Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-
zung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und
der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundes-
minister der Finanzen, Dr. Barbara Hendricks. Bitte
schön.
D
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Bitte erlauben Sie, dass ich mich kurz an unsere Zu-
hörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne wende – ich
sehe, dort sitzen vor allem Gruppen von jungen Men-
schen –: Der Sachverhalt, den ich gleich darlegen werde,
ist ziemlich schwierig. Im Wesentlichen geht es um die
Frage, wie viel Geld eine Bank oder Sparkasse über-
haupt haben muss, damit sie an andere Geld verleihen
Rede
darf. Das ist eigentlich ein ziemlich einfacher Sachver-
halt. Aber die Materie insgesamt ist schwierig. Ich bitte
dafür um Verständnis. Sie müssen nicht denken, Sie wä-
ren dumm, wenn Sie gleich nicht mehr so viel verstehen.
– Ein Kollege hat gerade gesagt: Den meisten Abgeord-
neten geht es auch so. Das will ich nicht kommentieren.
Wir hoffen ganz auf Sie, Frau Staatssek
wir hinterher vollständig informiert sind u
stehen. Nun aber los!
zung
n 15. Februar 2006
3.00 Uhr
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Das Bundeskabinett hat heute den vomBundesministerium der Finanzen vorgelegten Entwurfeines Gesetzes zur Umsetzung der neu gefassten Ban-kenrichtlinie und der neu gefassten Kapitaladäquanz-richtlinie beschlossen. Den vorangegangenen Prozesszur grundlegenden Modernisierung der bankaufsichts-rechtlichen Eigenkapitalvorschriften für Banken undWertpapierfirmen, bekannt unter dem Stichwort Basel II,haben wir seit Beginn der Diskussionen vor knapp sie-ben Jahren auf internationaler Ebene begleitet und mit-gestaltet. Auch der Deutsche Bundestag hat diesen Pro-zess stets begleitet.Auf dem Gebiet der Finanzmarktpolitik sieht die Bun-desregierung eine zentrale Aufgabe in der neuen Legisla-turperiode darin, den Inhalt von Basel II eins zu eins inVerwaltungsvorschriften zu überführen, welche für diebeaufsichtigten Institute praktikabel, für die Kunden unddie übrigen Marktteilnehmer akzeptabel und für den Fi-nanzdienstleistungssektor insgesamt stabilitätsförderndsind. Dies soll eine weiterhin reibungslose Versorgungder Wirtschaft und vor allem der mittelständischen Be-triebe und Unternehmen mit Bankkrediten zu attraktiventextKonditionen sicherstellen.Darüber hinaus werden die neuen bankaufsichtsrecht-lichen Regelungen wettbewerbsneutral für die Bankenund Sparkassen und außerdem benutzerfreundlich fürdie Kreditinstitute und deren Kunden ausgestaltet.Lassen Sie mich die vorrangigen Ziele im Zusam-menhang mit diesem Gesetzgebungsprojekt verdeutli-chen: Das Kreditgewerbe, aber auch die Kredit nehmen-den Unternehmen und Haushalte sollen von derNeufassung der bankaufsichtsrechtlichen Eigenkapi-talanforderungen profitieren. Die künftig differenziertereErfassung der Risiken aus dem Kreditgeschäft ermög-ituten eine exaktere Berechnung der bank-tlich verursachten Kapitalkosten. Damitussetzung für eine risikogerechtere Gestal-itkonditionen geschaffen. Nach dem neuenretärin, dassnd alles ver-licht den Instaufsichtsrechwird die Voratung der KredRegelungswerk steht sämtlichen Instituten grundsätzlich
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricksdie Möglichkeit offen, die modernisierten Verfahren zurRisikoanrechnung zu nutzen. Der Anreiz zur Anwen-dung ausgefeilter, fortgeschrittener Verfahren besteht inder Aussicht auf Erleichterungen bei den bankaufsichts-rechtlichen Eigenkapitalanforderungen.Die Sorge vor allem kleinerer Institute, die neuen Ei-genkapitalregelungen könnten unverhältnismäßig hoheHürden für sie darstellen, wird im Bundesfinanzministe-rium sehr ernst genommen. Einseitige Belastungen oderüberzogene Anforderungen sind nicht beabsichtigt.Die im Rahmen der Baseler und Brüsseler Verhand-lungen bei der Mittelstandsfinanzierung erzielten Er-folge werden nun im deutschen Bankenaufsichtsrechtfestgeschrieben. Sämtliche in der neuen EU-Richtlinieenthaltenen Wahlrechte zugunsten von Mittelstandskre-diten sollen ausgeübt werden. Dies betrifft sowohl diegenauere Berücksichtigung von risikomindernden Port-folioeffekten bei kleinvolumigen Krediten, den so ge-nannten Retailportfolios, als auch die Anerkennung vonKreditsicherheiten.Ganz generell ist die Umsetzung strikt an den Min-destvorgaben aus den neu gefassten EU-Richtlinien aus-gerichtet worden. Eine Überregulierung wäre uner-wünscht. Allerdings müssen wir einräumen, dass alleindie Mindestvorgaben aus Brüssel bereits einen beträcht-lichen Umfang aufweisen.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stellt die Bun-desregierung die Weichen für eine mittelstandsfreundli-che Umsetzung von Basel II. Die internationalen Ver-handlungen über Basel II sind aus deutscher Sichterfolgreich gestaltet worden und es ist ein Mittelstands-paket zur fairen Behandlung von Mittelstandskreditenvereinbart worden. Nunmehr kommt es darauf an, diesenErfolg endgültig zu sichern.Lassen Sie mich auf das im Rahmen der Basel-II-Ver-handlungen vereinbarte so genannte Mittelstandspaketeingehen: Es beinhaltet zum Beispiel eine Senkung desAnrechnungssatzes für Kredite an kleine und mittlereUnternehmen, wenn es um einen Kreditbetrag von bis zu1 Million Euro geht. Diese Zuordnung zum so genanntenbankaufsichtsrechtlichen Retailportfolio, auf das ich be-reits eingegangen bin, bedeutet, dass man solche kleine-ren Kredite bis zu 1 Million Euro auch dann ausreichenkann, wenn man bei den Banken 25 Prozent weniger Si-cherheiten bzw. Eigenkapital hat.Außerdem hat das Mittelstandspaket niedrigere An-rechnungssätze für Kredite an Unternehmen mit einemUmsatz von bis zu 50 Millionen Euro zum Inhalt. In Be-zug auf diese Unternehmen kann es Abschläge bei denEigenkapitalanforderungen von maximal 20 Prozent ge-ben. Darüber hinaus ist enthalten, dass es keine Risiko-zuschläge für langfristige Kredite an Unternehmen miteinem Jahresumsatz und einer Bilanzsumme von jeweilsmaximal 500 Millionen Euro gibt. Die Kreditsicherhei-ten, die in Deutschland üblich sind, werden stärker alsbisher berücksichtigt; hier lautet das Stichwort: Pfand-briefe.Zur Umsetzung der neuen EU-Eigenkapitalregelun-gen in das deutsche Bankenaufsichtsrecht ist vorgese-hen, neben dem vorliegenden Gesetzentwurf auch zweiRechtsverordnungen in Kraft zu setzen, die die neuenRegelungen im Kreditwesengesetz um notwendige tech-nische Bestimmungen ergänzen sollen: Zum einen wirdeine Solvabilitätsverordnung zur Festlegung von Aus-führungsbestimmungen zu den Eigenkapitalanforderun-gen erlassen – diese Verordnung wird den bisherigenGrundsatz I im Kreditwesengesetz ersetzen –, zum ande-ren werden die Großkredit- und Millionenkreditverord-nung überarbeitet und ergänzt.Mit dem heutigen Beschluss des Kabinetts ist die Vo-raussetzung für eine gründliche Befassung des Parla-ments mit dem vorgelegten Gesetzentwurf geschaffenworden. Nun besteht Gelegenheit zur vertieften Erörte-rung dieses wichtigen Vorhabens. Das Bundesministe-rium der Finanzen wird Ihnen hierfür gerne zur fachli-chen Beratung zur Verfügung stehen.Herzlichen Dank.
Danke schön. – Ich bitte, zunächst Fragen zu dem
Themenbereich zu stellen, über den soeben berichtet
wurde.
Als erster hat sich Kollege Leo Dautzenberg, CDU/
CSU-Fraktion, gemeldet.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin! Die EU-Richt-
linien, um die es geht, sind vom Finanzministerium rela-
tiv schnell umgesetzt worden. Wenn ich Sie richtig ver-
standen habe, haben Sie gesagt, dass auch die
vorhandenen Wahlrechte genutzt werden. Schließlich
war es ja auch das Verdienst der parlamentarischen Be-
gleitung dieser Maßnahmen, dass die Mittelstandskom-
ponenten realisiert werden konnten.
Meine Frage an Sie lautet: Werden die Verordnungen,
die Sie gerade genannt haben – ich meine zum einen die
Solvabilitätsverordnung und zum anderen die Großkre-
dit- und Millionenkreditverordnung –, zeitgleich zur par-
lamentarischen Beratung vorliegen, damit wir sie in das
Beratungsverfahren einbeziehen können?
D
Herr Kollege, derzeit liegen lediglich Entwürfe dieserVerordnungen vor. Es wäre zwar möglich, dass sie demParlament informell zur Kenntnis gegeben werden. Aberim Grunde handelt es sich hier um ein exekutives Ver-fahren. Um diese Verordnungen zu erlassen, ist, soweitich weiß – allerdings bin ich mir nicht sicher; da bin ichim Moment überfragt –, die Zustimmung des Bundesra-tes erforderlich. Selbstverständlich werden wir auf infor-mellem Wege über ihren Inhalt berichten. Aber das istnicht Gegenstand der Abstimmungen in diesem Hausoder im Finanzausschuss.Herr Kollege, der Hinweis, den Sie eingangs gemachthaben, ist richtig: Trotz wechselnder Mehrheiten hat die-ses Haus den Basel-II-Prozess immer einvernehmlichsehr positiv begleitet. Sie werden sich daran erinnern,
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricksdass wir bereits im Sommer 2000 und im Sommer 2001einvernehmlich zwei Entschließungen gefasst haben, diesehr positive Wirkungen hatten, weil sie die Position un-serer Verhandlungsführer auf internationaler Ebene ge-stärkt haben. Denn dieser Richtlinie der EuropäischenUnion sind ja Verhandlungen auf der internationalenEbene vorausgegangen, im Baseler Ausschuss für Ban-kenaufsicht. Dort ist die Position unserer Verhandler vonder Deutschen Bundesbank und von der Bundesanstaltfür Finanzdienstleistungsaufsicht durch die Entschlie-ßungen, die der Deutsche Bundestag im Hinblick auf dieMittelstandskredite gefasst hatte, sehr gestärkt worden.Sonst hätte das von mir eben angesprochene und darge-stellte so genannte Mittelstandspaket innerhalb desRichtlinienvorschlages so nicht ausgestaltet werden kön-nen.
Danke schön. – Ich erteile das Wort zu einer Frage
Kollegen Roland Claus, Linkspartei.
Frau Kollegin, ich beziehe mich auf Ihre Koalitions-
vereinbarung, in der Sie in der Rubrik „Aufbau Ost
voran bringen“ angekündigt haben, Mitte 2006 neue
Rahmenbedingungen für Kredite an kleine und mittel-
ständische Unternehmen sowie Existenzgründer zu
schaffen. In welchem Zusammenhang stehen die heuti-
gen Entscheidungen des Kabinetts mit dieser Ankündi-
gung und inwiefern berücksichtigen Sie mit dem Gesetz-
entwurf die besondere Verantwortung der Sparkassen?
Welche Nachteile entfallen für die Sparkassen und was
wird sich für sie verbessern?
D
Zu Ihrer ersten Frage, Herr Kollege Claus: Das steht
nicht in unmittelbarem Zusammenhang. Was in der Ko-
alitionsvereinbarung zur Überarbeitung von Kreditkon-
ditionen angekündigt worden ist, bezieht sich auf Mittel-
standskredite, zum Beispiel durch die Kreditanstalt für
Wiederaufbau. Das ist ein anderes Thema, mit dem wir
uns, wie angekündigt, bis Mitte des Jahres befasst haben
wollen.
Zu Ihrer zweiten Frage. Es ist nicht so, dass die Spar-
kassen in besonderer Weise bevorteilt oder benachteiligt
würden. Entscheidend ist, dass die Frage der so genann-
ten Intergruppenforderungen auch zugunsten der Spar-
kassen gelöst worden ist. Das war, auch auf der europäi-
schen Ebene, zunächst sehr fraglich. Sie müssen wissen,
dass die Banken in Deutschland in drei Säulen organi-
siert sind: Wir haben zum Ersten die Privatbanken, die
als Konzerne strukturiert sind, zum Zweiten die Sparkas-
sen und zum Dritten die Volksbanken, die als Genossen-
schaften organisiert sind. Nun sind die jeweiligen Spar-
kassen wie auch die Genossenschaftsbanken in ihrem
Verbund zunächst jeweils selbstständig. Bei einer Kon-
zernstruktur hingegen gibt es natürlich keine eigenstän-
dige X-Bank in Y-Stadt; vielmehr ist jede Bank dem
Mutterkonzern – dessen Sitz meist Frankfurt ist – zuge-
ordnet. Die Frage war, wie Kredite innerhalb dieser
Gruppen bewertet werden müssen: ob dafür viel oder
wenig Eigenkapital zugrunde gelegt werden muss. Da ist
es uns gelungen, im Interesse der Sparkassen und auch
der Volksbanken die so genannten Intergruppenforde-
rungen zu minimieren. Das war uns aus dem Grund
möglich, weil die Sparkassen bzw. die Volksbanken un-
tereinander einen Haftungsverbund bilden. Wir haben
dafür sorgen können, dass ein solcher Haftungsverbund
von Brüssel genauso gewertet wird, als wenn die jeweili-
gen Banken zu einem Konzern gehörten. Dadurch ist
eine mögliche Benachteiligung der Sparkassen oder
Volksbanken ausgeräumt worden und die besondere
Struktur des deutschen Bankenwesens hat Berücksichti-
gung gefunden.
Danke schön. – Nun erteile ich Kollegen Fahrenschon
das Wort. Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben darauf hingewiesen,
dass es sich bei Basel II um einen internationalen Rah-
men für Bankgeschäfte handelt und dass die Bundesre-
gierung vorschlägt, die nationale Umsetzung des europäi-
schen Rahmens schnellstmöglich voranzutreiben.
In den Vereinigten Staaten hat die Debatte über
Basel II dazu geführt, dass dort die Umsetzung dieses
Regelwerks verschoben wurde. Vor diesem Hintergrund
möchte ich wissen, wo das Bundeskabinett die Vorteile
einer schnelleren Umsetzung für den Finanzmarkt
Deutschland sieht. Dabei würden mich auch zwei
Details interessieren: Am Anfang waren zwei Wahl-
rechte mit sektoralen Auswirkungen in der Diskussion.
Zum einen war angedacht, die Energiehändler von den
Eigenkapitalanforderungen auszunehmen, zum anderen,
die Wertpapierhandelsfirmen von den speziellen Unter-
legungen für operationelle Risiken auszunehmen. Inwie-
weit sind diese Punkte im Gesetzentwurf berücksichtigt
worden?
D
Herr Kollege Fahrenschon, bezüglich der nicht zeit-gleichen Umsetzung in den Vereinigten Staaten ist dieBundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommissionder Auffassung – die EU-Kommission wird dies in denGesprächen mit der amerikanischen Seite mit Nachdruckvortragen –, dass Basel II möglichst rasch auch in denUSA eingeführt werden sollte. Das sehen nicht nur wirund die EU-Kommission, sondern auch unsere europäi-schen Partner so.Unabhängig von der Umsetzung in den VereinigtenStaaten bleibt es bei dem Zeitplan, dass nämlich dieneuen Eigenkapitalregelungen für die Kreditinstitute unddie Wertpapierfirmen in der Europäischen Union zum1. Januar 2007 eingeführt werden. Es liegt im Interesseder Europäer, dass die in den USA tätigen EU-Bankendie Vorteile aus den neuen EU-Eigenkapitalregelungenvon Beginn an ohne Einschränkung nutzen können. Dieeuropäischen Institute haben sich darauf eingestellt, ihre
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricksneuen Systeme weltweit einzusetzen. Auch wenn sieNiederlassungen in den Vereinigten Staaten haben, wer-den die europäischen Institute das also zum 1. Januar2007 tun.Sie hatten noch nach den Energiehändlern und ande-rem gefragt. Moment, ich habe mir die Einzelheiten dazunotiert. Ich habe es jetzt nicht im Kopf.
Zur Ausübung von Wahlrechten. Wir üben ungefähr100 Wahlrechte aus. Insgesamt gibt es etwa 120 Wahl-rechte. Für uns sind davon 100 interessant, die wir auchausüben. 30 davon üben wir wiederum zugunsten desMittelstandes aus. Wir üben praktisch alle aus, die vonInteresse für uns sind.Eine der wichtigsten davon ist die Ausnahme von derÜberwachung des Eigenkapitals beim einzelnen Institut,was bei der Aufsicht über die Bankengruppe zu Erleich-terungen beim Meldeaufwand führt. Außerdem habenwir – danach haben Sie gerade gefragt – die Ausnahmefür die Energiehändler in Anspruch genommen. Dane-ben nehmen wir auch die Ausnahme für die Wertpapier-handelsfirmen im Hinblick auf die Eigenkapitalunterle-gung von operationellen Risiken in Anspruch.Die beiden Fragen, die Sie gerade gestellt haben,kann ich deswegen mit Ja beantworten.
Kollege Jochen-Konrad Fromme, bitte.
Frau Staatssekretärin, die Kreditversorgung ist für die
Mittelstandsbetriebe ja ein besonderes Problem. Die
Diskussion über Basel II hat zunächst einmal zu einer
großen Verunsicherung geführt, weil viele Kredite mit
Bezugnahme auf Basel II im Vorfeld versagt worden
sind.
Damit es jeder versteht: Können Sie noch einmal
ganz einfach darstellen, wie zum Beispiel ein Kredit von
bis zu 1 Million Euro – einen Kredit in einer solchen
Höhe brauchen Handwerksbetriebe ja häufig – behandelt
wird und was Sie tun werden, um jetzt in der Öffentlich-
keit Aufklärungsarbeit zu betreiben, damit durch dieses
komplizierte Gebilde keine Verunsicherung geschaffen,
sondern die notwendige Sicherheit wiedergegeben wird?
D
Herr Kollege, ich bin Ihnen dankbar für die Frage und
ich will gerne noch einmal versuchen, das mit einfachen
Worten auszudrücken.
Gehen wir von einem Kredit in der Größenordnung
von bis zu 1 Million Euro je Kreditinstitut aus. Jemand,
der genügend Bonität hat, könnte sich also bei dem einen
Kreditinstitut 1 Million Euro leihen und bei einem ande-
ren eine weitere Million Euro aufnehmen. Wenn er die
Bonität nachweist, werden ihm die beiden Banken das
wohl leihen. Man hat ja häufig eine Kreditstreuung über
mehrere Institute.
Dieser Kredit in der Größenordnung von bis zu
1 Million Euro fällt unter die so genannten Privatkredite
oder auch unter das Retailportfolio. Im Zusammenhang
mit dem Finanzmarkt werden ja immer englische Be-
griffe verwendet. – Für diese Kredite von nicht so um-
fangreicher Größe – also bis zu 1 Million Euro – wird es
zukünftig sogar weniger Anforderungen an die Höhe des
Eigenkapitals der kreditgebenden Banken geben, und
zwar wird die Erleichterung etwa ein Viertel betragen.
Wenn die Bank also nach noch geltendem Recht einen
Kredit in der Größenordnung von 1 Million Euro ver-
gibt, dann muss sie mehr Eigenkapital dafür haben, als
sie zukünftig dafür haben muss. Das heißt, das, was zu-
künftig bankaufsichtsrechtlich dabei zu tun ist, führt bei
den Banken zu einer Erleichterung bei der Kreditver-
gabe. Es geht jetzt nur um bankaufsichtsrechtliche Fra-
gen. In Bezug darauf wird es zu einer Erleichterung
kommen.
Unabhängig davon muss die Bonität des einzelnen
Kreditnehmers durch die Bank natürlich geprüft werden.
Das ist nicht anders, als es bisher schon war. Es ist nicht
so, dass man einen Anspruch auf eine Kreditvergabe
hätte; vielmehr handelt es sich um ein zweiseitiges Ge-
schäft zwischen einem, der einen Kredit haben möchte,
und einem, der einen Kredit vergibt oder aber auch nicht.
Niemand hat einen Anspruch auf einen Kredit; viel-
mehr muss eine ausreichende Bonität vorhanden sein.
Das hat sich durch die bankaufsichtsrechtlichen Vor-
schriften nicht geändert. Aber vonseiten der Banken
wird die Kreditvergabe in der Größenordnung von bis zu
1 Million Euro zunächst erleichtert.
Kollege Fromme.
Das heißt im Grunde genommen: Weil die Bank we-
niger Eigenkapital hinterlegen muss, kann sie – eine aus-
reichende Bonität vorausgesetzt – den Kredit wirtschaft-
licher und damit preiswerter vergeben?
D
Richtig. Sie kann im Verhältnis zu ihrem Eigenkapitalmehr Kredite vergeben, als sie das bisher tun konnte,wenn die Kredite sich in dem Volumen von bis zu1 Million Euro bewegen. Bei sehr vielen kleineren Insti-tuten mit lokaler Bedeutung macht dies fast das ganzeGeschäft aus.
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Ich erteile das Wort Kollegen Gerhard Schick von den
Grünen.
Danke schön. – Frau Staatssekretärin, meine Fragen
gehen in Richtung der Diskussion, die ganz am Anfang
stand, nämlich in Richtung der Systemrisiken.
Meine erste Frage ist: Kann man jetzt davon ausge-
hen, dass durch diese Regelungen, die wir in Deutsch-
land übernehmen, das Risiko, das wir im Zusammen-
hang mit der Asienkrise diskutiert haben, zurückgeht?
Meine zweite Frage bezieht sich auf die prozyklische
Wirkung, die die Eigenkapitalunterlegung haben kann.
Wir haben in den letzten Jahren in Deutschland gemerkt,
wie gefährlich es ist, wenn sich die Versorgung gerade
des Mittelstandes mit Krediten in der Phase eines kon-
junkturellen Abschwungs verschlechtert. Es besteht die
Gefahr, dass aufgrund einer Eigenkapitalunterlegung
nach Risikokomponenten dann, wenn im Abschwung
das Risiko zunimmt, eine prozyklische Wirkung auftritt.
Mich interessiert, ob im Kabinett diskutiert worden
ist, wie man damit umgeht und, da man in Deutschland
nicht mehr das gesamte System umgestalten kann – das
ist klar –, welche entsprechenden Vorkehrungen man
treffen kann, um eine mögliche prozyklische Wirkung zu
kompensieren.
D
Zu Ihrer ersten Frage, Herr Kollege Schick. Sie haben
Recht, Ausgangspunkt der ganzen Überlegungen zu
Basel II waren die Finanzkrisen insbesondere in Asien.
Davor gab es aber auch schon eine Krise in Mittel- und
Südamerika. Es ging um die Begrenzung der so genann-
ten systemischen Risiken.
Vereinfacht ausgedrückt: In einigen Regionen in der
Welt wurden Kredite zu leichtfertig vergeben. Anschlie-
ßend drohte ein Crash, der nur durch die Weltbank ge-
meinsam mit anderen Institutionen aufgefangen werden
konnte. Dies sollte für die Zukunft möglichst vermieden
werden. Das war der Ausgangspunkt der gesamten Über-
legungen. Es ist gut, dass Sie daran noch einmal erin-
nern.
Soweit man das beurteilen kann, helfen die Basel-II-
Regelungen, ein solches Szenario zu vermeiden. Seither
haben wir solche Krisen nicht mehr erlebt. In der Tat
sind die Banken vorsichtiger geworden. Soweit wir das
einschätzen können, wirken diese Vereinbarungen, die
durch Basel II getroffen worden sind und über eine EU-
Richtlinie deutsches Recht werden, den systemischen
Risiken entgegen, weil die Risikogewichtung in den
Vordergrund tritt. Kredite werden nicht mehr schema-
tisch vergeben; vielmehr werden je nach Risiko unter-
schiedlich teure Kredite – vereinfacht ausgedrückt – ver-
geben. Die Zinslast wird also höher, wenn das Risiko
steigt, oder aber es wird gar kein Kredit vergeben. Das
ist nicht neu, das hat es auch früher schon gegeben. Nach
unserer Kenntnis kann man sagen: Die Basel-II-Rege-
lungen wirken diesen systemischen Risiken entgegen.
So ist es angelegt.
Mit den prozyklischen Effekten hat sich das Bundes-
kabinett in seiner Beratung im Einzelnen nicht befasst.
Aber das Kreditgeschäft reagiert auf Konjunkturschwan-
kungen grundsätzlich empfindlich; das ist nicht zu ver-
meiden. Prozyklische Effekte durch Basel II sind selbst-
verständlich nicht beabsichtigt und sollten möglichst
vermieden werden. Andererseits ist nicht von der Hand
zu weisen, dass das Kreditgeschäft auf Konjunktur-
schwankungen empfindlich reagiert und infolgedessen
eine Tendenz aufweist, sich prozyklisch zu verhalten.
Das wird aber durch Basel II nicht verstärkt.
Die Institute sind angehalten, durch eine vorausschau-
ende Steuerung der Kreditvergabe einem bloßen zykli-
schen Kreditvergabeverhalten entgegenzuwirken. Das ist
die Aufgabe der Institute selbst.
Der gesamte Basel-II-Prozess hat auch dazu geführt,
dass in den Bankengruppen in Deutschland eine vertiefte
Kenntnis über die Risikoadäquanz erworben wurde, weil
sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Banken
schon seit Jahren – intensiver als früher – mit diesem
Thema befassen. Insofern ist die intellektuelle Kapazität
der handelnden Personen in den letzten Jahren erweitert
worden, sodass man in dieser Hinsicht guten Mutes sein
kann. Gleichwohl lassen sich Risiken nie ganz ausschlie-
ßen.
Ihre Nachfrage, bitte.
Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es bei dem
Systemrisiko um die Risikoposition im Gesamtsystem
aufgrund der Interaktion zwischen den verschiedenen
Kreditinstituten, Währungsräumen etc. Die Basel-II-Re-
gelungen beziehen sich aber auf die Kreditvergabe an ein
einzelnes Unternehmen und reduzieren das Insolvenz-
risiko des einzelnen Kreditinstituts, können aber – so
habe ich es der wissenschaftlichen Diskussion entnom-
men – das Systemrisiko gerade dadurch noch erhöhen.
Ich habe Ihre Antwort so verstanden, dass Sie auf das
Risiko der Insolvenz des einzelnen Instituts eingegangen
sind.
D
Nein, Herr Kollege. Das ist zwar einerseits der Fall,aber auf der anderen Seite ist bei der jeweiligen Kredit-vergabe die Risikobehaftetheit des geforderten Kreditesgenauer zu betrachten, sodass es, vereinfacht ausge-drückt, nicht mehr so einfach ist, schlechtem Geld im-mer weiter gutes Geld hinterherzuwerfen, wie es manch-mal der Fall ist. Das sind natürlich Fehlentscheidungen.In einigen Fällen empfiehlt es sich, einen Kreditneh-mer mit einem weiteren Kredit zu stärken, wenn zu er-warten ist, dass er damit bestehende Turbulenzen über-winden kann. In manchen Fällen wird aber lediglichschlechtem Geld gutes Geld hinterhergeworfen. Das liegt
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendrickszwar in der Verantwortung der einzelnen Institute – daslässt sich nicht leugnen –, aber wenn die Risikoadäquanzim Einzelnen stärkere Berücksichtigung findet, dannwird auch das systemische Risiko insgesamt vermindert.
Danke schön. – Nun hat Kollege Axel Troost, Frak-
tion Die Linke, Gelegenheit zu einer Frage.
Frau Staatssekretärin, Sie hatten noch einmal den ei-
gentlichen Anlass der Basel-II-Regelungen dargestellt.
Ich meine aber, dass Sie die Auswirkungen auf die Mit-
telstandsfinanzierung ein bisschen bagatellisieren. Tat-
sächlich hatte man noch nie Anspruch auf einen Kredit.
Aber jetzt habe ich den Eindruck, dass Unternehmen, die
keinen Kredit brauchen, einen bekommen, während die-
jenigen, die einen brauchen, keinen bekommen. Durch
die Rankingverfahren und vieles andere mehr ist die Si-
tuation entstanden, dass nicht mehr allein der individu-
elle Tatbestand zugrunde gelegt wird.
Ich bin im Rahmen der Betriebsräteberatung relativ
viel herumgekommen und habe mit einem absolut ge-
sunden Unternehmen – das ergibt sich aus der Bilanz-
analyse des vergangenen Jahres – zu tun, dessen völlig
verängstigte Geschäftsführung mir jetzt dargelegt hat,
dass ihr die Werte aus der Vergangenheit in diesem Jahr
wenig nutzen; das Kreditinstitut gibt ihm kein Geld
mehr. Ich habe in der Textilbranche zu tun. In diesem
Bereich werden eben keine Kredite mehr vergeben bzw.
nur in Verbindung mit enormen Auflagen.
Insofern stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll
wäre, zu untersuchen, welche Konsequenzen sich aus
den Basel-II-Regelungen für die Finanzierung des Mit-
telstands ergeben haben und ob andere Wege gefunden
werden müssen, um die Kreditversorgung des Mittel-
standes sicherzustellen.
D
Herr Kollege Troost, durch die bankaufsichtsrechtli-
chen Vorschriften der Basel-II-Regelungen ergibt sich
keine schwierigere Situation für den deutschen Mittel-
stand. Im Gegenteil wird es – wie ich eben bereits ausge-
führt habe – bei Krediten bis zu 1 Million Euro für die
Institute sogar prinzipiell leichter, Kredite zu vergeben,
weil sie selber diese Kredite mit weniger Eigenkapital
unterlegen müssen. Insofern bedeutet unser Vorhaben
eine Verbesserung bei der Vergabe von Krediten in einer
Größenordnung von bis zu 1 Million Euro. Das sind fast
90 Prozent aller bundesweit vergebenen gewerblichen
Kredite.
Gleichwohl will ich nicht von der Hand weisen, dass
es bei manchen Instituten – das ist manchmal fälschlich
mit Basel II begründet worden – Vorsichtsprinzipien
gibt, die im Einzelfall übertrieben sein mögen. Das hat
sich allerdings schon wieder geändert. Im Moment gibt
es keine Kreditrestriktionen, sondern eine verhältnismä-
ßig geringe Kreditnachfrage. Tatsächlich sind die Ver-
hältnisse nun wieder anders als vor einem Jahr.
