzeptvorzulegen, das die deutschen Unternehmer in ihrerWettbewerbsfähigkeit stärkt und nicht schwächt. Des-wegen ist das, was Sie uns bieten, wirklich nicht ausrei-chend.
Zu der internationalen Wettbewerbsfähigkeit habenSie überhaupt kein Wort gesagt. Aber das ist doch dieentscheidende Frage. Wir beobachten – der KollegeThiele hat es schon angesprochen –, dass sich andereLänder überlegen, wie sie ihr Steueraufkommen sichernkönnen. Dabei kommen sie vielfach zu dem Ergebnis,dass sie die Erbschaftsteuer nicht brauchen. Hier wurdegesagt, dass die Bundesländer diese Steuer brauchen, umin Bildung zu investieren. Dazu sage ich Ihnen: Die Län-der sind für ihre Haushalte selbst verantwortlich. Es istnicht Sache des Deutschen Bundestages, Länderhaus-halte aufzustellen, Frau Kollegin Scheel. Das liegt in derureigenen Verantwortung der Bundesländer.
Wenn das Erbschaftsteueraufkommen den Bundeslän-dern zufließen soll, dann sollen sie darüber entscheiden,ob und wie sie die Erbschaftsteuer erheben. Wir habendazu Vorschläge in der Föderalismuskommission ge-macht. Die Verantwortung soll dort getragen werden, wosie getragen werden muss. Deswegen schlage ich Ihnenvor, dass Sie Ihren Gesetzentwurf zurückziehen und dieVorschläge, die wir in der Föderalismuskommission ge-macht haben, übernehmen. In unseren Vorschlägen wirddie Verantwortung dort angesiedelt, wo sie zu tragen ist.Wenn den Ländern das Aufkommen zufließt, dann sollensie auch über die Erhebung der Erbschaftsteuer entschei-den. Wenn Sie nicht in der Lage sind, dazu einen tragba-ren Vorschlag zu machen, dann sollten Sie sich unseremVorschlag anschließen.
Nun erteile ich Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Große Koalition hat sich zu Beginn zumZiel gesetzt, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zuverbessern. Dies ist im unternehmenspolitischen Bereichdurch die Unternehmensteuerreform geschehen. Ichdenke, wir nehmen da zwischenzeitlich einen guten Mit-telplatz unter den Industrienationen ein.Wir haben uns aber auch vorgenommen, die Unter-nehmensnachfolge zu erleichtern und zu verbessern. Esgeht darum, dass der Unternehmensübergang so gestaltetwird, dass die Betriebe fortbestehen können und dass zu
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Bartholomäus KalbInvestitionen ermutigt wird. Die Betriebe sollen im Rah-men eines Generationenwechsels neu ausgerichtet undfür die Zukunft fit gemacht werden können. Wir müssendafür sorgen, dass ihnen keine Substanz entzogen wird.Es geht auch darum, die persönliche Verantwortung zustärken und nicht zu schmälern.
Letztlich geht es gerade im mittelständischen Bereichdarum, dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze erhalten undzukunftsfähig gemacht werden.
Daher hätte ich mir sogar gewünscht, dass wir diese Re-gelung zur Unternehmensteuerreform zeitnäher hättenumsetzen können.
Herr Kollege Pronold, bei aller Freundschaft: Neid isthier ein schlechter Ratgeber.
Die steuerliche Belastung bei Privatentnahmen wird vonder Erbschaftsteuer jedenfalls nicht berührt. Auch wirwollen keine Playboys begünstigen; sie werden auchnicht begünstigt. Das ist meine Entgegnung auf IhrenEinwand.Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist schwieriggenug. Das Bundesverfassungsgericht hat uns, wieschon vorgetragen wurde, aufgegeben, das Erbschaft-steuerrecht insgesamt neu zu regeln. Dies hat auch er-hebliche Auswirkungen auf den Umgang mit dem Erbe.In Deutschland ist es eine gute Tradition, dass wir mitdem Erbe sorgsam und verantwortungsbewusst umge-hen. Das gilt für das geistige, für das kulturelle und na-türlich auch für das materielle Erbe.
Mit dem Erbe sorgsam und verantwortungsbewusstumzugehen, ist ganz entscheidend für die Stabilität einerGesellschaft. Es geht uns darum, dafür zu sorgen, dassder generationenübergreifende Verantwortungsver-bund gestärkt und nicht geschwächt wird.
Kollege Meister hat es gesagt: Wir haben eine äußerstschwierige Aufgabe zu erfüllen. Wir haben die Aufgabe,das Recht neu zu gestalten. Wir ernten mit SicherheitKritik, wir beziehen die Prügel – und die Länder dasGeld. Das macht es für uns nicht ganz einfach. Ich habedeswegen Verständnis für viele Kolleginnen und Kolle-gen, die fragen: Warum beschränkt sich der Bund nichtauf eine Rahmengesetzgebung und überlässt dann dieAusführungen den Bundesländern?
Ich weiß wohl, dass die Länder diese Aufgabe nicht sogerne erfüllen, weil natürlich auch sie die Schwierigkei-ten sehen. Aber natürlich weisen die Kolleginnen undKollegen zu Recht darauf hin, dass die Verhältnisse inFrankfurt, Stuttgart, München und Hamburg anders sindals etwa in Rostock oder bei uns in Deggendorf, in Hof,Chemnitz oder weiß Gott wo.Wir werden und wir müssen die parlamentarische Be-ratung mit großer Intensität und Sorgfalt führen. Die Ar-beitsgruppe Koch/Steinbrück hat zweifellos eine wich-tige Vorarbeit geleistet und schon viele Probleme demGrunde nach beseitigt. Aber ich weise darauf hin: Dasparlamentarische Verfahren beginnt erst jetzt. Wir ha-ben die Aufgabe, dieses Verfahren entsprechend zu ge-stalten. Wir werden uns die Beschlüsse des Bundesrates,der zeitgleich tagt, ganz genau ansehen und in die Bera-tungen mit einbeziehen. Am 5. März, Herr Vorsitzenderdes Finanzausschusses, wird eine Anhörung dazu statt-finden.
– Dies soll auf Vorschlag der Koalitionsarbeitsgruppe sobeschlossen werden, Herr Kollege Thiele. – Wir werdendie Ergebnisse der Anhörung natürlich ganz intensiv be-raten und in die Arbeit mit einfließen lassen.Gerade wir von der CSU-Landesgruppe, lieberDr. Peter Ramsauer, sehen noch erheblichen Beratungs-bedarf in wesentlichen Punkten, die zum Teil schonvom Kollegen Meister angesprochen worden sind, bei-spielsweise bei der Abschmelzregelung, der Behaltefristund der Verschonungsregelung, dem Verhältnis von Be-triebsvermögen und Verwaltungsvermögen insbesonderemit Blick auf die Landwirtschaft, aber auch auf den Be-reich der Immobilien. Bei der Landwirtschaft ist in be-sonderer Weise zu erwähnen, dass die Rückwirkung aufdie Agrarstruktur von ganz entscheidender Bedeutungist. Das muss natürlich in besonderer Weise beachtetwerden.Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, den wir unsintensiver anschauen werden – dies ist schon im Laufeder Debatte angesprochen worden –: Es geht um dieFrage, wie wir mit den weiteren Verwandten – dies be-trifft die Steuerklasse II –, also mit Geschwistern, Nich-ten, Neffen usw., umzugehen haben. Das werden wir unsgenau ansehen müssen. Natürlich werden wir uns, bevorwir zu einem Abschluss kommen – so ist es besprochenworden –, die Bewertungsverordnung vornehmen müs-sen.
Wir werden beachten müssen, wie das alles wirkt.Nur dann, wenn wir dies alles tun, werden wir zueinem guten Ergebnis kommen können. Das heißt, unsstehen die Bewältigung schwieriger Aufgaben und inten-sive Beratungen bevor. Wir sind für Hinweise jedwederArt, die uns die Chance eröffnen, die Dinge zu verbes-sern, sehr dankbar.Herzlichen Dank.
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Nun hat Axel Troost für die Fraktion Die Linke das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute scheint ein besonderer Tag zu sein. Während uns
sonst immer nur Gesetzentwürfe vorgelegt werden,
durch die Unternehmen und Reiche entlastet werden sol-
len, besteht diesmal scheinbare Aufkommensneutrali-
tät. Aber wenn man sich das genau anschaut, dann stellt
man fest, dass diese Aufkommensneutralität nur vor dem
Hintergrund zustande gekommen ist, dass wir deutlich
höhere Erbschaften und eine Andersbewertung von Im-
mobilien zu verzeichnen haben. Das heißt nichts ande-
res, als dass es wieder zu einer Steuersenkung kommt,
weil das eigentlich zu besteuernde Volumen viel größer
geworden ist.
Wenn wir uns aber die Prozesse in den letzten zehn
Jahren anschauen, dann ist viel entscheidender: 1998,
genau vor zehn Jahren, sind SPD und Grüne in den Bun-
destagswahlkampf gezogen und haben gesagt: Wir sind
für die Wiedererhebung der Vermögensteuer. Sie haben
die Wahl gewonnen; sie haben eine Koalitionsvereinba-
rung getroffen, in der von der Wiedereinführung der Ver-
mögensteuer die Rede war.
1999 hat der Basta-Kanzler Schröder auf dem Partei-
tag der SPD gesagt: Mit mir ist eine Vermögensteuer
nicht machbar; aber bei der Erbschaftsteuer werden wir
richtig zulangen; da werden wir Reformen machen; da
werden wir Chancengleichheit hinbekommen. Seitdem
aber ist nichts passiert, weder unter Rot-Grün noch wäh-
rend der Großen Koalition. Jetzt wird uns ein Entwurf
vorgelegt, der im Ergebnis aufkommensneutral ist: keine
Vermögensteuer und reduzierter Erbschaftsteuersatz.
Dazu sagen wir: Das ist mit uns Linken nicht machbar.
Wir sagen nach wie vor: Wir brauchen dringend das
Steuermehraufkommen aus Vermögensteuer und Erb-
schaftsteuer, das den Länder zufließt. Wir brauchen die-
ses Mehraufkommen für die Finanzierung von Bildung,
aber auch, weil die Föderalismuskommission bestrebt
ist, die Verschuldungsmöglichkeiten der Bundesländer
einzuschränken. Die FDP ist konsequent, wenn sie sagt:
Steuern runter, Schulden runter und anschließend bitte
auch die Ausgaben runter. Wenn wir aber sagen, dass wir
die öffentliche Hand, Bildung und vieles andere mehr
brauchen, dann brauchen wir auch ein entsprechendes
Steueraufkommen.
Wir sind der Ansicht, dass die Vermögensteuer wie-
der erhoben werden muss und wir eine echte Reform der
Erbschaftsteuer brauchen, die ein wesentlich höheres
Steueraufkommen nach sich zieht. Das ist nicht populis-
tisch formuliert. Dafür gibt es ganz konkrete Konzepte.
Diese Konzepte werden von den Gewerkschaften
IG Metall, Verdi und vielen anderen unterstützt. Wenn
wir das umsetzen, bekommen wir wieder solide Länder-
finanzen. Dann kann man in der Föderalismuskommis-
sion darüber diskutieren, wie man zu einer Konsolidie-
rung der Länderhaushalte kommen kann.
Danke schön.
Nun hat Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! VerehrteGäste auf den Tribünen! Lieber Florian Pronold, ich rufedir einmal zu: Ich habe dir das nicht versprochen. Ichwill das gleich klarzustellen, nicht dass da ein Verdachtaufkommt. Es ist ein Unterschied, ob man über einenGedenkstein, einen Grabstein oder vielleicht nur einenGrenzstein redet.Ich möchte die grundsätzliche Feststellung treffen:Wir haben uns das Thema nicht ans Revers geheftet. Ur-sächlich ist die Entscheidung von Karlsruhe. Die Ländermachen sich jetzt keinen faulen Lenz. Sie waren bei denDebatten im Vorfeld voll im Einsatz. Es ist aber derDeutsche Bundestag, der das Erbschaftsteuerrecht fürdie gesamte Bundesrepublik Deutschland vorgibt. Ichfinde, das ist gut so, auch wenn es die eine oder anderepopulistische Äußerung dazu gibt.Zur Klarstellung sage ich insbesondere in Richtungder FDP: Wir kommen um eine Reform des Erbschaft-steuerrechts nicht herum. Klar ist aber auch, dass manbei so einem Thema keine guten Karten hat, weil esschnell in eine Neiddebatte führt. Schließlich fühlen nur8 oder 10 Prozent der Bevölkerung entsprechend mit,während die anderen sagen: Da ist etwas zu holen. Die-ses Thema hat auch mit Wahltaktik zu tun. Ich warne vorentsprechenden Überlegungen.Ich sage aber auch sehr deutlich: Ich hätte mit dem al-ten Erbschaftsteuerrecht weiterhin gut leben können.Dieses Erbschaftsteuerrecht haben wir 1997 beschlos-sen. Ich habe schon Probleme damit, dass man liegendesVermögen so behandelt wie Aktien oder reines Geldver-mögen, weil es nicht so mobil ist.
Die Frage ist, wie man das bewertet, wie man damit um-geht. Die Tatsache, dass Karlsruhe uns die Freiheit gege-ben hat, sogenannte Verschonungsfristen zu gestalten,entspricht der Interessenlage der deutschen Landwirt-schaft; denn bäuerliches Vermögen wird in der Regeldrei- oder viermal vererbt, bevor es einmal verkauftwird. Für Wald gilt das erst recht. Wir sind der Überzeu-gung, dass Erbschaftsteuerrecht so gestaltet sein muss,dass die Sache rentabel bleibt. Daher bin ich der Koch/Steinbrück-Kommission ausgesprochen dankbar dafür,dass sie diesen Weg beschritten hat. Es ist ja nicht allesschlecht.
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Norbert SchindlerIch will das, was der Finanzminister gesagt hat, unter-streichen: Die allermeisten deutschen Grundbesitzermüssen auch in Zukunft keine Erbschaftsteuer zahlen, dawir eine kleinflächige Struktur haben. Man muss aberauch darauf hinweisen, dass ein Bauer, der sein Erbe von10 oder 15 Hektar auf 30 Hektar erweitert hat, diese Er-weiterung nach Zahlung der Einkommensteuer finan-ziert hat.
Später müssen seine Kinder, je nachdem wie die Ein-schätzung war – Stichwort: Kaufpreissammlung –, ent-sprechend nachzahlen. Es ist nicht gerecht, dass manLeistung doppelt abstraft. Deswegen sind die nächstenSchritte, dass wir im Bewertungsgesetz – ich plädieredafür, dass es ins Gesetz kommt und nicht in die Verord-nungen,
weil ich den Beamten auf mittlerem Weg absolut nichttraue –,
klare Vorgaben machen.Einen Punkt muss man nachhaltig zur Diskussionstellen: Bleiben wir bei den Fristen von zehn und 15 Jah-ren? Ich weiß, sie kommen aus dem Höferecht, also ge-rade aus der Landwirtschaft; Herr Pronold hat mit Rechtdarauf hingewiesen. Aber wo will der Staat das Geldherholen, wenn der Betrieb im letzten Jahr bankrott ist?Hier muss man auch danach fragen, wie abgerechnetwird, wenn ein Notverkauf dringend notwendig ist.Schließlich spielt das Einkommensteuerrecht bei einersolchen Veräußerung eine gewisse Rolle. Ziel unsererAnstrengungen muss sein, einen Betrieb, ob im Mittel-stand oder in der Landwirtschaft, auf Dauer zu erhalten.Wenn die internen Zahlen über das Abschmelzen stim-men, sollte man darüber konstruktiv nachdenken. Ange-sichts des Strukturwandels, den wir überall erleben, istdas ein denkenswerter Ansatz. Damit nähmen wir einegewisse Furcht und würden das Erbschaftsteuerrechtmittelstandsfreundlich gestalten.
Ich nenne noch einen Punkt: die Einbeziehung derverpachteten Flächen. Wir haben – das räume ich ein –bei der Unternehmensnachfolge in der Landwirtschafteinen Kompromiss zwischen Schwarz und Rot gefun-den. Dass sich die SPD da deutlich bewegt hat, erkenneich mit großem Respekt dankend an.Aber es kann zu Unruhe führen, wenn verpachtetesVermögen, das im Verwaltungsvermögen geparkt ist, inder Erbschaftsteuer extrem anders bewertet wird. Bei derengen Hofnachfolge können die Regelungen funktionie-ren. Sie könnten jedoch auch zu der Überlegung führen:Ich verpachte meine Fläche nicht mehr, bremse denStrukturwandel, nehme dieses Land in einen passivenBetrieb und schließe nur noch Bewirtschaftungsverträgevon Jahr zu Jahr. – Dies würde vor allem in den west-deutschen Bundesländern zu Unruhe führen. Aber – dasgebe ich zu bedenken – auch in den jungen Bundeslän-dern sind 80 bis 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flä-chen verpachtete Flächen. Die Frage, welche Unruhe dieunterschiedliche Bewertung hinsichtlich des Pachtlandsauslösen könnte, will ich heute als Anstoß für die Bera-tungen mitgeben.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Eine letzte Frage: Hat das bäuerliche Wohnhaus, das
eng am Stall oder an Wirtschaftsgebäuden gebaut ist,
den gleichen Wert wie ein vergleichbar anderes Wohn-
haus, muss man nicht einen Abschlag vornehmen? Man
muss berücksichtigen, dass alte Bauernhäuser in der Re-
gel viel Wohnfläche haben. Die Berechnung des Ver-
kehrswertes muss agrarstrukturell vorgenommen wer-
den. Die Anhörung findet ja in den nächsten Wochen
statt und die Beratungen mit Sicherheit auch.
Ein Satz muss mir noch erlaubt sein, weil mir das ein
Anliegen ist: Das Recht sollte bitte nicht schon 14 Tage
nach Unterschrift des Bundespräsidenten in Kraft treten.
Die Betroffenen brauchen eine Schonzeit, um abzuwä-
gen. Sie sollten nicht aus Angst schnell zum Notar ren-
nen und etwas Verkehrtes tun. Ich wünsche mir eine
Wirksamwerdung des Gesetzes am 1. Januar 2009.
Danke schön.
Nun hat das Wort Kollege Christian Freiherr von
Stetten.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wer die heutige Debatte aufmerksam verfolgt hat
und die Änderungsanträge des Bundesrates kennt, demist klar geworden, wie wichtig es war, dass wir den Ge-setzentwurf des Bundesfinanzministeriums in alle seineEinzelteile zerlegt haben, um zu überprüfen, ob das ei-gentliche Ziel, das wir im Koalitionsvertrag vereinbarthaben, nämlich die Entlastung der Familienbetriebe beiBetriebsübergang, tatsächlich erreicht wird.Lieber Florian Pronold, in unserem Koalitionsvertragist von einem Abschmelzungsmodell und von 10 Jahrendie Rede, nicht von 15 Jahren und nicht von einem fall-beilartigen Übergang.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir als Koalitionund ich in der Fraktion dafür werben, dass wir diesenKoalitionsvertrag einhalten. Ich glaube, das sollte in un-serem eigenen Sinne sein.
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15122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008
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Christian Freiherr von Stetten– So ist es.Welche Änderungen wir uns als CDU/CSU-Fraktionvorstellen, haben die Vorredner bereits deutlich gemacht.Wir sollten uns auch den Bericht des Normenkontrollratsganz genau anschauen. Hier wird klargemacht, wie starkdie Bürokratie den Staat belastet und was auf die betrof-fenen Bürger zukommt.Ich möchte mein Augenmerk auf die Bundesratsit-zung legen, die parallel zu unserer heutigen Sitzungstattfindet.
