Protokoll:
15138

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 138

  • date_rangeDatum: 11. November 2004

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:17 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 15/138 (einschließlich Nachtrag) nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/12575 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 15 a und b Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Zur Geschäftsordnung Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) . . . . . . . . . . Dr. Uwe Küster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen des Europäischen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (fraktionslos) . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Schily (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Jörg Vogelsänger (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . 12576 C 12576 C 12577 A 12577 C 12598 D 12599 B 12600 B 12601 C 12602 C 12604 C 12605 A 12607 A 12608 B Deutscher B Stenografisc 138. Si Berlin, Donnerstag, de I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Eduard Lintner und Siegfried Scheffler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung des neuen Abgeordneten Dr. Karl Addicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Dorothee Mantel, Doris Meyer (Tapfheim), Marlene Mortler und Thomas Silberhorn als Schriftführer . . . Benennung der Abgeordneten Jutta Krüger- Jacob als ordentliches Mitglied für den Pro- grammbeirat für die Sonderpostwertzeichen . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- 12575 A 12575 B 12575 B 12575 B Rates in Brüssel am 4./5. November 2004 Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) . . . . . . . 12578 A 12584 A undestag her Bericht tzung n 11. November 2004 l t : Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Wissmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) . . . . . . . 12588 A 12590 C 12592 A 12593 C 12594 D 12596 B 12597 D 12598 C Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . . 12609 B 12610 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder (Drucksache 15/3948) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Psy- chosoziale Beratungsangebote bei Schwangerschaftsabbrüchen nach me- dizinischer Indikation ausbauen (Drucksache 15/4148) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Rachel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Erika Ober (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung der Bundes- Tierärzteordnung (Drucksache 15/4023) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG) (Drucksache 15/4067) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sicherheit an unbeschrank- ten Bahnübergängen sofort verbessern (Drucksache 15/4150) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der 12610 A 12610 B 12610 B 12612 B 12614 C 12616 A 12618 A 12619 C 12621 C 12623 B 12624 C 12625 C 12625 C 12625 C Fraktion der FDP: Bürokratieabbau und mehr Bürgernähe durch Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen (Drucksache 15/3106) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (Drucksache 15/4134) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Einführung einer Strategi- schen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG (SUPG) (Drucksache 15/4119) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatz- protokoll vom 4. Juni 2004 zum Ab- kommen vom 16. Juni 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen sowie ver- schiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuer- lichem Gebiete (Drucksachen 15/4026, 15/4166) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgesetzes und arzneimittel- rechtlicher Vorschriften (Drucksachen 15/3593, 15/4174) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur 12625 D 12625 D 12625 D 12626 A 12626 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 III Änderung wohnungsrechtlicher Vor- schriften (Drucksachen 15/3943, 15/4152) . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grä- bergesetzes (Drucksachen 15/3753, 15/4170) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Entschädigungsgesetzes (Ent- schädigungsrechtsänderungsgesetz – EntschRErgG) (Drucksachen 15/3944, 15/4169) . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bedeutung des Sparkassensek- tors für die Mittelstandsfinanzierung vor dem Hintergrund von Forderungen nach Privatisierung der Sparkassen Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . . . Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Stegner, Minister (Schleswig- Holstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schauerte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12626 D 12627 A 12627 B 12627 C 12628 C 12629 C 12630 C 12632 A 12633 A 12634 C 12635 B 12638 A 12639 C 12640 C 12642 A 12643 B 12644 C Tagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brandner, Doris Barnett, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Fritz Kuhn, Volker Beck (Köln), Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine qualifizierte Mitbe- stimmung bei grenzüberschreitenden Fusionen (Drucksachen 15/3466, 15/4087) . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Konzernmitbestim- mung neu ordnen – Aufsichtsräte und Eigentümerrechte stärken (Drucksache 15/4038) . . . . . . . . . . . . . . . Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hans-Jürgen Uhl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Josef Laumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Anita Schäfer (Saalstadt), Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konversionsre- gionen stärken – Sechs-Punkte-Plan zur Strukturpolitik (Drucksache 15/4029) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Helga Daub, Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung und 12645 C 12645 D 12645 D 12647 B 12649 A 12650 C 12651 B 12652 C 12653 D 12655 A 12656 D 12659 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 Schließung betroffenen Bundeswehr- standorte ist unverzichtbar (Drucksache 15/1022) . . . . . . . . . . . . . . . . Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hofbauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rolf Kramer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (fraktionslos) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . Christian Müller (Zittau) (SPD) . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2004 (Drucksache 15/3796) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . . Siegfried Scheffler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU) . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) . . . . . . . . . . Siegfried Scheffler (SPD) . . . . . . . . . . . . . 12659 A 12659 B 12660 C 12662 B 12663 D 12665 A 12666 A 12667 C 12668 B 12669 C 12670 A 12670 B 12671 A 12672 B 12672 C 12675 A 12675 B 12677 C 12678 C 12680 B 12681 C 12682 B 12684 A 12684 D 12685 A Werner Kuhn (Zingst) (CDU/ CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes … Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni- gungsgesetzes (Drucksachen 15/777, 15/3843) . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der CDU/CSU eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleu- nigungsgesetzes (Drucksachen 15/461, 15/3843) . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Daniel Bahr (Münster), weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gese t ze s zur Änderung de s Verkehrswegeplanungsbeschleuni- gungsgesetzes (Drucksachen 15/221, 15/3843) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Verkehrswe- geplanungsbeschleunigungsgesetz (Drucksachen 15/2311, 15/2630 Nr. 1.4, 15/3843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswege- planungsbeschleunigungsgesetzes (Drucksache 15/4133) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . 12686 A 12688 C 12688 C 12688 C 12688 D 12688 D 12689 A 12690 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 V Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) . . . . . . . . . Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Blank (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig, Lilo Friedrich (Mettmann), Angelika Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Humanitäre Verantwor- tung für Menschen in Not (Drucksache 15/4149) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1994 bis 1997 (Drucksache 14/3891) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis 2001 (Drucksache 15/2019) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Holger Haibach, Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten (Drucksache 15/4130) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Bildungsarmut in Deutsch- 12691 D 12693 B 12694 B 12695 B 12697 B 12698 A 12700 A 12700 A 12700 A 12700 B land feststellen und bekämpfen (Drucksache 15/3356) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesine Multhaupt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stabilisie- rung und Weiterentwicklung des genossen- schaftlichen Wohnens (Drucksache 15/4043) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsge- setzes und weiterer Gesetze (Drucksachen 15/3784, 15/3984, 15/4173) . . Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Ute Granold, Roland Gewalt, Wolfgang Bosbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Scheinvaterschaften wirksam be- kämpfen (Drucksache 15/4028) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Umsetzung des 12700 C 12700 D 12703 A 12703 B 12703 C 12704 C 12707 A 12708 B 12709 B VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 nationalen Radverkehrsplans 2002 – 2012 forcieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Radverkehr för- dern – Fortschrittsbericht vorlegen (Drucksachen 15/3467, 15/3708, 15/4103) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern (Drucksachen 15/2155, 15/4093) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl (Heil- bronn), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Pilotprojekt für die vir- tuelle Rekonstruktion von vorvernichteten Stasi-Unterlagen beginnen (Drucksache 15/3718) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Arbeit – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜ- NEN: Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisa- tion über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visums- erfordernis – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur ver- einfachten Freistellung vom Visumser- fordernis – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bay- reuth), Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der 12709 C 12709 D 12710 B Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur ver- einfachten Freistellung vom Visumser- fordernis (Drucksachen 15/3053, 15/3043, 15/3057, 15/4089) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Marketing für die Hauptstadt Berlin (Drucksache 15/3491) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edeltraut Töpfer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Markus Löning (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung der Akademie der Künste (AdKG) (Drucksachen 15/3350, 15/4127) . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . . Günter Nooke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 18. November 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ih- ren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Chile andererseits (Drucksachen 15/3881 (neu), 15/4171) . . b) Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Für ei- nen europäisch-kolumbianischen Dia- log und einen erfolgreichen Friedens- prozess in Kolumbien einsetzen (Drucksache 15/3959) . . . . . . . . . . . . . . . 12710 C 12711 B 12711 B 12712 A 12713 A 12713 D 12714 B 12715 B 12715 C 12716 B 12716 C 12717 A 12717 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 VII Zusatztagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen Familien- recht (Drucksachen 15/3981, 15/4168) . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 8: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts (Drucksachen 15/3979, 15/4167) . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Nachtrag 12717 C 12717 D 12718 C 12719 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12575 (A) (C) (B) (D) 138. Si Berlin, Donnerstag, de Beginn: 1