In diesem von Ihnen angesprochenen Fall, wenn also
die Bilanz hervorragend ist, sollte der Betreffende natür-
lich einen Kredit bekommen, wenn nicht bei der einen,
dann bei einer anderen Bank; das ist gar keine Frage.
Andererseits müsste man den einen oder anderen deut-
schen Mittelständler auffordern – damit will ich jetzt
nicht den Stab über alle brechen –, die Offenlegung ge-
genüber seiner Bank zu verbessern. Ich selber komme
aus dem ländlichen Raum. Wenn dort ein Schreinermeis-
ter zu seiner Sparkasse geht und sagt: „Was willst du al-
les von mir wissen? Du hast doch schon meinem Vater
Kredite gegeben“, dann reicht das heutzutage einfach
nicht mehr aus. Er wird wohl die Fragen, die ihm seine
Bank stellt, beantworten müssen, auch wenn ihm das läs-
tig ist. Daran muss sich der eine oder andere – insbeson-
dere kleinere – deutsche Mittelständler noch gewöhnen.
In der Tat ändert sich die Kultur der Kreditvergabe,
aber nicht wegen Basel II, sondern zeitgleich mit
Basel II.
Danke schön, Frau Staatssekretärin.
Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Ka-
binettssitzung? – Zuerst Kollegin Cornelia Hirsch und
dann Kollegin Petra Pau.
Ich möchte mich erkundigen, was heute zur geplanten
Föderalismusreform beraten wurde.
Wer von den anwesenden Staatssekretären möchte
antworten? – Der Vertreter des Bundeskanzleramtes,
Herr Staatsminister Neumann, wird antworten.
B
Im Bundeskabinett wurde dieses Thema heute kurz
angesprochen. Wir haben uns über den Stand der Gesprä-
che informieren lassen. Es ist für morgen erneut eine
Runde vorgesehen, die versuchen wird, die Dinge, die
zwischen Bund und Ländern strittig sind, auszuräumen.
Ich gehe davon aus, dass das gelingt. Das Ziel der Bun-
desregierung ist, zu demselben Ergebnis wie in den von
der großen Koalition verabschiedeten Texten zu kom-
men. Von unserer Seite ist also nicht vorgesehen, Ände-
rungen herbeizuführen. Das deckt sich auch mit der Mei-
nung der beiden Koalitionsfraktionen. Ziel ist, auf der
Grundlage der Ergebnisse der damals vorzeitig beende-
ten Föderalismuskommission einen gemeinsamen Ent-
wurf vorzulegen und dann einen gemeinsamen Beschluss
zu fassen.
Kollegin Pau, bitte.
Da in die Zeit der heutigen Kabinettssitzung die Ver-kündung des lang erwarteten Urteils des Bundesverfas-sungsgerichtes zum Luftsicherheitsgesetz fiel, interes-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1273
(C)
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Petra Pausiert mich eine erste Stellungnahme der Bundesregierungdazu bzw. die Antwort auf die Frage, auf welches weitereVorgehen Sie sich verständigt haben.
Wer kann darauf antworten? – Bitte, Herr Staats-
minister Neumann.
B
Frau Kollegin, wir haben diese Nachricht über das
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Laufe der Ka-
binettssitzung erhalten. Wir haben das kurz besprochen
und sind zu folgender Feststellung gelangt: Die Bundes-
regierung respektiert die heutige Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichtes zum Luftsicherheitsgesetz. Ziel
der Bundesregierung bleibt jedoch, im Rahmen der Ver-
fassung alles Menschenmögliche zu tun, um das Leben
unserer Bürgerinnen und Bürger vor terroristischen An-
schlägen, auch vor solchen aus der Luft, zu schützen.
Wir werden prüfen, wie der Schutzzweck des Luftsicher-
heitsgesetzes in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz
und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ver-
wirklicht werden kann.
Kollegin Golze, Sie haben sich zu einer Frage gemel-
det.
Ich habe eine Frage zur Föderalismusreform: Inwie-
weit wurde bei der heutigen kurzen Ansprache dieses
Themas auf die von der SPD geäußerten Bedenken beim
Thema Bildungspolitik eingegangen?
Herr Staatsminister.
B
Ich wiederhole das, was ich gesagt habe. Wir haben
nicht im Einzelnen Bedenken und Anregungen, die hier
und dort aus den unterschiedlichsten Richtungen vorge-
tragen worden sind, erörtert, sondern wir haben einmütig
vereinbart, was die Bundesregierung angeht, alles dazu
beizutragen, dass die inzwischen vorliegenden Texte in
diesem Sinne eingebracht und verabschiedet werden.
Somit haben Einzelheiten zu dem von Ihnen erfragten
Punkt keine Rolle gespielt.
Kollege Beck, bitte.
Ich wollte etwas zu dem von Frau Pau angesproche-
nen Komplex nachfragen: Teilt die Bundesregierung die
Auffassung, dass dieses Urteil eine klare Absage an ei-
nen Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist, und teilt sie
auch die Auffassung, dass es nicht notwendig ist, in die-
sem Zusammenhang grundsätzliche Korrekturen an der
Verfassung anzubringen, sondern dass es allenfalls da-
rum gehen kann, für schwere Unglücksfälle in der Luft
einen entsprechenden Kompetenztitel für den Bund zu
schaffen, oder gehen die Überlegungen der Bundesregie-
rung über diese Frage hinaus?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
B
Die Bundesregierung hatte nicht die Zeit, diese Fra-
gen im Einzelnen zu erörtern. Deswegen wiederhole ich
das, was ich als letzten Satz bezogen auf die Erklärung
gesagt habe. Wir wollen das Urteil in Ruhe prüfen und in
Ruhe bewerten. Ich finde, das Verfahren ist angemessen.
Wenn einem durch die Presse bzw. durch Anruf ein sol-
cher Beschluss zukommt,
dann muss man sich erst einmal die Texte ansehen und
die Ausführungen im Einzelnen lesen. Das haben wir
uns vorgenommen. Deswegen haben wir über den Text,
den ich Ihnen vorgetragen habe, hinaus keine weiteren
Bewertungen vorgenommen.
Aber Sie können doch politisch die Frage beantwor-
ten, ob die Bundesregierung in diesem Zusammenhang
jenseits der Frage eines Einsatzes der Bundeswehr im
Rahmen der Luftsicherheit die Absicht hegt, die Verfas-
sung in diesem Punkt zu ändern oder nicht. Dazu muss
man das Urteil nicht kennen; dazu muss man eine politi-
sche Auffassung haben.
B
Ich muss hier für die Bundesregierung sprechen. Die
Bundesregierung hält daran fest, dass sie sich, bevor sie
weitere Entscheidungen trifft bzw. weitere Schritte vor-
sieht, vorbehält, erst die Konsequenzen dieses Urteils im
Einzelnen zu prüfen und zu bewerten. Deswegen, aber
auch weil das nicht erörtert worden ist, bin ich nicht be-
reit, darüber hinaus weitere Mitteilungen zu machen.
Herzlichen Dank. Ich beende damit die Regierungs-befragung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Fragestunde– Drucksache 16/611 –Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich derBundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes.Die erste Frage wird schriftlich beantwortet.Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesminis-teriums des Innern auf.
Metadaten/Kopzeile:
1274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Vizepräsident Wolfgang ThierseWir kommen zur zweiten Frage, der Frage der Kolle-gin Kerstin Andreae. Da sie nicht anwesend ist, wirdverfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Hans-Kurt Hill:Welche Auswirkungen auf den Wettbewerb im deutschenGasmarkt erwartet die Bundesregierung von der Tatsache,dass der russische Energiekonzern Gasprom, der bereits einedominierende Marktstellung bei der Förderung, der Vertei-lung und dem Handel von Erdgas innehat, in Deutschland indas Endkundengeschäft einsteigt und dazu Anteile an Stadt-
Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staats-sekretärin Wöhrl zur Verfügung. Bitte schön.D
Herr Kollege Hill, Vorhaben von Zusammenschlüs-
sen, auch wenn ausländische Unternehmen beteiligt
sind, sind eine Angelegenheit des Bundeskartellamts,
das diese im Rahmen der Fusionskontrolle bewertet. Es
gibt in Deutschland keine Möglichkeit, ausländische Ka-
pitalbeteiligungen zu verhindern, weil wir die Freiheit
des Kapitalverkehrs haben. Die Bundesregierung steht
grundsätzlich Beteiligungen und Investitionen von aus-
ländischen Unternehmen positiv gegenüber.
Sie haben die Gelegenheit zur Nachfrage, Kollege
Hill.
Vielen Dank. – Frau Staatssekretärin, ich möchte
nachhaken. Die deutsche Tochter der Gasprom, die ZGG
GmbH, ist bereits mit 35 Prozent an der Wingas GmbH
und mit 50 Prozent an der Wintershall Erdgas Handels-
haus GmbH beteiligt. 40 Prozent der Gasversorgung
kommen aus Russland. Gasprom agiert außerhalb der
Wettbewerbsregeln. Ich erinnere nur an die Probleme der
Ukraine. Wie will die Bundesregierung im Interesse der
Verbraucher konkret dem entgegenwirken, dass es auf
dem deutschen Markt durch die Vorgaben von Gasprom
zu einer verstärkten Abhängigkeit von den russischen
Gaslieferungen kommt?
D
Hinsichtlich unserer Abhängigkeit von Russland gilt:
Momentan beziehen wir 36 Prozent unseres Gases aus
Russland. Was Sie dazu gesagt haben, stimmt also. Man
kann aber nicht sagen, dass die deutsche Tochter von
Gasprom gegen Wettbewerbsrecht verstößt; sonst wäre
das Bundeskartellamt schon tätig geworden. Sie wissen
ganz genau, dass wir durch das neue Netzzugangsmodell
mehr Wettbewerb auf dem Gasmarkt schaffen wollen.
Das heißt, der Verbraucher soll den Gasproduzenten
künftig leichter wechseln können, um so zu günstigeren
Preisen zu kommen.
Ich nehme das gerne zur Kenntnis. Trotzdem möchte
ich noch einmal nachhaken. Die Marktsituation ist durch
eine Verflechtung der großen Gasversorger in Bezug auf
die Netze gekennzeichnet. Ich wage zu bezweifeln, dass
dies zum Vorteil der Verbraucher sein wird. Ich glaube
nicht, dass das Kartellamt ausreichend Kontrolle aus-
üben kann, um die Gaslieferanten davor zu schützen, ei-
nem neuen Monopol ausgesetzt zu sein. Auch Sie sagen,
dass man dieses neue Monopol mit den jetzigen Mög-
lichkeiten kaum stoppen kann. Wie wollen Sie dem ent-
gegenwirken?
D
Herr Hill, Sie sind der Erste, von dem ich höre, dass
er behauptet, in diesem Bereich entstehe in Deutschland
ein neues Monopol. Das widerspricht Ihrer Forderung,
zu kostengünstigen Energiepreisen zu kommen. Wir
wollen mehr Wettbewerb, gerade beim Netzzugang. Wir
haben das Energiewirtschaftsgesetz auf den Weg ge-
bracht. Sie sagen einerseits: Wir wollen mehr Wettbe-
werb; wir wollen, dass der Verbraucher seinen Gaspro-
duzenten künftig frei wählen kann. Auf der anderen
Seite sagen Sie: Den einen wollen wir nicht und den an-
deren wollen wir auch nicht. So geht das nicht.
Vielen Dank.
Wir kommen zur Frage 4 des Kollegen Hans-Kurt
Hill:
Welche konkreten Maßnahmen beabsichtigt die Bundesre-
gierung zu treffen, um die aktuellen nachfrage- und witte-
rungsbedingten Engpässe bei der Versorgung mit Erdgas in
Deutschland zukünftig zu vermeiden?
D
Herr Kollege Hill, wir haben das Energiewirtschafts-gesetz auf den Weg gebracht. Der Versorgungsauftragbetrifft in erster Linie die Gasversorgungsunternehmen.Ich glaube hier sagen zu können, dass sie der Versor-gungsverpflichtung bis jetzt in vollem Umfang gerechtgeworden sind.Es gab nachfrage- und witterungsbedingte Engpässe.Das wissen wir. Aber die Lage war beherrschbar. DerSpeichereinsatz ist sehr hoch. Wir haben in Deutschlandallein 40 Gasspeicheranlagen mit 100 Milliarden Kubik-metern, in denen ein Fünftel des jährlichen Bedarfs ge-speichert werden kann.Außerdem gibt es eine Diversifikation des Gasbe-zugs: Bestimmte Kunden haben Gasminderlieferungenvertraglich vereinbart. Es gibt verschiedene Verträge mitKunden, die die Möglichkeit vorsehen, statt Erdgas an-dere Energieträger einzusetzen. Aufgrund vertraglicherVereinbarungen können die Lieferungen reduziert wer-den. Die entsprechenden Verträge beinhalten also Alter-nativen, weswegen Gas zu günstigeren Konditionen ge-liefert wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1275
(C)
(D)
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Das klingt sehr
beruhigend.
Trotzdem möchte ich eine Nachfrage stellen: Ist der
Bundesregierung bekannt, dass einzelne Energieversor-
gungsunternehmen planen, die Kapazität der Gasspei-
chersysteme auszubauen? Hält die Bundesregierung das
momentane Reservevolumen für ausreichend?
D
Mir liegen momentan keine Angaben dazu vor. Aber
ich kann Sie darüber schriftlich unterrichten.
– Bitte.
Die Frage 5 wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Scharfenberg auf:
Betrachtet die Bundesregierung den Erhalt von wohnort-
nahen Arbeitsplätzen, von dem insbesondere in Teilzeit arbei-
tende Frauen profitieren, wie zum Beispiel bei der Telekom,
als Chance für strukturschwache Regionen und was wird die
Bundesregierung als größter Anteilseigner der Telekom tun,
um Schließungen von Callcenterstandorten der Telekom, zum
Beispiel in Oberfranken, zu verhindern und damit die dro-
hende Arbeitslosigkeit von Frauen abzuwenden, die auf
wohnortnahe Arbeitsplätze angewiesen sind?
D
Frau Scharfenberg, zu Ihrer Frage ist zu sagen, dass
es die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio-
nalen Wirtschaftsstruktur“ gibt – Sie kennen sie auch –,
die besonders in strukturschwachen Gebieten zum Tra-
gen kommt. Die GA-Förderung ist zwar nicht ge-
schlechtsspezifisch ausgerichtet, aber nichtsdestoweni-
ger können in Ländern, die strukturschwache Regionen
haben, Investitionen gefördert werden, die gezielt Ar-
beitsplätze für Frauen schaffen, und dafür die Höchstför-
derbeträge gewährt werden.
Dann fördert die GA auch Investitionen zur Schaf-
fung von Telearbeitsplätzen, wenn das mit Erziehungs-
bzw. Pflegeaufgaben in der Familie zusammenhängt.
Teilzeitarbeitsplätze werden bei der GA-Investitionsför-
derung anteilig berücksichtigt. Darüber hinaus kann
auch die Neuerrichtung von Callcentern, deren Arbeits-
plätze überwiegend mit Frauen besetzt werden, mit GA-
Zuschüssen gefördert werden.
Nun noch zu Ihrer speziellen Frage zu den Callcen-
tern der Telekom. Sie wissen, dass die Telekom eine bör-
sennotierte Aktiengesellschaft ist. Eine Einwirkung der
Bundesregierung ist nach dem Aktiengesetz nicht zuläs-
sig; denn nach dem Aktiengesetz werden die Geschäfte
vom Vorstand des Unternehmens in alleiniger Verant-
wortung geführt.
Kollegin Scharfenberg, bitte.
Ich habe dazu noch eine Nachfrage. Wie ich aus Ihren
Ausführungen heraushören kann, betrachten Sie es
schon als Chance für strukturschwache Gebiete, dass
solche Teilzeitarbeitsplätze, egal ob für Männer oder
Frauen, gefördert werden. Wenn die Bundesregierung
das als Chance sieht, dann würde mich interessieren, wie
die Vertreter der Bundesregierung im Aufsichtsrat der
Telekom abgestimmt haben, als es um den angekündig-
ten Stellenabbau bzw. um die Verlagerung der Callcenter
aus strukturschwachen Gebieten in Ballungsgebiete
ging.
D
Dazu kann ich Ihnen keine Angaben machen; ich
habe keine Kenntnis von dem Abstimmungsverhalten.
Ich habe aber schon darauf hingewiesen, dass aufgrund
des Aktiengesetzes keine Einflussnahme möglich ist.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz. Der Parlamentarische Staatssekretär Peter
Paziorek beantwortet die Fragen hierzu.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Goldmann von der
FDP-Fraktion auf:
Durch welche Regelungen will die Bundesregierung das
Bedürfnis nach unabhängigen und verlässlichen Informa-
tionen der Verbraucherinnen und Verbraucher in einem Ver-
braucherinformationsgesetz – wie unter anderem im Zehn-
punkteprogramm vom Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, ange-
kündigt – befriedigen?
Dr
Herr Kollege Goldmann, um die Informationsmög-lichkeiten der Verbraucherinnen und Verbraucher nach-haltig und wirksam zu stärken, wird sich die Bundesre-gierung für die Schaffung einer effektiven undpraktikablen gesetzlichen Regelung zur Verbesserungder gesundheitsbezogenen Verbraucherinformation ein-setzen. Neben einer Erleichterung der Befugnis der Be-hörden zur Information der Öffentlichkeit soll den Ver-braucherinnen und Verbrauchern ein auf die Produktedes Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs sowiedes Weingesetzes bezogenes Zugangsrecht zu Informa-tionen eröffnet werden, die bei Behörden vorhandensind.Dies, Herr Goldmann, sollte heute Nachmittag imBund-Länder-Gespräch detailliert erörtert werden. Wie-weit dies aber aufgrund der aktuellen Entwicklung imZusammenhang mit der Vogelgrippe tatsächlich der Fallsein wird, kann von mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht be-urteilt werden.
Metadaten/Kopzeile:
1276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Kollege Goldmann, bitte.
Herr Staatssekretär, zunächst einmal möchte ich Ver-
ständnis für den Teil Ihrer Antwort zum Ausdruck brin-
gen. Wir haben uns heute Vormittag im Ausschuss aus-
giebig mit dem Fall der Vogelgrippe beschäftigt. Nur, in
Ihrem Hause gibt es konzeptionelle Überlegungen. Die
wollten Sie heute Nachmittag der Verbraucherschutz-
ministerkonferenz vorstellen. Ich hatte nun gefragt,
durch welche Regelungen Sie den Konflikt, der hier an-
gesprochen worden ist, befrieden oder die Chance, die
nach Ihrer Auffassung in dem Zehnpunkteprogramm
liegt, nutzen wollen. Vielleicht können Sie an der einen
oder anderen Stelle doch noch etwas konkreter werden;
das, denke ich, darf ich als Parlamentarier von einer leis-
tungsfähigen Regierung erwarten.
Dr
Herr Goldmann, ich habe Verständnis dafür, dass Sie
sehr hohe Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der
Regierung stellen. Das ist auch grundsätzlich richtig so.
Man muss nur sehen, dass wir im Augenblick dabei sind,
die praktischen Fragen mit den zuständigen Ländern zu
erörtern. Bei den Fragen, ob ein eigenständiges Verbrau-
cherinformationsgesetz aufgelegt und was im Lebens-
mittel- und Futtermittelgesetzbuch geregelt werden soll,
kommen wir, wie Sie wissen, in den Bereich der Zustän-
digkeit der Länder. Deren Antworten müssen also in der
Tat abgewartet werden. Deshalb kann ich zum jetzigen
Zeitpunkt nur sagen, dass wir die gesamte Palette der
Möglichkeiten erst einmal noch mit den Ländern erör-
tern müssen.
Kollege Goldmann, noch einmal.
Danke, Herr Präsident. – Ich ahne jetzt schon, wie
Sie, Herr Staatssekretär, die weiteren Antworten ausge-
stalten werden. Wir haben ja, wie Sie sicherlich zur
Kenntnis genommen haben, einen ganzen Fragenkom-
plex an Sie gerichtet, weil wir uns für diesen Sachverhalt
ganz besonders interessieren. Und erst gestern Abend,
als wir, Herr Staatssekretär, gemeinsam beim Abendes-
sen waren, ist der Fall von Vogelgrippe aufgetreten.
– Ich rede von dem Fall auf Rügen, nicht von unserem
Abendessen.
Da sind wir beruhigt.
Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie die Ant-
worten auf die sechs Fragen, die wir gestellt haben, erst
heute Morgen entwickelt haben. Lassen Sie mich des-
halb zum Ausdruck bringen, dass ich ein wenig über Ihre
Antworten verwundert bin. Wir haben darüber hinaus
nämlich auch Informationen, dass Sie konzeptionelle
Vorstellungen bezüglich der Gesetzesformulierungen
schon an andere Institutionen herausgegeben haben. Vor
diesem Hintergrund halte ich es nicht für korrekt, dass
Sie mich als Parlamentarier – jedenfalls empfinde ich es
so – jetzt so auflaufen lassen.
Ich versuche es aber trotzdem noch einmal: Ist die
Bundesregierung weiterhin der Auffassung, dass ein
Verbraucherinformationsgesetz präventiv gegen Krimi-
nalität wirkt? Vielleicht kann ich an dieser Stelle gleich
den Streit zwischen der Staatsanwaltschaft und den
Ministerien in Bayern einbinden, den es im Zusammen-
hang mit dem dortigen Wildfleischskandal gibt. Sind Sie
nicht auch der Auffassung, dass schon nach der jetzigen
Regelung die Staatsanwaltschaft die Ministerien darüber
informieren muss, dass Schaden für Menschen entstehen
kann, und dass es deshalb eigentlich gar keiner Neurege-
lung in Form eines Verbraucherinformationsgesetzes
mehr bedarf?
Dr
Herr Goldmann, zunächst einmal muss ich an dieser
Stelle klar und deutlich sagen, dass wir zurzeit in unse-
rem Hause einen ersten Referentenentwurf erstellen.
Eine Kabinettsabstimmung hat also noch gar nicht statt-
gefunden. Wir sind vielmehr dabei, die nach den ver-
schiedenen Verfahrensbestimmungen notwendigen An-
hörungen und Gespräche zu führen. Wir sind dabei, mit
den Ländern Detailfragen abzustimmen; auch Sie rekur-
rieren ja mit Ihrem Hinweis auf Bayern auf die beste-
hende Gesetzeslage. Auch ich bin ja lange Zeit Opposi-
tionspolitiker gewesen und weiß, dass man als
Parlamentarier in einer solchen Situation gerne wissen
möchte, wie der Sachstand zu einem bestimmten Zeit-
punkt im Ministerium ist. Ich muss an dieser Stelle aber
klar und deutlich sagen, dass wir uns in Abstimmungs-
gesprächen mit den zuständigen Stellen befinden, und
bitte um Verständnis, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt
eine Position des Hauses aufgrund der Gesprächslage
nicht vortragen kann.
Damit sind wir bei der Frage 8, ebenfalls vom Kolle-
gen Goldmann:
Wie will die Bundesregierung zugleich den durch unsere
Rechts- und Wirtschaftsordnung garantierten Schutz der Be-
triebs- und Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen sicher-
stellen?
Dr
Ich gebe wenigstens eine Antwort in einem Satz, HerrGoldmann. – Mit der von mir in der Antwort zur vorigenFrage genannten gesetzlichen Regelung soll nach unse-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1277
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Peter Paziorekren Vorstellungen ein umfassender Schutz von Betriebs-und Geschäftsgeheimnissen gewährleistet werden. Be-triebs- und Geschäftsgeheimnisse – das ist eine Grund-satzposition unseres Hauses – sollen nicht offenbart wer-den.
Nachfragen dazu?
Ja, selbstverständlich, Herr Präsident.
Bitte schön.
Ich habe eine Nachfrage zu dem Verbraucherinforma-
tionsgesetz, das die Bundesregierung auf den Weg brin-
gen will. Wie wollen Sie, Herr Staatssekretär, denn die-
ses Verbraucherinformationsgesetz – vielleicht gibt es
dazu ja schon Vorstellungen – in bestehende gesetzliche
Regelungen wie zum Beispiel die Informationsfreiheits-
gesetze, die es auf Bundes- und Länderebene gibt, inte-
grieren oder wollen Sie auch das erst mit den Länderver-
tretern besprechen?
Dr
Hier geht es in der Tat um die äußerst spannende
Frage, ob im IFG abschließende Regelungen für diesen
Fall vorgesehen sind oder ob die Rechtsmeinung zutrifft,
dass tatsächlich noch Formulierungen zum Schutze von
Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen eingefügt werden
müssen, die über die jetzige Rechtslage hinausgehen.
Diese Rechtsfrage wird im Augenblick geprüft. Aus die-
sem Grunde kann ich Ihnen nicht mehr als den Hinweis
auf diesen Rechtsstreit mitteilen.
Noch einmal.
Herr Staatssekretär, können Sie mir vielleicht andeu-
tungsweise darlegen, welche Absichten Sie verfolgen
– ich nehme an, dass Sie präventiv gegen Fleischskan-
dale wirken wollen – und was bisher konzeptionell im
Hause angedacht ist, um konsequenter gegen Fleisch-
skandale vorzugehen?
Dr
Herr Goldmann, ich habe großen Respekt vor der Art
und Weise, in der Sie immer wieder versuchen, zu einem
internen Beratungsstand Informationen zu bekommen.
Ich kann an dieser Stelle nur auf den augenblicklichen
Sachstand hinweisen. Ich habe schon angedeutet – das
möchte ich noch einmal positiv erwähnen –, dass wir das
Betriebs- und Geschäftsgeheimnis – Ihnen ist es ein be-
sonderes Anliegen; so haben Sie sich, Herr Goldmann,
in der letzten Legislaturperiode auch bezüglich des Ver-
mittlungsausschusses immer eingelassen – als ein wich-
tiges Kriterium sehen. Ich muss aber ganz klar und deut-
lich sagen: Bei Rechtsverstößen ist es natürlich eine
spannende Frage, wie in diesem Fall der Informationsan-
spruch gestaltet werden kann. Wir sind im Augenblick
dabei, diesen Sachverhalt im Zusammenhang mit der Er-
stellung des Gesetzentwurfes zu prüfen.
Bitte schön, Kollegin Höfken.
Auch ich bin brennend daran interessiert, Näheres
dazu zu erfahren. Herr Staatssekretär, ist der Tatbestand
der wirtschaftlichen Täuschung auch im Verbraucherin-
formationsgesetz erfasst und gibt es in diesem Bereich
ein aktives und passives Informationsrecht bzw. eine ak-
tive und passive Informationspflicht?
Dr
In der Tat wird im Augenblick bei uns geprüft, ob bei
der anstehenden Novellierung von Gesetzen zum Le-
bensmittelrecht und eventuell bei einem eigenständigen
Entwurf zum Verbraucherinformationsgesetz die Fragen
der aktiven und der passiven Rolle ausgewogen gestaltet
werden müssen. Beim aktiven Recht geht es ja um die
Fragen: Was kann die Behörde selbst im Rahmen eines
bestimmten Falles tun? Wie kann sie informieren? Das
passive Recht beinhaltet die Frage: Welche Fragen kön-
nen die Bürger im Laufe eines Verfahrens den zuständi-
gen Behörden stellen und welche Antworten müssen
dann von den Behörden gegeben werden? Das alles ist
eng miteinander verwoben. Wir werden das in dem Ge-
setzentwurf, den wir im Augenblick vorbereiten, mitei-
nander abstimmen und harmonisiert in einem Artikelge-
setz, das dann zum Beispiel Regelungen zu einem
bestimmten Gesetz beim Lebensmittelrecht und zum
Verbraucherinformationsgesetz enthält, zusammenfas-
sen.
Jetzt kommen wir zu den Fragen des Kollegen
Geisen, zunächst zur Frage 9:
Plant die Bundesregierung, in dem vom Bundesminister
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst
Seehofer, vorgeschlagenen Verbraucherinformationsgesetz ei-
nen unmittelbaren Auskunftsanspruch von Verbraucherinnen
und Verbrauchern gegen Unternehmen zu verankern, und,
falls ja, aus welchen Gründen?
Dr
Herr Kollege Geisen, Herr Bundesminister Seehoferhatte die Absicht, am heutigen Tag in einem Gesprächmit den Wirtschaftsverbänden und einzelnen Unterneh-men die Möglichkeit der Einbeziehung der Wirtschaft ineine verbesserte Verbraucherinformation zu erörtern, um
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1278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Peter Paziorekeventuell Vorschläge aus der Praxis bei dem jetzt anste-henden Erarbeitungsverfahren zu diesem Gesetzeswerkeinzubeziehen. Leider musste das Gespräch aufgrundder aktuellen Entwicklung im Zusammenhang mit derVogelgrippe kurzfristig abgesetzt werden. Es bestehtaber die Absicht aller Beteiligten, dieses Gespräch bald-möglichst nachzuholen, weil diese Fragen für die Ausge-staltung eines Regierungsentwurfs von großer Bedeu-tung sind.
Nachfrage.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Plant die Bundesregierung den Ausschluss der In-
formationsweitergabe bei Daten, die Gegenstand eines
laufenden Verwaltungsverfahrens sind, und, falls ja, wa-
rum, falls nein, warum nicht?
Dr
Dazu kann ich noch nichts sagen, weil die Planungs-
absicht in unserem Hause noch nicht endgültig zum Ab-
schluss gebracht worden ist.
Eine zweite Frage: Wird die Bundesregierung die
Weitergabe und Veröffentlichung von in der Vergangen-
heit liegenden Sachverhalten, insbesondere von Verstö-
ßen gegen das Lebensmittelrecht, bei denen aber keine
Gefahr mehr für die Verbraucherinnen und Verbraucher
besteht, künftig zulassen, auch wenn dadurch die Gefahr
der Berufsschädigung für Unternehmen besteht, und,
falls ja, aus welchen Gründen hält die Bundesregierung
dies insbesondere für mit der Verfassung vereinbar?
Dr
Auch dazu, Herr Kollege Geisen, muss ich Ihnen mit-
teilen, dass die endgültige Entscheidung in unserem
Hause zu diesem Gesetzentwurf noch nicht getroffen ist,
sodass ich Ihnen hierzu im Detail keine Antwort geben
kann.
Dann kommen wir zur Frage 10 des Kollegen Geisen:
Wie will die Bundesregierung die Unternehmen allgemein
an dem Prozess der Information und Auskunft durch die Be-
hörden, die ein Auskunftsbegehren eines Verbrauchers gemäß
dem geplanten Verbraucherinformationsgesetz bearbeiten, be-
teiligen, insbesondere durch Anhörungs- und Einspruchs-
rechte?
Dr
Herr Kollege Geisen, die Bundesregierung wird dafür
Sorge tragen, dass bei der geplanten gesetzlichen Re-
gelung zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen
Verbraucherinformation auch berechtigte Belange be-
troffener Dritter bei der Bearbeitung eines Auskunftsbe-
gehrens insbesondere durch verfahrensmäßige Absiche-
rungen zu berücksichtigen sind.
