Gesamtes Protokol
Ich eröffne die Sitzung, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, und begrüße Sie sehr herzlich zu unseren heutigen
Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
einen Geschäftsordnungsantrag behandeln.
Die Fraktion der FDP hat einen Antrag auf Erweite-
rung der heutigen Tagesordnung um den Punkt „Auffor-
derung an die Bundesregierung, eine Regierungserklä-
rung zur Lage der inneren Sicherheit in der
Bundesrepublik Deutschland zu beschließen“ gestellt.
Die Fraktion der CDU/CSU hat die Nichteinhaltung der
18-Uhr-Frist für Anträge zur Änderung der Tagesord-
nung gerügt. Mir ist mitgeteilt worden, dass die Fraktion
der FDP nunmehr beabsichtigt, den Antrag auf Erweite-
rung der Tagesordnung unter Abweichung von der Ge-
schäftsordnung gemäß § 126 zu stellen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat nun der Kollege
Koppelin für die FDP-Fraktion.
RedeFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Bundesinnenminister warnt vor Terroristen mitAtomwaffen. Ist diese Gefährdung konkret, oder gibt essie gar nicht?Der Bundesverteidigungsminister will Flugzeuge inbestimmten Situationen entgegen der eindeutigen Ver-fassungslage abschießen lassen. Durch eine Klage, vonLiberalen initiiert, hat das Bundesverfassungsgericht ineiner Entscheidung klar festgestellt, dass das Leben Un-schuldiger niemals geopfert werden darf.
Meine Fraktion teilt diese Auffassung, waAbstimmungen hier im Parlament immer dhat.tzung 19. September 20073.00 UhrMuss man den Bundesverteidigungsminister eigent-lich daran erinnern, dass er hier im Parlament geschwo-ren hat, die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zuwahren und zu verteidigen?
Seine Aussagen stehen in keiner Weise mit seinemAmtseid in Übereinstimmung. Seine Aussagen sind au-ßerdem eine Zumutung für die Piloten der Bundeswehr.
Vizekanzler Müntefering hat die Aussage des Bun-desverteidigungsministers zu Recht zurückgewiesen. Zuden Äußerungen des Bundesinnenministers erklärt Vize-kanzler Müntefering:Ich bin nicht glücklich über diese Art und Weisedes Umgangs mit einer solch ernsthaften Thematik.Das kann man nicht auf sich beruhen lassen. Da-rüber muss gesprochen werden.
textJa, liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber muss ge-sprochen werden. Die Aktuellen Stunden, die in dieserWoche von den Freien Demokraten und vom Bünd-nis 90/Die Grünen eingereicht worden sind, reichen da-für nicht aus.Die Minister Schäuble und Jung äußern sich so, derVizekanzler und die Justizministerin äußern sich im ge-nau entgegengesetzten Sinn. Für uns und die Menschenin diesem Land ist es aber wichtig, dass unsere Bundes-regierung eine einheitliche Meinung und eine einheitli-che Auffassung zur Lage der inneren Sicherheit hat.l bei der FDP, der LINKEN und demÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)tragt die Fraktion der Freien Demokratens sie in denokumentiert
Metadaten/Kopzeile:
11748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
dass der Deutsche Bundestag heute die Bundesregierungauffordert, eine Regierungserklärung zur Lage der inne-ren Sicherheit abzugeben. Sollte die Union weiterhindarauf bestehen, dass der Antrag acht Minuten zu späteingereicht wurde, können wir ihn heute noch einmalstellen, dann findet die Abstimmung morgen statt.
Die Bundestagsfraktion der Freien Demokraten hatdas Bundeskanzleramt schriftlich gebeten, eine solcheRegierungserklärung abzugeben, und zwar in dieser Wo-che hier im Parlament. Die Bundesregierung hat das ab-gelehnt. Sie nutzen doch sonst jede Gelegenheit zu einerRegierungserklärung. Warum kneifen Sie hier?
So bleibt uns nur, heute diesen Antrag zu stellen. Wirmüssen diesen Antrag stellen, weil Sie sich weigern.Hier im Deutschen Bundestag und nicht in den Me-dien haben sich die Bundesminister zu erklären.
Auch die Bundeskanzlerin muss sich erklären. Dennschließlich haben wir eine Bundesregierung und nichtzwei Bundesregierungen in einer.
Zu den Aussagen des Bundesverteidigungsministerswollen wir auch die Meinung der Bundesjustizministerinhören. Die Medienkampagne der Minister Schäuble undJung muss gestoppt werden. Das kann hier durch eineRegierungserklärung der Bundesregierung geschehen.
Der Bundesinnenminister ist ja gleichzeitig auch Ver-fassungsminister. Wir wünschen uns einen Bundesinnen-minister, der Aussagen wie die des Verteidigungsminis-ters eindeutig zurückweist.
Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten,Peter Struck, hat zu Beginn dieser Legislatur erklärt,dass die SPD-Fraktion auch in der Großen Koalitionselbstbewusst alles prüfen will, was von der Regierungkommt. Wörtlich sagte Peter Struck: „Dafür ist das Par-lament da.“ Heute haben die Sozialdemokraten Gelegen-heit, das, was Peter Struck gesagt hat, unter Beweis zustellen.
Der Deutsche Bundestag sollte die Bundesregierungdaher heute auffordern, eine Regierungserklärung zurLage unserer inneren Sicherheit abzugeben. Wenn wirdann in dieser Debatte zu dem Ergebnis kommen, dasswir nicht ständig neue Gesetze zur Bekämpfung des Ter-rors brauchen, sondern vielmehr gut ausgebildete undgut ausgerüstete Sicherheitsorgane, deren Personalstandnicht immer weiter reduziert werden darf, dann wäreeine solche Debatte ein Gewinn für unser Land.Ich bitte, unserem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Norbert Röttgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Da wir, auch wenn es eine Geschäftsordnungsde-batte ist, jetzt über die Bedrohung unserer Mitbürger undauch unseres freiheitlichen Verfassungsstaates durchTerrorismus sprechen, möchte ich vorschlagen, dass wirzum Ausgangspunkt dieser Debatte die folgende Fragewählen: Was erwarten eigentlich die Menschen von derPolitik in der Sache und im Umgang mit dieser Gefähr-dungs- und Bedrohungslage? Fangen wir doch bei dieserFrage an.
Ich glaube nicht, dass die Bürger erwarten, dass wir,obwohl es sich um eine existenzielle Bedrohung handelt,in einem pluralistischen, demokratischen Land alle einigsind. Aber ich glaube, die Bürger erwarten und könnenerwarten,
dass wir uns, weil es um die existenzielle Bedrohungvon Menschen geht, weil es um einen Angriff auf unserefreiheitliche Verfassungsstaatlichkeit geht, mit diesenFragen mit der angemessenen Ernsthaftigkeit und – dasbetone ich – mit dem Willen zu demokratischer Gemein-samkeit beschäftigen. Das können die Bürger erwarten.
Weil sie dies von uns erwarten können, habe ich für denFirlefanz einer Geschäftsordnungsdebatte kein Verständ-nis.
Sie beantragen eine Aktuelle Stunde und kritisieren,dass sie durchgeführt wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11749
(C)
(D)
Dr. Norbert RöttgenDie Koalition bietet eine parlamentarische Debatte zudiesem Thema an, möchte eine Sachdebatte vereinbaren,aber die Opposition möchte sie nicht haben. Sie wollenFirlefanz statt Sachdebatte. Das ist unverantwortlich.
Ich kann das nicht verstehen: Grüne und FDP verwei-gern explizit eine Debatte in der Sache. Sie haben es ge-tan. Befragen Sie einmal Ihre Fraktionsführung dazu.
Ich bin auch deshalb über dieses parlamentarischeVerhalten enttäuscht – die Verweigerung einer Sachde-batte durch die Opposition –, da nach unserer Auffas-sung ein 5-Minuten-Stakkato in den Aktuellen Stundendiesem Thema nicht gerecht wird, auch wenn die Bun-desminister reden werden. Darum hätten wir gern im Zu-sammenhang debattiert. Aber das ist Ihre Entscheidung.
Wir werden diese Debatte dann eben so führen.Ich bin darüber auch deshalb enttäuscht, weil nachmeinem Selbstverständnis als Parlamentarier wir in die-ser Frage eine originäre Entscheidungsverantwortunghaben, die wir und nicht die Regierung, die darüber ent-scheidet, ob sie Regierungserklärungen abgibt odernicht, auch ausüben müssen, denn wir als Parlament sindGesetzgeber. Daher ist die Frage an uns adressiert, wiewir zum Beispiel mit dem Problem umgehen, das derBundesverteidigungsminister aufgeworfen hat.
– Vielleicht darf ich diese Frage einmal ausführen. Wiralle täten gut daran, die Debatte nicht in einem Ton derAufregung zu führen, sondern sachangemessen undnüchtern darüber zu reden.
Die Frage, die der Bundesverteidigungsminister auf-geworfen hat, ist doch folgende: Nach Auskunft, Rege-lung und Klärung einer Situation durch den Staat, die ineinem rechtlichen und in einem moralischen Dilemmabesteht – –
– Ja, genau. Das Verfassungsgericht hat die Frage beant-wortet, indem die gesetzliche Lösungsgrundlage zumUmgang mit dem rechtlichen und mit dem moralischenDilemma für verfassungswidrig erklärt wurde.Das Dilemma besteht darin, dass Terroristen Flugpas-sagiere als Geiseln nehmen können, um damit andereMenschen zu töten. Das ist eine Dilemmasituation. DieFrage, die an den Staat, an den Gesetzgeber gestelltwird, lautet: Wie gehen wir mit dieser Situation um? Eswurde versucht, mit dem Luftsicherheitsgesetz eine Ant-wort zu geben. Das Bundesverfassungsgericht hat siekassiert.
Jetzt ist die Rechtslage die, dass der Staat dazu keine ge-setzliche Auskunft geben kann. Der Verteidigungsminis-ter hat darauf hingewiesen, dass aufgrund der Rechtslagein diesem Fall die individuelle strafrechtliche Verantwor-tung bei den in dieser Situation aktiv Handelnden liegt.Das sind insbesondere die Soldaten, die dann handeln.Wenn sie handeln, dann ist gemäß unserer Rechtsordnungdazu zu sagen: Ihr habt rechtswidrig ein Tötungsdeliktvorgenommen; ihr könnt euch aber in einem strafrechtli-chen Verfahren auf einen Entschuldigungstatbestand,nämlich den des übergesetzlichen Notstandes, berufen.Da ihr als Soldaten eure Pflicht ausgeübt habt, wird mandann sehen, ob ihr dafür verurteilt werdet oder nicht.Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt: In die-ser Rechtslage, die nun einmal da ist, stelle ich klar, dassdie Verantwortung bei mir liegt. Ich verstecke mich nichthinter den Soldaten, sondern ich trage die politische Ver-antwortung für ein solches Verhalten.
Ich selbst möchte dazu sagen: So zutreffend wie nachmeiner Beurteilung das Amtspflichtverständnis des Bun-desverteidigungsministers ist, so unerträglich ist die Si-tuation, dass der Staat als Ganzes kneift und sich hinterdem Rücken der Soldaten, die handeln müssen, ver-steckt.
Das ist eine staatliche Form von Feigheit, die wir nichtakzeptieren können.Der Bundesinnenminister hat seine Pflicht getan, in-dem er nüchtern auf die Gefährdungslage dieses Landeshingewiesen hat. Das muss er tun, und zwar nicht aufre-gend und nicht hysterisierend. Er hat in der Zeit, in dernoch Vorbeugung möglich ist, auf die Gefährdungslagehingewiesen. Er hat nicht nur auf die Gefahr hingewie-sen, sondern er hat auch an uns appelliert und Vor-schläge dahin gehend gemacht, dass der Staat allesrechtsstaatlich Nötige und rechtsstaatlich Mögliche tunmuss, um Terrorismus in diesem Land abzuwehren.Unsere Auffassung als CDU/CSU-Fraktion ist: DerRechtsstaat hat im Wissen darum, dass es absolute Si-cherheit nicht gibt, das ihm rechtsstaatlich Nötige undMögliche noch nicht getan. Wir als Gesetzgeber sind auf-gerufen, aus der Verantwortung den Bürgern gegenüber,in diesem Land Sicherheit in Freiheit zu ermöglichen.
Darüber muss eine Debatte geführt werden.
Metadaten/Kopzeile:
11750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Dr. Norbert Röttgen
Der Deutsche Bundestag muss in diesen Fragen dieEntscheidung treffen. Wir sind dazu bereit, diese Verant-wortung wahrzunehmen.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst eine Vorbemerkung zur Rede des KollegenRöttgen, die ich für notwendig halte: Ich finde es er-staunlich, hier auf der einen Seite eine Sachdebatte ein-zufordern und auf der anderen Seite von Firlefanz zu re-den.
Es ist ziemlich unerträglich, wenn das eine Fraktion tut,die hier eine Klauberei um acht Minuten betreibt. Das istnämlich wahrhaftig Firlefanz.Die FDP beantragt, die heutige Tagesordnung um denPunkt „Aufforderung an die Bundesregierung, eine Re-gierungserklärung zur Lage der inneren Sicherheit in derBundesrepublik Deutschland zu beschließen“ zu erwei-tern. Wir, die Fraktion Die Linke, werden uns diesemAntrag anschließen.
Es ist merkwürdig und im Hinblick auf die politischeKultur in unserem Land enttäuschend, dass die FDP-Fraktion diesen Weg gehen muss, um etwas zu erzwin-gen, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit seinsollte.
Die Minister Schäuble und Jung entwerfen bezüglichder inneren Sicherheit Horrorszenarien, die hochgradiggeeignet sind, in der Bevölkerung Unruhe und Unsicher-heit zu schüren. Wann, wenn nicht jetzt, haben die Men-schen in diesem Lande und die von ihnen gewähltenVolksvertreter einen Anspruch darauf, von der Bundes-regierung zu erfahren, ob es sich hierbei um Einzel-meinungen der Minister oder um die Meinung der Bun-desregierung handelt
und, falls es sich um Einzelmeinungen handelt, wie dieBundesregierung zu diesem Sachverhalt steht?
Die Bundesregierung hätte von sich aus anbieten müs-sen, hierzu eine Regierungserklärung abzugeben. Es istein Scherz – zudem ein schlechter –, dass die FDP etwaserzwingen muss, was selbstverständlich sein sollte.Es geht nicht nur um die Grusel- und Horrorszena-rien, die diese Minister verbreiten. Es geht vor allem umdas, was sie meinen, daraus ableiten zu müssen. MeineFraktion interessiert längst nicht mehr, was die MinisterSchäuble und Jung wollen. Wir wollen wissen, ob sichdie Bundesregierung an einer Aushöhlung der Verfas-sung bis hin zum offenen Verfassungsbruch beteiligenwill oder nicht. Ich danke dem Kollegen Peter Struck,dass auch er das Wort „Verfassungsbruch“ verwendethat.
Uns interessiert überhaupt nicht mehr, ob MinisterJung Soldaten mindestens zum Totschlag, wenn nichtzum Mord, möglicherweise zum Mord mit gemeinge-fährlichen Mitteln und letztlich sogar zum Verfassungs-bruch auffordert. An diesem Minister interessiert uns al-lenfalls noch, wann er die Konsequenzen aus seinenungeheuerlichen Forderungen zieht und zurücktretenwill – und das, Kollege Röttgen, bitte nicht erst, nach-dem er den Befehl gegeben hat!
Ich will Ihnen sagen: Das ist eine merkwürdige Art undWeise, sich hinter die Soldaten zu stellen.
Auf diese Aufforderung zum Rechtsbruch habenHerrn Jung der Bundeswehr-Verband, der Verband derJetpiloten und andere eine klare Antwort gegeben. AberSie haben sich schon die Piloten ausgesucht, die sich, alshabe es nie eine deutsche Geschichte gegeben, wieKlaus-Peter Stieglitz, der Inspekteur der Luftwaffe, da-rauf berufen, dass Offiziere ihre Befehle zu befolgen ha-ben.Die Menschen in diesem Lande und wir als die vonihnen gewählten Volksvertreter haben einen Anspruchdarauf, jetzt zu erfahren, ob es sich um eine Einzel-meinung des Ministers handelt oder ob diese Ungeheuer-lichkeiten die Position der Bundesregierung sind.Danke schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11751
(C)
(D)
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Uwe Küster für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die aktuellen Äußerungen der Minister Dr. Schäuble
und Dr. Jung, auf die die FDP Bezug nimmt, sind Äuße-
rungen dieser Minister, keine Äußerungen der Bundes-
regierung.
Von Vizekanzler Franz Müntefering und von Justiz-
ministerin Brigitte Zypries ist dazu das Nötige gesagt
worden.
Im Übrigen hat die FDP den Vorschlag, eine gemein-
same Debatte zu vereinbaren, in der sich die Fachpoliti-
ker mit diesem Thema hätten befassen können, abge-
lehnt.
Sie wissen, bis kurz vor Beginn dieser Debatte haben wir
Verhandlungen und Gespräche darüber geführt. Wir ha-
ben der Opposition das Angebot gemacht, statt der bei-
den Aktuellen Stunden, von denen eine heute und eine
morgen stattfinden soll, eine vereinbarte Debatte über
genau dieses Thema zu führen.
Sie von der FDP möchten dieses Thema aber weiter-
hin skandalisieren.
Sie wollen daraus parteipolitisch Honig saugen.
Ich sage Ihnen im Namen meiner Fraktion: Dieser Ver-
such ist fragwürdig und deshalb abzulehnen.
Die immer neuen öffentlichen Äußerungen der Minis-
ter Schäuble und Jung tragen zur Verunsicherung und
nicht zur Stabilisierung der inneren Sicherheit bei.
Die Themen innere Sicherheit und Terrorismusbekämp-
fung eignen sich aber nicht für derartige parteipolitische
Instrumentalisierung.
Im Übrigen haben wir statt der von der Opposition
abgelehnten gemeinsamen Debatte heute und morgen
die beiden Aktuellen Stunden, die von der Opposition zu
den Themen Terrorismusbekämpfung und innere Sicher-
heit gefordert worden sind. Da werden wir ausführlich
darüber debattieren können. Es steht diese Woche also
genügend Zeit für die beiden von Ihnen geforderten The-
men zur Verfügung. Meine Fraktion sieht daher keine
Veranlassung, dem Geschäftsordnungsantrag gemäß
§ 126 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
zuzustimmen.
Danke schön.
Nun hat das Wort der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichfand, das war eine gute Rede, Uwe Küster: Das war einegute Begründung für den Antrag der FDP, hier eine Re-gierungserklärung zu verlangen.
Da erklärt der amtierende Parlamentarische Geschäfts-führer der SPD, die Ministeräußerungen seien Indivi-dualmeinungen,
das sei nicht die Politik der Bundesregierung, da gebe esauch andere Individualmeinungen, nämlich die vonMüntefering und Zypries, die ihm näher seien. Ja, gibt esauch eine Meinung der Bundesregierung zur Innenpoli-tik?
Ich habe vorhin unter Berücksichtigung des Grund-prinzips, das hinter einer Regierungserklärung steht, da-rüber nachgedacht, ob ich auf den Vorschlag der Unioneingehe, dies in einer vereinbarten Debatte zu behan-deln. Eine vereinbarte Debatte bedeutet: Jeder sagt ein-mal, was er so denkt – insofern haben wir eine ständigevereinbarte Debatte in der Bundesregierung.
Da dürfen sich die Minister beteiligen – manche sind jaauch Abgeordnete –, da dürfen sich die Abgeordnetenbeteiligen, und dann haben wir alle einmal darüber gere-det.
Metadaten/Kopzeile:
11752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Volker Beck
Na ja, das machen wir doch dauernd: die Agenturen raufund runter, die Talkshows rauf und runter. Aber wir wis-sen nicht, was die Regierung macht.
Eine Regierungserklärung folgt aber einem anderenPrinzip: Wenn die Bundesregierung einen Bereich ihrerPolitik grundsätzlich vor dem Parlament darstellen will– vorausgesetzt, sie hat eine solche Politik –, dann ge-schieht das in der Regel in der Form einer Regierungser-klärung. Die Erklärung selbst ist Gegenstand der Aus-sprache. Das heißt, dann sagen wir nicht mehr, was unszum Thema gerade so einfällt,
sondern dann reden wir darüber, wie wir die Politik die-ser Bundesregierung finden. Gegenwärtig können wiraber nicht über eine Regierungserklärung reden, weil dieRegierung uns nichts zu erklären hat, weil sie nicht weiß,wie ihre Innenpolitik aussehen soll.
Das finde ich angesichts der von ihr in dieser Debatte an-geschlagenen Tonlage, die nach Götterdämmerung, nachArmageddon, nach Weltuntergang klingt,
unerhört. Denn die Menschen draußen im Lande und dieParlamentarier, aber auch die Regierungskollegen habendas Recht, zu erfahren: Was wissen die beiden Ministerüber die Bedrohungssituation, und was ist deren Antwortdarauf? Da kann nicht jeder einfach erzählen, was erwill. Das macht die Menschen verrückt, besorgt und – zuRecht – ängstlich. Mit dem Entsetzen über Terrorismustreibt man nämlich keine politischen Scherze.
Das sieht der Vizekanzler übrigens genauso. Er hat heutegegenüber AP erklärt:Die Mitglieder der Regierung und der Fraktions-spitzen müssen eine Information erhalten über das,was da gewusst oder vermutet wird.Das ist richtig. Doch er ist vorsichtshalber erst gar nichtgekommen. Offensichtlich will er nicht in Versuchunggeraten, dem Antrag der Opposition auf eine Regie-rungserklärung zustimmen zu müssen.Ich bleibe dabei: Das, was Sie wissen, gehört auf denTisch des Hauses. Sie können nicht einfach solche Sätzeformulieren,
wie Bundesinnenminister Schäuble es getan hat:Die größte Sorge aller Sicherheitskräfte ist, dass in-nerhalb des terroristischen Netzwerkes ein An-schlag mit nuklearem Material vorbereitet werdenkönnte.Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass esnur noch darum geht, wann solch ein Anschlagkommt, nicht mehr, ob.Dann erfahre ich jetzt von den Agenturen, er will das garnicht so gemeint haben; das sage man unter Fachleutenschon seit 15 Jahren. Aber der Text im Interview geht jaweiter, und damit macht er sich die Aussagen zu eigen:Wir sind bedroht und bleiben bedroht. Aber ich rufedennoch zur Gelassenheit auf. Es hat keinenZweck, dass wir uns die verbleibende Zeit auchnoch verderben, weil wir uns vorher schon in eineWeltuntergangsstimmung versetzen.
Das ist Tanz auf dem Vulkan. Das ist wie in der Pestzeitim Mittelalter, als man noch einmal feierte, bevor alleverreckten.Gibt es eine Grundlage für solche verheerenden undpanikmachenden Äußerungen, oder haben Sie das ein-fach so dahingesagt, Herr Schäuble, um die SPD bei derOnlinedurchsuchung unter Druck zu setzen oder hieroder da über die BKA-Kompetenzen zu reden und siedurch das dadurch geschaffene öffentliche Klima mürbezu machen? Wenn es nur dazu diente, halte ich das fürfahrlässig. Das ist kein verantwortungsvolles Verhalteneines Innenpolitikers,
der seriös jedes Bedrohungsszenario – auch ein hypothe-tisches – analysieren muss und Vorgehensweisen vor-schlagen muss, der aber nicht so bedeutungsvoll raunendarf, als ob er wisse, dass morgen ein Bombenanschlagbevorsteht.
Der Bundesverteidigungsminister beschreibt ein Di-lemma. Norbert Röttgen, das ist ein Dilemma, mit demwir uns als Parlament schon länger beschäftigt habenund zu dem das Bundesverfassungsgericht Gott sei Dankklare Worte gesprochen hat.
– Da gibt es keine einfachen Antworten.
Der Minister insinuiert – das ist das, was du willst –, esgebe für diese Situation so etwas wie eine Gebrauchs-anweisung. Diese solle der Gesetzgeber möglichst auchnoch in ein Gesetz gießen nach dem Motto: Wenn du500 Menschenleben retten kannst und dafür 50 opfernmusst, dann darfst du es tun, dann bist du fein raus; dannist das Dilemma aufgehoben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11753
(C)
(D)
Volker Beck
Das – so hat das Bundesverfassungsgericht gesagt – gibtes innerhalb unserer verfassungsrechtlichen Ordnungnicht.Ich sorge mich, wenn wir einen Verteidigungsministerhaben, der nicht die verfassungsrechtlichen Grundsätze,unseren Rechtsstaat und unsere Freiheit verteidigt, son-dern sich in Interviews damit brüstet, diese rote Linieübertreten zu wollen und genau das Gegenteil dessen zutun. Wir würden hier im Parlament gerne einmal Aus-kunft erhalten, ob diese Äußerung der Politik der Regie-rung oder der Bundeskanzlerin entspricht. Es sollteSchluss sein mit den Interviews und öffentlichen State-ments. Finden Sie zu einer Politik der inneren Sicherheit,die rechtsstaatlich ist!
Wir kommen nun zur Abstimmung über den FDP-An-
trag. Wer stimmt für den Antrag der FDP? – Wer ist da-
gegen? – Stimmenthaltungen?
Der Antrag hat nicht die erforderliche Mehrheit erhalten.
Er ist abgelehnt.
Wir kommen damit zur vorgesehenen Tagesordnung.
– Ich warte einige Sekunden, bis diejenigen, die der wei-
teren Beratung nicht folgen wollen oder können, den
Saal verlassen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun Tages-
ordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Jahresbericht der Bundes-
regierung zum Stand der Deutschen Einheit 2007.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung, Wolfgang Tiefensee.
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe heute dem Kabinett den Jahresbericht
2007 zum Stand der Deutschen Einheit vorgelegt und
fasse den Bericht folgendermaßen zusammen:
Wir haben den Wachstumskurs der neuen Bundeslän-
der im Verlauf des letzten Jahres stärken können. Es gibt
eine Reihe positiver Anzeichen für einen sich dauerhaft
haltenden Wirtschaftsaufschwung. Andererseits stehen
wir in den neuen Bundesländern nach wie vor vor enor-
men Herausforderungen. So gilt es, auf dem Erreichten,
für das die Menschen in den neuen Bundesländern, aber
auch die Solidarität der Menschen in den alten Bundes-
ländern verantwortlich zeichnen, aufzubauen und uns
den Herausforderungen zu stellen, die noch vor uns lie-
gen.
Das Wachstum in den neuen Bundesländern ist stabil,
und ihre Wirtschaftskraft nimmt zu. 3 Prozent Wirt-
schaftswachstum in Relation zu 2,7 Prozent in den alten
Bundesländern belegen, dass sich die Schere schließt.
Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Sie schließt
sich zu langsam. Die Industrie zieht mit einem Wachs-
tum von 11 Prozent stärker als in den alten Bundeslän-
dern an. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist:
Wir sind weit von einem sich selbst tragenden Auf-
schwung entfernt.