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    1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12719 (A) (C) (B) (D) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Blumenthal, Antje CDU/CSU 11.11.2004 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Friedrich (Mettmann), Lilo SPD 11.11.2004 Grasedieck, Dieter SPD 11.11.2004 Griese, Kerstin SPD 11.11.2004 Gröhe, Hermann CDU/CSU 11.11.2004 Heil, Hubertus SPD 11.11.2004 Hennrich, Michael CDU/CSU 11.11.2004 Hörster, Joachim CDU/CSU 11.11.2004 Kossendey, Thomas CDU/CSU 11.11.2004 Lietz, Ursula CDU/CSU 11.11.2004 Lintner, Eduard CDU/CSU 11.11.2004* Rübenkönig, Gerhard SPD 11.11.2004 Rupprecht (Tuchenbach), Marlene SPD 11.11.2004 Seib, Marion CDU/CSU 11.11.2004 Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid SPD 11.11.2004 Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 11.11.2004 Dr. Wend, Rainer SPD 11.11.2004 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 11.11.2004 Nachtrag zum Plenarprotokoll 15/138 Karin Kortmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Melanie Oßwald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU) . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Funke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller, Staatsministerin AA . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bildungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen (Tagesordnungs- punkt 9) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard Otto (Godern) (FDP) . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze (Zusatztagesordnungspunkt 6) Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Scheinvaterschaften wirksam bekämpfen (Tagesordnungspunkt 11) 12722 A 12723 A 12724 B 12725 A 12725 D 12726 D 12727 B 12737 C 12738 A 12738 C Deutscher B Nachtrag Stenografisch 138. Sitz Berlin, Donnerstag, den I n h a l Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Humanitäre Verantwortung für Menschen in Not – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1994 bis 1997 – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis 2001 – Antrag: Humanitäre Soforthilfe zielge- richtet gestalten (Tagesordnungspunkt 8 a bis c, Zusatztages- ordnungspunkt 5) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . B W G U A Z d w ( W K G12721 A Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 12728 C undestag zum en Bericht ung 11. November 2004 t : ernward Müller (Gera) (CDU/CSU) . . . . . . erner Lensing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . rietje Bettin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . lrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nlage 4 u Protokoll gegebene Reden zur Beratung es Antrags: Stabilisierung und Weiterent- icklung des genossenschaftlichen Wohnens Tagesordnungspunkt 10) olfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . laus Minkel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . erhard Wächter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 12730 A 12731 A 12732 B 12733 A 12733 D 12735 D 12736 C Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 12739 D II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Roland Gewalt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlungen und Berichte zu den Anträgen: – Umsetzung des nationalen Radverkehrs- plans 2002–2012 forcieren – Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht vorlegen – Den Fahrradtourismus in Deutschland um- fassend fördern (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heidi Wright (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Pilotprojekt für die virtuelle Re- konstruktion von vorvernichteten Stasi-Unter- lagen beginnen (Tagesordnungspunkt 13) Barbara Wittig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der In- ternationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur vereinfach- ten Freistellung vom Visumserfordernis (Tagesordnungspunkt 14) D W D H A Z d B B F A Z d d n E H E D D A Z – – ( L E K H H 12740 C 12742 A 12742 D 12743 D 12744 D 12745 D 12747 A 12748 B 12750 A 12751 A 12752 A 12752 D 12753 C 12754 D 12755 C 12756 B r. Margrit Wetzel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . olfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . nlage 10 u Protokoll gegebene Reden zur Beratung es Antrags: Marketing für die Hauptstadt erlin (Tagesordnungspunkt 16) runhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . ranziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nlage 11 u Protokoll gegebene Reden zur Beratung es Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung er Akademie der Künste (AdKG) (Tagesord- ungspunkt 17) ckhardt Barthel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . einrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU) . . . . rika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . r. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . nlage 12 u Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkom- men vom 18. November 2002 zur Grün- dung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Repu- blik Chile andererseits Antrag: Für einen europäisch-kolumbiani- schen Dialog und einen erfolgreichen Friedensprozess in Kolumbien einsetzen Tagesordnungspunkt 18 a und b) othar Mark (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . rich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . laus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU) . . . . . . . . ans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . arald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 12757 A 12758 C 12760 C 12761 B 12761 D 12763 A 12763 D 12764 D 12765 C 12766 C 12767 B 12768 A 12770 B 12771 C 12772 D 12774 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 III Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum internatio- nalen Familienrecht (Zusatztagesordnungs- punkt 7) Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamens- rechts (Zusatztagesordnungspunkt 8) Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 12774 D 12776 A 12776 D 12777 C 12778 B 12779 A 12779 D 12780 D 12781 B 12781 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12721 (A) ) (B) ) flossen sind. Wenigen ist bewusst, dass humanitäre Hilfe leisten, und an die Spender. Die Medien möchte ich Zeitraum 1,4 Milliarden Euro in die humanitäre Hilfe ge- b ei Hilfsorganisationen arbeiten und humanitäre Hilfe Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Humanitäre Verantwortung für Menschen in Not – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1994 bis 1997 – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis 2001 – Antrag: Humanitäre Soforthilfe zielgerich- tet gestalten (Tagesordnungspunkt 8 a bis c, Zusatztagesord- nungspunkt 5) Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die Liste der Projekte, die von Deutschland finanziert werden und un- ter die Rubrik „humanitäre Hilfe“ fallen, ist lang: Das geht vom humanitären Minenräumen in Afghanistan, wo die meisten Minen der Welt liegen über die Unterstüt- zung für Hochwasseropfer in Somalia bis zur Nothilfe für Erdbebenopfer in der Türkei. Die Länder, in die hu- manitäre Hilfe aus Deutschland fließt, befinden sich auf fast allen Kontinenten. Humanitäre Hilfe wird ohne Ansehen von Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeu- gung oder sonstigen Unterscheidungsmerkmalen geleistet. Sie darf weder von politischen oder reli- giösen Einstellungen abhängig gemacht werden, noch darf sie diese fördern. Einziges Kriterium ist die Not der Menschen. So heißt es – nahezu wortgleich wie beim IKRK – in den zwölf Grundregeln der humanitären Hilfe, auf die sich Hilfsorganisationen und Bundesregierung im Jahr 2000 verständigt haben. Humanitäre Hilfe folgt also dem humanitären Impera- tiv. Sie ist – und hier antworte ich auf einen Punkt des Antrags der Union – kein Instrument der Außenpolitik und dient nicht politischen, wirtschaftlichen oder sonsti- gen Zwecken, kann also keine „Strategie“ verfolgen. Ich zitiere unseren Antrag: „Reiche Nationen haben die ethi- sche Pflicht Menschen in Not zu helfen.“ Die Hilfe ge- schieht allerdings durchaus im eigenen Interesse, denn menschenunwürdige Lebensbedingungen tragen zur De- stabilisierung ganzer Regionen bei und bergen ein hohes sicherheitspolitisches Risiko, auch für uns. Grundlage der heutigen Debatte sind zwei Berichte der Bundesregierung über die zwischen 1994 bis 1997 und zwischen 1998 und 2001 geleistete humanitäre Hilfe und jeweils ein Antrag der CDU/CSU und der Regierungsko- alition zum gleichen Themenbereich. Aus dem Bericht über die Jahre 1998 bis 2001 geht hervor, dass in diesem e g B R d g l g s M z A c m g i s c m n r w i t a u a h w z m F H D g w K b v m V l J a B M W h n S v (C (D Anlagen zum Stenografischen Bericht ine Querschnittsaufgabe ist. Die Mittel kommen vorwie- end aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes und des MZ, aber auch – Stichwort „Wiederaufbauhilfe für ückkehrer“ bzw. Projekte des THW – aus dem BMI und em BMVg. Alle Bundesregierungen folgten seit jeher der Strate- ie, schnelle, lebensrettende Hilfe im Rahmen der Mög- ichkeiten dort zu leisten, wo die Hilfe am nötigsten ebraucht wird. Dass wir uns im Ausschuss für Men- chenrechte und humanitäre Hilfe oft wünschen, mehr ittel zur Verfügung zu haben und nicht den Haushalts- wängen unterworfen zu sein, ist wohl kein Geheimnis. ndererseits haben wir noch immer Mittel lockerma- hen können, wenn wir bei Katastrophen Hilfe leisten ussten. Katastrophen haben es oft so an sich, unvorher- esehen einzutreten. Die Kolleginnen und Kollegen von der Union, die in hrem Antrag den geringen Mittelansatz bemängeln, eien deshalb daran erinnert, dass im Jahre 2002 erhebli- he Sondermittel für humanitäre Zwecke in Afghanistan obilisiert wurden und im Jahre 2003 bis zu 40 Millio- en Euro zusätzlich für die humanitäre Hilfe im Irak be- eitgestellt wurden. Im laufenden Haushaltsjahr haben ir für die Bewältigung der humanitären Krise in Darfur nsgesamt 32,5 Millionen Euro bereitgestellt. Diese Mit- el wurden zum Teil aus dem laufenden Budget, aber uch durch Einsparungen und Umschichtungen im AA nd im BMZ aufgebracht. Zehn Millionen Euro wurden ls überplanmäßige Ausgaben zulasten des Gesamthaus- alts zur Verfügung gestellt. Deutschland gehört – so- ohl was das IKRK als auch was den UNHCR betrifft – u den zehn größten Gebern. Aus unserem Antrag kann an entnehmen, dass über ECHO, den europäischen ond für humanitäre Hilfe, 30 Prozent der humanitären ilfe weltweit finanziert werden. Die Bundesrepublik eutschland steuert derzeit 23 Prozent zu diesen Bud- ets bei. Unter den Mitgliedsländern der OECD standen ir 2001 bei der Finanzierung des Entwicklungshilfe- omitees DAC nach den USA, der EU und Groß- ritannien mit 7 Prozent des Etats des DAC auf dem ierten Platz. Fazit: Es könnte sicher mehr sein, aber wir üssen uns wirklich nicht verstecken im internationalen ergleich, auch vor dem Hintergrund unserer Haushalts- age. Aber auch die Bundesländer haben sich in den letzten ahren an humanitären Hilfsprojekten beteiligt. So geht us dem besagten Bericht hervor, dass zum Beispiel ayern zwischen 1998 und 2001 allein für Projekte in azedonien über fünf Millionen Euro und Nordrhein- estfalen für Rumänien über 8 Millionen Euro gegeben at. Aus Hessen kamen fast 3 Millionen Euro für Bos- ien und Herzegowina. Da waren sicher auch viele pendengelder dabei. Deshalb möchte ich zum Schluss Danke sagen an die ielen Menschen, die unter schwierigen Bedingungen 12722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) auffordern, nicht nur von Katastrophe zu Katastrophe weiter zu wandern, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit der Maßnahmen die Menschen in den betroffenen Län- dern im Fokus der Aufmerksamkeit zu behalten. Wir ha- ben – und das erwähne ich unter dem Eindruck eines Ge- spräches mit unserem ehemaligen Kollegen Dr. Christan Schwarz-Schilling, der diese Entwicklung im Hinblick auf den Balkan beklagte – zu viele vergessene Katastro- phen. Karin Kortmann (SPD): Wir können uns im Bun- destag einer Einigkeit aller Fraktionen sicher sein, die die Grundvoraussetzung des Einsatzes humanitärer Hilfe beschreibt und die die Bundesregierung in ihrem aktuel- len Bericht über die humanitäre Hilfe im Ausland dar- legt: Die Bundesregierung leistet ihre Hilfe gemäß dem humanitären Imperativ und unabhängig von politi- schen, ethnischen oder religiösen Erwägungen. Die humanitäre Hilfe der Bundesregierung ist Handeln aus ethischer Verantwortung und mit humanitärer Zielsetzung, sie orientiert sich ausschließlich an der Bedürftigkeit der von Krisen, Konflikten und Kata- strophen betroffenen Menschen. Es gibt für die hu- manitäre Hilfe keine guten oder schlechten Opfer, sondern nur Menschen, deren Gesundheit oder Le- ben in einer Notlage gefährdet ist. Wir haben es heute mit einer Vielzahl von Katastro- phen zu tun, auf die humanitäre Hilfe schnell, effektiv und umfassend reagieren soll. Die Katastrophen lassen sich in vier Kategorien gliedern: Erstens. Wir haben es mit den kurzfristigen, natür- lichen Katastrophen zu tun: mit Erdbeben, Vulkanaus- brüchen, Stürmen und Überschwemmungen. Zweitens. Wir haben es mit langfristigen, natürlichen Katastrophen zu tun: mit Epidemien, Dürren, Insekten- plagen. Drittens. Wir haben es mit kurzfristigen, menschlich verursachten Katastrophen zu tun: mit chemischen und nuklearen Unfällen, mit technischen Katastrophen. Viertens. Wir haben es mit langfristigen, menschlich verursachten Katastrophen zu tun: mit Hungersnöten, Bürgerkriegen, zwischenstaatlichen Kriegen. All