Vielen Dank.
Danke schön. – Wir kommen damit zur Frage 11 der
Kollegin Schuster, FDP-Fraktion:
Wie will die Bundesregierung ein angekündigtes Verbrau-
cherinformationsgesetz ausgestalten, damit komplexe und
fachspezifische Daten in allgemein verständlicher und für die
Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehbarer Weise
herausgegeben werden?
Dr
Frau Kollegin Schuster, die Bundesregierung wird
sich dafür einsetzen, dass die genannte gesetzliche Rege-
lung eine Bestimmung enthält, wonach die an die Ver-
braucherinnen und Verbraucher herauszugebenden In-
formationen verständlich dargestellt werden sollen.
Bitte, Sie haben Gelegenheit zur Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, meine
Nachfrage betrifft die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher. Plant die Bundesregierung, die Auskunftserteilung
durch die Behörden gegenüber den Verbrauchern kosten-
pflichtig zu gestalten? Falls ja: In welchem Rahmen sol-
len sich die Gebühren bewegen? Mich interessiert, ob
sich die Höhe dieser Gebühren an dem Informationsfrei-
heitsgesetz oder dem Umweltinformationsgesetz orien-
tieren wird.
Dr
Auch dazu muss ich klar und deutlich sagen, dass eine
endgültige Entscheidung darüber noch nicht getroffen
worden ist. Die Problemlage, auf die sich auch Ihr be-
rechtigter Hinweis bezogen hat, ist bekannt. Es ist sinn-
voll, hier eine Abgleichung vorzunehmen. Aber ich kann
noch nicht sagen, wie die endgültige Entscheidung aus-
sehen wird.
Jetzt zunächst der Kollege Goldmann mit seiner Zwi-schenfrage.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1279
(C)
(D)
Herr Staatssekretär, können Sie in groben Zügen dar-
stellen, was Inhalt dieser „verständlichen Aufbereitung“
sein soll und welcher personelle – und damit kostenmä-
ßige – Aufwand nach Ihrer Meinung nötig ist, um diese
sicherzustellen? Sie können dazu einmal ins Internet
schauen. Da sind konzeptionelle Vorstellungen Ihres
Hauses zu finden. Wie Sie sicherlich wissen, ist einer der
Juckepunkte, wie sich der Kostenrahmen beim Verbrau-
cherinformationsgesetz entwickelt.
Dr
Herr Goldmann, Sie haben in der letzten Legislatur-
periode monatelang an den Beratungen teilgenommen.
Daher ist Ihnen sicherlich bekannt, dass die Länder zu
dieser Verpflichtung immer eine gewisse reservierte Hal-
tung einnahmen. Denn diese Vorgehensweise ist perso-
nal- und damit kostenaufwendig. Ich weiß nicht, wie Sie
damals im Vermittlungsverfahren abgestimmt haben
– Sie waren also dagegen; jetzt verstehe ich Ihre Frage –,
aber jedenfalls ist seinerzeit vereinbart worden, dass die
Informationen für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher verständlich dargestellt werden sollen. Das war
Konsens im Vermittlungsausschuss. Niemand in der
Bundesregierung und in diesem Hohen Hause käme
doch auf die Idee, eine andere Forderung zu erheben.
Ich gebe jetzt Kollegin Schuster die Gelegenheit zu
ihrer zweiten Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. – Auch auf die Gefahr hin,
dass es aus den bekannten Gründen jetzt keine Antwort
gibt, möchte ich fragen: Will die Bundesregierung die
Behörden zu weiter gehenden Veröffentlichungen, also
auch ohne konkretes Auskunftsbegehren eines Verbrau-
chers, insbesondere unter der Nutzung des Internets ge-
setzlich verpflichten? Aus welchen Gründen sieht die
Bundesregierung den bestehenden § 40 des Lebensmit-
tel- und Futtermittelgesetzbuches als nicht ausreichend
an?
Dr
Ich habe Verständnis dafür, dass Sie Kenntnis über
die genauen Formulierungen haben wollen. Aber es
existiert noch nicht einmal ein Referentenentwurf. Ihre
Fragen sind zwar berechtigt – damit treffen Sie den Kern
der Probleme, Hochachtung! –, aber sie werden etwas zu
früh gestellt, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben
darf.
Ich muss klar und deutlich sagen: Die Probleme sind
bekannt. Wenn es wissenschaftlichen Streit in der Frage
der Bewertung gibt, zum Beispiel ob etwas genotoxisch
ist oder nicht, dann muss der Sachverhalt so aufbereitet
werden, dass der interessierte Internetbenutzer erkennt,
dass es viele Meinungen und nicht eine einzige Meinung
gibt. Dieses Problem ist bekannt. Mit den Ländern muss
erörtert werden, wie man praktikabel vorgehen kann.
Kollegin Höfken hat auch noch eine Nachfrage.
Wir haben heute im Ausschuss auch schon ein wenig
über dieses Thema diskutiert. Sie konnten leider nicht
anwesend sein. Daher ist es ein bisschen gemein, wenn
Sie jetzt gefragt werden. Aber so ist es nun einmal.
Wir haben uns ausführlich mit dem Wildfleischskan-
dal beschäftigt und haben, wie ich denke, im Großen und
Ganzen übereinstimmend festgestellt, dass es sich um ei-
nen unsäglichen Skandal handelt, der die Landwirtschaft
und die gesamte Lebensmittelbranche in Verruf bringt.
Aus diesem Skandal muss eine Vielzahl von Konsequen-
zen gezogen werden.
In diesem Zusammenhang ist das Verbraucherinfor-
mationsgesetz von besonderer Bedeutung. Meine Frage
dazu lautet: Gedenken Sie aus dem Wildfleischskandal
– wie Umetikettierung und Neudeklaration, Auftauen
von Tiefkühlware und Verkauf als frische Ware – ent-
sprechende Konsequenzen für das Verbraucherinforma-
tionsgesetz zu ziehen?
Dr
Frau Höfken, alle Vorkommnisse und alle Tatbe-
stände, die Sie gerade angesprochen haben, müssen vom
Sachverhalt her beurteilt und gewichtet werden. Daraus
müssen dann Konsequenzen hinsichtlich der Praktikabi-
lität der neuen gesetzlichen Regelungen gezogen werden.
Aus diesem Grunde ist es eine dringende Notwendigkeit,
diese Fragen in den Gesprächen mit den Ländern, die
teilweise die allein zuständigen Vollzugsbehörden sind,
zu erörtern und darüber nachzudenken, welche Konse-
quenzen für die Formulierung der Gesetzesbestimmun-
gen gezogen werden müssen. Daher kann ich nur sagen:
Wir sind bereit, alle Vorkommnisse in die Überprüfung
einzubeziehen.
Dann der Kollege Beck.
Herr Staatssekretär, über den Diskurs, den wir zu denFragen der FDP-Fraktion im Zusammenhang mit demVerbraucherinformationsgesetz führen, bin ich insge-samt etwas verwundert. Denn im Wesentlichen sagen Sieuns: Informationen müssen verständlich sein. Über allesmuss geredet werden. – Das sind sehr pauschale Aus-künfte. Wie erklären Sie es sich, dass man in dieser Fra-gestunde den Eindruck gewinnen muss, dass die Bun-desregierung nicht weiß, was sie im Zusammenhang mitdem Verbraucherinformationsgesetz will, bzw. Sie uns
Metadaten/Kopzeile:
1280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Volker Beck
dies nicht sagen dürfen, angesichts der Tatsache, dass einEntwurf dieses Gesetzes für Ende Januar angekündigtwar und seit Dezember ein Gesetzentwurf unserer Frak-tion dem Ausschuss vorliegt? Es steht Ihnen frei, vondiesem Gesetzentwurf abzuschreiben, wenn Sie selbernicht mehr weiterwissen. Können Sie mir, falls Sie demEindruck widersprechen wollen, dass Sie hier nur sehrallgemein und an der Sache vorbei antworten, im Gegen-zug, um mich vom Gegenteil zu überzeugen, sagen, inwelchen Punkten sich die Vorstellung der Bundesregie-rung vom Gesetzentwurf der Grünen, der schriftlich vor-liegt, unterscheidet?Dr
Zunächst einmal muss ich mit aller Entschiedenheit
den Vorwurf zurückweisen, die Bundesregierung in mei-
ner Person rede an der Sache vorbei. Ganz im Gegenteil:
Ich habe Ihnen den Beratungsbedarf und den Arbeits-
stand innerhalb der Bundesregierung bzw. des Ministeri-
ums exakt geschildert. Ich bin der Ansicht – das ist der
Sachverhalt –, dass Informationen umfassend und kor-
rekt erfolgen müssen. All die Punkte, die hier inhaltlich
angesprochen worden sind, müssen in der Tat bei der
rechtlichen Ausformulierung besonders berücksichtigt
werden. Wenn der Referentenentwurf in unserem Hause
fertig gestellt sein wird, wird das Verfahren so ablaufen,
wie Gesetzgebungsverfahren bei allen Bundesregierun-
gen – auch zu Ihrer Zeit, als Sie in der Regierung waren –
abgelaufen sind: Dann wird der Referentenentwurf so-
wohl der Bundesregierung als auch dem Ausschuss und
den interessierten Kreisen für eine breitere Diskussion
zur Verfügung gestellt.
– Herr Beck, ich kenne keine Differenzen in der Sache.
Jetzt Kollegin Wolff und dann Kollege Goldmann.
Dann sollten wir die Frage 12 abschließen und zur
nächsten übergehen.
Herr Staatssekretär, gehe ich recht in der Annahme
– auch ich bin im Übrigen der Meinung, dass wir diese
Frage abschließen sollten –, dass das, was in der Bundes-
regierung jetzt vorbereitet wird, mit allen Betroffenen
besprochen wird? Soweit mir bekannt ist, ist das bisher
der Fall gewesen. Vielleicht könnten Sie den Parlamen-
tariern noch erklären, dass, wenn ein Gesetzentwurf auf
den Tisch kommt, das Parlament gefragt ist und alle Kol-
leginnen und Kollegen – jedenfalls kenne ich das so aus
den sieben Jahren meiner Parlamentsarbeit – dann die
Möglichkeit haben, an diesem Gesetz mitzuarbeiten.
Dr
Den ersten Aspekt Ihrer Frage kann ich bejahen. Ich
will ausdrücklich betonen, Frau Wolff, dass aktuell Ge-
spräche mit den betroffenen Bereichen der Wirtschaft,
den zuständigen Behörden und den Ländern geführt wer-
den, um abzuchecken, ob uns eine Gesetzesformulie-
rung, die wir eventuell vorschlagen wollen, auch tatsäch-
lich in der Praxis einen Schritt weiterbringen würde. Das
ist ein ganz normales Verfahren, das in Gesetzesverfah-
ren bei der Erarbeitung von Entwürfen immer ange-
wandt wird. In der Praxis gibt es da kein Abweichen.
Ich kann also feststellen: Gespräche mit interessierten
Kreisen sind fest terminiert. Nach Abschluss dieser Ge-
spräche werden wir einen Referentenentwurf erstellen.
Darüber hinaus wird es so sein, dass wir, wie es nach der
Geschäftsordnung die Pflicht unseres Hauses ist, in ei-
nen engen Dialog mit dem Gesetzgeber, nämlich mit die-
sem Hohen Hause, treten, das dieses Gesetz letztlich ver-
abschieden wird.
Nun noch Kollege Goldmann.
Herr Staatssekretär, nach meiner Einschätzung haben
die Ungereimtheiten beim Fleischskandal sehr viel mit
„regionaler Verfilzung“ zu tun. Ist in Ihren Vorstellun-
gen, die Sie heute Morgen Vertretern von Verbänden und
Parteien dargelegt haben und die Sie heute Nachmittag
den Verbraucherschutzministern zur Kenntnis geben, der
Gesichtspunkt einer fachlichen, informativen Meinungs-
führerschaft des Bundes gegenüber den Ländern berück-
sichtigt, oder ist das von Ihnen nicht angedacht?
Dr
Generell ist zu sagen, dass wir im Rahmen des Bund-
Länder-Verhaltens von dem Grundsatz der Kooperation
ausgehen. Es muss ein gemeinsames Vertrauensverhält-
nis geben. Das ist sogar ein tragender Grundsatz der Ver-
fassung. Unter diesem Gesichtspunkt beantworte ich
Ihre Frage nicht positiv.
– Das ist durchaus nicht ausgeschlossen. Auch eine
Taskforce ist im Gespräch. Hierzu gibt es aber noch
keine verbindliche Entscheidung.
Wenn ich richtig aufgepasst habe, kommen wir jetztzur Frage 12 der Kollegin Schuster. – War die schon be-antwortet? – Entschuldigung, dann zur Frage 13 der Kol-legin Höfken:Wird die Bundesregierung die fehlenden toxikologischenDaten, die für eine Gesamtbewertung der Gesundheitsgefähr-dung durch Isopropylthioxanton, ITX, erforderlich sind, erhe-ben oder von der Verpackungsindustrie einfordern, um zu ei-ner abschließenden Empfehlung für die Verwendung dieserChemikalie zu kommen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1281
(C)
(D)
Dr
Frau Höfken, in ihren Stellungnahmen kommen die
europäischen Behörden für Lebensmittelsicherheit und
das Bundesinstitut für Risikobewertung zu dem Schluss,
dass die ITX-Rückstände in Lebensmitteln nach dem jet-
zigen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht geno-
toxisch sind. Für eine vollständige gesundheitliche Be-
wertung sind zusätzliche Daten zur toxischen Wirkung,
zur Bioverfügbarkeit und zur Toxizität dieses Stoffes er-
forderlich. Es obliegt der Industrie, diese weiteren Daten
zur Verfügung zu stellen.
Das BMELV ist mit den Ländern und den beteiligten
Wirtschaftskreisen bezüglich eines nationalen Orientie-
rungswertes für ITX im Gespräch. In Kontakt mit der
Wirtschaft sollen tragfähige Lösungen entwickelt wer-
den, die dem Problem gerecht werden. Wie bekannt ist,
hat unter anderem Tetra Pak angekündigt, die Belastun-
gen deutlich zu minimieren. In diesem Zusammenhang
wird aber geprüft, ob ein EU-weites Vorgehen, zum Bei-
spiel die Festlegung einheitlicher Beurteilungskriterien
einschließlich der eventuellen Schließung von Datenlü-
cken, auf Gemeinschaftsebene erforderlich ist.
Es war vorgesehen, Frau Höfken, auch diesen Sach-
verhalt in dieser Woche zu erörtern. Die Termine waren
schon vereinbart, sowohl mit Vertretern der Wirtschaft
als auch mit Vertretern der zuständigen Länder. Inwie-
weit sich die beiden Termine in dieser Woche aufrechter-
halten lassen, kann ich heute nicht beurteilen.
Bitte, Kollegin Höfken.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das In-
strument REACH, das es ermöglicht, Aufschluss über
die Daten solcher Altlasten zu geben? Sind Sie nicht
auch der Auffassung, dass es völlig ungerechtfertigt ist,
wenn die Bundesregierung die Bestimmungen in
REACH in Brüssel derart massiv einschränkt und hier
nicht die notwendigen Informationen über möglicher-
weise gefährliche Altlasten gibt?
Dr
Gefährliche Altlasten müssen – das ist unbestritten
und war immer Position der Bundesregierung – eindeu-
tig benannt werden. Dazu bedarf es eines entsprechen-
den Prüfverfahrens.
Die entscheidende Frage in der letzten Legislaturperi-
ode war ja, ob all die Verfahrensbestimmungen, die im
ersten Entwurf zu REACH von der Kommission ange-
dacht waren, tatsächlich notwendig sind, um Gefahrensi-
tuationen zu beschreiben. Es gab unterschiedliche An-
sichten darüber. Wir sind der Ansicht, dass das, was jetzt
auf europäischer Ebene zu REACH vereinbart worden
ist, ausreicht, um Gefahrenlagen, wie sie jetzt bei ITX
aufgetreten sind, zu beschreiben.
Haben Sie eine weitere Nachfrage dazu? – Dann kön-
nen wir zur Frage 14 der Kollegin Höfken übergehen:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass angesichts
der ungeklärten toxikologischen Bewertung der Chemikalie ITX
in Kartonsäften und den von der Deutschen Umwelthilfe ge-
fundenen Belastungen in Höhe von bis zu 447 Mikrogramm
pro Kilogramm in einzelnen Säften, die den österreichischen
Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kilogramm erheblich
überschreiten, eine Aktion des Rückrufs der belasteten Säfte
durch die Behörden und Unternehmen durchzuführen ist?
Dr
Nach Angaben der österreichischen Regierung ist
vorgesehen, zum Vorkommen von ITX eine Empfehlung
zu erarbeiten. Einen Grenzwert für ITX gibt es in Öster-
reich nicht.
Für die Überwachung des Verkehrs mit Lebensmitteln
sind in der Bundesrepublik Deutschland die Länderbe-
hörden zuständig. Das Bundesinstitut für Risikobewer-
tung hat in seiner Empfehlung im Rahmen der Bewer-
tung von ITX dargelegt, dass die bisher von der Industrie
vorliegenden toxikologischen Daten zum Ausschluss der
Genotoxizität für die Bewertung mit einem maximalen
Übergang von 50 Milligramm pro Kilogramm in Le-
bensmitteln ausreichen. Zu diesem Schluss kommt auch
die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit in
ihrer Bewertung. Diese Empfehlungen der beiden Stel-
len liegen den zuständigen Länderbehörden vor.
Bitte schön.
Ich würde gerne noch wissen, ob Sie in dem Zusam-
menhang nicht eine Rückrufaktion für erforderlich hal-
ten, weil der Wert doch sehr hoch ist. Ganz allgemein
kann man doch sagen: Druckereierzeugnisse gehören
wohl kaum in Säfte.
Wann rechnen Sie – das ist meine zweite Frage – mit
dem Abschluss der Datenerhebung?
Dr
Zunächst einmal kann ich für die Bundesregierung sa-gen, dass wir Ihrer Meinung sind: Solche Druckermitteldürfen natürlich nicht in Lebensmitteln anzufinden sein.Wir werden auch alles tun und die Wirtschaft darauf hin-weisen, dass Verfahren geändert werden müssen, damitsolche Gefahren von vornherein ausgeschaltet sind. Eshat bereits Mitte Dezember Gespräche zwischen Vertre-tern unseres Hauses und denen der betroffenen Wirt-schaft dazu gegeben. Diese hat in den Gesprächen zuge-sagt, die Verfahren sofort zu verändern.
Metadaten/Kopzeile:
1282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Peter Paziorek– Das wollte ich gerade sagen. Das ist erfolgt, sodass wirjetzt davon ausgehen können, dass die Verfahren, diezum Eintrag der Stoffe geführt haben, nicht mehr ange-wandt werden. Wir wollen in dieser Woche mit der Wirt-schaft sprechen, ob das Verfahren, das wir angestrebt ha-ben, in der Sache auch ausreichend ist oder ob nochweitere Maßnahmen ergriffen werden müssen. Wir ste-hen also in Kontakt mit der Wirtschaft, um mögliche Ge-fahrenquellen von vornherein zu beseitigen.
Sind denn jetzt alle Verfahren geändert?
Dr
Soweit ich das im Augenblick beurteilen kann – das
muss ich an dieser Stelle etwas vorsichtig sagen –, sind
deutliche Minderungen eingetreten. Man hat mir gesagt,
man könne nach dem jetzigen Stand davon ausgehen,
dass fast alle Verfahren geändert worden sind. Wir wer-
den auch dazu in dieser Woche eine Information seitens
der Wirtschaft bekommen.
Die Kollegin Schuster hat mir signalisiert, dass ich
doch Recht hatte und die Frage 12 der Kollegin Schuster
noch nicht beantwortet ist. Ich rufe sie daher auf:
Wie will die Bundesregierung insbesondere vermeiden,
dass Informationen dadurch missverständlich werden, dass sie
aus dem Zusammenhang gerissen an die Öffentlichkeit oder
an einzelne Verbraucherinnen und Verbraucher herausgege-
ben werden?
Herr Staatssekretär.
Dr
Frau Schuster, die in der Antwort auf eine vorherge-
hende Frage – ich weiß nicht, ob es eine von Ihnen war –
genannte Bestimmung kann im Einzelfall natürlich auch
erfordern, dass herauszugebende Informationen aufbe-
reitet, mit Erläuterungen versehen oder im Zusammen-
hang dargestellt werden.
Bitte.
Ich habe keine Nachfrage, danke.
Danke schön.
Dann kommen wir zum nächsten Geschäftsbereich,
und zwar dem des Bundesministeriums für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend. Zur Beantwortung steht
Staatssekretär Hermann Kues zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 15 der Kollegin Lötzsch:
Welche Aktivitäten plant die Bundesregierung in diesem
Jahr anlässlich des Internationalen Frauentages?
Dr
Konkret aus Anlass des Internationalen Frauentages
wird die Bundesregierung am Vorabend in Berlin ein
bundesweites Frauen-Business-Mentoring mit dem Titel
„Von Vorbildern lernen“ durchführen lassen. Die Mento-
ringfachtagung wird von der Käte-Ahlmann-Stiftung or-
ganisiert. Es ist die Abschlussveranstaltung eines sehr
erfolgreichen Modellprojektes, das vom Ministerium fi-
nanziert wurde. Die Käte-Ahlmann-Stiftung als Organi-
satorin setzt damit das erste bundesweite Mentoringpro-
gramm von Unternehmerinnen für Unternehmerinnen
erfolgreich um.
Über den konkreten Anlass des Internationalen Frau-
entages hinaus sind im weiteren Verlauf der Legislatur-
periode zahlreiche Projekte und Initiativen im Bereich
der Gleichstellungspolitik vorgesehen.
Kollegin Lötzsch, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
dankenswerterweise haben Sie in Ihrer Antwort den di-
rekten Bezug auf den Internationalen Frauentag genom-
men. Ich habe auf der Homepage Ihres Ministeriums den
Suchbegriff „Frauentag“ eingegeben. Dort erschien je-
doch kein Stichwort. Vielleicht können Sie eine entspre-
chende Änderung veranlassen, damit das der Öffentlich-
keit bekannt gegeben wird.
Sie haben gesagt, Sie planen zahlreiche Initiativen.
Mich würde interessieren, welche Initiativen die Bun-
desregierung noch in diesem Jahr plant, um die Gleich-
stellung von Frauen und Männern zu fördern. Können
Sie Beispiele nennen?
Dr
Ja. Zunächst einmal vielen Dank für die Anregung zurGestaltung der Homepage. Ich werde das im Haus ent-sprechend weitergeben.Konkret planen wir – auch gemäß Koalitionsvertrag –einen Bericht zur Gleichstellung von Frauen und Män-nern. Die Bundesregierung wird dazu eine Stellung-nahme abgeben. Es ist eine Regierungserklärung vorge-sehen. In dieser sollen weitere Fortschritte aufgezeigtwerden. Die verbliebenen Defizite sollen offen gelegtund die sich daraus ergebenden Konsequenzen gezogenwerden. Die Grundlage für diesen Bericht wird der kom-mentierte Datenreport sein, der 2005 im Auftrag desBMFSFJ durch das Deutsche Jugendinstitut erstellt wor-den ist.Als weiteren Punkt – neben vielen anderen – möchteich nennen: Es wird einen Bericht zu den Auswirkungendes Prostitutionsgesetzes geben, beispielsweise zurFrage, ob die damit verbundenen Erwartungen erfülltwurden. Eine Frage, über die viel diskutiert wurde und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1283
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kuesdie in diesem Zusammenhang auch erörtert werdenmuss, ist, welche Konsequenzen sich aus dem Prostitu-tionsgesetz für die Strafverfolgung von Menschenhandelergeben haben. Dazu gibt es verschiedene Hypothesenund Behauptungen. Dies soll untersucht werden.Des Weiteren soll der Aktionsplan zur Bekämpfungvon Gewalt gegen Frauen fortgeschrieben werden.Als Letztes will ich eine bundesweite Helpline „Ge-walt gegen Frauen“ nennen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ich komme noch
einmal auf Ihre ursprüngliche Antwort zur Frage zurück.
Sie erwähnten das Mentoringprogramm. Welche weite-
ren Initiativen plant die Bundesregierung, um Frauen zu
unterstützen, Führungspositionen in Wirtschaft und an-
deren Bereichen der Gesellschaft zu erreichen?
Dr
Wir werden das Mentoringprogramm, das erfolgreich
durchgeführt wurde, auswerten und dann in der Regie-
rungserklärung zum Gleichstellungsbericht die notwen-
digen Konsequenzen aufzeigen. Das werden wir mit den
anderen Ressorts abstimmen, damit es handfest wird.
Danke schön. – Die Fragen 16 und 17 der Kollegin
Lenke werden schriftlich beantwortet, da sie nicht im
Saal ist. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung
vorgesehen.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth steht zur
Beantwortung bereit.
Die Fragen 18 und 19 des Kollegen Döring werden
schriftlich beantwortet.
Damit sind wir bei der Frage 20 der Kollegin Ekin
Deligöz:
Welche Informationen hat die Bundesregierung über den
Abfluss der Mittel für die Fertigstellung des vierspurigen
Ausbaus der Bahnstrecke zwischen Augsburg und München
und gibt es Informationen darüber, wann die Fertigstellung
endgültig erfolgen soll?
K
Verehrte Kollegin Deligöz, ich habe eine für Sie si-
cherlich erfreuliche Antwort. Die Fertigstellungen und
Inbetriebnahmen sind wie folgt vorgesehen: für den Ab-
schnitt Augsburg–Mering bis Ende 2008, für den Ab-
schnitt Mering–Olching Ende 2010 bzw. Anfang 2011.
Der Mittelabfluss der DB Netz AG und der DB Station
& Service AG beträgt inklusive der Planungskosten bis
einschließlich November 2005 249,9 Millionen Euro.
Nachfragen zur Frage 20?
Frau Staatssekretärin, vielen Dank für Ihre Antwort.
Ich habe eine Nachfrage. Es mag zwar sein, dass für ein
solches Ausbauvorhaben die Daten – 2008 und 2010 –
ganz gut sind, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die
Fertigstellung damals von Herrn Waigel für 2004 ange-
kündigt wurde, ist es trotzdem zu spät. Wenn jetzt die
Trasse zwischen München und Ingolstadt in Betrieb
kommt, fallen 50 Prozent aller ICE-Verbindungen über
Augsburg aus. Über 27 000 Pendler sind davon betrof-
fen. Welche Ratschläge werden Sie vonseiten der Bun-
desregierung an die Pendler geben, wenn die Verbindung
nicht mehr gewährleistet ist?
K
Eine zügige Fertigstellung ist geplant. Sie wissen,
dass die Höhe der Haushaltsmittel hierbei eine Rolle ge-
spielt hat. Die Planung und die Durchführung müssen
stringent durchgeführt werden. Wir haben schon einige
fertig gestellte Abschnitte. Wir wissen, dass das notwen-
dig ist. Deshalb bauen wir den Schienenverkehr aus.
Darf ich noch eine Nachfrage stellen?
Ja.
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie guten Willens sind.
Aber während die Kürzungen der Bahn auf dieser Stre-
cke, jetzt im Februar angekündigt, zum nächsten Fahr-
planwechsel kommen werden, dauert es bis zur Fertig-
stellung des Ausbaus noch ein paar Jahre. Für die
Region Schwaben ist das ein großes Desaster, weil sie so
auch wirtschaftlich abgehängt wird. Wie übernimmt die
Bundesregierung ihre Verantwortung, dieses wirtschaft-
liche Defizit, das durch den Wegfall der ICE-Verbindung
entstehen wird, wettzumachen? Ist Ihnen in der Bundes-
regierung dieses Problem bewusst und gibt es schon Ge-
genmaßnahmen?
K
Es ist eine Hypothese, zu sagen, dass die Verzögerung
des Ausbaus Nachteile für die Region mit sich bringt.
Wir gehen davon aus, dass die Planungen, die vonseiten
des Bundes vorgenommen wurden, notwendig und rich-
tig waren und den dortigen Wirtschaftsraum unterstützen
und beflügeln werden. Wir denken aber nicht, dass diese
Maßnahme negative Auswirkungen auf die gesamte
Wirtschaft haben wird.
Damit sind wir bei der Frage 21 der Kollegin EkinDeligöz:Welche Informationen hat die Bundesregierung bezüglichder Berücksichtigung in der Bedarfsplanung zum Ausbau desSchienennetzes über den Bahnstreckenausbau zwischen Ulmund Oberstdorf, insbesondere zum geplanten Ausbau des Teil-
Metadaten/Kopzeile:
1284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Vizepräsident Wolfgang Thiersestücks von Neu-Ulm nach Memmingen, und welche finanziel-len Mittel des Bundes sind für die Realisierung des Projektseingeplant?K
Der Ausbau der Strecke Ulm–Memmingen–Oberst-
dorf wurde in der Bedarfsplanung zum Ausbau des
Schienennetzes nicht berücksichtigt. Im Rahmen der Er-
arbeitung des Bundesverkehrswegeplans 2003 wurde
zum Ausbau der Strecke Ulm–Memmingen–Oberstdorf
eine gutachterliche Stellungnahme eingeholt. Diese er-
gab, dass aus Sicht des Schienengüterverkehrs und des
Schienenpersonenverkehrs für diese Strecke kein Aus-
baubedarf besteht.
Kollegin Deligöz.
Da Sie die Nachfrage, die ich vorhin gestellt habe,
nicht zufrieden stellend beantwortet haben, muss ich
darauf zurückkommen: Wenn 50 Prozent aller ICE-Ver-
bindungen, die auf einer Strecke abgewickelt werden,
gestrichen werden, aber nur durch sie die Anbindung an
die Flughäfen und Großstädte in der Region gewährleis-
tet werden kann, dann hat das wirtschaftliche Nachteile.
Um diese Feststellung treffen zu können, braucht man
keine großartigen Expertisen durchzuführen; denn das
ist schon bekannt, und zwar auch bei der Bahn.
Inwieweit wird die Bundesregierung auf die Deutsche
Bahn AG und die Bayerische Staatsregierung Einfluss
nehmen, damit Maßnahmen wie der Ausbau der Regio-
nalstrecken eingeleitet werden, durch die insbesondere
diese Region wieder gestärkt wird?
K
Frau Kollegin, seit der Bahnreform sind die Länder,
hier der Freistaat Bayern, für den regionalen Verkehr
bzw. den Schienenpersonennahverkehr zuständig, nicht
die Bundesregierung.
Angesichts der Tatsache, dass CDU und CSU im
Deutschen Bundestag eine Fraktionsgemeinschaft bil-
den, frage ich Sie: Inwieweit wird die Bundesregierung
im Interesse der Förderung der regionalen Wirtschaft ih-
ren Einfluss geltend machen? Oder werden Sie hier
überhaupt nichts unternehmen?