Die Vertreter der Regierungen der Bundesländer – denBundesländern stehen die Erbschaftsteuereinnahmen zu –haben Änderungsanträge verabschiedet, durch die betrof-fene Familienunternehmen entlastet werden sollen. Ichsage Ihnen: Hinter die Beschlüsse des Bundesrates soll-ten wir bei den anstehenden Beratungen des Bundestagesnicht zurückfallen. Wir sollten das respektieren, was unsdie Länder – sie bekommen die Einnahmen aus der Erb-schaftsteuer – vorschlagen, und wir sollten dahinter nichtzurückfallen.
Wenn man sich die Äußerungen der Bundesländer ge-nauer anschaut, dann stellt man fest, dass zumindest hierein weiteres Umdenken eingesetzt hat. Es ist vorhin er-wähnt worden: Wir wollten am Anfang dafür werben,dass die Bundesländer selber entscheiden können, ob sieeine Erbschaftsteuer erheben und, wenn ja, wie hoch dieSätze und die Freibeträge sind. In der Vergangenheit ha-ben die Bundesländer dies immer abgelehnt, übrigensauch die Bundesländer, in denen die FDP an der Regie-rung beteiligt war.Der Vertreter von Baden-Württemberg hat heute Mor-gen im Bundesrat erklärt: Den vorliegenden Gesetzent-wurf der Bundesregierung lehne ich ab; die Gesetzge-bungskompetenz für die Erbschaftsteuer sollte auf dieBundesländer übertragen werden; das darf man zu Be-ginn unserer jetzigen Debatte zur Erbschaftsteuer ruhigauch einmal erwähnen.
– Herr Kollege Pronold, wenn Sie hier nicht so aufge-dreht hätten, dann würde ich auf Folgendes heute nichteingehen:Auch die rheinland-pfälzische Landesregierung unterFührung des SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck hatheute im Bundesrat einen Antrag gestellt und damit eineArt Provokation betrieben. Im Antrag 42/08 wird eineÜberprüfung der Verwaltungsvermögensgrenze von 50 Pro-zent gefordert. Angeregt wird, den Wert von 50 Prozent,der schon jetzt fast zu niedrig ist, auf 25 Prozent zu sen-ken.
Dadurch würde sofort ein Viertel der betroffenen Be-triebe nicht mehr begünstigt werden. Das können Siewirklich nicht wollen.Sie fordern weiterhin eine Überprüfung der zu ge-währleistenden Lohnsumme, die heute bei 70 Prozentliegt. Wir wollen auch noch darüber sprechen, ob eineweniger bürokratische Lösung möglich ist. Sie wollen– zumindest prüfen Sie das – den Grenzwert von 70 Pro-zent – er bereitet schon jetzt vielen große Schwierigkei-ten – auf 90 Prozent erhöhen. Das ist doch Wahnsinnund völlig realitätsfremd. Bei diesem Gedankengut ma-che ich mir um die mittelständische Wirtschaft in Rhein-land-Pfalz wirklich Sorgen.
Die Linksfraktion und die Grünen möchte ich daranerinnern: Noch vor wenigen Jahren haben Sie ein Gesetzgefordert, das verhindert, dass sich Pensionsfonds undandere Heuschrecken in Deutschland breitmachen undgroße Firmen und Wohnungsbestände aufkaufen. FrauHöll, was glauben Sie denn, was passiert, wenn großeFamilienbetriebe in Zukunft plötzlich mit 50 Prozent ih-res Verwaltungsvermögens bewertet werden, weswegensofort 30 Prozent Erbschaftsteuer fällig sind? Wenn einBruder oder ein Cousin erbt, sind sofort 50 Prozent Erb-schaftsteuer fällig. Finanzierbar ist das doch nur durchden Verkauf des Unternehmens oder zumindest einesTeils des Unternehmens.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Sie
können damit Ihre Redezeit verlängern. Sie ist gerade zu
Ende gegangen.
Sehr gerne, Herr Präsident. Ich sehe 007.
Frau Höll, bitte.
Herr Kollege, ich möchte einfach nur nachfragen, obSie in Vorbereitung der heutigen Debatte eventuell denAntrag der Linken zur Erbschaftsbesteuerung zur Kennt-nis genommen haben. Darin machen wir einen Vor-schlag zur Behandlung des Betriebsvermögens. Wir sindgegen eine pauschale Freistellung von 85 Prozent, wieSie sie vertreten, vielmehr treten wir dafür ein, das Anla-gevermögen als Bezugsgröße zu nehmen. Unser Vor-schlag ist also wirklich zielgerichtet.Ich denke, das ist eine Möglichkeit, über die man dis-kutieren kann. Wir, die Linke, sehen hier durchausHandlungsbedarf. Eine Bewertung des Verkehrswertesist nicht einfach. Wir brauchen allerdings eine Eins-zu-eins-Umsetzung, und es muss sachgerecht entschiedenwerden. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Sie solltenihn zur Kenntnis nehmen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15123
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Ich nehme ihn zur Kenntnis und freue mich auf die in-
tensive Beratung im Ausschuss. Ich kann Ihnen allen nur
empfehlen: Besuchen Sie einmal einen Familienbetrieb,
und sprechen Sie mit seinen Mitarbeitern. Fragen Sie die
Belegschaft und die Mieter einmal, ob sie gerne Mit-
arbeiter bzw. Mieter eines Familienbetriebs sind oder ob
sie lieber Mitarbeiter bzw. Mieter eines Großkonzerns
aus dem Ausland wären.
– Sie dürfen ruhig stehenbleiben; denn sonst muss ich
aufhören, zu reden.
Ich sage Ihnen noch etwas: Sie von der Linken sind
doch die ersten, die auf der Straße stehen werden, wenn
ein Betrieb aufgrund der Folgen dieses Gesetzes ver-
kauft werden muss,
und die uns dann auffordern, ein neues Gesetzgebungs-
verfahren einzuleiten.
Ich sage Ihnen: Jetzt können wir etwas für die Mieter,
die Belegschaften und die Familienbetriebe tun. Ich lade
Sie alle ein, in den nächsten Wochen gemeinsam mit uns
an einem ausführlichen Gesetzentwurf zu arbeiten, der
diesen Wünschen gerecht wird. Dann können wir uns in
diesem Hohen Hause einigen.
Herzlichen Dank.
Damit ist die Aussprache geschlossen.
Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Drucksache
16/7918 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse zu überweisen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 b und 8 a
auf:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler,
Volker Beck , weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zwangsverheiratung durch Verbesserung des
Opferschutzes wirksam bekämpfen
– Drucksache 16/7680 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler, Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zwangsverheiratung bekämpfen – Opfer
schützen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer
stärken und schützen – Gleichstellung durch
Integration und Bildung fördern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Karin Binder, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen Schutz der Opfer von Zwangsver-
heiratungen, für die Stärkung ihrer Rechte
und die längerfristige Bekämpfung der
Ursachen patriarchaler Gewalt
– Drucksachen 16/61, 16/1156, 16/1564, 16/4910 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Angelika Graf
Sibylle Laurischk
Sevim Dağdelen
Irmingard Schewe-Gerigk
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf
Minuten Redezeit erhalten soll. – Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk
für das Bündnis 90/Die Grünen.
Ich denke, dass sie erst anfängt, wenn die Gespräche
zum vorigen Tagesordnungspunkt nach draußen verlegt
worden sind.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Es scheint zu klappen. Es sind ja auch fast nur nochFrauen hier.
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15124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt– Ich habe gesagt: fast.
Ja. Auch das ist ein wichtiges Thema.Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der vergangenen Woche hat sich der Todestag vonHatun Sürücü zum dritten Mal gejährt. Sie brach aus ei-ner erzwungenen Ehe aus und wollte ihr eigenes Lebenleben, frei von Zwang und Gewalt. Ihre Familie erach-tete dies als Verbrechen und bestrafte es mit dem Tod.Hatun Sürücü ist zu einem Symbol geworden: zu einemSymbol für Migrantinnen, die von ihrer Familie darangehindert werden, selbst über sich und ihren Körper zubestimmen, und zwar aufgrund autoritärer und patriar-chaler Vorstellungen, die nicht nur den Frauen, sondernauch den jungen Männern massiv schaden. Darübermüssen wir eine Debatte führen, allerdings nicht, indemman die Opfer benutzt, um eine Angstkampagne gegenMigranten zu entfachen und damit Fremdenhass zuschüren, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU.
Dass Sie uns Grünen ständig vorwerfen, wir hättenaufgrund unserer Multikulti-Ideologie die Augen vorden Menschenrechtsverletzungen an Frauen verschlos-sen,
ist eine Frechheit.
Wenn Sie sich unsere Initiativen der letzten Jahre anse-hen,
stellen Sie fest: Wir haben dafür gesorgt, dass Zwangs-verheiratung seit 2005 explizit als Straftatbestand ausge-wiesen ist und dass ausländische Ehefrauen im Falle vonGewalt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten.Wir haben Ihnen in unseren Anträgen außerdem vor Au-gen geführt, was noch zu tun ist.Sie wissen ganz genau, wie die Opfer von Zwangs-verheiratung am besten zu schützen wären. Sie kennendie Vorschläge, die in der Sachverständigenanhörung imAusschuss vorgetragen wurden. Alle Sachverständigenwaren sich darin einig, dass es zum Schutz der in dasHerkunftsland der Eltern verschleppten und zwangsver-heirateten Frauen am wichtigsten ist, ihnen das Rechtzur Rückkehr nach Deutschland einzuräumen. Das wis-sen Sie ganz genau.
Sie haben auch gehört, dass für die nach Deutschlandzwangsverheirateten Migrantinnen – die ja boshaft „Im-portbräute“ genannt werden – ein eigenständiges Auf-enthaltsrecht der beste Schutz ist. Denn erst dann könnendie anderen Maßnahmen greifen.
Was machen Sie? Außer Verschlechterungen auf demRücken der Frauen machen Sie nichts. Da können Siesich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von derSPD, nicht wegducken, auch wenn Ihnen das peinlichist. Seit 2005 liegt unser Antrag auf dem Tisch. Sie ha-ben uns immer wieder damit vertröstet, es gebe bald ei-nen Koalitionsvorschlag. Nun haben sich Union undSPD zwei Jahre lang darüber gestritten. Eine hat sich da-bei herausgehalten – sie sitzt wieder nicht auf der Regie-rungsbank –, nämlich Frau Böhmer, die Integrationsbe-auftragte.
Frau Böhmer hat ihr Pokerface aufgesetzt und gesagt,das müsse man politisch entscheiden.
Dabei wäre es ihre Pflicht gewesen, für die Rechte derMigrantinnen zu kämpfen.
Geschwiegen hat sie auch, als Roland Koch in Hessendiesen unsäglichen Wahlkampf geführt hat. Da war vonihr nichts zu hören.
Verteidigt hat sie hingegen die Verschärfung beim Fami-liennachzug, die die Große Koalition im Rahmen derReform des Aufenthaltsrechts beschlossen hat. Sie hatschon eine seltsame Auffassung von der Rolle einer Inte-grationsbeauftragten.
– Dazu werde ich Ihnen gleich etwas sagen, HerrGrindel.Voraussetzung für die Einreise ausländischer Ehegat-ten nach Deutschland ist seit dem Sommer das Besteheneines Sprachtests für Deutsch.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15125
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Irmingard Schewe-GerigkDiese Regelung gilt aber nicht für alle, sondern nur fürEhegatten aus bestimmten Ländern.
Und dann wundern Sie sich darüber, dass dieses Gesetzin der Türkei als Antitürkengesetz angesehen wird! Ha-ben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wo eine Frauin Ostanatolien die deutsche Sprache lernen soll?
Sie stellen jede Türkin vom Lande mit geringer Bildungunter den Generalverdacht der Zwangsverheiratung. Wasist mit dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Fa-milie, wenn Ehepartner und Kinder wegen fehlenderDeutschkenntnisse jahrelang getrennt leben müssen?
Das hätte ich einer christlich orientierten Partei nicht zu-getraut.
Das ist keine Maßnahme zur Bekämpfung von Zwangs-verheiratungen, das ist eine Maßnahme zur Verhinde-rung von Zuwanderung.
Frau Schewe-Gerigk, möchten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Grindel zulassen?
Bitte schön, gerne.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, da viele Bürger, dieuns zuschauen, die aktuelle Diskussion nicht kennenwerden, möchte ich Sie bitten, ihnen zu erklären, wieFrauen, die von Zwangsverheiratung betroffen sind, diezahlreichen Beratungsangebote – die es zu Recht gibt –annehmen können sollen, wenn sie die deutsche Sprachenicht beherrschen, wenn sie nicht einmal in der Lagesind, die Polizei anzurufen, sich Hilfe zu holen, sich zu-rechtzufinden.Erklären Sie uns, warum es nicht sinnvoll sein soll,dass diese Frauen vor der Übersiedlung nach Deutsch-land Deutsch lernen! So können sie sich schließlich ge-gen Zwangsverheiratung wehren.
Erkennen Sie also an, dass das sehr wohl eine wichtigeMaßnahme ist, um Zwangsverheiratungen zu bekämp-fen?
Nein, Herr Grindel, ich erkenne das nicht an. Dasreicht nicht aus, um zu begründen, dass verheirateteFrauen – möglicherweise mit Kindern –, die zu ihremEhemann nach Deutschland ziehen wollen, schon zumZeitpunkt der Einreise Deutschkenntnisse nachweisenmüssen. Ich bin dafür, dass die Migrantinnen nachDeutschland kommen können; wenn sie hier sind, könnensie sofort Deutschkurse und Integrationskurse belegen.
Das ist der richtige Weg. Aber dafür stehen in den Re-gionen, in denen Sie zuständig sind, keine Mittel zurVerfügung.Natürlich müssen die Frauen die deutsche Sprachelernen, und das ist die beste Möglichkeit der Integration,gar keine Frage. Natürlich ist das eine Voraussetzung da-für, die Beratungsangebote zu nutzen. Aber warum sol-len sie diesen Sprachtest vorher machen?
Sie wissen, dass solche Kurse in der Türkei nicht ange-boten werden.
Sie befinden sich mit Ihrer Position ja noch weit hinterder Position des Innenministers, die ich Ihnen gleichvortragen will.
Die Regelungen verstoßen nach Ansicht vieler Rich-ter und Richterinnen klar gegen unsere Verfassung, underste Klagen liegen bereits vor. Offensichtlich – damitkomme ich zum Bundesinnenminister, Herr Grindel –musste der Bundesinnenminister erst in die Türkei rei-sen, um festzustellen, welchen Murks er mit diesem Ge-setz gemacht hat. Herr Schäuble hat mittlerweile zuge-sagt, zu überprüfen, ob der Sprachnachweis nicht auch inDeutschland erbracht werden kann.
Damit befindet sich der Innenminister schon ein Stück-chen näher an der Position der Grünenfraktion als Sie,Herr Grindel.
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15126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008
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Irmingard Schewe-GerigkDer Innenminister sagt aber: Wer innerhalb eines halbenJahres an dieser Prüfung scheitert, der muss wieder aus-reisen. – Man müsste wahrscheinlich „die“ sagen. Dasfinde ich besonders perfide. Das ist alles andere als einegute Integrationspolitik.Ich komme zum Schluss. Mich wundert es darumauch gar nicht, dass die CDU die für die nächste Wochevereinbarte Integrationsdebatte so kurz vor der Ham-burgwahl abgesagt hat. Sie haben in Hessen gemerkt,dass die Menschen auf ausländerfeindliche Parolen nichthereinfallen, und wollen alles tun, um zu vermeiden,dass so etwas auch im weltoffenen Hamburg ankommt.
Ich sage Ihnen: Geben Sie den Menschen, die aufDauer bei uns bleiben wollen, endlich die Perspektive,deutsche Staatsbürgerin oder deutscher Staatsbürger zuwerden.Vielen Dank.
Michaela Noll hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Schewe-Gerigk, jedes Mal, wenn ichhier stehe und nach Ihnen reden muss, muss ich mich re-lativ mäßigen, um nicht richtig wütend zu werden;
denn das, was Sie hier zum Teil vortragen, ist in der Sa-che und vor dem Hintergrund dessen, was wir in einemJahr hier auf den Weg gebracht haben, nicht gerecht.
Ich werde Ihnen einfach einmal sagen, was in einemJahr möglich war und passiert ist. Dafür reichen die fünfMinuten gar nicht aus. Ich nenne Ihnen ein paar Bei-spiele:Zur Forschung. Das Familienministerium hat den ers-ten Sammelband zu Zwangsverheiratungen in Deutsch-land herausgegeben.
Als wir im letzten Jahr hier darüber diskutiert haben, wardas wie das Fischen im Trüben, weil wir weder Datennoch Fakten hatten. Mittlerweile liegen sie vor. Es sindneue Forschungsuntersuchungen in Auftrag gegebenworden. Das haben Sie im Familienausschuss selber ge-hört; die Ministerin hat das erzählt.Zu Onlineberatungen. Es gibt endlich eine anonymeund niedrigschwellige Beratung, sodass sich die Frauendirekt an die entsprechende Stelle wenden können.Im Zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewaltgegen Frauen wird das Thema Zwangsverheiratung auf-geführt. Wir haben einen Nothilfe-Flyer verteilt, damitdie Frauen ihre Rechte kennenlernen.
Wir haben den Integrationsgipfel veranstaltet, auf demmit den und nicht über die Migranten geredet wurde.
Wir haben einen Nationalen Integrationsplan auf denWeg gebracht. Wir haben das Zuwanderungsgesetz ver-abschiedet. Dazu komme ich gleich gerne noch, wenn esum die Deutschkenntnisse geht.
– Ich möchte jetzt gerne zu Ende sprechen.Auch in den Bundesländern geschieht einiges. Ichnenne den Zehnpunkteplan in NRW, interkulturelle Berater usw. usf. Was hier in einem Jahr passiert ist, das ha-ben Sie in der Zeit, in der Sie in der Verantwortung wa-ren, nicht auf die Beine gebracht.
An dieser Stelle müssen wir unserer Ministerin auch ein-mal dafür danken, dass das in so kurzer Zeit möglichwar.
Ich nenne Ihnen jetzt zwei Beispiele für praxisorien-tierte Maßnahmen:Erstes Beispiel: Onlineberatung. Ich glaube, dieOnlineberatung ist für diese Frauen ausgesprochen wich-tig.
Bei der häuslichen Gewalt hat man es häufig nur mit ei-nem Täter zu tun. Bei der Zwangsverheiratung hat manes aber meistens mit der Familie zu tun, die Druck aus-übt. Ich glaube: Wenn die Frauen unter Kontrolle bzw.Beobachtung stehen, dann brauchen sie solche niedrig-schwelligen Angebote, um einen unkomplizierten Zu-gang zur Hilfe zu erhalten. Deswegen haben wir dieseAngebote geschaffen. Ob per E-Mail oder Gruppen-chats: Sie erhalten Informationen. Die Mitarbeiterinnenhelfen auch bei der Suche nach Beratungsstellen.