Es gibt immer noch zu wenige Industriearbeitsplätze,
immer noch zu wenige Forschungs- und Entwicklungs-
kapazitäten beim Mittelstand und mit 67,3 Prozent, ge-
messen an dem der alten Bundesländer, ein deutlich ge-
ringeres Bruttoinlandsprodukt. Die Arbeitslosigkeit geht
zurück. Dennoch bleibt das Problem der sich verfesti-
genden Langzeitarbeitslosigkeit, die in den alten Bun-
desländern um 20 Prozent, aber in den neuen Bundeslän-
dern lediglich um 8 Prozent abnimmt. Daneben schlagen
wir uns mit den Problemen der Demografie und der Ab-
wanderung aus den ländlichen Räumen mit all den sozia-
len und infrastrukturellen Folgen für das Leben in den
Regionen herum.
Die Bundesregierung zeigt Wege auf, wie wir den
Aufschwung beschleunigen können; denn wir müssen
ihn beschleunigen, wenn wir den Abstand zwischen den
unterschiedlichen Regionen in den Ländern unseres
Staates verringern wollen.
Wir setzen auf den Solidarpakt II. Die Mittel werden
eingesetzt, um die Infrastruktur zu vollenden und in Ver-
bindung mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung
der regionalen Wirtschaftsstruktur und der Investitions-
zulage Firmen anzulocken und zur Erweiterung zu be-
wegen. Wir setzen darauf, den Transmissionsriemen
zwischen der Wissenschaft und der Wirtschaft zu ver-
stärken, indem wir insbesondere beim Mittelstand For-
schungs- und Investitionskapazitäten aufbauen. Wir set-
zen darauf, auch in den ländlichen Räumen die
Lebensqualität zu erhalten und sie mit der Lokomotiv-
funktion der kleinen und großen Wachstumszentren zu
verbinden. Wir setzen darauf, die Langzeitarbeitslosig-
keit im engen Schulterschluss mit den Ländern und Städ-
ten durch Programme wie dem Kommunal-Kombi zu
beseitigen.
Eine enorme Aufgabe steht vor uns. Durch den Be-
richt soll ein realistisches Bild gezeichnet werden. Viel
wurde erreicht, und es ist noch viel zu tun. Daneben sol-
len Wege aufgezeigt werden, wie wir im Laufe der
nächsten Jahre weitere Schritte beim Aufbau Ost gehen
können, die uns zum Erfolg führen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Bundesminister.
Metadaten/Kopzeile:
11754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtIch bitte nun, zunächst Fragen zu dem Themenbereichzu stellen, über den gerade berichtet wurde.Als erstem Fragesteller erteile ich dem KollegenVolker Blumentritt für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Minister, mit welchen konkreten
Maßnahmen will die Bundesregierung die, wie ich
denke, dynamische Entwicklung in Ostdeutschland be-
schleunigen?
Ist für Sie dabei insbesondere das Programm „Soziale
Stadt“ wichtig – ich spreche da aus eigener Erfahrung –,
das 1999 durch die Bundesregierung initiiert wurde und
wodurch vielfältigste Möglichkeiten eröffnet wurden?
Wie kann man das potenzieren? Was kann man daraus
noch machen? Wofür werden die Mittel, die Sie für die
nächsten Jahre aufgestockt haben, in erster Linie einge-
setzt? Das Programm „Soziale Stadt“ – ich sehe das ge-
nauso wie Sie – ist insbesondere im Hinblick auf die Sta-
bilisierung des Standortes Ostdeutschland und ein Stück
weit auch im Hinblick auf die Etablierung großer Unter-
nehmen in Ostdeutschland ein wesentlicher Faktor.
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Vielen Dank. – Wir müssen auf verschiedenen
Feldern agieren. Ein Feld ist die Stärkung der Wirt-
schaftskraft. Dadurch werden Arbeitsplätze entstehen; es
werden weniger Sozialtransfers nötig sein, und die Men-
schen können aus eigener Kraft agieren.
Wir wollen die Wirtschaftskraft stärken, indem wir
mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung der regio-
nalen Wirtschaftsstruktur fortfahren. Dafür wollen wir
auch die Investitionszulage über das Jahr 2009 hinaus
verlängern, wie es in der Koalitionsvereinbarung vorge-
sehen wurde. Damit gewährleisten wir, dass Investoren
auch auf dem sogenannten flachen Land Investitionen
tätigen und ihre Unternehmen erweitern bzw. neue grün-
den können.
Wir wollen darüber hinaus ein zweites Themenfeld
angehen: die Verbindung zwischen Wirtschaft und Wis-
senschaft. Wir haben einen Wettbewerb initiiert, der mit
23 Millionen Euro ausgestattet ist. Die ersten elf Pro-
jekte konnten identifiziert und mit finanziellen Mitteln
ausgestattet werden. Denn wir wissen, dass der Osten
nicht länger die verlängerte Werkbank des Westens sein
darf; wir müssen vielmehr den Aufbau eigener For-
schungs- und Entwicklungskapazitäten ermöglichen.
Das dritte Feld ist die Infrastruktur. Seit der friedli-
chen Revolution sind in Deutschland ungefähr
170 Milliarden Euro in den Ausbau von Infrastruktur ge-
flossen, davon allein 67 Milliarden Euro in die neuen
Bundesländer. Der Anteil ist deshalb überproportional
hoch, weil wir wissen, dass die Wirtschaft der Infra-
struktur folgt. Wir intensivieren unsere Bestrebungen,
ausländische Unternehmen in den Osten zu holen. Das
alles soll die Wirtschaft stärken.
Ein weiteres Themenfeld ist die Stadt. Hier haben wir
es mit besonderen Herausforderungen zu tun. Ich nenne
in diesem Zusammenhang als Stichwort das Programm
„Soziale Stadt“. Um Disparitäten zwischen Stadtteilen
auszugleichen, haben wir das Programm nicht nur von
70 Millionen Euro auf 110 Millionen Euro pro Jahr auf-
gestockt, sondern wollen auch mit 20 Millionen Euro ei-
nen nicht unbeträchtlichen Anteil dieser Mittel über die
Investitionstätigkeit hinaus zur Finanzierung von Pilot-
projekten einsetzen, die zur Verbesserung der Situation
benachteiligter Stadtteile beitragen.
Darüber hinaus kümmern wir uns um den Städtebau.
Die Programme „Stadtumbau Ost“ und „Städtebaulicher
Denkmalschutz“, die sich mit der Stadtentwicklung im
weitesten Sinne beschäftigen, sind nicht nur verstetigt,
sondern auch aufgestockt worden. Denn die demografi-
sche Entwicklung bedingt den teilweisen Rückbau von
Infrastruktur unter und über der Erde, um die Steuergel-
der der Bevölkerung adäquat einsetzen zu können. Das
sind einige Beispiele.
Ein anderes Themenfeld hatte ich bereits kurz ange-
sprochen: die Langzeitarbeitslosigkeit. Dazu verweise
ich exemplarisch auf das Programm „Kommunal-
Kombi“; darüber hinaus ließen sich weitere Programme
anführen.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Peter Hettlich.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Minister, Sie habeneben in der Antwort auf die Frage des KollegenBlumentritt auf die Investitionszulage und die Gemein-schaftsaufgabe Ost hingewiesen. Sie haben immer wie-der festgestellt, dass die Förderung gezielter erfolgenmuss. Wir haben aber schon in der letzten Debatte überdie Investitionszulage im vergangenen Jahr immer wie-der gefragt, wie Sie sich das vorstellen. Da ein Rechtsan-spruch auf die Investitionszulage besteht, ist damit keinegezielte Förderung möglich. Die GemeinschaftsaufgabeOst wird – übrigens auch von den Wirtschaftsinstituten –immer wieder als probates Mittel empfohlen. KönnenSie mir erklären, warum Sie die Mittel für die Gemein-schaftsaufgabe für dieses Jahr kürzen? Diese Frage inte-ressiert viele Menschen.Können Sie mir des Weiteren erläutern, wie Sie beieinem um 0,3 Prozentpunkte geringeren BIP-Wachstumim Osten gegenüber dem Westen auf 20 Jahre bis zurAngleichung zwischen West und Ost kommen? Das istfür mich arithmetisch nicht nachvollziehbar.Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Zunächst zu den beiden Programmen: Wir wolleneine Balance zwischen einer gezielten Förderung überdie Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung der regionalenWirtschaftsstruktur einerseits und dem Rechtsanspruchvon Unternehmen andererseits, die neue Investitionenoder Ersatzinvestitionen tätigen, schaffen. Dabei geht esum die sogenannte Investitionszulage, die sich auf dreiBereiche und auf alle Regionen der neuen Bundesländerbezieht. Die drei Bereiche sind bekannt. Dabei handelt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11755
(C)
(D)
Bundesminister Wolfgang Tiefenseees sich um die Industrie im klassischen Sinne, die indus-trienahen Dienstleistungen und ab dem Jahr 2006 dasBeherbergungsgewerbe.Wir setzen auf diese Dualität, weil wir glauben, dassdie Politik die starken Regionen, ob klein oder groß, ge-zielt fördern sollte – das geschieht bereits, und zwar mitStrategie und Planung –; andererseits wollen wir aberder Unternehmerschaft nicht den Weg verbauen, ihrer-seits in dieser oder jener Region, die noch nicht als Ziel-gebiet in dieser Weise identifiziert ist und diese Stärkennoch nicht aufweist, entsprechende Förderung anzubie-ten.Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. In der letztenWoche haben wir in Arnstadt ein Werk zur Überholungvon Rolls-Royce-Flugzeugturbinen übergeben. Von derGrundsteinlegung bis zur Eröffnung sind nur zwölf Mo-nate vergangen. Dort ist es gelungen, ein Unternehmenin einer Region anzusiedeln, die vorher nicht als indus-trielles Zentrum Thüringens galt. Das war durch gezielteFörderung möglich. Die Konkurrenz zu einem tschechi-schen Mitbewerber konnte gewonnen werden, weil dieFörderung an diesem Ort sowohl in strategischer Hin-sicht als auch vom Unternehmer selbst gelenkt werdenkonnte.Die GA stellt eine gute Basis für eine finanzielle Ba-lance dar. Die Investitionszulage und die GA sind inetwa gleich ausgestattet. Ich denke, dass durchaus immerMöglichkeiten zur Aufstockung der GA-Mittel bestehen.Ich setze darauf, dass der Solidarpakt sowohl 2007 alsauch 2008 in vollem Umfang zum Tragen kommt unddass diese beiden Instrumente dafür sorgen, dass mehrArbeitsplätze geschaffen werden.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Roland Claus.
Herr Bundesminister, das Nürnberger Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat herausgefun-
den, dass in einem Drittel der ostdeutschen Betriebe die
1-Euro-Jobber die Mehrheit stellen. Ich hielt das für un-
glaublich, aber es ist wahr. Bewerten Sie diesen Fakt als
Beleg für den in Ihrem Bericht konstatierten Auf-
schwung auf dem Arbeitsmarkt, oder bewerten Sie die-
sen Fakt genauso wie ich als einen Skandal?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Ich möchte die Zahlen nicht bestätigen, weil sie mir
nicht vorliegen. Aber sie beschreiben den Trend, dass
wir zwar den Arbeitsmarkt beleben und die Anzahl der
Arbeitslosen senken, aber nicht in gleichem Umfang
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Osten
Deutschlands schaffen können. Das heißt, wir haben
nach wie vor eine Diskrepanz zwischen den Arbeitsplät-
zen, die nachgefragt werden, und denen, die tatsächlich
angeboten werden.
Wie behelfen wir uns in einer Situation, in der die
industrielle Produktion anspringt und in den neuen Bran-
chen – regenerative Energien, Chipherstellung, Kunst-
stoffindustrie, elektrotechnische Industrie und chemi-
sche Industrie – zwar zahlreiche Arbeitsplätze entstehen,
aber nicht in ausreichendem Umfang? Wie behelfen wir
uns angesichts des Gaps zwischen Angebot und Nach-
frage? Wir bieten auf dem ersten Arbeitsmarkt geför-
derte Arbeitsplätze für diejenigen an, die Arbeit nachfra-
gen, aber nicht in der Lage sind, auf dem regulären
Arbeitsmarkt Arbeit zu finden.
Wir, die Bundesregierung, arbeiten daran, dass diese
Zeitspanne möglichst kurz ist und dass möglichst viele
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen.
Aber ich hielte es für skandalös, wenn wir einerseits Ar-
beitsplätze, die nicht sozialversicherungspflichtig sind
und die nicht auf dem regulären ersten Arbeitsmarkt zu
finden sind, nicht anbieten würden und es andererseits
zuließen, dass Menschen mit ihrer Hände Arbeit nicht
ein Einkommen erwirtschaften können, das ausreicht,
um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu
bestreiten. Herr Kollege Claus, der Skandal wäre, solche
Menschen weiter zu Hause sitzen zu lassen, zu alimen-
tieren und ihnen nicht die Möglichkeit zu geben, zu ar-
beiten. Wir arbeiten daran, dass möglichst schnell mehr
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen.
Das Wort hat nun der Kollege Jan Mücke.
Herr Minister, Sie haben vorhin über die Bedeutungvon Forschung und Entwicklung in den neuen Bundes-ländern sowie der Hochschulen und über die daraus fol-genden Möglichkeiten gesprochen, dass junge Leute, dieinnovative Ideen haben und ein Produkt entwickeln wol-len, sich, von den Universitäten kommend, selbstständigmachen, sodass Arbeitsplatzeffekte in den neuen Bun-desländern erzielt werden. Diese Strategie halten wir, dieFDP-Bundestagsfraktion, für richtig.Für uns stellt sich nur die Frage, wie diese Förderungder ostdeutschen Wissenschaftslandschaft tatsächlichaussieht. Es ist doch ein Fakt, dass beispielsweise bei derExzellenzinitiative der Bundesregierung in der erstenStufe nicht eine einzige ostdeutsche Universität in denGenuss einer zusätzlichen Förderung gekommen ist,weil offensichtlich die Voraussetzungen dafür sehr vielschlechter gewesen sind, als das in den alten Bundeslän-dern der Fall war.Erstens. Wie verträgt sich das miteinander, und wiekonkret sieht die Forschungsförderung für die neuenLänder aus, damit wir die Effekte, die Sie beschriebenhaben, erzielen können? Zweitens. Wie verträgt sich IhreAussage mit der Antwort der Bundesregierung auf dieKleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion „Umset-zung der Koalitionsvereinbarung – Ansiedlung einerGroßforschungseinrichtung in den neuen Bundeslän-dern“? Es gab diverse Ideen zu diesem Thema. Die Bun-desregierung hat uns geantwortet, dass sie nicht beab-
Metadaten/Kopzeile:
11756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Jan Mückesichtigt, eine solche Großforschungseinrichtung in denneuen Ländern in der nächsten Zeit anzusiedeln.Frau Präsidentin, wenn Sie gestatten, stelle ich nocheine dritte Frage. Sie haben in Meseberg eine OffensiveOst angekündigt. Könnten Sie erläutern, was Sie konkretdarunter verstehen und was die neuen Bundesländer da-von erwarten können?Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Kollege Mücke, Sie nennen zu Recht Forschung undEntwicklung, Hochschulen und Universitäten alsSchlüsselthemen für den Aufbau Ost. Wenn es uns ge-lingt, in der Zukunft diese Kapazitäten zu stärken, vor al-len Dingen die Verbindung zur Wirtschaft zu verstärken,dann sollte es gelingen, dass die neuen Bundesländerschneller in diesem Angleichungsprozess vorwärtskom-men.Sie haben als Erstes die Exzellenzinitiative angespro-chen. Diese ist so angelegt, dass in Deutschland nacheinheitlichen, objektiven Kriterien gesucht wird, welcheHochschuleinrichtung in der Lage ist, exemplarisch fürDeutschland Forschungsleistungen, wissenschaftlicheLeistungen zu erbringen. Wir konstatieren, dass einigeder ostdeutschen Hochschulen knapp unter der Messlattegeblieben sind und diese nicht übersprungen haben. Ichbin mir mit meiner Kollegin Schavan einig, dass wirjetzt in der zweiten Phase der Exzellenzinitiative, in deres nicht nur um die Eliteuniversitäten, sondern auch umdie Cluster geht, die eine besondere Förderung bekom-men sollen, besonders diejenigen Standorte in den Blicknehmen müssen, die besonders dynamisch Entwick-lungsfortschritte gemacht haben.Ein weiterer Punkt. Die Strategie, die Hochschulen zustärken, gründet sich zum Beispiel auf den Hochschul-pakt, den die Kollegin Schavan geschlossen hat. Ihnenist bekannt, dass wir nicht zuletzt im Rahmen derFöderalismusreform I den Ländern die Kompetenzen fürdie Hochschulentwicklung übertragen haben. Dennochinteressiert sich der Bund stark dafür, wie wir es zumBeispiel schaffen können, dass die Anzahl der Studentenauch an den ostdeutschen Hochschulen und Universitä-ten auf einem Niveau gehalten wird, dass der Lehrbe-trieb effizient und gut ist. Es gibt eine Reihe von Maß-nahmen, die dafür sorgen sollen. Der Hochschulpaktbietet eine solide Grundlage dafür.Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Programmen,die dazu dienen sollen, Drittmittel einzuwerben bzw.– ich spreche es noch einmal an – die Verbindung zwi-schen Wirtschaft und Wissenschaft herzustellen. Der In-novationswettbewerb „Wirtschaft trifft Wissenschaft“,den wir in Gang gesetzt haben, soll die Netzwerke, dieim Osten in noch viel zu ungenügender Zahl bestehen,stärken und exemplarisch aufbauen. Ich gebe Ihnen einBeispiel: Wir werden über kurz oder lang in Frankfurt/Oder die in der Welt führende Solarzellenfabrik haben.Hier entsteht ein Nukleus aus einer wissenschaftlichenForschung heraus, weil die Verbindung zwischen Wis-senschaft und Wirtschaft so eng ist. Das wollen wir stär-ken und unterstützen. Wir denken, dass das der richtigeWeg ist.Die Offensive, die wir für die neuen Bundesländer inGang setzen, bezieht sich auf die Felder, die ich bereitsvorhin in Zusammenhang mit der Frage des KollegenBlumentritt angesprochen habe. Das betrifft die Versteti-gung der Förderung für die Wirtschaft: Wir investierenin die Hochschulen; wir kümmern uns um die Infrastruk-tur; wir wollen, was die Hochschulen anbetrifft, einneues Instrument beraten und werden es hoffentlich aufden Weg bringen. Das sind die externen Forschungs-GmbHs, die den Mittelstand in die Lage versetzen, au-ßerhalb ihrer Unternehmen Forschungen ansiedeln zukönnen. Wir kümmern uns – das hatte ich bereits ausge-führt – mithilfe einer Reihe von Projekten um den Ar-beitsmarkt. Das ist die Offensive, die wir brauchen, umden Aufschwung zu beschleunigen.Sie haben mit den Großforschungseinrichtungen nochein spezielles Thema angesprochen, auf das die Bundes-regierung Bezug genommen hat. Ich denke an die Spal-lationsquelle im Raum Halle/Leipzig, über die wirimmer wieder einmal diskutiert haben. Die Forschungs-ministerin ist – auch im Hinblick auf den europäischenKontext – überzeugt davon, dass wir für eine solche Ein-richtung auf absehbare Zeit keine Unterstützung erhaltenwerden bzw. dass die Notwendigkeit zur Schaffung einersolchen Einrichtung nicht in dem Maße besteht, dass dieInvestitionen fließen können. Sollte im europäischenoder im deutschen Kontext eine neue Einrichtung reali-siert werden, werden wir selbstverständlich die neuenBundesländer wieder ins Gespräch bringen.Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Was ist über-haupt eine Großforschungseinrichtung? Bedenken Siebitte, dass wir das Biomasseforschungszentrum in denneuen Bundesländern angesiedelt haben. Wir haben zueinem Zeitpunkt darüber diskutiert, als die Fragen desKlimawandels noch gar nicht auf der Tagesordnungstanden. Jetzt stellen wir fest, dass sich unsere For-schungseinrichtung im Zentrum einer ganz wichtigenBranche befindet. Diese Einrichtung ist übrigens genauin dem Raum angesiedelt, von dem Sie sprechen. Es gibtaber momentan keine Chance, dass die Spallationsquellerealisiert wird.
Nun kommen wir zu der Frage der Kollegin Andrea
Wicklein.
Herr Minister, Sie haben zu Recht die positive Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt angesprochen, die wirjetzt glücklicherweise auch in Ostdeutschland vorfinden.Dennoch haben wir nach wie vor das Problem der Ab-wanderung von Fachkräften, die wir dringend brauchen,und insbesondere die Abwanderung von jungen Frauen,gerade aus den ländlichen Regionen. Welche Konzeptehat die Bundesregierung, um dieser Abwanderung etwasentgegenzusetzen? Welche Konzepte gibt es zur Ent-wicklung der ländlichen Räume? Wo sehen Sie da Per-spektiven?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11757
(C)
(D)
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Darauf gibt es drei Antworten: Arbeit, Arbeit, Arbeit.Arbeitsplätze schaffen in den neuen Bundesländern, inden kleinen und mittleren Städten, in den großen Bal-lungszentren, aber auch im ländlichen Raum ist die ent-scheidende Voraussetzung dafür. Diese Arbeitsplätzeentstehen nicht von selbst. Ihre Entstehung kann zwargefördert werden, Rahmenbedingungen kann man ver-bessern, aber sie müssen aus der Wirtschaft selbst, ausder Industrie, aus dem Dienstleistungsbereich entstehen.Dass wir mit unserer Strategie der Förderung richtig-liegen, das zeigt sich an den Zahlen, die wir heute vor-weisen können: Ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozentin Relation zu einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Pro-zent in den alten Bundesländern zeigt, dass wir richtiginvestiert haben, dass diese Lokomotiven jetzt in derLage sind, ein Wirtschaftswachstum zu generieren, dassich auch am Arbeitsmarkt niederschlägt.Übrigens ist interessant, dass die neuen Bundesländerzunehmend ihre geografische Lage im Hinblick auf dieneuen EU-Mitgliedstaaten ausspielen. Das, was zunächstAngst gemacht hat – dass mit der Erweiterung der Euro-päischen Union die Anzahl der Arbeitsplätze zurückgeht –,das erweist sich als nicht richtig. Wir profitieren von derErweiterung.Die Abwanderung findet übrigens auch innerhalb derneuen Bundesländer statt. Wir haben eine Vielzahl vonRegionen, die einen Bevölkerungsaufwuchs vorweisen.Ich nenne exemplarisch Dresden, Jena, Potsdam, Leip-zig und Magdeburg. In diesen Städten wird nicht nur dasnegative Sterbesaldo kompensiert, sondern es gibt dortauch einen Bevölkerungsaufwuchs. Menschen aus länd-lichen Regionen der neuen Bundesländer ziehen in dieBallungszentren der neuen Bundesländer.Das alles ist für diejenigen, die in der Region keinenArbeitsplatz finden, allein noch keine gute Nachricht.Wir haben ein Programm aufgelegt, durch das Regionenim ländlichen Raum exemplarisch identifiziert und un-terstützt werden sollen. Es soll eine Antwort auf fol-gende Fragen gegeben werden: Wie kann man Lebens-qualität im ländlichen Raum erhalten? Wie kann es eineVerantwortungsgemeinschaft zwischen dem Oberzen-trum und dem ländlichen Raum geben? Ausgewählt sindbeispielsweise die Region Stettiner Haff und die RegionSüdharz/Kyffhäuser Kreis, um vorzuführen, wie mandas tun kann. Die ersten Ansätze sind vorhanden. DieProjekte, von denen wir zunächst nur gelesen haben,sind sehr erfolgversprechend. Das wollen wir unterstüt-zen. Wir investieren eine Menge Geld in diese Projekte,die wir später auf andere Regionen übertragen wollen.Es bleibt dabei: Wir werden Unterschiede zwischenNord und Süd, Ost und West, aber auch zwischen demländlichen Raum und den Wachstumszentren haben. Wirkonzentrieren uns darauf, die Stärken zu stärken. Wennes uns gelingt, bis zum Auslaufen des Solidarpakts II,also bis 2019, zu erreichen, dass sich eine Vielzahl dieserWachstumskerne selbstständig gestaltet, aus einem sichselbst tragenden Aufschwung heraus und mit einer Wirt-schaftskraft, die sich aus sich selbst speist, dann sollte esmöglich sein, auch die ländlichen Regionen, die es deut-lich schwerer haben als die Wachstumskerne, im Rah-men des normalen Länderfinanzausgleichs mitzuziehen.
Nun hat das Wort die Kollegin Gesine Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Siehaben das Thema Forschung und Entwicklung mehrmalszu Recht angesprochen. Ich glaube, man braucht nichtdarüber zu diskutieren, dass dies ein entscheidendesThema ist. Sie haben einige Leuchttürme benannt. Siehaben aber wenig Problembewusstsein gezeigt.Die Bundesregierung hat mir auf meine Fragen geant-wortet, dass Ostdeutschland an gesamtdeutschen Förder-programmen auffällig unterdurchschnittlich beteiligt ist.Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel – das ist noch einrelativ positives –: Es fließen nur 10 Prozent der gesamt-deutschen Forschungsmittel für zukunftsorientierteEnergien in den Osten. Welche Anstrengungen, Herr Mi-nister, unternehmen Sie, um Ihre Kabinettskollegen zuüberzeugen, an dieser Stelle eine ausgewogene Zuwei-sung der Forschungsmittel zu erreichen? Welche Ideenhaben Sie entwickelt, um dem offensichtlichen Miss-stand abzuhelfen, dass nur ein geringer Anteil der Mittelfür Forschungsförderprogramme in den Osten fließt?Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Diese Gelder, Frau Abgeordnete, benötigen Adressa-ten. Wir brauchen starke Hochschulen und starke For-schungseinrichtungen, vor allen Dingen aber For-schungs- und Entwicklungskapazitäten, die an denUnternehmen angelagert sind.Wir verfügen in den neuen Bundesländern über einehervorragende Struktur der öffentlich geförderten For-schungseinrichtungen. Ich möchte in dem Zusammen-hang ausdrücklich Dank sagen der Max-Planck-Gesell-schaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, den Einrichtungender Blauen Liste, der Helmholtz-Gemeinschaft usw., diedafür gesorgt haben, dass diese Infrastruktur stabil be-steht.In diese Strukturen fließen die Gelder. Es ist dringendnötig, dass wir zwischen Mittelstand und Hochschuleoder angelagert an den Mittelstand Forschungs- und Ent-wicklungskapazitäten generieren, die dann Adressat die-ser Fördergelder sein können. Es ist also nicht auf Good-will zurückzuführen, wenn Geld fließt, bzw. aufZurückhaltung, wenn Geld nicht fließt; es bedarf kon-kreter Projekte. Weil wir um diese Schwierigkeit wissen,kümmern wir uns beispielsweise um die externen For-schungs-GmbHs.Ich will mit Zahlen noch einmal das unterstreichen,was Sie gesagt haben. In Deutschland werden von denUnternehmen rund 51 Milliarden Euro pro Jahr ausgege-ben, um zu forschen und zu entwickeln: in den Zentrender Automobilindustrie, der Elektrotechnik, wo auch im-mer. In den Osten fließen gerade einmal 1,5 Milliarden
Metadaten/Kopzeile:
11758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Bundesminister Wolfgang TiefenseeEuro dieser 51 Milliarden Euro – eine große Disparität.Diese bauen wir auch nicht dadurch ab, dass wir einenAutomobilhersteller auffordern, sein Kompetenzzen-trum, sein Design- oder Forschungs- und Entwicklungs-zentrum komplett in die neuen Bundesländer zu verle-gen. So wird es nicht gehen. Es wird aber funktionieren,wenn wir die Nuklei, die jetzt schon vorhanden sind,verstärken, sie so unterstützen, dass sie sich entwickelnkönnen und größer werden. Das ist die Zielrichtung, diewir verfolgen.Adressat sind nicht nur die Bundesregierung und dieLandesregierungen; Adressat sind vor allen Dingen dieUnternehmen selbst, die mit eigenen Mitteln dafür sor-gen müssen, dass Projekte generiert werden, die amEnde gefördert werden können. Die Verantwortung liegtalso sowohl beim Bund – er hat Rahmenbedingungen zuschaffen – als auch bei den Universitäten, Hochschulenund Unternehmen selbst.