K
Was Ihre Frage hinsichtlich unseres Einflusses auf
den Freistaat Bayern betrifft, so muss ich Ihnen sagen:
Wir gehen davon aus, dass die in der Region vorhande-
nen Bedarfe und Bedürfnisse bekannt sind. Über die
Verteilung der Regionalisierungsmittel entscheidet der
Freistaat Bayern aus seiner regionalen Sicht. Dabei soll
es auch bleiben.
Danke schön. – Die Fragen zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit – Frage 22 des Kollegen Winfried
Hermann sowie die Fragen 23 und 24 der Kollegin
Sylvia Kotting-Uhl – werden schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung.
Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatssekre-
tär Andreas Storm zur Verfügung. Die Fragen 25 des
Kollegen Hans-Josef Fell sowie die Fragen 26 und 27
der Kollegin Priska Hinz werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 28 der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Fraktion Die Linke, auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass zur-
zeit aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Haushaltsver-
handlungen keine Auszahlungen über den so genannten Ver-
bändetitel, über den unter anderem Seminare politischer
Studierendenorganisationen – Jungsozialisten, Ring Christ-
lich-Demokratischer Studenten, bei der Gewerkschaft Erzie-
hung und Wissenschaft der Bundesausschuss der Studentin-
nen und Studenten, Freier Zusammenschluss von Student/inn/-
enschaften usw. – gefördert werden, erfolgen, womit die Mög-
lichkeiten zur politischen Arbeit für die Betroffenen deutlich
eingeschränkt werden?
A
Frau Kollegin, Ihre Frage beantworte ich wie folgt:
Die Bundesregierung begrüßt die Arbeit der studenti-
schen Verbände auf dem Gebiet der politischen und kul-
turellen Bildung. Im Jahr 2006 wird das Haushaltsgesetz
erst nach Beginn des Haushaltsjahres verkündet. Bis zu
diesem Zeitpunkt richtet sich die vorläufige Haushalts-
führung zur Wahrung der Budgethoheit des Parlamentes
nach Art. 111 Grundgesetz.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
betrachtet in dieser Zeit die geltenden verfassungsmäßi-
gen Vorgaben. Danach können Ausgaben, zu denen be-
sagter Art. 111 Grundgesetz nicht ermächtigt, nur unter
Beachtung sehr enger Voraussetzungen, nämlich einem
unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnis, mit
Zustimmung des Bundesministers der Finanzen geleistet
werden.
Diese engen Voraussetzungen für die Bewilligung
von Zuwendungen sind nach Einschätzung der Bundes-
regierung im Falle der Förderung der Studentenverbände
nicht erfüllt. Im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten
wird das Bundesbildungsministerium bemüht sein, nach
In-Kraft-Treten des Haushaltsgesetzes 2006 etwaige Be-
willigungsrückstände aufzuholen.
Kollegin Hirsch.
Ich habe eine konkrete Nachfrage zu dem, was Sie zu-letzt gesagt haben: Zahlreiche Vertreterinnen und Vertre-ter der genannten Organisationen haben uns ihre Be-fürchtung mitgeteilt, dass durch die faktische Verkürzungdes Bewilligungszeitraums – die Haushaltsgesetzgebung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1285
(C)
(D)
Cornelia Hirschist ja noch nicht erfolgt – insgesamt weniger Mittel fürdie Seminarförderung zur Verfügung stehen werden.Wird über so etwas diskutiert bzw. wie wird damit umge-gangen?A
Die großen, leistungsstarken Verbände in diesem Be-
reich sind bereits mit Schreiben vom 8. September 2005
darüber unterrichtet worden, dass im Haushaltsjahr 2006
diese besondere Situation besteht. Sie sind darüber hi-
naus aufgefordert worden, zu überlegen, ob langfristig
eine zeitliche Verlagerung ihrer förderfähigen Maßnah-
men möglich wäre, zum Teil in das Jahr 2005 oder in das
Jahr 2006. Im Übrigen wird sich die Situation dann erge-
ben, wenn konkret Mittel bewilligt sind, also voraus-
sichtlich im Frühsommer 2006.
Ich verstehe nicht, warum Sie gesagt haben, dass nur
die Finanzstarken angeschrieben sind. Gerade die fi-
nanzschwächeren Organisationen haben doch besonde-
ren Bedarf: Sie sind darauf angewiesen, ihre Seminarför-
derung, ihre politische Arbeit durch das BMBF zu
finanzieren.
A
Frau Kollegin Hirsch, Sie waren in der Vergangenheit
selbst in diesem Bereich aktiv. Man kann nicht sämtliche
Verbände anschreiben. Aber die Ihnen bekannten großen
Verbände wie RCDS, Jusos, fzs oder GEW, die regelmä-
ßig von der Förderung profitieren, sind mit diesem
Schreiben vom September des Jahres 2005 informiert
worden.
Damit zur nächsten Frage der Kollegin Hirsch,
Frage 29:
Aus welchen Gründen orientiert sich nach Kenntnis der
Bundesregierung die Zuweisung der Mittel für den Hoch-
schulbau gemäß den im Koalitionsvertrag niedergeschriebe-
nen Pläne zur Föderalismusreform an den abgerufenen Mit-
teln der Jahre 2000 bis 2003?
A
Frau Kollegin Hirsch, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Im Koalitionsvertrag ist auf der Basis der Vor-
schläge der Föderalismuskommission eine Folgerege-
lung für die Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau“, die
abgeschafft werden soll, vorgesehen: Ab dem 1. Januar
2007 sollen den Ländern jährliche Beträge aus dem
Haushalt des Bundes als Ausgleich für den Wegfall sei-
ner Finanzierungsanteile zustehen. Die Regelung zur
Aufteilung des daraus resultierenden Betrages unter den
Ländern beruht auf einer Verständigung zwischen den
Ländervertretern in der Föderalismuskommission: Maß-
geblich ist der Durchschnittsanteil eines jeden Landes an
den allen Ländern tatsächlich zugewiesenen Bundesmit-
teln im Zeitraum 2000 bis 2003.
Nachfrage.
Von den finanzschwächeren Bundesländern wurde
Kritik an dieser Verfahrensweise geäußert, weil sie im
Zeitraum 2000 bis 2003 weniger Mittel zur Verfügung
gestellt bekommen haben und daher befürchten, dass
sich diese Diskriminierung verfestigen wird. Inwieweit
sieht die Bundesregierung hier im Zuge der geplanten
Föderalismusreform Nachbesserungsbedarf, beispiels-
weise durch Änderung des Verteilungsschlüssels – Aus-
richtung an der Studierendenzahl oder ähnlichen Punk-
ten –, und inwieweit sieht die Bundesregierung die
Notwendigkeit, diese Diskriminierung abzubauen?
A
Frau Abgeordnete Hirsch, ich darf auf meine vorhe-
rige Antwort verweisen: Der Verteilungsschlüssel ist von
den Ländern in der Föderalismuskommission so vorge-
schlagen und von uns akzeptiert worden. Die Bundesre-
gierung beabsichtigt nicht, auf eine Veränderung des
Schlüssels hinzuwirken, weil dieser eine Angelegenheit
der Länder ist.
Laut Koalitionsvertrag will die Bundesregierung die
Studierendenquote deutlich steigern. Inwieweit sieht sie
die Möglichkeit, nach einem Wegfall der Gemein-
schaftsaufgabe „Hochschulbau“ eine Art gesamtstaat-
liche Bildungsplanung vorzunehmen, damit die Hoch-
schulen ausreichend ausgebaut werden, um die größeren
Studierendenzahlen aufzufangen?
A
Frau Abgeordnete, wenn, wie im Koalitionsvertrag
vorgesehen, die Vorschläge der Föderalismuskommis-
sion umgesetzt werden, sind investive Maßnahmen im
Bereich der Hochschulen Aufgabe der Länder. Im Übri-
gen darf ich darauf verweisen, dass die Bundesbildungs-
ministerin mit den Ministern der Länder Gespräche über
die Vorbereitung eines möglichen Hochschulpaktes 2020
führt, der genau diese Punkte zum Gegenstand hat.
Danke schön. – Die Fragen 30 und 31 werden schrift-lich beantwortet.Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen be-antwortet der Parlamentarische Staatssekretär GerdAndres.Ich rufe zunächst die Frage 32 der Kollegin BrigittePothmer auf:Mit welchen konkreten Ausweichreaktionen auf die ge-plante Erhöhung der Abgaben auf Minijobs im gewerblichenBereich um 5 Prozent rechnet die Bundesregierung, wenn sieunterstellt, dass durch die Erhöhung die Lohnsumme aus ge-ringfügiger Beschäftigung um 15 Prozent sinken wird?
Metadaten/Kopzeile:
1286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
G
Herr Präsident! Frau Kollegin Pothmer, wenn Sie ein-
verstanden sind, würde ich die Fragen 32 und 33 gerne
zusammen beantworten.
Ich bin einverstanden.
Dann rufe ich zusätzlich noch die Frage 33 auf:
Mit welchen Nettomehreinnahmen für den Bundeshaus-
halt durch die geplante Erhöhung der Abgaben auf Minijobs
im gewerblichen Bereich um 5 Prozent rechnet die Bundesre-
gierung, wenn nach eigenen Annahmen durch diese Erhöhung
die Lohnsumme aus geringfügiger Beschäftigung um
15 Prozent sinken wird?
Bitte schön.
G
Sehr verehrte Frau Kollegin, offensichtlich beziehen
Sie sich bei Ihren Fragen auf einen Arbeitsentwurf, den
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rah-
men der Vorbereitung des Haushaltsbegleitgesetzes dem
Bundesminister der Finanzen zur Verfügung gestellt hat.
Dieser auf Arbeitsebene entwickelte Entwurf, der die
Umsetzung der von der Bundesregierung in Genshagen
beschlossenen Erhöhung der Pauschalabgaben für ge-
ringfügige Beschäftigungen im gewerblichen Bereich
von bisher 25 Prozent auf künftig 30 Prozent zum Ziel
hat, basiert auf einer Modellrechnung, wie sich die Erhö-
hung der Beiträge um 5 Prozentpunkte und der Ansatz
bestimmter Annahmen mathematisch auf die gesamte
Lohnsumme auswirken könnten, wenn man Ausweich-
reaktionen unterstellt.
Es ist nicht vorhersehbar, ob es überhaupt zu Aus-
weichreaktionen kommen wird. Die Bundesregierung
rechnet daher auch nicht mit einem Rückgang der Lohn-
summe aus den Minijobs in Höhe von 15 Prozent. Die
von Ihnen genannte Quote stellte lediglich den Wert ei-
ner beispielhaften Modellrechnung und nicht die Ein-
schätzung der Bundesregierung dar. Die Bundesregie-
rung geht, netto betrachtet, insgesamt von deutlichen
Mehreinnahmen in der Sozialversicherung durch die An-
hebung der Pauschalabgaben aus, selbst wenn es zu Aus-
weichreaktionen kommen sollte.
Diese Mehreinnahmen schaffen Spielraum für eine
Entlastung des Bundeshaushaltes, indem Zuweisungen
an die Sozialversicherung entsprechend reduziert wer-
den. Die Höhe der nach Auffassung der Bundesregie-
rung zu erwartenden Mehreinnahmen wird aktuell durch
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Ab-
stimmung mit dem Bundesministerium der Finanzen
noch geprüft. Eine Bezifferung wird im Rahmen der
Vorlage des Entwurfs des Haushaltsbegleitgesetzes
erfolgen, das nach derzeitiger Planung am 22. Februar
2006 im Bundeskabinett behandelt werden soll.
Bitte, Sie haben Gelegenheit zu Zusatzfragen.
Geht die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass
der Herr Professor Friedrich Schneider, der auch gerne
der „Papst der Schwarzarbeit“ genannt wird, in seinem
letzten Report noch einmal darauf hingewiesen hat, dass
der Rückgang der Schwarzarbeit sowohl im Jahre 2004
als auch im Jahre 2005 mit der derzeitigen Regelung der
Minijobs zu tun hat, nicht auch davon aus, dass eine
Neuregelung zu einer erneuten Abwanderung der Inha-
ber von Minijobs in die Schwarzarbeit führen würde?
G
Frau Kollegin, wie ich Ihnen in meiner Antwort schon
gesagt habe: Es kann sein, es kann aber auch nicht sein.
Ja, ja.
G
Ich habe die Frage beantwortet. – Ich glaube, Sie wa-
ren in der vorletzten Woche auf einer ähnlichen Veran-
staltung wie ich. Dort haben diejenigen, die sich mit den
Minijobs auseinander setzen, den Verlauf dargestellt. Im
letzten Dreivierteljahr sank die Zahl der Minijobs um
etwa 500 000. Dieses Instrument wird relativ flexibel ge-
handhabt: Wenn es einen entsprechenden Bedarf gibt,
dann erhöht sich die Zahl, wenn nicht, dann geht sie wie-
der zurück.
Ich kenne die aktuellen Zahlen von Herrn Schneider
nicht. Deswegen will ich mich darauf auch nicht bezie-
hen.
Ich stelle sie Ihnen gerne zur Verfügung. – Ich frage
Sie: Warum stellen Sie eigentlich Modellrechnungen an,
wenn Sie die Ergebnisse der Modellrechnungen doch für
so beliebig halten?
G
Nein, ich halte sie nicht für beliebig. Ich sage: Es
kann passieren, es kann sein.
Ah, ja. Wenn der Hahn kräht auf dem – –
G
Mit einer Erhöhung der Abgaben kann in bestimmtenBranchen das Sinken der Zahl der Beschäftigten einher-gehen. Diese Branchen argumentieren auch damit, dassdas passieren würde, und sagen: Dann werden wir dieZahl der Beschäftigten in diesem Bereich reduzieren. –Der DEHOGA und andere sagen das gegenwärtig. Ob
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1287
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Gerd Andressie das dann real auch tun, ist noch einmal eine ganz an-dere Frage. Man kann das berechnen.Sie können sich vielleicht an die Erhöhung der Tabak-steuer erinnern.
Es wurde gesagt: Wenn man sie erhöht, dann kommt dasund das heraus. – Wenn es aber teurer wird und ganzviele das Rauchen einstellen, dann kommt gar nichts da-bei heraus. Man muss sich also anschauen, wie das ist.Es ist schwierig, das vorherzusagen bzw. zu prognosti-zieren.Ich kann Ihnen sagen, wie das auf der Arbeitsebenegemacht wird. Wenn Sie das genauer kennen, wissenSie, dass die jeweiligen Häuser mit dem Finanzministerverhandeln, wie viel oder wie wenig eingestellt werdenmuss. Wenn man von einer relativ vorsichtigen An-nahme ausgeht, dann ist man umso freudiger überrascht,wenn die Einnahmen höher ausfallen als das, was manangenommen hat.
– Bitte sehr. Das war kein Problem, Frau Kollegin.
Eine Nachfrage dazu vom Kollegen Kolb.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie gerne fragen, ob
Ihnen Fälle bekannt sind, bei denen der Preis einer Ware
oder Dienstleistung erhöht wurde und sich infolge dieser
Preiserhöhung die Nachfrage nach dieser Ware oder
Dienstleistung erhöht hat. Das könnte für das Hohe Haus
anschaulich sein.
G
Solche Fälle sind mir bekannt, Herr Kolb.
Damit sind wir bei der Frage 34 der Kollegin Petra
Pau:
Beabsichtigt die Bundesregierung, im Laufe dieser Legis-
laturperiode dem Parlament den Entwurf eines Gesetzes zum
Schutz von Arbeitnehmerdaten zuzuleiten?
Kollege Staatssekretär, bitte sehr.
G
Frau Kollegin Pau, nach Auffassung der Bundesregie-
rung ist es sinnvoll, vor einer nationalen Kodifikation
die Überlegungen der Europäischen Kommission für ei-
nen Gemeinschaftsrahmen zum Schutz der Arbeitneh-
merdaten abzuwarten. Diesen Punkt hat auch der Deutsche
Bundestag in seiner Entschließung zum 19. Tätigkeits-
bericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz ge-
sehen, indem er auf die Überlegungen der Kommission
für einen solchen Gemeinschaftsrahmen hingewiesen
hat. Dies ist in der Bundestagsdrucksache 15/4597 nach-
zulesen. Die Sachlage ist insoweit unverändert.
Bitte schön, Kollegin Pau.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, Ihnen ist
genau wie allen anderen Mitgliedern des Hohen Hauses
sicherlich bekannt, dass ein Arbeitnehmerdatenschutz-
gesetz seit 1986 aussteht und dies seitdem in Entschlie-
ßungen des Deutschen Bundestages an die wechselnden
Bundesregierungen regelmäßig gefordert wird. Deshalb
interessiert mich der von der Bundesregierung in Aus-
sicht genommene Zeitrahmen. Wann, denken Sie, wer-
den wir in der Bundesrepublik ein Arbeitnehmerdaten-
schutzgesetz haben?
G
Ich kann Ihnen nicht sagen, wann wir ein solches Ge-
setz haben werden. Wenn ich das könnte, ginge es mir
wahrscheinlich viel besser. Ich kann nur das wiederho-
len, was ich Ihnen eben schon geantwortet habe: Wir
warten auf das, was die Europäische Kommission dazu
machen wird. Die Bundesregierung hält weiterhin an
dem Vorhaben, ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz zu
machen, fest. Dies wird nicht aufgegeben. Aber wir wol-
len doch sehen, was dazu auf europäischer Ebene pas-
siert. Das hatte ich Ihnen in meiner Antwort schon mit-
geteilt.
Es tut mir Leid, dass es Ihnen offensichtlich nicht so
gut geht, wie es sein sollte.
Mich interessiert dann noch, ob die Bundesregierung
beabsichtigt, auf europäischer Ebene initiativ zu werden,
um diesen Prozess vielleicht zu inspirieren oder gar zu
beschleunigen, damit wir auch national weiterkommen.
G
Wir haben Erfahrungen damit, wie bestimmte Dinge
beschleunigt werden können. Wir haben in Brüssel unser
Interesse bekundet. Wir werden das gerne wieder tun.
Aber, wie gesagt, wir wollen gerne abwarten, was die
Kommission dazu für Vorstellungen hat. Diese soll sie
erst einmal vorlegen.
Damit kommen wir zu der Frage 35 des KollegenKolb:Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Verbandesder Angestellten-Krankenkassen und des Verbandes der Ar-beiterersatzkassen aus dem Schreiben vom 6. Januar 2006 andie Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbändeund die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung aus
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1288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Vizepräsident Wolfgang Thiersedem Schreiben vom 12. August 2005, dass es sich bei der amdrittletzten Bankarbeitstag jedes Monats zu erbringenden Bei-tragsschuld nicht um einen bloßen Abschlag handelt, sonderndie zu erbringende Leistungsschuld der endgültigen Beitrags-schuld nahezu entsprechen soll?G
Herr Kollege Kolb, die Frage 35 – das gilt auch für
die Frage 36 – könnte ich so, wie sie gestellt ist, schlicht
mit Ja beantworten. Ich will aber meine Antwort doch
ein bisschen ausführlicher formulieren.
In der gesetzlichen Regelung zur Neuordnung der
Fälligkeit der Gesamtsozialversicherungsbeiträge wird
ausdrücklich von der voraussichtlichen Beitragsschuld
gesprochen, nicht von einer Abschlagsregelung. Von da-
her teilt die Bundesregierung in vollem Umfang die Auf-
fassung der Spitzenverbände der Sozialversicherung,
dass die voraussichtliche Beitragsschuld in der Weise zu
ermitteln ist, dass der im Folgemonat fällige Restbeitrag
so gering wie möglich ausfällt. Dabei können Arbeitge-
ber allerdings nur verpflichtet werden, Daten zu berück-
sichtigen, die ihnen zum Zeitpunkt der Ermittlung der
voraussichtlichen Beitragsschuld bekannt sind.
Kollege Kolb.
Herr Staatssekretär, das trifft aber für eine Reihe der
von mir in Frage 36 genannten Aspekte zu. Die Zahl der
Kalendertage und Mitarbeiter variiert. Beitragssatzände-
rungen der Einzugsstellen, das heißt der verschiedenen
Krankenkassen, sind auch bekannt. Im Ergebnis läuft
das darauf hinaus, dass ein Unternehmen faktisch eine
eigene Lohn- und Gehaltsabrechnung zur Ermittlung der
voraussichtlichen Beitragsschuld durchführen muss.
Stimmen Sie mir in dieser Einschätzung zu?
G
Nein.
Nächste Nachfrage.
Wenn es keiner eigenständigen Lohn- und Gehalts-
überschlagsrechnung bedarf, dann möchte ich gerne wis-
sen, Herr Staatssekretär, wie ein Unternehmen sonst das
Kunststück zustande bringen soll, die voraussichtlich be-
stehende Beitragsschuld abzuschätzen.
G
Herr Abgeordneter Kolb, die Bundesregierung hat be-
wusst darauf gedrungen, dass es jedem Unternehmen
möglich sein muss, eine Vorausberechnung nach den in-
dividuellen Gegebenheiten des jeweiligen Unterneh-
mens vorzunehmen. Dadurch wird es möglich, dass die
Berechnungsläufe für die voraussichtliche Beitrags-
schuld mit den Abrechnungsläufen für die Lohnabrech-
nung des vergangenen Monats zusammengefasst werden
können. Dazu ist es notwendig, einmalig in den Entgelt-
unterlagen die Faktoren zu dokumentieren, mit denen
die voraussichtliche Beitragsschuld jeweils errechnet
wird.
Wird ein solches Verfahren zusammen mit der gesetz-
lichen Erleichterung, dass nur noch einmal im Monat ein
Beitragsnachweis abzugeben ist, eingesetzt, ist mit kei-
nem nennenswerten Mehraufwand zu rechnen. Es ist
doch klar, dass von der Zahl der Beschäftigten auszuge-
hen ist. Änderungen hinsichtlich der Zahl der Beschäf-
tigten haben schließlich weitere Auswirkungen. Auch
Einmalzahlungen und Beitragssatzänderungen bei den
Sozialkassen ziehen Änderungen nach sich. Das sind im
Wesentlichen die zu berücksichtigenden Punkte.
Es gibt sehr viele Unternehmen – darin werden Sie
mir sicherlich zustimmen, Herr Kolb –, in denen die
Zahl der Beschäftigten konstant ist. Beitragssatzände-
rungen erfolgen häufig zum Jahreswechsel. Auch wird
das Weihnachtsgeld bzw. die Jahresabschlussprämie
– wie auch immer Sie es nennen wollen; sofern es über-
haupt noch gezahlt wird – nicht einmal im Juni und ein-
mal im Mai fällig; auch dies ist absehbar. Insofern
glaube ich, dass sich das Verfahren administrativ bewäl-
tigen lässt, auch ohne ein zusätzliches Abrechnungsbüro
zu eröffnen.
Damit kommen wir zu Frage 36 des Abgeordneten
Kolb:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Spitzen-
organisationen der Sozialversicherung und der Verbände der
Angestellten-Krankenkassen und der Arbeiterersatzkassen,
wie sie sich aus den in Frage 35 genannten Schreiben ergibt,
dass daher für die Berechnung des Beitragssolls am drittletz-
ten Bankarbeitstag jedes Monats für den letzten Entgeltab-
rechnungszeitraum die jeweils im letzten Monat eingetretenen
Änderungen in der Zahl der Beschäftigten, der Arbeitstage
bzw. Arbeitsstunden sowie der einschlägigen Entgeltermitt-
lungsgrundlagen und Beitragssätze aktualisiert werden müs-
sen und daher alle Vorgehensweisen mit dem Gesetz vereinbar
sind, die diesem Anliegen gerecht werden?
G
Herr Kolb, die Bundesregierung teilt die Aussage der
Spitzenverbände der Sozialversicherung vom 6. Januar
2006, dass alle Vorgehensweisen mit dem Gesetz verein-
bar und von den Ausführungen des gemeinsamen Rund-
schreibens getragen sind, die darauf abzielen, eine mög-
lichst genaue Vorausberechnung der Beitragsschuld zu
erreichen.
Kollege Kolb.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen die Äußerungen IhresKollegen Schauerte aus dem Bundesministerium fürWirtschaft und Technologie bekannt, der darauf verwie-sen hat, dass man, um eine weitgehend einfache Hand-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1289
(C)
(D)
Dr. Heinrich L. Kolbhabung der Beitragsberechnung zu ermöglichen, eineBeitragsschuld in Höhe des Vormonats anmelden undabführen könne? Eine solche Praxis müsste der von Ih-nen hier gegebenen Antwort zufolge eigentlich unzuläs-sig sein.G
Die Überlegungen von Herrn Kollegen Schauerte
sind mir bekannt. Wir haben darüber auch korrespon-
diert.
In der Sozialversicherung gilt nicht das Zuflussprin-
zip, sondern das Entstehungsprinzip bezogen auf den je-
weiligen Monat. Insofern stellen wir ausdrücklich fest,
dass zwar auf die Lohn- und Gehaltsabrechnung oder auf
die Unterlagen des Vormonats Bezug genommen werden
kann, aber mögliche Änderungen berücksichtigt werden
müssen. Auch muss das in dem Monat realisiert werden,
in dem die Sozialversicherungsbeiträge fällig werden.
Insofern unterscheidet sich das Sozialrecht leider von
anderen Rechtsgebieten.
Ich habe, wie gesagt, mit Herrn Schauerte sowohl
über das Thema gesprochen als auch mit ihm korrespon-
diert. Ich stelle Ihnen die Unterlagen gerne zur Verfü-
gung, wenn Sie möchten.
Das würde mich sehr interessieren.
G
Das mache ich gern.
Ich würde gerne noch eine zweite Zusatzfrage stellen.
Wenn ich die Antworten auf die beiden Fragen und die
Zusatzfragen resümiere, dann stelle ich fest – ich bitte
Sie um Ihre Einschätzung, ob das zutrifft –, dass die
Bundesregierung gegenüber dem Rundschreiben des
VdAK, das auch im Namen aller anderen relevanten Trä-
ger der gesetzlichen Krankenversicherung verfasst
wurde, keinen Handlungsbedarf sieht und dass nicht ge-
plant ist, eine Initiative zu ergreifen, wie sie von dem
Kollegen Schauerte angedacht wurde. Können Sie das
bestätigen?
G
Das kann ich so bestätigen.
Danke schön. – Dann kommen wir zum Geschäftsbe-
reich des Auswärtigen Amtes. Die Fragen beantwortet
Staatsminister Gernot Erler.
Ich rufe zunächst die Frage 37 des Kollegen Addicks
auf:
Wie begründet und bewertet die Bundesregierung, dass die
Beiträge der Bundesrepublik Deutschland an UNICEF, das
Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, in der Verantwor-
tung des Auswärtigen Amts liegen, also im Einzelplan 05 des
Bundeshaushalts geregelt werden, obwohl die Aufgaben von
UNICEF als Entwicklungsorganisation in den Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit fallen und somit in dem
Einzelplan 23 geregelt werden müssten?
Herr Kollege Addicks, in der Arbeit von UNICEF flie-
ßen menschenrechtliche, humanitäre und entwicklungs-
politische Gesichtspunkte zusammen. Die institutionelle
Zuständigkeit des für die internationale Menschenrechts-
politik sowie die humanitäre Hilfe zuständigen Auswär-
tigen Amtes für UNICEF ist daher gegenwärtig in der
Bundesregierung trotz des auch entwicklungspolitischen
Charakters der Arbeit von UNICEF unstrittig. Insbeson-
dere findet eine enge Abstimmung zwischen dem AA
und dem BMZ statt, sofern Aspekte mit entwicklungs-
politischem Bezug berührt sind. Der freiwillige Regel-
beitrag erfolgt aus dem Einzelplan 05 – Auswärtiges
Amt – und zweckgebundene entwicklungspolitische
Beiträge erfolgen aus dem Einzelplan 21, Bundesminis-
terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung.
Bitte schön, Kollege Dr. Addicks.
Danke sehr, Herr Staatssekretär. – Teilen Sie bzw. die
Bundesregierung meine Besorgnis, dass es dem Ansehen
Deutschlands in der Welt schadet, dass wir uns, was die
Beiträge zu UNICEF betrifft, auf einem beschämenden
16. Rang befinden, und dies vor dem Hintergrund, dass
wir uns normalerweise bei den Beiträgen zu solchen Or-
ganisationen auf Platz drei oder vier befinden?
Herr Kollege Addicks, Sie haben Recht, wenn Sie
darauf hinweisen, dass sich die Regelbeiträge in den
letzten Jahren eher reduziert haben. Der Regelbeitrag lag
2005 etwas unter 5 Millionen Euro, genau bei 4,75 Mil-
lionen Euro. Damit belegt Deutschland in der Tat keinen
sehr prominenten Platz in der Reihenfolge der Länder,
die Regelbeiträge leisten. Aber der Gesamtbeitrag, der
geleistet wird, setzt sich aus verschiedenen Komponen-
ten zusammen. Dazu gehört auch der Beitrag, der vom
nationalen Komitee von UNICEF geleistet wird. Hier
sieht die Sache völlig anders aus. Dieser jährliche Bei-
trag ist sehr hoch. Er lag 2005 bei 172 Millionen Euro.
Damit belegen wir im internationalen Vergleich nach Ja-
pan den zweiten Platz. Wenn man den Regelbeitrag und
das, was das nationale Komitee – insbesondere durch
viele Spenden, die aus der Öffentlichkeit kommen – leis-
tet, zusammennimmt, dann stellt man fest, dass wir auf
einen sehr anerkennenswerten Beitrag zu UNICEF kom-
men.
Danke.
Metadaten/Kopzeile:
1290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Damit kommen wir zu Frage 38 des Kollegen
Dr. Addicks:
Sieht sich die Bundesregierung veranlasst, diesen Sach-
verhalt in absehbarer Zeit zu ändern?
Herr Erler, bitte.
Herr Kollege Addicks, aus den schon genannten
Gründen gibt es derzeit keine Absicht, die Zuständigkeit
zu verändern.
Eine Zusatzfrage, Herr Dr. Addicks.
Danke, Herr Präsident. – Nun werden die deutschen
Beiträge zu UNICEF immerhin auf die ODA-Quote an-
gerechnet. Diese Quote bezieht sich im Wesentlichen auf
Mittel aus dem Einzelplan 23. Wäre es vor diesem Hin-
tergrund nicht folgerichtig, wenn auch die Beiträge zu
UNICEF aus dem Einzelplan 23 und nicht aus dem
Einzelplan 05 kämen?
Das wäre in der Tat folgerichtig. Auf jeden Fall lassen
wir uns diese Beiträge gerne auf die ODA-Quote anrech-
nen; denn wir verfolgen – international und von der EU
unterstützt – die ehrgeizige Zielsetzung, die ODA-Quote
heraufzusetzen. Der Grund dafür, dass eine Änderung
der Zuständigkeit nicht vorgenommen wurde, liegt in ei-
ner Veränderung der Aufgabenstellung von UNICEF.