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Michaela Noll
– Nein, aber ich möchte einfach einmal sagen, was wirauf die Beine gestellt haben. Sie erwecken hier ja denEindruck, als ob sich nichts getan hätte. – Diese Projektegibt es in Berlin, in Frankfurt, in Stuttgart und – seit ei-nem Jahr – in NRW. Auf einer Seite waren 5 000 Klickszu verzeichnen. Das heißt: Wir haben etwas auf den Weggebracht, was den Frauen vor Ort tatsächlich hilft.
Zweites Beispiel: Deutschkenntnisse. Alle, die in un-serem Ausschuss sind, wissen, dass ich immer fürDeutschkenntnisse vor der Einreise gekämpft habe. Da-von werden Sie mich nicht abbringen.
Es ist unser Ziel, zuziehenden Ehegatten ein selbstbe-stimmtes Leben in Deutschland zu ermöglichen, weil sienur dann eine Chance auf Integration haben. Das gehtaber eben nur über die Sprache.
Sie stellen sich hier hin und sagen, es sei nichts getanworden, wir hätten keine Strukturen. Weit gefehlt!Schauen Sie sich doch einmal an, was die Goethe-Insti-tute in dem einen Jahr auf den Weg gebracht haben. Siehaben Angebote geschaffen: Sie bieten Sprachkurse an,zum Beispiel auch mittels CD-ROM.Die Deutsche Welle bietet kostenlose Sprachkurse an.Es gibt Faltblätter und Angebote vom Bundesamt fürMigration. Flächendeckend ist ein breites Netz von An-geboten entstanden. Das heißt, die vorhandene Nach-frage wird auch befriedigt. Es gibt das Angebot, das wirbrauchen. Die Frauen müssen diese Kurse nutzen, wo-durch sie eine Chance haben, hier in Deutschland zu-rechtzukommen.
Für mich sind die Deutschkenntnisse ein wichtigerFaktor im Hinblick auf den Opferschutz. Wie soll sichsonst eine junge Frau, die zwangsverheiratet werdensoll, hier wehren können? Nur dann, wenn sie Grund-kenntnisse hat, kann sie auf ihre Not aufmerksam ma-chen und sagen, dass sie Hilfe braucht. Anders wird esnicht funktionieren. Ich glaube, das ist langfristig eineMaßnahme, um Mädchen vor dem Schicksal als Import-braut zu schützen. Das ist in keinem Ihrer Anträge ent-halten.
Ich wünsche den jungen Frauen, die nach Deutsch-land einreisen, dass sie eben nicht in irgendwelchenWohnungen verschwinden und dadurch keine Chancehaben, an unserem Leben hier teilzuhaben. Deswegenkönnen Sie mich nicht davon abbringen, dass dies derrichtige Schritt für die jungen Frauen war, um sie prä-ventiv zu schützen. Nicht nur wir denken so. SchauenSie einmal über die Grenzen hinweg, werfen Sie einenBlick nach Holland oder nach Frankreich. Die Franzosengehen sogar noch viel weiter.Im letzten Jahr habe ich Ihnen – daran können Siesich vielleicht noch erinnern – von dem jungen marokka-nischen Mädchen Latifa erzählt. Ihr Schicksal hat michpersönlich sehr betroffen gemacht, weil sie zu mir kam,um Hilfe zu holen. Und warum kam sie zu mir? Siekonnte Deutsch. Ich konnte ihr helfen, weil wir uns mit-einander verständigen konnten.
Die Pflicht, vor der Einreise Deutschkenntnisse zu ha-ben, fördert die Integration, und wenn Sie Zwangsver-heiratungen wirklich bekämpfen wollen, dann sehe ichdarin die echte Prävention.Noch ein Wort zur Einführung eines eigenen Straftat-bestandes;
denn davon geht meines Erachtens eine höhere Signal-wirkung aus. Damit könnten wir deutlich machen, dassZwangsehen integrationshemmende Menschenrechts-verletzungen sind, die wir in Deutschland nicht dulden,nicht tolerieren und nicht akzeptieren werden.
Wir werden erst dann aufhören, uns weiter dafür ein-zusetzen, wenn es in Deutschland keine Zwangsverhei-ratungen mehr gibt. Mit den Deutschkenntnissen vorEinreise sind wir auf einem guten Weg.Danke schön.
Für die FDP hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Integrationspolitik stand durch den Besuchdes türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland indieser Woche wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit.Lassen Sie es mich klar sagen: Der FDP geht es nicht umAssimilation, was unserem Verständnis vom freien Men-schen gar nicht entspräche,
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Sibylle Laurischk
sondern um Integration dieser Gesellschaft und um dasMiteinander aller Menschen auf der Basis unseresGrundgesetzes.Der Auftritt von Herrn Erdogan in Köln und die be-geisterte Reaktion seiner Zuhörer und Zuhörerinnen hatschlagartig deutlich gemacht, dass Integrationspläne und-gipfel allenfalls Instrumente, aber keine Ziele sind. Wirsind allenfalls auf dem Weg; vielleicht sind die erstenSchritte erfolgt.Ich hätte es begrüßt, wenn der türkische Ministerprä-sident Zwangsheirat als Straftat gegen die Menschlich-keit bezeichnet hätte.
Dies steht nämlich auch in der Türkei unter Strafe.
Zwangsverheiratungen sind Ausdruck eines archaischenGesellschaftsverständnisses, das insbesondere Frauendie Entwicklung einer eigenen Identität nicht zugestehtund deshalb auch keine freie Partnerwahl zulässt. In ge-ringerem Maße trifft dies übrigens auch auf Männer zu.Eine solche Menschenrechtsverletzung können wir nichthinnehmen, weshalb diese Form der Nötigung auch in§ 240 Abs. 4 StGB seit 2005 unter Strafe steht.Im Jahr 2006 – ich gehe davon aus, ähnlich auch in2007 – gab es keine 20 Ermittlungsverfahren in Deutsch-land, geschweige denn Anklagen oder Verurteilungen.Dies suggeriert, dass hier kaum Probleme existieren. DerBlick in die Praxis ergibt ein anderes Bild. Mehrere hun-dert junge Frauen und Männer werden jedes Jahr Opfervon Zwangsverheiratungen, wie ich höre, auch und ge-rade hier in Berlin.Die obige Beurteilung von Zwangsverheiratungen istallseits Konsens. Trotzdem hat es die Große Koalitionnicht geschafft, hierzu einen gemeinsamen Antrag zu-stande zu bringen. Zusätzlich hat man mit der Neurege-lung des Aufenthaltsrechts im letzten Sommer Regelun-gen eingeführt, die das Etikett der Verhinderung vonZwangsheiraten tragen, in Wahrheit aber Ehen zweiterKlasse einführen und Ressentiments verstärken.Die Möglichkeit, Unterricht in der deutschen Sprachezu nehmen, ist in den Hauptherkunftsländern außerhalbder Großstädte kaum bis gar nicht vorhanden und mit er-heblichen Kosten verbunden.
Darüber hinaus ist doch fraglich, was mit der Kenntnisvon 300 Wörtern auf Deutsch hier erreicht werden kann.Wichtig sind eine konsequente und verpflichtendeSprachförderung hier in Deutschland, denn darum gehtes doch, damit Frauen und Männer Arbeit finden und indieser Gesellschaft leben können.Diese Sprachregelung als Nachzugsvoraussetzung istoffenbar nur ein neuer Hebel, um dem FamiliennachzugSteine in den Weg zu legen. Dazu passt, dass jetzt schonstandardisiert DNA-Tests verlangt werden, um eine Ab-stammung nachzuweisen, obwohl zum Beispiel in derTürkei ein funktionstüchtiges Personenstandswesenexistiert. Die Antragsteller akzeptieren diesen Test im ei-genen Interesse, aber ich frage Sie: Wo ist denn die Frei-willigkeit, wenn einem gesagt wird, mach den Test oderbleib zu Hause?Ich erwähne dies in dem Zusammenhang, um eines zuverdeutlichen: Wer das Signal setzt, jemand sei hier nurbedingt erwünscht, muss sich nicht wundern, wenn dieseBevölkerungsgruppe das eigene Heimatland bejubelt.Von der Großen Koalition kommen zum ThemaZwangsheirat keine Vorschläge für weitere Maßnahmenmehr, obwohl doch jedem klar ist, dass die aufenthalts-rechtlichen Gesetzesänderungen denen nicht helfen, diehier Opfer einer Zwangsheirat werden oder gewordensind.
Die im Antrag der FDP-Fraktion vorgeschlagenenMaßnahmen wie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht fürOpfer von Zwangsheirat
ohne die Zweijahresfrist, ein Rückkehrrecht für im Hei-matland Zwangsverheiratete und der weitere Ausbauvon Beratungsstellen, Hotlines und Ähnlichem sind not-wendig, um wirkliche Verbesserungen zu erreichen. Wirbrauchen eine höhere Sensibilität im Umfeld der Opfer,also in Schulen, Jugendeinrichtungen und Behörden. Ichmöchte in diesem Zusammenhang den angekündigtenLeitfaden erwähnen, der in Baden-Württemberg erstelltwird und Verhaltensweisen im Umgang mit konkretenBedrohungssituationen sowie Kontaktadressen zur wei-terführenden Hilfe vermittelt.Der Ausbau und die Sicherstellung der Finanzierungvon Schutzeinrichtungen wie den Frauenhäusern liegenmir besonders am Herzen. Die Finanzierung der Frauen-häuser ist seit ihrem Bestehen unsicher und von Bundes-land zu Bundesland unterschiedlich geregelt. Dies führtzu nicht hinnehmbaren Unterschieden in der Chance,Hilfe bei drohender Zwangsverheiratung und der Bedro-hung mit körperlicher Gewalt oder dem Tode zu bekom-men.Die FDP-Fraktion vertritt hierzu klar die folgendeAuffassung: Nur flankierende Maßnahmen, die greifen,werden den Ausstieg aus dem Teufelskreis Zwangsver-heiratung und Gewalt bewirken. Strafgesetze haben wirschon.
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Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die freie Wahl des Ehe- bzw. Lebenspartners ist für diemeisten von uns eine Selbstverständlichkeit. Dies giltjedoch für manche Menschen, die in Deutschland leben,nicht. Opfer von Zwangsverheiratungen sind meist jungeMenschen mit – allerdings nicht nur türkischem – Mi-grationshintergrund. Ihnen wird aus patriarchalischenFamilien- und Geschlechtertraditionen heraus die freiePartnerwahl verwehrt. Die Betroffenen werden zumZwecke der Verheiratung aus Deutschland verschleppt,im Rahmen einer Zwangsehe nach Deutschland ver-bracht oder auch innerhalb Deutschlands zwangsverhei-ratet. Ein Unrechtsbewusstsein besteht bei den Täternmeistens nicht.Wir wissen relativ wenig über das Ausmaß vonZwangsverheiratung bei uns in Deutschland. Kurze Ein-blicke in die Situation erhalten wir nur, wenn es zu öf-fentlich sichtbarer Gewalt kommt – wie im Fall HatunSürücü – oder wenn sich Betroffene wehren, vor derVerheiratung fliehen oder nach der Hochzeit die Qualnicht aushalten. Der Bericht des Bundesministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend, der eine bundes-weite Evaluierung von Praxisarbeit bei der Bekämpfungvon Zwangsverheiratung vorgenommen hat, und derReader des Deutschen Instituts für Menschenrechte lie-fern erste hilfreiche Einsichten hierzu. Auf ihrer Grund-lage müssen wir weiter daran arbeiten, die Opfer zu stär-ken und in den Migranten-Communities aufklärend zuwirken. Denn letztlich ist jeder Fall von Zwangsverhei-ratung in Deutschland ein Indiz für eine nicht gelungeneIntegration.Der Deutsche Bundestag war in der Vergangenheit beider Bekämpfung des Phänomens nicht untätig. IrmingardSchewe-Gerigk hat von „wir“ gesprochen. Damit meintesie wohl die rot-grüne Bundesregierung; denn wir habenals rot-grüne Bundesregierung mit dem Gewaltschutzge-setz, der Absenkung der Frist zur Erlangung eines eigen-ständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehepartnervon vier auf zwei Jahre sowie der Aufnahme derZwangsverheiratung ins Strafgesetzbuch als besondersschwerem Fall der Nötigung bereits einiges erreicht.
Auch die derzeitige Koalition war aktiv. Frau Noll istbereits darauf eingegangen. Zu erwähnen ist besondersder Nationale Integrationsplan, der zahlreiche Selbstver-pflichtungen der Bundesregierung enthält.
So ist zum Beispiel die in allen Oppositionsanträgen ge-forderte Evaluation des Nötigungsparagrafen bereits vor-gesehen. Im Nationalen Integrationsplan finden sich nochweitere konkrete Maßnahmen, allerdings nicht vonseitender Länder und Kommunen. An dieser Stelle ist eine stär-kere Konkretisierung wünschenswert. Denn der Opfer-schutz vor Ort ist das Wichtigste von allem.Im Zuge der Beratungen zum EU-Richtlinienumset-zungsgesetz zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Aspek-ten war es trotz harten Ringens von unserer Seite leidernicht möglich, die zum Beispiel vom Deutschen Juristin-nenbund, aber auch von vielen anderen gefordertenwichtigen Verbesserungen zugunsten der von Zwangs-heirat Betroffenen durchzusetzen. Ich nenne hier insbe-sondere die Forderung, dass der Aufenthaltstitel bei einerZwangsverheiratung nicht bereits nach sechs Monatenerlöschen darf. Auch ich halte es für skandalös, dass einejunge Frau mit einem ausländischen Pass, die ausDeutschland verschleppt wird, nicht mehr nach Deutsch-land zurückkehren kann, wenn die Halbjahresfrist über-schritten ist.
Das Gleiche gilt für das eigenständige Aufenthalts-recht bei Auflösung der Ehe. Es ist hochproblematisch,ein Opfer von Zwangsverheiratung zu zwingen, mindes-tens zwei Jahre bis zum Erreichen des eigenen Aufent-haltsrechts in der Zwangssituation zu verbleiben. Kann-bestimmungen bzw. Härtefallregelungen helfen Frauenin dieser Situation nicht; denn die Frauen brauchen Si-cherheit, um sich aus der Zwangssituation lösen zu kön-nen.
Ich bedauere es sehr, dass wir uns in diesen Punktennicht durchsetzen konnten; denn gerade beim Rückkehr-recht sind es die integrierten jungen Frauen, die betrof-fen sind. Wer das verschweigt, ist definitiv nicht im rich-tigen Film.
Ein Antrag auf Bekämpfung der Zwangsverheiratungohne die essenziellen ausländerrechtlichen Regelungenkam für die SPD nicht infrage, wobei wir nicht verken-nen, dass es in anderen Rechtsbereichen wie beimKJHG, im Erbrecht oder beim Schutz der persönlichenDaten im Familienrecht für den Bund noch deutlichenRegelungsbedarf gibt. Ich verspreche, dass wir weiterdaran arbeiten werden. Ich warne allerdings ausdrück-lich davor, alle muslimischen Ehen unter Generalver-dacht zu stellen nach dem Motto: Jede zweite türkischeFamilie ist von Zwangsverheiratung betroffen. Das istdefinitiv nicht so.
Fest steht: Wir brauchen weiterhin Aufklärung, damitZwangsverheiratungen als das gesehen werden, was siesind, nämlich keine private Familienangelegenheit, son-dern eine Form von häuslicher Gewalt. Gegen die müs-sen wir gemeinsam kämpfen.
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15130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008
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Angelika Graf
Die Kollegin Sevim Dağdelen hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir alle sind uns in diesem Hohen Hause einig:Zwangsverheiratung stellt ein Höchstmaß an Gewalt dar.Das immer wieder deutlich zu machen, darf aber keinSelbstzweck sein. Leider ist diese Debatte symptoma-tisch dafür, wie zumeist über Integrationspolitik debat-tiert wird, nämlich weitgehend losgelöst von gesell-schaftlichen und sozialen Bedingungen. Dabei ist diesozioökonomische Lage der entscheidende Grund fürZwangsverheiratungen. Das sieht selbst die Bundes-regierung so. Die Ursachen von Zwangsverheiratungeinseitig als ethnisch, religiös oder kulturell zu erklären,hält sie ebenfalls für falsch, nachzulesen in der gestrigenAntwort auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zu die-sem Thema.Leider ist die Debatte aber gerade vonseiten derUnion nicht so differenziert geführt, dafür aber umsomehr instrumentalisiert worden. Es handelt sich um einManöver zur Ablenkung vom integrations- und sozial-politischen Versagen der bisherigen Bundesregierungen.
Zwangsheirat wurde als ein Grund mehr genutzt, um be-sonders muslimische Migrantinnen und Migranten ver-allgemeinernd als rückschrittlich oder minderwertig zustigmatisieren. Bei vielen haben die einseitigen Schuld-zuweisungen eher eine Abwehrhaltung ausgelöst. DerAufklärungs- und Präventionsarbeit ist somit ein Bären-dienst erwiesen worden, vor allem aber auch den betrof-fenen Frauen.Gerade jene, die seit Jahren in diesem Haus Gleich-stellungsmaßnahmen konsequent verhindern, machensich plötzlich Sorgen um Frauenrechte. Die Notlagen vonFrauen werden instrumentalisiert und funktionalisiert. Sobegrenzt die Bundesregierung den Ehegattennachzug.Sie versteht das natürlich vor allem als präventive Maß-nahme zur Verhinderung von Zwangsverheiratungen.Dabei spricht sie noch von präventiver Integration. Dasvorgegebene Motiv ist aber mehr als scheinheilig; dennmit dieser Maßnahme wird kein einziger Fall vonZwangsverheiratung verhindert. Was hier als Opfer-schutz getarnt wird, zielt ganz einfach auf die Verhinde-rung von Einwanderung. Ihr Wunsch scheint sich zu er-füllen. Wie der Antwort auf meine schriftliche Frage zuentnehmen ist, ging der Ehegattennachzug infolge derNeuregelungen insgesamt um 40 Prozent und aus derTürkei um mehr als zwei Drittel – genau 67,5 Prozent –zurück.Selbst die Bundesregierung macht in ihrer Antwortklar, dass das sehr wohl mit dem EU-Richtlinien-Umset-zungsgesetz vom Sommer letzten Jahres zu tun hat. Daszeigt: Ihnen geht es nicht um den Schutz von Frauen.
Faktisch kann das Gesetz jetzt nämlich bei bestimmtenKonstellationen sogar dazu führen, dass sich die Lagedieser Frauen noch verschärft. So könnten sie sich genö-tigt sehen, schnellstmöglich ein Kind zu gebären. Nachder Geburt können sie als Mutter eines deutschen Kindesauch ohne Sprachtest hier einreisen.Zwangsweise verheiratete Frauen müssen vor denKonsequenzen einer Scheidung geschützt werden. Dashaben wir immer wieder gesagt. Unter den Fraktionenbesteht auch weitgehend Einigkeit, abgesehen von derCDU/CSU-Fraktion, dass aufenthaltsrechtliche Verbes-serungen für Betroffene notwendig sind. Das haben alleSachverständigen bei der Anhörung im Juni 2006 ge-sagt. Allerdings ist sich die SPD leider auch beim ThemaZwangsverheiratungen treu geblieben. Erst stimmt sieden aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen im Richtli-nien-Umsetzungsgesetz zu, im Nachhinein fordert siedann auf ihrem Hamburger Parteitag im Oktober 2007aufenthaltsrechtliche Verbesserungen. Eine klare Liniebei der SPD – wie immer.