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck.
Herr Minister, zu den Prozessen im Zusammenhang
mit der deutschen Einheit gehört auch die Fusion von
Reichsbahn und Bundesbahn zur Deutschen Bahn. Es
gab zu diesem Komplex von unserer Fraktion verschie-
dene Nachfragen, auch zu Unternehmen, die in den
neuen Ländern Besitztümer haben und Energie produ-
zieren, insbesondere zu der DB Energie GmbH. Sowohl
auf eine schriftliche Frage meines Kollegen Winfried
Hermann als auch auf eine Kleine Anfrage meiner Frak-
tion hat sich Ihr Ministerium der Antwort verweigert.
Ich möchte von Ihnen wissen, ob Ihnen bekannt ist,
dass eine Antwortverweigerung gegenüber dem Parla-
ment begründet werden muss und dass auch nicht alle
Fragen zu privatwirtschaftlichen Unternehmen abgewie-
sen werden können, insbesondere nicht zu Unternehmen,
deren hundertprozentiger Eigner der Bund ist. Das Parla-
ment wird, wenn der Gesetzentwurf nicht noch zurück-
gezogen wird, in dieser Woche die Debatte über die
Frage der Privatisierung der Deutschen Bahn und über
die Strategie, die verfolgt wird, beginnen. Um darüber
debattieren zu können, muss das Parlament die Fakten
erst einmal kennen; erst dann kann es entscheiden, was
es aus diesen Fakten macht.
Sind Sie bereit, dem Parlament die Fragen, die wir zur
DB Energie GmbH und zu anderen Punkten eingereicht
haben, noch zu beantworten? Wenn nicht: Woraus
schließen Sie, dass das Parlament bei diesen Fragen
dumm bleiben muss, obwohl es über diese Sachverhalte
entscheidet?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Ich gehe davon aus, dass wir am Freitag hier im Parla-
ment den Gesetzentwurf zur Neuorganisation der Eisen-
bahnen des Bundes beraten werden. Ich gehe also nicht
davon aus, dass er zurückgezogen wird, um diesem
Nebensatz gleich entgegenzutreten. Ich werde dem Vor-
gang nachgehen und Ihnen eine entsprechende Antwort
zukommen lassen.
Bis wann – die Antwort kann ja in die aktuellen Bera-
tungen mit einfließen – kann das Parlament mit einer Be-
antwortung unserer Fragen rechnen, nachdem Ihr Haus
zunächst die schriftliche Antwort in Drucksache 16/6222
verweigert hat?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Ich werde das in zwei Phasen tun. Zunächst einmal
werde ich prüfen, ob eine Antwort möglich ist, und wenn
sie möglich ist, werde ich sie dem Parlament in der ange-
messenen Zeit zukommen lassen.
Herr Kollege Beck, die nächste Fragestellerin ist die
Kollegin Sabine Zimmermann.
Danke schön. – Herr Minister, Sie kommen ebensowie ich aus Sachsen. Ich möchte noch einmal an dieFrage des Kollegen Hettlich von den Grünen anschlie-ßen und auf die Kürzung der GA-Mittel eingehen. Esgeht nicht nur um 50 Millionen Euro, sondern auch umden Anteil der Länder. Insgesamt sind es dann100 Millionen Euro, die dem Mittelstand verloren ge-hen. Nach Sachsen geht jeder vierte Euro.Ich frage Sie: Sind Sie mit mir der Auffassung, dassgerade durch diese Einsparung von 100 Millionen Euroim Mittelstandsbereich die Schaffung von Arbeitsplät-zen verhindert wird, weil gerade der Mittelstand diemeisten Arbeitsplätze in Deutschland schafft?Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Nein. Erstens bin ich nicht der Meinung, dass wir da-mit die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindern. Wirhaben in einigen Ländern Probleme mit dem Abfluss derGA-Mittel; das wissen Sie. Dazu zählt nicht das Land,aus dem offensichtlich wir beide kommen.Zweitens ist im Rahmen der Haushaltsdebatte – unterFederführung meines Kollegen Glos – über die Fragediskutiert worden, inwieweit wir diesen Haushalt fort-führen können. Wir haben den Posten der GA-Mittelleicht senken müssen, um einen ausgeglichenen Haus-halt zu erreichen, stützen uns aber in der Kopplung vonGA-Mitteln und Investitionszulage immerhin auf einenBetrag, der per anno weit über 1 Milliarde Euro beträgt.Wir werden die GA-Mittel und ihre Anwendung inden einzelnen Bundesländern weiter verfolgen, und ichgehe davon aus, dass wir, wenn es Spielräume gibt, auchin dieser Position Flexibilität beweisen. Es soll nach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11759
(C)
(D)
Bundesminister Wolfgang TiefenseeMöglichkeit kein Investor abgewiesen und keine Investi-tion verhindert werden.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Klaas Hübner.
Herr Minister, die ostdeutschen Länder werden in na-
her Zukunft ausgeglichene Haushalte vorlegen können,
was sehr zu begrüßen ist. Wie beurteilen Sie vor diesem
Hintergrund die zugesagten Leistungen aus dem
Solidarpakt II?
Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:
Es ist ein sehr erfreulicher Umstand, dass sowohl die
Länder als zunehmend auch die Kommunen ausgegli-
chene Haushalte vorlegen können. Wir dürfen nicht ver-
gessen: Ausgeglichener Haushalt heißt, dass genauso
viel ausgegeben wird, wie eingenommen wird. Dabei
darf aber ebenso nicht vergessen werden, dass sowohl
auf der Länder- als auch auf der Kommunalebene noch
ein extremer Schuldenberg abzutragen ist. Diese
Schwierigkeit besteht nach wie vor.
Wir wissen, dass insbesondere die Städte und Ge-
meinden in den neuen Bundesländern einen hohen
Schuldenberg aufgebaut haben, um den Aufbauprozess
zu beschleunigen. Die Früchte sehen wir jetzt. Dennoch
brauchen wir Kapazität, die Schulden abzubauen.
Ich denke, wir sind einer Meinung, dass der
Solidarpakt II in seinen zwei Teilen, Korb I und Korb II,
zielgerichtet eingesetzt werden muss. In Korb I geht es
darum, insbesondere Investitionen in die Infrastruktur zu
fördern. Ich bin froh, konstatieren zu können, dass die
Bundesländer, und zwar vom Norden bis zum Süden, zu-
nehmend der Verpflichtung nachkommen, die Gelder
zweckgemäß einzusetzen, und somit auf den Pfad der
Tugend zurückkehren. Ich weiß um die extremen Belas-
tungen, die beispielsweise durch die Zusatzrentensys-
teme und durch Altschulden auf den neuen Bundes-
ländern lasten. Dennoch darf das kein Grund sein, die
Korb-I-Mittel nicht zu einem großen Teil oder sogar zu
100 Prozent für Investitionen einzusetzen.
Das Gleiche gilt für den Korb II, mit dem
51 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Hier
haben wir, wie Sie sich erinnern werden, schwierige Ver-
handlungen mit den Bundesländern gehabt. Ich bin froh
und auch etwas stolz darauf, dass wir dieses schwierige
Kapitel geräuschlos haben abschließen können. Aber
auch hier gilt, dass wir das Geld nicht nach dem Gieß-
kannenprinzip, sondern zweckgemäß und zielgenau an
der richtigen Stelle einsetzen müssen. Dazu gehören
zum Beispiel die vom Kollegen Hettlich und vom Kolle-
gen Mücke angesprochenen Forschungsgelder, die dort
etatisiert sind und den größtmöglichen Nutzen entfalten
sollen.
Ich appelliere also auch von hier aus an die Finanzmi-
nister der neuen Bundesländer, die Gelder aus dem
Korb I des Solidarpaktes zweckgemäß und zielgenau
einzusetzen, damit wir, trotz schrittweiser Reduzierung
gerade dieser Gelder, den Aufschwung bis 2019 be-
schleunigen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die Zeit
für die Regierungsbefragung schon etwas überzogen.
Weitere Fragen kann ich deshalb nicht mehr zulassen.
Herr Bundesminister, ich danke Ihnen herzlich für die
Beantwortung der Fragen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 16/6367, 16/6380 –
Zu Beginn der Fragestunde beschäftigen wir uns nach
Ziffer 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde zu-
nächst mit den dringlichen Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Am-
tes auf. Für die Beantwortung steht Herr Staatsminister
Günter Gloser zur Verfügung.
Wir kommen zunächst zur dringlichen Frage 1 des
In welcher Weise und mit welchen Argumenten war die
Bundesregierung an der Berufung des bayerischen Minister-
präsidenten Dr. Edmund Stoiber nach dem Ende seiner Amts-
zeit zum künftigen Leiter einer 15-köpfigen Expertengruppe
der Europäischen Union, EU, zum Bürokratieabbau beteiligt
bzw. informiert, die der Präsident der EU-Kommission am
Freitag, dem 14. September 2007, bekannt gegeben hat?
Herr Kollege Beck, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die Bundesregierung begrüßt, dass EU-Kommis-
sionspräsident Barroso mit der Einsetzung eines unab-
hängigen Sachverständigenausschusses zur Unterstüt-
zung der Kommission und der Mitgliedstaaten bei der
Verringerung der Verwaltungslasten ein Ergebnis des
Europäischen Rates vom 8./9. März dieses Jahres um-
setzt. Die Berufung der Mitglieder, auch von Minister-
präsident Stoiber zum ehrenamtlichen Vorsitzenden die-
ses Ausschusses, ist eine Aufgabe der Europäischen
Kommission. Eine Befassung der Mitgliedstaaten ist
nicht vorgesehen. Ich füge hinzu: Die Bundesregierung
begrüßt ausdrücklich die Benennung von Herrn
Dr. Stoiber.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege?
Ich bin erstaunt, dass Sie die Frage nicht beantwortethaben. Wir haben nicht gefragt, ob die Bundesregierungdes Begrüßens mächtig ist, sondern in welcher Weiseund mit welchen Argumenten die Bundesregierung ander Berufung beteiligt war. Hat die Bundeskanzlerin, wieman in der Zeitung lesen kann, mit Herrn Barroso inBayreuth oder anderswo gesprochen, hat sie mit ihm
Metadaten/Kopzeile:
11760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Volker Beck
telefoniert, oder hat sie gesimst – das tut sie ja zuweilenganz gerne –, um Herrn Stoiber auf seinem Altenteilnoch ein bisschen Beschäftigung zu verschaffen?
Ich wiederhole das, was ich in meiner Antwort gesagt
habe, nämlich dass es die Aufgabe des Kommissionsprä-
sidenten ist, diese Expertengruppe zu berufen.
Herr Kollege, haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja, Frau Präsidentin. – Das ist richtig. Aber wir haben
mittlerweile das Problem, dass die Bundesregierung
meint, sie sei frei, Fragen im Parlament einfach nicht zu
beantworten. Die Frage ist: War die Bundesregierung an
der Berufung beteiligt? Sie können ja sagen, sie war in
keiner Weise daran beteiligt, wenn es so war. Wenn es
anders war, sagen Sie uns das oder sagen Sie, dass Sie
das nachreichen. Aber Sie können hier nicht einfach die
Antwort auf eine Frage verweigern.
Herr Kollege Beck, ich verweigere nicht die Antwort.
Ich habe nur gesagt, dass als Folge aus den Ergebnissen
des Frühjahrsrates die Aufgabe bestand, eine solche Ex-
pertengruppe zu berufen. Die Bundesregierung ist von
der Berufung für diese Kommission lediglich vorab un-
terrichtet worden.
Es gibt nun eine weitere Nachfrage von Herrn Kolle-
gen Trittin.
Frau Präsidentin! Herr Gloser, es besteht kein Zweifel
darüber, dass die Berufung Aufgabe der Kommission ist.
Das hat auch Kollege Beck nicht bestritten. Ist es zutref-
fend, dass die Kommission – so, wie Sie es suggerieren –
diese Entscheidung, ihre ureigene Aufgabe erfüllend, ge-
troffen hat, ohne sich vorher mit den Mitgliedstaaten zu
konsultieren und damit das Herkunftsland des künftigen
ehrenamtlichen Vorsitzenden der Kommission für Büro-
kratieabbau, Dr. Edmund Stoiber, einfach übergangen
hat?
Herr Kollege Trittin, Sie wissen, dass es in der Ver-
gangenheit nicht nur zwischen der Bundesregierung und
der Europäischen Kommission einen intensiven Dialog
gegeben hat, sondern dass europäische Politik sehr stark
von den Ländern beeinflusst wird – gerade hier in
Deutschland – und es sehr viele Kontakte gegeben hat.
Insofern kommt die Frage nicht von ungefähr, ob es von
anderer Seite eine Information darüber hätte geben müs-
sen, ob Herr Stoiber nun der richtige Mann oder der
Richtige aus diesem Bundesland ist. Vielmehr war es
eine Entscheidung der Kommission.
Ich rufe die dringliche Frage 2 des Kollegen Volker
Beck auf:
Welche Rolle spielten dabei nach Kenntnis der Bundesre-
gierung die strengen Auswahlkriterien für die Berufung von
EU-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, zum Beispiel Fremd-
sprachenkenntnisse und detaillierte Kenntnis des EU-Appara-
tes, bei dieser Personalentscheidung, und welche Qualifika-
tionsmerkmale erfüllt Dr. Edmund Stoiber nach Kenntnis der
Bundesregierung für diese Tätigkeit?
Herr Kollege Beck, Sie wissen, dass es sich um ein
politisches Ehrenamt handelt. In Ihrer Frage werden eine
Reihe von Merkmalen und Qualifikationen aufgeführt,
die letztlich auch dem Personalstatut zugrunde liegen.
Aber eine ehrenamtliche Berufung setzt nicht voraus,
dass diese Regeln des Personalstatuts auf der europäi-
schen Ebene Berücksichtigung finden.
Herr Kollege Beck, Ihre Nachfrage.
Sie stimmen mir also darin zu, dass der Kollege
Stoiber zumindest keines der formalen Qualifikations-
kriterien erfüllt, die für eine andere Position bei der Eu-
ropäischen Union notwendig wären?
Nein, das habe ich mit meiner Antwort nicht gesagt,
und es ist so auch nicht richtig. Vielmehr ist für diese
Aufgabe jemand gesucht worden, der Erfahrungen aus
der Praxis mitbringt. Ich denke, da dürfte es keinen Wi-
derspruch geben.
Ihre weitere Nachfrage, bitte.
Ich stimme Ihnen ausdrücklich darin zu, dass sich der
Kollege Stoiber um den Bürokratieaufwuchs große Ver-
dienste im Freistaat Bayern erworben hat. Das ist allge-
mein unbestritten.
Ich frage aber noch einmal zu dem Sachverhalt von
vorhin nach: Gab es vor der Entscheidung der Kommis-
sion eine positive oder negative Kontaktaufnahme von
Mitarbeitern oder Mitgliedern der Bundesregierung zu
Behörden in Brüssel, um diese auf diesen Personalvor-
schlag zu bringen, oder können Sie dieses ausschließen?
Ich habe vorhin schon gesagt, wie der Ablauf gewe-sen ist. Eine solche Kontaktaufnahme ist mir nicht be-kannt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11761
(C)
(D)
Eine weitere Nachfrage hat nun der Herr Kollege
Zeil.
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Halten Sie bei Be-
rücksichtigung anderer möglicher Kandidaten und der
Zusammensetzung zum Beispiel des Normenkontroll-
rats, wie die Bundesregierung ihn implementiert hat, an-
gesichts der Defizite gerade beim Bürokratieabbau in
Bayern den in Aussicht genommenen Kandidaten für
qualifiziert?
Herr Kollege Zeil, wir kommen ja beide aus demsel-
ben Bundesland und mögen jetzt über vieles spekulieren.
Ich kann nur sagen, dass Herr Dr. Stoiber über viele
Jahre – das wissen Sie genauso gut wie ich – in Bayern
Politik als Staatssekretär, als Innenminister und als Mi-
nisterpräsident betrieben hat. Es steht mir jetzt nicht zu,
einzelne Bereiche zu bewerten. Auf jeden Fall gab es in
dem Land – wie Sie wissen – Initiativen zum Bürokratie-
abbau und zur Einsetzung einer entsprechenden Kom-
mission, die er selbst gestartet hat. Ich glaube, dass er im
Rahmen seines politischen Managements – dabei geht es
auch um das Wissen über den Einfluss von Verbänden
auf die Gesetzgebung, was letztendlich manchmal auch
Bürokratie aufgebaut hat – verschiedene Facetten ken-
nengelernt hat.
Ich glaube, dass Herr Barroso diese Entscheidung
deshalb getroffen hat, weil Herr Stoiber diese Erfahrun-
gen mitbringt.
Wir kommen nun zur dringlichen Frage 3 des Kolle-
gen Jürgen Trittin:
Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu der Auf-
forderung des französischen Außenministers Bernard Kouch-
Sanktionen durch die Vereinten Nationen, UN, auch Sanktio-
nen der Europäischen Union, EU – analog zu den einseitigen
der USA –, gegen den Iran zu verhängen, und die EU aufge-
fordert hat, sich auch auf einen Krieg gegen den Iran vorzube-
reiten, und will sie sich an einseitigen, von den UN gelösten
Sanktionen gegen den Iran beteiligen sowie sich auf einen
Krieg vorbereiten?
Herr Kollege Trittin, die Bundesregierung hat wieder-
holt deutlich gemacht, dass sie alle Anstrengungen un-
ternimmt, um in der Auseinandersetzung um das irani-
sche Nuklearprogramm zu einer Verhandlungslösung zu
kommen. Die Bundesregierung lässt auch keinen Zwei-
fel daran, dass sie keine vernünftige Alternative zu einer
Verhandlungslösung erkennen kann.
Der französische Außenminister Bernard Kouchner
hat inzwischen deutlich gemacht, dass er mit seinen
jüngsten Äußerungen zur iranischen Nuklearproblematik
keineswegs so verstanden werden wolle, als ob Frank-
reich eine militärische Lösung befürworte, sondern dass
es ihm darum gegangen sei, auf die Gefahr einer militä-
rischen Eskalation des Konflikts um das iranische Nu-
klearprogramm warnend aufmerksam zu machen.
Die Bundesregierung ist weiterhin der Überzeugung,
dass die Wahrung der Geschlossenheit der drei Partner
aus Europa plus der drei anderen Partner, also der USA,
Russlands und Chinas, eine entscheidende Vorausset-
zung für einen Erfolg der Bemühungen um eine friedli-
che Lösung des Nuklearstreits mit Iran bleibt. Wenn
Sanktionen gegenüber Iran wirksam sein sollen, müssen
sie global gelten und daher im Sicherheitsrat der Verein-
ten Nationen beschlossen werden. Die Bundesregierung
beteiligt sich konstruktiv an Gesprächen über eine dritte
Sanktionsresolution. Sie tut dies in enger Abstimmung
mit den E-3-plus-3-Partnern. Die Frage eventueller EU-
Sanktionen müsste zunächst in den europäischen Gre-
mien intensiv konsultiert werden.
Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte sehr.
Herr Gloser, ich entnehme Ihrer Antwort, dass Sie
eventuelle Sanktionen nur im Zusammenhang mit den
Vereinten Nationen sehen, weil Sie die Geschlossenheit
der E 3 plus 3 wahren wollen. Das heißt, dass Sie einsei-
tige Sanktionen der EU ablehnen. In welcher Form hat
die Bundesregierung ihre Auffassung, die ja deutlich
von der des Herrn Kouchner abweicht, gegenüber der
französischen Regierung zum Ausdruck gebracht?
Herr Kollege Trittin, ich darf darauf hinweisen, dass
es gerade Initiativen Deutschlands und Frankreichs in
früheren Jahren zu verdanken ist, dass wir das Format
gefunden haben, andere kritische Partner einzubeziehen.
Ich füge ferner hinzu, dass wir gerade während unserer
deutschen Präsidentschaft von der französischen Seite
Unterstützung für diese entsprechenden Initiativen be-
kommen haben. Es ist ein richtiger Ansatzpunkt der
französischen Seite, dass wir geschlossen vorgehen. Das
heißt, die E 3 plus 3 müssen zusammenbleiben; der an-
dere Aspekt spielt keine Rolle.
Herr Kollege Trittin.
Herr Staatsminister, wenn Sie zu Recht darauf ver-weisen, dass es eine gute Tradition Europas gegeben hat,wie man an diese Frage herangeht, und Sie jetzt mit ei-nem durch den Präsidentenwechsel in Frankreich offen-kundig veränderten Kurs Frankreichs konfrontiert sind,dann ist doch die Frage berechtigt, welche Mittel Sieeinsetzen wollen, um zu europäischer Geschlossenheitauf Basis der bisher bewährten Linie zurückzukehren.
Metadaten/Kopzeile:
11762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Herr Kollege Trittin, es gibt ja neue Äußerungen des
französischen Außenministers Bernard Kouchner. Er hat
entgegen den Meldungen, die einen Tag vorher veröf-
fentlicht worden sind, eindeutig gesagt, dass ihm eine
kriegerische Lösung oder andere Alternativen fernlägen.
Der erste Schritt müsse vielmehr sein, die Geschlossen-
heit, die effiziente Vorgehensweise, die bereits in den
letzten beiden Jahren praktiziert worden sei, weiterhin
zu verfolgen.
Der andere Aspekt ist – ich unterstreiche für die Bun-
desregierung, dass dies richtig ist –, dass wir im Rahmen
der Vereinten Nationen eine Basis finden. Eine weitere
Frage ist: Wenn es denn isolierte Maßnahmen geben
sollte, dann muss dies erst einmal im Kreis der Europäi-
schen Union erörtert werden.
Eine weitere Nachfrage hat nun die Kollegin Kerstin
Müller.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Kollege Gloser, Ihr Kollege Erler hat gesagt:
„Wir sind bereit, mit unseren Partnern weitere Sanktio-
nen zu beraten und auch zu beschließen.“ Sind Sie der
Meinung, dass die Franzosen im Zusammenhang mit
Sanktionen eine neue Linie verfolgen, also bei einem
Scheitern der P 5 gegebenenfalls EU-Sanktionen ver-
hängen wollen, und ist Deutschland bereit, auf diesem
Weg mitzugehen? Oder setzen Sie nur, wie bisher, auf
die UN-Sanktionen? Das ist die Schlüsselfrage.
Genau das ist der Punkt. Sie wissen genau, dass wir
uns in den nächsten Tagen am Rande der Versammlung
der Vereinten Nationen treffen werden. Die Politischen
Direktoren werden sich darüber abstimmen, und auch
die Außenminister werden sich treffen. Das ist ein ganz
deutliches Zeichen dafür, dass die Bundesregierung auf
dem eingeschlagenen Weg weitergehen will. Gegenüber
dem Iran kann der E-3-plus-3-Prozess nur dann Wirkung
entfalten, wenn er einen internationalen Rahmen hat.
Das heißt, wir verabschieden uns nicht von unserer bis-
herigen Position, und gegenwärtig gibt es keine Alterna-
tiven.
Zu einer weiteren Nachfrage erteile ich nun das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gehrcke.
Herr Staatsminister, wie die Bundesregierung Herrn
Kouchner verstehen will, ist die eine Sache, wie er sich
verstanden wissen will, ist eine andere. Ich halte mich
lieber an ein Zitat. Herr Kouchner hat wörtlich gesagt:
Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten.
Das ist der Krieg.
Das ist ein Zitat aus der FAZ.
Ist die Bundesregierung bereit, dem französischen
Außenminister zu sagen, dass ein derartiges öffentliches
Daherreden, das in der Politik Mode zu werden scheint,
unverantwortlich ist, wenn man einen gemeinsamen
Standpunkt vertreten will?
Herr Kollege Gehrcke, ich habe vorhin schon einmal
gesagt, dass zwischen Frankreich und Deutschland dahin
gehend Einigkeit besteht, dass die E 3 plus 3 eine Lö-
sung im Rahmen der Vereinten Nationen finden müssen.
Wir haben die Äußerungen von Bernard Kouchner fol-
gendermaßen interpretiert und verstanden: Er hat ein-
dringlich deutlich gemacht, dass wir vom Iran erwarten,
dass er jetzt, nach verschiedenen Maßnahmen, die ge-
zeigt haben, dass wir doppelgleisig fahren – auf der ei-
nen Seite Sanktionen, auf der anderen Seite eine offene
Tür für Verhandlungen –, ein deutliches Zeichen setzt.
Nun kommen wir zur dringlichen Frage 4 des Kolle-
gen Jürgen Trittin:
Sieht die Bundesregierung diese Sanktions- und Kriegs-
drohungen Frankreichs gegen den Iran als hilfreich bei der
Umsetzung des zwischen der Internationalen Atomenergie-
Organisation und dem Iran vereinbarten Zeitplans zur Klä-
rung offener Fragen zum iranischen Atomprogramm an, oder
droht diese Rhetorik diesen Fortschritt bei der Kontrolle des
iranischen Nuklearprogramms nicht vielmehr zu gefährden?
Herr Kollege Trittin, die Bundesregierung hat die
Vereinbarung eines Zeitplans zwischen Iran und der In-
ternationalen Atomenergieorganisation, IAEO, zur Klä-
rung der offenen Fragen über die Vergangenheit des ira-
nischen Nuklearprogramms begrüßt.
Der Generaldirektor dieser Behörde, Mohammed al-
Baradei, ist jedoch der Auffassung, dass dieser Schritt
nicht ausreichend ist, um das Vertrauen in den friedli-
chen Charakter des iranischen Nuklearprogramms her-
zustellen. Iran hat es in der Hand, durch Befolgung der
Forderungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
– hier ist die Suspendierung der Urananreicherung zu
nennen – den Weg zur Lösung des Streits um sein Nu-
klearprogramm zu ebnen.
Herr Kollege, eine Nachfrage, bitte.