Wir beobachten, dass sich die Arbeit von UNICEF in
den letzten Jahren zunehmend auf die rechtliche Stellung
von Kindern konzentriert hat. Es gibt zwar nach wie vor
sozusagen bedürfnisorientierte Arbeiten. Aber vor allen
Dingen nach der Kinderrechtskonvention von 1990 und
dem Weltkindergipfel von 2002 müssen wir feststellen,
dass der Hauptschwerpunkt der Tätigkeit von UNICEF
auf der rechtlichen Stellung von Kindern liegt. Das
rechtfertigt weiterhin die Zuständigkeit des Auswärtigen
Amtes.
Vielen Dank.
Damit kommen wir zu Frage 39 des Kollegen Volker
Beck:
Wie bewertet die Bundesregierung die Arbeit der bisheri-
gen Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung im
Auswärtigen Amt seit der Einrichtung dieser Funktion und
wann soll ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Tom
Koenigs in dieser Funktion die Arbeit aufnehmen?
Herr Erler, bitte.
Herr Kollege Beck, die Beauftragten der Bundes-
regierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre
Hilfe im Auswärtigen Amt haben seit Schaffung des
Amtes einen anerkannten Beitrag zur Menschenrechts-
politik der Bundesregierung geleistet. Die Position des
Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechts-
politik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt sollte
mit einer Persönlichkeit besetzt werden, die dieses Amt
optimal ausfüllt. Die Bundesregierung führt daher ent-
sprechende Konsultationen mit dem Ziel einer möglichst
schnellen Nachbesetzung dieses wichtigen Amtes.
Kollege Beck.
Darf ich nachfragen? – Ich hatte danach gefragt, wann
dieses vakante Amt endlich besetzt wird. Ich meine, dass
es dem Ansehen dieses Amtes nicht dient, wenn man
wochenlang in der Presse über parteipolitisches Scha-
chern um dieses Amt liest. Bislang ist keine Besetzung
vorgenommen worden. Ich würde gerne wissen, wann
Sie damit rechnen, dass das Amt spätestens besetzt ist.
Wir sind überhaupt nicht daran interessiert, dass
durch öffentliche Äußerungen oder Diskussionen in der
Öffentlichkeit das Amt, dessen Inhaber eine wertvolle
Arbeit leisten, beschädigt wird. Wir müssen eine sorgfäl-
tige Auswahl treffen. Es gebietet die Achtung vor der
Bedeutung des Amtes, dass hier keine große Eile an den
Tag gelegt, sondern eine sehr sorgfältige Auswahl ge-
troffen wird. Wir sind zwar intensiv auf der Suche, ich
kann Ihnen aber im Augenblick nicht sagen, zu welchem
Zeitpunkt diese Suche abgeschlossen sein wird.
Müssen wir also damit rechnen, dass das Auswärtige
Amt in diesem Jahr ohne eine Besetzung dieses Amtes
wird arbeiten müssen, oder können Sie sagen, ob eine
Vorentscheidung nach dem Parteibuch gefallen ist? In
der Zeitung liest man, es müsse zwingend jemand von
der Union sein. Überraschen Sie mich und sagen Sie mir,
dass es nicht jemand von der Union ist!
Herr Kollege Beck, ich teile Ihre pessimistische
Prognose nicht, dass wir noch sehr lange ohne eine Be-
setzung dieses Amtes arbeiten werden. Ganz im Gegen-
teil: Wir sind auf einem guten Weg. Sie werden verste-
hen, dass ich jetzt hier keine personalpolitischen
Angaben zu dieser Frage machen kann.
Eine Nachfrage zu diesem Thema von Kollegin Pau.
Danke schön, Herr Präsident. – Ich habe eine inhaltli-che Nachfrage. Nun haben uns wie auch die europäischeÖffentlichkeit in den letzten Wochen, wenn nicht gar
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1291
(C)
(D)
Petra PauMonaten, Menschenrechtsfragen bzw. die Aufklärungvon schweren Vorwürfen zu Menschenrechtsverletzun-gen auf oder über dem Territorium der Bundesrepublikbeschäftigt. Hat sich denn Herr Koenigs an der Aufklä-rungsoffensive der Bundesregierung, die nächste Wochein einen Bericht sowohl an den Europaratssonderermitt-ler als auch in einen Bericht an den Bundestag mündensoll, beteiligt und können Sie die Frage des KollegenBeck nach der Bewertung der Qualität der Arbeit desMenschenrechtsbeauftragten anhand dieser Aufklärungund seiner Beteiligung daran beantworten?
Frau Kollegin Pau, Sie wissen, dass die Arbeit von
Tom Koenigs beendet ist.
Er hat bis zum letzten Moment seiner Beschäftigung alle
seine Aufgaben zur vollen Zufriedenheit der Bundes-
regierung erfüllt und damit zu dem hohen Ansehen die-
ses Amtes wesentlich beigetragen.
Die Frage 40 wird schriftlich beantwortet. Ich rufe
Frage 41 des Kollegen Paul Schäfer auf:
Welche Gründe sprechen nach Auffassung der Bundes-
regierung gegen einen UN-geführten Einsatz zur Sicherung
der Parlamentswahlen in der Demokratischen Republik
Kongo?
Herr Kollege Schäfer, zum Mandat des Sicherheits-
rats der Vereinten Nationen für die VN-Operation in der
Demokratischen Republik Kongo, MONUC, gehört die
Aufgabe, für ein sicheres Umfeld für die Parlaments-
und Präsidentschaftswahlen zu sorgen. Der Leiter des
Department for Peacekeeping Operations der Vereinten
Nationen, Jean-Marie Guéhenno, hat Ende 2005 die EU-
Ratspräsidentschaft schriftlich um EU-Unterstützung für
MONUC während des Wahlzeitraums gebeten. In sei-
nem Schreiben brachte er die Sorge der Vereinten Natio-
nen zum Ausdruck, dass es bei den Parlaments- und Prä-
sidentschaftswahlen zu neuerlichen Ausbrüchen von
Gewalt kommen könnte, die weder MONUC noch die
kongolesischen Streitkräfte und Polizeikräfte eindäm-
men könnten. Eine Deterrent Force, die, falls nötig, wäh-
rend der Wahlen in die Demokratische Republik Kongo
verlegt werden könnte, solle die Reaktionsfähigkeit von
MONUC stärken.
Diese Einschätzung wurde seitens der Vereinten Na-
tionen in New York wie seitens MONUC in Kinshasa
gegenüber den beiden Erkundungsmissionen des EU-
Ratssekretariats bestätigt, als diese dort in der vorver-
gangenen Woche sondierende Gespräche führten. Die
Bundesregierung nimmt diese Einschätzung ernst.
Kollege Schäfer, bitte.
Herr Staatsminister, lieber Kollege Erler, trifft es denn
zu, dass in der Vergangenheit eine Aufstockung bzw.
eine Verstärkung von MONUC im Rahmen der Verein-
ten Nationen blockiert wurde, und befinden sich eventu-
ell EU-Mitgliedsländer unter denen, die das blockiert ha-
ben?
Herr Kollege Schäfer, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass MONUC mit einer Gesamtstärke von
16 700 Mann im Augenblick in der ganzen Geschichte
des Peacekeepings die umfangreichste und auch die kos-
tenträchtigste Mission ist, sodass man hier keinesfalls
von einer Verweigerung irgendeiner Seite bei der Bereit-
stellung der notwendigen Mittel und Kräfte sprechen
kann.
Das Problem ist ganz anders gelagert: MONUC ist
schwerpunktmäßig im Ostteil des Landes aktiv; dort sind
nämlich 15 000 der 16 700 Kräfte stationiert. Dement-
sprechend ist die Hauptstadt Kinshasa in der entschei-
denden Phase der Wahlkämpfe, was das internationale
Peacekeeping angeht, zu schwach abgesichert.
Die Ängste des Beauftragten der UN bestehen darin,
dass die Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen
– das sind der amtierende Präsident Kabila und zwei sei-
ner Stellvertreter, die auch über bewaffnete Einheiten
verfügen – das Wahlergebnis vielleicht nicht anerken-
nen, was den ganzen Friedensprozess, der am 30. Juni zu
einem Abschluss kommen kann, gefährden könnte. Das
ist der Hintergrund der Nachfrage an die EU, ob im Rah-
men der ESVP vorübergehend eine zusätzliche Siche-
rung dieses Wahlprozesses stattfinden kann.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Danke, Frau Präsidentin. – Lieber Kollege Erler, wäre
in den Augen der Bundesregierung eine vorübergehende
Aufstockung der UNO-geführten MONUC eine realisti-
sche Option, um den Wahlprozess zu stabilisieren?
Das könnte überhaupt nur dann in Betracht gezogenwerden, wenn die Vereinten Nationen darum bitten wür-den. Aber es ist nicht irgendeine andere Organisation,sondern das Department for Peacekeeping Operationsder Vereinten Nationen, das sich mit dem Brief vom27. Dezember von Jean-Marie Guéhenno an die EU ge-wandt hat und etwas ganz anderes wollte.Hintergrund ist sicherlich, dass man hofft, dass dieAutorität der EU und die Verfügung der EU über schnelleinsetzbare Kräfte tatsächlich eine entmutigende Wir-kung auf eventuelle Störer dieses Wahlprozesses aus-üben; Guéhenno nennt das eine Deterrent Force. DieMONUC – sie ist ausreichend stark vertreten; ich habeZahlen genannt – ist genau dazu nicht in der Lage.
Metadaten/Kopzeile:
1292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Gernot ErlerInsofern gibt es gute Gründe dafür, dass die Nachfrageeben nicht auf eine Erweiterung der MONUC zielt, son-dern auf eine vorübergehende Zurverfügungstellung ei-ner Deterrent Force durch einen anderen Organisator, indiesem Fall durch die EU.
Ich rufe die Frage 42 des Kollegen Schäfer auf:
Welche besonderen militärischen Gründe sprechen für
eine Beteiligung der Bundeswehr an einem Militäreinsatz zur
Sicherung der Parlamentswahlen der Demokratischen Repu-
blik Kongo?
Herr Kollege Schäfer, in den Brüsseler Gremien wird
derzeit die Frage eines militärischen Einsatzes im Rah-
men der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik, ESVP – ich habe es gerade angesprochen –, zur
Unterstützung von MONUC bei den Wahlen in der De-
mokratischen Republik Kongo behandelt. Eine Entschei-
dung darüber ist noch nicht getroffen worden. Gestern
hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der
EU, PSK, darüber beraten. Dabei hat es beschlossen, den
EU-Militärausschuss als das zuständige militärische
Gremium der EU zu beauftragen, einen Ratschlag auf
der Basis des vorgelegten Optionenpapiers zu geben.
Dieser Ratschlag wird die weitere Entscheidungsfindung
der EU prägen.
Sollte ein ESVP-Einsatz nach umfassender Abwä-
gung, wozu neben der Einschätzung der Lage in der De-
mokratischen Republik Kongo auch das in der europäi-
schen Sicherheitsstrategie niedergelegte Bekenntnis der
EU zur Stärkung der Vereinten Nationen gehört, be-
schlossen werden, wäre es ein Gebot europäischer Soli-
darität, die Verantwortung und die Kosten auf mehrere
Mitgliedstaaten zu verteilen. Das ist die Auffassung der
Bundesregierung.
Ihre Zusatzfrage.
Danke. – Sie haben das Kriterium „europäische Soli-
darität“ genannt. Welche anderen Kriterien müssten Ih-
rer Meinung nach erfüllt sein, um einen Einsatz der Bun-
deswehr als zwingend und unabweisbar erscheinen zu
lassen?
Herr Kollege Schäfer, ich möchte noch einmal beto-
nen, dass wir mitten in einem Klärungs- und Entschei-
dungsprozess sind. Ich wiederhole ausdrücklich: Es gibt
noch keine Entscheidung dieser Art. Wichtig sind Klä-
rungen der Rahmenbedingungen. Zum Beispiel wäre es
wichtig, zu wissen: Wie verhält sich eigentlich die am-
tierende Regierung, der so genannte Espace présidentiel,
also der Präsident des Kongo und seine Stellvertreter, zu
diesem Vorschlag der Vereinten Nationen? Ist man be-
reit, eine solche Mission zu akzeptieren? Es sind noch
wichtige Fragen der Sicherheit vor Ort zu klären: Wie ist
eigentlich das Gefährdungspotenzial einzuschätzen? Es
ist auch wichtig, zu wissen und zu klären: Was sollen
denn die eigentlichen Aufgaben sein? In dem Optionen-
papier, das gestern Grundlage der Beratung des PSK
war, sind sieben verschiedene Einsatzmöglichkeiten ge-
nannt, aber zum Teil noch nicht klar definiert. All diese
Dinge soll jetzt das Sicherheitskomitee der EU dort klä-
ren, um dann die Mitgliedstaaten zu beraten bzw. ihnen
eine Empfehlung zu geben.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass nach Meinung
der Bundesregierung eine Zustimmung der kongolesi-
schen Regierung für eine eventuelle EU-Militärmission
unverzichtbar ist? Bislang hörte man nur, Präsident
Kabila habe aus der Zeitung erfahren, dass so etwas dis-
kutiert wird.
Dies ist ein Zustand, den wir schon überwunden ha-
ben. Das heißt, es hat Kontakte gegeben und es hat von
der Präsidentschaft Äußerungen gegeben, die schon we-
sentlich freundlicher waren. Besonders freundlich hat
sich der Außenminister geäußert. Auch hat ein Telefon-
gespräch zwischen Javier Solana und dem kongolesi-
schen Präsidenten stattgefunden. Aber es ist schon sehr
wünschenswert, dazu eine noch deutlichere Äußerung
des Präsidenten zu haben; denn in der Regel ist es natür-
lich eine wichtige Basis, zu wissen, ob man bei einer sol-
chen Maßnahme – um es einmal unwissenschaftlich aus-
zudrücken – erwünscht ist oder nicht. Dabei ist natürlich
klar, dass in dieser Region – das ist eine Region, in der
seit 1994 Krieg bzw. Bürgerkrieg geherrscht hat, und
zwar mit einer unvorstellbaren Zahl von Opfern, näm-
lich von 3,8 Millionen Menschen – allein durch Initia-
tiven aus der Region heraus ein solcher Friedensprozess
nicht hätte in Gang gebracht werden können. Für uns ist
es, wie gesagt, sehr wünschenswert, wenigstens eine
klare Antwort auf diese Frage zu bekommen.
Ich rufe die Frage 43 der Kollegin Dagdelen auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, dass der in der Nacht
zum 31. Januar 2006 nach Togo abgeschobene togoische Op-
positionelle A. M. direkt nach seiner Ankunft am Flughafen
in Lomé von der Polizei festgehalten und bedroht wurde und
sich später einer Inhaftierung durch vermutlich zivile Milizen
tet die Bundesregierung diese Inhaftierungsversuche in Bezug
auf die Sicherheit des Betroffenen?
Frau Kollegin Dagdelen, der Bundesregierung sinddie Behauptungen in der Pressemeldung, die Sie ange-sprochen haben, bekannt. Das Innenministerium desLandes Mecklenburg-Vorpommern ist an das Auswär-tige Amt mit der Bitte herangetreten, in Amtshilfe denvorgetragenen Behauptungen nachzugehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1293
(C)
(D)
Staatsminister Gernot ErlerDie Prüfung des Sachverhalts dauert derzeit noch an.Bislang liegen folgende Erkenntnisse vor:Die Rückführung von Herrn M. wurde der BotschaftLomé am 26. Januar 2006 für den 31. Januar 2006 ange-kündigt. Eine Unterstützung durch die Auslandsvertre-tung wurde nicht erbeten.Der Leiter der Einreisestelle, also der Chef d’Immi-gration, am Flughafen Lomé wurde von der BotschaftLomé über die Ankunft informiert. Er ist für die Rou-tinebefragung der rückgeführten Personen zuständig.Falls Schwierigkeiten bei der Rückführung auftreten, in-formiert er die Botschaft umgehend telefonisch. ImFall M. berichtete er von keinen Problemen.Die Botschaft hat am 9. Februar 2006 den Leiter derEinreisestelle persönlich zu den Umständen der Rück-führung von Herrn M. befragt. Er zeigte sich über die er-hobenen Vorwürfe erstaunt.Bestätigt durch das in Kopie vorgelegte und vonHerrn M. unterzeichnete Befragungsprotokoll hat dieBotschaft folgende Auskünfte erhalten:Es seien Herrn M. keinerlei Fragen hinsichtlich seinerpolitischen Aktivitäten im Ausland gestellt worden.Ebenfalls habe er keine polizeilichen Meldeauflagen er-halten. Herr M. sei am 31. Januar 2006 um 21 Uhr in dieObhut seines Cousins entlassen worden. Dieser sei amFlughafen persönlich anwesend gewesen und habe eineschriftliche Bestätigung abgegeben, dass er den Rückge-führten bei sich aufnehme.Nach Angaben des Leiters der Reisestelle waren wäh-rend des Aufenthalts von Herrn M. am Flughafen keineVertreter von Menschenrechtsorganisationen anwesend.Erst nach Abschluss der Befragung von Herrn M. sei einMitglied der Ligue Togolaise des Droits de l’Homme er-schienen, um sich nach ihm zu erkundigen. Ob erHerrn M. außerhalb des Flughafens noch angetroffenhabe, sei ungewiss.Die Botschaft Lomé ist mit der weiteren Sachver-haltsaufklärung beauftragt.
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatsminister, es scheint, dass da widersprüchli-
che Angaben bzw. Aussagen gemacht werden. Es gibt
zig Presseerklärungen von Menschenrechtsorganisatio-
nen, auch der Menschenrechtsorganisation aus Togo,
dass es bereits in der kurzen Zeit, nachdem A. M. nach
Togo abgeschoben worden war, zwei Versuche gab, ihn
zu inhaftieren. Der erste Versuch, der am Flughafen sel-
ber stattgefunden hat, konnte durch die Anwesenheit von
Menschenrechtlern verhindert werden; der zweite Ver-
such, den frühmorgens zivile Milizen vor seiner Haustür
unternahmen, schlug deshalb fehl, weil er sich bereits
auf der Flucht befand. Mich würde als Erstes interessie-
ren, wie die Bundesregierung und das Auswärtige Amt
die Glaubwürdigkeit einer offiziellen Stelle aus Togo be-
sonders im Hinblick auf die Menschenrechtsverletzun-
gen, die dort unter dem jetzigen Regime immer noch
stattfinden, einschätzen.
Frau Kollegin, ich hatte gesagt, dass ich in meiner
Antwort eine Art Zwischenbilanz der bisherigen Nach-
forschungen gezogen habe. Natürlich haben auch wir ge-
sehen, dass diese in Widerspruch zu den Angaben und
Erklärungen von Menschenrechtsorganisationen, die
auch wir kennen, steht. Dieser Widerspruch ist aller-
dings nur sehr schwer aufzuklären, wenn uns Doku-
mente vorgelegt werden, die von Herrn M. und seinem
Cousin, der ihn abgeholt hat, gegengezeichnet worden
sind. In der Tat gestehe ich, dass hier noch weiterer Klä-
rungsbedarf besteht. Naturgemäß kann die Botschaft
durch Befragung des Flughafenpersonals und der zustän-
digen Stellen nicht ermitteln, was später geschehen ist.
Das ist klar. Deswegen habe ich Ihnen auch gesagt, dass
weitere Ermittlungen über den Sachstand erfolgen wer-
den. Die Botschaft Lomé ist damit beauftragt.
Zweite Zusatzfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, die habe ich. – Es gibt auf der Homepage von der
Flüchtlingsorganisation Pro Asyl eine Pressemitteilung
vom 8. Februar, in der konstatiert wird, dass es in dem
relativ kleinen Togo sehr schwierig bzw. kaum möglich
ist, sich der Überwachung durch das Regime zu entzie-
hen. Vor diesem Hintergrund möchte ich gerne wissen,
wie hoch die Bundesregierung die Wahrscheinlichkeit
einschätzt, dass abgeschobene togolesische Flüchtlinge
von Sicherheitskräften nicht inhaftiert werden bzw. ihr
Leben nicht gefährdet ist.
Die Bundesregierung kann sich natürlich nur nach
den Erfahrungen richten, die sie bisher gemacht hat. Ich
hatte Ihnen schon in der Fragestunde vom 18. Januar
mitgeteilt, dass uns Meldungen, in denen im Einzelfall
belegt wird, dass so ein Vorgehen, wie Sie es eben be-
schrieben haben, gegenüber zurückgekehrten Asylbe-
werbern erfolgt ist, nicht vorliegen. Auf diese Erkenntnis
muss sich natürlich die Bundesregierung stützen.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Pau.
Herr Staatsminister, vor dem Hintergrund der Debattevom 18. Januar, auf die Sie ja selbst hier schon verwie-sen haben, der darauffolgenden Auseinandersetzung undIhrer Feststellung, dass zumindest in diesem EinzelfallAufklärungsbedarf besteht, frage ich: Sieht die Bundes-regierung eventuell die Notwendigkeit, den derzeitigenaktuellen Lagebericht, der innenpolitischen Entschei-dungen Deutschlands zugrunde liegt, zu überarbeitenbzw. die Botschaft mit der Prüfung zu beauftragen, in-wieweit dieser Lagebericht noch den Tatsachen ent-spricht und dessen Informationen für die Behörden derBundesrepublik Entscheidungsgrundlage sein können?
Metadaten/Kopzeile:
1294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Frau Kollegin Pau, ich kann Ihnen dazu sagen, dass
wir eine routinemäßige Überarbeitung dieser Berichte,
die ja für alle Asylentscheidungen wichtig sind, vorneh-
men. In der Tat ist der Lagebericht zu Togo gerade in
Überarbeitung. Sollten sich die Berichte bestätigen, die
uns im Fall M. erreichen, dann würde natürlich dieser
Fall in eine Fortschreibung dieses Lageberichtes einge-
hen.
Ich rufe die Frage 44 der Kollegin Dagdelen auf:
Sieht die Bundesregierung die Einschätzung von Flücht-
lings- und Menschenrechtsorganisationen bestätigt, dass bei
einer Abschiebung nach Togo das Leben abgelehnter Asylbe-
werber bedroht ist, und beabsichtigt die Bundesregierung, der
Aufforderung von Amnesty International vom 20. Juli 2005
zu folgen, sich dafür einzusetzen, dass Asylsuchende nicht zur
Rückkehr nach Togo gezwungen werden, wenn sie dort
schwere Menschenrechtsverletzungen zu befürchten haben?
Frau Kollegin Dagdelen, aufgrund der Ereignisse im
Zusammenhang mit der Wahl im April hat Amnesty In-
ternational mit seiner Stellungnahme vom 20. Juli 2005
die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen – jetzt
zitiere ich wörtlich –,
darauf zu achten, dass Asylsuchende nicht zur
Rückkehr nach Togo gezwungen werden, wenn sie
dort schwere Menschenrechtsverletzungen zu be-
fürchten haben, und sicher zu stellen, dass Asylbe-
gehren … gründlich und unparteiisch geprüft wer-
den. Amnesty International ermahnt die
ausländischen, vor allem die europäischen Regie-
rungen, Asylanträge im Zusammenhang mit der
Menschenrechtslage in Togo zu prüfen.
Diesen an die internationale Gemeinschaft ge-
richteten Forderungen entspricht das Asylverfahren in
Deutschland. Auch bei dem Herkunftsland Togo prüft
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in jedem
Einzelfall individuell, ob dem Asylbewerber bei seiner
Rückkehr tatsächlich asylrelevante Gefahren oder sons-
tige Gefahren drohen, die einen Anspruch auf subsidiä-
ren Schutz begründen. Ist das der Fall, wird Asyl bzw.
Abschiebeschutz gewährt. Die zuständigen Länderbe-
hörden prüfen darüber hinaus vor einer Abschiebung, ob
im Einzelfall Abschiebungshindernisse bestehen, die
sich nicht auf drohende Gefahren im Heimatstaat bezie-
hen, zum Beispiel gesundheitliche Probleme.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auch hier danke ich. – Ich möchte an die Frage mei-
ner Kollegin Pau anknüpfen. Wie Sie wissen, ist im ver-
gangenen Monat in Mecklenburg-Vorpommern aufgrund
des öffentlichen Drucks ein Abschiebestopp verhängt
worden, der auch in diesem Monat noch andauert. Es ist
begrüßenswert, dass der SPD-Fraktionsvorsitzende,
Struck, sich in der Weise geäußert hat, dass der Lagebe-
richt des Auswärtigen Amtes aktualisiert werden müsse.
Meine Frage richtet sich auf die Eilbedürftigkeit des La-
geberichts. Sie sagen selber, aktuell werde an diesem La-
gebericht gearbeitet. Mich interessiert: Bis wann beab-
sichtigen die Bundesregierung und das Auswärtige Amt,
den Lagebericht vorzulegen?
Ich hatte hier schon dazu gesagt, dass im Augenblick
die Überarbeitung dieses Lageberichtes im Gange ist.
Das erfolgt nach einem bestimmten Turnus. Wenn ich
Ihr Anliegen richtig verstanden habe, müssten Sie daran
interessiert sein, dass erst der Fall M. geklärt wird, damit
er noch in diesen Lagebericht eingehen kann. Insofern
wäre vielleicht eine vorschnelle Fortschreibung des La-
geberichts gar nicht so zielführend.
Haben Sie eine zweite Zusatzfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. – Ich hoffe sehr, Herr Erler, dass Sie mein Anlie-
gen richtig verstanden haben. Es geht mir nämlich nicht
nur um die über 300 von Abschiebung bedrohten Men-
schen in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch um
die in den anderen Bundesländern. Mich würde interes-
sieren, ob es wahrscheinlich ist, dass der Lagebericht bis
zur Innenministerkonferenz am 4. und 5. Mai vorliegt,
sodass andere Bundesländer ebenfalls einen Abschie-
bestopp erlassen könnten.
Es ist die Absicht des Auswärtigen Amtes, bei der
Fortschreibung des Lageberichtes möglichst noch
aktuelle Informationen einfließen zu lassen. Insofern
gibt es hier einen Zusammenhang mit der Klärung dieses
Falls, die, wie ich Ihnen geschildert habe, im Gange ist.
Wenn eine rechtzeitige Klärung erfolgt, müsste der Zeit-
plan einhaltbar sein. Wie Sie wissen, ist es dann Angele-
genheit der Bundesländer, ihre Schlüsse aus dem neuen
Lagebericht zu ziehen und unter Umständen über einen
Abschiebestopp zu entscheiden.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs desAuswärtigen Amtes. Herr Staatsminister, ich danke Ih-nen für die Beantwortung der Fragen.Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht derParlamentarische Staatssekretär Herr Karl Diller zurVerfügung.Ich rufe die Frage 45 der Abgeordneten Dr. DagmarEnkelmann auf:Wie bewertet die Bundesregierung, dass trotz steigendenInvestitionsbedarfs der Kommunen – so rechnet die Banken-gruppe KfW mit einem Schulsanierungsbedarf von60 Milliarden Euro bis 2009 – laut den jüngsten Angaben der
Bund und Ländern an die Kommunen von 8 Milliarden Euroin 2004 auf 7,5 Milliarden Euro in 2006 zurückgehen, und
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1295
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(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldtwelche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um die In-vestitionszuweisungen seitens des Bundes und der Länder andie Kommunen wieder anzuheben?K
Frau Kollegin Dr. Enkelmann, ich möchte aufgrund
der in Ihrer Frage enthaltenen Formulierung „die Investi-
tionszuweisungen seitens des Bundes … an die Kommu-
nen wieder anzuheben“ vorausschicken, dass es keine
direkte Zuweisung von Mitteln des Bundes an die Kom-
munen gibt. Das ist verfassungsrechtlich gar nicht mög-
lich.
Insbesondere durch die Maßnahmen bei der Gewer-
besteuer und die Entlastung im Rahmen von Hartz IV
hat die Bundesregierung die Voraussetzung geschaffen,
die Investitionsfähigkeit der kommunalen Ebene zu fes-
tigen und wieder zu verbessern. Durch die verbesserte
Gewinnsituation der Unternehmen, aber insbesondere
durch unsere gesetzlichen Änderungen bei der Gewerbe-
steuer und bei der Abführung der Gewerbesteuerumlage
durch die Kommunen an die Länder und den Bund, gibt
es eine sehr erfreuliche Entwicklung, die ich Ihnen in Er-
innerung rufen möchte. In den neuen Bundesländern be-
trug das Nettogewerbesteueraufkommen im Jahre 2003
1,54 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr wird es auf
2,586 Milliarden Euro geschätzt, mithin 75 Prozent
mehr.
Die erfolgreiche Trendwende kommt im Übrigen
auch im jüngsten Bericht des Deutschen Städtetages zur
Investitionsentwicklung bei den Kommunen zum Aus-
druck, in dem für das Jahr 2006 eine leichte Belebung
der kommunalen Investitionen in den alten Bundeslän-
dern erwartet wird. Diese Zahlen ebenso wie die zu den
Investitionszuweisungen stellen für das Jahr 2005 eine
Schätzung und für das Jahr 2006 eine Prognose der kom-
munalen Spitzenverbände dar. Sie sind deshalb zurück-
haltend zu bewerten.
Wie gesagt: Direkte Zuweisungen von Mitteln an die
Kommunen durch den Bund gibt es nicht. Die Einnah-
men der Kommunen aus Investitionszuweisungen kom-
men ausschließlich von den Ländern bzw. sie fließen ih-
nen über die Länder zu. Der Bund ist beispielsweise im
Rahmen der Bundesergänzungszuweisungen und im
Falle der neuen Bundesländer im Rahmen der Sonderbe-
darfs-Bundesergänzungszuweisungen engagiert. Auf die
Höhe und Verwendung dieser Mittel hat der Bund aber
keinen Einfluss.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin eine Viel-
zahl von Investitionsprogrammen fortführen, von denen
die Gemeinden in besonderem Maße profitieren. Ich
nenne in diesem Zusammenhang die Gemeinschaftsauf-
gaben, die Fortsetzung unseres Ganztagsschulpro-
gramms sowie die KfW-Programme. Wenn der Haushalt
2006 in Kraft getreten ist, Frau Dr. Enkelmann, wird der
KfW beispielsweise durch das neu aufgelegte CO2-Pro-
gramm ermöglicht werden, stark zinsverbilligte Kredite
an die Kommunen für die energetische Gebäudesanie-
rung zu vergeben. Wir setzen auch die Städtebauförde-
rung fort. Dazu findet sich im Übrigen im Koalitionsver-
trag ein klares Bekenntnis.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Wegen des enormen Investitionsbedarfs der Kommu-
nen, der beispielsweise im Bereich der Schulen bei über
60 Milliarden Euro liegt, möchte ich fragen: Ist die Bun-
desregierung angesichts der offensichtlich geplanten zu-
sätzlichen Steuereinnahmen, die für die nächsten Jahre
mit etwa 80 Milliarden Euro beziffert werden, bereit, die
Kommunen in höherem Maße als bisher an diesen Ein-
nahmen beispielsweise durch ein kommunales Investi-
tionsprogramm zu beteiligen?