Aber der Handlungsbedarf liegt klar auf der Hand. DieSachverständigen sind sich einig. Wir brauchen starke,vor allen Dingen aber gestärkte Frauen. Deshalb fordertdie Linke aufenthaltsrechtliche Verbesserungen und dieSchaffung angemessener Hilfsangebote. Die Betroffenenund auch die Bedrohten müssen aus ihrer Zwangseheausbrechen oder sich dem Willen ihrer Familie verwei-gern können. Opfer von Zwangsverheiratung müssen dieMöglichkeit haben, als Nebenklägerin aufzutreten; denndann könnten sie auch aktiv am Prozess teilnehmen. Siewürden über besondere Verfahrensrechte verfügen. Zu-dem müsste es doch allgemein einleuchten, wie notwen-dig zum Beispiel die Anonymisierung der Adresse derBetroffenen ist. Wir haben in unserem Antrag Vorschlägezu den Verfahrensregelungen gemacht.Wer Frauen schützen will, darf Schutzregelungennicht vom Aufenthaltsstatus abhängig machen, wie dasim Moment der Fall ist. Deshalb müssen diese auch fürFrauen ohne gesicherten Aufenthaltstitel gelten. Für denSchritt aus Unterdrückung und Abhängigkeit brauchendiese Frauen Ermutigung und Rechtssicherheit.
Dafür müssen die entsprechenden Rahmenbedingungengeschaffen werden. Ich möchte an die Bundesregierungappellieren. Wir haben im Dezember 2005 diese Debattezum ersten Mal geführt. Seit dieser Zeit bin ich Mitglieddieses Hauses. Jetzt haben wir Februar 2008. Nichts ist
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Sevim DaðdelenSevim Dağdelengeschehen, außer einer Verschlechterung der Lage derbetroffenen und bedrohten Frauen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte dringend zum Ende
kommen.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie endlich den Sachver-
stand entscheiden! Hören Sie auf die Sachverständigen
und die Vertreter der Beratungsprojekte, die seit Jahren
in diesem Bereich arbeiten!
Danke sehr.
Jetzt spricht der Kollege Stephan Mayer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! In einem Punkt
sind wir uns einig: Zwangsverheiratung ist eine gravie-
rende und schwerwiegende Menschenrechtsverletzung
und durch nichts zu entschuldigen, insbesondere des-
halb, weil die Fälle der Zwangsverheiratung häufig mit
sowohl brutaler physischer als auch psychischer innerfa-
miliärer Gewalt, mit Demütigung, mit Unterdrückung
und mit Vergewaltigung und teilweise, wie wir leider
Gottes auch schon in Deutschland feststellen mussten,
mit unsäglichen sogenannten Ehrenmorden, die uner-
trägliche und verabscheuungswürdige Straftaten sind,
verbunden sind.
Das Hauptaugenmerk muss darauf liegen, alles dafür
zu tun und effiziente Regelungen zu schaffen, um
Zwangsverheiratungen zu verhindern. Das ist das große
Defizit aller Anträge der Opposition, mit denen wir uns
heute beschäftigen.
Sie setzen sich nicht damit auseinander, was getan wer-
den muss, um Zwangsverheiratungen präventiv zu ver-
hindern. Dies ist ihr großes Defizit.
Die Große Koalition hat, wie schon erwähnt, durch
das Gesetz zur Umsetzung asyl- und ausländerrechtli-
cher Richtlinien der Europäischen Union einiges getan,
um im präventiven Bereich Zwangsverheiratungen effi-
zient zu verhindern, zum Beispiel indem wir das Nach-
zugsalter für Ehegatten auf 18 Jahre festgelegt haben.
Frauen, die über 18 sind, sind selbstständiger, eigenver-
antwortlicher, haben einen ausgeprägteren Charakter
und laufen damit nicht so schnell Gefahr, Opfer von
Zwangsverheiratungen zu werden.
Mit dem Erfordernis des Nachweises von einfachen
– wohlgemerkt: einfachen – Sprachkenntnissen, die vor
der Einreise nach Deutschland im Herkunftsland erwor-
ben werden müssen, wird gewährleistet, dass die Frauen,
insbesondere die aus muslimisch geprägten Ländern,
zum Beispiel aus der Türkei, schon mit ordentlichen
Deutschkenntnissen nach Deutschland kommen, sie sich
somit in der deutschen Gesellschaft zurechtfinden kön-
nen, eigenständig einkaufen gehen und sich einen Freun-
deskreis aufbauen können. Auch dies stärkt die Frauen
und verhindert, dass sie in größerem Maße Opfer von
Zwangsverheiratung werden.
Eine wesentliche Leistung der Großen Koalition ist
auch, dass die Bundesrepublik 150 Millionen Euro im
Jahr für Sprachkurse, Orientierungskurse und Integra-
tionskurse ausgibt. Auch dadurch stärken wir Migrantin-
nen und Migranten, die nach Deutschland kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es trifft ein-
fach nicht zu, dass im Ausland nicht ausreichende Mög-
lichkeiten geschaffen werden, um im Vorfeld Sprach-
kurse zu besuchen.
Ich habe mich selbst davon überzeugt: Das Goethe-
Institut bietet zum Beispiel in der Türkei, auch in Süd-
ostanatolien, die Möglichkeit an, Sprachkurse zu besu-
chen. Dafür beauftragt es in Diyarbakir andere Agentu-
ren. Es ist eine Mär, dass es im Ausland nicht möglich
ist, Deutsch zu lernen.
Dieses Umsetzungsgesetz ist mitnichten diskriminie-
rend und mitnichten türkenfeindlich. Ganz im Gegenteil:
Es ist ein integrations- und frauenfreundliches Gesetz
und deshalb meines Achtens der richtige Schritt in die
richtige Richtung.
Herr Kollege, es fällt schwer, Ihren Schwung zu stop-
pen, aber Frau Dağdelen würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen, was Ihnen zu noch mehr Schwung
und noch mehr Redezeit verhelfen würde.
Sehr gerne.
Bitte schön!
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Vielen, Dank, Herr Kollege Mayer. Sie haben gesagt,
es stimmt nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, Sprach-
kurse zu belegen, und dass es keine Stellen gibt, wo man
Sprachtests ablegen kann. Haben Sie Kenntnis davon,
dass betroffene Menschen zum Beispiel in Nicaragua
weder die Möglichkeit haben, Sprachkurse zu belegen,
noch die Möglichkeit, bei irgendeiner Stelle – es gibt
dort keine Goethe-Institute – Sprachtests abzulegen?
Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, zunächst möchte
ich festhalten: Deutschland ist nicht das Haupteinreise-
land für Bürger aus Nicaragua.
Die meisten Immigranten, die nach Deutschland kom-
men, kommen nun einmal aus der Türkei. In der Türkei
gibt es ausreichende Möglichkeiten – in Südostanatolien
sogar flächendeckend –, zum einen Deutsch zu lernen
und zum anderen den Deutschtest zu absolvieren.
Natürlich besteht immer wieder einmal die Notwendig-
keit, nachzujustieren. Ich bin der Meinung, man sollte
sich durchaus neuen Möglichkeiten öffnen. Zum Bei-
spiel sind die Niederlande in diesem Bereich sehr weit.
Sie bieten das Belegen von Kursen und das Ablegen von
Tests mittels Computer an. Ich könnte mir durchaus vor-
stellen, dass man diese Möglichkeit auch an deutschen
Botschaften etabliert,
auch in Nicaragua. Es ist sicherlich nichts so gut, als dass
es nicht noch verbessert werden kann, werte Kollegin.
Aber in den Ländern, für die Deutschland Haupteinreise-
land ist – zum Beispiel die Türkei und der Kosovo –, gibt
es bereits ausreichende Möglichkeiten, Deutsch zu ler-
nen und einen Deutschtest abzulegen.
Es ist ebenfalls eine Mär, dass es erst nach einer zwei-
jährigen Ehebestandszeit möglich ist, dass ein geschie-
dener Ehepartner, der Opfer von Zwangsverheiratung
oder Gewalt in der Familie geworden ist, ein eigenstän-
diges Aufenthaltsrecht bekommt.
Nach der Härtefallregelung in § 31 Abs. 2 des Aufent-
haltsgesetzes ist es bereits vor dem Ablauf der zweijähri-
gen Ehebestandszeit möglich – meine sehr verehrte Frau
Kollegin, die Hürden sind dabei relativ niedrigschwel-
lig –, dass der betroffene Ehegatte ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht erhält.
Darüber hinaus muss man natürlich zur Kenntnis neh-
men, dass das eigenständige Aufenthaltsrecht, das dem
von Zwangsverheiratung betroffenen Ehegatten erwächst,
nicht über das Aufenthaltsrecht hinausgehen kann, von
dem er sein Aufenthaltsrecht zunächst einmal ableitet,
nämlich von dem des Stammberechtigten. Das ist nun
einmal so. Wir haben die Familienachzugsrichtlinie der
Europäischen Union in vollem Umfang umgesetzt. Es
handelt sich um ein verfassungsgemäßes Gesetz. Das
werden Sie sehen, wenn die Verfassungsbeschwerde in
Karlsruhe geprüft wird.
Die Professoren Hailbronner und Hillgruber haben in der
öffentlichen Anhörung vor dem Innenausschuss in seiner
Sitzung am 21. Mai ausführlich dazu Stellung genom-
men.
Darüber hinausgehende Besserstellungen und eine Per-
petuierung einer Opferrolle auf Dauer wäre falsch. Ent-
scheidend ist es, effiziente Regelungen zu schaffen, um
Zwangsverheiratungen zu verhindern und dann, wenn es
wirklich zu Zwangsverheiratungen und innerfamiliärer
Gewalt kommt, die Möglichkeit zu schaffen, dass sich
der betroffene Ehegatte möglichst schnell und unbüro-
kratisch von seinem Partner trennen kann.
Herr Kollege, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu
kommen.
Es geht also nicht darum, eine Opferrolle auf Lebens-
zeit zu perpetuieren.
Die heute zu beratenden Anträge der Opposition sind
nicht zielführend und gehen völlig am Thema vorbei. Sie
sind abzulehnen.
Herzlichen Dank.
Jetzt spricht Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gewalt gegen Frauen und Kinder ist verabscheuungs-würdig. Das gilt auch für die besondere Ausprägung derZwangsverheiratung, die gegen das Recht auf Selbstbe-stimmung gerichtet ist, wovon vorzugsweise Frauen undMädchen betroffen sind. Insoweit, Herr Kollege Stephan
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15133
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Rüdiger VeitMayer, bin ich mit dem Anfang Ihres engagierten Rede-beitrags ausdrücklich einverstanden; ich sage das auchnamens der SPD-Fraktion.
Dieses Einverständnis reicht dann noch so weit: Ehe-gattennachzug, Altersgrenze von 18 Jahren, das ist okay.Das entspricht unserem Rechtssystem. Der Regelfall fürdie Eheschließung ist nun einmal die Volljährigkeit, essei denn, das Vormundschaftsgericht bestimmt das an-ders. Wir sollten darauf achten – das möchte ich bei derGelegenheit einmal sagen –, dass, etwa bei der Umset-zung von EU-Recht, entsprechend deutschem Rechts-verständnis ausgeschlossen wird, dass Minderjährigeheiraten können.Damit endet dann schon fast die Übereinstimmung.
Ich persönlich – das gilt auch für einen großen Teil derSPD-Fraktion – halte überhaupt nichts davon, den vor-herigen Erwerb von Deutschkenntnissen zur Bedingungfür den Ehegattennachzug zu machen.
– Lieber Kollege Grindel, ich weiß, dass wir das be-schlossen haben. Ich werde aber doch noch sagen dür-fen, dass mich das schmerzt und dass das nicht meinerÜberzeugung entspricht.
Ich halte sehr viel mehr davon, zu sagen, die Betreffen-den möchten bitte in Deutschland Deutsch lernen.
– Frau Präsidentin, geht dieser Dialog von meiner Rede-zeit ab? – Gut.
Sie haben den Vorteil, dass Sie das Mikrofon haben.
Ich komme zurück zum Thema. Wenn Sie mir freund-licherweise zuhören würden!Straftatbestand der Zwangsverheiratung. Die Sach-verständigenanhörung im Familienausschuss hat jeden-falls nach meiner Überzeugung ergeben: Der durchRot-Grün geschaffene Strafrahmen in § 240 StGB – be-sonders schwerer Fall der Nötigung – reicht völlig aus.Einige Sachverständige haben uns aber gesagt: Wegender generalpräventiven Wirkung, wegen der besserenSichtbarmachung für alle, die sonst unter UmständenTäter werden könnten, wäre eine Änderung sinnvoll. Dabin ich bei Ihnen, Frau Kollegin Noll. Wenn wir darübereinig sind, dies unter eine eigene Überschrift, unter eineneigenen Paragrafen zu fassen: Wer sollte uns dann daranhindern?Nächster Punkt: eigenständiges Aufenthaltsrecht fürvon Zwangsverheiratung Betroffene. Ich darf darauf hin-weisen, dass nach der Gesetzesvorschrift – sie ist übri-gens nicht verschärft worden, liebe Kollegin Dağdelen;sie hat so schon existiert – in besonderen Härtefällen vonder Frist von zwei Jahren – Rot-Grün hat sie 1999 aufzwei Jahre festgesetzt – abgewichen werden kann. Aberich stimme meiner Kollegin Graf darin zu, dass es natür-lich besser wäre, wenn man das ausdrücklich ins Gesetzschreiben würde. Ich sage wiederum an das ganze Haus,insbesondere aber an die Kolleginnen und Kollegen vonder Union: Wenn wir uns auch darüber einig sind, dannsollten wir uns nicht daran hindern lassen, entsprechendzu verfahren.
Ich komme auf einen letzten Punkt zu sprechen; ichhalte ihn für den allersensibelsten. Es geht um das Wie-derkehrrecht, sowohl für Minderjährige als auch fürVolljährige, die im Ausland – sei es, dass sie verschlepptworden sind, sei es, dass sie aus einem anderen Grunddort waren – gegen ihren Willen verheiratet worden sind.Hier müssen wir alle aufpassen, dass wir uns durch dieUntätigkeit des Gesetzgebers nicht selbst zum Vollstre-cker an den Opfern machen,
sie dort, wo sie verheiratet worden sind, in ihrer Zwangs-lage sozusagen noch festhalten, anstatt dafür zu sorgen,dass sie unter vernünftigen Bedingungen nach Deutsch-land zurückkehren können. Ich weiß, dass das ein Punktist, über den in der Unionsfraktion und unter Regie-rungsmitgliedern aus der Union nachgedacht wird. Ichhatte in der Sachverständigenanhörung auch den Ein-druck, dass wir uns darüber parteiübergreifend eigentlicheinig waren.Ich sage noch einmal: Es kann nicht sein, dass je-mand, der gegen seinen Willen in einem anderen Landfestgehalten wird – vorzugsweise geht es um jungeFrauen –, gehindert wird, nach Deutschland zurückzu-kehren, um sich so aus dieser Zwangslage zu befreien,indem wir sagen: Nach sechs Monaten erlischt das Auf-enthaltsrecht. – Das dürfen wir nicht zulassen.Neben allem, über das wir uns vielleicht einig sind– eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehefrauen, eige-ner Straftatbestand, Wiederkehrrecht –, sage ich etwasnoch einmal ganz pointiert.
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Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss. – Letzter Satz: Wir müssen
wirklich aufpassen, dass wir nicht zum Vollstrecker an
den Opfern der Täter werden, die sie gegen ihren Willen
zwangsverheiratet haben. Das meine ich sehr ernst. Ich
bitte Sie alle, darüber noch einmal nachzudenken und
vielleicht mitzuhelfen.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7680 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Fe-
derführung strittig. Während die Fraktionen von CDU/
CSU und SPD die Federführung beim Innenausschuss
wünschen, möchte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Darüber müssen wir abstimmen.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Wer für diesen Überweisungsvor-
schlag ist, möge bitte die Hand heben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dieser Vorschlag ist damit bei
Zustimmung durch die drei Oppositionsfraktionen und
bei Gegenstimmen von den Koalitionsfraktionen abge-
lehnt.
Ich lasse jetzt abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Fe-
derführung beim Innenausschuss. Wer ist für diesen
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist dieser Überweisungsvorschlag so ange-
nommen.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 8 a, nämlich
der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/4910.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/61 mit
dem Titel: „Zwangsverheiratung bekämpfen – Opfer
schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen und bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal-
tung der FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1156
mit dem Titel: „Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Op-
fer stärken und schützen – Gleichstellung durch Inte-
gration und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Diese Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen
von FDP und der Linken und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/4910 empfiehlt der Ausschuss schließlich die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/1564 mit dem Titel: „Für einen Schutz
der Opfer von Zwangsverheiratungen, für die Stärkung
ihrer Rechte und die längerfristige Bekämpfung der Ur-
sachen patriarchaler Gewalt“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustim-
mung durch die Koalitionsfraktionen, bei Gegenstim-
men von der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung von
FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Tierschutzbericht 2007
– Drucksache 16/5044 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Tierschutzgesetzes
– Drucksache 16/7413 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es ist verabredet, hierüber eine Stunde zu debattie-
ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Gerd Müller für die
Bundesregierung.
Dr
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Sehr gern hätte ich auch gesagt: „Liebe Tiere!“;
denn bei diesem Tierschutzbericht geht es schließlichum die Situation der Tiere im Land.Ich erhebe die Stimme für die Tiere in unserem Land.Wenn der eine oder andere sich die Frage stellt, ob die
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müllerheutige Debatte überhaupt notwendig ist, antworte ich:Ja, selbstverständlich! In Deutschland gibt es 23 Millio-nen Haustiere und über 100 Millionen Nutztiere in denStällen, zum Beispiel 26 Millionen Schweine. In jedemdritten Haushalt gibt es ein Tier; 7,5 Millionen Katzenund 5 Millionen Hunde. Hinzu kommen noch die vielenfreilebenden Tiere.Ehrfurcht vor dem Leben gebietet auch den besonde-ren Schutz unserer Tiere und die Fürsorge. Auch Tierehaben eine Würde und ein Recht darauf, dass Problemeim Zusammenhang mit der Nutzung und der Tierschutzhier im Parlament behandelt werden.
Denn ohne Tiere stirbt die Natur, und ohne Natur stirbtder Mensch.Wir hatten im vergangenen Jahr das Thema „Sterbenunsere Bienen?“. In Amerika ist das millionenfach ge-schehen. An dieser Stelle zeigt sich der Kreislauf derNatur: Stirbt die Biene, gibt es keinen Frühling, keineBestäubung, keine Natur. An diesem kleinen, aber dra-matischen Beispiel wird deutlich, welche herausragendeBedeutung im Zusammenspiel zwischen Mensch, Tierund Natur den Tieren, auch den freilebenden, zukommt.Tierschutz ist deshalb sowohl Naturschutz als auchMenschenschutz. Mit der Vorlage des Tierschutzberich-tes wollen wir darauf eingehen und über die Fortschrittein der Frage, wie wir mit unseren Tieren umgehen, be-richten.Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle-gen, nicht nur denen, die jetzt hier anwesend sind. Wirhatten im letzten Jahr viele fraktionsübergreifende De-batten. Wir haben den Tierschutz als Staatsziel imGrundgesetz verankert. Das haben Sie ganz wesentlichbewirkt. Wir haben heute hohe Tierschutz- und Tierhal-tungsstandards, und zwar nicht nur in Deutschland. Viel-mehr haben wir dieses Thema im Rahmen der EU-Rats-präsidentschaft auch in Europa auf die Agenda gesetzt.