Das, wasIran bisher geliefert hat, ist nicht hinreichend. Wie beur-teilt die Bundesregierung angesichts des Standes der Nu-klearanreicherung im Iran die Gefahr, dass solche, wieich finde, fahrlässigen Äußerungen wie die von HerrnKouchner zum Vorwand genommen werden, um die Ko-operation, auch wenn sie nicht hinreichend ist, abzubre-chen, was dazu führen könnte, dass der Iran auf der Ba-sis einer großen Anzahl von Zentrifugen tatsächlichanreichern könnte und überhaupt keinerlei Kontrolledurch die IAEO bestünde?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11763
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Trittin, in meiner Antwort auf Ihre erste
dringliche Frage habe ich bereits gesagt, dass wir einen
internationalen Rahmen dafür finden werden. Es gibt
Resolutionen. Sowohl wir als auch die iranische Seite
haben bestimmte Leistungen zu erbringen. Ich glaube
nicht, dass es auf französischer Seite hiervon eine Ab-
weichung gibt. Es sei noch einmal deutlich gesagt, dass
dem französischen Partner klar ist, dass wir zusammen-
bleiben müssen und keine Extrawege eingeschlagen
können. Vielmehr müssen wir gegenüber dem Iran Ge-
schlossenheit zeigen, um durchsetzungsfähig sein zu
können.
Eine zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatsminister, kann ich daraus schließen, dass
Sie die Auffassung von Herrn al-Baradei, dem Chef der
IAEO, teilen, dass ein solches Gerede über Sanktionen
und solche Drohungen – ich meine nicht die des UN-Si-
cherheitsrates – den konstruktiver werdenden Prozess
zwischen der IAEO und dem Iran gefährden?
Ich habe die Äußerungen von Herrn al-Baradei jetzt
nicht zu kommentieren. Ich kann nur noch einmal sagen,
dass es genau der Punkt ist. Wir haben im internationa-
len Rahmen eine Vereinbarung getroffen. In diesem
Rahmen ist sich weiter fortzubewegen. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir jetzt nicht mit unterschiedlichen Stim-
men in der E 3 plus 3 auftreten, sondern – sowohl in der
konkreten Handlung, als auch in unseren Äußerungen –
geschlossen. Ich glaube, das ist auch die Position Frank-
reichs.
Eine weitere Nachfrage dazu hat nun die Kollegin
Kerstin Müller.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Staatsminister Gloser, den Franzosen wird ja
aufgrund Kouchners Äußerungen der Vorwurf gemacht,
sie hätten sich jetzt auf die amerikanische Seite geschla-
gen. Sieht denn die Bundesregierung auf der US-ameri-
kanischen Seite die Bereitschaft zu einem umfassenden
politischen Kompromiss mit dem Iran zur Lösung des
Atomstreits oder sehen Sie eher, dass die Zeichen auf ein
längerfristig militärisch gestütztes regionales Contain-
ment stehen?
Nein, Frau Kollegin Müller, ich sehe weiterhin, dass
das die richtige Initiative ist. Sie wissen ja noch aus Ihrer
eigenen Tätigkeit, wie schwierig es zu Beginn war, diese
vier – Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die
Amerikaner – einzubinden, und dass die Amerikaner
weiterhin auf dieser Ebene gemeinsam mit uns diesen
Weg gehen.
Damit schließen wir im Bereich der dringlichen Fra-
gen diesen Geschäftsbereich ab. Herr Staatsminister,
herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums für Bildung und Forschung auf. Hier steht zur Be-
antwortung der dringlichen Frage der Parlamentarische
Staatssekretär Andreas Storm zur Verfügung.
Wir kommen zur dringlichen Frage 5 der Kollegin
Cornelia Hirsch:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den
am 18. September 2007 veröffentlichten Ergebnissen der
OECD-Studie Bildung auf einen Blick, wonach Deutschland
im weltweiten Vergleich von Rang 10 auf Rang 22 deutlich
nach unten abrutscht?
A
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Die OECD-Studie
bestätigt einerseits, dass Deutschland bei den Abschlüs-
sen der Sekundarstufe II zur Spitzengruppe der OECD-
Staaten gehört. Andererseits erfordert die internationale
Dynamik bei den Abschlüssen im Tertiärbereich zusätz-
liche Anstrengungen zur Erhöhung der Akademiker-
quote in Deutschland.
Die Bundesregierung hat zusammen mit den Ländern
bereits wichtige Weichen gestellt, um dieser Herausfor-
derung zu begegnen. So haben wir mit den Ländern den
Hochschulpakt 2020 vereinbart. Damit können die
Hochschulen bis 2010 über 90 000 zusätzliche Studien-
anfänger aufnehmen. Hierfür stellt der Bund allein bis
2010 rund 565 Millionen Euro zur Verfügung. Im Zuge
der parlamentarischen Beratungen über den Entwurf des
22. BAföG-Änderungsgesetzes beabsichtigt die Bundes-
regierung, die BAföG-Bedarfssätze und Freibeträge
deutlich anzuheben. Dies wird sowohl den Kreis der
BAföG-Berechtigten spürbar ausweiten als auch die För-
derbeträge für die BAföG-Geförderten steigen lassen,
sodass finanzielle Hürden bei der Studienentscheidung
weiter abgebaut werden.
Die Bundesregierung wird darüber hinaus im Herbst
eine nationale Qualifizierungsinitiative beschließen.
Diese wird das gesamte Spektrum unseres Bildungswe-
sens umfassen, angefangen bei der frühkindlichen Bil-
dung, über die Schule, die berufliche Bildung und das
Studium bis hin zur kontinuierlichen berufsbegleitenden
Weiterbildung. In diesem Rahmen wird der Bund ge-
meinsam mit den Ländern Strategien entwickeln, um das
deutsche Bildungssystem zukunftsfest zu machen.
Frau Kollegin, Ihre Nachfrage.
Besten Dank. – Vorab vielleicht kurz eine Anmer-kung: Ich finde es erstaunlich, merkwürdig und viel-leicht auch ein bisschen schade, dass auf Grundlage die-ser Studie in der Öffentlichkeit einhellig eine ganzmassive Kritik am bundesdeutschen Bildungssystem ge-übt wird und einzig das BMBF sagt: Im Prinzip ist doch
Metadaten/Kopzeile:
11764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Cornelia Hirschalles nicht so schlimm, wir haben schon Anstrengungenunternommen, die wir nun fortsetzen. Ich finde, das istschon ein bisschen – –
Frau Kollegin, darf ich Sie bitten, die Zeit für die Fra-
gen zu nutzen.
Ich komme zu meiner Frage.
Ich möchte in meiner ersten Frage konkrete Punkte,
die Sie angesprochen haben, aufgreifen. Das ist zum ei-
nen die BAföG-Erhöhung. Dazu wurde im Rahmen der
Haushaltsdebatte geäußert, dass Sie für das nächste Jahr
eine Erhöhung um 4 bis 5 Prozent und dann in einem
zweiten Schritt eine Erhöhung in ungefähr dem gleichen
Rahmen planen. Ist Ihnen bewusst, dass unter anderem
das Deutsche Studentenwerk berechnet hat, dass, um zu
einer bedarfsdeckenden Studienfinanzierung zu kom-
men, die Bedarfssätze beim BAföG noch in diesem Jahr
um 19 Prozent steigen müssten? Sie orientieren sich da-
bei an dem Wert, der von den Familiengerichten festge-
legt wurde, um den Lebensunterhalt während des Studi-
ums zu finanzieren. Meine Frage lautet: Ist Ihnen das
bewusst, und wie gehen Sie damit um, inwieweit halten
Sie es trotzdem für gerechtfertigt, zu sagen, dass diese
BAföG-Erhöhung ein sinnvoller und richtiger Schritt ist
und keine Aushöhlung, die es aus unserer Sicht faktisch
darstellt?
A
Frau Abgeordnete Hirsch, wie Ihnen bekannt ist, sind
relevant für die Abschätzung des Erhöhungsbedarfs
beim BAföG die Einschätzungen, vor allem aber auch
die Berechnungen des Beirates, die dem BAföG-Bericht
beiliegen, dessen Vorlage im Februar erfolgt ist. Aus der
Abwägung dieser Sachverhalte geht hervor, dass bei den
Bedarfssätzen insgesamt ein Anpassungsbedarf von bis
zu 10 Prozent und bei den Freibeträgen von bis zu
8 Prozent zu sehen ist. Im Zuge der parlamentarischen
Beratungen, die mit Sicherheit in diesem Spätherbst ab-
geschlossen werden können, wird zu entscheiden sein, in
welchem Umfang und in welchem Zeitraum eine ent-
sprechende Erhöhung erfolgen kann.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich möchte Ihren zweiten Vorschlag aufgreifen. Sie
sind auf den Hochschulpakt eingegangen und haben die-
sen als einen zweiten Schritt genannt, durch den man der
von der OECD genannten Misere etwas entgegensetzen
kann. Es gab auch am Hochschulpakt massive Kritik von
verschiedensten bildungspolitischen Organisationen. Die
Hochschulrektorenkonferenz hat unter anderem von ei-
nem Tropfen auf den heißen Stein gesprochen. Meine
Frage lautet daher – der erste Hochschulpakt ist mehr
oder weniger unter Dach und Fach –: Gibt es in der Bun-
desregierung Überlegungen dazu, oder könnten Sie sich
für einen Vorschlag erwärmen, der besagt: „Offensicht-
lich reicht all dies noch lange nicht aus, und wir unter-
nehmen auch eine Initiative zum zweiten Hochschul-
pakt“? Diesen könnte man gut mit Vorschlägen des
Deutschen Studentenwerks hinsichtlich eines Ausbaus
der sozialen Infrastruktur oder auch mit Vorschlägen von
der Bundesregierung mit dem Ziel einer familiengerech-
teren Hochschule unter dem Schlagwort „Kein Campus
ohne Kita“ koppeln. Schwerpunkt muss natürlich ein
Ausbau der Studienplatzkapazitäten sein, was im Rah-
men des ersten Hochschulpaktes noch vollkommen un-
zureichend geschieht, weil die Mittel bei Weitem nicht
ausreichen.
A
Frau Abgeordnete Hirsch, der Hochschulpakt hat ins-
gesamt eine zeitliche Reichweite bis zum Jahr 2020.
Das, was ich geschildert habe, sind die Maßnahmen zur
Schaffung von Kapazitäten in der Lehre, und zwar in ei-
ner ersten Stufe bis zum Jahr 2010. Selbstverständlich
werden für diesen Bereich auch für die Zeit nach dem
Jahr 2010 gemeinsame Maßnahmen von Bund und Län-
dern vorbereitet. Darüber hinaus geht es darum, die
Hochschulen auch im Bereich der Forschung zu stärken.
Ihnen ist bekannt, dass wir in zeitlichen Stufen eine so-
genannte Overhead-Pauschale einführen. Ferner gibt es
neben dem Hochschulpakt eine Reihe von weiteren
Maßnahmen, um die Attraktivität der Hochschulen in
Deutschland zu stärken. Ich nenne hier unter anderem
die gemeinsamen Beratungen von Bund und Ländern
mit den Hochschulen zur Fortsetzung des Bologna-Fol-
geprozesses mit der Umstellung der Studiengänge. Hier-
von sind auch wesentliche Beiträge zu erwarten, um ei-
nen Abbau der im OECD-Bericht festgestellten Defizite
– etwa die Reduzierung der Studienabbrecherquote – zu
erreichen. All dies erfolgt natürlich begleitend zum
Hochschulpakt und kann nicht Gegenstand des Hoch-
schulpaktes selber sein.
Eine weitere Nachfrage hat nun die Kollegin Sevim
Dağdelen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Storm,in dem OECD-Bericht wird noch einmal deutlich ge-macht, dass Schule und Gesellschaft vor großen Heraus-forderungen bezüglich der Integration von Migrantinnenund Migranten stehen. In diesem Zusammenhang wirdin dem neuesten Bericht noch einmal deutlich, dass derLeistungsabstand von Schülerinnen und Schülern mitMigrationshintergrund im Ländervergleich sehr unter-schiedlich ist. Deutschland weist – gemeinsam mit Bel-gien – selbst für die zweite Generation einen Abstandvon 90 Punkten auf. Welche spezifischen Maßnahmenplanen Ihr Ministerium und die Bundesregierung insge-samt, um diesen Leistungsabstand zu verringern und umdie Bildungserwartung zu erhöhen? Dabei geht es nichtnur um eine Erhöhung der Bildungserwartung von Schü-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11765
(C)
(D)
Sevim DaðdelenSevim Dağdelenlerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, son-dern auch um eine Erhöhung der Bildungserfolge.A
Die Verbesserung der Bildungschancen für Migran-
tinnen und Migranten ist eine wesentliche Aufgabe der
Bildungspolitik. Bund und Länder haben hierzu im
Hochschulbereich, vor allen Dingen auch im Bereich der
frühen Bildung eine ganze Reihe von Maßnahmen er-
griffen. Diese setzen bei der frühkindlichen Bildung und
bei der Sprachförderung an. Es geht um eine gezielte
Förderung während der Schulzeit. Vom Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung werden sehr viele Maß-
nahmen ergriffen, um jungen Menschen mit Migrations-
hintergrund einen Weg hin zu Ausbildungsplätzen zu
ermöglichen; hier sind wir gut vorangekommen. Die
Fülle dieser Maßnahmen ist in die Ergebnisse des von
der Bundeskanzlerin veranstalteten Nationalen Integra-
tionsgipfels eingeflossen.
Zu einer weiteren Nachfrage erteile ich nun das Wort
dem Kollegen Volker Schneider.
Herr Staatssekretär, ich finde es bemerkenswert, dass
Sie auf die Tatsache verweisen, dass wir, was die
Sekundarstufe II betrifft, in der Spitzengruppe sind. Am
Rande sei erwähnt: Insgesamt sind wir von Platz 10 auf
Platz 22 zurückgefallen.
Zu meiner Frage. Sie haben den Bologna-Prozess an-
gesprochen. Mittlerweile wurden erste Erfahrungen mit
den konkreten Auswirkungen dieses Prozesses gemacht.
Ich stelle in diesem Zusammenhang zunächst einmal
fest, dass die Einführung des Bachelor-Abschlusses ein
hohes Maß an Aussortierung zur Folge haben wird. Die
Einführung dieses Abschlusses bedeutet im Grunde ge-
nommen keine Qualitätsverbesserung, sondern nur eine
Verkürzung der Studiendauer. Glauben Sie – insbeson-
dere vor dem Hintergrund, dass in einigen Bereichen
fragwürdig ist, ob der Bachelor tatsächlich ein berufs-
qualifizierender Abschluss ist –, dass ein Konzept zur
reinen Verkürzung der Studiendauer geeignet ist, um den
Problemen im Bildungsbereich beizukommen?
A
Herr Abgeordneter, die nach dem Bologna-Prozess
erforderliche Umstellung der Studiengänge auf Bache-
lor- und Master-Abschlüsse dient nicht in erster Linie
einer Verkürzung der Studiendauer, sondern der Interna-
tionalisierung. An diesem Prozess sind mittlerweile
46 Länder beteiligt. Ein wesentliches Ziel ist, dafür zu
sorgen, dass der Bachelor-Abschluss berufsqualifizie-
rend ist. Hierzu findet ein permanenter Dialog zwischen
Politik, Hochschulen und vor allen Dingen der Wirt-
schaft statt. Ich darf an Kampagnen der Wirtschaft wie
etwa „Bachelor welcome!“ erinnern, mit denen dafür ge-
worben wurde, insbesondere Hochschulabgängern mit
Bachelor-Abschluss einen Arbeitsplatz anzubieten.
Im Hinblick auf Ihre Vorbemerkung ist darauf hinzu-
weisen, dass es in Deutschland, anders als in vielen an-
deren Ländern, ein System der dualen beruflichen
Ausbildung gibt, das Bildungsabschlüsse mit hervorra-
genden Qualifikationen ermöglicht, die in anderen Län-
dern mit einem Fachhochschulniveau vergleichbar sind.
Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zu
dem Ziel, die Studienanfängerquote auf 40 Prozent zu
erhöhen. In internationalen Vergleichen ist dabei aller-
dings zu berücksichtigen, dass in unserem dualen Sys-
tem qualitativ hochwertige Bildungsabschlüsse zu errei-
chen sind, diese allerdings nicht in der Akademikerquote
enthalten sind.
Eine weitere Nachfrage hat nun der Kollege
Dr. Keskin.
Herr Staatssekretär, meine Kollegin Frau Dağdelen
hat Sie ganz konkret nach Maßnahmen gefragt, die ge-
eignet sind, die Defizite im Bildungsbereich insbeson-
dere mit Blick auf benachteiligte soziale Schichten und
Kinder zu beheben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie
konkretisieren könnten, welche Maßnahmen die Bun-
desregierung ergreift, um die Situation in diesem Be-
reich zu verbessern.
A
Herr Abgeordneter Keskin, ich habe schon ausge-
führt, dass das nahezu alle Bildungsbereiche betrifft, in
denen besondere Maßnahmen zur Verbesserung der Bil-
dungschancen junger Migrantinnen und Migranten
durchgeführt werden. Was den Bund angeht, handelt es
sich vor allen Dingen um Maßnahmen zur Verbesserung
der Chancen im Rahmen der beruflichen Bildung. Es
gibt eine Reihe von Maßnahmen, durch die Defizite be-
seitigt – Stichwort: Ausbildungsreife junger Migrantin-
nen und Migranten – und die Chance auf einen Ausbil-
dungsplatz verbessert werden sollen. An dieser Stelle sei
das Förderprogramm „Jobstarter“ erwähnt, das bis zum
Jahr 2010 mit Mitteln in Höhe von insgesamt
125 Millionen Euro dotiert ist, von denen ein nicht unbe-
achtlicher Teil insbesondere zur Verbesserung der Chan-
cen junger Migrantinnen und Migranten verwendet wird.
Vergleichbare Maßnahmen werden zur Verbesserung
der Chancen der Migrantinnen und Migranten im Rah-
men der frühkindlichen Bildung durchgeführt – Stich-
wort: Sprachförderung –, um dazu beizutragen, dass ihr
Einstieg in eine erfolgreiche Schulkarriere gelingen
kann; dafür sind allerdings vor allem die Länder zustän-
dig. Vergleichbares gibt es natürlich auch im Hochschul-
bereich.
Damit sind die dringlichen Fragen beantwortet. HerrStaatssekretär, ich danke Ihnen herzlich.Wir kommen nun zu den Fragen auf Drucksache16/6367. Wir gehen in der üblichen Reihenfolge vor.
Metadaten/Kopzeile:
11766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtDie Frage 1 des Herrn Kollegen Hans-ChristianStröbele aus dem Geschäftsbereich des Bundesministe-riums der Justiz wird schriftlich beantwortet.Damit rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesmi-nisteriums der Finanzen auf. Für die Beantwortung stehtFrau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. BarbaraHendricks zur Verfügung.Wir kommen zur Frage 2 des Kollegen RainderSteenblock:Wie sehen die Pläne der Bundesregierung bzw. des Bun-desministeriums der Finanzen konkret aus, die umweltfreund-liche Energieversorgung von in Häfen liegenden Schiffen vonder Steuer zu befreien und in diesem Zusammenhang bei derEuropäischen Union eine Ausnahme von der Energiebesteue-rung zu beantragen und die „nationale Gesetzgebung anzupas-
D
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Steenblock, Sie fra-
gen danach, wie wir die landseitige Stromversorgung
von Schiffen steuerfrei zu stellen gedenken. Das Bun-
desministerium der Finanzen erarbeitet derzeit eine
möglichst praktikable Vorschrift zur Befreiung der land-
seitigen Stromversorgung von Schiffen von der Strom-
steuer. Die betroffenen Kreise werden noch zu beteiligen
sein. Parallel dazu bereitet die Bundesregierung den für
eine solche Steuerbefreiung nach Art. 19 der EU-Ener-
giesteuerrichtlinie erforderlichen Antrag bei der Kom-
mission der Europäischen Gemeinschaften vor.
Herr Kollege, Ihre Nachfrage.
F
Wann rechnen Sie damit, dass ein Ge-
setzentwurf diesem Haus vorgelegt werden kann, und
wann wird diese Steuerbefreiung EU-weit realisiert wer-
den können?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir hoffen, dass wir das etwa um die Jahreswende
erreichen können. Wir sind nicht ganz sicher, weil ein
solcher Antrag bei der Europäischen Kommission die
Zustimmung aller Mitgliedsländer bekommen muss. Das
heißt, das muss im Ecofin behandelt werden. Anderer-
seits ist nicht zu erkennen, warum es dort Widerstand
von anderen Ländern geben sollte. Die Stromsteuerbe-
freiung hat schließlich nichts mit Wettbewerbsverzer-
rung zu tun. Denn es ist ja so, dass auch die bisherige
Stromversorgung von Schiffen durch Dieselgeneratoren
steuerbefreit ist. Eine landseitige Stromversorgung hätte
demgegenüber einen erheblichen positiven Effekt auf
die Umwelt. Da dies für alle Hafenstandorte gleicherma-
ßen von Interesse wäre, können wir nicht sehen, warum
es Widerstand von anderen Mitgliedsländern geben
sollte. Im Gegenteil, wir sind hier möglicherweise Vor-
reiter, übrigens auch für die Installation der für die land-
seitige Erzeugung von Strom notwendigen Aggregate.
Keine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, herzlichen Dank.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Hier steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Ulrich Kasparick zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter
auf:
Welche Vorstöße unternimmt der Bundesminister für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung zur Ermöglichung der Fahr-
radmitnahme im ICE-Fernverkehr der bundeseigenen Deut-
schen Bahn AG, nachdem dem vom Bundesminister für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung vorgeschlagenen Pilotver-
such zur Fahrradmitnahme im ICE seitens der Deutschen
Bahn AG eine Absage erteilt wurde, und wann rechnet der
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit
einem Regelangebot zur Fahrradmitnahme im ICE?
U
Herr Dr. Hofreiter, wir haben ja hier im Plenum über
das Thema, nach dem Sie erneut fragen, mehrfach ge-
sprochen.
Ich darf Ihnen berichten, dass wir mit dem Vorstand
der Deutschen Bahn über das Thema Radverkehr im gu-
ten und regelmäßigen Gespräch sind. Sie wissen, in
Deutschland wird mit dem Rad Jahr für Jahr ein Volu-
men von etwa 3 Milliarden Kilometern zurückgelegt.
Das Rad ist ein Verkehrsmittel, das keine Emissionen hat
und deswegen für die innerstädtische Verkehrsentwick-
lung von hoher Bedeutung ist. Der Bund gibt etwa
80 Millionen Euro pro Jahr aus, um das nationale Rad-
verkehrswegenetz auszubauen. Wir sind deshalb mit der
Bahn besonders dringend im Gespräch, die Angebote,
die die Bahn hat – bei den ICs, im Personennahverkehr,
insbesondere aber bei den schnellen Strecken, bei den
ICEs –, zu verbessern.
Mein Eindruck ist, dass die Bahn bei diesem Themen-
feld in Bewegung kommt. Wir haben vom Vorstandsvor-
sitzenden der Deutschen Bahn AG vor kurzem einen
Brief erhalten zu dem von uns vorgeschlagenen Pilotver-
such, auf ausgewählten Strecken eine Fahrradmitnahme
im ICE zu testen, um zu prüfen, ob die Argumente, die
von der Deutschen Bahn vorgetragen werden, stichhaltig
sind. Herr Dr. Mehdorn war diesem Vorschlag gegen-
über, etwas zurückhaltend. Wir haben diesen Brief als
Gesprächsangebot verstanden.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege?
Wäre es möglich, dass der sehr geehrte Herr Staatsse-kretär die nächste Frage gleich beantwortet und ich die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11767
(C)
(D)
Dr. Anton HofreiterNachfragen dann im Paket stelle? Denn es handelt sichum exakt das gleiche Themenfeld.
Herr Staatssekretär, sind Sie damit einverstanden?
U
Ja, das können wir gerne machen.
Dann können wir so verfahren.
Ich rufe damit die Frage 4 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Mit welcher Argumentation hat die Deutsche Bahn AG ei-
nen Pilotversuch abgelehnt, und inwieweit konnte das Bun-
desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diese
Argumentation nachvollziehen?
U
Ich habe das eben schon indirekt beantwortet: Wir ha-
ben der Bahn vorgeschlagen, einen Pilotversuch zu ma-
chen, um die Argumente der Bahn zu prüfen. Im We-
sentlichen wird argumentiert, der Aufenthalt der Züge in
den Bahnhöfen würde sich verlängern. Es wird argu-
mentiert, die Auslastung des Angebotes sei saisonbe-
dingt; das Angebot sei von daher betriebswirtschaftlich
nicht zu rechtfertigen. Schließlich wird argumentiert, es
komme zu einer Verdrängung von Sitzplätzen. Im Mo-
ment sind wir nicht in der Lage, zu beurteilen, ob die Ar-
gumente, die von der Bahn vorgetragen werden, stich-
haltig sind.
Wir haben vorgeschlagen, diesen Pilotversuch zu ma-
chen, um diese Argumente zu überprüfen. Wir halten an
diesem Vorschlag fest und sind bereit, dafür Mittel aus
dem Haushalt zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist
mein Eindruck, dass wir, um das wirklich zu erreichen,
das weitere Gespräch brauchen.
Gefreut hat mich, dass die Deutsche Bahn sich im Be-
reich des IC-Verkehrs bewegt hat. Wir haben das Ange-
bot bekommen, beispielsweise die Buchungsmöglich-
keiten über das Internet zu verbessern. Wir haben das
Angebot bekommen, dass die DB alle Angebote, die sie
bereits formuliert hat, zusammenfasst, sodass es für den
Kunden überschaubarer wird. Wir haben ein Pilotprojekt
verabredet, im Rahmen dessen die Mietmöglichkeiten,
die man an Haltebahnhöfen des ICE hat, deutlich verbes-
sert werden sollen, und sind da im Gespräch mit privaten
Mietunternehmen. Es ist also schon der Eindruck vor-
handen, dass Bewegung im Gespräch ist. Allerdings bin
ich mit dem derzeitigen Ergebnis noch nicht zufrieden.
Ihre Nachfragen, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr
Staatssekretär, erst einmal eine Nachfrage zur Frage 3.
Da wird ganz konkret gefragt, in welchem Zeitrahmen
der Bundesminister damit rechnet, dass es ein Regelan-
gebot zur Fahrradmitnahme im ICE gibt. Dazu haben Sie
nichts ausgeführt.
U
Ich habe Ihnen den derzeitigen Gesprächsstand be-
schrieben. Wir haben das Gespräch mit der Bahn zu die-
sem Thema aufgenommen. Es hat zwei Gespräche mit
dem Vorstand Personenverkehr der Deutschen Bahn ge-
geben. Es gibt jetzt einen Brief des Vorstandsvorsitzen-
den an Herrn Bundesminister Tiefensee. Mit diesem
Brief sind wir nicht zufrieden. Deshalb habe ich etwas
salomonisch formuliert: Wir verstehen diesen Brief als
ein Gesprächsangebot. – Angesichts dieses Verhand-
lungsstandes können wir im Moment über Fristen für ein
Regelangebot noch nichts sagen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Sie haben davon gesprochen, dass Sie bereit wären,
Geld für diesen Pilotversuch in die Hand zu nehmen.
U
Ja.
Ich erwarte jetzt von Ihnen nicht, dass Sie das auf die
Kommastelle genau sagen. Aber gibt es eine ungefähre
Vorstellung im Ministerium, welche Mittel Sie bereit
wären da einzusetzen?
U
Das hängt wesentlich vom Design des Versuchs ab.