K
Frau Dr. Enkelmann, das Thema Schulbausanierung
wird von den Bundesländern entsprechend den landesge-
setzlichen Bestimmungen höchst unterschiedlich gere-
gelt. Ob und in welchem Umfange die Länder dafür Zu-
schüsse geben, ist von Land zu Land verschieden.
Ich will außerdem darauf aufmerksam machen, dass
von den gesetzlichen Maßnahmen, die die Bundesregie-
rung bereits beschlossen hat – beispielsweise der Ab-
schaffung der Eigenheimzulage –, auch die Kommunen
profitieren. Denn es gibt einen Mehrertrag bei der Lohn-
und Einkommensteuer. Die Kommunen haben einen An-
teil in Höhe von 15 Prozent an dem Mehraufkommen
originär; die Länder haben einen Anteil in Höhe von
42,5 Prozent an dem Mehraufkommen originär. Da die-
ses Mehraufkommen in die kommunale Verbundmasse
des jeweiligen Landes eingeht und in Höhe des Verbund-
satzes an die Kommunen weitergeleitet wird, profitieren
je nach Höhe dieses Satzes auch die Gemeinden. Den
Kommunen kommen dadurch zusätzlich rund 8 Prozent
des Gesamtertrages zugute. Der kommunale Anteil wird
also bei etwa 23 bis 24 Prozent – das ist von Bundesland
zu Bundesland je nach Verbundsatz unterschiedlich –
liegen.
Was die Bundesregierung tun kann, tun wir. Wir sor-
gen dafür, dass es einen fairen Anteil der Kommunen an
den perspektivisch geschätzten Steuermehreinnahmen
gibt.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Trotz allem ist das nach wie vor für die Kommunenzu wenig. Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden.Sie haben unter anderem das Ganztagsschulpro-gramm angesprochen. Nun beklagt die Bundesregierungab und zu, dass die Mittel für dieses Programm nicht indem Maße abgerufen werden, wie es mit Blick auf dieSchulen notwendig wäre. Was will die Bundesregierungtun, um die Lage der Länder bei der Kofinanzierung zu
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1296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
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(D)
Dr. Dagmar Enkelmannverbessern – man könnte beispielsweise den Anteil derKommunen an der Kofinanzierung senken –, damit einZugriff auf die Mittel dieses Programms erfolgen kann?K
Nach meinem Eindruck besteht das Problem weniger
in dem fehlenden Interesse bzw. Desinteresse seitens der
Kommunen, sondern eher in dem fehlenden Interesse
bzw. Desinteresse der Länder. Ich kann Ihnen berichten,
dass mein Bundesland, Rheinland-Pfalz, den Gemeinden
die Möglichkeit bietet, von diesem Bundesprogramm
massiv zu profitieren. Allein in meinem Wahlkreis Trier
beispielsweise werden zurzeit Bundesmittel in Höhe von
mehr als 11 Millionen Euro in entsprechende Projekte
investiert. Das ist eine Frage, die sich an das jeweilige
Bundesland richtet.
Frau Kollegin, Sie hatten bereits zwei Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 46 von Frau Dr. Enkelmann auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die laut den jüngsten
2004 auf 36,60 Milliarden Euro ansteigenden Ausgaben der
Kommunen für soziale Leistungen, und was will die Bundes-
regierung tun, um die Städte, Gemeinden und Landkreise hier
zu entlasten?
K
Frau Kollegin Dr. Enkelmann, die in der Gemein-
schaftsprognose der kommunalen Spitzenverbände dar-
gestellten Ausgaben für soziale Leistungen – dies betrifft
die Jahre 2004, 2005 und 2006 – sind nicht miteinander
vergleichbar. Mit Hartz IV wurden die Kommunen näm-
lich ab dem Jahre 2005 einerseits um die Sozialhilfeaus-
gaben für Erwerbsfähige entlastet. Andererseits tragen
sie nun die Unterkunftskosten für Langzeitarbeitslose,
wobei ihnen aber der Bund 29,1 Prozent der Kosten er-
stattet. Dazu kommen bei den Ländern die durch
Hartz IV eingesparten Wohngeldausgaben in Höhe von
2,1 Milliarden Euro, die diese Länder jeweils an ihre
Kommunen weiterzugeben haben. Dadurch stehen den
durch die Unterkunftskosten gestiegenen kommunalen
Sozialausgaben höhere kommunale Einnahmen gegen-
über. Das muss man zusammen sehen.
Fairerweise sagt dies auch der Deutsche Städtetag
selbst – ich zitiere ihn –:
Ihre Höhe ist aber mit dem Vorjahr nicht vergleich-
bar, da sich bei den Einnahmen der Kommunen
auch die Bundesbeteiligung an den Unterkunftskos-
ten niederschlägt.
Durch Festhalten an der Beteiligungsquote des Bun-
des von 29,1 Prozent nicht nur für das Jahr 2005, son-
dern auch für das Jahr 2006 werden die Kommunen im
Übrigen nach Überzeugung der Bundesregierung – Kol-
lege Andres und ich können ein Lied davon singen – ent-
gegen der in Ihrer Frage enthaltenen Intention sogar um
mehr als die ihnen zugesagten 2,5 Milliarden Euro ent-
lastet. Wir schätzen: Sie bekommen zusätzlich 1,3 Mil-
liarden Euro zu den 2,5 Milliarden, die ihnen zugesagt
worden sind.
Frau Kollegin, ich füge aber hinzu: Die Bundesregie-
rung ist bereit, Landes- und Kommunalhaushalte zu
entlasten, wenn sie durch die Umsetzung bundesgesetz-
licher Regelungen belastet werden. In all den Program-
men, die wir schon vor dem Jahreswechsel auf den Weg
gebracht haben – und noch bringen werden –, achten wir
immer darauf, dass nicht nur die Bundesseite entlastet
wird, sondern auch die Länder und die Kommunen
parallel dazu eine Entlastung erhalten. Wir werden beim
Abbau von Standards und Bürokratiekosten vorangehen.
Die Länder haben zugesagt, dem Bund entsprechende
Vorschläge vorzulegen, die wir umzusetzen bereit sind.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Die erste Frage: Wie bewertet die Bundesregierung
die Tatsache, dass die Kommunen durch Hartz IV unter
anderem zusätzlich mit den Kosten für die Obdachlosen-
betreuung, die Schuldnerberatung, Suchtberatung usw.
belastet werden?
K
All das ist in die Gespräche mit den kommunalen
Spitzenverbänden, die vor der Einführung von Hartz IV
stattgefunden haben, mit einbezogen worden und hat sei-
nen Niederschlag im Rechenwerk gefunden.
Nun Ihre zweite Zusatzfrage.
Ist die Bundesregierung angesichts Ihrer Erklärung,
dass der Bund bereit ist, für zusätzliche Kosten, die auf-
grund der Umsetzung von Bundesgesetzen entstehen,
eine Entlastung vorzusehen, bereit, im Grundgesetz eine
Klausel im Sinne des Konnexitätsprinzips aufzunehmen,
das heißt, im Grundgesetz zu sichern, dass Kosten, die
Kommunen und Ländern durch die Umsetzung von Bun-
desgesetzen zusätzlich entstehen, entsprechend finan-
ziell ausgeglichen werden?
K
Verehrte Frau Kollegin, ich hatte darauf hingewiesen,dass die Gesetze, die wir vorbereiten, nicht ausschließ-lich im Bundesinteresse liegen, was die finanziellenAuswirkungen angeht, sondern auch im Interesse derLänder und der Kommunen. Sie werden entsprechendihrem Anteil an den Steuereinnahmen davon profitieren.Zu Ihrer zweiten Frage. In jedem Gesetzentwurf, dender Bundestag berät und beschließt, gibt es einen Teil,der sich mit den Kosten befasst. Darin gibt es eine Auf-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1297
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Karl Dillerstellung darüber, in welchem Umfang die Kommuneneventuell belastet oder entlastet werden. Es ist immer amGesetzgeber, also an Ihnen, darauf zu achten, dass dieKommunen nicht über Gebühr belastet werden.
Herr Staatssekretär, es gibt noch eine Zusatzfrage der
Kollegin Bluhm.
Herr Kollege, Sie haben in Ihren Ausführungen zum
Ausdruck gebracht, dass die Bundesregierung für die
Jahre 2005 und 2006 den Bundesanteil an den Kosten
der Unterkunft auf 29,1 Prozent jährlich festgelegt hat.
Die kommunalen Spitzenverbände haben sich zwar auf
diesen Kompromiss mit der Bundesregierung eingelas-
sen, sind aber nach wie vor der Auffassung, dass der
Kostenausgleich durch die Sozialhilfe, wie versprochen,
nicht stattgefunden hat und dass der Bundesanteil im
Durchschnitt 34,4 Prozent hätte betragen müssen, um
diesem Erfordernis Rechnung zu tragen. Meine Frage:
Hat die Bundesregierung schon eine Vorstellung dazu,
wie der Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft ab
dem Jahr 2007 gestaltet werden soll, um den von den
kommunalen Spitzenverbänden bezifferten Anstieg der
kommunalen Ausgaben für soziale Leistungen von
32 auf 36,6 Milliarden Euro zu kompensieren?
K
Verehrte Frau Kollegin, wir haben während der Ent-
wicklung der Hartz-Gesetzgebung mit den kommunalen
Spitzenverbänden viele Stunden um die Frage gerungen,
wie wir alles festzurren können. Auf Drängen der kom-
munalen Spitzenverbände wurde dem Gesetz ein An-
hang zugefügt. In diesem Anhang sind alle Parameter
aufgeführt, die in das Rechenwerk eingehen sollen, um
die Belastung bzw. Entlastung zu ermitteln.
Das BMWA hat in der letzten Wahlperiode aufgrund
des Rechenwerks entsprechend der Anlage zu diesem
Gesetz festgestellt, dass man eigentlich einen deutlich
niedrigeren Satz als gerechtfertigt ansehen müsste. Das
ist von den Kommunen bestritten worden; ich kenne
aber kein Rechenwerk der Kommunen, das das Gegen-
teil beweist. Deswegen ist in den Gesprächen mit den
kommunalen Spitzenverbänden, um die sich Bundes-
minister Müntefering persönlich sehr bemüht hat, keine
Einigung zustande gekommen. Die Kommunen haben
darauf beharrt, unser Rechenwerk stimme nicht und ihr
Rechenwerk – das sie aber nicht im Detail aufgeschlüs-
selt vorlegen wollten – sei richtig. Ich hatte den Ein-
druck, dass die kommunalen Spitzenverbände am
Schluss der Gespräche, als wir gesagt haben, dass keine
Rückzahlung der Beträge des Jahres 2005 erfolgt und es
für das Jahr 2006 zu dieser Einigung kommt, erleichtert
waren. Lassen Sie mich das einmal deutlich festhalten.
Zum Zweiten. Wir werden noch in diesem Jahr festle-
gen – das wird das Parlament noch beschäftigen, weil
dies Niederschlag in einem Gesetz finden muss –, wie
die Kosten der Unterkunft künftig geregelt werden. Dies
bedarf aber noch sorgfältiger Beratungen.
Die Frage 47 des Kollegen Hermann und die Frage 48
des Kollegen Fell werden schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zur Frage 49 des Kollegen Volker
Beck:
Wie erklärt sich die Zusage des Bundesministeriums der
Finanzen, dass trotz der angespannten Haushaltslage dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales „19 neue Stellen
cher haushaltsrechtlichen Grundlage beruht sie?
K
Herr Kollege Beck, das Bundesministerium der Fi-
nanzen hat auf Grundlage von § 13 Abs. 1 Satz 2 des
Haushaltsgesetzes 2005 in den Abschluss von 19 Ar-
beitsverträgen des neu gegründeten Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales eingewilligt, damit der Leitungs-
bereich des neuen Ministeriums arbeitsfähig werden
konnte. Mit dieser Einstellungsermächtigung wurde aber
noch keine Entscheidung über neue Stellen getroffen.
Diese Entscheidung bleibt dem Parlament vorbehalten.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine
Ausweitung der Stellen zur Erledigung der üblichen Auf-
gaben der Bundesregierung angesichts der gegenwärtig
angespannten Haushaltslage unangemessen wäre? Plant
sie, diese 19 Stellen gegebenenfalls anderweitig zu er-
wirtschaften, und können Sie mir sagen, um was für Stel-
len es im Einzelnen geht?
K
Herr Kollege Beck, wie Sie selber wissen, ist das alte
Wirtschafts- und Arbeitsministerium 2003 neu konzi-
piert worden und wurde in der neuen Wahlperiode erneut
anders zusammengesetzt. Deswegen ist dieser Mehrbe-
darf an Stellen vorhanden. Diesem Bedarf wird so Rech-
nung getragen, dass von den 19 Stellen 14 auf Dauer be-
willigt und auf die Fusionsrendite angerechnet werden.
Fünf der neuen Stellen sollen mit kw-Vermerken verse-
hen werden.
Sie haben nach der Wertigkeit der Stellen gefragt: Im
Bereich der A-Besoldung sind es neun Stellen, im Be-
reich der B-Besoldung fünf Stellen, im Bereich der An-
gestellten drei Stellen und im Bereich der Arbeiter zwei
Stellen.
Ihre weitere Zusatzfrage, bitte.
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1298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
(C)
(D)
Wie erklären Sie sich den zusätzlichen Bedarf – wenn
man die kw-Stellen einmal außer Acht lässt – an 14 Stel-
len angesichts dessen, dass nicht die Arbeit der Bundes-
regierung zugenommen hat, sondern nur – was den
Steuerzahler ebenfalls schon belastet – die Zahl der Bun-
desministerien zugenommen hat? Halten Sie es nicht für
angemessen, diese Stellen zu erwirtschaften? Denn zu-
sätzliche Arbeit gibt es nicht. Man muss zusehen, dass
man sich umorganisiert. So würde das auch ein Unter-
nehmen machen, das eine Umstrukturierung vornimmt
und dabei nicht mehr Aufträge und nicht mehr Einnah-
men hat und weiterhin die gleichen Aufgaben zu bewäl-
tigen hat.
K
Herr Kollege Beck, Sie wissen, dass die Entwicklung
der Personalkosten eine Erfolgsgeschichte der Bundesre-
gierung ist, auch der früheren Bundesregierung – wir ha-
ben es erreicht, dass die Personalkosten seit 1994 relativ
konstant geblieben sind, obwohl es dazwischen Tarif-
steigerungen gab, obwohl dazwischen die Dienstalters-
sprünge in der A-Besoldung zu Buche schlugen –, und
zwar deswegen, weil wir seit 1994 jedes Jahr 1,5 Prozent
aller Stellen streichen und die Mittel plafondiert sind. Es
kommt also für ein Haus nicht nur darauf an, dass es
Stellen hat, sondern auch darauf, dass es das Geld dafür
hat, die Stellen zu besetzen. Ich habe Ihnen deutlich ge-
macht, dass wir einen Teil der Stellen mit Einsparaufla-
gen bzw. mit kw-Vermerken versehen haben.
Herr Kollege, Sie hatten zwei Zusatzfragen.
Die Fragen 50 und 51 der Kollegin Bellmann sowie
die Fragen 52 und 53 des Kollegen Rainder Steenblock
werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums der Finanzen. Herr Staatssekretär,
herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen.
Damit sind wir auch am Ende der Fragestunde.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Zu den von der Bundesregierung geplanten
Kürzungen bei Hartz IV zulasten junger Er-
wachsener
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Elke Reinke, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich hätte mir gewünscht, dass ein solcher Antrag für eineAktuelle Stunde von allen Oppositionsfraktionen ge-meinsam gestellt worden wäre. Hartz IV bewegt nochimmer sehr viele Menschen – und das zu Recht. Ich wardoch sehr erstaunt, dass die Fraktionen von Union undSPD quasi über Nacht diesen Änderungsantrag einge-bracht haben. Wollen Sie das Parlament möglichstschnell und unbemerkt über die Hartz-IV-Verschlechte-rungen abstimmen lassen?
Wollen Sie damit den gesellschaftlichen Debatten undöffentlichen Protesten ausweichen? Ich kann Ihnen nurempfehlen, die Menschen auf der Straße ernst zu neh-men. Demokratie darf nicht an den Wahlurnen aufhören.
Auch Sachverständige haben bei der letzten Anhö-rung des Ausschusses für Arbeit und Soziales verfas-sungsrechtliche Bedenken geäußert.In dem von Ihnen vorgelegten Änderungsantrag siehtdas Ministerium von Herrn Müntefering Kürzungen inHöhe von 600 Milliarden Euro zulasten junger Erwerbs-loser und ihrer Familien vor.
Erinnern Sie sich: Junge Menschen sind in der Bundes-republik mit 18 Jahren volljährig. Wir verlangen von ih-nen Eigenverantwortung und sie haften rechtlich für ihrHandeln. Nicht die jungen Erwerbslosen sind für dieseteure Arbeitsmarktreform ohne Wirkung verantwortlich,sondern die politischen und wirtschaftlichen Entschei-dungsträger.
In der Begründung des Änderungsantrags wird argu-mentiert, die Kürzungen der Regelleistungen seien zu-mutbar, weil Jugendliche unverzüglich in Arbeit, Aus-bildung oder Arbeitsgelegenheiten vermittelt werdensollten. In der Realität sieht das aber leider anders aus.Die Vermittlungsversprechen werden nicht eingelöst.Jährlich bekommen circa 100 000 Jugendliche keinenAusbildungsplatz.Im bisherigen SGB II wurde wenigstens die Eigen-ständigkeit der jungen Erwachsenen mit einer abge-schlossen Berufsausbildung anerkannt.Jetzt beseitigen Sie noch die letzten Reste des För-derns.Wenn Sie meinen, ich argumentiere einseitig, dannempfehle ich Ihnen, die „Frankfurter Rundschau“ vongestern zu lesen. Dort wurde die Situation junger Men-schen in der Bundesrepublik treffend zusammengefasst:Sie dürfen wählen. Sie dürfen Kredite aufnehmen… Sie dürfen, nein müssen, notfalls Krieg führen.Nur aus dem heimischen Kinderzimmer ausziehen,dürfen sie nicht – jedenfalls nicht, sofern sie ar-beitslos sind.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1299
(C)
(D)
Elke ReinkeWas sollen diese jungen Menschen machen, damit sievom Amt das Recht zugesprochen bekommen, in einemeigenen Haushalt für sich selber Verantwortung zu über-nehmen?
Die Zustimmung für einen Auszug erfolgt nur, wennschwerwiegende soziale Gründe vorliegen. Wie viel Ge-walt oder Alkoholkonsum in der Familie reicht aus, umdas Recht auf eine eigene Wohnung zu haben? Könnendie Angestellten in den Agenturen für Arbeit das ange-messen entscheiden? Ich meine, sie sind schon jetztüberfordert. Die Erfahrung von vielen Hartz-IV-Betrof-fenen zeigt: Ermessungsspielräume werden selten zu ih-ren Gunsten ausgelegt. Frau Ministerin von der Leyensprach von Kindern, die auf der Schattenseite des Le-bens geboren werden. Mit diesem Antrag sorgen Sie da-für, dass ein großer Teil dieser Kinder sie nie verlassenkann.
Sie nehmen ihnen mit Ihrem Änderungsantrag die Mög-lichkeit, mit einem selbstständigen Leben auf unterstemNiveau zu beginnen. Das jetzige Arbeitslosengeld IIreicht nicht für eine Existenzsicherung und das Recht aufeine gesellschaftliche Teilhabe. Das muss ich Ihnennicht noch einmal vorrechnen. Gerade jungen Menschendarf man nicht noch 69 Euro wegnehmen. Wir forderneine armutsfeste Grundsicherung als individuellesRecht.
Das Thema „arbeitsscheue Jugendliche“ lässt sichhervorragend an Stammtischen besprechen. Wer dieseZwangsmaßnahmen begrüßt, der sollte sich überlegen,woher das Ministerium von Herrn Müntefering den Restder 3 Milliarden Euro Etatkürzungen nimmt. Bishermüssen nur junge Arbeitslosengeld-II-Empfänger unter25 Jahren mit Leistungskürzungen rechnen, wenn sieArbeitsangebote nicht annehmen. Der Deutsche Indus-trie- und Handelskammertag fordert unter anderem dieseSanktionen für alle Langzeitarbeitslosen, sollten sie An-gebote für Arbeit, für die ihnen 3 Euro Stundenlohn ge-zahlt werden, ablehnen.Herr Minister, werden Sie, um die geplanten Kürzun-gen durchführen zu können, auf die Vorschläge desDIHK zurückgreifen? Ich als Abgeordnete kann denBürgerinnen und Bürgern nur empfehlen, diese Debattesehr aufmerksam zu verfolgen und ihre demokratischenRechte wahrzunehmen, bevor es zu spät ist.Ich danke.
Das Wort hat nun der Kollege Stefan Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Reinke, über Ihre Aufregung muss ichmich schon ein bisschen wundern. Sie haben gesagt, wirhätten unsere Änderungsanträge quasi über Nacht einge-bracht.
– Ja, ja.Erstens empfehle ich Ihnen einen Blick in die Koali-tionsvereinbarung zwischen CDU, CSU und SPD, dieauch Ihnen zugänglich ist. Auf Seite 27 sind genau dieVorschläge genannt, die wir in der letzten Woche in dasParlament eingebracht haben.Zweitens empfehle ich Ihnen, sich die Sitzung desAusschusses für Arbeit und Sozialordnung vom18. Januar dieses Jahres zu vergegenwärtigen, in derHerr Bundesminister Franz Müntefering sein Ar-beitsprogramm mündlich vorgetragen hat. Auch in derschriftlichen Ausarbeitung, die damals ebenfalls vorge-legt worden ist, findet sich auf Seite 12 der Hinweis aufunsere Änderungsanträge.In der letzten Woche haben wir unsere Anträge in denAusschuss für Arbeit und Soziales, der federführend ist,eingebracht. Am vergangenen Montag haben wir eineAnhörung zu diesem Themenbereich durchgeführt.Heute früh fand im zuständigen Ausschuss die abschlie-ßende Beratung statt. Am Freitag dieser Woche wird esim Plenum des Deutschen Bundestages zur zweiten unddritten Lesung des Gesetzentwurfs kommen. Es hättealso genügend Möglichkeiten für eine Aussprache gege-ben. Der heutigen Aktuellen Stunde hätte es jedenfallsnicht bedurft.
Angesichts des Verlaufs dieses Gesetzgebungsverfah-ren und angesichts der verschiedenen Möglichkeiten zurAussprache, die es gegeben hätte, sage ich noch einmal:Diese Aktuelle Stunde ist völlig überflüssig. Ihnen gehtes überhaupt nicht um eine sachliche Diskussion – dennes hätte genügend Diskussionsmöglichkeiten gegeben –,sondern Sie betreiben pure Polemik, weil Sie sich davonVorteile bei den anstehenden Landtagswahlen erhoffen.
Ich verstehe gar nicht, dass Sie sich über Hartz IV sosehr aufregen. Denn wäre Hartz IV in der letzten Legis-laturperiode nicht auf den Weg gebracht worden, würdenSie heute nicht hier sitzen, meine lieben Kolleginnenund Kollegen von den Linken.
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Nun zur Sache.
Darf ich Sie bitten, dem Redner zuzuhören?
Im Wesentlichen geht es jetzt um zweierlei:
Erstens. Wir wollen die Gleichbehandlung von min-
derjährigen Kindern bzw. Jugendlichen und volljährigen
Jugendlichen in einer Familie. Diesen Schritt halten wir
für vertretbar; denn diese Differenzierung im Gesetz ist
nicht einsichtig.
Zweitens. Ein 18- bis 25-Jähriger, der zu Hause aus-
zieht, bekommt gegenwärtig nicht nur Arbeitslosen-
geld II, sondern es werden auch die ihm entstehenden
Kosten für Miete und Heizung und für die Erstausstat-
tung seiner Wohnung übernommen.
Ursprünglich hat man beabsichtigt, durch diese Rege-
lung Hilfebedürftige zu unterstützen, die aus bestimmten
Gründen nicht mehr zu Hause wohnen können, zum Bei-
spiel weil sie an einem anderen Ort eine Arbeits- oder
Ausbildungsstelle angenommen haben. Darüber hinaus
hatte man Jugendliche im Blick, die aus verschiedenen
sozialen Gründen nicht mehr bei ihrer Familie leben
konnten.
Nach Einführung dieser Regelungen mussten wir
feststellen, dass sie massiv in Anspruch genommen wur-
den, und zwar auch von solchen Personen, angesichts
deren Situation man sich schon die Frage stellen musste,
ob sie tatsächlich hilfebedürftig sind; aus der massiven
Inanspruchnahme dieser Regelungen resultieren im
Übrigen auch die hohen Kostensteigerungen in diesem
Bereich. Nun wollen wir verhindern, dass Bedarfsge-
meinschaften in Zukunft nur gegründet werden, um
Arbeitslosengeld II und andere staatliche Transferleis-
tungen in größerem Umfang in Anspruch nehmen zu
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, es
handelt sich lediglich um die Wiederherstellung der
Rechtslage vor Hartz IV. Denn es gab schon früher die
Regelung, dass der kommunale Träger bzw. der Sozial-
hilfeträger zustimmen musste. Letztendlich stellen wir
nur diesen Rechtszustand wieder her; denn er hat sich
seinerzeit bewährt. Auch das ist eine Erkenntnis aus
Hartz IV.
Da Sie immer von Gerechtigkeit und persönlicher
Entfaltung sprechen, will ich Ihnen folgenden Fall schil-
dern: Was sagen Sie einem jungen Berufstätigen, der
eine Ausbildungs- bzw. Arbeitsstelle hat und sein eige-
nes Geld verdient, der aber zu viel verdient, um noch zu-
sätzlich staatliche Hilfeleistungen in Anspruch nehmen
zu können, und der eine eigene Wohnung haben möchte,
aber nicht genug Geld hat, um sie selber zu finanzieren?
Wie sieht es hier mit freier Entfaltung aus? Warum muss
die Solidargemeinschaft in dem einen Fall die Kosten für
die Wohnung übernehmen, in dem anderen Fall aber
nicht? Ist das Ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit?
Meines jedenfalls ist es nicht.
Für manch einen jungen Menschen unter 25 Jahren
mag es zwar eine Zumutung sein, noch bei seinen Eltern
zu wohnen. Aber es ist nicht unzumutbar, wenn wir ver-
langen, dass ein junger Hilfebedürftiger noch bei seinen
Eltern wohnt.
Ich will festhalten: Es wird auch in Zukunft die Mög-
lichkeit geben, dass ein junger Mensch von zu Hause
auszieht: wenn er eine Ausbildungsstelle an einem ande-
ren Ort antritt oder wenn es schwer wiegende soziale
Gründe gibt; Sie haben ja davon gesprochen. Dann muss
der kommunale Träger seine Zustimmung geben – und
das wird er, wenn diese Gründe vorliegen: weil er es
nach dem Wortlaut des Gesetzes muss.
Ich bin der Meinung, wir sollten, anstatt die Zeit mit
solchen Aktuellen Stunden zu verplempern,
ernsthaft darüber diskutieren, wie wir die Beschäfti-
gungsmöglichkeiten für junge Menschen verbessern
können.
Wir sollten darüber reden, wie wir die jungen Menschen
in Lohn und Brot bekommen,
wie sie eine Arbeitsstelle oder eine Ausbildungsstelle
bekommen; dann brauchen wir über staatliche Fürsorge
und die Zustimmung kommunaler Träger nicht zu reden.
Stattdessen sprechen wir hier über irgendwelche The-
men, die Sie aus purer Polemik aufbringen; jede Woche
versuchen Sie mit einer Aktuellen Stunde irgendein
Thema aufzubauschen. Ich würde mir wünschen, dass
wir die Zeit effizienter nutzen. Aber wenn nicht, dann
könnten wir wenigstens über andere, interessante The-
men sprechen: Wir könnten zum Beispiel eine Aktuelle
Stunde zu den Vorkommnissen in Ihrer Fraktion machen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Mich würde zum Beispiel eine Aktuelle Stunde zuden Vorkommnissen in den letzten Tagen in Ihrer Frak-tion interessieren –
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Stefan Müller
die Allgemeinheit mit Sicherheit auch.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bei der Umsetzung der Arbeitsmarktreformen zuHartz IV wurden von Rot-Grün, mit Duldung der Union,gravierende handwerkliche Fehler gemacht. Diese hand-werklichen Fehler sind eine, wenn auch zugegebenerma-ßen nicht die einzige Erklärung dafür, dass statt der vo-rausberechneten 14 Milliarden Euro im ersten Jahr derAnwendung von Hartz IV rund 26 Milliarden Euro aufder Ausgabenseite gebunden wurden.Gleich als diese Fehler erkennbar wurden, wurde derRuf nach Korrekturen laut. Das galt insbesondere für diezahlreichen Fälle, dass Hilfebedürftige unter 25 Jahrenmit Unterstützung der Träger einen eigenen Hausstandgegründet haben. Dafür, dass so etwas tatsächlich statt-gefunden hat, haben wir in der Anhörung am Anfangdieser Woche Belege geliefert bekommen. Unter den2,8 Millionen Bedarfsgemeinschaften, die Leistungennach SGB II beziehen, sind rund 2,2 Millionen Einper-sonenbedarfsgemeinschaften, was 78 Prozent entspricht.
Der Vertreter der Bundesagentur hat bei uns unter Beru-fung auf Stellungnahmen und Aussagen der Arbeitsge-meinschaften sehr offen von Fehlanreizen gesprochen.Er sagte wörtlich: Diese Fehlanreize entsprechen fürmich auch fast der Lebenswirklichkeit. Wenn ein jungerMensch die Möglichkeit hat, zulasten der Allgemeinheitaus dem elterlichen Haushalt auszuziehen, und seineHaushaltsgründung auch noch von der Allgemeinheit fi-nanziert wird, dann wird das wahrscheinlich von vielenin Anspruch genommen worden sein.Das heißt für uns: Es gibt Missbrauch. Die FPD-Bun-destagsfraktion unterstützt die Zielsetzung, diesen Miss-brauch zurückzuführen, nachdrücklich.