Das verdient natürlich ein Lob.Beim Thema Tierschutz geht es ganz besonders umdie Frage, welche Standards wir in Deutschland und Eu-ropa setzen. Bundesminister Seehofer hat im Rahmender deutschen Ratspräsidentschaft ganz erheblich dazubeigetragen, dass auch auf europäischer Ebene dasSchützen und Nützen von Tieren in einem ausgewoge-nen Verhältnis steht. Dazu nenne ich einige Punkte, dieich natürlich nur kurz markieren kann: Wir haben uns füreine europäische Tierschutzkennzeichnung stark ge-macht. Minister Seehofer und die Bundesregierung ha-ben sich des Weiteren für international gültige Mindest-standards eingesetzt; denn es nützt nichts, nur inDeutschland Standards zu setzen. Denn ansonsten gibtes eine Abwanderung insbesondere im Nutztierbereich.
Das ist uns gelungen. Ich nenne den Punkt Cross-Compliance. Dieser Rahmen gilt für die Haltung vonNutztieren in den 27 Staaten der EU. Ich nenne dieRichtlinie zur Haltung von Masthühnern und die Verord-nung hinsichtlich eines Importverbots von Hunde- undKatzenfellen, ein ganz entscheidendes Thema.Ein weiteres Anliegen auf europäischer Ebene waruns, allen Fraktionen – ausgegangen ist das von den Re-gierungsfraktionen –, die Bekämpfung der illegalen Fi-scherei im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft. Es nütztnichts, in mühseligen Verhandlungen Schutzquoten zuvereinbaren, wenn wir dieses Problem international,nicht nur in Europa, nicht in den Griff bekommen. Tier-schutz muss deshalb auch auf die Agenda der WTO.
Aber wer sich europa- und weltweit durchsetzen will,muss zunächst zu Hause vorbildliche Arbeit leisten. Dieshaben wir getan. Diese Koalition geht in Deutschlandmit der Schaffung von vorbildlichen Standards voran. Soist es uns gelungen, den Tierschutz bei der Nutztierhal-tung fortzuentwickeln, ohne die Wettbewerbsfähigkeitunserer Landwirtschaft aus den Augen zu verlieren. HerrGoldmann, nicht nur den Bauern, sondern auch den Tie-ren in den Ställen geht es unter dieser Regierung besser.Das ist ganz wichtig.
Wir haben neue und bessere Standards für die Tierhal-tung nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt. In-nerhalb von zwölf Monaten haben wir neue Standardsfür die Haltung von Schweinen und Legehennen ge-schaffen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an dieEinführung der Kleingruppenhaltung bei Legehennen.Deutschland ist hier vorangegangen, um eine sinnvolleund tragfähige Alternative zur Käfighaltung zu entwi-ckeln. Wir haben auch neue Standards für die Haltungvon Pelztieren – ebenfalls ein wichtiges Thema – undvon Zirkustieren geschaffen. Das sind vier sehr zentraleund wichtige Bereiche.Ich möchte noch kurz zum Thema Tiertransportekommen. Bei den Tiertransporten ist es uns auf europäi-scher Ebene durch politischen Druck endlich gelungenauf, den Irrsinn zu beenden, dass nur der Subventionenwegen Tiere durch Europa transportiert werden. Langehaben wir darüber diskutiert. Nun ist es endlich gelun-gen, ein klares Signal auszusenden.
Man konnte die schrecklichen Bilder im Fernsehen se-hen. Zwischenzeitlich haben wir in Deutschland hoheund höchste Standards beim Tiertransport gesetzt: vomTränken bis zur Temperatur in den Lkws.Die Bundesregierung geht Schritt für Schritt erfolg-reich voran. Wir machen Front gegen das brutale Ab-schlachten der Robben. In dieser Woche stand diesesThema im Bundeskabinett auf der Tagesordnung. Wir
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müllersetzen die Forderung aller Fraktionen des Bundestagesum, ein nationales Verbot für den Import, die Verarbei-tung und das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissenzu erlassen. Wir sind alle einer Meinung: Die Robben-jagd muss ein Ende haben.
Deutschland muss noch ein Stück Überzeugungsarbeitmit Blick auf die Mitgliedstaaten der EU und die WTOleisten.Ebenso klar ist unsere Position gegen den Walfangund die illegale Fischerei, die ich schon genannt habe.Bei der Fischerei ist uns sehr wichtig, dass – über die eu-ropäischen Meere hinaus – die Abfischung der Welt-meere Beachtung findet. Der weltweite Artenschutz,nicht nur bei Fischen, verlangt unseren vollen Einsatz.Von weltweit circa 1,5 Millionen Tierarten sterben täg-lich zwischen 100 bis 150 aus. Auch hier dürfen wir dieProbleme nicht nur beklagen und auf die europäische Ta-gesordnung setzen, sondern wir müssen national han-deln. Deshalb hat die Bundesregierung mit der Strategiezur biologischen Vielfalt, einem Programm zur Erhal-tung von Arten und Lebensräumen, 330 konkrete Maß-nahmen auf den Weg gebracht.Ich verkenne aber nicht, dass es in der Zukunft nochProblembereiche gibt. Ein Problembereich, der auch imTierschutzbericht angesprochen worden ist, ist dasThema Tierversuche. Leider haben wir in den vergange-nen zwei Jahren eine Steigerung der Anzahl der Tierver-suche. Wir brauchen die Erkenntnisse aus Tierexperi-menten, aber der Trend einer steigenden Anzahl vonTierversuchen muss gestoppt und umgekehrt werden.
Wir wissen, dass diese Steigerung mit den rechtlichenFolgerungen aus der Umsetzung von REACH zusam-menhängt. Aber es kann nicht sein, dass wir in dennächsten Jahren eine Steigerung von 4,5 Prozent haben.Deshalb brauchen wir Alternativmethoden. Auch hiergeht die Bundesregierung voran. Wir werden die ZEBETstärken und dort ein nationales Referenzzentrum einrich-ten. Doppelversuche müssen vermieden werden. Wirwerden in den nächsten Monaten über dieses Thema imRahmen der Novelle zur EU-Tierschutztransportverord-nung mit den europäischen Partnern diskutieren.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Dr
Der Tierschutzbericht wird in Zukunft alle vier Jahre
vorgelegt. Wir wollen mit dem zukünftigen Tierschutz-
bericht ein Stück weit Grundsatzfragen angehen und
langfristige Entwicklungen aufzeigen, über aktuelle Da-
ten aber permanent, also jedes Jahr, über das Internet,
aber auch hier im Parlament mit Ihnen diskutieren.
Herr Kollege!
Dr
Tierschutz hat viele Dimensionen und einen hohen
Stellenwert. Er geht uns alle an.
Herzlichen Dank.
Hans-Michael Goldmann hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich werde jetzt ein bisschen abprüfen, ge-schätzter Herr Staatssekretär, ob das, was Sie gesagt ha-ben, nämlich dass es den Bauern und den Tieren bessergeht, etwas mit Ihrer Politik zu tun hat.
Vorweg möchte ich feststellen: Ganz so toll kann IhrePolitik nicht sein; denn ansonsten wäre gar nicht zu ver-stehen, warum der Tierschutzbericht zukünftig nur nochalle vier Jahre vorgelegt wird.
Normalerweise versucht eine Regierung, mit ihren Er-folgen zu glänzen. Deswegen gehe ich einmal davon aus– ich werde jetzt versuchen, das zu belegen –, dass dieErfolge vergleichsweise bescheiden sind. Oder sehen Siedie Vorlage des Tierschutzberichtes nur noch alle vierJahre als eine Maßnahme im Sinne des Bürokratieab-baus, über den wir in dieser Woche schon im Ausschussdiskutiert haben?Ich beginne einmal mit ein paar formalen Dingen.Man muss dem einen oder anderen Zuhörer einmal klar-machen, über was wir heute reden. Wir reden im We-sentlichen über die Zahlen und Ergebnisse des Jahres2005, wenn es zum Beispiel um die Tierversuche geht.Diese sind Bestandteil des Tierschutzberichtes 2007. Siehaben es angesprochen: Die Zahlen sind gestiegen. DieZahl der Wirbeltierversuche hat sich von über 2 412 000auf 2 518 000 erhöht. Unser gemeinsames Ziel war es ei-gentlich immer, in diesem Bereich besser zu werden. Ichkann die Wissenschaft und uns selbst nur immer wiederdazu auffordern, auf Alternativmethoden zu setzen, sichklarzumachen, dass Tierversuche wirklich nur danndurchgeführt werden, wenn sie zwingend notwendigsind, um ganzheitliche Prozesse zu erfahren. Wir sind indiesem Bereich nicht gut; wir alle müssen in diesem Be-reich besser werden.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15137
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Hans-Michael GoldmannLassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Beidiesem Thema ist man ja meist sehr direkt betroffen. Ichselbst liebe Tiere. Wir haben eine Katze. Sie hört jetzt zuHause auch zu, so nehme ich an.
– Die liegt jetzt wahrscheinlich bei meiner Frau auf demSchoß und muss mit zuhören.Es gab bei Mastkaninchen unerträgliche Haltungsbe-dingungen. Was haben Sie gemacht? Sie haben nichtsgemacht. Wer etwas getan hat, war die Wirtschaft. Diehat nämlich eine Qualitätsgemeinschaft für Kaninchen-fleisch gegründet und hat im Grunde genommen eine in-ternationale Vernetzung hinbekommen, also nicht nurauf dem nationalen Markt, sondern auch im Hinblick aufsüdamerikanische Märkte. Hier zeigt sich: Da man dieDinge national nicht aufgreift und auch auf europäischerEbene keine Initiativen in Gang bringt, kann man richtigfroh sein, dass die auch von Ihnen manchmal sehr ge-scholtene Wirtschaft hier Vorreiter ist. Ich bedanke michbei der Wirtschaft dafür, dass sie entscheidend dazu bei-getragen hat, dass sich die Bedingungen des Schutzesvon Kaninchen verbessert haben.
Nehmen wir ein drittes Beispiel. Wir haben in dieserWoche im Ausschuss über die Blauzungenkrankheit ge-sprochen. Ich weiß, dem einen oder anderen passt esnicht; aber die Bundesregierung hat geschlafen. DieBundesregierung hat falsche Aussagen getätigt. Sie hatauf der Grünen Woche signalisiert – Kollege Priesmeierhat dies im Ausschuss deutlich gemacht –: Wir stehenunmittelbar vor der Chance des Impfens. Die Chance desImpfens hat nicht nur etwas mit dem Schutz der Tiere zutun, wenn es darum geht, sie zu exportieren, sondernganz entscheidend damit, dass Schmerzen bei den Tierenvermieden werden. Nun mussten wir im Ausschuss fest-stellen: Es ist kein Impfstoff da. Er kommt möglicher-weise in ein paar Wochen oder auch erst in Monaten.Nur, dann ist es viel zu spät, um den Schutz der Tiere zugewährleisten.Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie hätten dasOhr an allen Dingen, die sich entwickeln. Ich fragemich: Wie kann so etwas passieren? Vier große ernst zunehmende Firmen kündigen an, dass sie einen Impfstoffhaben. Diese Information landet in Ihrem Haus und beiden Forschungseinrichtungen, zum Beispiel auf Riems.Dann stellen Sie auf einmal fest: April, April! Es wurdenoch gar kein Feldversuch mit diesen Impfstoffen ge-macht; wir können sie überhaupt nicht einsetzen. – Dannfordern wir die Länder auf: Besorgt euch Impfstoffe!Hessen koordiniert das. Jedem wird gesagt: Seht bloß zu,dass ihr etwas davon bekommt; denn nachher ist nichtsmehr da. – Ich meine, dass es im Sinne des Tierschutzesein eklatantes Versagen ist, was die Bundesregierung daan den Tag legt.
Ich will noch einmal betonen: Wir sagen seit gerau-mer Zeit, dass wir impfen müssen anstatt zu töten. Dieintensiven Haltungsformen, die wir heute haben, sindnur marktfähig und ethisch vertretbar, wenn wir auchimpfen. Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass bei Seu-chenausbrüchen Millionen von Tieren gekeult, totge-schlagen werden. Das versteht kein Verbraucher. Manmuss darauf drängen, dass geimpft wird, und wenn mandie Tiere geimpft hat, muss man mit den Ländern, diediese abnehmen, in Verhandlung treten. Man muss ihnenganz klar sagen: Ihr könnt Fleisch oder Zuchtmaterialvon uns bekommen, aber möglicherweise ist es von Tie-ren, die geimpft sind. – Darauf muss man hinarbeiten.Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass es den Tie-ren in Deutschland besser ergangen ist. Ich bin sehr da-mit einverstanden, dass wir heute nicht mehr darüber re-den, welche Haltungsform für Legehennen notwendigist; das ist abgefrühstückt. Ich bin dafür, dass wir dieVerbesserungen, die wir im Zusammenhang mit der Hal-tung von Legehennen beschlossen haben, jetzt auchdurchsetzen. Wie Sie aber auf die – ich sage das in An-führungsstrichen – Schnapsidee gekommen sind, fürjede Haltungsform einen Tierschutz-TÜV einzuführen,weiß ich nicht.
Sie können doch selber feststellen, zum Beispiel bei denSchweinen, dass die Landwirte die Dinge hervorragendregeln. Die Landwirte machen das, was für ihre Tiere gutist, weil sie ihre Tiere lieben und weil sie nur mit gutge-henden Tieren wirtschaftlichen Erfolg haben. Man mussauch bedenken, dass es schon ein Kuratorium für Tech-nik und Bauwesen in der Landwirtschaft gibt, das mitfinanzieller Unterstützung Ihres Hauses Standards erar-beitet. Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regie-rungserklärung gesagt, man wolle zurück zur Fachlich-keit. Dabei ist die Fachlichkeit doch bei den Fachleutenvor Ort gegeben. Ich verstehe daher nicht, warum Siehier auf dem Tierschutz-TÜV herumreiten.Herr Staatssekretär, wie war das denn mit den Hunde-und Katzenfellen und den Wildvögelimporten? Sie wer-den sich daran erinnern: Die Regelung ist im Ausschussvon den Oppositionsfraktionen erkämpft worden.
– Waren Sie damals schon dabei, Frau Kollegin? Vor-sicht!
Wir haben immer gesagt: Lasst uns beim Verbot derEinfuhr von Hunde- und Katzenfellen Vorreiter sein.Uns wurde immer gesagt, das gehe nicht,
bis die Dänen auf einmal den Vorreiter gespielt haben.Als wir gesagt haben: „Jetzt wollen wir hinterher, undzwar mit aller Gewalt“, sind dann die großen Fraktionen
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Hans-Michael Goldmannhinzugetreten, und wir haben diese Regelung gemein-sam erreicht.
Die Spielregeln sind in diesem Fall relativ klar. Auch beider Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz warenwir Vorreiter. Wir sind eindeutig diejenigen, die dieDinge in Schwung gebracht haben.Wir können ja versuchen, gemeinsam etwas hinzube-kommen, was das Thema Wale anbelangt. Ich erinnerean die furchtbaren Bilder, wie die Walmutter und ihrJungtier an Bord gezogen wurden. Ich finde es gut, dasssolche Bilder veröffentlicht werden, so traurig sie auchsind. Dadurch wird klar, welcher Schwachsinn da betrie-ben wird und welche Brutalität hier an den Tag gelegtwird. Wir machen mit den Japanern ein Geschäft nachdem anderen, und die behaupten rotzfrech: Wir betreibenden Walfang aus Forschungsgründen. Das ist glatt gelo-gen. So ähnlich ist die Sache mit den Robben und denKanadiern. Es ist überflüssig wie ein Kropf, wenn Tiereauf diese Art und Weise abgeschlachtet werden.
Das ist in keinerlei Hinsicht mit dem Tierschutz in Ein-klang zu bringen. Lassen Sie uns gemeinsam vorange-hen. Dann können wir erfolgreich sein.Ich bitte Sie aber, noch einmal darüber nachzudenken,ob es wirklich klug ist, dass wir nur alle vier Jahre überden Tierschutz debattieren. Schließlich werden Millio-nen Tiere in Haushalten gehalten, wo die Tierhaltungzum Teil sicherlich diskussionswürdig ist. Außerdemwerden Millionen Tiere als Nutztiere gehalten, und esgibt viele internationale Probleme. Wir werden versu-chen, das Thema Tierschutz im Bundestag auch zukünf-tig intensiv zur Sprache zu bringen.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Mechthild Rawert.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Werte Gäste! Ich habe keine Katze, die vor demFernseher sitzt, Herr Goldmann. Ich denke auch, dassdas aus Tierschutzgründen ernsthaft überdacht werdensollte.
270 000 Sattelrobben wurden im vergangenen Jahrvom kanadischen Fischerei- und Meeresministerium of-fiziell zum Töten freigegeben. 270 000 Sattelrobbenwurden allein 2007 in Kanada getötet. Tierschutzorgani-sationen sprechen von mehr als 400 000 Robben welt-weit. Dabei gehen die Robbenjäger nicht zimperlich mitden Robben um. Ich erspare Ihnen Einzelheiten über dasTöten der Robben und das Abziehen der Felle bei leben-den Robben. Ich bin mir sicher, dass viele von Ihnenschon Fotos und Reportagen darüber gesehen haben.Seit Jahren protestieren Öffentlichkeit und Tierschützergegen das alljährlich weltweite Abschlachten von Rob-ben.Der Bundestag hat der Bundesregierung am 19. Okto-ber 2006 einvernehmlich – ich betone: fraktionsüber-greifend einvernehmlich – einen klaren Auftrag erteilt.Die Bundesregierung wurde aufgefordert, den Import,die Be- und Verarbeitung und das Inverkehrbringen vonRobbenprodukten wirkungsvoll zu unterbinden. WirParlamentarierinnen und Parlamentarier haben der Bun-desregierung den Auftrag gegeben, sich erstens aktiv da-für einzusetzen, dass es ein europaweites Einfuhr- undHandelsverbot für Robbenprodukte gibt. Sollte diesnicht umsetzbar sein, soll es zweitens zu einem nationa-len Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenproduktekommen. Der Auftrag ist klar.Dem Bundeskabinett, also allen Ministerinnen undMinistern unserer Bundesregierung, wurde diese Wocheein entsprechender Entwurf seitens des Hauses Seehofervorgelegt. Dieser Entwurf wurde vom Bundeskabinettzur Kenntnis genommen. Das heißt, es passiert erst ein-mal gar nichts. Ich kenne die Gründe für diese bloßeKenntnisnahme nicht, aber ich wiederhole: Es gibt einenklaren Auftrag des Parlamentes. Daher fordern wir vonder SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, diesem inBälde nachzukommen. Wir Parlamentarierinnen undParlamentarier wollen ein geltendes Verbot. Wir erklä-ren: Wir wollen es jetzt. Wir wollen in Deutschlandkeine gehandelten Robbenprodukte.
Wir setzen ein Verbot für Hundefelle und Katzenfelleum. Es gibt keinen Grund, Vergleichbares nicht für Rob-benprodukte zu machen.