Wir haben ein paar Strecken vorgeschlagen und die
Bahn gebeten, ihrerseits Vorschläge dazu zu machen, auf
welchen Strecken man das untersuchen könnte. Es ist
kostenrelevant, welche Strecke verabredet wird. Die
Größenordnung wird nach meiner Einschätzung deutlich
unter 1 Million liegen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja. – Dem Staatssekretär müsste eigentlich bekanntsein, dass die Bahn zu 100 Prozent der öffentlichenHand gehört. Deshalb ist es erstaunlich, dass ein Bun-desminister öffentlich sagt, es wird einen Pilotversuchgeben, dann ein Angestellter eines Bundesunternehmensbekannt gibt, dass es diesen Pilotversuch nicht gebenwird, und dass wir dann hören, dass man im Gespräch
Metadaten/Kopzeile:
11768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Dr. Anton Hofreiterist. Ist es normal, dass das Bundesministerium selbst sol-che Kleinigkeiten gegenüber dem zu 100 Prozent der öf-fentlichen Hand gehörenden Unternehmen nicht durch-setzen kann?U
Sie verfolgen die Gesprächsprozesse zwischen
DB AG und Bundesverkehrsministerium auch in ande-
ren Themenfeldern sicher sehr aufmerksam. Sie können
an diesem Themenfeld sehr genau verfolgen, welche
Möglichkeiten der direkten Einflussnahme gegeben
sind. Wir brauchen das politische Gespräch miteinander.
Wir brauchen insbesondere auch ein hohes Maß an öf-
fentlicher Beteiligung an dem Gespräch. Mich freut sehr,
dass sich die Radfahrerverbände an diesem Gespräch be-
teiligen. Mein Eindruck ist, dass das im Vorstand der
Deutschen Bahn AG zunehmend wahrgenommen wird.
Herr Kollege, eine Chance haben Sie noch.
Herr Staatssekretär, wenn sich das Bundesverkehrs-
ministerium bereits bei der Fahrradmitnahme nicht
durchsetzen kann, die – wie Sie selbst genau wissen – im
Vergleich zu den Problemen, die Sie sonst mit der Bahn
haben, eine Kleinigkeit ist, stimmen Sie mir dann zu,
dass es die reinste Hybris ist, zu glauben, dass dieses
Bundesverkehrsministerium so etwas Komplexes wie
eine LuF, also eine Leistungs- und Finanzierungsverein-
barung, bei einer teilprivatisierten Bahn auch nur ansatz-
weise wird durchsetzen können, oder genügt es dem
Bundesverkehrsministerium, nette, freundliche, aber fol-
genlose Gespräche zu führen?
U
Ich teile Ihre Einschätzung nicht, dass die Gespräche,
die wir mit der Bahn führen, folgenlos sind.
Durch die politischen Projekte, die Sie ansprechen
und die uns im Deutschen Bundestag ausführlich be-
schäftigen werden, wird deutlich, dass der Gesetzgeber,
das Parlament, uns beauftragt hat, einen Finanzierungs-
vorschlag zu machen, um zusätzliche Mittel für Infra-
strukturinvestitionen freizubekommen. Diesen Auftrag
werden wir jetzt abarbeiten.
Sie wissen auch, dass es dem Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufgrund der Struk-
turen, die wir gemeinsam mit der DB AG vereinbart
haben, nicht möglich ist, auf direkte Unternehmensent-
scheidungen Einfluss zu nehmen. Dafür sind die Gre-
mien des Unternehmens zuständig. Das muss man auch
beachten, wenn man ganz konkrete verkehrsplanerische
und verkehrspolitische Umsetzungen vom Unternehmen
erwartet.
Deswegen bleibt uns nur der Weg – den gehen wir
auch –, ein drängendes, konkretes und zielorientiertes
Gespräch miteinander zu führen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen herzlich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.
Für die Beantwortung der Fragen steht Frau Parlamenta-
rische Staatssekretärin Astrid Klug zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 5 des Abgeordneten Hans-
Kurt Hill:
Wann wird die Bundesregierung bei importiertem Soja-
und Palmöl mit Blick auf die katastrophalen sozialen und öko-
logischen Folgen aufgrund des industriellen Plantagenanbaus
in den Erzeugerländern dem Deutschen Bundestag eine wirk-
same Nachhaltigkeitszertifizierung für Importbiokraftstoffe
vorlegen, und in welcher Weise wird die Bundesregierung Im-
portbeschränkungen bzw. einen Förderausschluss bei der
EEG-Verstromung solcher Produkte durchsetzen?
As
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr verehrter HerrKollege Hill, Ihre Frage beantworte ich Ihnen wie folgt:Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck an einerVerordnung, mit der sichergestellt werden soll, dass Bio-kraftstoffe nur dann auf die Erfüllung der Biokraftstoff-quote gemäß § 37 a ff. Bundes-Immissionsschutzgesetzangerechnet werden können bzw. dass für diese nur danneine Steuerentlastung gemäß § 50 Energiesteuergesetz inAnspruch genommen werden kann, wenn bei der Erzeu-gung der eingesetzten Biomasse nachweislich bestimmteAnforderungen an eine nachhaltige Bewirtschaftunglandwirtschaftlicher Flächen oder bestimmte Anforde-rungen zum Schutz natürlicher Lebensräume erfüllt wer-den oder wenn Biokraftstoffe ein bestimmtes Treibhaus-gasverminderungspotenzial aufweisen.Die bisher geführten Gespräche zwischen den zustän-digen Ressorts und ein Fachgespräch mit den zu beteili-genden Verbänden und Organisationen haben gezeigt,dass die weiteren notwendigen Abstimmungen und dieformale Anhörung nach dem Bundes-Immissionsschutz-gesetz aufgrund der komplexen und schwierigen Materienoch Zeit in Anspruch nehmen werden. Es wird aber an-gestrebt, die nationale Abstimmung bis zum Dezem-ber 2007 abzuschließen.Nach der Abstimmung auf nationaler Ebene ist derVerordnungsentwurf bei der EU-Kommission zu notifi-zieren. Wegen der Binnenmarktrelevanz und der laufen-den Arbeiten zu Nachhaltigkeitskriterien auf EU-Ebeneist damit zu rechnen, dass die EU-Kommission eine Ge-nehmigung nicht vor Abschluss der eigenen Arbeiten er-teilen wird, um kein Präjudiz zu schaffen. Aufgrund derbisherigen Erfahrung rechnen wir mit einer Dauer vonetwa 6 bis 18 Monaten.Im Übrigen ist auch zum Aufbau der weltweit anzu-wendenden Zertifizierungssysteme ein Vorlauf nötig, so-dass unabhängig vom formellen Inkrafttreten der Ver-ordnung eine Übergangsfrist bis zur vollen Wirksamkeitder Anforderungen notwendig sein wird. Andernfallskönnten mangels Zertifizierung überhaupt keine Bio-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11769
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Astrid Klugkraftstoffe mehr zur Erfüllung der Biokraftstoffquoteverwendet werden.Zum EEG. Es ist geplant, die Novellierung des Erneu-erbare-Energien-Gesetzes gemäß den Beschlüssen vonMeseberg spätestens am 5. Dezember 2007 im Kabinettzu beschließen. Im Rahmen der Novellierung des EEGplant das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit, den Einsatz von nicht nachhaltigerzeugtem Palm- und Sojaöl komplett zu unterbinden.Dies soll erfolgen, indem der Anreiz zum Einsatz dieserÖle, soweit sie nicht nachweislich nachhaltig erzeugtwurden, so weit gesenkt wird, dass ein wirtschaftlicherEinsatz nicht mehr möglich ist.
Herr Kollege, Ihre erste Zusatzfrage bitte.
Vielen Dank, Frau Kollegin Staatssekretärin. Sie ha-
ben mir eine wirklich ausreichende und erschöpfende
Antwort gegeben.
Sie sagen, dass Sie die Problematik insbesondere in
den Ländern, in denen im Plantagenanbau systematisch
nachwachsende Rohstoffe zulasten der Umwelt und der
Menschen angebaut werden, kennen. Mich interessiert
jetzt noch, welche Möglichkeiten Sie sehen, dies kurz-
fristig so zu unterbinden, dass diese Stoffe tatsächlich
nicht mehr in den entsprechenden Biomasseanlagen
bzw. Anlagen eingesetzt werden können.
A
Das Hauptproblem hinsichtlich des Einsatzes von
Palmöl sind Anlagen zur Erzeugung von Strom, durch
die die Nachfrage nach Palmöl wächst. Dies wollen wir
in Zukunft unterbinden, vor allem dann, wenn Palmöl
aus Ländern importiert werden soll, in denen nachweis-
lich Regenwälder abgeholzt werden, um es zu erzeu-
gen – was für den Klimaschutz, den wir alle ja wollen,
kontraproduktiv ist. Der wichtigste Hebel, um dies in der
Zukunft auszuschließen, ist das EEG.
Wir sehen keinen Vertrauensschutz im Hinblick auf
Anlagen, die noch gebaut werden oder in der Vergangen-
heit gebaut wurden und heute schon Palmöl einsetzen,
das nicht nachhaltig angebaut wurde. Das kommunizie-
ren wir überall, wo wir die Möglichkeit dazu haben, und
werden es in der EEG-Novelle auch gesetzlich fixieren,
sodass wir es für die Zukunft ausschließen können. Das
gelingt uns, indem wir in Zukunft keinen Nawaro-Bonus
mehr für Anlagen zahlen, die nachweislich nicht nach-
haltig produziertes Palmöl einsetzen, und indem wir für
größere Anlagen, solche über 150 Kilowatt, keine För-
derung durch das EEG mehr zulassen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ich habe noch eine Frage. Wir haben auf der einen
Seite die nationale Verpflichtung, etwas dagegen zu tun;
auf der anderen Seite können wir auf der europäischen
Ebene Einfluss nehmen. Welche Möglichkeiten sehen
Sie, internationale Standards einzuführen?
A
An genau diesem Punkt arbeiten wir. Wir wollen die
nationalen Standards, die wir entwickeln, auch zu euro-
päischen und internationalen Standards machen. Dazu
sind wir in intensivem Gespräch mit der Europäischen
Kommission. Das Thema wurde auch im Rahmen unse-
rer europäischen Präsidentschaft diskutiert. Alle Vorar-
beiten, die wir jetzt leisten, bringen wir in die europäi-
sche Debatte mit ein.
Danke schön.
Die Frage 6 des Kollegen Rainder Steenblock wird
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich danke auch Ihnen, sehr geehrte Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-
tung der Fragen steht Herr Staatssekretär Andreas Storm
zur Verfügung.
Die Frage 7 der Kollegin Cornelia Hirsch wurde zu-
rückgezogen.
Gleiches gilt für die nächste Frage nicht. Das heißt,
wir kommen zur Frage 8 der Kollegin Cornelia Hirsch:
Liegen der Bundesregierung Zahlen über die nach Maß-
gabe der personellen und sächlichen Ausstattung ausfinan-
zierten Studienplätze in Deutschland vor und, wenn ja, wel-
che?
A
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Die Frage der Abge-ordneten Hirsch nach vorliegenden Zahlenangaben zuStudienplätzen beantworte ich wie folgt: Für die Bereit-stellung von Studienplätzen sind die Länder zuständig.Eine bundesweite Übersicht über Studienplatzzahlen be-steht nicht. Auch bei den Verhandlungen zum Hoch-schulpakt 2020 haben die Länder bestätigt, dass eine ein-heitliche Feststellung von Studienplatzzahlen für alleLänder und Fächer nicht möglich ist. Daher wurde beimHochschulpakt die Zahl der zusätzlichen Studienanfän-ger als Maßstab genommen. Lediglich für die FächerMedizin, Pharmazie, Tiermedizin und Zahnmedizin so-wie – das gilt allerdings nur für einige Hochschulen –Biologie und Psychologie, in denen die Studienplätzebundesweit über die Zentralstelle für die Vergabe vonStudienplätzen – ZVS – vergeben werden, liegen kon-krete Zahlen zu den Studienplätzen an den einzelnenHochschulen vor, die auf der Homepage der ZVS veröf-fentlicht sind.
Metadaten/Kopzeile:
11770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Frau Kollegin, Ihre Nachfrage, bitte.
Besten Dank für die Antwort. – Meine erste Nach-
frage lautet: Halten Sie es für sinnvoll, dass die Bundes-
regierung keinerlei Auskunft über die Situation der Stu-
dienplätze insgesamt geben kann und trotzdem unter
anderem im Koalitionsvertrag die Vorgabe festgehalten
worden ist, die Studierendenquote auf 40 Prozent zu er-
höhen? Wie will man das leisten, wenn nicht einmal
Zahlenangaben darüber vorliegen, wie viele Studien-
plätze es zurzeit in diesem Land gibt?
A
Frau Abgeordnete Hirsch, es handelt sich hierbei um
ein statistisches Definitionsproblem. Wir haben Zahlen-
angaben zu den Studierenden und Studienanfängern. Der
Hochschulpakt basiert auf sehr konkreten Annahmen
über die Entwicklung der Zahl der Studienanfänger.
„Studienplatz“ ist ein kapazitätsrechtlicher Begriff,
der von Fach zu Fach variiert. Die Länder legen in den
Fächern, in denen keine bundeseinheitlichen Vergabe-
verfahren über die ZVS laufen, unterschiedliche kapazi-
tätsrechtliche Definitionen zugrunde. Insofern ist kein
Vergleich möglich. Es ergibt keinen Sinn, unterschied-
lich definierte Studienplätze zu addieren. Das würde be-
deuten, Äpfel und Birnen zusammenzuzählen.
Eine zweite Nachfrage, bitte.
Stimmen Sie mir zu, dass eine Änderung der Rechts-
lage ohne Weiteres möglich wäre – da der Bund auch
nach der Föderalismusreform I die Kompetenz hat, über
Hochschulzulassungen zu entscheiden –, indem man ein
bundesweites Hochschulzulassungsgesetz oder Ähnli-
ches schafft, um in der Hochschulpolitik insgesamt zu
einer sinnvolleren Planung und Abstimmung zu kom-
men und die Praxis der unterschiedlichen kapazitäts-
rechtlichen Vorgaben in jedem einzelnen Bundesland zu
stoppen, wodurch auf Bundesebene, wo eine gesamt-
staatliche Verantwortung für den Hochschulbereich exis-
tieren muss, keine umfassenden Zahlenangaben möglich
sind?
A
Frau Abgeordnete Hirsch, ich stimme Ihnen deswe-
gen nicht zu, weil wir ansonsten ausreichende statisti-
sche Informationen insbesondere zur Entwicklung der
Studienanfängerzahlen haben. In wenigen Wochen wird
uns gemeldet werden, wie sich die Studienanfängerzah-
len in den einzelnen Bundesländern zum kommenden
Wintersemester entwickelt haben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanz-
lerin und des Bundeskanzleramtes. Die Frage 9 des Ab-
geordneten Alexander Bonde wird schriftlich beantwor-
tet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen 10 und 11
der Kollegin Brigitte Pothmer werden schriftlich beant-
wortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums des Innern. Die Fragen 12 und 13 der Kolle-
gin Dr. Gesine Lötzsch werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz. Zur Beantwortung steht der Parlamentari-
sche Staatssekretär Dr. Gerd Müller zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 14 des Kollegen Dr. Hakki
Keskin von der Linkspartei:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
erneuten Gammelfleischskandal für die Lebensmittelsicher-
heit in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere hin-
sichtlich der strafrechtlichen Sanktionierung von Gammel-
fleischproduktion und -lagerung?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr
Herr Keskin, wir haben darüber heute früh lange im
zuständigen Fachausschuss diskutiert. Seit 2006, seit wir
in der Regierung sind, haben wir seitens des Bundes eine
Reihe von Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den Bun-
desländern umgesetzt. Ich nenne als herausragendes Bei-
spiel das VIG. So der Bundesrat am kommenden Freitag
zustimmt, wird es in Zukunft möglich sein, die Namen
der Betriebe zu nennen, die Gammelware in den Verkehr
bringen. Wir haben zudem das Thema Rückverfolgbar-
keit aufgegriffen. Wenn K-3-Material in den Geschäfts-
gang gebracht wird, ist eine Bestätigung, ein Rück-
schein, erforderlich. Ich nenne mit Blick auf die zweite
Frage von Herrn Keskin als Beispiel die Zuverlässig-
keitsprüfung für Lebensmittelunternehmen. Die Voraus-
setzungen dafür sind nun gegeben. Wir setzen darüber
hinaus im Oktober ein vom Kabinett beschlossenes Ge-
setzesvorhaben zur Meldepflicht um. In Zukunft sind
Lebensmittelunternehmer, die Gammelware abnehmen,
verpflichtet, dies zu melden; das ist strafsanktioniert.
Wie Sie sehen, sind wir auf allen Ebenen tätig. Die
Verbraucherschutzministerkonferenz in der vergange-
nen Woche hat sich dafür ausgesprochen, K-3-Material
einzufärben. Die EU-Kommission hat dazu erstmals grü-
nes Licht gegeben, leider nur national. Wir wünschen
uns eine europaweit einheitliche Regelung. Es wurde
noch eine Vielzahl weiterer Maßnahmen umgesetzt, aber
so viel erst einmal dazu. Ich warte auf Ihre Nachfragen.
Bitte schön, Herr Keskin, Ihre erste Nachfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11771
(C)
(D)
Herr Staatssekretär, Gammelfleischskandale beunru-
higen, ja erschüttern seit Jahren das Land. Der Bundes-
tag hätte schon längst gesetzliche Maßnahmen gegen
diesen Missbrauch ergreifen müssen. Sind Sie eigentlich
mit den Maßnahmen zufrieden, die die Verbraucher-
schutzministerkonferenz 2006 und 2007 beschlossen hat
und die nun als erledigt betrachtet werden? Sie sagten, es
seien einige Initiativen in Angriff genommen worden,
und haben einiges konkret genannt. Sind hier wirklich
strafrechtliche Maßnahmen für Leute vorgesehen, die
immer wieder einen solchen Missbrauch begehen?
Dr
Selbstverständlich. Es liegen bereits erste Urteile mit
einem Strafmaß von über vier Jahren für zurückliegende
Fälle vor. Es wurde also auch vonseiten der Strafverfol-
gungsbehörden deutlich gemacht, dass es sich hier um
keine Bagatelldelikte handelt. Dennoch werden wir mit
dem neuen Lebensmittel- und Futtermittelgesetz im Ok-
tober das Strafmaß für das vorsätzliche Inverkehrbringen
von Gammelfleisch von 20 000 Euro auf 50 000 Euro
anheben. Es wird aber trotz aller gesetzlichen Maßnah-
men nicht zu verhindern sein, dass es auch in Zukunft
auf diesem Sektor das eine oder andere Problem gibt.
Wenn ich in die Kühlschränke der 50 jungen Leute
auf der Zuschauertribüne schauen würde, dann – diese
Prognose wage ich – würde ich feststellen, dass das
Haltbarkeitsdatum des einen oder anderen Joghurts ab-
gelaufen ist. Das gilt auch für das eine oder andere Stück
Wurst, das sich in Abgeordnetenkühlschränken befindet.
Wenn das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, dann wird
es zu Gammelfleisch. Jeder Verbraucher und jede Ver-
braucherin ist aufgefordert, beim Einkaufen eine be-
wusste Entscheidung an der Theke zu treffen. Alle Be-
triebe sind aufgefordert, wachsam zu sein. Wir haben in
Deutschland eine hervorragende Versorgungs- und Si-
cherheitslage in diesem Sektor. Es gibt einzelne Vorfälle
wie im Wertinger Fall, in dem die Betroffenen hohe kri-
minelle Energie entwickelt haben. Wenn hohe kriminelle
Energie im Spiel ist, können alle möglichen Maßnahmen
nicht verhindern, dass wir solche Fälle auch in Zukunft
haben werden.
Herr Staatssekretär Müller, es entsteht der Eindruck,
als ob von den Gammelfleischskandalen speziell die Dö-
nerbranche betroffen ist. Das führt dazu, dass manche
Leute meinen, es gebe eine gelenkte Politik gegen die
Inhaber von Dönerläden. Was, glauben Sie, könnte man
tun, um diesem Eindruck entgegenzutreten?
Dr
Herr Präsident, diese Frage ist Inhalt der schriftlich
formulierten Frage 15.
Dann rufe ich die Frage 15 des Abg. Dr. Hakki
Keskin auf:
Unternimmt die Bundesregierung Aktivitäten, um den von
manchen Medien und einigen Politikern erweckten Eindruck,
es handle sich vorrangig um ein spezifisches Problem der Dö-
nerbranche, entgegenzutreten und, wenn ja, welche?
Dr
Ich möchte zunächst einmal klarstellen: Der Bund
setzt die Rahmengesetzgebung. Für die Kontrollen sind
die Länder zuständig, in Berlin somit das Land Berlin.
Dönerbetriebe sind im aktuellen Fall Geschädigte. Ich
sage aber auch: Dönerbetriebe wie jeder Abnehmer von
Fleisch und Fleischwaren stehen in der Pflicht, sich und
den Kunden zu schützen. Das heißt, wenn Billigstfleisch
zu Billigstpreisen auf dem Markt angeboten wird, ist
Vorsicht angebracht. Jeder Dönerbetrieb muss, was die
Qualität seiner Ware betrifft, seinen Kunden Zuverläs-
sigkeit garantieren. Es wird in diesem Fall nicht nur ge-
gen das Wertinger Unternehmen ermittelt, sondern auch
gegen die abnehmenden Betriebe. Aber ein Generalver-
dacht ist nicht angebracht.
Haben Sie weitere Nachfragen? – Das ist nicht der
Fall.
Die Fragen 16 und 17 der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 18 der Kollegin Ina Lenke:
In welchen Bundesländern sind privatgewerbliche Anbie-
ter unter welchen Voraussetzungen als Träger von Kinderbe-
treuungseinrichtungen zugelassen und können damit an dem
ESF-Programm zur betrieblich unterstützten Kinderbetreuung
grundsätzlich partizipieren?
Dr
Ich beantworte die Frage wie folgt: Das mit der EU-Kommission abgestimmte ESF-Programm soll das En-gagement gerade kleiner und mittlerer Unternehmen mitbis zu 1 000 Beschäftigten bei der Schaffung neuer be-triebsnaher Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jah-ren auf unbürokratische Weise unterstützen.Die Förderung ist als Anschubfinanzierung konzi-piert, um die Startphase zu erleichtern. Dazu werden dieBetriebskosten neu zu schaffender Betreuungsplätze fürdie Dauer von zwei Jahren durch eine Anteilsfinanzie-rung in Höhe von 40 Prozent bis zu einem Höchstbetragvon 5 000 Euro jährlich bezuschusst. Die Fördermittelerhält der Träger einer Betreuungseinrichtung, der miteinem Betrieb bzw. mehreren Betrieben zusammenarbei-
Metadaten/Kopzeile:
11772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kuestet. Die Betriebe entscheiden darüber, mit welchem Trä-ger sie kooperieren wollen.In allen Bundesländern brauchen die Träger einerKindertageseinrichtung, also auch privatgewerblicheAnbieter, für den Betrieb der Einrichtung die Erlaubnisdurch das zuständige Landesjugendamt nach § 45 Abs. 1Satz 1 SGB VIII. Die Erteilung einer Betriebserlaubnissetzt voraus, dass in der Einrichtung die Betreuung derKinder durch geeignete Kräfte gesichert und das Kindes-wohl gewährleistet ist. Die Länder sind gemäß § 49SGB VIII befugt, die näheren Voraussetzungen zur Er-teilung der Betriebserlaubnis, insbesondere die Stan-dards für die Eignung der Einrichtung und für die Eig-nung des Personals, selbst zu regeln. Dementsprechendsind auch in den Kita-Gesetzen der Länder sowie in denentsprechenden Erlassen und Verordnungen Anforderun-gen festgelegt, etwa in Bezug auf die pädagogische Kon-zeption der Einrichtung, die Ausbildung und die Anzahldes Betreuungspersonals sowie den Bau und die Ausstat-tung der Einrichtungen. Nach Kenntnis der Bundesregie-rung enthalten die Regelungen der Länder insoweitkeine Sonderregelung für privatgewerblich betriebeneBetreuungseinrichtungen. Daneben müssen alle Betreu-ungseinrichtungen allgemeingültige Vorgaben erfüllen,etwa in Bezug auf bauliche Anforderungen, Brand-schutz, hygienische Bedingungen usw. Privatgewerblichbetriebene Einrichtungen sind also grundsätzlich unterden gleichen Voraussetzungen zuzulassen wie Einrich-tungen öffentlicher oder privatgemeinnütziger Träger.Zur Genehmigungspraxis der nach Landesrecht je-weils zuständigen Behörden kann die Bundesregierungkeine Aussage treffen. Hierüber können nur die jeweili-gen Länder Auskunft geben.
Nachfrage, Frau Kollegin Lenke.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung gewillt,
auf die Länder zuzugehen und den Bereich der privaten
Anbieter in die Überlegungen einzubeziehen? Schließ-
lich kommt ein Drittel des Geldes vom Bund.
D
Sie sprechen jetzt das geplante Sondervermögen zur
Finanzierung von Betreuungsplätzen an. Im SGB VIII
wird geregelt werden, was danach im Einzelnen geför-
dert werden kann. Dabei wird es auch um die Rolle der
privaten Träger gehen. Wir gehen davon aus, dass sie im
Prinzip in die Jugendhilfeplanung der Länder einbezo-
gen werden.
Bitte schön, zweite Nachfrage.
Was das ESF-Programm angeht, fordern Sie wahr-
scheinlich vertragliche Bindungen zwischen dem Be-
trieb und der Einrichtung für Kinder unter drei Jahren.
Muss dieser Vertrag vor der Bezuschussung geschlossen
sein, oder gibt es die Möglichkeit, diese vertraglichen
Dinge im Nachhinein, also nachdem ein Platz bereitge-
stellt worden ist, zu regeln?
Dr
Wir werden abzuwarten haben, wie die Länder ihre
Betreuungsinfrastruktur im Einzelnen aufbauen, in wel-
chem Umfang sie auch auf privatgewerbliche Einrich-
tungen setzen. Aus Sicht der Bundesregierung ist das
prinzipiell möglich. Es hängt allerdings davon ab, ob die
Länder sie sehr bewusst einbeziehen. Wir gehen davon
aus, dass das der Fall ist. Schließlich wird man, wie wir
vermuten, bei der Erfüllung der gemeinsamen Vereinba-
rung, für 35 Prozent der unter Dreijährigen Angebote zu
schaffen, auch auf die gewerblichen Betreiber setzen.
Nun kommen wir zur Frage 19 der Kollegin Lenke:
Welche Unterstützung erhalten private und privatgewerb-
liche Initiativen zur Kindertagesbetreuung – auch mit Blick
auf Beratungsangebote – durch die Bundesregierung, und in-
wieweit sind Verbesserungen mit Blick auf eine Trägervielfalt
und die Schaffung von mehr Wettbewerb bei der Kinderbe-
treuung durch die Bundesregierung geplant?
D
Neben dem, was ich auf die Zusatzfragen schon ge-
antwortet habe, will ich ausdrücklich Folgendes sagen:
Die Bundesregierung setzt bei der Kinderbetreuung auf
Vielfalt. Wir gehen davon aus, dass Eltern zeitlich fle-
xible Angebote benötigen. Bei den künftigen Regelun-
gen wird die Bundesregierung darauf achten, dass – un-
ter der Voraussetzung der fachlichen Qualität – die
Vielfalt der Trägerlandschaft gefördert wird. Das wird
sich auch im SGB VIII – wir werden darüber im Kabi-
nett beschließen – niederschlagen.