diese Katastrophen können erhebliche Auswir- kungen haben: auf die Politik – innerstaatlich und inter- national –, auf die Gesellschaft, auf die Ökonomie – die Wirtschafts- und Finanzentwicklung–, auf das Leben des einzelnen Menschen. Die Fähigkeit, die Katastrophe zu meistern, hängt dabei entscheidend von der politischen und gesellschaftlichen Konstitution des Krisengebietes ab. Stabile Gesellschaften sind eher in der Lage, Kata- strophen zu bewältigen als instabile Gesellschaften. Es ist das Leid der Menschen, die Bilder aus Somalia, aus Bosnien, Ruanda, dem Kongo, aus Sierra Leone, Afgha- nistan oder dem Sudan, die uns die Aufgaben und die Bedeutung der humanitären Hilfe – leider schon zu häu- fig – immer wieder bewusst machen. Sie machen uns aber auch bewusst, wo die Grenzen humanitärer Hilfe l l d t c a n l d a i l v s K v g d s S s p B t v t z n D K r t z l i p e e w k r h t d e v d c m A l m A f d o (C (D iegen. Sie kann die akute Not lindern, nicht aber die po- itische Konfliktlösung ersetzen, strukturelle Ursachen er Probleme beseitigen. Sie ersetzt auch keine langfris- ige Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es ist die vordringli- he Aufgabe der Staaten, das humanitäre Völkerrecht nzuerkennen und umzusetzen, ihnen obliegt es, Mecha- ismen zur friedlichen Konfliktaustragung bereitzustel- en. Darin liegt auch genau der Unterschied zum Ansatz er Union: Wir setzen schon vor der humanitären Hilfe n, indem wir geeignete Strategien suchen, die Konflikte m Vorfeld zu verhindern. Ich begrüße deshalb ausdrück- ich, dass die Bundesregierung einen Aktionsplan „Zi- ile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskon- olidierung“ verabschiedet hat. Er belegt die notwendige ohärenz der verschiedenen Politikbereiche, sodass zi- ile Krisenprävention in größerem Maße als bisher Ein- ang in die Wirtschaftspolitik, in die Finanzpolitik und ie Umweltpolitik finden muss. Ihre strategischen An- atzpunkte sind die Herstellung verlässlicher staatlicher trukturen – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Men- chenrechte, Sicherheit –, die Schaffung von Friedens- otenzialen – Zivilgesellschaft, Medien, Kultur, ildung – und die Sicherung der Lebenschancen der be- roffenen Menschen. Anfang 2001 wurde im Rat der Europäischen Union erstärkt auf ein anderes Problem der Hilfemöglichkei- en hingewiesen. Es wurde von der so genannten Grau- one zwischen humanitärer Hilfe, Rehabilitationsmaß- ahmen und Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. ie humanitäre Hilfe soll den unmittelbaren Bedarf von risenopfern decken und wird vor allem über Nicht- egierungsorganisationen und internationale Organisa- ionen bereitgestellt. Die Entwicklungszusammenarbeit ielt dagegen auf die Förderung eigenständiger Entwick- ungspolitiken und Entwicklungsstrategien und erfolgt m Rahmen von Regierungsabsprachen, Kooperations- rogrammen, die mit dem betreffenden Partnerland ver- inbart wurden. Wir fordern die Bundesregierung auf, ntwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe als ichtiges Instrument zur Stärkung der Selbsthilfekräfte onsequent weiter zu entwickeln. Humanitäre Hilfe ist politisch neutral. Der Erfolg ih- es Einsatzes, ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ängt entscheidend davon ab, dass sie sich nicht poli- isch vereinnahmen lassen. Deshalb ist es für uns Sozial- emokratinnen und Sozialdemokraten grundlegend, dass s eine Trennung von militärischen und humanitären zi- ilen Einsätzen gibt. Wäre das nicht der Fall, würde sich ie humanitäre Hilfe Interessen und Ziele zu eigen ma- hen, die über die Opferversorgung hinausgehen und da- it gegen die Grundlagen humanitärer Hilfe verstoßen. uf diese Trennung sind wir in unserem Antrag ausführ- ich eingegangen. Wir erwarten, dass im Dialog mit hu- anitären Hilfsorganisationen, klare Kriterien für die bgrenzung zu den CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr estgelegt werden und ein gemeinsamer Code of Con- uct erarbeitet wird. Ich möchte zum Abschluss all denjenigen danken, die ft unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheits- und Lebens- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12723 (A) ) (B) ) risiken bereit sind, anderen Menschen weltweit zu hel- fen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat beschrieben, dass humanitäre Hilfe nur unter drei Grundvoraussetzungen stattfinden kann: unter ungehin- dertem Zugang zu den Konfliktopfern, durch den unge- störten Dialog mit den Behörden und durch die Unab- hängigkeit, die völlige Kontrolle in allen Stadien des Einsatzes über die benötigten Mittel. Vielleicht wäre es einmal lohnenswert, nicht immer nur über eine Erhö- hung der Haushaltsmittel zu streiten, sondern mit einer anderen sinnvollen Unterstützung zu beginnen, die sich diese Organisationen seit langem wünschen: Heben wir für die humanitären Hilfeorganisationen die Zweckge- bundenheit der Mittel, das so genannte earmarking auf! Die gegenüber anderen Organisationen praktizierte Un- terscheidung nach institutioneller Förderung und Pro- jektförderung ist in diesem Bereich nicht sinnvoll. Schwerpunktmäßige Projektförderung reduziert die Pla- nungssicherheit und Flexibilität und erhöht den bürokra- tischen Aufwand. Bei der effektiven Leistung unserer deutschen Hilfsorganisationen wollen wir sie auch weiterhin gerne unterstützen, um die zwölf Grundregeln für die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland nachhaltig zu verankern. Ich bitten deshalb, unseren Antrag „Humanitäre Verant- wortung für Menschen in Not“ zu unterstützen. Holger Haibach (CDU/CSU): Die Hilfsorganisation „World Vision“ überschreibt ihr Engagement im Bereich „humanitäre Hilfe“ mit den Worten: „Wo kompetente Hilfe nicht warten kann!“ Prägnanter kann man, so meine ich, Sinn und Zweck humanitärer Hilfe nicht zu- sammenfassen, vor allem nicht, wie sie geleistet werden soll: schnell, kompetent, sachgerecht, treffsicher und zielgerichtet. Tatsächlich leidet aber humanitäre Hilfe immer unter Unzulänglichkeiten: Erstens. Es können meist nicht genügend finanzielle oder andere Mittel für alle Krisenherde dieser Welt zur Verfügung gestellt werden. Zweitens. Diese Mittel können häufig nicht so zeitnah wie gewünscht vor Ort eingesetzt werden. Drittens. Aus verschiedensten Gründen kommen die Mittel nicht immer dort an, wo sie ankommen sollen. Viertens. Die Verteilung der vorhandenen Mittel auf die verschiedenen Krisenfälle ist sehr stark von der öf- fentlichen Aufmerksamkeit abhängig, die diesen Krisen gewidmet wird. Trotz all dieser Unzulänglichkeiten und trotz der Tat- sache, dass humanitäre Hilfe von ihrem Charakter her stets situativ und damit oftmals schwer planbar ist, kann die Aufgabe „humanitäre Hilfe“ selbstverständlich gut oder weniger gut gelöst werden. Deshalb bieten die bei- den heute vorliegenden Berichte eine gute Gelegenheit, ein Resümee zu ziehen, wie sich die humanitäre Hilfe Deutschlands in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Positiv ist hervorzuheben, dass es eine über Par- teigrenzen und Regierungsverantwortungen hinausgrei- f g w g A m s l h B Z n z F f l d k 5 v g a s K e s B d 2 n v M C m n k u g S a d k n z t D g V (C (D ende Kontinuität in der grundsätzlichen Bewertung ibt, wie humanitäre Hilfe durchgeführt werden soll, elche ethischen und rechtlichen Grundsätze ihr zu- runde liegen, dass sie nur in enger Kooperation und bstimmung mit NGOs geschehen kann und vieles ehr. Ebenfalls herrscht Übereinstimmung bei der Fest- tellung, dass die Zahl der Fälle humanitärer Hilfe in den etzten Jahren und Jahrzehnten dramatisch zugenommen at. Auch die Bundesregierung bestätigt das in ihrem ericht. Wendet man sich jedoch den so genannten nackten ahlen zu, so kommt man zu einem Befund, der so gar icht zu dieser Feststellung passt. Während im Berichts- eitraum von 1994 bis 1997, für den sich CDU/CSU und DP verantwortlich zeichnen, die Höhe der Ausgaben ür den Bereich „humanitäre Hilfe im Ausland“ 1,5 Mil- iarden DM betrug, ist dieser Betrag unter Rot-Grün für ie Jahre 1998 bis 2001 auf 1,4 Milliarden DM gesun- en. Das sind immerhin 100 Millionen DM oder circa 1 Millionen Euro. Das ist interessant, beachtlich und erwunderlich für eine Bundesregierung, die doch mit roßen Worten Menschenrechtspolitik zur Querschnitts- ufgabe erklärt hat und die – wohlgemerkt auch mit un- erer vollen Zustimmung – bei Krisenprävention und risenbewältigung dafür sorgen will, dass Deutschland ine führende Rolle, wenn nicht gar eine Vorreiterrolle pielen soll. Nun will ich gar nicht den Eindruck erwecken, die undesregierung hätte in den letzten Jahren nicht auf iese Entwicklungen reagiert. So hat sie etwa im Jahr 002 für den Bereich der humanitären Hilfe 65,7 Millio- en Euro ausgegeben, obwohl nur 37,7 Millionen Euro orgesehen waren. Trotzdem hat sich die rot-grüne ehrheit im Haushaltsausschuss im Jahr 2003 der von DU und CSU geforderten Erhöhung der Mittel für hu- anitäre Hilfe verweigert. Wenn die Regierungsfraktio- en doch schon von vornherein wissen oder absehen önnen, dass die Mittel nicht ausreichen werden – 2002 nd 2003 waren nicht die einzigen Jahre, in denen dies eschehen ist – warum stellen sie dann nicht auch im inne von Haushaltswahrheit und -klarheit annähernd usreichende Mittel zur Verfügung? Ich freue mich, dass ie Regierungsfraktionen dies, wenn auch etwas ver- lausuliert, zum Thema ihres Antrags gemacht haben. Sollten die Regierungsfraktionen übrigens mit der fi- anziellen Situation argumentieren, in der wir uns der- eit befinden, so möchte ich Sie mit einer meines Erach- ens sehr zutreffenden Aussage konfrontieren: Wir können unserer internationalen Verantwortung nur dann gerecht werden, wenn der Bereich der hu- manitären Hilfe von den allgemeinen Sparzwängen ausgenommen wird. Nur dann werden wir auch in Zukunft rechtzeitig und mit adäquatem Mittelein- satz überall da, wo Menschenleben in Gefahr sind und es zu humanitären Hilfseinsätzen keine Alter- native gibt, das Erforderliche tun können. iese Worte stammen aus einem Aufsatz des ehemali- en Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger olmer, in der Frankfurter Rundschau. Ich würde mir 12724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) wünschen, dass die Politik der Bundesregierung diesem Anspruch gerecht würde. Selbstverständlich kann man jetzt argumentieren, es komme nicht nur auf die absolute Summe, sondern auch oder eher vielmehr auf den durchdachten, konstruktiven und konzeptionellen Einsatz der Mittel an. Nicht selbst- verständlich und schon gar nicht verständlich ist die fol- gende Tatsache: In einer Zeit, in der wir uns doch alle darüber einig sind, dass humanitäre Hilfe erfolgreich nur im internationalen Kontext und in der internationalen Zusammenarbeit geleistet werden kann, hat diese Bun- desregierung zwischen 1998 und 2001 ihre Zuschüsse zu internationalen Organisationen reduziert. Dazu zwei Beispiele: Erstens. Der anteilige Beitrag Deutschlands zum Welternährungsprogramm ist von 6,5 Prozent unter CDU/CSU und FDP auf 3,2 Prozent unter Rot-Grün zu- rückgegangen. Zweitens. Die Förderung des Internatio- nalen Roten Kreuzes wurde unter Rot-Grün sowohl in Hinblick auf die institutionellen Förderung als auch in Hinblick auf die Reaktion auf Hilfeersuchen reduziert. Dabei erscheint eine intensive Zusammenarbeit umso wichtiger, da sich auch im Zuge der Veränderung von Konflikten und Krisenherden auf der Welt die Um- stände, unter denen humanitäre Hilfe geleistet werden muss, dramatisch verändert – um nicht zu sagen: ver- schlechtert – haben: Anschläge auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, weil deren Unparteilichkeit ange- zweifelt wird, und Unklarheiten bei der Zusammenarbeit von NGOs und Militär führen häufig dazu, dass humani- täre Hilfe viel von ihrer Schlagkraft verliert. Hier bedarf es der Abgrenzung von Zuständigkeiten einerseits und der Verzahnung der Tätigkeiten andererseits. Das von der Bundesregierung vorgelegte Konzept zur zivilen Krisenprävention, das wir für notwendig erach- ten, stellt die Prävention auf eine konzeptionelle Basis. Leider ist im Bereich der humanitären Hilfe Ähnliches bis jetzt noch nicht in Sicht. Der Antrag der Koalition nennt einige Maßnahmen, die wir zum Teil auch für richtig halten. Ein Konzept ergibt sich daraus noch nicht. Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit unserem Antrag dazu auf, ein insgesamt stimmiges Konzept für den Bereich der humanitären Hilfe vorzulegen, das die sich stellenden Aufgaben, die handelnden Akteure und die dazugehörige Finanzausstattung miteinander in Ein- klang bringt. Melanie Oßwald (CDU/CSU): Die vorliegenden Be- richte zur humanitären Hilfe der letzten Jahre zeigen, dass wohl Einiges erreicht werden konnte, oft aber nicht genug, erst recht nicht, wenn man ihre Bedeutung und Rolle in einer sich ständig wandelnden Welt näher be- trachtet. Die Aufgabenstellung der humanitären Hilfe ist in den letzten Jahren deutlich komplexer geworden. Wäh- rend der 80er-Jahre dominierten Naturkatastrophen die humanitäre Hilfe. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es jedoch zusätzlich immer mehr Bürgerkriege und andere von Menschen verursachte Katastrophen. Die Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage seit den T h d L k B m a t k u l b v H in C d m U d n s g u m K H l c n K T c d d n f m O H le 1 c b a h n s t W F (C (D erroranschlägen vom 11. September 2001 stellen die umanitäre Hilfe vor neue Herausforderungen. Was aber ist humanitäre Hilfe? Humanitäre Hilfe be- eutet den unmittelbaren Einsatz zur Beseitigung oder inderung akuter Notlagen wie Naturkatastrophen oder riegerische Auseinandersetzungen. Sie darf nicht an edingungen geknüpft sein. Sie muss sich um alle küm- ern, die in eine existentielle Notlage geraten sind – un- bhängig von Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, poli- ischer Überzeugung oder sogar Mitschuld. Es geht auch um die grundlegenden Fragen: Was ann, was muss humanitäre Hilfe darüber hinaus leisten nd was kann, was muss sie nicht leisten? Während die Welt gebannt und hilflos auf die bedroh- iche Situation im Irak und in Afghanistan schaut, ster- en im Kongo, in Liberia, in Tschetschenien. Tausende on Menschen – unbemerkt und vergessen. Humanitäre ilfe muss aber gerade diese vergessenen Katastrophen s öffentliche Bewusstsein bringen und nicht allein dem NN-Effekt folgen. Sie darf nicht nur dort helfen, wo ie Kameras hingehalten werden. Am Beispiel Darfurs lässt sich zeigen, woran es hu- anitärer Hilfe derzeit mangelt: Nach Angaben der NO kommt nur etwa die Hälfte der benötigten Hilfe in ieser Krisenregion auch wirklich an. Das kann es doch icht sein! Erst durch die Hilfsorganisationen wurde die- es Gebiet ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird mit dem Be- riff „humanitär“ in geradezu verschwenderischer Art mgegangen. Es wurde von „humanitären Krisen“, „hu- anitären Einsätzen“ und sogar vom „humanitären rieg“ gesprochen. Aber immer öfter wird humanitäre ilfe als Feigenblatt genutzt, um die Unwilligkeit zu po- itischen – aber damit dauerhaften – Lösungen zu verde- ken. In letzter Zeit scheinen humanitäre Prinzipien zu- ehmend politischen Zielen zum Opfer zu fallen. Wenn oalitionstruppen in Afghanistan humanitäre Hilfe zum eil ihrer militärischen „hearts and minds“-Strategie ma- hen, können sie die Möglichkeiten und die Akzeptanz er Hilfsorganisationen untergraben. Beim Kampf gegen en Terror wird es den Hilfsorganisationen erschwert, eutral zu bleiben; aber eben diese Neutralität ist de acto deren Lebensversicherung. Übergriffe auf Helfer werden wahrscheinlicher, wenn an nicht mehr klar zwischen Militär und humanitären rganisationen trennen kann. Noch nie mussten die ilfsorganisationen so viele Opfer beklagen wie in den tzten Jahren. „Ärzte ohne Grenzen“ musste das bereits 979 begonnene Afghanistan-Projekt vor kurzem abbre- hen, da fünf Mitarbeiter ermordet und weitere massiv edroht wurden. Dies ist sehr traurig. Noch trauriger ist ber, dass bisher kein Mitglied der Bundesregierung ierzu sein Bedauern geäußert hat! Bei allem Verständnis für vertrauensbildende Maß- ahmen und bei aller Freude über den Eifer und die An- trengungen unserer Soldaten, beim Aufbau eines Staa- es zu helfen: Dies alles ist nicht ihr eigentlicher irkungskreis. Die Hauptaufgabe des Militärs in der riedensmission ist nicht die humanitäre Hilfe, sondern Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12725 (A) ) (B) ) der Schutz der Zivilbevölkerung vor Übergriffen durch Milizen oder bewaffnete Banden. Absprache und klare Rollenverteilung von Militär und humanitärer Hilfe ist wichtiger denn je. Es ist er- schreckend, dass der Bundesverteidigungsminister die- sen Dialog mit den Hilfsorganisationen verweigert, sich der Diskussion nicht stellen will oder kann. Konfliktbewältigung bzw -verhinderung sind Aufga- ben der Politik, der Regierungen, Parlamente und Par- teien, nicht aber der Hilfsorganisationen. Deshalb muss eines klar gesagt werden: Humanitäre Hilfe ist kein Ersatz für politische Programmatik! Sie kann weder Kriege und Vertreibungen verhindern noch gesellschaftliche Systeme nachhaltig beeinflussen. Sie kann ebenso wenig eine Demokratie aufbauen oder lo- kale Warlords und deren Milizen entwaffnen. Dies ist und kann auch nicht ihre Aufgabe sein. Wir müssen Hilfsorganisationen intensiv unterstüt- zen. Die finanzielle Förderung nicht weiter zu reduzie- ren ist dabei nur eine wichtige Aufgabe. Zusätzlich müs- sen wir dafür Sorge tragen, dass die Arbeit der Hilfsorganisationen nicht durch politische Instrumentali- sierung erschwert, behindert oder gar unmöglich ge- macht wird. Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Humanitäre Hilfe zu leisten ist ein Gebot der Menschlichkeit und der Nächstenliebe. Diese Hilfe ruht auf jenem Fundament von Werten und Grundüberzeugungen, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Die Verpflichtung zu humani- tärer Hilfe gilt absolut. Sie macht keinen Unterschied zwischen politischen Systemen, unterschiedlichen Ethnien, Religionen oder dem Geschlecht. Daneben steht aber eine immer schmaler werdende Basis der finanziellen Mittel. Sie nötigt uns, humanitäre Hilfe zielgerichtet zu leisten. Die Arbeit der zuständigen Ministerien ist besser zu koordinieren. Ebenso ist die Zusammenarbeit mit den für humanitäre Hilfe unver- zichtbaren Nichtregierungsorganisationen noch besser abzusprechen und es sind gemeinsam Konzepte weiter- zuentwickeln. Die Konsequenz daraus, nämlich eine stärkere Konzeptionierung auf der Geber- wie auch auf der Empfängerseite ist von der Regierung noch nicht ausreichend geleistet worden. Das aber ist notwendig. Wir können leider nicht von einer Entspannung, sondern wir müssen von einer stetigen Verschärfung der humani- tären Notlagen weltweit ausgehen. Daher kann der vorliegende Antrag von Rot-Grün nicht befriedigen. Er ist wenig mehr als ein unkritisches und pauschales Lob des vorliegenden Berichtes der Bun- desregierung. Ich will das an einem wichtigen Thema kurz umreißen. Der Bericht für den Zeitraum bis 2001 nennt wenigstens noch unter dem Titel „Querschnittsthe- men/Gender Mainstreaming“ die besondere Situation von Frauen. Auf dem Sektor der humanitären Hilfe weist er auf die daraus erwachsende Verpflichtung einer diffe- renzierten Geschlechterperspektive hin. In dem vorlie- genden Antrag von Rot-Grün ist diese Erkenntnis nicht einmal mehr in eine Worthülse gepackt. Offensichtlich i a p i F d s h h z N a s w F D I v z l h U E v l k h d ß d l S S t F P d s Ü m s z d h u ü w d (C (D st das für Sie auch kein ernst zu nehmendes Thema. Das ber ist ein Irrtum. Eine Gruppe, die unter lebensbedrohenden Katastro- hen und Krisensituationen besonders zu leiden hat, sind n allen Bevölkerungen und auf allen Kontinenten die rauen. Daher entspricht es der Realität, die Problematik er Benachteiligung der Frauen auch hier in der Diskus- ion um eine notwendige Zielkonkretisierung unserer umanitären Hilfe als ein Querschnittsthema besonders ervorzuheben. Das Pilotprojekt des AA von 2001 führt u eben dieser Erkenntnis: Frauen sind bei humanitären otfällen einer vielfältigen und gesteigerten Gefährdung usgesetzt. Der Mangel an konsequentem Handeln der Regierung piegelt sich im gleichen Maße im vorliegenden Antrag ider. Im Bericht der Regierung über die Situation der rauen hieß es vollmundig, dass – ich zitiere – sie daher auch bei der Planung und Durchführung von humanitären Projekten eine besondere Berück- sichtigung verdienen. azu finde ich in Ihrem Papier keinerlei Entsprechung. hr Antrag nennt und umreißt kurz vor allem eine Zahl on Krisengebieten in Afrika. Circa 14 aktuelle Krisenregionen sind in Afrika zur- eit bekannt. Dabei gehört das Phänomen der Flücht- inge mit zu jenen Bereichen, die im besonderen Maße umanitäre Notsituationen auslösen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinen Nationen NHCR zählt derzeit circa 4,2 Millionen Flüchtlinge. twa eine halbe Million sind davon so genannte Binnen- ertriebene. Die ausreichende Versorgung der Flücht- inge mit Wasser und Nahrung, mit Kleidung und Unter- unft gehört ebenso zum vordringlichen Bedarf der umanitären Hilfe wie der Schutz der Flüchtenden und er Flüchtlingslager. Auch hier ist der Anteil der Frauen nicht nur der grö- ere, sondern auch derjenige, dessen Gefährdungslage eutlich stärker ist. Die humanitäre Hilfe, die Deutsch- and leistet, muss die besondere Not der Frauen als eine chwerpunktaufgabe wahrnehmen. Auch in diesem inne muss das Konzept unserer humanitären Hilfsleis- ungen zielgerichtet sein. Zum Wohle der bedrohten rauen darf das Handeln der Regierung sich nicht im roduzieren von Worthülsen verlieren. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei iesem wichtigen Thema möchte ich bei den Gemein- amkeiten beginnen: Wir teilen die Grundwerte, die berzeugung, dass wir uns – sei aus christlicher oder hu- anistischer Prägung, sei es aus Respekt vor den Men- chenrechten – verpflichtet fühlen, Menschen in Not bei- ustehen. Nun können wir uns darüber streiten, ob amals die Regierung Kohl die Prioritäten richtig gesetzt at oder ob jetzt die rot-grüne Bundesregierung besser nd effektiver hilft. Wir können allerlei Zahlen gegen- berstellen, mal uns nur auf die Haushaltstitel des Aus- ärtigen Amtes beschränken, mal die im BMZ angesie- elte entwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe 12726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) dazurechnen, wir können dabei Äpfel mit Birnen ver- gleichen und je nachdem, wie wir mit Zahlen umgehen, die eine oder die andere These untermauern. Ich halte das für sinnlos. Angesichts der Leistungsfähigkeit Deutschlands ei- nerseits und der Größe der Herausforderung andererseits – mehr als 45 Millionen Menschen befinden sich in einer extremen Notlage aufgrund von Kriegen und Naturka- tastrophen – sollten wir uns auf die einfache Formel eini- gen: Es war damals nicht genug und es ist auch heute nicht genug! Der Menschenrechtsausschuss hat angesichts des Haushaltsentwurfs 2005 gefordert, die Mittel für die hu- manitäre Hilfe aufzustocken. Ich hoffe sehr, bald die er- lösende Nachricht zu hören, dass der Haushaltsaus- schuss diesem Wunsch des Menschenrechtsausschusses entspricht. Aber selbst mit dieser gewünschten Aufsto- ckung wäre ich noch nicht wirklich zufrieden: Der Bun- destag sollte gemeinsam, fraktionsübergreifend, dafür werben, dafür streiten, dass sowohl die Mittel für die hu- manitäre Nothilfe als auch für die längerfristig angelegte Entwicklungszusammenarbeit der tatsächlichen Heraus- forderung angepasst werden und schon sehr bald 0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens entspre- chen. So viel zur Quantität. Bei der Qualität verdienen zwei Aspekte Aufmerk- samkeit, die durchaus mit Konflikten verbunden sind: Erstens gilt auch für humanitäre Hilfe in oder nach Krie- gen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen, dass sie so weit wie irgend möglich Hilfe zur Selbsthilfe sein muss, dass sie Menschen möglichst aktivieren und nicht allein alimentieren sollte. Hungernde müssen mit Nahrungs- mitteln versorgt werden. Das ist klar. Ob man aber ver- sucht, diese Nahrungsmittel möglichst im betroffenen Land zu kaufen, um damit die dortige Landwirtschaft zu unterstützen und die Nahrungsmittelproduktion anzukur- beln oder ob man dort Überschussproduktion aus dem Geberland ablädt und die Märkte in den Empfängerlän- dern stört oder gar kaputtmacht, macht einen großen Un- terschied. Auch wenn ich das „World Food Program“ natürlich nicht insgesamt infrage stellen möchte, so muss Kritik an einzelnen Maßnahmen, zum Beispiel in Afghanistan, erlaubt sein. Ich möchte ausdrücklich – lobend – erwäh- nen, dass die Bundesregierung auch in ihrer Nothilfe die Auswirkungen ihres Handelns auf die Märkte, auf die Nahrungsmittelproduktion in den Empfängerländern, sehr genau beobachtet und sich möglichst so verhält, dass es einen fließenden Übergang von der Nahrungs- mittelsoforthilfe zur entwicklungsorientierten Unterstüt- zung, zur Förderung der ländlichen Regionalentwick- lung, gibt. Ein zweiter Reibungspunkt, der im Antrag der Koali- tionsfraktionen offen angesprochen wird, ist die Über- schneidung von humanitären und militärischen Einsät- zen. Die humanitäre Hilfe ziviler Organisationen muss gerade in Kriegssituationen unabhängig und überpartei- lich sein. Wenn sie es nicht ist, dann geraten die Helfe- rinnen und Helfer selber in die Gefahr, als Konfliktpartei angesehen zu werden und buchstäblich in die Schuss- l n u d u g f r s n V H g b w s i m s c m d m a m d „ I t l g d ß s k E r l d s m T B r e D s f D H O k h z (C (D inie zu geraten. Der Irakkrieg lieferte und liefert immer och viel