Es geht also darum, Fehlanreize auszuräumen. Es kannnicht sein, dass, wie nach der bestehenden Rechtslagemöglich, unter 25-Jährige relativ wahllos die elterlicheBedarfsgemeinschaft verlassen, eine eigene Bedarfsge-meinschaft gründen und für Unterkunft und Heizung zu-sätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld II Ansprüche geltendmachen können. Wir begrüßen daher im Grundsatz dievorgesehene Einbeziehung arbeitsloser Jugendlicher un-ter 25 Jahren in die elterliche Bedarfsgemeinschaft undauch die vorgesehene Beschränkung, dass unter 25-Jäh-rige nur noch im Ausnahmefall aus der elterlichen Woh-nung ausziehen und eine geförderte Bedarfsgemein-schaft gründen können.Allerdings haben wir in diesem Zusammenhang ei-nige Bedenken: Erstens. Es kann nach unserer Auffas-sung nicht so sein, dass zum Stichtag – dem 17. Februar2006 – vorhandene Bedarfsgemeinschaften einen wei-testgehenden Bestandsschutz genießen und diese Ände-rungen nur für neu einzurichtende Einpersonenbedarfs-gemeinschaften gelten sollen. Wir sind vielmehr derAuffassung, dass im Rahmen der alle sechs Monatestattfindenden Überprüfungen der Anspruchsvorausset-zungen dort, wo es möglich und sinnvoll ist – es wirdnicht überall möglich und sinnvoll sein –, auf die Rück-eingliederung in die familiäre Bedarfsgemeinschaft ge-drungen wird; wenn erforderlich – auch mit Blick aufbestehende Mietverträge – auch mit Toleranzfristen.Aber der Grundsatz muss klar sein. Ansonsten käme eszu einer dauerhaften Belohnung der Findigen. Das darfnicht sein. Denn wie wollen Sie einem Sozialhilfeemp-fänger klar machen, dass er seine Wohnung wegen Fehl-belegung räumen soll, wenn ein unter 25-Jähriger aufDauer in einer solchen leben darf? Hier gibt es aus unse-rer Sicht Handlungsbedarf.
Zweitens. Die vorgesehene Genehmigungsregelung,wonach der Betroffene aus schwer wiegenden sozialenGründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder einesElternteils verwiesen werden kann, wird in der Verwal-tungspraxis sehr schwer zu handhaben sein und dieMitarbeiter der Bundesagentur und der Arbeitsgemein-schaften erneut vor Probleme stellen. Das gilt auch dann,wenn, wie wir heute im Ausschuss gehört haben, daraufverwiesen wird, dass die verwendeten unbestimmtenRechtsbegriffe durch die Rechtsprechung der Sozialge-richte, zum Beispiel zum Sozialhilferecht, ausgeformtseien.Es bleibt das Problem, dass die Mitarbeiter in derAgentur und in den Arbeitsgemeinschaften die vorge-brachten Gründe nachprüfen müssen, wofür sie abernicht ausgebildet sind. Bei der ohnehin bereits bestehen-den hohen Arbeitsbelastung der Mitarbeiter werden auchwohl kaum die Möglichkeit und die Zeit gegeben sein,hier entsprechende Nachschulungen vorzunehmen. ImErgebnis würde hier eine Prozessflut ausgelöst werden.Dem Ziel, Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, dientman damit auf jeden Fall nicht.Das dritte Problem, das wir ansprechen, ist der Zeit-punkt des In-Kraft-Tretens der neuen Regelung. Bei derFrage, ob das bereits am 1. Juli 2006 oder erst am1. Januar 2007 möglich ist, ist die Kakophonie in denReihen der Koalition komplett.
Die Union will wohl ein schnelles In-Kraft-Treten. HerrMüntefering, die Sprecherin des Bundesarbeitsministe-riums hat gestern erklärt, das Gesetz könne erst zum1. Januar 2007 umgesetzt werden; früher sei die Umset-zung nicht möglich.
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Dr. Heinrich L. KolbDa auch die Bundesagentur darauf hinweist, dassUmgehungslösungen bezüglich der nicht anwendbarenSoftware in diesem Fall wohl nicht möglich sein werden,kann man hier nur sehr deutlich vor zu viel Optimismuswarnen. Wir haben in der Vergangenheit immer wiedererlebt, dass man sehr optimistisch an Dinge herangegan-gen ist und dass die Verfahren in der Praxis dann nichtsauber durchgeführt werden konnten. Das alles klingt füruns nicht sonderlich ermutigend.Schließlich warnen wir auch noch vor Missbrauchs-tatbeständen, die sich aus der Zusicherung nach § 22Abs. 2 a des Entwurfs ergeben könnten. Hier gibt es eingroßes Interesse der abgebenden Träger, einen Umzugs-kostenzuschuss zu gewähren. Ich sage: Wenn sich derArbeitslose an seinem neuen Wohnort wohl fühlt, dannwird es nur sehr schwer möglich sein, einen Rückumzugauf den Weg zu bringen. Das hätte für die verschiedenenTräger aber dauerhafte Folgen in der einen und in der an-deren Weise.Insgesamt stellen sich hier also viele Fragen. Wir sindaber bereit, an dem grundsätzlichen Ziel der Korrekturder Fehlanreize mitzuwirken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Bundesregierung hat nun der Herr Bundesmi-nister Franz Müntefering das Wort.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man ein großes Gesetzgebungswerk wie dieSchaffung der Grundsicherung in Bewegung setzt, dannist ganz klar, dass man beobachtet, was daraus wird, unddass man dann auch Konsequenzen daraus zieht undVeränderungen vornimmt, wenn sich dies als nötig er-weist.Das tun wir. Ich gehe davon aus, dass wir am Freitagdieser Woche das SGB-II-Änderungsgesetz im Deut-schen Bundestag beschließen werden. Es gibt einigePunkte darin, die ich ansprechen möchte.Punkt 1 des Gesetzes ist eine Mehrausgabe. Es gehtdort um die Anhebung der im Osten zu zahlenden ALG-II-Beträge auf das Westniveau. Das steht darin. Das trittzum 1. Juli dieses Jahres in Kraft. Dadurch entstehen indiesem Jahr Kosten in Höhe von 220 Millionen Euro. Imnächsten Jahr gilt das dann voll.Nun bin ich ganz gespannt, was Sie am Freitag tunwerden, ob Sie dem Gesetz zustimmen oder nicht; dennich kann mir nicht vorstellen, dass Sie diese Anhebungdes Betrages vom Ostniveau auf das Westniveau nichtwollen. Ehe man sich hier also derart zu Wort meldet,sollte man sich überlegen, welcher Zusammenhang daeigentlich besteht. Wir warten also gespannt darauf, wasam Freitag passiert und wie Sie sich dabei verhalten.
Es gibt aber auch andere Punkte, bei denen wir versu-chen müssen, einzusparen. Die Erfahrung desJahres 2005 war, dass die Bestimmungen des Gesetzesgedehnt worden sind. Ich gebrauche ausdrücklich nichtdas Wort „missbraucht“; denn das, was da passiert ist,war nach dem Gesetz möglich. Wir als Gesetzgebermüssen sagen, dass wir uns da korrigieren und daraufachten müssen, dass die entstehenden Kosten nicht überGebühr über das Ziel hinausschießen.Was waren die Probleme? Es haben sich neue Be-darfsgemeinschaften gebildet, und zwar in erheblichemMaße durch die ganz jungen Menschen, die 18-, 19- und20-Jährigen, die aus ihrem elterlichen Verbund ausgezo-gen und in eine eigene Wohnung gezogen sind. Damitwaren sie eine eigene Bedarfsgemeinschaft und erhielten100 Prozent ALG II. Auch die Einrichtung für ihre Woh-nung wurde in hohem Maße bezuschusst und dazu wer-den natürlich auch die Wohnkosten finanziert.Es hat sich herausgestellt, dass dies eine großeGruppe ist und dass an dieser Stelle eine Menge Kostenentstanden sind, die wir nicht gewollt haben. So war dasnicht gemeint. Das kann auch nicht im Sinne des Erfin-ders sein; denn die Kosten, die dort entstehen, müssennatürlich von den Steuerzahlern insgesamt getragen wer-den. Diese Situation nehmen wir auf, um sie zu korrigie-ren.Wir haben im Verlauf des Jahres auch festgestellt: DieTatsache, dass jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jah-ren, die zu Hause wohnen bleiben, 100 Prozent statt80 Prozent des Regelsatzes gezahlt wird, ist mit derenSituation nicht vereinbar; denn in einer Familie gibt eskeine doppelten Haushaltskosten. Deshalb können andieser Stelle Korrekturen stattfinden.
Wenn man das so macht, wird man im Jahr der vollenWirksamkeit 500 bis 600 Millionen Euro sparen.
Es wird dann so sein, dass die Bedarfsgemeinschaften,die sich durch Umzug bilden, nur noch möglich sind,wenn es dafür gute Gründe gibt. Das kann die Notwen-digkeit sein, in eine andere Stadt umzuziehen. Das kön-nen aber auch schwerwiegende soziale Gründe sein,etwa Verwerfungen in der Familie, die zwangsläufigdazu führen, dass der junge Mensch auszieht. Das hat esim Bereich der Sozialhilfe schon gegeben. Diese Ent-scheidungen muss man vor Ort individuell treffen. Sol-che Ausnahmesituationen gibt es. Aber es darf ebennicht mehr die Regel sein, dass 18- oder 19-Jährige vonzu Hause ausziehen, sich eine eigene Wohnung nehmenund die Kosten dafür von der Gemeinschaft aller getra-gen werden, wie wir das im Jahre 2005 erlebt haben.Es gibt also diese Regel und es gibt Ausnahmen vondieser Regel. Es wird auch in Zukunft so sein, dass die-jenigen, die im elterlichen Verbund wohnen bleiben,nicht 100 Prozent, sondern 80 Prozent des ALG II be-kommen.
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Bundesminister Franz MünteferingDie Frage ist: Wann wird das umgesetzt? Aufgrundvon technischen Problemen hat die BA mitgeteilt, dassdies vernünftigerweise erst zum 1. Januar des nächstenJahres umgesetzt werden könne. Dies hat sich auch inden Zeitungsmeldungen vom heutigen Tag niederge-schlagen. Aber darüber kann man ganz offen sprechen.Wir in der Koalition haben heute im Ausschuss ent-schieden: Wir wollen diese Regelung ab dem 1. Juli um-setzen. Mit der Zustimmung des Deutschen Bundestagesam Freitag wollen wir der Agentur signalisieren, Druckzu machen und sich zu beeilen, da die Umsetzung dieserRegelung nicht unnötig lange dauern soll. Ich glaube,dass diese Entscheidung vertretbar und richtig ist. Nunmuss man versuchen, diese Regelung ab dem 1. Juli um-zusetzen. Dies kann auch dadurch geschehen, dass mansich überlegt, mit welcher anderen Methode als nur mitder vorhandenen Technik diese Dinge umgesetzt werdenkönnen. Wir wollen, dass dies so schnell wie möglichrealisiert wird.Wichtig ist – da stehe ich im Widerspruch zu dem,was Herr Kolb von der FDP gesagt hat –: Diejenigen, dieauf legale Weise eine Bedarfsgemeinschaft gegründethaben und in eine eigene Wohnung gezogen sind, wer-den wir dort lassen. Es macht überhaupt keinen Sinn, sozu tun, als ob diese Menschen diese Regelung miss-braucht hätten. Das Gesetz bot diese Möglichkeiten.Dies wird korrigiert. Aber die jungen Menschen, die be-reits eine eigene Wohnung haben, werden in ihrer Be-darfsgemeinschaft bleiben können.Man kann sich hier viele Tausend Einzelfälle vorstel-len. Darüber haben wir in den letzten Tagen in allenFraktionen hinreichend diskutiert. Einen Teil dieser Ein-zelfälle wird man vor Ort zu klären haben. Die großeMenge derer, die bereits in einer eigenen Bedarfsge-meinschaft leben, wird da bleiben. Aber in der Zukunftwird das anders gehandhabt werden. Ich glaube, es istvernünftig, hier etwas zu ändern.Ich will abschließend sagen: Mindestens so wichtigwie das Thema, das wir hier jetzt behandeln, ist, dass wirdie Mittel, die uns zur Verfügung stehen, noch konzen-trierter und energischer dafür einsetzen, den jungenMenschen eine Chance zu geben, in Ausbildung, Quali-fizierung oder Beschäftigung zu kommen.
Wir in der Koalition haben uns vorgenommen, zu er-reichen, dass junge Menschen maximal drei Monate ar-beitslos sind und dass sie in den Argen oder in den optie-renden Gemeinden so intensiv betreut werden, dass sieinnerhalb dieser drei Monate Ausbildung, Qualifizierungoder Beschäftigung finden. Wenn man das erreicht, be-antwortet das übrigens auch einen Großteil der Frage:Was passiert mit denen, die arbeitslos sind, und wie wirdderen Lebensweg aussehen? Es ist nicht gut, wenn wirals Staat jungen Menschen Arbeitslosengeld-II-Karrie-ren finanzieren, sondern es ist besser, wenn wir das Gelddafür einsetzen, diesen Menschen eine Chance zu geben,in den Arbeitsmarkt zu kommen.Die Dauer der Arbeitslosigkeit junger Menschen be-trägt zurzeit in Deutschland im Schnitt 4,4 Monate – da-mit sich auch da das eine oder andere Gerücht ein biss-chen relativiert. Im europäischen Vergleich stehen wir soschlecht nicht da. Deutsche Jugendliche in der Alters-klasse zwischen 18 und 25 Jahren sind im Schnitt4,4 Monate arbeitslos. Das muss an vielen Stellen besserwerden – das wissen wir –, aber ich sage Ihnen: DasGeld, das wir einsparen wollen, geht den Jugendlichennicht verloren. Wir werden es dafür einsetzen, diesen Ju-gendlichen noch stärker als bisher zu helfen, um in ver-nünftiger Weise Qualifizierung, Ausbildung und letztlicheine Arbeit zu bekommen. Insofern bin ich ganz sicher:Das, was wir machen, ist ein vernünftiger Weg in dierichtige Richtung.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMüntefering, dass jetzt auch ein sozialdemokratischerArbeitsminister junge ALG-II-Empfänger zumindest alspotenzielle Schmarotzer ansieht
und damit relativ umstandslos an die Töne des nord-rhein-westfälischen Sozialministers Karl-Josef Laumannanknüpft, finde ich enttäuschend.
Letzterer hat schon im Herbst vergangenen Jahresfestgestellt – das sage ich an die CDU/CSU gewandt –,es gehe nicht an, dass ganze Schulklassen eigene Woh-nungen anmelden, um Anspruch auf ALG II zu bekom-men.
– Das ist Ihre Auffassung; so betrachten Sie diese jungenLeute. – In der Grobfassung dieser Rede wird dann vonMissbrauch geredet. Für die Feinnervigen – dazu gehö-ren sicherlich Sie, Herr Müntefering – wird dann davongesprochen, dass die große Koalition die Familie alsVerantwortungsgemeinschaft stärken will.Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dasssich die vorgesehenen Änderungen nicht auf Kinder be-ziehen. Es geht dabei um junge Staatsbürger, von denenwir auch ziemlich viel verlangen.
Sie sind volljährig. Sie müssen die Wehrpflicht ableis-ten. Sie sind voll geschäftsfähig. Sie sind straffähig und– auch daran will ich Sie erinnern – sie haben Gott sei
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1304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006
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Brigitte PothmerDank das Wahlrecht. Diese jungen Leute sollen sich jetztwieder in die Haushalte ihrer Eltern einfügen.
Ich will gar nicht leugnen, dass auch wir einen gewis-sen Handlungsbedarf sehen.
Wenn junge Leute im Haushalt ihrer Eltern leben, binich ebenfalls der Auffassung, dass die Generalkostennicht mehrfach anfallen und anders aufgeteilt werdenkönnen wie bei anderen Erwachsenen auch.
Aber dann frage ich Sie: Warum bekommen diesejungen Leute unter 25 nicht wie andere Erwachsene auch90 Prozent der Regelleistung? Es gibt schließlich nichtmehr den Haushaltsvorstand, der 100 Prozent bekommt,während alle anderen 80 Prozent bekommen. DasSGB II sieht eine gleichberechtigte Behandlung vor. Dasbedeutet dann eben auch 90 Prozent der Regelsätze fürbeide Partner. Das sollte dann auch für unter 25-Jährigegelten.
Herr Laumann, den ich bereits zitiert habe, hat von ei-ner Auszugslawine gesprochen, die angeblich unter den18- bis 25-Jährigen stattgefunden hat. Das ist gefühltesWissen. Das möchte ich ausdrücklich festhalten. Belast-bare Daten gibt es dafür nicht.
Im Gegenteil: Es gibt deutliche Indizien für eine Ent-wicklung in die umgekehrte Richtung.
In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Bedarfsgemein-schaften, in denen nur eine Person lebt, vom Februar biszum September 2005 um 0,2 Prozent zurückgegangen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:Es ist nicht das politische Ziel der Grünen, 18-Jährigenaus Steuermitteln ihre erste eigene Bude zu finanzieren,wenn dazu keine Notwendigkeit besteht. Das ist auchnicht unser Ziel.Aber die von Ihnen in dem Gesetzentwurf vorgesehe-nen Korrekturen widersprechen jeder Vernunft. Dennnach Ihren Vorstellungen müssen junge Menschen nichtnur ihren Erstauszug genehmigen lassen; vielmehr müs-sen sie in der Folge jeden Umzug genehmigen lassen.
Stellen Sie sich einmal vor, ein junger Mensch ausden neuen Bundesländern zieht nach Stuttgart, weil erdort einen Arbeitsplatz gefunden hat. Wenn er diesenwieder verliert und sich deshalb eine billigere Wohnungsuchen will, dann braucht er dafür wieder eine Genehmi-gung. Dann hat der kommunale Träger erneut das Recht,ihm die eigene Bedarfsgemeinschaft zu verweigern. Dasbedeutet eine Rückabwicklung zum Einchecken in dasHotel Mama. Vielleicht hat das Hotel Mama aber in derZwischenzeit längst dichtgemacht, weil sich die Elternbereits auf die neue Situation eingestellt haben und einekleinere Wohnung genommen haben.
Das, was Sie hier machen, stärkt in keiner Weise dieVerantwortungsgemeinschaft. Sie überfordern die Fami-lie als Solidargemeinschaft.
Das vertreibt die jungen Leute eher aus den Haushaltender Eltern, also genau von dort, wo Sie sie halten wollen.Das, was Sie hier anzetteln wollen, nenne ich eine Stu-benhockerkampagne. Sie wollen eine Renaissance derHeimschläfer einleiten.
Um Ihr Vorhaben sollte man ein großes Schild hängen,auf dem steht: Ins Leben eintreten verboten; Eltern haf-ten für ihre Kinder!
Frau Kollegin, kommen Sie allmählich zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Herr Müntefering, das Versprechen, jungen Men-
schen umgehend einen Ausbildungs- oder einen Arbeits-
platz anzubieten, ist nicht eingelöst worden.
Das ist das Kernproblem; dieses sollten Sie lösen. Aber
Sie zetteln hier Scheindebatten an, die niemandem nut-
zen, auch nicht den Jugendlichen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich danke Ihnen.
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Brigitte Pothmer
Ich erteile das Wort der Kollegin Gitta Connemann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! BeimZuhören der Rede der Kollegin Pothmer – man konnte janicht weghören –
fiel mir ein Satz unseres ehemaligen BundeskanzlersKonrad Adenauer ein, der einmal sagte: „Wir leben alleunter demselben Himmel, aber wir haben nicht alle den-selben Horizont.“
Jedenfalls habe ich die Rede von Herrn BundesministerMüntefering vollkommen anders verstanden, FrauPothmer. Man kann aber auch mit dem Bonmot einesSchriftstellers sagen, dass häufig diejenigen, die lautschreien, heiser sind, wenn sie bekennen müssen. Ichglaube, auch darum geht es heute.Frau Pothmer, im Gegensatz zu Ihnen kann ich bestä-tigen, was der Bundesminister gesagt hat. Ich lebe in ei-nem ländlichen Raum. Bei uns waren bislang gemein-same Haushalte die Regel. Aber im letzten Jahr ist auchbei uns die Zahl der Singlehaushalte schlagartig explo-diert. Es war, als hätte die ganze Welt auf einmal dieFreuden des Alleinlebens entdeckt. Das betraf vor allemdie Haushalte, die ALG II beziehen. Nicht nur im Land-kreis Leer – aus diesem komme ich und dort habe ichmich informiert; das hätte Ihnen sicherlich ebenfalls gutangestanden –
stieg ihre Zahl um mehr als 40 Prozent. Vielmehr warlandauf, landab die Geschichte von der wundersamenVermehrung der Bedarfsgemeinschaften zu hören.
Da waren nicht nur die nicht ehelichen Lebensgemein-schaften, in denen zwar die Liebe nicht endete, die aberseltsamerweise ihre gemeinsamen Haushalte auflösten.Vielmehr gab es auch Jugendliche, die ihre Sachen pack-ten, und zwar auf Kosten der Allgemeinheit. Das ist gutso, Frau Kollegin, wenn es um die Eingliederung in denArbeitsmarkt geht. Das ist gut so, wenn das Familienle-ben zu Hause unerträglich ist. In diesen Fällen ist derStaat, ist die Allgemeinheit gefordert, den betroffenenJugendlichen zu helfen; denn sie sind dann hilfsbedürf-tig.
Das war bislang der Fall und das wird weiterhin sosein. Auch zukünftig übernimmt die Allgemeinheit dieKosten der Unterkunft, wenn ein Grund für einen Erst-wohnungsbezug vorliegt. Aber zukünftig muss die Ar-beitsgemeinschaft oder die optierende Kommune vorherzustimmen. Die jungen Arbeitslosen, die bei den Elternwohnen bleiben, erhalten nur noch 80 Prozent der Regel-leistung. Das ist leicht zu berechnen; denn die Kosten ei-ner gemeinsamen Wohnung sind nun einmal nicht sohoch wie die mehrerer Haushalte.Die Gegner dieser Pläne hatten ihr Urteil schnell ge-fällt. Wenn man im Internet chattet, dann stellt man fest,dass dort die Rede vom Aushungern junger Hartz-IV-Empfänger sowie von Jugendlichen zweiter Klasse ist.Meine Damen und Herren von der Linken, das ist ausmeiner Sicht Pathos pur. Große Worte, aber ohne jedeSubstanz!
Frau Pothmer, Sie hätten sich ebenso wie ich mir dieMühe machen sollen, sich vor Ort zu informieren. In denÄmtern hätten Sie gehört, dass es auch Mitnahmeeffektegibt. Beispielsweise kursieren an den Gymnasien in mei-nem Landkreis inzwischen Formulare mit dem Titel„Das Recht auf eine kostenfreie Bude“. Diese Formularewerden bei den Ämtern vorgelegt. Sie hätten gehört,dass der Abschluss von Mietverträgen in Familien aufeinmal Konjunktur hat. Da wird schon einmal die Einlie-gerwohnung von den Eltern an die Kinder vermietet. DieVersuche der Kommunen, auf die Unterhaltsverpflich-tung der Eltern hinzuweisen, scheitern spätestens vorGericht. Es gilt die Überleitung: Der Staat soll doch ver-suchen, sich die Miete bei den Eltern zu holen. Deshalbwünschen sich zum Beispiel die Landkreise in meinemWahlkreis die beabsichtigte Gesetzesänderung, sorgt siedoch auch für Klarheit bei den Sozialgerichten.
Das Angebot zum Alleinwohnen auf Kosten der Steu-erzahler findet reißenden Absatz, allerdings mit uner-wünschten Nebeneffekten. Die Kosten explodieren.Aber es geht um mehr als Geld. Es geht hier auch um dieFrage, was sich der Sozialstaat noch leisten kann undsoll.
Ist es die Aufgabe der Solidargemeinschaft, den Startin ein eigenständiges Leben zu finanzieren? WerdenVolljährige, die bei ihren Eltern wohnen, zu Erwachse-nen zweiter Klasse? Wohl kaum. Der staatlich finan-zierte Auszug von zu Hause ist kein Menschen- oderBürgerrecht. Es geht hier übrigens auch um Fragen derGerechtigkeit. Ist es gerecht, wenn Jugendliche, dienicht arbeiten, genauso viel erhalten wie Jugendliche inder Ausbildung? Der ALG-II-Satz von 345 Euro liegtüber dem, was in vielen Ausbildungsberufen verdientwird. Ein Bauzeichner in Ostfriesland bekommt im ers-ten Lehrjahr 311,88 Euro, eine Floristin 321 Euro. Werist denn jetzt der Jugendliche zweiter Klasse, meine
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Gitta ConnemannDamen und Herren von der Linken? Keiner mehr als derandere. Das Signal ist für beide verheerend, sowohl fürden jugendlichen Arbeitslosen als auch für den Auszu-bildenden, nämlich dass sich Arbeit nicht mehr lohnt.Ist es gerecht, dass die ursprünglich gedachte Unter-stützung inzwischen zum Blankoscheck geworden ist,der von den einen ausgegeben, aber von den anderen ge-zahlt werden muss? Ich spreche hier von vielen Millio-nen Normalverdienern. Ich selbst habe eine Lehre alsEinzelhandelsverkäuferin gemacht. Nach dem aktuellenTarifvertrag beträgt das Monatsgehalt einer Vollzeitver-käuferin in Sachsen-Anhalt nach sieben Berufsjahren1 987 Euro Brutto. Meine früheren Kolleginnen stehendafür bei Wind und Wetter auf und arbeiten. Ist es ge-recht, dass die Eigenständigkeit junger Menschen staat-lich finanziert wird und nicht mehr von der Familie?
Hier geht es nicht um die Frage der Emanzipationjunger Menschen, sondern auch um die Frage der Entso-lidarisierung von Familien.
Wenn Sie meinen, Eltern könne man nicht zumuten, fürihren 20-jährigen Sohn aufzukommen, dann haben Sieaus meiner Sicht ein ganz merkwürdiges Verständnisvon einer solidarischen Gesellschaft.Am Ende dieser Aktuellen Stunde bleibt für mich einschaler Beigeschmack.
Denn Ihre fragwürdige Fähigkeit – sowohl bei der Lin-ken als auch leider bei der Kollegin von den Grünen –,größte Worte zu machen, hilft allenfalls Ihnen bei Land-tagswahlen, aber nicht den Betroffenen. Ich bitte Sie: Pa-thos eignet sich nur für das Theater, aber nicht für dasPlenum.
Das Wort hat nun der Kollege Jörn Wunderlich, Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin froh, dass ich nicht mehr in Ostfries-land lebe, wo es so schlimm ist.Zwangsfamilie. Wir alle in diesem Hohen Haus spre-chen uns gegen Zwangsehen bzw. Zwangverheiratungenaus und Sie wollen durch die Novellierung des Gesetzesfür moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt durchdie Hintertür wieder Zwangsfamilien einführen. Sieht sodie Förderung von Familie aus?
– Hören Sie mir einmal zu! Es wird noch besser.
Die Ausdehnung der Bedarfsgemeinschaft auf die un-ter 25-Jährigen und die Einschränkungen beim Erst-wohnbezug sind völlig überzogen. Das sagt übrigensauch der DGB. Ich weiß nicht, wer von Ihnen bei derExpertenanhörung war. Ich war dabei und habe sie mirangehört. Es wird seitens der Regierung von ständigemund massivem Missbrauch dieser Altersgruppe gespro-chen und mit Zahlen herumgeworfen. Woher kommendiese Zahlen? Diese Zahlen gibt es überhaupt nicht. Inder Expertenrunde ist gesagt worden, dass es keine be-legbaren Zahlen gibt. Ich war bei den Arbeitsgemein-schaften bei mir zu Hause im Kreis. Auch dort ist gesagtworden: Wir haben keine Zahlen. – Es gibt keine Hin-weise auf Missbrauch durch diese Altersgruppe. Das isterstunken und erlogen.
Sie haben als hehres Ziel benannt, junge Arbeitsloseunter 25 keine drei Monate in der Arbeitslosigkeit zu be-lassen. Daran sollten Sie arbeiten; das ist das Ziel. Siesollten die Betroffenen aber nicht weiter schröpfen undbluten lassen.Von der Schaffung von Arbeitsplätzen wird hier über-haupt nicht mehr gesprochen. Es geht doch nur um dieVerwaltung von Arbeitslosen bei gleichzeitiger Kosten-dämpfung. Bestes Beispiel ist die Senkung der Bemes-sungsgrundlage für die Beitragsberechnung der Rentenvon ALG-II-Empfängern. Wenn seitens der CDU festge-stellt wird – ich zitiere –, „dass die Kosten so explodiertsind, dass gehandelt werden muss“, dann ist es endlichan der Zeit, zuzugeben, dass die Berechnungen zurHartz-Gesetzgebung verfehlt waren. Aber diese Größefehlt der Koalition.Wie gehabt, sollen diese Fehler auf dem Rücken derBetroffenen ausgeglichen werden, und das durch weitereEingriffe in Bürgerrechte.
Das heißt, es kommt wieder zu Leistungsbeschneidun-gen, Verdrängungseffekten und Repressionen. Aber waskümmert das unseren Arbeitsminister?In diesem Zusammenhang möchte ich einmal an dasGodesberger Programm erinnern, in welchem es unteranderem heißt – ich zitiere –:Die Sozialisten erstreben eine Gesellschaft, in derjeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit ent-falten und als dienendes Glied der Gemeinschaftverantwortlich am politischen, wirtschaftlichen undkulturellen Leben der Menschheit mitwirken kann.
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Jörn WunderlichNoch im Berliner Programm von 1989 heißt es:Die Sozialdemokratie führt die Tradition der demo-kratischen Volksbewegungen des neunzehntenJahrhunderts fort und will daher beides: Demokra-tie und Sozialismus,– hört! –Selbstbestimmung der Menschen in Politik und Ar-beitswelt.
Zurück zum SGB II. Aus meiner Sicht will die Koali-tion das SGB II nur aus fiskalpolitischen Erwägungenändern. Lebenslagen von Betroffenen werden überhauptnicht berücksichtigt.
Hier wird doch wieder nach dem Motto verfahren: Rech-net sich das überhaupt? Eine solche Politik ist weder kin-der- noch familienfreundlich; sie kann es nicht sein. Dashabe ich bereits Anfang Dezember in diesem Hause andiesem Pult gesagt und dazu stehe ich noch immer.
Dass es auch andere Stimmen dazu gibt, vornehmlichdie der Arbeitgeberverbände, wundert mich gar nicht.Vorrangig scheinen sie von dieser Änderung keine Vor-teile zu haben. Denkt man aber einmal weiter und ver-liert man die Gesamtzusammenhänge nicht aus den Au-gen, stellt man schnell fest, dass sich alles zu einembestimmten Bild zusammenfügt: Wenn junge Menschenohne Chance auf einen sozialversicherungspflichtigenArbeitsplatz finanziell so weit drangsaliert werden, dasssie auch bereit sind, im Niedriglohnsektor zu arbeiten,dann entlastet dies letztlich die Statistik der BA.