Die Bundesregierung kann sich nicht zurücklehnenund zuschauen, wie andere Staaten – beispielhaft dieNiederlande und Belgien – Robben schützen. DurchNichtstun verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit in dereigenen Bevölkerung und auch international. Wer derzeitin diesem Bereich arbeitet und seine E-Mails liest, weiß,wie viel Post wir im Augenblick dazu bekommen. DerZeitraum vom 19. Oktober 2006 bis heute war für einePrüfung lang genug. Wir wollen einen Gesetzentwurf.Wir haben einen Antrag. Wenn es zu keinem Handelnkommt, dann werden wir aus dem Parlament einen ent-sprechenden Gesetzentwurf vorlegen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Freitag, den 15. Februar 2008 15139
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Mechthild Rawert
Ein weiteres Thema – es wurde schon angesprochen –sind die Wale. Für die SPD-Fraktion – Herr Jahr wirdvielleicht gleich für die CDU/CSU-Fraktion noch etwasdazu sagen – wiederhole ich das, was Herr Goldmannsagte: Ja, es ist unsäglich, was weltweit, zurzeit insbe-sondere von Japan, unter dem Schlagwort „Walfang auswissenschaftlichen Gründen“ an Schindluder getriebenwird. Ich weiß, dass die Bundesregierung hier aktiv ist;aber das reicht noch nicht. Es gibt demnächst in Japanein G-8-Treffen. Die Welt weiß, dass das, was derzeitunter dem Stichwort „Wissenschaftlichkeit“ verkauftwird – jetzt bin ich aus Freundschaft gegenüber Japaneinmal sehr nett –, absolut antiquiert ist. Es wäre eineSchande, wenn das, was derzeit als wissenschaftlicherStandard in Bezug auf Wale propagiert wird, tatsächlichder wissenschaftliche Standard in Japan wäre. Ich bittedarum, dem in bilateralen Verhandlungen sehr viel stär-ker nachzugehen.Der Tierschutz-TÜV wurde schon angesprochen und– nicht nur liebevoll – kritisiert. Wir von der SPD-Frak-tion sagen eindeutig: Er ist uns wichtig. Wir fordern dieEinführung des Tierschutz-TÜV. Wir nehmen das Staats-ziel Tierschutz damit ausgesprochen ernst. Ich freuemich, dass heute in erster Lesung der Entwurf einesZweiten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzesberaten wird. Dieser Gesetzentwurf hat den Tierschutz-TÜV zum Gegenstand.Ziel dieses Tierschutz-TÜV ist es, dass serienmäßighergestellte Haltungssysteme und Stalleinrichtungen da-raufhin geprüft werden, ob sie den Bedürfnissen und denVerhaltensweisen der Tiere entsprechen, ob sie somittiergerecht sind. Dies muss natürlich geschehen, bevordie Haltungssysteme und Stalleinrichtungen in den Han-del kommen. Nur durch ein solches obligatorisches Prüf-verfahren können Schmerzen, Leiden und Krankheitenunzähliger Tiere, die durch nicht tiergerechte Haltungs-systeme entstehen, wirksam und endgültig verhindertwerden.Das geplante Prüf- und Zulassungsverfahren soll alsodazu dienen, dass zukünftig nur noch auf Tiergerechtig-keit geprüfte und zugelassene serienmäßig hergestellteStalleinrichtungen in den Verkehr kommen. Ich betoneausdrücklich: Dieses Verfahren dient also auch den Hal-tern von Nutztieren und den Stallbaufirmen. Es bringtRechtssicherheit bezüglich des Einsatzes neuer Hal-tungssysteme. Stallbaufirmen können auf fachkundigeBeratung bei der Weiterentwicklung von Haltungssyste-men bauen. Es liegen schon entsprechende Standards,entwickelt von einem Kreis von Expertinnen und Exper-ten, vor.Auch als Verbraucherschützerin fordere ich den Tier-schutz-TÜV. Das Prüf- und Zulassungsverfahren ent-spricht dem Wunsch vieler Verbraucherinnen und Ver-braucher nach einer tiergerechten Haltung vonNutztieren in der Landwirtschaft. Viele Verbraucherin-nen und Verbraucher achten bei ihrem Einkauf darauf,dass sie gute und hochwertige Produkte kaufen. Sie le-gen damit großen Wert auf die Haltungsbedingungen derjeweiligen Tiere. Durch die serienmäßige Prüfung vonHaltungssystemen und Stalleinrichtungen kann somitauch einer Irreführung von Verbraucherinnen und Ver-brauchern vorgebeugt werden. Der Aspekt „tiergerechteHaltung“ ist letztendlich ein unbestimmter, manchmalauch vager Begriff. Diesen wollen wir hiermit konkreti-sieren. Es muss endlich selbstverständlich werden, dassunsere Nutztiere tiergerecht aufwachsen und gehaltenwerden.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich noch einmalden vielen Tierschützerinnen und Tierschützern inDeutschland danken, die sich dem Staatsziel Tierschutzdurch ihre tagtägliche – häufig ehrenamtliche – Arbeitwidmen. Sie leisten Großartiges für das Zusammenlebenvon Mensch und Tier.
Die SPD ist und bleibt eine Tierschutzpartei.
Von der heutigen Debatte erwarten wir also das baldigsteEinfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte, dieschnelle Einführung eines Tierschutz-TÜV durch dieVerabschiedung dieses Gesetzes und ein noch stärkeresEintreten der Bundesregierung für den Schutz der Wale.Wir wollen der Würde von Tier, Mensch und Umwelttatkräftig gerecht werden.
Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Tierschutzbericht 2007 dokumentiert diebeharrliche Lethargie der Bundesregierung, auch wennStaatssekretär Müller die Würde der Tiere angesprochenhat; Herr Müller, Ihre Rede war ja nett. Aber auch diemeisten Landesregierungen sind da nicht besser; denneiniges, wofür Tierschutzverbände und Öffentlichkeitjahrelang gekämpft haben, wurde im Bundesrat zurück-gedreht.2002 wurde nach langem Gezerre endlich das Käfig-halteverbot für Legehennen beschlossen – mit unserenStimmen. 2006 wurde es wieder aufgehoben – gegen un-sere Stimmen. Der Renner sollen jetzt die sogenanntenausgestalteten Käfige sein. In ihnen darf bald lustig ge-pickt und gescharrt werden. Die glücklichen Hühnerbekommen sogar eine Sitzstange, auf dass sie fleißigEier legen – das Ganze allerdings auf 800 Quadratzenti-metern je Huhn. Das sind ganze 50 Quadratzentimetermehr als bei der konventionellen Käfighaltung. Damitsteht einem Huhn statt des Platzes eines DIN-A4-Blattes
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Eva Bulling-Schröternun der Platz eineinhalb DIN-A4-Blätter zur Verfügung.Ich finde, diese Form der Käfighaltung ist nach wie vorein Skandal.
Diese Käfige erlauben nicht einmal annähernd eine ver-haltensgerechte Unterbringung. Nach wie vor gilt: Siegehören verboten.
Nun liegt ein neuer Gesetzentwurf vor, durch den dieLage der Tiere verbessert werden soll. Die Bundesregie-rung will in das Tierschutzgesetz eine Verordnungser-mächtigung aufnehmen, um mit einer Verordnung ir-gendwann ein Verfahren zur Prüfung und Zulassungserienmäßig hergestellter Stalleinrichtungen zu regeln.Dabei handelt es sich, kurz gesagt, um eine Art TÜV fürHaltungseinrichtungen. Dieser soll gewährleisten, dassNutztiere nur noch in Stallungen gehalten werden, dietierschutzkonform sind bzw. – besser gesagt – dem ent-sprechen, was der Gesetzgeber unter „tierschutzkon-form“ versteht.Die Linke begrüßt natürlich, dass Haltungseinrichtun-gen, die gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen, gar nichterst in den Verkehr kommen; das war längst überfällig.Aber zu Ihrer Information: In der Schweiz wird ein sol-ches Zulassungsverfahren bereits seit 1981 praktiziert.Sie sind ein bisschen spät dran, meine Damen und Her-ren.Wer eine artgerechte und tierfreundliche Nutztierhal-tung will, der muss natürlich an den Kriterien ansetzen.Im Falle der Legehennen wurde das Rad der Geschichtegerade zurückgedreht. Schließlich haben die ausgestalte-ten Minikäfige mit Tierschutz genauso wenig zu tun wieHorst Seehofer – leider ist er heute nicht hier – mit derNürnberger Flocke, selbst wenn die Gatter künftig einSiegel tragen werden.Es geht aber nicht nur um Legehennen. Was wir brau-chen, ist eine tiergerechte Geflügelhaltung, die auchMasthühner umfasst. Im Mai 2007 beschloss der EU-Agrarministerrat eine Richtlinie zum Schutz von Mast-hühnern in Beständen mit mehr als 500 Tieren. Dem-nach dürfen pro Quadratmeter 33 Kilogramm gehaltenwerden. Wenn die Bedingungen besonders exzellentsind, dürfen sich sogar bis zu 42 Kilogramm auf einemQuadratmeter tummeln. Doch bereits ab 25 Kilogrammpro Quadratmeter lassen sich Verhaltensauffälligkeitenund körperliche Schäden an Fußballen und Gelenkenvon Masthühnern nachweisen. Herr Seehofer lobte dieseKatastrophe als großen Erfolg für die tiergerechte Mast-huhnhaltung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst kürzlich hat dieKoalition dem Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierungund Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichenGenehmigungsverfahren zugestimmt. Der Vorwand da-für war unter anderem der Bürokratieabbau. In Wirklich-keit ging es jedoch um den Abbau von Bürgerbeteili-gung und Umweltstandards. Zudem ist dieses Gesetz einVerrat am Tierschutz. So wurde die Höhe der Immis-sionswerte, ab der Umweltverträglichkeitsprüfungenstattzufinden haben, teilweise mehr als verdoppelt. Jetztkönnen großindustrielle Mastanlagen, zum Beispiel fürSchweine, viel einfacher gebaut werden als früher. Auchder Ablauf des Genehmigungsverfahrens wurde verän-dert. Erörterungstermine, eine wichtige Einrichtung zurBeteiligung der Öffentlichkeit an bestimmten Bauvorha-ben, können stattfinden oder nicht; sie müssen nichtstattfinden. Das liegt ganz im Ermessen der Genehmi-gungsbehörde und der Investoren, die sich natürlich dieHände reiben; das ist klar.Jetzt zum Tierschutzbericht 2007. Liebe Kolleginnenund Kollegen, die Zahl der Tierversuche in Deutschlandnimmt nicht ab, sondern, wie wir gehört haben, weiterzu. Insbesondere der Bereich der biotechnologischenForschung ist für die Zunahme der Zahl der Tierversu-che verantwortlich. Bis ein transgenes Tiermodell – ichfinde übrigens, das Wort „Tiermodell“ sollte zum Un-wort des Jahres gewählt werden – forschungsreif eta-bliert ist, stellen 99 Prozent der bis dahin verwendetenTiere sogenannten Ausschuss dar. Ich wiederhole:99 Prozent. Diese Tiere erscheinen übrigens nicht in derTierversuchsstatistik. Einer Studie zufolge lassen sichTierversuchsergebnisse nicht einmal in 1 Prozent derFälle auf den Menschen übertragen. Ein armseliges Er-gebnis für den hochgepriesenen medizinischen Nutzen!Ein Armutszeugnis für das Staatsziel Tierschutz! Ichmeine, hier muss sich schleunigst etwas ändern.Ich fordere die Bundesregierung auf, sich für ein so-fortiges Ende von versteckten Tierversuchen für Kosme-tikartikel, fragwürdigen Chemikalientests und Versu-chen an Affen einzusetzen.
Wir alle wissen, dass mit Versuchen an Primaten auchder Handel mit wild gefangenen Arten verbunden ist.Das darf nicht länger geduldet werden. Schließlich wer-den in Europa jährlich 10 000 Affen für Giftigkeitstestsund Hirnversuche „verbraucht“; allein hierzulande sindes 2 000.Stellen Sie sich also nicht länger quer, auch nicht,wenn es darum geht, ein Verbandsklagerecht für Tier-schutzverbände einzuführen! Werden Sie aktiv! LassenSie dem Staatsziel Tierschutz endlich Taten folgen! DerTierschutzbericht darf auch nicht nur alle vier Jahre er-scheinen. Meine Kollegen von der Opposition haben esbereits gesagt: Wir müssen zurück zu einem Abstandvon höchstens zwei Jahren. Oder wollen Sie dem Philo-sophen Max Horkheimer recht geben? Er hat schon 1934über die Tiere geschrieben, sie seien die unterdrücktes-ten aller Klassen im Kapitalismus.
Jetzt hat Cornelia Behm das Wort für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Staatssekretär Müller hat für die Tieregesprochen oder wollte es zumindest tun. Schöne Worte;aber die Praxis sieht anders aus. Denn lässt man Revuepassieren, wie es unter Schwarz-Rot um den Tierschutzsteht, muss man leider feststellen, dass es kaum Fort-schritte gibt, dafür aber massive Rückschritte.Insbesondere im Bereich der industriellen und land-wirtschaftlichen Haltung von Tieren besteht deutlicherVerbesserungsbedarf. Die Zahl der tierschutzwidrigenHaltungsformen ist entgegen vieler schöner Worte undBeschwichtigungen erheblich. Beispielsweise werdenKaninchen in Käfigen unter Bedingungen gehalten, dievon der Bevölkerung zu Recht als abstoßend empfundenwerden. Meist stehen den Tieren nicht einmal Ruhebe-reiche zur Verfügung, und das, obwohl das Bundesver-fassungsgericht bereits 1999 in seinem Legehennenurteildem artgemäßen, ungestörten Ruhen aller Tiere – nichtnur der Legehennen – besonderes Gewicht verliehen hat.Legehennen werden weiterhin in Käfigen gehalten.Zwar hat die rot-grüne Bundesregierung in Folge des Le-gehennenurteils die Abschaffung dieser Haltungsformzum 31. Dezember 2006 beschlossen. Durch die ZweiteVerordnung zur Änderung der Geflügel-Aufstallungs-verordnung zugunsten der Einführung neuer, geringfü-gig vergrößerter Käfige hat diese Regierung den tier-schutzrechtlichen Fortschritt jedoch wieder aufgehoben.Da nützt es auch nichts, dass diese Käfige in Kleinvolie-ren umbenannt wurden. Legehennen brauchen keineWortakrobatik, sie brauchen anständige, artgerechte Le-bensbedingungen.
Mastschweine und Ferkel werden weiterhin in ein-streulosen Ställen auf Vollspaltenböden gehalten, sindgezwungen, ständig die durch die Spalten dringendenAusdünstungen des eigenen und des fremden Kots ein-zuatmen, weshalb sie in großer Zahl unter Husten undLungenschäden leiden. Muttersauen werden unter er-bärmlichen Bedingungen eingepfercht. Auch Kälber undMastrinder werden vielfach auf Vollspaltenböden ohneLiegebereiche mit Einstreu und ohne ausreichenden Be-wegungsraum gehalten.Wenn wir als Gesellschaft dem Anspruch des imGrundgesetz verankerten Staatsziels Tierschutz gerechtwerden wollen und wenn sich die Politik von dem Vor-wurf befreien will, nur dann aktiv zu werden, wenn esum Wählerstimmen geht, dann muss hier gehandelt wer-den.Deshalb müssen umfassend tiergerechte Haltungssys-teme eingeführt werden, und wir brauchen anspruchs-volle Prüf- und Zulassungsverfahren für serienmäßigeHaltungssysteme und Zubehöre.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Regelungs-vorschlag ist hier aber völlig unzureichend. So ist in ihmentgegen früheren Zusagen von Minister Seehofer keineBeteiligung der Tierschutzverbände vorgesehen. DiePrüfung soll – ich zitiere – auf juristische Personen desprivaten Rechts übertragen werden. Derartig unspezi-fisch formuliert eröffnet dies auch die Möglichkeit, dassNutzerorganisationen damit betraut werden. Ich hoffe,dass das nicht ernsthaft Ihr Ansinnen ist.Warum fehlt ein Verbot nicht zugelassener Haltungs-einrichtungen? Warum wird der Verkauf ungeprüfterEinrichtungen nicht untersagt? Es finden sich in IhremVorschlag viele Halbherzigkeiten – zu viele.Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Schlachttier-transporte gilt zwar die am 5. Januar 2007 in Kraft getre-tene EU-Verordnung vom Dezember 2004, mit der dieAusfuhrerstattungen für Schlachtrinder aus der EU abge-schafft worden sind, aber das reicht nicht. Diese Verord-nung steht etwaigen strengeren einzelstaatlichen Maß-nahmen, mit denen ein besserer Tierschutz für dietransportierten Tiere bezweckt wird, überhaupt nicht ent-gegen. Solange es um Tiere geht, die ausschließlich imHoheitsgebiet eines Mitgliedstaates oder vom Hoheits-gebiet eines Mitgliedstaates aus auf dem Seeweg beför-dert werden – in diesem Falle von Deutschland aus –, istder Minister sehr wohl in der Lage – das können Sie ihmvon hier mitnehmen, Herr Staatssekretär –, zu handeln.Tun sie es endlich!Es ist unerlässlich, durch eine Änderung des Tier-schutzgesetzes Schlachttiertransporte zeitlich so zu be-grenzen, dass die Tiere nur bis zur einer nahe gelegenenSchlachtstätte, in keinem Fall aber länger als insgesamtvier Stunden transportiert werden. Das ist zwar nochkeine Lösung des drängenden Problems der internationa-len Schlachttiertransporte, für die ebenfalls unbedingteine nicht verlängerbare Beförderungshöchstdauer vonmaximal zweimal vier Stunden eingeführt werden sollte,aber das wäre ein erster richtiger Schritt.Die Bundesrepublik Deutschland kann ihr Ziel, einesolche Transportzeitbegrenzung EU-weit durchzusetzen,aber nur dann glaubwürdig verfolgen, wenn sie auf na-tionaler Ebene von den entsprechenden BerechtigungenGebrauch macht und damit ein positives Beispiel gibt.Ich erinnere an die Robben. Dort gibt es genau die glei-che Situation. Aus den Nationalstaaten müssen positiveAnregungen in Richtung der EU gegeben werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bündnis 90/DieGrünen steht – das ist wohl allgemein bekannt – für einekontinuierliche Verbesserung des Verbraucherschutzes.Aber es gibt keinen umfassenden Verbraucherschutzohne eine artgerechte Haltung und ohne Respekt vor denTieren.
Die Verbraucher wollen keine Schweine aus Mastfabri-ken, keine Eier aus Legebatterien und kein Fleisch vonmit Genmais gefütterten Rindern. Wir müssen aber auchdas Bewusstsein dafür schärfen, dass gesunde und artge-recht erzeugte Produkte ihren Preis haben und auch wertsind.
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Cornelia BehmSarah Wiener hat kürzlich die Frage gestellt:Wie kann denn ein Huhn 3,50 Euro kosten, so viel,wie eine halbe Stunde Parkplatz in Berlin-Mitte?Was sind das für Relationen? Wenn ein Tier nichtswert ist, wird es auch so behandelt.Schmackhafte und gesunde Lebensmittel haben ihrenWert und ihren Preis. „Geiz ist geil“ war gestern,„Klasse statt Masse“ ist Zukunft.
Jetzt hat der Kollege Dr. Peter Jahr das Wort für die
Fraktion CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, Kollege Goldmann ist gerade verzweifelt dabei,seine Katze vom Fernseher wegzubekommen.
Ich habe auch eine Katze und will ihr auch einen Hin-weis geben: Wenn du jetzt vor dem Fernseher sitzt, dannscher dich weg und mach das, wozu wir dich gekauft ha-ben, nämlich in der Natur Mäuse zu fangen.