Anschauungsmaterial, wie es nicht sein sollte nd welche Gefahren dadurch heraufbeschworen wer- en. Die US-amerikanischen Streitkräfte kontrollieren nd instrumentalisieren die humanitäre Hilfe und brin- en dadurch viele Helferinnen und Helfer in äußerst ge- ährliche Situationen. Der Bundeswehr kann dagegen – zum Beispiel bei ih- em Afghanistan-Einsatz – in der zivil-militärischen Zu- ammenarbeit eine sehr viel größere Sensibilität beschei- igt werden als den Amerikanern. Dennoch ist das erhältnis zwischen der Bundeswehr und den zivilen ilfsorganisationen nicht ganz frei von Spannungen. Es ibt da durchaus auch Konkurrenzsituationen. Wir glau- en jedoch, dass diese Konflikte lösbar sind, wenn so- ohl die Bundeswehr als auch die humanitären Organi- ationen in beiderseitigem Respekt klare Kriterien für hre spezifischen Aufgabenfelder definieren und ge- einsam so etwas wie einen Verhaltenskodex für die Zu- ammenarbeit in Krisen- und Kriegsgebieten entwi- keln. Wir sind uns einig, dass wir uns bemühen müssen, ehr Mittel für die humanitäre Hilfe bereitzustellen und ie humanitäre Hilfe so effektiv und nachhaltig wie öglich zu gestalten. Aber auch hier gilt der alte Zahn- rztspruch: Vorbeugen ist besser als bohren. Deshalb öchte ich an dieser Stelle ausdrücklich begrüßen, dass ie Bundesregierung in diesem Jahr einen Aktionsplan Zivile Krisenprävention“ vorgelegt hat. Der Zivile Friedensdienst (ZFD) und das Zentrum für nternationale Friedenseinsätze (ZIF) sind neue Einrich- ungen, die vor fünf Jahren auf Initiative aus diesem Par- ament entstanden sind. Es wäre zu umfangreich, die se- ensreiche Arbeit dieser Einrichtungen hier gebührend arzustellen und zu würdigen. Ich will aber damit schlie- en, dass ich sowohl den von Idealismus beseelten Men- chen in der humanitäre Hilfe als auch den Friedensfach- räften, die in der Krisenprävention tätig sind, für ihren insatz von Herzen danken möchte. Sie sind Botschafte- innen und Botschafter des Friedens und der Mensch- ichkeit. Rainer Funke (FDP): Es ist gut, dass sich der Bun- estag mit der humanitären Hilfe beschäftigt. Der Aus- chuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zeigt it dieser Debatte, dass wir durchaus auch den zweiten eil unserer Aufgaben ernst nehmen. Auf den ersten lick ist die humanitäre Hilfe einer der einfacheren Be- eiche der Politik. Hier geht es nicht um politische Aus- inandersetzungen, sondern allein um Menschlichkeit. ieser unparteiische, oft sogar unpolitische Charakter ichert der humanitären Hilfe die Akzeptanz bei Kon- liktparteien und vor allem bei der Bevölkerung vor Ort. as ist die Grundvoraussetzung dafür, dass humanitäre ilfe schnell, effizient und unbürokratisch zu den pfern einer Katastrophe oder eines Konfliktes gelangen ann. Trotzdem ergeben sich bei der humanitären Hilfe eute komplexe und vielgestaltige Probleme. So besteht urzeit die Tendenz, den Begriff des „Humanitären“ in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12727 (A) ) (B) ) der Öffentlichkeit und Politik inflationär zu gebrauchen. Es ist die Rede von „humanitärer Politik“, „humanitärer Intervention“ oder gar „humanitären Bomben“. Zudem wird die humanitäre Hilfe immer öfter als integraler Be- standteil einer allumfassenden politischen Strategie an- gesehen. All dies zeugt von mangelndem Respekt vor dem humanitären Raum, dessen Freiheit von Wertung und Politik unbedingt erhalten werden muss, wollte man nicht die humanitäre Hilfe in ihrem Wesen zerstören. Humanitäre Hilfe darf eben nicht politisch instrumentali- siert werden. In der zunehmenden Globalisierung und medialen Vernetzung der Welt liegen für die humanitäre Hilfe Se- gen und Unglück dicht beieinander. Die Massenmedien bringen uns menschliche Schicksale immer näher. Das macht uns unserer Verantwortung für humanitäre Kata- strophen auch in weiter entfernten Weltgegenden be- wusst. Allerdings steigt mit der zunehmenden Zahl von Katastrophen und Konflikten auf den Bildschirmen auch die Selektivität der Wahrnehmung. Dies führt zu einem Wettbewerb um das „größte Unglück“, das prestige- trächtigste Projekt und die bewegendsten Bilder. Wenn es aber einen Bereich gibt, in dem Wettbewerb und Kommerzialisierung keine Berechtigung haben, so ist dies die humanitäre Hilfe. Die Medien, die Nichtregie- rungsorganisationen, aber auch die Politik müssen sich hier ihrer Verantwortung stets bewusst sein. Es gibt im Bereich der humanitären Hilfe aber durch- aus auch strukturelle und institutionelle Probleme. Viel- fach wird kritisiert, dass es der humanitären Hilfe an Nachhaltigkeit mangelt und sie damit ihre Notwendig- keit selbst immer wieder reproduziert. Stellenweise wird sogar von Überversorgung ohne Rücksicht auf die Ver- sorgungsmöglichkeiten vor Ort berichtet. Andererseits entstehen oft gerade dort Versorgungslücken, wo kurz- fristige humanitäre Hilfe nicht nahtlos in langfristige Entwicklungshilfe übergeht. Das wird sich letztlich nur durch eine noch bessere Koordinierung und Verzahnung von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe lösen las- sen. Humanitäre Hilfe ist ein Bereich, wo das Wirken staatlicher deutscher Stellen und das Engagement und die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung dicht ineinander greifen. Es steht unserem Land gut an, dass Deutschland trotz knapper Kassenlage in privaten und öffentlichen Haushalten bei der Hilfe in weltweiten Not- situationen im internationalen Vergleich immer noch ganz vorn dabei ist. Deutsche humanitäre Helfer haben weltweit einen ausgezeichneten Ruf, unsere Hilfe kommt an und wird geschätzt und gewürdigt. Das weiß auch die liberale Opposition im Deutschen Bundestag durchaus zu würdigen. Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Amt: 45 Millionen Menschen, so wird geschätzt, sind zurzeit weltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Sie sind Opfer von Kriegen, von Gewalt oder sie flüchten vor Dürre, Überschwemmungen und Wirbelstürmen. Oft sind sie durch schreckliche Ereignisse traumatisiert. Mit der humanitären Hilfe versuchen wir, die schwerste Not d g H I J V j n w k s O s w e H d d s k k a N s d s g i d n w L n l W n n f b F O u u d r u M N i l V n (C (D ieser Menschen zu lindern, nicht mehr und nicht weni- er. Insgesamt stellte das Auswärtige Amt deutschen ilfsorganisationen, den Vereinten Nationen und dem nternationalen Komitee vom Roten Kreuz in diesem ahr allein rund 73 Millionen Euro für Hilfsprojekte zur erfügung. 14 Millionen Euro davon entfallen auf Pro- ekte des humanitären Minenräumens. Auch in den ächsten Jahren wollen wir humanitäre Hilfe dort ge- ähren, wo sie benötigt wird. Dass diese Hilfe aber auch bei den Menschen an- ommt, ist nur durch den Einsatz der vielen Hilfsorgani- ationen – NROs und kirchliche Hilfswerke – möglich. hne deren unermüdliches Engagement – oft unter Ein- atz des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit – äre diese Hilfe undenkbar. Daher möchte ich zunächst inmal den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnnen dieser ilfsorganisationen im Namen der Bundesregierung und es gesamten Deutschen Bundestages für ihren Einsatz anken. Ich verstehe gut, dass die Hilfsorganisationen eine In- trumentalisierung der humanitären Hilfe ablehnen. Ich ann ihnen versichern: Die Bundesregierung wird auch ünftig darauf achten, dass sich die Hilfe ausschließlich n den humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit und eutralität orientiert. Das ist auch unser Anliegen. Wir wissen aber auch: Humanitäre Hilfe kann nur die chlimmste Not lindern. Sie beseitigt nicht die Ursachen er Krisen. Dafür bedarf es nachhaltiger politischer Lö- ungen, die durch Verhandlungen zwischen den jeweili- en Konfliktparteien gefunden werden müssen. Besondere Anforderungen hat in diesem Jahr – und ch befürchte, das wird auch im nächsten Jahr so sein – ie Darfur-Krise an uns gestellt, nicht zuletzt auch in fi- anzieller Hinsicht. Nur unter großen Anstrengungen ar es letztlich möglich, die vorgesehenen Mittel zur inderung dieser humanitären Katastrophe in Höhe von ahezu 50 Millionen Euro, davon 32 Millionen Euro bi- ateral, aufzubringen und gleichzeitig in angemessener eise auf andere Krisen weltweit zu reagieren, von de- en einige ähnliche Dimensionen wie Darfur besitzen. 70 000 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – sind ach Angaben der Weltgesundheitsorganisation im Dar- ur-Konflikt allein in den letzten acht Monaten ums Le- en gekommen. 1,8 Millionen Menschen sind auf der lucht, vielen von ihnen droht ebenfalls das Schicksal, pfer von Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigung, Hunger nd Krankheit zu werden. Nach Einschätzung der VN nd vieler Hilfsorganisationen haben wir es hier mit der erzeit schlimmsten menschenrechtlichen und humanitä- en Krise weltweit zu tun. Auch deshalb war und ist es nsere Pflicht, alles, was möglich ist, zu tun, um diesen enschen zu helfen. Der Bericht, den der Generalsekretär der Vereinten ationen letzte Woche dem Sicherheitsrat vorgelegt hat, st zutiefst beunruhigend: Immer noch werden offensicht- ich in Darfur in großem Umfang Kriegsverbrecher und erbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Nicht ur die von der sudanesischen Regierung bewaffneten 12728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Reitermilizen, die Janjaweed, sondern auch die Rebellen- bewegungen machen sich schwerster Menschenrechts- verletzungen gegen die Zivilbevölkerung schuldig. Die Bundesregierung, die Vereinten Nationen und Hilfsorga- nisationen haben jüngst schwere Vorwürfe gegen die su- danesische Regierung erhoben, nachdem sudanesisches Militär bei der Räumung eines Flüchtlingslagers brutale Gewalt gegen Lagerbewohner – hauptsächlich Frauen und Kinder – angewendet hatte. Das Lager wurde in Brand gesetzt und mit Planierraupen zerstört. Trotz der deutlichen internationalen Kritik sind die Sicherheits- kräfte gestern Morgen erneut brutal gegen Flüchtlinge vorgegangen. Dies ist auf das Schärfste zu verurteilen. Nachdem sich zunächst in den letzten Monaten auf- grund des internationalen Drucks – die Bundesregierung hat ihn maßgeblich ausgeübt – der Zugang der Hilfsor- ganisationen verbessert hatte, wird nun die Arbeit der in- ternationalen Hilfsorganisationen offensichtlich erheblich behindert. Die Vereinten Nationen mussten letzte Woche vorübergehend ihre Arbeit in Darfur einstellen, unter an- derem weil die sudanesische Regierung Zwangsumsied- lungen vorgenommen hatte und die Sicherheitslage sich zunehmend verschlechtert. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen musste 85 internationale Mitar- beiter aus verschiedenen Orten evakuieren. Auch deut- sche Hilfsorganisationen haben in den letzten Tagen von erheblichen Einschränkungen ihrer Zugangsmöglichkei- ten berichtet, Mindestens 180 000 Flüchtlinge können zurzeit nicht von der humanitären Hilfe erreicht werden. Damit droht sich die Zahl der Todesopfer weiter zu erhö- hen. Das ist nicht akzeptabel. Ich fordere die sudanesi- sche Regierung und die Rebellenorganisationen auf, die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu beenden und end- lich ihren internationalen Verpflichtungen nachzukom- men. Gerade die jüngsten Entwicklungen zeigen: Humani- täre Hilfe kann zwar dazu beitragen, die Not der betrof- fenen Menschen zu lindern; sie kann allerdings nicht die politischen Konflikte lösen. Daher wird die Bundesre- gierung weiterhin auf allen politischen Ebenen – auf der Ebene der EU, der VN in Zusammenarbeit mit der AU – versuchen, den internationalen Druck aufrechtzuerhalten und eine langfristige politische Lösung des Konfliktes zu finden. Gerade gestern haben sich die Konfliktparteien bei den Friedensgesprächen in Abuja auf ein Ende der Ge- walt und den freien Zugang der Hilfsorganisationen ver- ständigt. Das muss jetzt auch umgesetzt werden. Nächste Woche trifft sich der Sicherheitsrat der VN in Nairobi, um über die Lage im Sudan, insbesondere in Darfur, zu beraten. Voraussichtlich werde ich an dieser Sitzung teilnehmen. Wenn die Konfliktparteien nicht einlenken, sollte der Sicherheitsrat – wie beschlossen – weiter gehende Maßnahmen ergreifen. Darüber hinaus unterstützen wir finanziell und logistisch die Beobach- termission der AU, die den Waffenstillstand überwachen soll. Auf unsere Initiative hin wird nun eine Untersu- chungskommission der VN die Menschenrechtsverlet- zungen in Darfur untersuchen und hoffentlich die Ver- antwortlichen zur Rechenschaft ziehen. r n a B s d v d g n p E i F A t d J f a d Z d r S l k b c B d h K I l p d B m d v M p e ti f F f p (C (D Nicht nur in Darfur, sondern auch in anderen Krisen- egionen der Weit leisten wir in großem Umfang huma- itäre Hilfe, wie in Uganda, im Kongo und in West- frika, auf dem Balkan und in Kolumbien, um nur einige eispiele zu nennen. Humanitäre Hilfe kann nur die chlimmste Not der Menschen lindern. Aber sie ist oft