Nachfrage.
Heute Morgen ist im Familienausschuss zwischen Ta-
gesmüttern und privaten Einrichtungen hinsichtlich der
Selbstständigkeit ein Unterschied gemacht worden. Die
Tagesmütter sind selbstständig tätig; sie sind nirgendwo
angestellt. Meine Frage ist: Wo ist der rechtliche Unter-
schied zwischen selbstständigen Tagesmüttern und pri-
vaten Anbietern, zum Beispiel Erzieherinnen?
D
Ich weiß nicht, worauf Sie jetzt im Einzelnen abhe-
ben. Vielleicht können Sie die Frage wiederholen.
Die Bundesregierung will im Hinblick auf die750 000 Plätze für Kinder unter drei Jahren ganz beson-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11773
(C)
(D)
Ina Lenkeders die Tagesmütter in die Betreuung einbeziehen. Siehat nur von den Tagesmüttern gesprochen. Tagesmütter– darüber sind wir uns einig – sind selbstständig tätig;man kann auch sagen: gewerblich-selbstständig. Diesesind in die Förderung explizit einbezogen. Aber die pri-vaten Anbieter sind nicht einbezogen.Meine Frage ist jetzt, ob Sie da Unterschiede sehen.Ansonsten müsste ein privater Anbieter von Betreuungs-plätzen für Kinder unter drei Jahre die gleichen Subven-tionstatbestände erfüllen wie eine selbstständige Tages-mutter.D
Ich sehe es nicht so, dass die privaten Anbieter bei ei-
ner Förderung prinzipiell nicht einbezogen sind. Wenn
sie die Voraussetzungen erfüllen, werden sie in gleicher
Weise Förderung erhalten. Das muss das jeweilige Land
im Rahmen der Jugendhilfeplanung festlegen.
Wir kommen zu Frage 20 der Kollegin Monika Lazar
von den Grünen:
Wann und in welcher Höhe wird die Bundesregierung Mü-
gelns Landkreis Torgau-Oschatz Fördermittel aus dem Pro-
gramm „Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitis-
mus“ zuweisen, wie es die Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend, Dr. Ursula von der Leyen, in den
D
Ich antworte darauf wie folgt: In Sachsen wird neben
dem Programm „Vielfalt tut gut“ auch das im Juli gestar-
tete Programm „Förderung von Beratungsnetzwerken –
Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ umge-
setzt. Dazu hat das Land ein landesweites Beratungs-
netzwerk eingerichtet, in das auch die Opferberatungs-
stellen in Sachsen und das mobile Beratungsteam des
Kulturbüros Sachsen e. V. aufgenommen wurden.
Die Opferberatungsstellen haben zu den beim Überfall
verletzten Indern Kontakt aufgenommen und beraten
diese. Das Mobile Beratungsteam hat auch Kontakt zum
Bürgermeister von Mügeln. Es hat eine erste Lageanalyse
erstellt und Hilfe angeboten.
Zusätzlich haben sich Bund und Land am
3. September dieses Jahres in Leipzig mit Vertretern des
Landkreises zu einem Gespräch getroffen. Im Ergebnis
wurde in dem Gespräch vereinbart, dass das Mobile Be-
ratungsteam gemeinsam mit dem Landkreis und der
Stadt eine Strategie entwickelt, die das Ziel hat, Ereig-
nisse wie in der Nacht vom 17. auf den 18. August 2007
nach Möglichkeit zukünftig auszuschließen. Teil der
Strategie soll neben der Entwicklung von Konzepten für
die Arbeit mit jungen Menschen vor allem das Aufzei-
gen von Ansprechmöglichkeiten für die lokalen deu-
tungsmächtigen Akteure sowie Unterstützungsangebote
für eine begleitende Öffentlichkeitsarbeit sein. Dabei ist
auch der Landkreis intensiv gefordert, für die Stärkung
der Zivilgesellschaft vor Ort mehr zu tun als in der Ver-
gangenheit.
Der Bund unterstützt den Landkreis durch die Finan-
zierung der Arbeit des Mobilen Beratungsteams aus Mit-
teln des Programms „Beratungsnetzwerke“ und bietet
durch die Regiestelle des Programms „Vielfalt tut gut“
auf dem Gebiet der Medienberatung bzw. des Umgangs
mit der öffentlichen Darstellung Hilfe an. Sofern sich
aus der Beratungsarbeit der Bedarf für eine konkrete
projektbezogene Hilfe ergibt, werden sich – wie ich das
heute Morgen auch schon im Ausschuss erläutert habe –
Bund und Land über Fördermöglichkeiten verständigen.
Nachfrage.
Ich habe über das Gespräch, das Anfang September in
Leipzig stattgefunden hat, sowohl mit einer Kollegin
vom Mobilen Beratungsteam als auch mit dem Dezer-
nenten von Torgau-Oschatz gesprochen. Beide haben
mir gegenüber erklärt, sie seien sehr enttäuscht, weil sie
doch andere Erwartungen hatten. Insbesondere in den
Tagen nach dem Mügelner Vorfall kam ja zum Aus-
druck, es gebe noch Möglichkeiten im Rahmen des Bun-
desprogramms „Vielfalt tut gut“. Finden Sie nicht auch,
dass man damit falsche Hoffnungen geweckt hat, wenn
jetzt stattdessen auf das ganz normale Programm der Be-
ratungsteams zurückgegriffen wird?
D
Ich kann nicht ganz ausschließen, dass durch die Dis-
kussion unmittelbar nach dem Vorfall auch falsche Er-
wartungen geweckt wurden. Ich sage aber ganz aus-
drücklich: Es kann nicht richtig sein, bei diesem
langfristig angelegten Programm anlassbezogen zu rea-
gieren. Man muss sicherlich – das habe ich Ihnen heute
Morgen im Ausschuss bereits gesagt – von Zeit zu Zeit
Bilanz ziehen, um festzustellen, was an dem Programm
richtig ist und was falsch. Wir haben bis jetzt jedenfalls
keinen Anlass, anzunehmen, diese langfristig angelegten
lokalen Aktionspläne seien falsch. Es war auch Ergebnis
der wissenschaftlichen Evaluation der ersten Pro-
gramme, die aufgelegt wurden, dass sie langfristig ange-
legt und lokal vernetzt sein müssen, damit sie eine dau-
erhafte Wirkung haben.
Dass beim dortigen Beratungsteam falsche Hoffnun-
gen geweckt wurden, kann ich mir nicht vorstellen, weil
sie von uns gefördert werden; sie haben auch jetzt eine
finanzielle Unterstützung bekommen. Sie sind voll inte-
griert und voll eingebunden. Mir scheint der richtige
Weg zu sein, mit dem Land und auch mit dem Landkreis
abzustimmen – der Sozialdezernent hat an dem Ge-
spräch teilgenommen –, was vor Ort sinnvoll und not-
wendig ist.
Zweite Nachfrage.
Metadaten/Kopzeile:
11774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Wir haben ja das zweite Bundesprogramm, um solche
kurzfristigen Krisen zu bewältigen. Das ist richtig, um
gerade den Regionen zu helfen, die keine lokalen Ak-
tionspläne haben. Wie sehen Sie aber die Chancen dafür,
auch Regionen, die keine Zusagen für lokale Aktions-
pläne haben, vor solch schlimmen Vorfällen zu bewah-
ren, egal in welchem Teil unseres Landes? Gibt es noch
eine Möglichkeit, sie im Rahmen des Programms „Viel-
falt tut gut“ zu fördern, oder ist das bis zum Ende der
Förderperiode ausgeschlossen?
D
Ich habe gesagt, dass wir in dem ganz konkreten Fall
genau hinsehen werden. Wenn sich abzeichnet, dass dort
ein Projekt notwendig ist, werden wir mit dem Land da-
rüber reden, ob der Bund es finanziert. Dabei ist egal,
wie es im Einzelnen genannt wird. Ich glaube, es ist
nachvollziehbar, dass wir nicht an jedem Ort in der Bun-
desrepublik solche Aktionspläne umsetzen können. Zu-
nächst einmal setzen wir diese 90 Pläne Schritt für
Schritt um – die Kommunen und auch die Länder brau-
chen eine gewisse Zeit dafür –, und danach werten wir
sie aus.
Ich will noch einmal sagen: Das Programm, das wir
auflegen, ist präventiv angelegt und wird nie anlassbezo-
gen reagieren können. Dafür ist das Beratungsnetzwerk
gedacht. Im Übrigen will ich ausdrücklich sagen, dass
die konkrete Jugendarbeit vor Ort völlig unabhängig da-
von ist. Wir legen größten Wert darauf und tun alles da-
für, gerade auch in den neuen Ländern, dass dort, wo
eine Zivilgesellschaft oder Bürgerschaft vielleicht nicht
in der Form existiert, wie wir uns das wünschen, Jugend-
liche und auch Erwachsene einbezogen werden. Das ist
zwingend notwendig. Deshalb empfehle ich allen, in Ju-
gendarbeit zu investieren. Jugendliche, die begleitet wer-
den und irgendwo eingebunden sind, laufen nicht so
schnell Gefahr, sich auf solche Irrwege zu begeben.
Die Frage 21 des Kollegen Kai Gehring soll schrift-
lich beantwortet werden. – Vielen Dank, Herr Staatsse-
kretär.
Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit – die Frage 22 des Kolle-
gen Frank Spieth, die Fragen 23 und 24 der Kollegin
Sibylle Laurischk und die Fragen 25 und 26 der Kollegin
Eva Bulling-Schröter – sollen schriftlich beantwortet
werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amts. Zur Beantwortung der Fragen steht der Staatsmi-
nister Günter Gloser zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Wolfgang Gehrcke
auf:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, die den Be-
richt des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Nr. 33 vom
13. August 2007, über die Zustände im US-Gefangenenlager
Guantánamo, insbesondere über systematische Folterungen
wie zum Beispiel, dass Gefangene in Ketten gehalten werden:
– „… die Gelenke liegen in Handschellen. Eine Kette schnürt
sich um seinen Bauch und fixiert seine Hände vor seinem Na-
bel, in einer Haltung der Demut“, dass eine „Extreme Re-
action Force“ in Guantánamo tätig ist: „Sie tragen Schutzklei-
dung, der Erste hat einen Plastikschild, und da ist ein Sechster
mit einer Kamera, der alles filmt. Sie sprühen dir Pfefferspray
ins Gesicht, verdrehen deine Arme und Beine und legen dir
Hand- und Fußschellen an. Sie rasieren deine Haare ab, dei-
nen Bart, deine Augenbrauen. Sie springen auf deinen Rü-
cken. Sie nehmen deinen Kopf und schlagen ihn auf den Bo-
den. Sie drücken dir ihre Finger in die Augen“ – bestätigen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Gehrcke, Sie haben in Ihrer Frage Bezug genom-
men auf einen Bericht des Nachrichtenmagazins Der
Spiegel vom 13. August 2007 über Zustände im Gefan-
genenlager Guantánamo. Ich darf Ihre Frage wie folgt
beantworten:
Die Bundesregierung hat gegenüber den Vereinigten
Staaten ihre Auffassung bezüglich Guantánamo und die
Notwendigkeit einer menschenwürdigen Behandlung
von Gefangenen mehrmals deutlich gemacht. Sie hat
höchstrangig und öffentlich erklärt, dass eine Institution
wie Guantánamo auf Dauer so nicht existieren dürfe und
dass Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den
Gefangenen gefunden werden müssten. Die Gefangenen
von Guantánamo sind unabhängig von der Frage ihres
Status im Einzelfall nach den rechtlichen Standards des
humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte zu
behandeln. Die Bundesregierung hat keine eigenen Er-
kenntnisse über die Vorgänge, über die Der Spiegel in
seiner Ausgabe vom 13. August 2007 berichtete.
Der Bundesregierung ist hingegen der Bericht einer
Gruppe von Sonderberichterstattern der Vereinten Natio-
nen vom 15. Februar 2006 bekannt, der massive Kritik
an der Behandlung der Gefangenen in Guantánamo übt.
Ich weise aber darauf hin, dass die Sonderberichterstat-
ter selbst nicht in Guantánamo gewesen sind. Am
2. Januar 2007 hat im Übrigen das FBI umfangreiche
Dokumente betreffend Untersuchungen über Misshand-
lungen von Häftlingen in Guantánamo veröffentlicht.
Daraus geht hervor, dass auf der Grundlage der Befra-
gung von insgesamt 493 FBI-Beamten 26 Hinweise auf
aggressives Verhalten gegenüber Gefangenen bzw.
Misshandlungen von Gefangenen vorliegen. Auch die
OSZE hat im Juli 2007 einen Bericht unter anderem zu
den Haftbedingungen der Gefangenen in Guantánamo
vorgelegt.
Nachfrage, Herr Kollege Gehrcke?
Herr Staatsminister, ich freue mich natürlich über diekritische Position der Bundesregierung; ich kann ihr vollzustimmen. Mir leuchtet allerdings nicht ein, warum dieBundesregierung, was Guantánamo und andere Fälle an-geht, weniger Erkenntnisse haben soll als das Nachrich-tenmagazin Der Spiegel. Es muss doch möglich sein, zusagen, ob das, was im Spiegel steht, aus Sicht der Bun-desregierung stimmt oder nicht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11775
(C)
(D)
Herr Kollege Gehrcke, ich habe auf Ihre Frage geant-
wortet, die sich ausdrücklich auf die Darstellungen im
Nachrichtenmagazin Der Spiegel bezieht. Im Übrigen
weise ich darauf hin, dass natürlich Erkenntnisse vorlie-
gen, die, vor allem wenn es sich um Erkenntnisse des
Bundesnachrichtendienstes handelt, in den zuständigen
Gremien dargelegt werden können.
Weitere Nachfrage?
Ja. – Ich fand diesen Hinweis sehr spannend. Kann
ich davon ausgehen, dass zu den zuständigen Gremien,
in denen die Bundesregierung bereit ist, weitergehende
Erkenntnisse, einschließlich der Erkenntnisse des Bun-
desnachrichtendienstes, offenzulegen, auch solche Aus-
schüsse wie der Auswärtige Ausschuss und der Men-
schenrechtsausschuss des Parlamentes gehören, und
wäre die Bundesregierung bereit, das Versprechen in
diesen Ausschüssen einzulösen?
Ich habe gerade ausgeführt, dass wir diese Erkennt-
nisse in den zuständigen Gremien werden darlegen kön-
nen.
Dann kommen wir zur Frage 28 des Kollegen
Gehrcke:
Ist die Bundesregierung bereit, die Einrichtung und die
Zustände im US-Gefangenenlager Guantánamo auf die Tages-
ordnung der UNO-Menschenrechtskommission in Genf zu
setzen?
Ich habe in meiner Antwort auf Ihre erste Frage, Herr
Kollege Gehrcke, ausdrücklich gesagt, welche Standards
unserer Auffassung nach in einem solchen Lager erfüllt
werden müssen. Wir – nicht nur die Bundesrepublik
Deutschland, sondern auch die Europäische Union – be-
finden uns in einem ständigen Dialog mit den Vereinig-
ten Staaten, um auf die Einhaltung der völkerrechtlichen
Standards zu pochen. Darüber hinaus behandeln wir im
Rahmen der bilateralen Beziehungen zwischen Deutsch-
land und den Vereinigten Staaten – Sie wissen, es gibt ei-
nen offenen und ehrlichen Dialog mit dem Außenminis-
terium der Vereinigten Staaten – gerade die Rolle des
Rechtsstaats bei der Bekämpfung des Terrorismus sehr
intensiv.
Nachfrage, Herr Kollege Gehrcke?
Herr Staatsminister, ich freue mich immer, wenn ich
eine Frage beantwortet bekomme, die ich gar nicht ge-
stellt habe. Ich habe konkret nachgefragt, ob die Bundes-
regierung bereit ist, diese Zustände, die Sie selber noch
einmal beschrieben haben, auf die Tagesordnung der
UN-Menschenrechtskommission in Genf zu setzen;
denn da gehören sie hin.
Ich habe vorhin ausgeführt, dass es in der Tat vielfäl-
tige Informationen und Dialoge zwischen Deutschland
und den Vereinigten Staaten gibt, ebenso zwischen der
Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, dass
wir aber Initiativen, die wir in bestimmten Kommissio-
nen oder im Rahmen der Vereinten Nationen planen, mit
unseren Partnern in der Europäischen Union abstimmen
wollen.
Weitere Nachfrage?
Ich versuche es noch einmal, Herr Präsident; schönen
Dank. – Irgendwie verstehen wir uns nicht. Die Frage ist
doch relativ simpel. Ich habe gefragt, ob die Bundesre-
gierung bereit ist, die Zustände, die Sie aus meiner Sicht
richtig beschrieben haben, auf die Tagesordnung des
VN-Gremiums zu setzen, das dafür zuständig ist, näm-
lich die Menschenrechtskommission in Genf. Diese
Frage kann man doch mit Ja oder Nein beantworten.
Ich habe gesagt: Wenn das so ist, dann werden wir das
mit unseren Partnern abstimmen. Derzeit ist das nicht
beabsichtigt.
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Die Fragen 29 und 30 der Kollegin Monika Knoche
sollen schriftlich beantwortet werden.
Es liegen keine weiteren Fragen vor. Damit sind wir
am Ende dieser Fragestunde.
Zwischen den Geschäftsführern ist vereinbart, dass
die Aktuelle Stunde um 16 Uhr stattfindet. Deswegen
unterbreche ich die Sitzung und werde sie um 16 Uhr
wiedereröffnen.
Die unterbrochene Sitzung ist wiedereröffnet.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der FDPHaltung der Bundesregierung zu den Äuße-rungen des Bundesministers der Verteidigung,Dr. Franz Josef Jung, in Terrorabsicht ent-führte Flugzeuge ohne gesetzliche Grundlageabschießen zu lassenIch eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hatdas Wort die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
11776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die FDP-Bundestagsfraktion will eine rationale
Debatte zur inneren Sicherheit – frei von Hysterie, Über-
treibung und Angstmacherei – führen, wie dies auch
Herr Ministerpräsident Wulff heute angemahnt hat. Das
Parlament ist dafür genau der richtige Platz. Wir lassen
uns hier nicht zu einer Quasselbude degradieren, in der
Firlefanz geredet wird.
Die FDP-Bundestagsfraktion nimmt die Herausforde-
rung des internationalen Terrorismus sehr ernst. Sie war
und ist bereit, auf dem Boden des Grundgesetzes kon-
struktiv über angemessene und sinnvolle Maßnahmen zu
beraten. Sie ist nicht bereit, Bundesverfassungsgerichts-
urteile zu missachten, das Abwägungsverbot in Bezug
auf Menschenleben außer Kraft zu setzen und einer
Amerikanisierung des deutschen Rechtes zum Beispiel
mit Einführung eines Quasiverteidigungsfalles bei terro-
ristischer Bedrohung Vorschub zu leisten.
Heute geht es um die von Ihnen, Herr Verteidigungs-
minister Jung, geäußerte Absicht, von einem angebli-
chen Recht auf übergesetzlichen Notstand Gebrauch zu
machen und den Befehl zum Abschuss eines von Terro-
risten entführten Flugzeuges, das mit Passagieren besetzt
ist, zu geben, also die Menschen in diesem Flugzeug tö-
ten zu lassen. Weiter behaupten Sie, ein Abschuss sei
nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
auch in Fällen gemeiner Gefahr oder der Gefährdung der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung möglich.
Man hat fast den Eindruck, als hätte es das Gesetzge-
bungsverfahren von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
im Hinblick auf die Regelung in § 14 Abs. 3 Luftsicher-
heitsgesetz, unter bestimmten Voraussetzungen den Ab-
schuss eines Flugzeuges zu ermöglichen, nicht gegeben.
Man hat den Eindruck, es hätte die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nicht gegeben, das ausge-
führt und damit die Verfassungswidrigkeit dieser Be-
stimmung erklärt hat, dass es gegen Art. 1 und Art. 2 un-
seres Grundgesetzes verstößt, wenn ein von Terroristen
gekapertes Passagierflugzeug, in dem neben den Terro-
risten weitere Personen an Bord sind, abgeschossen wer-
den soll. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt,
dass es schlechterdings undenkbar ist, dies gesetzgebe-
risch in Form einer Bestimmung zu regeln und damit
eine gesetzliche Grundlage für einen Abschuss zu schaf-
fen.
Es ist nicht nachvollziehbar, dass behauptet wird, das
Bundesverfassungsgericht habe mit seinen in der Be-
gründung gemachten Ausführungen den Abschuss ge-
rade nicht verbieten wollen. Herr Minister Jung, es ist
nicht möglich, sich im Voraus auf das Recht des überge-
setzlichen Notstandes zu berufen und dies als Rechts-
grundlage, als Anspruchsgrundlage für einen Abschuss
zu nehmen.
Im ersten Semester des Studiums der Rechtswissen-
schaften lernt man, dass das Institut des übergesetzlichen
Notstandes keine strafbare Handlung rechtfertigt, son-
dern eine solche Handlung in diesem Fall rechtswidrig
ist, dass es aber erst dann in Erwägung gezogen werden
kann, wenn es um die persönliche Verantwortung in ei-
ner ganz konkreten Situation geht, wenn es also bereits
zu einem solchen Konflikt gekommen ist. Sie können
das nicht antizipieren. In der gegenwärtigen Situation
liegt kein übergesetzlicher Notstand vor. Auch wenn Sie
schon jetzt alle Abwägungsprozesse vorwegnehmen, die
eigentlich erst dann ablaufen, wenn es um die persönli-
che Verantwortung geht, können Sie sich in einer solch
schwierigen Konfliktlage wahrscheinlich nicht darauf
berufen.
Herr Verteidigungsminister Jung, es ist wichtig, dass
in dieser Debatte klargemacht wird, dass Ihre Äußerun-
gen im Focus-Interview vom 17. September so nicht ste-
hen bleiben können. Sie müssen korrigiert werden. Es
muss klargemacht werden, dass das Grundgesetz und
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts strikt einge-
halten werden. Dann können Sie gerne über einen mögli-
chen politischen Handlungsspielraum diskutieren. Für
das, was Sie gefordert haben, gibt es in der Form aber
keinen Handlungsspielraum.
Wir wollen eine Diskussion, die die Gefährdung der
inneren Sicherheit durch internationalen Terrorismus
und andere Formen der Bedrohung zum Gegenstand hat,
sich aber auch darauf beschränkt. Wir müssen auf dem
Boden des Grundgesetzes stehen, unsere Grundrechte
verteidigen und im rechtsstaatlichen Verfahren die richti-
gen Antworten geben. Wir wollen den Terroristen nicht
Vorschub leisten. Sie hätten es nämlich gern, dass wir
genau das nicht tun.
Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Franz JosefJung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11777
(C)
(D)
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-gung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, dass ichdie Notwendigkeit einer politischen und verfassungs-rechtlichen Diskussion darüber sehe, wie auf die geän-derte Bedrohungslage unseres Landes zu reagieren ist.Die rot-grüne Mehrheit hat damals die Auffassungvertreten, dass man das Problem durch einfaches Gesetzlösen kann, indem man das Luftsicherheitsgesetz ent-sprechend formuliert. Die CDU/CSU-Fraktion war,wenn ich richtig informiert bin, schon damals der Mei-nung, dass dafür eine verfassungsrechtliche Klarstellungerforderlich ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat genau diese ge-setzliche Bestimmung für verfassungswidrig erklärt. Eshat gesagt, dass ein Abschuss eines unbemannten Flug-zeuges oder eines nur mit Terroristen besetzten Flugzeu-ges aus seiner Sicht möglich ist, und zwar im Rahmender Regelung zum schweren Unglücksfall, Art. 35Grundgesetz, dass dafür aber eine verfassungsrechtlicheKlarstellung erforderlich ist; denn in Art. 35 steht nur:polizeiliche Mittel. Das Bundesverfassungsgericht hatferner gesagt, dass in diesem Fall eine Abwägung Lebengegen Leben nicht stattfinden kann, weil der Grundsatzdes Art. 1 Grundgesetz – Menschenwürde – zu berück-sichtigen ist.Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich er-klärt, dass es sich nicht zu der Frage äußert, wie sich dieRechtslage bei der – ich zitiere – „Abwehr von Angrif-fen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und dieVernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsord-nung gerichtet sind“, darstellt.Heute müssen wir uns leider Terroranschläge vorstel-len, die teilweise eine andere Art und Zielsetzung haben,wie es beispielsweise mein Amtsvorgänger Georg Lebererlebt hat. Er hat zur Schlussfeier der OlympischenSpiele am 11. September 1972 die Information bekom-men, dass ein Flugzeug mit einer Bombe auf das vollbe-setzte Olympiastadion zufliegt. Er schildert in seinenMemoiren diese geradezu dramatische Konfliktsituation,als die Abfangjäger mit scharfen Waffen aufgestiegensind. Zum Glück hat sich diese Information nachher alsfalsch herausgestellt. Er hat damals gesagt – er hat es inseinen Memoiren noch einmal unterstrichen –, dass er esfür gut erachte, wenn der Vorfall einmal juristisch undpolitisch aufgearbeitet würde. Er schreibt:Niemand kann ausschließen, dass es sich in ähnli-cher Form wieder einmal ereignet.Ich denke, dass klar sein muss, dass sich unsere Sol-datinnen und Soldaten, die in einer solch schwierigen Si-tuation handeln sollen, darauf verlassen müssen, dassnur Befehle erteilt werden, die unter Berücksichtigungder tatsächlichen und der ethischen Gesichtspunkte so-wie der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung – unddamit der rechtlichen Gesichtspunkte – erfolgen. Hiermuss klar sein – das möchte ich deutlich unterstreichen –,dass die Soldaten in einer solch schwierigen Situationnicht alleingelassen werden, sondern dass die politischeVerantwortung für eine solche Entscheidung bei demje-nigen liegt, der diese Verantwortung zu tragen hat. Dasist im Zweifel der Inhaber der Befehls- und Kommando-gewalt.