Bevor ich dann zum Thema komme, habe ich nocheine Richtigstellung an den Kollegen Goldmann: Ichweiß, dass die Opposition manchmal davon lebt, von imAusschuss erstatteten Berichten nur den ersten Teil wie-derzugeben und den zweiten Teil gern zu vergessen.Hinsichtlich des Impfstoffes zur Blauzungenkrankheithat Minister Seehofer eindeutig gesagt, sobald es einenpraxistauglichen Impfstoff gebe, werde er dessen Zulas-sung mit einer Eilverordnung genehmigen, sodass es ausdieser Warte überhaupt keinen Zeitverzug gibt. Wirbrauchen natürlich erst einmal einen praxistauglichenImpfstoff, bevor wir ihn einsetzen können. Es ist redlichund richtig, dass man, wenn man den ersten Teil einesBerichtes zitiert, dann auch noch das Ende vorliest. Soviel Zeit muss ganz einfach sein.
Uns liegt bereits der zehnte Tierschutzbericht der Re-gierung vor; er muss entsprechend dem Tierschutzgesetzalle zwei Jahre vorgelegt werden. Er umfasst diesmalden Zeitraum 2005/2006. Die Bundesregierung stellt be-reits in der Einleitung fest:In diesem Zeitraum konnten in konsequenter Um-setzung des Verfassungsauftrages spürbare Fort-schritte für den Tierschutz erzielt werden.Das ist eine bemerkenswert optimistische Einschätzung,die ich jedoch ausdrücklich teile.Die gute Arbeit im Verbraucherschutzausschuss desDeutschen Bundestages und die erfreuliche, konstruk-tive Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegenuntereinander haben erfreuliche Ergebnisse erzielt. Tier-schutz ist in unserer Gesellschaft und für die verantwort-lichen Volksvertreter gegenwärtig eine echte Herausfor-derung zum Handeln, weit über die netten Bilder vonKnut und Flocke hinaus.Ich führe gern einige Beispiele unserer erfolgreichenArbeit an: Mit dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zur Sicherstellung des Schutzes derWale setzten wir uns nachträglich für einen umfassendenglobalen Schutz der Walbestände ein. Das ist schon er-wähnt worden, aber ich halte es für sehr wichtig.
Jeglicher kommerzielle Walfang wurde in diesem An-trag abgelehnt. Aber auch der wissenschaftliche Wal-fang, den sich einige Länder noch erlauben, ist nur eineandere Bezeichnung für eine tödliche Jagd, die dazu bei-trägt, den Bestand weiter zu dezimieren.
Ich erinnere auch an die Robben; wir haben im Aus-schuss und auch mit der Bundesregierung sehr lange umeine entsprechende Formulierung gerungen. Die Not-wendigkeit, hier etwas zu unternehmen, ist begründetworden, und wir haben uns dafür eingesetzt, dass dentierquälerischen Grausamkeiten durch ein striktes Ein-fuhr- und Handelsverbot zu begegnen ist. Eine europäi-sche Lösung und damit die Bündelung vorhandener na-tionaler Gesetze wäre sicherlich die bessere Alternativegewesen, aber solange dieses EU-weite Einfuhrverbotnicht zustande kommt, ist die Unterbindung des Inver-kehrbringens von Robbenprodukten in Deutschland diebeste Chance, der jährlichen massenhaften Robbentö-tung ein Ende zu setzen.
Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass das Bun-deskabinett in dieser Woche ein entsprechendes Vorha-ben auf den Weg gebracht hat. Wir werden es im Aus-schuss noch bekommen und uns dann gemeinsamdarüber freuen.Ein weiterer Fortschritt aus tierschutzpolitischer Sichtist die Erfassung mobiler Tierschauen und Zirkusbe-triebe mit Tierhaltung in einem entsprechenden Register.Dieses Zirkuszentralregister wurde vor allem aufgrundnicht immer zufriedenstellender Haltungsbedingungenvon Zirkustieren gefordert. Ich halte diesen Ansatz fürweitaus wirkungsvoller, als das Halten von verschiede-nen Tieren im Zirkus zu verbieten.Ein weiteres positives Beispiel, bei dem eine europäi-sche Lösung möglich war, ist das europaweite Einfuhr-verbot von Hunde- und Katzenfellen. Unter deutscherRatspräsidentschaft konnte dieses Vorhaben erfolgreichabgeschlossen werden. Diese Verordnung tritt am 31. De-zember 2008 in Kraft.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, derTierschutzbericht zeigt jedoch auch neue Handlungsfel-
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Dr. Peter Jahrder auf. Angesichts der hohen Zahl der getöteten Ver-suchstiere – von allen Rednern bisher kritisiert – müssenwir endlich zu wirksamen nationalen und europäischenLösungen kommen. Leider ist im Jahr 2000 die Anzahlder insgesamt für Versuche und andere wissenschaftlicheZwecke verwendeten Tiere auf unvorstellbare 2,5 Mil-lionen Tiere gestiegen. Das war im Vergleich zu 2004 einAnstieg um 6,5 Prozent. Das ist zu viel. Um das erklärteZiel zu erreichen, die Tierversuche auf das absolut not-wendige Maß zu verringern, gilt es, weiterhin verstärktmögliche Alternativmethoden zu fördern. Erfreulich ist– Staatssekretär Müller hat es schon erwähnt –, dassDeutschland mit zwei Förderprogrammen zur Entwick-lung von Alternativmethoden zu Tierversuchen den weit-aus größten Beitrag aller EU-Mitgliedstaaten leistet.
Auch müssen Wiederholungsversuche eingeschränktwerden. Wie bereits festgestellt wurde – auch ich bindieser Meinung –, ist die europäische Chemikalienver-ordnung REACH hierbei ein schlechtes Beispiel, weilder Schadensnachweis von sogenannten Altchemikalienoft mittels Tierversuchen erbracht wird.
Die bisherigen Ausnahmeregelungen des betäubungs-losen Tötens von Schlachttieren – gemeinhin als Schäch-ten bezeichnet – sind aus tierschutzpolitischer Sicht einweiteres Ärgernis.
Ich werbe an dieser Stelle ausdrücklich für eine Ände-rung des Tierschutzgesetzes. Ich bin mir sicher, dass imparlamentarischen Verfahren für alle Beteiligten und da-von Betroffenen ein praxistauglicher Kompromiss er-reichbar ist. Ich persönlich bin fest davon überzeugt,dass auch ein Schächtverfahren inklusive vorheriger Be-täubung zulässig sein kann. In dieser konkreten Debattewünsche ich mir mehr Sachlichkeit und weniger Ideolo-gie im Interesse der Tiere.
Bevor ich schließe, möchte ich auf einen weiterenpositiven Mosaikstein des Tierschutzes, nämlich denvorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung zurÄnderung des Tierschutzgesetzes – den sogenanntenTierschutz-TÜV –, eingehen. Neben dem Grundgesetzlegt § 2 des Tierschutzgesetzes fest, dass derjenige, derein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, sicherstellenmuss, dass das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissenentsprechend angemessen ernährt, gepflegt und verhal-tensgerecht untergebracht wird. Um es vorwegzuneh-men: Die meisten Landwirte in Deutschland werden die-sem Anspruch gerecht.Der Gesetzentwurf sieht ein obligatorisches Prüf- undZulassungsverfahren für serienmäßig hergestellte Stall-einrichtungen für Nutztiere vor, das für das Inverkehr-bringen und den Einbau solcher Einrichtungen Voraus-setzung sein soll. Das Verfahren soll dazu dienen, dasszukünftig nur serienmäßig hergestellte Stalleinrichtun-gen zugelassen werden, die auf Tiergerechtheit geprüftwurden.
Der vorliegende Gesetzentwurf unterstützt insbeson-dere unsere Landwirte. Wenn jemand seine Stalleinrich-tungen modernisieren und den wissenschaftlich-techni-schen Fortschritt nutzen möchte, dann muss er sich beimKauf dieser Anlage von einem namhaften Herstellerauch sicher sein, dass die Stalleinrichtung nicht nur tech-nisch, sondern auch im Sinne des Tierschutzes auf demneuesten Stand ist.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger will der vorliegendeGesetzentwurf erreichen. Wir werden in den Ausschuss-beratungen dafür sorgen, dass aus diesem Anspruch keinbürokratisches Monster, sondern ein tierartengerechtesGesetz wird.Tierschutz ist und bleibt eine echte tagtägliche He-rausforderung. Ich wünsche uns das Herz und den Ver-stand, gute Ideen und reichlich Mut, weiter zum Wohleunserer Tiere zu arbeiten.Danke schön.
Der Kollege Wilhelm Priesmeier hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dieheutige Debatte ist im Sinne aller und des Tierschutzesrecht zufriedenstellend verlaufen. Es ist in der Tat zu be-klagen, dass die Zahl der Tierversuche gestiegen ist. Esist zu überlegen, welche Maßnahmen dagegen unter-nommen werden können. Es gibt durchaus einige Mög-lichkeiten, und wir geben uns dabei große Mühe.Seit Beginn der schwarz-roten Koalition haben wir4 Millionen Euro für die Entwicklung von Alternativenzu Tierversuchen in den Haushalt eingestellt. Dies kannsich europaweit sehen lassen; das gibt es in keinem an-deren europäischen Mitgliedstaat. Unter Rot-Grün ist esuns nicht gelungen, diesen Ansatz aufzustocken.Die Aufstockung der Mittel in diesem Bereich zeigtbereits eine positive Wirkung. Es ist eine Reihe von Ver-fahren in Zusammenarbeit mit der ZEBET entwickeltworden, die mittlerweile auch von ECVAM anerkanntworden sind und deren Validierung bei der OECD voran-getrieben wird. Das wird eine wesentliche Vorausset-zung sein, um gerade im Hinblick auf die REACH-Pro-blematik die Zahl der Versuchstiere zu begrenzen.Dazu gehört aber auch – das ist als eine Replik auf dasgestern diskutierte Thema zu verstehen – die Forschungan humanen Stammzellen. Gerade in diesem Bereich er-
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Dr. Wilhelm Priesmeiergeben sich interessante Möglichkeiten, in In-vitro-Versu-chen die Toxikologie von verschiedenen chemischenSubstanzen und Verbindungen, denen wir tagtäglich aus-gesetzt sind, zu bewerten und Risiken auszuschließen.Das sind weitere Verfahren, die man einsetzen kann, umdie Zahl der Tierversuche drastisch zu reduzieren. Dasgilt auch für die Zulassung von Arzneimitteln. Auf denLD-50-Test, mit dem der Zusammenhang zwischen Do-sis und Mortalität bestimmt wird, kann man in vielenBereichen verzichten. Wir müssen uns aber Gedankendarüber machen, inwieweit die Vorgaben für die Zulas-sungsverfahren von Arzneimitteln in bestimmten Sub-stanzklassen verändert werden können. Hier lässt sich imDetail sicherlich noch einiges verbessern.Man sollte zudem hinterfragen, ob viele Tierversuchetatsächlich zweckdienlich sind. Es ist sicherlich sinnvoll,bei ethisch umstrittenen Versuchen zu verlangen, in derBewertung nachvollziehbar darzulegen, ob der Ver-suchszweck überhaupt erreicht wurde. Das bewahrt an-dere gegebenenfalls davor, den gleichen Versuchsansatzzu wählen. Das Spannungsfeld zwischen der Freiheitvon Forschung und Lehre einerseits und dem StaatszielTierschutz und dem Anspruch, den Einsatz von Ver-suchstieren zu minimieren, andererseits muss nach mei-ner Einschätzung ständig neu überdacht werden. UnterUmständen sind andere gesetzliche Regelungen notwen-dig. Ein Instrument – das wurde bereits angesprochen –kann in begrenztem Umfang die Verbandsklage sein.
Wir Sozialdemokraten sind dafür offen,
insbesondere wenn es um die Ausgestaltung geht. Daskann sicherlich nicht darauf hinauslaufen, dass man da-mit eine Verhinderungspolitik betreibt und versucht, dieBestimmungen zur Genehmigung von Tierhaltungsanla-gen konsequent zu unterlaufen. Das ist sicherlich nichtdie Zweckbestimmung solcher Rechtsinstrumente; denndieses Instrument soll jemandem die Klage ermöglichen,der rechtlich an sich nicht betroffen ist. Aber ich möchteden Dialog mit den Verbänden darüber führen, obwohldieses Vorhaben in dieser Koalition vielleicht nichtgleich umgesetzt werden kann. Man kann zumindest da-für werben und das zum politischen Ziel machen.
Bei der Ausgestaltung muss man sich den Modalitätenund Bedingungen anpassen. Aber ich glaube, dass dieVerbände recht offen sind.Man könnte zudem die Rechtsposition der Tierschutz-beauftragten in den Unternehmen verbessern, die einegroße und intensive Nutztierhaltung betreiben. Dortmüssen die Verantwortlichkeiten deutlich geregelt wer-den, um die Voraussetzungen für eine präzise Einhaltungder durch Haltungsverordnungen vorgegebenen Bedin-gungen zu schaffen. Die Kommission, die im Sommerdie Einhaltung der Tierschutzstandards in den Bundes-ländern überprüft hat, hat eine ganze Reihe von Proble-men festgestellt, zum Beispiel in Niedersachsen und inMecklenburg-Vorpommern. Das hängt also nicht davonab, wer in den jeweiligen Bundesländern regiert, sondernvon bestimmten Vorbedingungen und eventuell von derKontrollfrequenz. Die Einhaltung der Standards istwichtig. Es reicht nicht aus, ein paar Millionen Euro indie Forschung zu investieren. Dazu müssen wir einenentsprechenden Forschungscluster schaffen. Das ist mitCelle und Umgebung – sprich: Tierärztliche Hochschuleund andere Beteiligte – angedacht. Das ist wichtig imHinblick auf die finanziellen Möglichkeiten.Wenn man sich den Siebten Forschungsrahmenplander EU anschaut, dann erkennt man, dass Tierschutzfor-schung ein Schwerpunkt ist. Dies müssen wir nutzen, umin diesem Zusammenhang wissenschaftlich begründbareStandards zu erforschen, anhand deren wir Haltungssys-teme bewerten können. Da liegt vieles im Argen. Damüssen wir noch viel Arbeit leisten. Wir haben uns bis-lang immer auf die Hennenhaltung, hauptsächlich Lege-hennenhaltung, konzentriert. Das ist der erste Ansatz,weil er in der Gesellschaft am heftigsten diskutiert wor-den ist. Wir müssen aber auch alle anderen Bereiche ein-beziehen. Dazu bietet das Gesetz zur Änderung des Tier-schutzgesetzes ausreichend Möglichkeiten. Die beidenVerordnungsgrundlagen, die dort enthalten sind, bietenauch Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf das zuwählende Verfahren.Ich appelliere von hier aus an die Bundesländer – dasist zwischenzeitlich auch bei der Beratung dieses Ent-wurfes vom Bundesrat signalisiert worden –, dass keineKamingespräche der Agrarminister der deutschen Län-der stattfinden und ein Konsens darüber hergestellt wird,was später im Rahmen einer Verordnung umgesetzt wirdund was nicht. Das wäre unfair; denn die Rechtsetzungs-kompetenz für den Tierschutz liegt beim Bund. Das soll-ten auch die Länder wissen. Das ist auch nach der Föde-ralismusreform so. Dieses Feld eignet sich nicht dazu,über die Bande zu spielen. Ich hoffe auf die tatkräftigeUnterstützung des Koalitionspartners, wenn es darumgeht, die B-Länder in bestimmten Punkten zu überzeu-gen. Es wird nicht nach dem Motto funktionieren: Ma-chen wir das Gesetz, aber die Verordnung lassen wir vordie Wand fahren. – Das kann nicht die Gesetzeswirklich-keit sein. Dann können wir uns dieses Gesetz sparen.Oder wir gehen einen anderen Weg und schreiben diegesamten Vorgaben, die man benötigt, in das Gesetz sel-ber. Dann haben wir eine ganz andere Position. Das sinddie beiden Alternativen.In diesem Zusammenhang erwarte ich ein klares Si-gnal seitens der Länder, wie sie denn gedenken, in die-sem Punkt weiter zu verfahren, damit etwas Struktur undErnsthaftigkeit in die Diskussion zurückkehrt. Diesekann man in vielen Bereichen nicht unbedingt vorausset-zen. Ich als jemand, der Bundespolitik gestaltet, bin je-denfalls nicht bereit, so mit mir umgehen zu lassen. Daswiderspricht auch meinem Selbstverständnis als Bundes-tagsabgeordneter. Ich lasse mich da von den Ländernnicht an der Nase ziehen.
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Dr. Wilhelm PriesmeierIn dem Zusammenhang kann ich auch keinen Konfliktinnerhalb der Koalition erkennen, der von vielen Journa-listen konstruiert worden ist. Ich glaube, wir sind auf ei-nem vernünftigen und zielführenden Weg.Das Käfigverbot auf europäischer Ebene bleibt erhal-ten. Danke schön für die klare Position der Bundesregie-rung. Ich kann die jetzige Regelung, die Verlässlichkeitbietet, nur unterstützen. Über die Frage von Systemenkann man sich natürlich streiten. Aber ich finde, dassdas, was wir mit der Hennenhaltungsverordnung inGang gesetzt haben, ein gelungener Kompromiss ist. Zudiesem bekennen wir uns. Aus diesem Grunde fordernwir auch die andere Seite dieses Kompromisses ein. Dieandere Seite dieses Kompromisses lautet: Ab 2012 wer-den nur noch geprüfte Systeme in den Verkehr gebracht,und ab 2020 gibt es keine Systeme mehr, die ungeprüftsind. Das ist die Grundlage. Darauf beziehe ich michhier. Das fordern wir ein. Wenn wir das gemeinsam hierumsetzen, dann kann dieser Tag der Einbringung desGesetzentwurfes ein guter Tag für den deutschen Tier-schutz werden.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen
16/5044 und 16/7413 an die Ausschüsse zu überweisen,
die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit sind
Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff , Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bevölkerungsschutzsystem reformieren – Zu-
ständigkeiten klar regeln
– Drucksache 16/7520 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hierzu sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff
, Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn
zu Protokoll gegeben worden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7520 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
1) Anlage 3
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Men-
schen mit geringem Einkommen
– Drucksachen 16/5247, 16/7171 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl Schiewerling
Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Gabriele Hiller-Ohm das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem heute vorgelegten Antrag „Rechtsanspruch aufMieterberatung für Menschen mit geringem Einkom-men“ greift die Linksfraktion ein Thema auf, das wederin unsere bundespolitische Zuständigkeit fällt noch denMenschen vor Ort weiterhilft.„Jede Leistung ist besser als keine Leistung“, das,liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, istdas Motto Ihrer Sozialpolitik.
Warum sollte also nicht jeder, der Arbeitslosengeld II,Sozialhilfe oder Wohngeld bezieht, auch noch eine Mie-terberatung auf Kosten der Steuerzahler obendrauferhalten? Ganz egal, ob das sinnvoll ist oder nicht. Siesind sich dabei auch nicht zu schade, gegen besseresWissen Geld zu verteilen, das Sie überhaupt nicht haben,und großzügig andere Ebenen auf Kosten des Bundes-haushaltes zu entlasten. Wir lehnen den Antrag ab.Kosten der Unterkunft, also Miete und Heizung derBezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe, sindSache der Kommunen. Die Träger der Grundsicherungvor Ort – das sind Sozialämter und Argen – müssen des-halb ebenso wie die Mieter daran interessiert sein, dasses keine unberechtigten Erhöhungen gibt. Sie sind damitauch Ansprechpartner der Grundsicherungsempfänger,wenn der Protest beim Vermieter erfolglos war. Sie kön-nen dann selber aktiv werden oder Rechtsberatung vonaußerhalb einholen.Selbstverständlich sind die Kommunen verpflichtet,gewissenhaft mit Steuergeldern umzugehen und überzo-genen Forderungen von Vermietern energisch entgegen-zutreten. Warum also sollten wir Sozialämter und Argenaus ihrer Verantwortung und Zuständigkeit entlassen?