Und: Die Arbeitgeber stehen nicht mehr so sehr unterdem Erfolgsdruck – Sie waren dabei, als all diese Pro-gramme aufgelegt wurden –, ihrem nicht eingelöstenVersprechen aus dem Bündnis für Arbeit nachzukom-men, die Arbeitslosenzahlen zu senken. Im Gegenteil:Die Arbeitgeber werden in die Lage versetzt, die Löhnenoch weiter zu drücken.In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage – ichwarte wirklich auf eine Antwort –: Wann kommt endlichder Vorschlag der Regierung, die Senioren ab 65 oderdemnächst ab 67 wieder in die Haushalte der Kinder zuintegrieren, natürlich unter Anrechnung der Einkommender Familie auf die Rente?
Das spart Renten und Wohnkosten, schafft gegebenen-falls auch kostenlose Kinderbetreuung.
Das Modell des Mehrgenerationenhauses hat sich dannautomatisch erledigt.Der Kollege Dobrindt hat hier am 10. Februar erklärt– Zitat –, „dass junge Menschen mehr Freiheit undSelbstbestimmung brauchen“.
– Da hat er Recht –. Das ist hoffentlich nicht so zu ver-stehen, dass junge Menschen ab 18 wählen dürfen oderals Soldaten ins Ausland geschickt werden können.
Es lebe der Sozialstaat!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Krüger-
Leißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich muss daran erinnern, dass wir die Frage,wie wir Jugendliche unter 25 künftig fördern werden, inein Paket der Änderungen an Hartz IV eingebettet ha-ben. Manche vergessen das. Ich bin froh, dass der Minis-ter zu Beginn seiner Rede gesagt hat: Es ist ein sehr po-sitives Gesetz – das hat überhaupt nichts mit Kürzungenzu tun –, zum Beispiel für die Menschen in Ostdeutsch-land. Die jetzt vollzogene Angleichung des Arbeitslo-sengeldes in Ost und West ist ein Gewinn, auch für diejungen Leute.
Da frage ich mich: Wie können hier einige allein vonKürzungen reden?Die Frage der Förderung junger Menschen ist ein zen-traler Punkt der Sozialreform. Gerade durch die Zusam-menlegung des Fürsorgesystems haben wir für alle Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch für die jungenLeute, bessere Chancen erreicht, auf den Arbeitsmarktzu kommen. Wir haben die Grundsicherung eingeführt.Alles das dürfen wir nicht vergessen. Wir sind im14. Monat der Umsetzung eines sehr weit reichendenGesetzes, das vielleicht sogar ein Jahrzehnt braucht, umseine volle Wirkung zu entfalten. Wir stecken noch inden Kinderschuhen. Es hat sich gezeigt, dass es Fehlent-wicklungen gibt und dass wir gewünschte Effekte nichterreichen können. Also ist es doch nur richtig, wenn wirrechtzeitig darangehen, das zu ändern.Ich will auch noch einmal an Folgendes erinnern: Wirhaben schon im Herbst darüber diskutiert. Das ist über-haupt kein neues Thema.
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Angelika Krüger-LeißnerDieses Thema war in den Kommunen gegenwärtig.Wenn Sie in eine Arge oder in eine Optionskommunegegangen sind, haben Sie gehört, welche Veränderungensich da ergeben haben und dass die Kosten enorm gestie-gen sind.
– Ja.Aus diesem Grunde sind wir an die Analyse gegan-gen, haben diesen Änderungsvorschlag eingebracht undhandeln auch. Wir korrigieren die Fehlentwicklung,ohne dabei Härten zu schaffen.Was die bisherige Regelung für junge Erwachsene un-ter 25 Jahre angeht, so haben wir eine Situation geschaf-fen, die in hohem Maße Mitnahmeeffekte zur Folge hat– meine Vorrednerin aus der Union hat dazu gesprochen –,übrigens in Ost und West; hierbei gibt es keine Unter-schiede.Falsch ist meiner Meinung nach, von Missbrauch zureden. Das tun wir auch überhaupt nicht.
Das war ganz legal. Die Regelungen sind von den jun-gen Leuten genutzt worden. Aber das Nutzen der Mög-lichkeiten des SGB II hat hohe Kosten für die Allge-meinheit mit sich gebracht. Die Gelder dafür sollten ausmeiner Sicht für andere Dinge zur Verfügung stehen.
Für mich ist es wichtiger, dass wir Ausbildung undIntegration in den Arbeitsmarkt fördern. Das ist dieHauptaufgabe. Ich habe die Sorge, dass wir dieses Zielnicht erreichen, wenn wir die vorgesehene Änderungnicht vornehmen. Wir sind auf dem Weg, das Ziel zu er-reichen, innerhalb von drei Monaten Jugendlichen einAngebot zu machen und sie in den Arbeitsmarkt zu inte-grieren. Aber wir haben es noch nicht erreicht. Mit derUmsteuerung sind wir auf einem besseren Weg.
Was die Förderung junger Menschen betrifft, müssenwir wie in jedem anderen Politikbereich ganz selbstver-ständlich sagen: Wir müssen Prioritäten setzen. Wir kön-nen zwar alles wünschen – wir haben hier auch dieWunschpartei –, aber wir können nicht alles leisten. Ichmöchte, dass wir denjenigen helfen, die Hilfe brauchen,die bedürftig sind.
Sie sollen unsere Unterstützung bekommen. Das ge-währleistet die vorgesehene Regelung.Dass der Schritt notwendig ist, zeigt der Blick auf dieZahlen. Wir können hier nicht von Einzelfällen spre-chen. Wir haben festgestellt, dass 58 Prozent der Be-darfsgemeinschaften Einpersonenhaushalte sind. DerAnstieg der Zahl dieser Haushalte ist wesentlich gravie-render als der der Zahl der Mehrpersonenhaushalte. Daslässt die Kosten natürlich explodieren. Wenn wir danicht eingreifen, setzen wir weiterhin Geld ineffektiv einund werden dieser Entwicklung nicht Einhalt gebietenkönnen.Den Kritikern der vorgesehenen Regelung kann ichnur sagen: Gehen Sie vor Ort!
Gehen Sie in die Verwaltungen, in die Optionskommu-nen, in die Argen! Wenn Sie mit den Leuten dort reden,werden Sie von denen die Erwartung hören, dass wir ge-gensteuern. Sie wollen das. Auch die öffentliche Debatteläuft so. Die Menschen verstehen Ihr Anliegen über-haupt nicht. Wahrscheinlich sind Sie so weit weg vonder Lebenswirklichkeit, dass Sie das nicht mehr wahr-nehmen können.
Ich glaube auch, dass wir den Mitarbeitern vor Ortvertrauen können. Sie haben bisher sehr sachgerecht ent-schieden. Sie haben Erfahrungen im Umgang mit demSozialrecht. Ich glaube, dass wir mit der Regelung, diewir vorsehen, um Härtefälle auszuschließen, also mit derStichtagsregelung, in der Zukunft vernünftig umgehenkönnen. Klar ist: Es wird keine Zwangsräumung geben.Es wird keinen Zwangsumzug geben. Die jungen Leute,die einen eigenen Hausstand gegründet haben, werdenihn auch behalten können. Bei künftigen Härtefällenwird es wie in jedem anderen Sozialfall zu einer Einzel-fallentscheidung kommen. Es wird nach wie vor jungeLeute geben, die aufgrund einer solchen Entscheidungeinen eigenen Hausstand gründen, in eine eigene Woh-nung umziehen und 100 Prozent des Regelsatzes erhal-ten.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Und das gilt einheitlich in Ost und West. Das
wollte ich zum Schluss nur noch einmal sagen. Das ist
nämlich eigentlich der wichtigste Punkt in unserem Ge-
setz.
Ich denke, wenn wir zukünftig jungen Menschen
echte Chancen geben wollen – darauf sollten wir uns
konzentrieren –, dann müssen wir effektiver in Ausbil-
dungsmöglichkeiten und Maßnahmen zur Integration in
den Arbeitsmarkt investieren. Das ist zukunftsorientiert.
Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Karl Schiewerling,CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieLeistungen des SGB II sind eine Grundsicherung, nichtmehr und nicht weniger. Sie wollen Menschen fördernund fordern, nicht mehr und nicht weniger. Davon sindauch junge Menschen betroffen. Wir gehen davon aus,dass an diejenigen Kinder, die bereits vor Vollendungdes 18. Lebensjahres im Haushalt ihrer Eltern gelebt ha-ben, nicht plötzlich mit Vollendung des 18. Lebensjahreshöhere Ansprüche von ihren Eltern gestellt werden, in-dem sie an den Generalkosten des Haushaltes, beispiels-weise für Miete, Versicherung und Haushaltsgeräte, be-teiligt werden. Deswegen wollen wir ihre Ansprüche auf80 Prozent der Regelleistungen reduzieren.
Meine Damen und Herren, man darf – das ist vorhinschon angeklungen – den Regelsatz nicht isoliert be-trachten, sondern muss die Gesamtheit der Hilfen sehen,die der Staat jungen Menschen gewährt. Dazu zählenzum Beispiel Integrationshilfen wie berufsvorbereitendeBildung, Möglichkeiten zum Erwerb von Einstiegsquali-fikationen usw. Wir wollen, dass junge Menschen inAusbildung und dann in Arbeit kommen. Dass die Ein-gliederungsmaßnahmen fruchten, belegt übrigens auchdie Zahl arbeitsloser jungen Menschen. Diese ist näm-lich gesunken. Nachdem der statistische Sondereffektdurch Hartz IV ihre Zahl in den ersten Monaten des letz-ten Jahres noch um etwa 74 000 hat ansteigen lassen, er-leben wir nun durch bessere Betreuung und verstärktenEinsatz von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen einenRückgang der Jugendarbeitslosigkeit. Damit bekommenmehr junge Menschen eine Perspektive.Was ist denn im Übrigen daran so schlimm, wennjunge Menschen bis zu ihrem 25. Lebensjahr bei ihrenEltern leben, vor allem dann, wenn der unter 25-Jährigenicht für sich selbst sorgen kann? Gerade dann muss dieFamilie einspringen. Die Familie muss sich ihrer sozia-len Verantwortung für sich selbst und für die eigenen Fa-milienmitglieder bewusst sein. Dieser selbstverständli-che Grundsatz muss in der Praxis auch gelebt werden. Esgilt: Erst die Familie und dann der Staat.Allerdings haben Familien dann, wenn sie ihre Auf-gaben nicht alleine bewältigen können, ein Anrecht aufUnterstützung.
Das geschieht auch auf Basis der Regelungen im SGB II.
Wir kommen nicht weiter, wenn bei jedem Konflikt nachdem Staat gerufen wird. Konflikte zwischen Eltern undjungen Erwachsenen sind das Normalste der Welt. Ichkenne keine Familie, in der es keine Reibereien undAuseinandersetzungen gibt und in der sich die Heran-wachsenden nicht auf diesem Weg profilieren. Es gehörtnun einmal zu einem Miteinander, dass der Sohnemanndie Musik des Vaters ertragen muss und im Gegenzugdie Eltern die neueste CD von 50 Cent oder von Eminem– oder wie sie auch immer heißen – schon einmal in vol-ler Lautstärke ertragen müssen.
– Als Familienvater ist man ja nicht ganz aus der Welt. –Das ist noch lange kein Grund, eine eigene Bedarfsge-meinschaft zu beantragen. Es kann nicht sein, dass jungeMenschen bei den Leistungsträgern erscheinen und denAnspruch auf eine eigene Wohnung geltend machen, nurweil seit ein paar Tagen dicke Luft im Elternhausherrscht. Der Automatismus dieses Anspruchsdenkensmuss gestoppt werden.
Wir wissen, dass es im SGB II Ausnahmen von die-sem Grundsatz geben muss. Diese haben wir ausdrück-lich im § 22 Abs. 2 a so geregelt. Wir verschließen janicht die Aufgaben vor außergewöhnlichen Konfliktla-gen in Familien. Wenn junge Erwachsene aus Schutz-gründen aus dem Elternhaus heraus müssen, sei eswegen häuslicher Gewalt, Missbrauch oder Drogenab-hängigkeit, dann kommt der Staat auch weiterhin seinerFürsorgepflicht nach.Wir haben im Gesetzentwurf die Entscheidung überden Auszug von unter 25-Jährigen, die in einer Bedarfs-gemeinschaft mit ihren Eltern nach SGB II leben, denkommunalen Stellen und Arbeitsgemeinschaften zuge-wiesen. Dabei werden die Jugendämter einbezogen.Diese werden im Rahmen der Gesetze die Rechte derjungen Menschen schützen.Natürlich wollen wir, dass junge Menschen mobilsind. Wer in Kiel mit seinen Eltern in einer Bedarfsge-meinschaft wohnt und einen Ausbildungsplatz in Kon-stanz bekommt, der wird unterstützt; das steht dochüberhaupt nicht infrage.Ich halte es für notwendig, einen ganz wesentlichenPunkt in den Blick zu nehmen, nämlich die Frage: Hatsich eigentlich etwas verschlechtert? Wir haben imSGB XII die Regelung, dass diejenigen, die mit ihren El-tern zusammenleben und einen Anspruch auf Sozialhilfehaben, einen Satz von etwa 238 Euro bekommen. Derabgesenkte Satz im SGB II beträgt 276 Euro. Das sind,wenn ich das richtig sehe, knapp 40 Euro mehr als das,was das SGB XII an Sozialhilfe vorsieht. Ich kann dakeine Verschlechterung erkennen.
Ich bitte Sie sehr herzlich, den Blick auch darauf zurichten, wer das bezahlen muss. Hier sind eindeutige undgute Beispiele genannt worden. Wir müssen daran den-ken, dass die Erzieherin und die Krankenschwester ge-nauso wie der Arzt und alle anderen, die im Erwerbsle-ben stehen, über Steuern die Beiträge finanzierenmüssen, die wir als Transferleistungen an andere weiter-geben.
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Karl Richard SchiewerlingIch halte es für notwendig, das in den Blick zu nehmenund dafür zu sorgen, dass auch in dieser Hinsicht sozialeGerechtigkeit herrscht.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gregor Amann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen von der Linkspartei, Sie zeich-
nen ein Zerrbild der Realität. Wir Sozialdemokraten
– und ich vermute, dass ich hier auch für unseren Koali-
tionspartner sprechen kann – wollen, dass alle volljähri-
gen Menschen frei entscheiden können, ob sie bei ihren
Eltern wohnen bleiben oder in eine eigene Wohnung zie-
hen.
Aber die Voraussetzung für eine eigene Wohnung ist
doch, dass man über ein ausreichendes Einkommen ver-
fügt, um sich diese leisten zu können.
Deswegen muss unser oberstes Ziel sein, allen Men-
schen dieses Einkommen zu verschaffen, und zwar in-
dem wir Arbeitslosigkeit, speziell Jugendarbeitslosig-
keit, abbauen. Das muss für uns Priorität haben.
Diese Koalition tut auch einiges dafür. In der Aktuel-
len Stunde bleibt mir nicht die Zeit, Ihnen das Investi-
tionsprogramm, das wir in Genshagen beschlossen haben
und über das 25 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt
werden, im Einzelnen vorzustellen. Sie können im Koa-
litionsvertrag nachlesen, welche Maßnahmen wir für die
nächsten Monate zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit
vorgesehen haben. Unser Ziel ist es – der Herr Bundes-
minister hat bereits darauf hingewiesen –, dass kein jun-
ger Erwachsener länger als drei Monate ohne Arbeit
oder Ausbildung bleibt. Das ist das Ziel unserer Arbeits-
marktreformen – nicht Gängelei, wie Sie unterstellen.
Wenn uns dies gelingt, ist jedem eine freie Entscheidung
möglich, wo und wie er wohnt. Deshalb sollten wir alle
Kräfte und Ressourcen darauf konzentrieren.
Ein verantwortungsvoller Umgang mit Steuergeldern
bedeutet nicht die Garantie einer eigenen Wohnung ab
dem 18. Geburtstag. Ich glaube, hier hat Ihnen die Droge
des Populismus die Sinne vernebelt.
Sie wollen die Menschen glauben machen, dass man je-
den Euro zweimal ausgeben kann und anschließend noch
ein drittes Mal.
Mit dieser Mathematik kann man Volkswirtschaften in
den Ruin treiben; aber es lässt sich keine verantwor-
tungsvolle Arbeitsmarktpolitik machen. Unser Ziel ist
es, Menschen aus der Sackgasse von Sozialhilfe und Ar-
beitslosigkeit herauszuführen, damit jeder selbstbe-
stimmt leben kann. Das ist nicht nur richtig, sondern
auch sozial gerecht. Das ist vor allem wichtiger, als an
den Symptomen des Einkommensmangels herumzudok-
tern.
Ich glaube, es ist zumutbar, wenn junge Erwachsene
ohne eigenes Einkommen, die bis zum 18. Geburtstag
bei ihren Eltern gelebt haben, vorübergehend weiterhin
dort wohnen müssen, wenn wir alles dafür tun, dass sie
so schnell wie möglich in Brot und Arbeit kommen. Das
ist das Ziel unserer Politik.
Jetzt hat der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich finde es geradezu unglaublich, wie Linke undGrüne gemeinsam hier verkehrte Welt spielen und denSozialstaat schlichtweg auf den Kopf stellen.
Fakt ist: In Deutschland kann jeder junge Mensch, dervolljährig ist, von zu Hause ausziehen, eine eigene Woh-nung beziehen und einen eigenen Hausstand gründen.Bis zum Jahre 2005 wäre keiner der vielen Jugendlichen,die dies mit Recht gemacht haben, auf die Idee gekom-men, dass ihm der Staat die Wohnung finanzieren müsse.
Selbst in der alten DDR, der Sie von der PDS so sehrhinterhertrauern, wäre kein Jugendlicher auf die Idee ge-kommen, dass ihm der Staat die Wohnung bezahlenmüsse, wenn er von zu Hause auszieht.
– Gott sei Dank sprechen Sie es auch noch wahrheitsge-mäß aus.
Weil das mit der Finanzierung der eigenen Wohnungso eine Sache ist, bleiben viele Jugendliche auch nachihrem 18. Geburtstag zu Hause wohnen: viele TausendeAuszubildende, Studenten und junge Berufstätige, diesich noch keine eigene Wohnung leisten können. Jetztfrage ich: Warum soll ausgerechnet der arbeitslose Ju-gendliche im Gegensatz zu den vielen anderen Tausend
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Peter Weiß
Jugendlichen nach Ihrer Auffassung einen Rechtsan-spruch darauf haben, dass ihm der Staat eine Wohnungkostenlos zur Verfügung stellt? Wer die Dinge so ver-dreht, der handelt nicht solidarisch, sondern entsolidari-siert diese Gesellschaft.
Man muss einmal daran erinnern: Die Leistungennach dem Sozialgesetzbuch II werden aus Steuermittelnfinanziert. Diese Steuern müssen die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer von ihrem sauer verdienten Lohn anden Staat abzweigen. Deshalb sind wir Abgeordnete auf-gerufen, mit diesen Geldern sorgsamst umzugehen.
Ich muss auch prinzipiell daran erinnern: Sozialstaatbedeutet, dass wir mit staatlichen Mitteln dem helfen,der sich nicht selber helfen kann, aber nicht dem, der dasGeld gar nicht braucht.
Deswegen besagt die gesetzliche Regelung, die wir ha-ben und mit diesem Gesetz fortschreiben: Wenn ein jun-ger Mensch, der bislang arbeitslos ist, einen Job odereine Ausbildungsstelle findet oder wenn es, wie es imGesetz heißt, „zur Eingliederung in die Arbeitswelt“ not-wendig ist, dann zahlt ihm der Staat die Wohnung. Wennder junge Mensch – auch das steht im Gesetz – „ausschwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Woh-nung der Eltern ... verwiesen werden kann“, dann zahltder Staat ihm die Wohnung. Ich finde, das ist ein großzü-giges Angebot. Aber da, wo gar keine Notwendigkeit füreinen Auszug von zu Hause besteht, da kann es keinenHilfeanspruch an den Staat geben.
Es ist gefragt worden, warum wir das Gesetz über-haupt ändern. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ichweiß nicht, mit welcher Aufmerksamkeit Sie das, wasbei Ihnen im Wahlkreis passiert, verfolgen. Die Städteund Landkreise, die für die Finanzierung der Wohnungs-kosten von ALG-II-Empfängern zuständig sind, habensich geradezu mit einem Hilferuf an uns, den Bundesge-setzgeber, gewandt,
endlich zu handeln.
Sie mussten nämlich im vergangenen Jahr feststellen,dass junge Leute, die früher nie auf die Idee gekommenwären, von zu Hause auszuziehen, nur deswegen scha-renweise ausziehen, weil sie mit dem Verweis auf dasSGB II die Finanzierung ihrer Wohnung vom Staat ver-langen können.
Man muss in diesem Zusammenhang an Folgendeserinnern: Das Sozialgesetzbuch II wurde gemacht, damitLangzeitarbeitslose eine Grundsicherung fürs Leben undeine Chance auf Wiedereingliederung ins Arbeitslebenerhalten. Es wurde aber nicht gemacht, um eine Aus-zugswelle noch nicht verdienender Jugendlicher auszu-lösen. Deshalb ist es dringend geboten, durch eineGesetzesänderung das eigentliche sozial- und arbeits-marktpolitische Ziel des Sozialgesetzbuches II wieder-herzustellen
und dafür zur sorgen, dass das Geld nicht für andereDinge ausgegeben wird.
Meine Damen und Herren von der Linken, der PDS,
und von den Grünen, wer so argumentiert wie Sie heuteNachmittag, betreibt nichts anderes als linkspopulisti-sche Stimmungsmache.
Er redet nicht vom Sozialstaat. In Wahrheit führen IhreArgumente dazu, dass Sie sich zum Totengräber desSozialstaates machen. Dies wollen wir mit einer Geset-zesänderung verhindern.Vielen Dank.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang
Grotthaus, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich möchte der PDS bzw. den Linken bestäti-gen: Ja, mit dem geplanten Gesetz wird der bisherigeBesitzstand eingeschränkt. Besser gesagt: Es wird eineRückführung einer nicht gewollten Entwicklung stattfin-den.
Diese nicht gewollte Entwicklung ist schon von einigenKolleginnen und Kollegen dargestellt worden.Ich bin doch erstaunt darüber, dass Sie von Basisnähesprechen. Sie scheinen nicht in den Arbeitsgemeinschaf-
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Wolfgang Grotthausten vor Ort, in den Arbeitsagenturen, den Jobcenternoder wo auch immer gewesen zu sein. Informieren Siesich! Dann werden Sie von dort zu hören bekommen,dass die Zahl der Bedarfsgemeinschaften explosionsartiggestiegen ist. Wir haben das Empfinden, dass Sie beidiesem Beispiel den Sozialstaat retten wollen. Er wirdhier bestimmt nicht zu retten sein. Wir sehen vielmehrdie Notwendigkeit, dass dieser Gesetzentwurf tatsäch-lich zu einem Gesetz wird.Wie war die Situation bisher? Unabhängig davon, objunge Menschen unter 25 Jahre zu Hause oder in einemeigenen Haushalt wohnten, bekamen sie 100 Prozent derRegelleistung nach Hartz IV. Dies hatte zur Folge, dasseine beträchtliche Anzahl junger Leute aus dem Eltern-haus auszog und einen eigenen Hausstand gründete unddass vom Staat die Ersteinrichtung der Wohnung, dieMiete und die Hilfe zum Lebensunterhalt finanziert wur-den, und dies – ich sage das bewusst – unabhängig vomfinanziellen Status der Eltern. Tatsächlich ist es – daswill ich noch einmal betonen – zu einer explosionsarti-gen Vermehrung der Zahl der Bedarfsgemeinschaftengekommen. Ich habe das Empfinden, dass Sie nach demMotto handeln: Was nicht sein darf, kann nicht sein.Aber die Zahlen sprechen für sich.
– Machen Sie sich in Ihrem Wahlkreis sachverständig!
Dann könnten wir die Zahlen einmal miteinander ver-gleichen.Wie gesagt, man kann der Auffassung sein, dass derStaat diese Kosten zur Selbstverwirklichung jungerMenschen zu tragen hat. Wir sind aber nicht dieser Auf-fassung. Die persönlichen Lebenswünsche sind nichtvom Steuerzahler zu bezahlen. Der Steuerzahler hat viel-mehr nur dann einzugreifen, wenn tatsächlich Not be-steht, wenn Hilfe notwendig ist und die Gesellschaft indieser Situation auch helfen kann. Denn alle Mittel, diebisher in diesem Zusammenhang aufzubringen waren,sind Steuergelder. Das muss man auch denjenigen Men-schen gegenüber vertreten, die einen Job haben, einenBeruf ausüben, teilweise nur mit 800 Euro nach Hausekommen und sich dann wundern. An anderer Stelle aberwerden mit der Finanzierung der Miete, der Ersteinrich-tung der Wohnung und dem ALG-II-Geld Leistungen er-bracht, die fast so hoch sind wie der Verdienst einer Ver-käuferin. Ob das sozial gerecht ist, darüber sollten Sieaus meiner Sicht einmal nachdenken.
In diesem Fall ist meines Erachtens die Familie gefor-dert, wenn es möglich ist. Ich bin sehr erstaunt darüber,wie man mit dem Begriff „Solidarität“ umgeht und dieFamilie dabei ausklammert.
Die erste Form der Solidargemeinschaft ist die Familie.
Es geht insgesamt um Hilfeleistungen für Personen, dienicht aus eigener Kraft in der Lage sind, ihren Unterhaltzu erwirtschaften. Ich sage noch einmal: Da ist Solidari-tät gefragt, und zwar Solidarität von allen: vom Staatdort, wo die Familie aus unterschiedlichen Gründennicht helfen kann, und von der Familie dann, wenn Hilfetatsächlich möglich ist.Aus diesem Grund schränken wir das Recht des Erst-bezugs einer Wohnung für junge Menschen unter 25 ein.Dies bedeutet, Frau Kollegin Pothmer: Unter 25-Jährige,die bis zum Stichtag 17. Februar aus dem Elternhausausgezogen sind, werden nicht gezwungen, in das El-ternhaus zurückzukehren. Ich bin sehr erstaunt darüber,Frau Kollegin Pothmer, dass Sie heute im Ausschussdrei- bis viermal nachgefragt haben,
der Staatssekretär Ihnen das drei- bis viermal dargestellthat und Sie hier wiederum eine verkehrte Behauptungaufstellen.
Es wird keiner gezwungen, auszuziehen. Sie sollten denText noch einmal lesen. Wir erläutern ihn Ihnen auch imDetail.Zu den Ausnahmeregelungen ist schon Stellung bezo-gen worden. Festzuhalten bleibt, dass dieses Gesetznicht unsozial ist. Es sichert den Besitzstand derjenigen,die schon einen eigenen Hausstand gegründet haben,
und gewährt weiterhin denjenigen Hilfe, die hilfsbedürf-tig sind. In diesem Fall besteht aber die Notwendigkeit– das ist auch gut und richtig so –, die Zustimmung derkommunalen Träger einzuholen.Ich darf festhalten: Bei Hartz IV geht es um die Inte-gration von jungen Menschen in den Beruf und nicht umdie Alimentierung von Wünschenswertem außerhalb desBerufes.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat nun
das Wort der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Tat sind viele Argumente genannt worden. Des-wegen möchte ich mich darauf besinnen, was eigentlichder wesentliche Beitrag der Zusammenlegung von Ar-beitslosenhilfe und Sozialhilfe im SGB II für jugendli-che Arbeitslose war. Noch vor 13 Monaten galt für einen
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 18. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Februar 2006 1313
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Rolf Stöckeljugendlichen Arbeitslosen, der nach der Schule – auchohne Schulabschluss – arbeitslos war und nach demSGB III keine Ansprüche hatte, dass er weder einen An-spruch auf eine erhöhte Leistung hatte, wenn ein Auszugnicht finanzierbar war, noch einen Anspruch auf Ver-mittlung oder Qualifizierung. Die Programme, die esgab, basierten mehr oder weniger auf Freiwilligkeit.Hunderttausende Jugendliche erhalten nun durch dasSGB II Leistungs- und Vermittlungsansprüche. Die Tat-sache, dass Jugendliche unter 25 Jahren nach drei Mona-ten – wenn die Umsetzung des Gesetzes vor Ort rundläuft – einen Rechtsanspruch auf Qualifizierung, dasNachholen eines Schulabschlusses, eine Berufsausbil-dung oder eine Beschäftigung haben, kann als Fortschrittfür die Jugendlichen bezeichnet werden.Sie diskutieren hier über die Höhe von Transferleis-tungen, darüber, ob es einen individuellen, staatlich ga-rantierten Rechtsanspruch auf Armutsvermeidung gibt.Ich finde, da wird in der Tat ein unterschiedliches Ver-ständnis von Sozialstaat, aber auch von Solidarität beiaber bekommen. Andererseits wollen Sie den Sozialstaatlange leben lassen. Das ist ein Widerspruch in sich, liebeKolleginnen und Kollegen,
und hat mit linker Politik wirklich nichts zu tun. Das hatweder etwas mit der Kenntnisnahme der Realität zu tunnoch mit der Emanzipation und der Förderung der freienEntfaltung von Jugendlichen.
Dies geschieht nämlich durch eine ordentliche Förde-rung im Elementarbereich, durch eine umfassende Bil-dung an weiterführenden Schulen, durch Berufsausbil-dung oder durch ein Studium. Dies ist wesentlich, nichtdie Frage, ob jemand 80 oder 100 Prozent des Regelsat-zes bekommt. Das hat mit freier Entfaltung nichts zutun – und auch nicht mit einem linken Anspruch.den linken Parteien deutlich. Wir könnten natürlich denAnspruch aufgeben, an erster Stelle zu prüfen – das istseit 1962 bei der Sozialhilfe so und das war auch bei derergänzenden Sozialhilfe zur Arbeitslosenhilfe so –, objemand aus eigener Kraft dazu beitragen kann, sich zu-mindest zum Teil selbst zu helfen, und an zweiter Stellezu prüfen, ob Unterhaltsverpflichtungen von Eltern ge-genüber ihren Kindern bzw. von Kindern gegenüber ih-ren Eltern bestehen. Wir können natürlich auch darüberdiskutieren, ob wir eine Unterstützung ab dem18. Lebensjahr ganz abschaffen. Dann müssen Sie abereinmal erklären, wie Sie etwa Rechtsansprüche wie daseinkommensunabhängige BAföG oder Berufsbildungs-beihilfen finanzieren wollen. Sie sprechen in diesemZusammenhang die Wiedereinführung der Vermögen-steuer an und sagen, das könnten die Unternehmen be-zahlen.
Je höher die Lohnnebenkosten und die Steuern werden,desto mehr Bedarfsfälle und Bedürftige werden Sie dann
Das ist Populismus, wenn auch vor dem Hintergrund derLandtagswahl in Sachsen-Anhalt – das ist schon gesagtworden – ein verständlicher. Sagen Sie dann aber, dassSie eine Transferleistungsgewerkschaft sind, und verges-sen Sie Ihren gesellschaftspolitischen Anspruch aufEmanzipation, Aufklärung und soziale Gerechtigkeit.
Wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde und
auch am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 16. Februar 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.