Ich finde allerdings auch, dass es der Schwierigkeitder Situation nicht gerecht wird, wenn der Berichterstat-ter des Bundesverfassungsgerichts in der FAZ vom5. Januar 2007 wie folgt zitiert wird:… er habe darauf gehofft, dass es im Letzten einverantwortlicher Amtsträger auf sich nehmenwürde, das Notwendige zu vollziehen und als Per-son die Last eines Rechtsverstoßes auf sich zu la-den.Ich denke, dass unverkennbar ist, dass eine solcheExtremsituation eine enorme Gewissensbelastung für dieVerantwortlichen darstellt. In dieser Situation ist auf un-sere Rechtsordnung Rücksicht zu nehmen, die die Men-schenwürde umfasst; es ist aber auch zu berücksichtigen,dass wir einen Eid geschworen haben, Schaden vomdeutschen Volke abzuwenden.Das kann zu tragischen und schwierigsten Entschei-dungen führen. Ich finde, dass eines klar sein muss:Wehrhafte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeutennach meinem Verständnis, dass auch verheerendste undmenschenverachtendste Angriffe auf unser Gemeinwe-sen nicht außerhalb der Rechtsordnung, sondern gerademit den Mitteln der Rechtsordnung bekämpft werdenmüssen. Deshalb wünsche ich mir hier eine verfassungs-rechtliche Klarstellung durch das Parlament, das als Ver-fassungsgeber diesbezüglich in Betracht kommt.Nichts stellt unseren Rechtsstaat mehr infrage als dieBehauptung, auf seiner Grundlage sei man extremstenFormen terroristischer Angriffe wehrlos ausgeliefert.Dieser Staat ist nicht wehrlos. Ich wiederhole: Wir habendie Verpflichtung, Schaden vom deutschen Volk abzu-wenden. Ich denke, dass hier deutlich wird, welch tragi-sche und schwierige Situation entstehen kann. Ich wün-sche mir, dass ich persönlich nicht in eine Situation, inder ich eine solche Entscheidung treffen muss, kommenmöge.Wenn es aber eine solche Entscheidungssituation not-wendig macht, dann muss man dafür unter Abwägungaller Gesichtspunkte, die ich vorgetragen habe, die poli-tische Verantwortung übernehmen.
Leider sind aus meiner Sicht im Rahmen der DebatteThesen vorgetragen worden, die der Sache nicht gerechtwerden. Ich denke deshalb, dass wir gemeinsam gefor-dert sind, auch und gerade unter Berücksichtigung derRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dashier die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichenKlarstellung gesehen hat, diese Verantwortung wahrzu-nehmen. Ich glaube, wir haben eine gemeinsame Verant-wortung für die Freiheit, für das Recht, aber auch für dieSicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.
Metadaten/Kopzeile:
11778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Franz Josef JungIch danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir hatten in der alten Bun-desrepublik einmal einen Innenminister, der gesagt hat:Ich kann doch nicht immer mit dem Grundgesetz unterdem Arm herumlaufen. Jetzt haben wir einen Minister,der in voller Kenntnis des Grundgesetzes und der aktuel-len Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts imGrunde genommen sagt: Ich halte mich nicht daran, ichsetze mich darüber hinweg.– Ich finde, das ist ein bei-spielloser Vorgang.
In einem solchen Fall ist es besser, der Minister trittnicht erst nach einem Abschussbefehl zurück, sondernvorher. Die Bundeskanzlerin müsste ihn eigentlich ent-lassen.
Ich finde, der Hinweis auf die verfassungsrechtlicheKlarstellung ist eine Nebelkerze. Das Verfassungsgerichthat im Februar letzten Jahres klargestellt, der Abschussvon Flugzeugen, in denen Unbeteiligte sitzen, sei mitArt. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes nicht in Einklang zubringen.
Das ist eine eindeutige Aussage, an der Sie nicht vor-beikommen. Sie gilt genauso wie das absolute Folterver-bot. Ich finde, hier muss ganz klar sein: Wer das auf-weicht, der macht sich nicht nur strafbar, sondern derverschiebt rechtsstaatliche und moralische Maßstäbe.Das können wir allesamt nicht wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier werden Szena-rien heraufbeschworen. Sie reden einer vorbeugendenTötung von Passagieren einer gekaperten Maschine dasWort. Damit beanspruchen Sie, genau zu wissen, wie dasGanze ausgeht. Es heißt, die Menschen in der Maschinewürden ohnehin getötet. Wenn es nicht gelingt, die Ma-schine abzuschießen, würden möglicherweise noch mehrMenschen sterben. Woher wissen Sie, dass das so aus-geht? Es könnte genauso gut sein, dass den Passagierendie Entwaffnung der Terroristen gelingt. Sie aber wollenim Vorfeld darüber entscheiden. Wenn wir sagen: „DerAbschuss wird freigegeben“, dann frage ich: Wie wirktdas auf die Passagiere in dieser Maschine? Haben Siesich das einmal überlegt? Ich glaube, es ist ganz klar: Siekommen an dem Leitsatz 3 des Bundesverfassungsge-richts in Karlsruhe nicht vorbei. Diese Abwägung vonLeben gegen Leben darf es nicht geben.Ich frage mich, was Sie in dieser Sache geritten hat,wenn Sie Art. 35 des Grundgesetzes ändern bzw. erwei-tern wollen. Man kann zwar sagen, die Bundeswehrkann im Bereich der inneren Sicherheit neue Zuständig-keiten für sich reklamieren, doch das löst das Problemnicht. Deshalb denken Sie an die Erweiterung vonArt. 87 des Grundgesetzes. Auch hierdurch beseitigenSie das Verfassungsgerichtsurteil nicht; aber es ist ganzklar, worauf dies hinausläuft. Sie sagen, das sei praktischein Verteidigungsfall. Wir müssen also gegen eine solcheterroristische Attacke quasi mit dem Kriegsrecht antwor-ten. Dazu sage ich: Terrorismus bleibt ein Fall vonSchwerstkriminalität und muss entsprechend bekämpftwerden. Das ist keine Aufgabe für eine Kriegsführung.
Wenn wir es zulassen, dass hier eine Tür aufgemachtwird, dann orientieren wir uns wirklich am War onTerrorism. Ich habe ein wenig den Verdacht, dass es indiese Richtung gehen soll. Wir haben in den USA abererlebt, wohin das führt, wenn man sagt: „Wir müssen ineinem gewissen Maß die innerstaatliche Mobilmachunggegen den äußeren Feind betreiben“. Dabei bleiben oftGrundrechte und Freiheiten auf der Strecke, oder siewerden beschnitten. Genau diese Entwicklung wollenwir in der Bundesrepublik Deutschland nicht.
Herr Minister, es ist richtig – Sie haben auf dieses Di-lemma angespielt –, dass es Grenzsituationen sind, in de-nen entschieden werden muss. Daher könnten Sie nachLage der Dinge mildernde Umstände für sich geltendmachen. Aber es muss klar sein, dass die Abwägung, dieSie vornehmen, nicht rechtens ist. So zu handeln, daswäre strafbar. Diesem Problem muss man sich stellen.Man kann das nicht im Voraus regeln. Das ist der Punkt,um den es hier geht.
Noch eine Bemerkung zum Schluss. Mindestens ge-nauso schlimm wie ein vorsätzlicher Gesetzesbruch istes, andere mit hineinzuziehen. Wie wir hören, sollen so-gar schon Piloten ausgesucht worden sein, die dazu be-reit sind, alle Befehle zu 100 Prozent zu befolgen. Ichfinde, das ist ein starkes Stück. Sie sind als Ministernicht aus dem Schneider, wenn Sie zurücktreten, nach-dem Sie den Abschussbefehl gegeben haben. Denn dannmuss geprüft werden, ob dieser Befehl nicht eine Anstif-tung zum Totschlag war. Diese Verantwortung müssenSie übernehmen. Sie können zurücktreten, die Pilotenkönnen nicht einmal das.Reden Sie den Piloten auch nicht ein, sie brauchtenaufgrund des übergesetzlichen Notstands keine Skrupelzu haben. Zentral ist der Hinweis auf § 11 des Soldaten-gesetzes, in dem es heißt, dass ein Befehl, durch den eineStraftat begangen würde, nicht ausgeführt werden darf.Es ist eine ganz entscheidende Errungenschaft, die auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11779
(C)
(D)
Paul Schäfer
die Erfahrungen mit der Wehrmacht im Dritten Reichzurückgeht, dass es unseren Soldatinnen und Soldatenmöglich sein muss, einen Befehl zu verweigern. Das istdie Umsetzung des Konzepts des Staatsbürgers in Uni-form. Diese wichtige Tradition und Errungenschaft derBundeswehr dürfen wir jetzt nicht aufgeben.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, ich hätte mir gewünscht – ich sage das of-fen –, dass der heutige Tag genutzt wird, um die Dingezurechtzurücken.
Dieses Thema hilft unserer Koalition nicht, und es hilftvor allen Dingen den Soldaten nicht, die Sie in diesemZusammenhang in eine sehr schwierige Situation brin-gen. Außerdem ist dieses Thema nicht zielführend. DieMenschen erwarten von uns, dass wir das regeln, wasgeregelt werden kann, und dass wir nicht über Dingereden, die wohl nicht geregelt werden können.
Ich meine, es gibt eine Reihe von Argumenten, diedas belegen. Im Rahmen der Diskussion geht es zu-nächst einmal um staatsrechtliche Fragen. Das Bundes-verfassungsgericht hat Recht gesprochen. Wir, die wirdamals dafür gestimmt haben, lagen mit unserer Ein-schätzung falsch.
Unsere Aufgabe ist, aus Fehlern zu lernen und sie nichtsehenden Auges zu wiederholen. Klar ist: Der Wesens-gehalt von Art. 1 unseres Grundgesetzes darf nicht überandere Artikel ausgehebelt werden.
Neben der staatsrechtlichen Frage stellt sich natürlichauch die strafrechtliche Frage. Herr Minister, Ihren An-satz, darüber zu philosophieren, ob es möglicherweiseein höheres Gut der Verantwortung gibt, halte ich fürfalsch. Wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben,dann können Sie, indem Sie sich auf einen übergesetzli-chen Notstand berufen, im Nachhinein – ich sage dassehr deutlich – um Entschuldigung bitten. Aber Sie wer-den sich immer schuldig machen müssen, egal wie Siesich entscheiden.
Man sollte aber nicht von Vornherein über den überge-setzlichen Notstand diskutieren und ihn definieren.
Das ist eine sehr schwierige Debatte, die allerdingsnachgelagert zu führen ist. Es ist für einen Minister vielschwieriger als für einen Piloten oder einen Polizisten,zu sagen, was ein übergesetzlicher Notstand ist. Deshalbhilft uns dieser Begriff in der konkreten Diskussion nichtweiter.Diese Debatte hat auch eine politische Dimension.Wer glaubt, wir müssten den zweifellos vorhandenenSorgen bezüglich des Terrorismus begegnen, indem wirKriegsdefinitionen entwickeln, der führt uns wirklich indie Irre.
Das Land, das so vorgegangen ist, ist ein sehr abschre-ckendes Beispiel, an dem man allerdings erkennen kann,welche Fehler begangen werden können. Wir brauchenin der Situation der terroristischen Bedrohung Beson-nenheit statt Scheinlösungen.
Damit komme ich zum Praktischen. Wir sollten nichtglauben, der 11. September wiederholt sich auf der Welteins zu eins; das wäre fantasielos. Ich weiß nicht, wasdie Terroristen aushecken. Ich weiß aber, dass wir vielgetan haben, damit sich der 11. September 2001 nichteins zu eins wiederholen kann: dass Terroristen nichtmehr ohne Weiteres ins Cockpit kommen; dass auf demBoden viel getan wird. Außerdem hätten wir in Deutsch-land wahrscheinlich keine halbe oder dreiviertel StundeZeit zum Reagieren. Die Terroristen werden nicht imKreis herumfliegen wie der psychopathische Sportpilotin Frankfurt, sondern entschlossen ans Werk gehen. Dahelfen uns die ganzen abstrahierenden Debatten nichtweiter.
Deshalb lassen Sie uns in der Koalition tun, was getanwerden muss, Herr Minister, und das Fenster schließen,das uns das Bundesverfassungsgericht geöffnet hat,nämlich zulassen, dass dort, wo die polizeilichen Mittelin der Luft und auf See enden – nach der 12-Meilen-Zone –, militärische Mittel eingesetzt werden können,
im Rahmen der Amtshilfe nach Art. 35. Dieser Vor-schlag der Sozialdemokratie liegt seit Monaten auf demTisch. Es wundert mich sehr, dass dieses Thema immer
Metadaten/Kopzeile:
11780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Rainer Arnoldwieder neu mit falschen Argumenten gepuscht wird, an-statt dass wir uns einer realistischen Lösung zuwenden,die übrigens auch den Piloten helfen würde.
Lassen Sie uns dies in nächster Zeit bewerkstelligen!Wir müssen uns eines klarmachen: Wir können nichtso tun, als ob die einen die Gesellschaft schützen wolltenund die anderen, die darauf verweisen, dass sichArt. 87 a dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu-folge nicht dafür eignet, dies nicht tun wollten. Wir allewollen das Menschenmögliche tun, um unsere Gesell-schaft vor Terrorismus zu schützen. Wir sollten aberkeine Scheinlösungen versprechen, und wir dürfen nichtden Eindruck erwecken, als ob es absoluten Schutz gäbe;den gibt es nicht. Das müssen die Menschen wissen. Wirmüssen aufpassen, dass Rechtsstaatlichkeit und Schutzvor Terror am Ende nicht gegenläufige Ziele sind. Weruns vor Terror schützen will, muss erkennen: Rechts-staatliches Handeln und das Bestmögliche gegen Terro-risten zu tun, sind ein und dieselbe Sache. Darauf kommtes am Ende an.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele fürBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Als der Kollege Arnold gerade zu reden anfing und eineFrage an den Minister richtete, dachte ich: Ja, eine Fragehabe ich auch; die will ich auch stellen. – Dann habe ichihm mit wachsender Begeisterung zugehört, weil er jasehr viel Richtiges gesagt hat. Zuerst habe ich mir ge-dacht: Na gut, ein einzelner Abgeordneter aus der SPD.Doch dann habe ich festgestellt: Die SPD hat überwie-gend geklatscht. – Da frage ich mich doch: Was ist ei-gentlich die Auffassung der Bundesregierung – einerBundesregierung, die auch von der SPD-Fraktion getra-gen wird – in dieser Frage, wenn der Minister das einesagt, die SPD-Fraktion aber fast geschlossen zu den Auf-fassungen des Kollegen Arnold klatscht?
Auch ich stelle mir natürlich die Frage: Herr MinisterJung, welcher Teufel reitet Sie eigentlich, dass Sie seitletztem Wochenende Tag für Tag an keinem Mikrofonvorbeigehen können, ohne zu sagen: Ich bin entschlos-sen, den Befehl zu geben, Passagiermaschinen abzu-schießen, und ich habe Vorsorge getroffen, dass das vonder Bundeswehr auch umgesetzt wird: Ich weiß jetzt,welche Piloten bereit sind, auch rechtswidrige, verfas-sungswidrige, illegale Befehle zu befolgen; die anderenhaben wir aussortiert. Wir werden nur diejenigen in denEinsatz schicken, die vorher versprochen haben, meinenillegalen Befehlen zu folgen.Ich frage mich: Warum sagen Sie das in dieser Zeit je-den Tag immer wieder? Gibt es dafür einen konkretenAnlass, oder was ist der Hintergrund? Denn es kanndoch nicht sein, dass Sie die möglichen Selbstmordatten-täter meinen. Die lassen sich von solchen Ankündigun-gen sicherlich nicht beeinflussen. Richtet sich das an diePassagiere? Wenn ich das jeden Tag höre – wir sind jaalle Passagiere –, dann frage ich mich: Was sagt mir das?Wie soll ich mich verhalten? Welche Vorsichtsmaßnah-men könnte ich gegen einen solchen Befehl des Minis-ters treffen? Mir fällt dazu nichts ein.
Wenn sich das nicht an diese beiden Adressen richtet,dann bleibt nur übrig, dass Sie sich an die Öffentlichkeitrichten, dass Sie versuchen, in der Öffentlichkeit einenGewohnheitseffekt zu erreichen, dass man sagt: Es ist jaklar, wenn da ein Flugzeug gekapert worden ist und dieSelbstmordattentäter drohen, die Maschine abstürzen zulassen, dann wird dieser Befehl gegeben. Von all denAbwägungsüberlegungen, die zum Beispiel angestelltwerden müssten, wenn ein übergesetzlicher Notstand an-genommen werden sollte, sagen Sie nichts; vielmehrsind Sie fest entschlossen, diesen Befehl zu geben.Da kann ich Sie nur auf ein gestern Abend gesendetesInterview mit dem ehemaligen VerfassungsrichterJentsch aufmerksam machen, der völlig zu Recht aufFolgendes hingewiesen hat: Wenn Sie nach einem sol-chen Befehl im Erklärungsnotstand gegenüber der Öf-fentlichkeit und gegenüber Ihrem Richter sind und erklä-ren, dass Sie in einem übergesetzlichen Notstand warenund so gehandelt haben, weil Sie eine Abwägung vorge-nommen haben, dann wird er Ihnen entgegenhalten, dassSie vorher Tag für Tag immer wieder betont haben, dassSie fest entschlossen sind, das zu tun. Wo ist da der Ab-wägungsprozess, der notwendig gewesen wäre?
Weil Sie als Bundesminister nicht nur die Piloten insolche einteilen, die verfassungswidrigen, rechtswidri-gen, illegalen Befehlen gehorchen, und solche, die dasnicht tun – sie werden also ausgesondert, sie dürfen dortkeinen Dienst tun –, weil Sie selber sich dazu bereit er-klärt und gesagt haben, Sie würden das tun, Sie würdensich illegal, gesetzlos verhalten, würden solche Einsatz-befehle geben,
bei denen es um Leben und Tod von 10, 20, 50, 100 odervielleicht auch mehreren Hundert Passagieren geht, undweil das zeigt, dass Sie da die notwendigen Skrupelnicht haben, deshalb, Herr Minister, ist es nicht hin-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11781
(C)
(D)
Hans-Christian Ströbelenehmbar, dass Sie weiter im Amt sind, weiter dieserBundesregierung angehören; denn Sie sind in dieserWeise nicht nur eine Gefahr für die Truppe, sondernauch eine Gefahr für die Sicherheit in der Bundesrepu-blik Deutschland und für die Passagiere, die sich in Zu-kunft in Flugzeuge setzen.
Deshalb muss die Forderung lauten: Quittieren Sie IhrAmt, wie Sie das schon einmal im September 2000 miteinem Ministeramt in Hessen getan haben!
Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich mir die beiden letzten Reden in Erinnerungrufe, dann habe ich den Eindruck, als würden wir dieseDiskussion heute das erste Mal führen.
Deswegen will ich Sie mit ein paar Zitaten vertrautmachen:Die Abwehr terroristischer Angriffe im Land istAufgabe der Polizei.D’accord.Nur dort, wo die Bundeswehr allein über die not-wendigen Fähigkeiten verfügt, wird sie herangezo-gen. Dazu haben wir ein Luftsicherheitsgesetz ver-abschiedet, das dem Verteidigungsminister– hören Sie gut zu –erlaubt, den Befehl zu geben, terroristische An-griffe aus der Luft zu bekämpfen.An anderer Stelle wird gesagt: „notfalls auch den Ab-schuss eines von Terroristen als Waffe benutzten Passa-gierflugzeuges zu befehlen“.Das ist ein Zitat aus der damaligen Zeit der rot-grünenRegierung, vorgetragen von dem VerteidigungsministerPeter Struck.
Dies macht deutlich, dass Sie damals überzeugt waren,
dass wir diesen Bereich mit einem Gesetz rechtlich auf-füllen müssen, nämlich mit dem damals von Ihnen be-schlossenen Luftsicherheitsgesetz.
Wir haben damals gesagt: Bevor Sie das Gesetz ver-abschieden, sollten Sie mit uns gemeinsam die Verfas-sung ändern.
Dann hätte das Gesetz auch vor dem VerfassungsgerichtBestand gehabt, lieber Herr Kollege.
Durch das Zitat von damals wird deutlich, dass wir inder damaligen Situation einen Regelungsbedarf hatten.Durch die jetzigen Erklärungen von Franz Josef Jungwird deutlich, dass wir auch heute einen Regelungsbe-darf haben.
Die rot-grüne Regierung hat das Luftsicherheitsgesetzverabschiedet, weil es damals genau diesen Regelungs-bedarf gab. Die Aussagen in der gesamten Diskussionwaren übrigens ähnlich wie die heute.Sie von der Fraktion der Grünen haben das Gesetz da-mals gemeinsam mit der SPD auf den Weg gebracht. Siehaben es verabschiedet. Vor dem Bundesverfassungsge-richt haben Sie Schiffbruch erlitten.
Wenn ich heute mit Ihrer Art der Diskussion die Vor-gänge von damals beurteilen würde, dann müsste ich sa-gen, dass Sie mit dem Gesetz, das Sie damals verab-schiedet haben, bewusst in Kauf genommen haben – Siewurden vorher nämlich gewarnt –, die Verfassung zubrechen.
Deswegen muss ich an dieser Stelle feststellen: Sieversuchen den Eindruck zu hinterlassen, als wären Siebei der Behandlung dieses Themas damals nicht in derRegierung gewesen und als hätten Sie sich nicht mit dengleichen Fragen beschäftigt, mit denen wir uns heuteauch beschäftigen.
Deshalb müssen wir schauen, welchen Spielraum unsdas Verfassungsgericht gegeben hat, hier eine Regelungzu finden.
Das ist unsere Aufgabe heute.
Deswegen sage ich nach meinen Formulierungen voneben an dieser Stelle: Es ist unsere Aufgabe, jetzt
Metadaten/Kopzeile:
11782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Bernd Siebertgemeinsam darüber nachzudenken, was wir zu formulie-ren haben und was wir mehrheitlich hinbekommen, so-dass wir das Risiko beseitigen können. Die Menschendraußen erwarten von uns doch, dass wir uns nicht mo-natelang über diese Frage hinwegstehlen, sondern dasswir ihnen eine Lösung anbieten. Darum müssen wirkämpfen, dafür müssen wir arbeiten.
Das, was Sie vorgelegt haben, ist noch keine Lösung,sondern die Lösung muss umfangreicher sein und auchVerfassungsänderungen beinhalten.
– Nein.Ich will jetzt etwas zurückhaltender werden und nocheinmal darauf hinweisen:
Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Men-schen, die von uns erwarten, dass wir etwas regeln. Wirhaben diese Verantwortung gegenüber den Menschen,die sich auf Großveranstaltungen befinden und mögli-cherweise mit dem Risiko leben müssen, dass ein An-schlag stattfindet. Wir haben aber auch die Pflicht, denMenschen, die in den Flugzeugen sitzen, eine Antwortdarauf zu geben, wie wir das regeln, so wie HerrStröbele das eben durchaus auch angemahnt hat. Siemüssen diese Mahnung aber auch an sich selbst richten,lieber Herr Ströbele.
Wir haben auch die Verantwortung, eine Regelung zufinden,
durch die den Soldaten im Falle eines Falles eine Ant-wort gegeben wird. Schließlich haben wir auch eine Ver-antwortung gegenüber dem Minister, dass wir etwas re-geln.Der Minister hat uns mit seinen Formulierungen deut-lich gemacht – er hat den Finger in die Wunde gelegt –,dass wir die Situation nicht so belassen können, wie sieist. Ich denke, damit hat er nicht verantwortungslos, son-dern in höchstem Maße verantwortungsvoll gehandelt.Er verdient unsere Belobigung.
Deshalb stehen wir als Christdemokraten und Christsozi-ale hinter diesem Minister.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der FDP-Frak-
tion, Dr. Guido Westerwelle.
Herr Präsident! Herr Kollege Siebert, Sie haben zumSchluss etwas aus Ihrer Sicht Notwendiges gesagt, näm-lich dass Ihre Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, hinterden Aussagen des Ministers steht. Das war notwendig zuerwähnen. Die Mehrheit des Deutschen Bundestags stehtnicht hinter diesen Aussagen des Bundesverteidigungs-ministers.
Das ist es, was zählt.Nicht einmal die Mehrheit der Bundesregierungselbst steht hinter diesem Verteidigungsminister. Fürwen hat der von mir persönlich sehr geschätzte Herr Ver-teidigungsminister eigentlich hier gesprochen? Für dieMehrheit des Deutschen Bundestages und die Bundesre-gierung spricht er nicht. Für wen spricht er dann?Es gibt noch einen entscheidenden Grund, warum Siebis jetzt eine Regierungserklärung verweigert haben: Siewissen, dass Sie in dieser Frage alleine sind. Sie sind inder Minderheit. Sie können den Soldaten nicht solcheBefehle geben. In welche Situation bringen Sie die Sol-datinnen und Soldaten, indem Sie vortäuschen, das seirechtmäßig? Es ist rechtswidrig, und ein Minister darf soetwas auch den Soldaten nicht abverlangen.
Wir könnten es uns als Freie Demokraten sehr leichtmachen. Sie haben sich mit dem Luftsicherheitsgesetzvon SPD und Grünen auseinandergesetzt. Wir sind, wieSie wissen, die einzige Fraktion gewesen, die damalsklar dagegengestimmt hat.
Die Liberalen haben damals auch das Bundesverfas-sungsgericht angerufen. Aber es gibt einen entscheiden-den Unterschied, durch den sich eine neue Situation er-gibt. Insofern ist es, meine ich, bei allem Respekt zuhonorieren, dass Kollege Arnold das klar gesagt hat. Esgibt einen einfachen Rechtsgrundsatz zu der Frage, wasverfassungsgemäß und was verfassungswidrig ist: Romalocuta, causa finita. Wenn das Verfassungsgericht ent-schieden hat, dass etwas gegen die Verfassung verstößt,dann gilt das für jeden hier, auch für den Verteidigungs-minister. Es mag einen übergesetzlichen Notstand geben;aber kein übergesetzlicher Notstand führt über die Ver-fassung hinaus. Alle Staatsgewalt ist daran gebunden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11783
(C)
(D)
Dr. Guido WesterwelleDementsprechend ist es auch unzulässig, Herrn Kol-legen Arnold, Herrn Kollegen Ströbele und anderen, dieheute ihre Meinung geäußert haben, entgegenzuhalten,dass es sich lediglich um eine Frage der Gesetzestechnikhandele; man könne mit Änderungen der Art. 35 und87 a des Grundgesetzes hinsichtlich der Zuständigkeitenvon Bund und Ländern etwas an der Sache ändern. Neh-men Sie bitte zur Kenntnis, dass nach der Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006, dieim Übrigen von uns Liberalen erwirkt worden ist, dasAbschießen von unschuldigen Menschen in Passagier-maschinen nicht nur aus irgendwelchen formellen Grün-den nicht zulässig ist; sondern die Verfassung verbietetes auch materiell,
weil es gegen die Menschenwürde und das Recht auf Le-ben verstößt. Das sollten Sie wenigstens zur Kenntnisnehmen.
Es ist ein einmaliger Vorgang, dass die Justizministe-rin der Bundesrepublik Deutschland ihrem Kabinettskol-legen, dem Bundesverteidigungsminister, sagt, dass ersich klar verfassungswidrig äußert, dieser aber trotzdemweiterhin diese Meinung vertritt. Herr Kollege Jung, Siehaben nicht mehr viel Zeit. Aber Sie sollten sie allmäh-lich nutzen, um von einer absolut esoterischen Diskus-sion mit dramatischen Konsequenzen – übrigens auchfür das Gerechtigkeitsgefühl in unserer Bevölkerung –Abschied zu nehmen.