er Anfang für eine weiter gehende, umfassende Lösung on Konflikten. Daher möchte ich mich zum Schluss für ie Unterstützung bedanken, die es über alle Fraktions- renzen hinweg bei dieser schwierigen Aufgabe – nicht ur in der Krisenregion Darfur – gegeben hat. Ohne den ersönlichen Einsatz und die Unterstützung wäre unser ngagement nicht möglich. Ich hoffe, wir können auch n den nächsten Jahren mit der Unterstützung durch alle raktionen rechnen. nlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Bildungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen (Tages- ordnungspunkt 9) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit ihrem An- rag greift die FDP ein Anliegen auf, das von den Sozial- emokraten in der Opposition wie in der Regierung seit ahren mit besonderem Engagement verfolgt wird. Wir reuen uns, dass auch die FDP jetzt entdeckt, dass wir lle eine besondere Verantwortlichkeit haben gegenüber en Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus uwanderfamilien, aber auch aus deutschen Familien, ie keine lange und erfolgreiche Bildungstradition in ih- en Familien aufweisen. Die Kollegin Multhaupt hat schon dargelegt, wie die PD-geführte Bundesregierung seit 1998 an vielen Stel- en ihren Beitrag dazu geleistet hat, dass Bildungsarmut ein Schicksal werden muss, sondern Schritt für Schritt ekämpft werden kann und es für die Kinder, Jugendli- hen und Familien neue und sichere Wege gibt, mehr ildungschancen zu verwirklichen. In der direkten För- erung der Familien und Kinder nennen wir die Erhö- ung des Kindergeldes, das Erziehungsgeld, aktuell den inderzuschlag im Rahmen von Hartz IV als Stichwort. n der Infrastrukturverbesserung für Kinder und Jugend- iche und Familien sind Stichworte das Ganztagsschul- rogramm, die Aufwertung der Kindertagesstätten und ie Krippeninitiative, das Teilzeitfördergesetz und in der ildungsförderung schließlich das JUMP-Programm, it dem wir 1998 gestartet sind, JUMP-Plus, die beson- eren Förderprogramme für Jugendliche bei der Berufs- orbereitung, ausbildungsbegleitende Hilfen bis hin zur obilisierung zusätzlicher Lehrstellen und Einstiegs- raktika, wie sie im jüngsten Pakt für Ausbildung ver- inbart worden sind. Dabei muss klar sein: Bildungsarmut kann sich verfes- gen, wenn Familien aus realer Armut keinen Ausweg inden. Bildungsarmut nimmt zu, wenn zugewanderte amilien und ihre Kinder keine Wege zur Integration inden. Bildungsarmut dokumentiert schließlich unser olitisches Versagen, wenn wieder besserer Kenntnis Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12729 (A) ) (B) ) falsche Strukturen und Qualitäten in unserem Bildungs- system gezielt dafür sorgen, dass die Bildungspotenziale aller Kinder und Jugendlichen sich nicht entfalten kön- nen, dass Kinder und Jugendlichen vor allen Dingen Misserfolgskarrieren in unserem Bildungssystem an sich erfahren und schließlich auch, dass Jugendlichen die Chance auf eine berufliche Qualifizierung gar nicht erst gegeben wird, bzw. ein erfolgreicher Abschluss nicht er- reicht werden kann. Hierzu nur zwei konkrete Sachverhalte, die uns zu denken geben müssen: Erstens. Die Rangreihe der nach der ersten PISA-Stu- die 2002 vorgeblich besonders erfolgreichen Bundeslän- der bildet genau die Rangfolge der Prozentteile der Be- völkerung ab, die in den jeweiligen Ländern in Sozialhilfe leben. Weist Bayern hier einen Prozentsatz von 3,4 Prozent auf, steigert sich dieser Prozentsatz bis zum Land Bremen auf 23,6 Prozent. Natürlich gibt es ei- nen Zusammenhang von realer Armut und Bildungsar- mut. Der Kampf gegen die Bildungsarmut muss deshalb auch immer unterfüttert werden mit dem Kampf gegen die reale Armut. Erfolge in der Bekämpfung der Bil- dungsarmut tragen umgekehrt dazu bei, dass auch die reale Armut schrittweise überwunden werden kann. Zweitens erleben wir aktuell m Deutschland, dass über 10 Prozent der Kinder bei der Einschulung zurück- gestellt werden, 3,5 Prozent der Kinder so genannte Son- derschulen besuchen, 10 Prozent der Kinder einen Schulabstieg an sich erfahren, indem sie von einer so ge- nannten „höheren Schule“ auf andere Schulformen ab- steigen und schließlich über 24 Prozent der Kinder, ein Spitzenwert m Europa und der Welt, eine Klassenwie- derholung durchmachen. Unter diesen Kindern ist ein besonders großer Teil aus Familien mit einem Migra- tionshintergrund. Von diesen Kindern sammeln sich dann besonders viele in den so genannten Hauptschulen, die schon längst nicht mehr das Fundament von Bildung in Deutschland bilden, sondern in eine sehr schwierige Rolle als ungeliebte „Restschule“ und Schule der Kinder und Jugendlichen aus Migrationsfamilien und bildungs- fernen Schichten gedrängt werden. Positiv am Antrag der FDP ist deshalb, dass wir zu- sammen in drei Fragen in Deutschland grundsätzlicher und ebenso ausdauernd wie konsequent in eine Überprü- fung bisheriger Positionen eintreten müssen und auch zu neuen Lösungen kommen müssen. Zum einen: In Bezug auf das endlich verabschiedete Zuwanderungsgesetz ist das jahrelang gehegte Tabu der konservativen Seite endlich gebrochen: Deutschland ist ein Zuwanderungsland und hat sich entsprechend an der Integration im Sinne von Fördern und Fordern der zuge- wanderten Menschen zu engagieren. Dieses muss jetzt zu einer Gesamtaufgabe von Bund, Ländern und Kom- munen, der Organisationen der Zivilgesellschaften und auch der Beteiligten selbst werden. Zum anderen: Wie lange wollen wir noch ein Bil- dungssystem als vorbildlich begreifen, das sich als hoch sozial selektiv, als nicht leistungsfähig in Bezug auf eine gute Grundförderung für alle Kinder und Jugendliche h d g n q D l w d s h a f d D d k v r h m b c t d s t w g d h g g c i g d D ö K d r d f l B g d h S z d (C (D erausgestellt hat? In der frühkindlichen Förderung, in er Stärkung der Grundschule, in der möglichst langen emeinsamen Unterrichtung der Kinder und in der Öff- ung von Schule nach außen haben wir strukturell wie ualitativ Reformbedarf. Hier muss das Tabu, das in eutschland über jede Diskussion der Schulstruktur ge- egt worden ist, erst noch gemeinschaftlich gebrochen erden. Die SPD ist hierzu bereit. Wir wünschen uns, ass auch andere politische Kräfte hier ihre dogmati- chen Scheuklappen ablegen. Und schließlich: Bildungsarmut ist bekämpft und ge- ört der Vergangenheit an, wenn Kinder und Jugendliche us zum Beispiel Migrationsfamilien ganz konkret er- ahren können, dass sie über Bildung einen Einstieg in en Aufstieg in dieser Gesellschaft erreichen können. er erste Aufstieg muss die konkrete Erfahrung werden, ass sie eine qualifizierende berufliche Ausbildung be- ommen. Hier gibt es noch Reserven bei den Firmen, die iel zu wenig ausbilden und neuen Betrieben, auch ge- ade von zugewanderten und ausländischen Betriebsin- abern, die das deutsche Berufsbildungssystem erst noch it annehmen sollten, die zu nutzen sind. Und natürlich raucht es auch mehr Durchlässigkeit aus dem berufli- hen Bildungssystem in das akademische Bildungssys- em. Dabei werden angesichts der Beharrlichkeit von Bil- ungsarmut keine schnellen Erfolge für alle zu erreichen ein. Nur wollen wir auch der Schwarzmalerei des An- rages der FDP nicht in allen Punkten folgen. Gerade enn man die OECD-Vergleiche heranzieht, ist die Ju- end- und Ausbildungslosigkeit in Deutschland eben eutlich unter dem Durchschnitt und liegt Deutschland ier ohne Zweifel in der Spitzengruppe, was die Versor- ung von Kindern und Jugendlichen mit Ausbildungsan- eboten angeht. Auch in der Unterstützung der Jugendli- hen von der Berufsvorbereitung über die Unterstützung n der Berufsausbildung bis hin zu speziell auf die Ziel- ruppen von bildungsfernen Jugendlichen wie zugewan- erten Jugendlichen gibt es besondere Anstrengungen in eutschland, die nicht zuletzt durch eine beträchtliche ffentliche Finanzierung belegt sind. Zu den Forderungen der FDP stellen wir deshalb in ürze fest: Erstens. Was die FDP zur Reform der beruflichen Bil- ung fordert, ist in differenzierter Form von der Regie- ung mit ihrem Vorschlag zur Reform des Berufsbil- ungsgesetzes bereits eingelöst. Zweitens. Vom Bund zu fordern, dass er die Sprach- örderung für Zuwanderungskinder vor der Einschulung eistet, widerspricht der Aufgabenverteilung zwischen und und Ländern, die auch noch einmal durch das Inte- rationsgesetz und die dortige Aufteilung der Sprachför- erung festgelegt worden ist. Wir bitten die FDP sehr erzlich, die SPD in den Länderparlamenten in diesem inne im Streit für mehr Bildungschancen zu unterstüt- en. Drittens. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht, er von der Bundesregierung im Jahr 2001 vorgelegt 12730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) worden ist, spricht natürlich die Fragen von Bildungs- armut und Zuwanderung an. Die FDP muss gebeten wer- den, hier genauer nachzulesen. Wir sind ganz sicher, dass auch im Bericht des Jahres 2005 diese Fragen noch genauer und auch zielführender von der Analyse her be- leuchtet werden. Viertens. Dass die FDP jetzt darauf kommt, dass Bil- dungsforschung und Berichterstattung zu den Fragen von Bildungsarmut verstärkt werden müssen, mutet merkwürdig an. Hier hat die FDP die Wegmarken offen- sichtlich nicht mitbekommen, die wir schon vor einigen Jahren gesetzt haben. Der erste gemeinsame Bildungsbe- richt von Bund und Ländern, der im Jahr 2006 nach dem langjährigen Sträuben der Länderseite endlich durchge- setzt werden konnte, hat hierzu auch genau den richtigen Schwerpunkt gewählt. Er soll sich nämlich mit der Inte- gration von Kindern und Jugendlichen und Erwerbstäti- gen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem be- fassen. Dieses ist bereits so beschlossen und damit sind wir schon viel weiter als der Antrag der FDP an dieser Stelle uns nahe legen will. Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Ich freue mich, dass wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion der FDP zum Thema Bildungsarmut befassen. Der An- trag der Kolleginnen und Kollegen von der FDP spricht ein schwerwiegendes Problem an. Jedes Jahr verlassen viele junge Menschen die Schule ohne Abschluss. 2003 verließen circa 84 000 Jugend- liche die Schule ohne Hauptschulabschluss. Für sie ist das Risiko, arbeitslos zu bleiben, besonders hoch. Neben die negativen wirtschaftlichen Folgen treten gesell- schaftliche Ausgrenzungsprozesse. Ein Punkt im vorliegenden Antrag ist Bildungsarmut aufgrund mangelnder Sprachkompetenz, insbesondere bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Auch wir von der Union sind für eine intensive und frühzeitige Sprachförderung von Kindern und Jugendlichen. Beim Einstieg in die Schullaufbahn zeigt sich, dass die Schüle- rinnen und Schüler heute weitaus größere Unterschiede im Entwicklungsstand und in den Lernvoraussetzungen aufweisen als in früheren Jahren. Die Grundschule muss deshalb gezielt dafür Sorge tragen, dass unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen durch individuelle Förderung ausgeglichen werden. Insbesondere im sprachlichen Be- reich muss eine leistungsfähige Grundschule auf Maß- nahmen der vorschulischen Förderung aufbauen können. Dies gilt vor allem für Kinder aus Migrantenfamilien mit nur geringen Kenntnissen der deutschen Sprache. Kindergärten und Kinderhorte müssen intensiver als bis- her darauf hinarbeiten, dass die von ihnen betreuten Kin- der grundschulfähig werden. Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Aspekt, der auch in unserer Fraktion immer wieder im Mittel- punkt von bildungspolitischen Anträgen steht: der Be- deutung einer möglichst früh ansetzenden Bildungspoli- tik. Eine der zentralen Forderungen der Union ist ja gerade die Stärkung frühkindlicher Bildung und Erzie- hung in Familie und Kindertagesstätte. Sie ist die Vo- r v s f r i b k h t t u v g t g s t w s a d B g l d i z d z M h P s g D e d d t s r J d M a s z Z i t N (C (D aussetzung für mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung on Bildungschancen, eine stärkere Entkoppelung von ozialer Herkunft und schulischer Leistung und eine Ent- altung der individuellen Begabungen. Wenn wir von frühkindlicher Bildung und Erziehung eden, dann verstehen wir dies jedoch keinesfalls als rein nstitutionelle Veranstaltung. Wir verstehen darunter die esondere Berücksichtigung der primären Erziehungs- ompetenz und der Erziehungsaufgabe der Eltern. Ich atte, bei der Diskussion um Ganztagsschule und Ganz- agsbetreuung – so wie sie in diesem Plenum in den letz- en Monaten geführt wurde – oft das Gefühl, es ginge m eine Versorgungsfrage. So als könnten wir die in den erschiedenen Studien wie PISA und dem OECD-Ver- leich aufgedeckten Defizite des deutschen Bildungssys- ems lösen, indem nur für ausreichend Tagesbetreuung esorgt würde. Überhaupt scheint die ganze Diskussion ich auf die Frage nach der Versorgung mit Ganztagsbe- reuungsangeboten zu verkürzen. Doch wir müssen den Fokus weiter fassen. Wollen ir wirklich etwas verbessern, so müssen wir über die, icherlich wichtige, Versorgungsfrage hinausgehend uch inhaltlich mehr leisten. Das vermisse ich häufig in en Vorschlägen der Regierungskoalition. Gerade die inhaltliche Verzahnung von Elternhaus, ildung und Betreuung – damit beziehe ich mich auf leichnahmigen Antrag der Unionsfraktion – verspricht angfristige Erfolge bei der Modernisierung unseres Bil- ungssystems. Es gibt viele Einzelaspekte, die bei dieser nhaltlichen Gestaltung berücksichtigt werden müssen, um Beispiel die in vielen Studien erwiesene Bedeutung er Ein-Person-Beziehung im frühen Kindesalter. Doch das wissen Sie alles längst selbst, daher zurück um vorliegenden Antrag. Richtig und wichtig ist auch die Forderung nach einer odernisierung der Berufsausbildung. Die CDU/CSU at im Frühjahr 2003 als erste Fraktion einen Vorstoß im arlament gemacht und im März diesen Jahres einen ent- prechenden Gesetzentwurf eingebracht. Die Bundesre- ierung hat dagegen ein halbes Jahr mit einer unsinnigen ebatte über eine Ausbildungsplatzabgabe vertan und rst im Oktober einen Gesetzentwurf zur Novellierung er Berufsausbildung vorgelegt. Die Leidtragenden sind ie derzeit 31 200 nicht versorgten Jugendlichen. Der heute vorliegende FDP-Antrag geht in die rich- ige Richtung: Mit der Abkehr von starren Ausbildungs- ystemen und der Einführung theoriegeminderter Be- ufsbilder erleichtern wir eher praktisch begabten ugendlichen den Einstieg in das Berufsleben. Aller- ings darf das Berufskonzept nicht durch eine beliebige odulation der Ausbildungsgänge in Teilqualifikationen ufgeweicht werden. Das von der Union in die Diskus- ion gebrachte Stufenmodell stellt einen gangbaren Weg wischen der bisherigen dreijährigen Ausbildung ohne wischenqualifikation und der Auflösung von Berufen n Einzelmodule dar. Wir sollten die Diskussion in diesem Sinne konstruk- iv weiterführen und bald zu der dringend notwendigen ovellierung des Berufsbildungsrechts kommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12731 (A) ) (B) ) Insofern empfehle ich den Antrag zur Überweisung in den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- genabschätzung. Werner Lensing (CDU/CSU): Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir all das vergessen haben, was wir zuvor lernten. Es heißt zwar: „Schüchterne Dummheit und verschämte Armut sind den Göttern heilig“ (Marie Freifrau von Eschenbach 1830 bis 1916), doch diese Sentenz sollte keinesfalls für die Bildungspolitik gelten! Umso mehr ist es mir wichtig und geradezu unab- dingbar, dass wir heute über das drückende Problem der Bildungsarmut in Deutschland debattieren. Einige der im FDP-Antrag angesprochenen Probleme haben bereits Niederschlag in dem Unionsantrag zur Novellierung des Berufsbildungsgesetzes gefunden. Hier sind wir also schon auf einem guten Weg. Andere Anregungen des Antrages möchte ich heute gerne mit eigenen Vorschlä- gen vorantreiben. Die derzeitige Situation in der Bildungspolitik will ich versuchen mit einem eindrucksvollen Bild aus der Natur wie folgt zu umschreiben: Um die vermeintlichen Früchte der eigenen Bildungspolitik zu ernten, versucht die rot-grüne Regierung seit Jahren, den knorrigen Baum der Erkenntnis zu schütteln, damit er seine Ernte preis- gibt und nahezu die Keimlinge der Bildung als reife Früchte herunterfallen lässt. Doch obwohl von Jahr zu Jahr wegen falscher Bewirtschaftung immer weniger Früchte an diesem Baum hängen, schüttelt und rüttelt Rot-Grün gleichwohl heftiger und heftiger an diesem – natürlich ohne sichtbaren Erfolg. Es wollen an ihm ein- fach nicht mehr Früchte wachsen. In dieser Situation fragt sich das rot-grüne „Ernte- Team“ ängstlich und händeringend: „Was haben wir hier nur wieder falsch gemacht?“ Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich will es Ihnen sagen: Die unbedarften Gärtner begannen zu spät, sich um die- sen Baum zu kümmern. Hätten sie diesem zu Beginn sei- nes Wachstums mehr Aufmerksamkeit geschenkt und ihn beispielsweise gedüngt – will sagen: unterstützt durch eine solide Finanzierung –, wäre er sicherlich hö- her und schöner gewachsen. Jetzt ist er bestenfalls ein Bonsai. Kurzum: Mir geht es im Konkreten um den frühen Ansatz bildungspolitischer Maßnahmen und um die an- gemessenen Mittel, die zu dem grundlegenden Erfolg führen, den wir alle wollen – weg von der Bildungsar- mut, hin zum Bildungsreichtum. Wir sollten daher alle gemeinsam Bildungspolitik völlig neu entwerfen. Dies allein schon aus dem Grund, weil Bildung unser ganzes Leben begleitet, aber auch, weil Bildung der Wesenszug ist, der uns Menschen am meisten miteinander verbindet. Insofern benötigen wir ein Konzept für eine Rundumreform des deutschen Bil- dungssystems, wie dies unter anderem der Verband der Bayerischen Wirtschaft und Herr Professor Dr. Lenzen, der Präsident der Freien Universität Berlin, jüngst ange- dacht haben. Gerne will ich Ihnen – allerdings ohne Ab- s g u k m – – – – – – – – – m f M t u u s t (C (D timmung mit meiner Fraktion – hier einige dieser Anre- ungen darlegen. Doch eigentlich sind diese Visionen – das heißt, sie mschreiben mit einem Blick die Situation, wie sie sein önnte und sein müsste – keine Traumwelt, sondern ögliche zukünftige Realität: Wir sollten mit dem Lernen früher starten und Bil- dung in allen Lebensphasen bis ins Rentenalter indi- viduell fördern. Schließlich ist jeder Mensch einzigar- tig. Dabei könnten Kinder mit vier Jahren in eine sechs- jährige Primarschule eingeschult werden, die Vor- und Grundschule integriert, vor allem aber Schüler und Schülerinnen nach ihren speziellen Fähigkeiten fördert. Schließlich fällt die Entscheidung über die Schulkar- riere bereits zwischen dem vierten und siebenten Le- bensjahr. Wir sollten in die schulischen Anfangsjahre das meiste Geld investieren: Denn schon aufgrund der de- mographischen Entwicklung brauchen wir so viele hoch qualifizierte junge Menschen wie nur möglich. Hierfür muss natürlich die Bildungsfinanzierung ge- nerell neu entworfen werden: Milliarden von Euro, die in das spätere Ausmerzen von Bildungslücken gesteckt werden müssen, sind am Beginn der Bildungsentwicklung besser investiert. Die Vorschule sollte gebührenfrei und das Studium gebührenpflichtig angeboten werden. Denn es ist ein- fach nicht einzusehen, wieso Bildung dort, wo diese am wirksamsten ist, nämlich im Vorschulalter, auch gleichzeitig relativ teuer ist. Durch das Ausschöpfen von Effizienzreserven, Priva- tisierungen und vor allem durch einen flächendecken- den Subventionsabbau zugunsten der Bildung wäre hier viel zu erreichen. Bereits die Hälfte der 150 Milliarden Euro Subventio- nen, die der Staat jährlich an die Wirtschaft zahlt, könnten aus Deutschland ein Bildungsparadies ma- chen. Für Investitionen in die Zukunft, die nicht nur bitter nötig sind, sondern sich auch mehrfach auszah- len, bedürfte es denn nicht einmal der Streichung der Eigenheimzulage. Aber auch die Firmen und Betriebe müssten auf dem Gebiet der Weiterbildung einen größeren Teil zum Ganzen beisteuern. Schließlich funktioniert heute der Wettbewerb vorranging über unsere Köpfe. Um all diese Vorstellungen umsetzen zu können, uss ein Umdenken in der gesamten Bevölkerung statt- inden. Bildung sollte als unser bester und beständigster arktwert verstanden werden – als unser wahrer Reich- um. Dem entgegen rechnet man heutzutage Reichtum nd Gewinn in Bilanzen von Zahlen, also in Gewinn- nd Verlustrechnungen. Dabei setzt man fataler Weise den Faktor Bildung als tets gegeben voraus, so als führe dieser eine Eigenexis- enz und wäre – fast wie ein Naturgesetz – schon immer 12732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) vorhanden gewesen. Ist er aber nicht. In Wirklichkeit be- ruhen die originären Erfolgspotenziale auf den nicht bi- lanzierbaren menschlichen Fähigkeiten und Kompeten- zen. Der Versuch, diese dennoch bilanzieren zu wollen, zeigt sich schon in der Begriffswahl: Man nennt sie be- zeichnender Weise „Human- und Beziehungskapital“. Bildung zahlt die besten Zinsen! Bliebe alles beim Alten, zementierten wir in unver- antwortlicher Weise die gegenwärtige schlechte Lage. Und die ist bekanntlich traurig genug: – 10 Prozent der Schulabgänger eines jeden Jahrgangs haben keinen Schulabschluss und sind näher an Ar- mut und Abhängigkeit als an einem persönlichen und eigenständigen Lebensentwurf angesiedelt. Dies be- trifft vor allem Kinder aus einem Migrationsumfeld – mit unabsehbaren Folgen. – 20 Prozent der Jugendlichen gelten als nicht ausbil- dungsfähig. – 30 Prozent der Studentinnen und Studenten brechen ihr Studium ab. Genau dadurch entstehen die Kosten, die Bildung heute so teuer machen. Was – frage ich Sie – spricht also gegen das Vorha- ben, möglichst früh und intensiv in Bildung zu investie- ren? Ich meine, nichts. Im Gegenteil: Alles spricht dafür. Nur so überwinden wir die Bildungsarmut in Deutsch- land. Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bil- dungschancen sind Lebenschancen. Bildung ist der Schlüssel zu Beschäftigungssicherheit und zu gesell- schaftlicher Teilhabe. Deshalb können wir die gegen- wärtige Situation nicht hinnehmen: Es ist eine riesige Ungerechtigkeit, wenn die familiäre Herkunft die Zu- kunft von Kindern und Jugendlichen weitgehend vorbe- stimmt, wie es in Deutschland der Fall ist. Ich stimme also der Überschrift des Antrags der FDP voll zu: Ja, wir müssen Bildungsarmut möglichst schnell und effizient bekämpfen. Ja, wir brauchen möglichst ge- naue Informationen und präzise Instrumente um effektiv handeln zu können. Bei der Wahl der Instrumente hören unsere Überein- stimmungen leider schon auf. Es kann nicht unser Ziel sein, wie es die FDP vorschlägt, „theoriegeminderte Be- rufsbilder“ für die Jugendlichen einzuführen, die an An- forderungen einer „normalen“ Berufsausbildung schei- tern. Es muss vielmehr unser Ziel sein, alle Jugendlichen effektiver und intensiver zu fördern, und zwar durch mo- dularisierte und flexible Ausbildungswege, die zu einem vollen Beruf führen. Wir dürfen sie nicht abschreiben und zu billigen Arbeitskräften machen. Genau das würde nämlich die Einführung so genannter „theoriegeminder- ter Berufsbilder“ letztendlich bedeuten. „Theoriegeminderte Berufsbilder“ – das heißt in der Praxis Berufsbilder zweiter Klasse. Das würde zu der Logik, an der unser Schulsystem krankt, passen: Nicht fördern, sondern selektieren ist allzu oft das Motto. Im dreigliedrigen, höchst selektiven Schulsystem werden d n G s k d g s i A s s J s L z c o r a n m g tu b E s f f r A t K D E s s h v e c F e d R F d v s m l g a d e (C (D ie Kinder und Jugendlichen einfach aussortiert, die icht genau ins Anforderungsprofil einer Schule passen. erade Kinder mit Migrationshintergrund werden be- onders häufig ohne Rücksicht auf ihre Leistungsfähig- eit in Hauptschulen geschickt. Und selbst von dort wer- en sie oft noch in die nächste Instanz nach unten weiter ereicht. 1999 waren immerhin 15 Prozent der Sonder- chüler Jugendliche mit Migrationshintergrund, obwohl hr Anteil an Schulen nur 9,4 Prozent ausmachte. Wir brauchen also keine noch feinere Gliederung des usbildungssystems, das dann immer niedrigere An- prüche stellt. Was wir brauchen ist ein gründlicher Per- pektivwechsel: Das Problem sind nicht die Kinder und ugendlichen, es ist das sozial ausgrenzende Bildungs- ystem: Unser selektives Schulsystem ist nicht in der age, das maximale Potenzial in jedem einzelnen Kind u wecken. Fördermaßnahmen, die Jugendliche errei- hen, wenn sie erst mal auf dem Abstellgleis Haupt- der Sonderschule gelandet sind, greifen zu spät. „Theo- iegeminderte Berufsbilder“ zu schaffen, heißt deshalb, n den Symptomen herumdoktern und die Probleme icht angehen. Es ist also die alte Schulstrukturfrage, an die wir uns it neuen Argumenten heranwagen müssen: Das drei- liedrige Schulsystem hat versagt, sowohl unter Leis- ngs- als auch nach Gerechtigkeitsaspekten. Stattdessen rauchen wir eine leistungsstarke Schule für alle Kinder. ine Schule für alle – das ist heute allgemein bekannt – teht nicht für softe Kuschelpädagogik. Sie steht gerade ür mehr Leistungsfähigkeit und individuelle Förderung, ür mehr Chancengerechtigkeit und Leistungsorientie- ung gleichermaßen. Anders gesagt: Sie steht für die usschöpfung aller Begabungsreserven. Wesentlich für die Bekämpfung der Bildungsarmut ist atsächlich eine gezielte Sprachförderung, vor allem für inder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. enn Sprache ist sowohl der Schlüssel zu schulischem rfolg als auch zu gesellschaftlicher Teilhabe. Soweit ind wir uns einig. Die FDP-Fraktion sollte nicht zu kurz pringen. Alle Kinder und Jugendlichen mit Migrations- intergrund und nicht nur die Vorschulkinder müssen on der Sprachförderung profitieren. Sonst riskieren wir ine lost generation von schlecht integrierten jugendli- hen Migrantinnen und Migranten, mit