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Gabriele Hiller-OhmDafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es über-haupt keinen Grund.Die Linksfraktion begründet ihre Antragsinitiativemit einer deutlichen Einsparung bei den Trägern. Dies istjedoch mehr als fragwürdig, eigentlich geradezu absurd.Millionen von Menschen sollen einen Rechtsanspruchauf kostenlose und unabhängige Mieterberatung erhal-ten, so lautet die Forderung der Linksfraktion. Es gibt7 Millionen Menschen in 3,6 Millionen Bedarfsgemein-schaften allein im SGB II. Hinzu kommen über 2 Mil-lionen Sozialhilfe- und Wohngeldempfänger. Millionenvon Menschen sollen also in Mietervereinen angemeldetwerden, und die Beiträge dafür sollen vom Staat über-nommen werden. Die Mietervereine werden sich freuen.Wo aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollen hierEinsparungen sein? Ich sehe keine. Im Gegenteil: DieKosten stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu demNutzen. Den Menschen weismachen zu wollen, mit derÜbernahme des Mieterschutzes für alle Leistungsemp-fänger würden Kosten gesenkt, grenzt ja geradezu anVolksverdummung.Gerade bei der Mieterberatung haben wir insgesamtgesehen ganz gute Strukturen, von denen auch Men-schen mit kleinen Einkommen profitieren, die nicht imALG-II- oder Sozialhilfebezug sind. Für sie könnte einMietstreit tatsächlich zu einer großen Belastung werden.Aber natürlich lassen wir diese Menschen nicht im Re-gen stehen. So gibt es im Rahmen der Beratungshilfe für10 Euro eine fast kostenlose Mietrechtsberatung, diedurch örtliche Rechtsanwälte durchgeführt wird.
Auch die Wohlfahrtsverbände stellen eine umfas-sende Beratungsstruktur zur Verfügung.Wenn wir uns die Kosten der Unterkunft anschauen,wird deutlich, dass die Mieterberatung und der Mieter-schutz keine Probleme sind. Viel spannender ist hinge-gen die Frage der Bemessung der Kosten der Unterkunft.Hier gibt es abhängig vom jeweiligen Träger und Ortganz unterschiedliche Berechnungsverfahren und damitauch individuelle Ungerechtigkeiten. Darauf hat derBundesrechnungshof in seiner letzten Unterrichtung desBundestages hingewiesen. Durch die willkürliche Be-messung der Kosten der Unterkunft entstehe die Situa-tion, so der Rechnungshof, dass einem Teil der Hilfe-empfänger übermäßig hohe Kosten erstattet würden,während anderen zu schnell und zu drastisch die Leis-tungen gekürzt würden.Leider gibt es Fälle, in denen zum Beispiel bei Miet-erhöhungen aufstockende Zahlungen verweigert werden,ohne dass die Konsequenzen im Einzelfall geklärt wür-den. Hierzu heißt es im Bericht des Rechnungshofes:Teilweise überschritten die vom Hilfeempfängerselbst zu zahlenden Beträge sogar die ausgezahlteRegelleistung. Diese Verfahrensweisen … laufeneinem umfassenden Fallmanagement, das auch diepersönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse derHilfebedürftigen einbezieht, zuwider.
Inzwischen hat das Bundessozialgericht zu dieserProblematik geurteilt und dabei allgemeinverbindlicheMaßstäbe für die Bemessung der Kosten der Unterkunftfestgelegt. Jetzt kommt es darauf an, dass alle Länderund Kommunen diese Maßstäbe vor Ort anwenden undso zu einer gerechteren Berechnung der Kosten der Un-terkunft beitragen.Die Linksfraktion spricht in ihrem Antrag auch denKreis der wohngeldberechtigten Personen an. Im Hin-blick auf Mieterberatung hatte ich bereits erwähnt, dasshier das Instrument der Beratungshilfe greift. Für dieseMenschen ist aber viel wichtiger, dass es in Kürze eineAnpassung des Wohngeldes geben soll. Die SPD-Bun-destagsfraktion und sozialdemokratische Bundesminis-ter haben sich in den vergangenen Tagen öffentlich dafüreingesetzt. Profitieren werden von diesem Schritt Men-schen mit geringen Einkommen, die trotz Arbeit nurknapp über der Armutsgrenze liegen. Besonders sindhier Familien mit Kindern betroffen. Auch Menschenmit kleinen Renten wird durch die Wohngelderhöhungder Gang in die Sozialhilfe erspart.Wir wollen das Wohngeld deutlich erhöhen und damitMietsteigerungen seit der letzten Anpassung 2001 nach-vollziehen. Ganz wichtig ist aber auch, dass wir auf diekontinuierlich angestiegenen Energiekosten reagieren,und das machen wir mit unserem Vorschlag.
Mit der Anhebung des Wohngeldes setzen wir ein kla-res Zeichen: Wir lassen bedürftige Menschen mit stei-genden Wohnkosten nicht alleine. Im Gegensatz zurLinksfraktion packen wir da an, wo tatsächlich Hand-lungsbedarf besteht und wo wir als Bund nach der Ver-fassung auch die Zuständigkeit haben.
Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Hiller-Ohm, es ist eine Katastrophe. Mit großerSelbstsicherheit tragen Sie hier etwas als Erfolg Ihrer ei-genen Politik vor. Mit dem, wie das im Leben derjenigenaussieht, die das auszubaden haben, ist das überhauptnicht in Übereinstimmung zu bringen.Nach Angaben des Deutschen Mieterbundes zahlenMieterinnen und Mieter in der Bundesrepublik im Jahrcirca 250 Millionen Euro mehr Miete, als nach der recht-lichen Grundlage möglich wäre.
Dieses Zuviel an Miete geht in die Kassen der Vermieter,insbesondere der privaten Vermieter, aber sicherlich
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Heidrun Bluhmauch in die der kommunalen Vermieter. Hier wird Steu-ergeld, das Familien in Form von Transferleistungen er-halten, weil sie von der eigenen Arbeit, vom eigenenEinkommen nicht leben können, letztlich also nur in diePrivatwirtschaft hinein durchgeleitet.Ein Drittel der Betriebskostenabrechnungen, die jähr-lich zu erstellen sind, sind, wie der Mieterbund feststellt,falsch, überhöht, nicht nachprüfbar oder Ähnliches.Auch hier werden also Steuergelder über falsche Be-triebskostenabrechnungen in die Hände der Privaten, diesolche Abrechnungen erstellen, durchgeleitet.Sie, Frau Hiller-Ohm, sagen, der Bund sei nicht zu-ständig. Selbstverständlich ist der Bund zuständig. Mankann nicht die Hartz-IV-Gesetze verabschieden, darindie Verantwortung für diese Aufgabe den Kommunenzuweisen und dann hier sagen, man mische sich in dieAngelegenheiten der Kommunen ein.
Es ist einfach nur arrogant, wenn man jetzt die Kommu-nen mit ihren Belastungen alleine lässt. Schon Ende letz-ten Jahres konnten wir im Rahmen der Haushaltsbera-tungen sehr wohl sehen, wie sich der Bund immer weiteraus der Finanzierung der Unterkunftskosten zurückzie-hen will.
Sie sprechen von 10 Euro für Mietrechtsberatung fürWohngeldempfänger. Wohngeldempfänger bekommendeshalb Wohngeld, weil sie mit ihrem eigenen Geld dieMiete nicht bezahlen können. Aber sie sollen die10 Euro für die entsprechende Beratung ausgeben.
Das ist doch lächerlich. Es wäre doch ganz einfach mög-lich, in der von Ihnen angekündigten Wohngeldnovelleentsprechende Regelungen vorzusehen. Diese Novellewird sich die Regierung übrigens auch nicht als Erfolganrechnen lassen können. Der erste Entwurf nämlich,den Sie vorgelegt haben, war noch schlechter als dasderzeitige Wohngeldgesetz. Erst als die von Ihnen be-stellten Sachverständigen und Gutachter in der von derOpposition beantragten Anhörung Ihnen bescheinigt ha-ben, dass die Novelle das Papier nicht wert ist, auf demsie steht, sind Sie nachdenklich geworden und haben re-agiert.
Irgendwann in naher Zukunft werden Sie uns dann etwasvorlegen, worüber man diskutieren kann.Ich denke also, dass all das, was Sie uns hier vorgetra-gen haben, scheinheilig war.
Wir sind der Auffassung, es wäre leicht und einfach zuregeln, indem ein Rechtsanspruch auf Inanspruchnahmeeiner Mieterberatung im Gesetz verankert würde. 3 Europro Monat würde zum Beispiel eine Mitgliedschaft füreinen Transferempfänger in einem Mieterverein kosten.An der Tatsache, dass dadurch gleichzeitig durchschnitt-lich 160 Euro im Jahr pro Wohngeldempfänger einge-spart werden könnten, also ganz konkret weniger Steuer-gelder aufzuwenden wären, wird deutlich, dass diesesVorhaben sehr wohl wirtschaftlich wäre.Herzlichen Dank.
Karl Schiewerling spricht jetzt für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Viele Dinge hat Frau Hiller-Ohm vorhin schon darge-stellt. Ich will noch auf einige Punkte kurz eingehen.Frau Bluhm, es mag ja sein, dass die Feststellung desMieterbundes, dass jährlich 250 Millionen Euro zu vielgezahlt würden, zutrifft. Ich kann die Zahlen nicht über-prüfen. Es sind ja viele verschiedene Zahlen in der Welt.Das trifft aber ganz sicher nicht ausschließlich auf Perso-nen zu, die Transferleistungen gemäß SGB II oderSGB XII erhalten. Ich weiß auch nicht, wen alles Sie mitIhren Zwangsberatungen beglücken wollen. UnsererVorstellung entspricht das nicht.Mit ihrem Antrag will die Linke erwirken, dass Be-zieher von Grundsicherung nach SGB II und SGB XII,also Bezieher von Arbeitslosengeld II oder der altenSozialhilfe, und alle weiteren wohngeldberechtigten Per-sonen einen Rechtsanspruch auf eine kostenlose, unab-hängige Mietrechtsberatung erhalten. Wie ein derartigerRechtsanspruch umgesetzt werden soll, sagen Sie nicht.Offen bleibt auch die Kostenfrage. Die meisten Men-schen, die von einer solchen Regelung betroffen wären,beziehen übrigens Leistungen vom Staat.Die Behauptung in der Begründung, dass die Kom-munen automatisch alle Kosten unkritisch übernehmen,geht schlichtweg an der Wirklichkeit vorbei.
Es mag ja den einen oder anderen Fall geben, wo mansich wundert, dass Kostensteigerungen ungeprüft über-nommen werden. Aber das kann doch nicht darüber hin-wegtäuschen, dass alle Kommunen ein ureigenes Inte-resse daran haben, die Wohnkosten so gering wiemöglich zu halten.
Abrechnungen müssen konkret, korrekt und nachvoll-ziehbar sein. Die örtlichen Träger können dafür alle ge-eigneten und erforderlichen Maßnahmen treffen. Dazugehört auch die Unterstützung einer Beratung in Miet-angelegenheiten. Dies kann über eigene Einrichtungenoder über Kooperationsvereinbarungen beispielsweise
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Karl Schiewerlingmit Mieterverbänden geschehen. Das geschieht bereitsheute, und es geschieht flächendeckend. Die Betroffenenwerden auf diese Möglichkeiten hingewiesen. Dass dieWahl angesichts der bereits vorhandenen vielfältigenBeratungsangebote den Betroffenen nicht immer leichtfällt, bestätigt doch nur, dass wir ein flächendeckendesNetz an Beratungsmöglichkeiten haben, und zwar durchdie Wohlfahrtsverbände, durch den Mieterbund unddurch die Verbraucherzentralen.Eine von den Sozialämtern vor Ort bereits ange-wandte Praxis ist, Mietberatungsscheine auszustellen,um zum Beispiel augenscheinlich zu hohe Abrechnun-gen von Experten auf ihre Korrektheit überprüfen zu las-sen. In vielen Fällen stellen sich dabei Mängel heraus,die in großen Abzügen zugunsten der Mieter bzw. derKostenträger resultieren. Denn wenn der betroffeneLeistungsträger Zweifel an der Richtigkeit zum Beispielder Betriebskostenabrechnung oder der Mieterhöhunghat, dann wird er immer im Gespräch den Leistungsemp-fänger auffordern, im Rahmen seiner Eigenverantwor-tung die Richtigkeit überprüfen zu lassen und notfallsauch eine Korrektur beizubringen. Wir haben es hier alsomit einem ureigenen Interesse der öffentlichen Hand zutun, dass die Mieten ordentlich und sachgerecht behan-delt werden.Wenn wir jetzt zusätzliche Mietrechtsberatungen ein-führen, dann finanzieren wir mit öffentlichen Geldernzweimal dieselbe Leistung. Das kann es nicht sein. Oderhaben Sie einfach nur gemeint, dass es dem Hilfeemp-fänger nicht zuzumuten wäre, selbst dafür zu sorgen,dass seine Mietabrechnung korrekt ist? Da sage ich Ih-nen: Jeder, der Geld vom Staat in Anspruch nimmt, musseigenverantwortlich im Sinne des öffentlichen Interessesfür einen sachgerechten Nachweis sorgen.
Die Träger haben eigene Kooperationsvereinbarun-gen mit Beratungsstellen. Das entspricht dem Prinzip derSubsidiarität. Das hat sich bewährt; darauf lassen wirnichts kommen.Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auchdaran, dass das Beratungshilfegesetz den Rechtsuchen-den mit niedrigem Einkommen gegen – Frau Hiller-Ohmhat vorhin darauf hingewiesen – eine geringe Eigenleis-tung von 10 Euro – die im Einzelfall, was nicht seltengeschieht, völlig erlassen werden – auch Rechtsberatungund Vertretung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrensund im Rahmen eines Güteverfahrens gewährleistet.Deswegen frage ich also: Warum müssen wir dasGanze zu einem Rechtsanspruch erheben? Die Sozial-ämter oder andere Träger vor Ort haben, wie bereits an-gemerkt, ein eigenes Interesse daran, die Kosten niedrigzu halten. Ich halte die Schaffung einer zusätzlichen ge-setzlichen Regelung für nicht erforderlich. Dadurch wür-den nur zusätzliche Nachweis- und Kontrollpflichteneingeführt, und das würde zu zusätzlicher Bürokratieführen. Davon haben wir genug. Wir sind gerade dabei,sie abzubauen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bluhm zulassen?
Nein.
Darüber hinaus stellt sich mir die Frage, was wir mit
den anderen Rechtsbereichen machen. Debattieren wir
dann demnächst auch über Rechtsansprüche in anderen
Bereichen, zum Beispiel bei Haftpflichtversicherungen
oder ähnlichen Dingen? Vor allem frage ich die Antrag-
steller: Wer soll das Ganze eigentlich bezahlen? Der An-
trag ist eine staatliche Einkommensbeschaffungsmaß-
nahme für Juristen; das sage ich Ihnen in aller Klarheit.
Die Union wird diesen Antrag ablehnen. Wir halten
die Schaffung einer zusätzlichen gesetzlichen Regelung,
die ihrerseits nur ein Mehr an Bürokratie mit Nachweis-
und Kontrollpflichten mit sich brächte, für nicht notwen-
dig. Ich sage Ihnen deutlich: Den betroffenen Menschen
nützt es nichts.
Herzlichen Dank.
Markus Kurth hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin ja bei den meisten hier durchaus als je-mand bekannt, der mit Kritik am Sozialgesetzbuch II,insbesondere an seinen leistungsrechtlichen Bestandtei-len, da, wo sie angebracht ist, nicht spart.
– „Leider wahr“ ruft der Staatssekretär a. D. GerdAndres. Aber ich stehe dazu. Ich finde es gut, dass daswahr ist. – Aber Sie schaden mit diesem Antrag
allen, die eine ehrliche und konstruktive Kritik amSozialgesetzbuch II üben. Mit diesem fachlich armseli-gen und politisch wirklich erbarmungswürdigen Antrag,der gänzlich überflüssig ist, stehlen Sie Papier und unshier die Zeit am Freitagnachmittag.
Die Argumente sind eigentlich fast alle schon gefal-len, sodass ich mit meiner knapp bemessenen Redezeitauf jeden Fall auskommen werde. Ich will noch einmalbetonen, dass es das Beratungshilfegesetz gibt. Es gibteinen Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung. Die10 Euro, von denen die Kollegin Hiller-Ohm gesprochenhat, können im Rahmen des Justizwesens erstattet wer-den. Es gibt die Prozesskostenhilfe. Wir haben alsodurchaus eine kostenlose Beratungsstruktur.
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Markus KurthIch will den Beispielen noch ein prägnantes aus mei-nem Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen anfügen.Herr Schiewerling hat bereits die Mieterberatungs-Für ein Gesamtkonzept zur Einrichtung vonEU-Agenturenscheine genannt. Bei der Stadt Köln gibt es beispiels-weise die Fachkonferenz „Teure Mieten“. Dort sitzt derKostenträger mit Mietervereinen und mit der Arge zu-sammen an einem Tisch. Diese schauen sich gezielt Ein-zelfälle überteuerter Mieten an. Schritt für Schritt wirdüberprüft, ob falsch abgerechnet wurde und ob mannicht die Kosten im Rahmen des Mietspiegels senkenkann. Diese Beispiele und noch viele andere könnenüberall gefunden werden. Ihr Antrag ist wirklich gänz-lich überflüssig.Warum stellen Sie dann diesen Antrag? Ich persönlichglaube, dass es Ihnen auch darum geht, die Lobbyinte-ressen der Mietervereine zu bedienen. Um nicht miss-verstanden zu werden, sage ich: Wir unterstützen die Ar-beit der Mietervereine; das ist gar keine Frage. Abernach Ihrer Auffassung soll die Rechtsberatung auf derEbene der Mietervereine stattfinden. Das wäre sozusa-gen die Einführung einer Dauermitgliedschaft.All das ist weit entfernt von einer zielführenden Poli-tik. Ich wiederhole es: Es ist einer parlamentarischen Be-ratung und einer konstruktiven Kritik an Gesetzen nichtwürdig, solche dürren und dürftigen Anträge zu stellen.Vielen Dank.
Der Kollege Heinz-Peter Haustein hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1)
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rechtsanspruch auf
Mieterberatung für Menschen mit geringem Einkom-
men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/7171, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/5247 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 sowie Zu-
satzpunkt 7 auf:
28 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
1) Anlage 4
– Drucksache 16/7746 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link , Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Gerichtliche und parlamentarische Kontrolle
von EU-Agenturen
– Drucksache 16/8049 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Veronika
Bellmann, Eduard Lintner, Axel Schäfer, Markus
Löning, Heike Hänsel und Rainder Steenblock wurden
zu Protokoll gegeben.2)
Es ist verabredet worden, die Vorlagen auf den
Drucksachen 16/7746 und 16/8049 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind
Sie damit einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 20. Februar 2008, 13 Uhr,
ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und das
Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.