Sie sind doch kein Philosoph, der irgendwelche Dis-kussionen beginnen könnte. Von Ihnen erwartet man,dass Sie sich an Recht und Gesetz halten, vor allen Din-gen, dass Sie nicht nur auf dem Boden der Verfassung,sondern im Zweifelsfall auch zu ihr stehen. Das ist derfeine Unterschied.Man kann das Leben von Unschuldigen nicht gegen-einander abwägen. Man kann auch nicht das Leben vonUnschuldigen gegeneinander aufrechnen. Wo hört manauf, und wo fängt man an? Darf der Staat zehn umbrin-gen, wenn möglicherweise 100 gerettet werden können?Oder vielleicht zehn zu zwanzig, eins zu zwei oder einszu tausend?Das ist eine Diskussion, die sich der Staatsgewalt ent-ziehen muss. Der übergesetzliche Notstand, den Sie insFeld führen, führt Sie erstens über die Verfassung nichthinaus und hat zweitens den wesentlichen Charakterzug,dass er im Vorhinein nicht normiert werden kann. Abergenau das ist es, was Sie in Wahrheit wollen.
Ich sehe hierin eine sehr traurige und unglücklicheEntwicklung der Diskussion in diesem Jahr. Der Innen-minister meldet sich – von der Unschuldsvermutungüber das Töten auf Verdacht bis zum Szenario eines ato-maren Angriffs durch Terroristen – zu Wort. Der Vertei-digungsminister sagt, er sei selbstverständlich bereit, Be-fehle zum Abschuss Unschuldiger zu erteilen. Das allesschafft ein Klima der Verunsicherung.Deswegen sage ich Ihnen: Da die Mehrheit diesesHauses dieses Verhalten augenscheinlich missbilligt,Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, werdenwir dem Deutschen Bundestag einen Missbilligungsan-trag zu den infrage stehenden Äußerungen des Verteidi-gungsministers zur Abstimmung vorlegen. Dann werdenwir sehen, ob Sie dazu stehen. Koalitionsräson ist daseine. Das andere ist die Verfassung, die über der Koali-tionsräson steht.
Das Wort hat der Kollege Hermann Scheer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für denTerrorismus ist signifikant: Er kommt in der Regel ausdem Dickicht des Alltags. Die Aktionsform ist überra-schend genauso wie der Aktionsort. Die größte anzuneh-mende terroristische Gefahr, bei der, wenn überhaupt,ein übergesetzlicher Notstand geltend gemacht werdenkönnte, ist ohne Zweifel der Atomterrorismus. Davonhat Minister Schäuble am Wochenende ausführlich ge-sprochen. Es ist klar, dass eine solche Gefahr ernst zunehmen ist. Es ist klar, dass man gegen diese Gefahrkaum adäquat gewappnet sein kann. Es ist klar, dass dieGefahr des Atomterrorismus dazu führen kann – daraufhat schon vor drei Jahrzehnten Robert Jungk in seinemBuch Der Atomstaat hingewiesen –, dass Demokratieund Rechtsstaat, wenn man nicht aufpasst, daran er-sticken.Nun befinden wir uns in einer Diskussion, die sich an-hand der Äußerungen von Minister Jung auf die Fragekonzentriert, wie wir Quellen akuter Gefahren mögli-cherweise in letzter Minute beseitigen können. Aber zurBetrachtung einer solchen Gefahr gehört zumindest ge-nauso, wenn nicht sogar an erster Stelle, die Berücksich-tigung der Gefahrenstellen, wenn wir den Sicherheits-auftrag ernst nehmen, und zwar mit den Mitteln, die unsim gesetzlichen Normalfall zur Verfügung stehen, alsoohne den übergesetzlichen Notstand in Anspruch zu neh-men. Hier haben wir ganz andere Möglichkeiten.Wenn man diese Gefahr schon heraufbeschwört, mussman diese Möglichkeiten tatsächlich ins Auge fassen.Das möchte ich an einem Herrn Minister Jung sicherlichmehr als fast allen anderen in diesem Hause bekanntenStandort deutlich machen, nämlich den Biblis-Reaktorenin Hessen. Jeder weiß – das ist unbestritten –, dass
Metadaten/Kopzeile:
11784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Dr. Hermann Scheerzumindest einer der beiden Reaktoren, nämlich Biblis A,einen besonders eingeschränkten Schutz vor terroristi-schen Angriffen oder einem „normalen“ Flugzeugab-sturz bietet.Wir reden aber im Zusammenhang mit Terrorismusvon gezielten Flugzeugabstürzen. Dass gezielte Flug-zeugabstürze zum Spektrum terroristischer Aktionen ge-hören, weiß man seit dem 11. September. AmerikanischeSicherheitsbehörden haben bekanntgegeben, dass ur-sprünglich geplant war, einen Atommeiler direkt anzu-fliegen. Das ist Gott sei Dank unterlassen worden. DieKatastrophe hätte ein gigantisches Ausmaß angenom-men, weit über die Katastrophe hinaus, die tatsächlichstattgefunden hat.Unmittelbar danach sind in Deutschland Untersu-chungen mit verschiedenen Szenarien durchgeführt wor-den, die aus guten Gründen geheim gehalten werden, umniemanden auf besondere Gefahrenstellen im Einzelnenaufmerksam zu machen. Aber die Gefahr besteht, insbe-sondere bei dem genannten Reaktor, der gerade einmal40 Flugsekunden von der Hauptanfluglinie des Flugha-fens Frankfurt entfernt ist. Die Untersuchungen habenbisher ein einziges, hilfloses Ergebnis zu Tage gefördert,nämlich dass man versuchen könnte, mit technischenMaßnahmen eine Einnebelung solcher Reaktoren zu er-reichen. Dieser Versuch der Einnebelung ist laut Piloten-vereinigung Cockpit deswegen hilflos, weil jedes Flug-zeug heute GPS-gesteuert ist, und wer ein Flugzeugsteuern kann, kann auch die GPS-Anlage bedienen undZiele durch Nebel hindurch anfliegen.Wenn Sie, Herr Jung, und viele andere, die von derGefahr des Atomterrorismus sprechen, es ernst meinen,dann ist es zwingend, in erster Linie auf die Gefahren-stelle zu schauen; denn die haben wir in der Hand. Dannist es ein politischer Widerspruch allerersten Ranges, dieGefahrenstelle einfach so zu belassen, gerade wenn sieunbestritten gegeben ist, und stattdessen Aktionen dieserArt starten zu wollen. Damit täuschen Sie eine Sicher-heit vor, die die Bevölkerung gar nicht fühlt; solche Ak-tionen erzeugen höchstens Angst.Sie sprechen sogar von einem Recht auf übergesetzli-chen Notstand. Ein solches Recht kann es nicht geben;denn ein Recht auf übergesetzlichen Notstand heißt, sichselbst ein Recht zu nehmen. Wenn das jemand tut, der ei-nen Amtseid auf die Verfassung abgelegt hat, dann sinddie Grenzen der normalen parlamentarischen Demokra-tie überschritten.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Der ungeschriebene Lebenssinn des Staatesist, die allgemeine Sicherheit seiner Bürger aufrechtzu-erhalten. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion, diewir führen, sehr einseitig.
Wir haben nur das Bild im Auge, dass ein mit Passa-gieren besetztes Flugzeug auf staatlichen Befehl hin ab-geschossen wird. Aber es gibt nicht nur dieses Bild desFlugzeuges mit den Passagieren. Untrennbar mit dem In-ferno des Terrors ist ein zweites Bild verbunden, dasBild von den Opfern am Boden, über denen das Flug-zeug zum Absturz gebracht werden soll, das Bild von ei-nem vollbesetzten Fußballstadion mit Zigtausend Men-schen oder vielleicht das Bild von vor zwei Jahren, alsder Papst auf dem Marienfeld in Köln vor 1 Million jun-ger Menschen seine Messe zelebriert hat. Stellen Siesich bitte vor, es hätte Terroristen gegeben, die ein Flug-zeug gekapert hätten, um dieses Flugzeug auf das Ma-rienfeld in Köln zu steuern.
Stellen Sie sich das bitte vor! Wie hätte Ihrer Meinungnach der Staat in dieser Situation handeln sollen?
Daran sehen Sie, dass der Staat in einem Dilemmasteckt.
Er muss entscheiden, auf tragische Weise entscheiden.Er kann sich nicht neutral verhalten, er muss handeln. Erkann sich nicht zurücklehnen und die Dinge ihremSchicksal überlassen. Der Staat muss auch Zigtausendeunschuldiger Menschen vor Angriffen durch Terroristenschützen. Welche Entscheidung er auch immer trifft: Eswerden Menschen sterben.Das rot-grüne Gesetz, das vom Bundesverfassungs-gericht aufgehoben wurde, ist bereits mehrfach ange-sprochen worden. Es war der Versuch, einfachgesetzlichetwas zu regeln, was scheitern musste. Wir müssen unsdie Verfassung genauer anschauen.Hier wird der Eindruck erweckt – er sollte hier zu-rechtgerückt werden –, das Bundesverfassungsgerichthabe festgestellt – ich nehme an, dass der Kollege JürgenGehb darauf zu sprechen kommen wird –, es sei in je-dem denkbaren Fall verboten, ein solches Flugzeug ab-zuschießen. Das ist irrig. Alle, die sich näher damit be-fassen wollen – ich hoffe, Sie werden das tun, HerrWesterwelle; Sie haben dieses Urteil hochgehalten –,verweise ich auf die Randnummern 134 f. des Urteils.Das Bundesverfassungsgericht hat dort den Fall ange-sprochen, dass ein terroristischer Angriff „auf die Besei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11785
(C)
(D)
Dr. Hans-Peter Uhltigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staat-lichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet“ ist. Indiesem Fall müsse der Staat sich wehren können.Die asymmetrische kriegsähnliche Bedrohung durchTerroristen konnten die Väter des Grundgesetzes nichtkennen. Sie kannten nur den klassischen Verteidigungs-fall, den herkömmlichen Krieg. Die Staatengemeinschafthat diesem Krieg ganz neuer Art, dem Terrorismus, ih-rerseits den Krieg erklärt – ich meine, zu Recht. In die-sem Zustand befinden wir uns zurzeit. Das heißt, die Un-terschiede zwischen innerer und äußerer Sicherheitverwischen in diesem Zustand. Hier muss man neu nach-denken. Hier muss man sich weniger entrüsten. Hiermuss man Wege finden. Ein Weg – wir meinen, der ver-fassungsrechtlich einzig denkbare Weg – ist, die Streit-kräfte in die Lage zu versetzen, nicht nur im Verteidi-gungsfall, sondern auch in diesem Fall, dem derasymmetrischen terroristischen Bedrohung, handeln zudürfen. Das geht nur über eine Fortschreibung des Ver-fassungsrechts.Geradezu unerträglich wäre es, wenn wir, das Parla-ment, die Regierung, der Verteidigungsminister und dieanderen Minister, auch das höchste Gericht in solchenNotlagen nicht den Mut zum Handeln aufbrächten. Wiralle müssen den Mut zum Handeln aufbringen. Auf garkeinen Fall darf am Schluss dem Letzten in der Befehls-kette, dem Piloten, zugemutet werden, den Mut aufzu-bringen, den wir nicht haben.
Das wäre ein Zerrbild des Rechtsstaates.Wer diese Bedrohung durch den Terrorismus, durchdie Feinde des Rechtsstaates nicht ernst nimmt, wer sagt,wir müssen schicksalhaft hinnehmen, was sie tun, wersagt, nur die Menschen im Flugzeug haben Menschen-würde, und die Zigtausende auf dem Marienfeld, imFußballstadion oder in den Stadtzentren haben eine zuvernachlässigende Menschenwürde oder was auch im-mer,
wer ein solches Staatsverständnis hat, der hat ein sinn-entleertes Staatsverständnis.Ich komme zum Schluss. Ich hoffe, dass wir ange-sichts der terroristischen Bedrohung den Ernst der Lageerkennen. Ich hoffe, dass wir alle zusammen im Parla-ment unsere Verantwortung spüren. Der Minister hat dieVerantwortung, unter der er steht, wahrgenommen undsich zu ihr bekannt. Jetzt sind wir als Parlament, als Ver-fassungsgeber an der Reihe, unsere Verantwortung ernstzu nehmen und zu prüfen, was das Parlament tun kann,um die terroristische Bedrohung zum Schutze unsererBürger wirksam in Schach zu halten.
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Siebert, ichmöchte Sie kurz ansprechen. Ich war ebenfalls Bericht-erstatter bei den Beratungen über das Luftsicherheits-gesetz. Mich hat das Urteil des Verfassungsgerichts sehrgetroffen, weil ich der Meinung war, wir hätten dasRichtige getan. Auch ich bin der Überzeugung, dassPeter Struck, der zu dem Zeitpunkt Verteidigungsminis-ter war, das Richtige tun wollte.Ich meine aber, dass die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts eine Zäsur bedeutet. An dieser Stelleunterscheiden wir uns. Ich möchte Sie bitten, das Urteilwirklich noch einmal nachzulesen. Jetzt kann nicht mehrso getan werden, als ob der jetzige Verteidigungsminis-ter nur das fortsetzen würde, was der vorherige begon-nen hat. Durch die Zäsur der Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts ist das nicht mehr möglich.
Den Minister Jung möchte ich bitten, an das Nahelie-gende zu denken und nicht an das Spektakulärste, womitman Schlagzeilen produziert. Ich sage deswegen auchheute hier wieder: Flugzeugentführungen werden amBoden verhindert oder ermöglicht. Wir müssen erst da-ran denken und uns erst darum kümmern.Wie ist die Lage? Nach der jetzt geplanten Reformder Bundespolizei wird nach den Aussagen von Exper-ten die Bundespolizei auf den Flughäfen um etwa1 000 Stellen unterbesetzt sein.Wie sind die Sicherheitskontrollen? Die Realtests ha-ben gezeigt: Sie sind mehr als verbesserungsbedürftig.In der Praxis gilt es also, an dieser Stelle anzusetzen undnicht bei der Frage, ob Flugzeuge abgeschossen werdensollen. Angesetzt werden muss nicht beim übergesetzli-chen Notstand oder beim Verfassungsbruch, sondern beider guten Arbeit der Sicherheitskräfte; darum muss esuns in erster Linie gehen.
Ich möchte mich nicht wiederholen, sondern nur nochauf das Ergebnis zu sprechen kommen: Die Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicher-heitsgesetz lässt aus meiner Sicht für den von MinisterJung vorgeschlagenen Weg keinen Raum. Es gibt keinenRaum für den propagierten übergesetzlichen Notstand.Wenn ich mir anschaue, was die Minister Schäubleund Jung in den letzten Tagen, Wochen und Monatenvorgebracht haben, dann sage ich: Es gibt eine Summevon einzelnen Vorschlägen, aber keine Strategie. Wederder Innenminister noch der Verteidigungsminister ma-chen verfassungsfeste Vorschläge. Die Stichworte dafür
Metadaten/Kopzeile:
11786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Frank Hofmann
sind: gezielte Tötung von Terroristen, Aufhebung derUnschuldsvermutung, Einsatz der Bundeswehr im Inne-ren und atomare Anschläge. Ich sage dazu: Terrorismus-bekämpfung ist Kriminalitätsbekämpfung und nichtKrieg, ist Polizeiarbeit und nicht Kriegshandlung.
Ich habe den Eindruck: Die beiden CDU-Ministerwollen den Rechtsstaat nicht weiterentwickeln; sie wol-len ihn zerschießen.
Sie suchen den Konflikt mit der SPD. Sie sind sich des-sen bewusst, dass sie mit ihrem Vorschlag dem Koali-tionspartner SPD Schaden zufügen. Sie setzen darauf,dass der Bevölkerung die Sicherheit wichtiger ist als dieFreiheit, wenn sie nur genügend Angst vor dem Terroris-mus schüren.Sie sind mit den Verfassungsgerichtsentscheidungender letzten Jahre, zum Beispiel mit denen zur Wohn-raumüberwachung oder zum Luftsicherheitsgesetz, nichteinverstanden und versuchen nun, das Bundesverfas-sungsgericht zu provozieren. Das Motto der eifrigenUnionisten lautet: Durch eine entsprechende Verfas-sungsänderung möchten wir dem Bundesverfassungsge-richt die Gelegenheit geben, seine Fehler der Vergangen-heit zu korrigieren. – Anders formuliert: Sie möchtendas Bundesverfassungsgericht erziehen, bis es nach ih-rem politischen Gusto funktioniert. Wenn jedoch eineErziehungsmaßnahme erforderlich ist, dann von FrauMerkel für ihren respektlosen und wildgewordenen Mi-nister.
Gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten sind dieForderungen von Herrn Jung verantwortungslos. Er ver-langt ihnen gesetzwidriges Verhalten ab und setzt sie so-mit unnötig unter Druck. Unsere Soldaten und Soldatin-nen machen einen schwierigen und guten Job. Hierfürhaben sie jede Unterstützung verdient, nicht aber die Ge-fahr einer strafrechtlichen Verfolgung.
Und überhaupt: Wie soll denn bitte eine Einsatzstrate-gie funktionieren, bei der Soldaten ihren Befehl jederzeitverweigern könnten, weil er rechtswidrig ist? Sollen un-sere Planungen für den Notfall ernsthaft so aussehen?Unsere Terrorismusbekämpfungsstrategie darf nicht vonAktionismus und von Angst geprägt sein. Wie mein Vor-redner Rainer Arnold gesagt hat: Besonnenheit ist besserals jede Scheinlösung.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-legin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben Ihren Re-debeitrag mit dem Wunsch begründet: ein bisschen we-niger Hysterie, ein bisschen mehr Ratio – und das vordem Hintergrund, dass am Sonntagabend kein Geringe-rer als Ihr Generalsekretär Niebel vor laufenden Kame-ras gesagt hat, wenn ein solcher Befehl von Herrn Jungkäme, wäre das für ihn Mord.Meine Damen und Herren,Mörder ist,– nach der Legaldefinition des § 211 Abs. 2 StGB –
wer aus Mordlust, zur Befriedigung seines Ge-schlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedri-gen Beweggründen, heimtückisch
oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mittelnoder um eine andere Straftat zu ermöglichen oderzu verdecken, einen Menschen tötet.Glaubt irgendjemand in diesem Haus außer HerrnNiebel und vielleicht noch Herrn Nešković,
dass sich irgendein Verteidigungsminister von den vonmir genannten Mordmerkmalen zu einer Entscheidungleiten lässt, die er in einem Dilemma, in einem Triage-fall, in einer ausweglosen Situation treffen muss?
Meine Damen und Herren, die strafrechtliche Beurtei-lung dieser Triagefälle ist seit der Entscheidung des„Brett des Karneades“, zurückgehend auf ein philoso-phisches Gedankengut, mehrmals über Cicero und Kantbis in die Neuzeit entschieden und in allen juristischenPrüfungsaufgaben rauf und runter durchdekliniert wor-den. Alle kamen zu einem Ergebnis, ungeachtet der dog-matischen Begründung. Heute hat man gehört: überge-setzlicher Notstand, entschuldigender Notstand,rechtfertigender Notstand. – Eines stand jedenfalls fest:Im Ergebnis ist, vor diese Handlungsalternative gestellt,jede Handlung, die hier zwischen Scylla und Charybdissteht, jedenfalls nicht strafbar. Die alten Lateiner habenschon gesagt: Das ist nicht inculpabile, aber impunibile,zwar strafwürdig, aber nicht strafbar. Und weil dieser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007 11787
(C)
(D)
Dr. Jürgen GehbWeg rechtsdogmatisch so kompliziert ist, ist mit demLuftsicherheitsgesetz der Versuch unternommen worden– es war ein Anliegen –, nicht den letzten armen Ent-scheidungsträger
– ähnlich wie im Falle des SEK-Polizisten beim finalenRettungsschuss, solange dieser nicht in den Länderpoli-zeigesetzen geregelt war –
diese Entscheidung treffen zu lassen. Damit wollte derGesetzgeber eine Regelung treffen.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht in seiner heutemehrmals angesprochenen Entscheidung in der Tat die-ses Gesetz auch materiell für nichtig und mit der Verfas-sung nicht vereinbar gehalten.
Aber jetzt, Herr Westerwelle, nicht nur mit dem Gesetz-buch wedeln! Ich will Ihnen einmal fast auswendig sa-gen, was die Richter aus Karlsruhe in der Randnummer130 ausführen:Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleich-wohl erfolgter Abschuss und die darauf bezogeneAnordnung strafrechtlich zu würdigen wären.Klammer auf: mehrere Literaturhinweise. Dieses ObiterDictum zeigt, –
wie weise die Bundesverfassungsrichter waren. Sie ha-ben geradezu befürchtet, dass sich eine unsägliche Dis-kussion anschließen wird, und mit der Aufhebung desLuftsicherheitsgesetzes ist der Status quo ante wieder-hergestellt. Im Grunde genommen ist die Exekutive wie-der in die Grauzone des Strafrechts zurückgeworfenworden, und die Verfassungswidrigkeit lautet nicht – Siefinden dazu keinen einzigen Satz –, dass der Abschussvon Flugzeugen verboten ist, sondern verfassungswidrigist die vom Gesetzgeber generell abstrakt getroffene Er-mächtigungsgrundlage. Der Gesetzgeber soll keineCarte blanche a priori geben können, indem man ir-gendeinen Fall antizipiert und Maschinen zum Abschussfreigibt. Das gilt übrigens auch bei den anonymen Vater-schaftstests, wo das Bundesverfassungsgericht gesagthat, – –
– Jawohl, nur damit Sie es verstehen. – Da hat das Bun-desverfassungsgericht gesagt: Die gesetzliche Schaffungeiner solchen Grundlage ist verfassungswidrig. Etwasganz anderes ist, wie der Handelnde später rechtlich zubeurteilen ist.
– Ich sehe schon: Sie verstehen es nicht.
Die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Grundlageist nicht gleichbedeutend mit der Rechtswidrigkeit einerspäteren Handlung durch die Exekutive.
Ich will einen letzten Satz sagen, weil ich merke, dassmeine juristische Lehrstunde bei Ihnen auf taube Ohrenstößt.
Es sind Worte gefallen wie Mörder, Verfassungsbruch,Sicherheitsrisiko, Brunnenvergifter. Ich bin sicherlichkein Kind von Traurigkeit, auch nicht in meiner sprach-lichen Schärfe.
Aber die politischen Konkurrenten oder gar Gegner vonheute könnten die Partner von morgen sein.
Wenn wir der Bevölkerung den Eindruck vermitteln, wirwürden uns hier gegenseitig als Mörder oder als Brun-nenvergifter bezeichnen,
dann kann ich nur Ihren Appell, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wiederholen, aber vor einem ganz an-deren Hintergrund: dass wir verbal ein bisschen abrüstenund es uns gegenseitig nicht vorwerfen, wenn wir in ei-ner schwierigen Situation nach gemeinsamen demokrati-schen Lösungenzu suchen.
Darum bitte ich Sie alle, meine Damen und Herren indiesem Hause.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der
Kollege Jörn Thießen von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Ich bin in meinem vorherigen Leben Pastor inHamburg-Barmbek gewesen. Mir sind manchmal Men-schen begegnet, die ihre moralischen Probleme durch
Metadaten/Kopzeile:
11788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. September 2007
(C)
(D)
Jörn Thießenstarke Sprüche überdecken wollten. In dieser Debattesind es gelegentlich, Kollege Gehb und Kollege Uhl,auch halbstarke Sprüche gewesen, mit denen manchemoralischen Probleme überdeckt worden sind.
Denn eines bleibt doch klar: Zu Recht sprechen wir indieser Debatte von Handlungsdruck und von Verantwor-tung. Sie sprechen von einer Regelungslücke. Es ist eineernste Debatte, die wir hier führen. Aber wir sollten sienicht im Focus führen, sondern in den Gremien desDeutschen Bundestages, denn dort gehört sie hin.
Das Parlament ist der Ort, an dem wir uns mit diesemThema schon länger beschäftigen und auch weiterhinsine ira et studio beschäftigen sollten.
Wir haben, Kollege Koppelin, bisher auch im Parlamenteine gute Debatte geführt, zu der Sie gelegentlich sogardas eine oder andere Gute beigetragen haben.
– Wir konkurrieren ja im gleichen Wahlkreis, HerrDr. Westerwelle.Ich habe 1999 in Piacenza jungen Piloten ins Augegeschaut, die auf dem Wege zu Flugangriffen im Kosovowaren. Ich weiß, was das für eine riesige Verantwortungbedeutet – für den Bundesminister der Verteidigung, fürdie militärisch Verantwortlichen, für das Parlament.Eines ist dabei uns allen klar: Diese Piloten sitzen amSteuerknüppel; aber an den Hebeln der Politik und derEntscheidung sitzen andere. Auf dem Rücken der Pilo-ten – da sind wir uns doch einig, und da müssen wir eineLösung finden – dürfen die Probleme nicht ausgetragenwerden. Die Piloten müssen geschützt werden.
Das kann in der Tat ein Luftsicherheitsgesetz tun. Ichhabe dem damaligen – da war ich Beamter und habeschweigen sollen, wollen, dürfen und müssen – kritischgegenübergestanden. Aber die SPD hat zur Änderungdes Art. 35 des Grundgesetzes Vorschläge gemacht, dieBundeswehr und Polizei als Amtshilfe miteinander ver-binden. Diese Vorschläge sollten wir miteinander beden-ken. Sie liegen auf dem Tisch, und dazu ist die SPD be-reit.
Ein solches Luftsicherheitsgesetz kann helfen. Aberwo hilft es nicht? Es löst kein einziges moralisches Di-lemma, für wen auch immer. Die sogenannte ganz außer-ordentliche Extremsituation ist eben ganz außerordent-lich und kann niemals in einen ordentlichen Gesetzestextgepresst werden. Nennen Sie mir bitte – diejenigen, diees wollen – eine einzige Formulierung, über die wir dis-kutieren können! Nennen Sie eine Formulierung, die esuns ermöglicht, aus dem gewollten Dilemma, Lebennicht gegen Leben setzen zu dürfen, herauszukommen!Wir werden diese Formulierung miteinander nicht fin-den.
Diese möglichen Situationen müssen ausgehaltenwerden. Sie müssen von Amtsträgern ausgehalten wer-den, also auch vom Bundesminister der Verteidigung,der sich im Zweifel schuldig macht, moralisch und juris-tisch. Danach wird es ein Verfahren geben, und derAmtsträger wird sich verantworten; das ist auch richtigso.Ich rate dazu, in dieser Debatte keine falschen Kon-flikte zu fördern, auch dazu, die Soldatinnen und Solda-ten zu entlasten, aber eines nicht vorzugeben: dass es unsjemals gelingen könnte, das elementare Problem, dassLeben nicht gegen Leben abgewogen werden darf, durcheine Formel zu lösen. Herr Kollege Uhl, Sie sprechenvon einem Flugzeug oben und dem Papst auf demMarienfeld unten. Wer ist denn wertvoller im Angesichtdes Staates? – Das kann und darf ich nicht definieren!
Wer ist wertvoller, wenn ein Kindergarten, ein Jugendla-ger oder das deutsche Parlament bedroht ist? Eines istdoch klar: Wir wollen das nicht abwägen.Der Bestand unserer demokratischen Grundordnung,um den es im Art. 91 des Grundgesetzes geht, wirddurch eine solche furchtbare Katastrophe im Zweifelnicht gefährdet werden – der Bestand unserer demokrati-schen Grundordnung. Wir brauchen jetzt keine Eilkom-petenz für irgendjemanden, sondern sollten die Kompe-tenz dieses Hauses nutzen. Die SPD hat Vorschlägegemacht, und dazu stehen wir.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 20. September
2007, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.