all den sozialen olgen, die aus mangelnder Teilhabe an der Gesellschaft rwachsen. Finanziell in der Verantwortung dafür stehen aller- ings die Länder und leider nicht der Bund, etwa im ahmen der Integrationsförderung, wie es im Antrag der DP angedeutet wird. Bildungsarmut in Deutschland bekämpfen und Bil- ungschancen gerechter zu verteilen – die von der FDP orgeschlagenen Instrumente greifen diesbezüglich chlicht zu kurz. Um die Bildungsarmut zu bekämpfen, üssen wir das Bildungssystem von seinen Wurzeln her eistungsfähiger und gerechter gestalten. In meinen Au- en soll auch weiterhin der Bund hierfür mit in der Ver- ntwortung stehen, insbesondere bei der beruflichen Bil- ung und auch beim lebenslangen Lernen. Deshalb rwarte ich, dass wir, Bund und Länder gemeinsam, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12733 (A) ) (B) ) Wege finden und eben keine neuen, föderalen Blockaden aufbauen. So können schnell und konsequent die nötigen Veränderungen vorgenommen werden. Ulrike Flach (FDP): Die Gefahr, arbeitslos zu werden, ist für jemanden ohne einen Schulabschluss fast zehnmal höher als für jemanden mit einem aka- demischen Grad. Bildung ist nicht nur eine Investition in die Zukunft, sondern auch in die ökonomische Sicher- heit. Umgekehrt ist mangelnde Bildung ein Risiko für den ökonomischen Erfolg des Einzelnen. Seit Beginn der 80er-Jahre liegt der Anteil derjenigen, die eine allgemein bildende Schule ohne einen Haupt- schulabschluss verlassen, bei circa 10 Prozent. Im letz- ten Jahr waren das fast 90 000 Jugendliche, wobei der Anteil der männlichen Jugendlichen deutlich höher ist als der der Mädchen. Nach der OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ ist der Anteil der deutschen Jugendli- chen zwischen 15 und 19 Jahren, die weder eine Ausbil- dung machen noch eine Arbeit haben, sehr hoch. Wir lie- gen mit fünf Prozent bei männlichen und fünf Prozent bei weiblichen Jugendlichen schlechter als Frankreich, die Niederlande, Irland oder Norwegen. Der OECD-Be- richt stellt fest: Jugendliche mit geringen Qualifikationen laufen eine erhöhte Gefahr, langfristig arbeitslos zu wer- den, instabile oder unbefriedigende Beschäfti- gungsverhältnisse zu finden, was weitere negative Konsequenzen, wie soziale Ausgrenzung mit sich bringen kann. Die FDP hat immer die Auffassung vertreten, dass die Chancen am Start gleich sein müssen. Deshalb brauchen wir gerade für junge Menschen aus bildungsfernen Fa- milien und für Kinder aus Migrantenhaushalten eine bes- sere Förderung. Noch immer sind fast 40 Prozent, der ju- gendlichen Zuwanderer ohne jede Ausbildung. Wir wollen zunächst eine bessere Datenbasis. Dazu gehört die verstärkte Bildungsforschung, aber auch die Aufnahme von Daten über Bildungsarmut in den Zwei- ten Armutsbericht der Bundesregierung. Wir wollen eine modulare Berufsausbildung, die auch theorieschwachen Jugendlichen die Möglichkeit gibt, Teilqualifikationen zu erwerben. Die Aussagen von Herrn Brase gestern im Ausschuss geben mir Hoffnung, dass auch die SPD einer modularen Berufsausbildung et- was abgewinnen kann. Wir wollen eine verbindliche Sprachförderung für Migranten, die überprüfbar die deutsche Sprache als die Eintrittskarte in unsere Gesellschaft vermittelt. Wir brauchen neue Formen der Finanzierung von Bildung. Ich freue mich, dass die Vergabe von Bildungskrediten seit ihrer Einführung 2001 jährlich Zuwächse verzeich- net. 2001 waren es rund 5 000, 2003 schon 12 200 Kre- ditverträge zu rund 3 Prozent Zinsen. Von besonderer Bedeutung ist die Förderung der Wei- terbildung. Es sind leider gerade die gering Qualifizier- ten, die allein Erziehenden und die Migranten, die am wenigsten an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. D s n n d n k n g B w v z s l W s U w a a S V W U U A e D D m m B u s o l 9 d V R 6 n s M (C (D as heißt, gerade die, die es am Arbeitsmarkt besonders chwer haben, tun zu wenig für ihre Fortbildung. Wir alle reden über Konzepte des lebenslangen Ler- ens. Ich finde die Anregungen im Konzept „Bildung eu denken!“, das Professor Lenzen für die Vereinigung er Bayerischen Wirtschaft erarbeitet hat, sehr span- end. Es bietet ein finanziell durchgerechnetes Gesamt- onzept der Bildungsförderung bis ins hohe Erwachse- enalter. Darin finden sich zwar auch Punkte, die nicht erade der Beschlusslage der FDP entsprechen, zum eispiel das soziale Pflichtjahr; aber das Konzept ist ein ichtiger Anstoß, endlich die Bildung des Menschen on der Wiege bis ins hohe Alter insgesamt in den Blick u nehmen. Deutschland gibt im OECD-Vergleich nach wie vor owohl für Bildungseinrichtungen als auch für die Schü- er pro Kopf weniger aus als der OECD-Durchschnitt. ir erreichen keine 6 Prozent des BIP, während die kandinavischen Länder, aber auch Frankreich, Mexiko, SA, Kanada, Österreich und Großbritannien zum Teil eit vor uns liegen. Bildungsarmut zu bekämpfen kostet Geld. Bildungs- rmut in Deutschland weiter anwachsen zu lassen, kostet ber noch viel mehr Geld, aufgrund der Folgekosten wie ozialhilfe, Arbeitslosengeld, Verlust von Kaufkraft und erringerung der Zahlungen in unsere sozialen Systeme. ir können uns Armut im Bildungsbereich nicht leisten! nser Antrag macht konkrete Vorschläge. Wir bitten um nterstützung. nlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Stabilisierung und Weiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens (Tagesordnungspunkt 10) Wolfgang Spanier (SPD): Wir haben die Initiative rgriffen, um das genossenschaftliche Wohnen in eutschland zu stabilisieren und weiterzuentwickeln. ie SPD-Bundestagsfraktion unterstützt diese Initiative it Nachdruck. Lassen Sie mich zunächst einige grundsätzliche Be- erkungen machen. Vielen ist nicht bewusst, welche edeutung der genossenschaftliche Sektor insgesamt in nserer Wirtschaft hat. In Deutschland ist die Genossen- chaftsorganisation die mitgliederstärkste Wirtschafts- rganisation. Praktisch jeder Landwirt, 60 Prozent al- er Handwerker, bei Bäckern und Metzgern sind es 0 Prozent, 75 Prozent aller Einzelhändler sind Mitglie- er in Genossenschaften. Im Bankensektor spielen die olksbanken und die Raiffeisenbanken eine wichtige olle. In den Genossenschaftsorganisationen arbeiten 00 000 Menschen. Ähnliches gilt für den besonderen Bereich der Woh- ungsgenossenschaft. Die rund 2 000 Wohnungsgenos- enschaften in unserem Land haben mehr als 3 Millionen itglieder und verfügen über einen Bestand von 12734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) 2,2 Millionen Wohnungen, das heißt über 10 Prozent der Mietwohnungen in Deutschland. Sie sind ein wichtiger Partner der Politik für die Wohnraumversorgung, aber auch für die wichtigste Zukunftsaufgabe der Städtebau- und Wohnungspolitik: den Umbau unserer Städte ange- sichts der demographischen Entwicklung und Binnen- wanderung. Der frühere Bundesminister Kurt Bodewig hat im Juli 2002 eine Expertenkommission „Wohnungsgenos- senschaften“ mit dem Ziel einberufen, das selbstbe- stimmte genossenschaftliche Wohnen als dritte tragende Säule neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnei- gentum weiterzuentwickeln und die Zukunft der genos- senschaftlichen Idee zu sichern. Die Kommission wurde vom Minister Manfred Stolpe bestätigt, verbunden mit dem Auftrag, neben einer Analyse Vorschläge und Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die sich an den Gesetzgeber und an die Wohnungsgenossenschaften selbst richten. Im April dieses Jahres hat die Kommission unter dem Vorsitz von Jürgen Steinert, dem früheren Präsidenten des GdW, einen ausführlichen Bericht vorgelegt. Die Empfehlungen an den Bundesgesetzgeber wollen wir im Parlament aufgreifen, in den kommenden Monaten im Parlament und in der interessierten Öffentlichkeit bera- ten, um dann, so hoffe ich, zu Entscheidungen zu kom- men. Im Namen meiner Fraktion möchte ich der Kommis- sion ausdrücklich danken. Der Bericht gibt uns die Mög- lichkeit, uns über die Besonderheiten und Potenziale des genossenschaftlichen Wohnens umfassend zu informie- ren. Sehr präzise werden die Handlungsfelder aufge- zeigt, in denen das genossenschaftliche Wohnen gestärkt werden kann. Hilfreich für die Politik sind die konkreten Empfehlungen der Kommission. Wenn ich vorhin das genossenschaftliche Wohnen als dritte Säule bezeichnet habe, die es zu stärken gilt, so füge ich hinzu, dass es uns nicht um eine Bevorzugung geht, sondern dass wir das genossenschaftliche Wohnen als gleichberechtigte Wohnform neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnen im Eigentum verstehen. Es ist aber an der Zeit, unser Augenmerk auf diese zukunfts- weisende Wohnform zu richten. Wohnungsgenossenschaften haben in Deutschland eine mehr als hundertjährige Tradition. Sie folgen den Grundsätzen der Selbstverwaltung und Selbstverantwor- tung, der Selbsthilfe und gegenseitigen Hilfe. Es ist eine besondere Ausprägung des gemeinschaftlichen Woh- nens. Die Genossenschaften sind diesem Leitbild ver- pflichtet. Allerdings gibt es eine große Vielfalt und durchaus eine unterschiedliche Ausprägung, diese Prin- zipien umzusetzen. Die lange Geschichte der genossenschaftlichen Idee und der Wohnungsgenossenschaften verleitet möglicher- weise dazu, diese Idee und diese Wohnform für traditio- nell, gleichsam für „verstaubt“ und für „überholt“ zu halten. Ich bin davon überzeugt: Genau das Gegenteil ist richtig. Diese Prinzipien und diese Wohnform sind zu- k g V s f A H W E W v ö d w s e S c d M e b l n g S e m d b i m a M W p e R h u a n g B A E F § w g t s h (C (D unftsweisend. Wir sind mittendrin im tief greifenden esellschaftlichen Veränderungsprozess. Die deutliche eränderung im Altersaufbau unserer Gesellschaft, die chon eingesetzt hat und sich verstärken wird, der mittel- ristig einsetzende Rückgang der Bevölkerung und die uswirkungen der Binnenwanderung, sind die zentrale erausförderung gerade auch in der Städtebau- und ohnungspolitik, keineswegs nur in der Sozialpolitik. Genossenschaften sind Ausdruck bürgerschaftlichen ngagements. Das Genossenschaftseigentum als dritter eg zwischen Wohneigentum und Miete verbindet pri- ates Kapital mit gemeinschaftlichen Projekten. Dies er- ffnet Chancen, insbesondere für Menschen, die sich in- ividuelles Wohneigentum nicht leisten können oder ollen. Als gemeinschaftliche Wohnform hat das genos- enschaftliche Wohnen auch besondere Potenziale, wenn s darum geht, Stadtquartiere zu entwickeln, unsere tädte als soziale Städte zu stabilisieren und zu entwi- keln. Beim Verkauf von Wohnungsbeständen ist die Grün- ung einer Bewohnergenossenschaft eine interessante öglichkeit der Mieterprivatisierung, für die es bereits rfolgreiche Beispiele gibt. Wohnungsgenossenschaften können nicht nur einen esonderen Beitrag zur sozialen Quartiersentwicklung eisten. Ich will ausdrücklich nicht damit sagen, dass icht auch Wohnungsgesellschaften und private Wohnei- entümer daran mitwirken können, aber von ihrem elbstverständnis her müsste es für Genossenschaften ine Selbstverständlichkeit sein. Die demographische Entwicklung zwingt die Kom- unen, auch den ländlichen Raum, und natürlich auch ie Städtebau- und Wohnungspolitik stärker noch als isher das Wohnen für junge Familien und das Wohnen m Alter stärker im Blickfeld zu haben. Es sei noch ein- al ausdrücklich versichert, dass die gleiche Zielsetzung uch für die anderen Wohnformen, dem Wohnen zur iete und dem Wohnen im privaten Eigentum gelten. Der besondere Charakter des gemeinschaftlichen ohnens und der geringe Anteil von privatem Eigenka- ital am Erwerb von Genossenschaftsanteilen bieten ine interessante Alternative für diese Zielgruppen. Eine eihe von Wohnungsgenossenschaften zeigen bereits eute erfolgreich, wie solche zukunftsweisenden Wohn- nd Nachbarschaftsformen aussehen können. Sie zeigen uch, wie attraktiv dies für viele Menschen ist. Ich nenne ur ein Beispiel aus meiner ostwestfälischen Heimatre- ion: die Wohnungsgenossenschaft „Freie Scholle“ in ielefeld. Natürlich stellt sich sofort die Frage nach der Förderung. ls wir 1991 gemeinsam mit der heutigen Opposition das igenheimzulagegesetz beschlossen haben, haben wir die örderung des Erwerbs von Genossenschaftsanteilen im 17 a des Eigenheimzulagengesetzes vereinbart. Damit ar zum ersten Mal diese Förderung möglich, allerdings ab es in der Umsetzung von Anfang an Schwierigkei- en, weil eben das private Eigentum und das genossen- chaftliche Eigentum voneinander getrennt sind, sodass ier eine Art „Zwitter“ entstand. Mir ist es wichtig fest- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12735 (A) ) (B) ) zuhalten, dass mit der Streichung der Eigenheimzulage auch dieses zarte Pflänzchen der Genossenschaftsförde- rung, so problematisch es sein mag, wegfällt. Umso mehr halte ich es für geboten, dass wir uns mit den ent- sprechenden Empfehlungen der Expertenkommission auseinander setzen. Die Kommission richtet ihre Empfehlungen an die Wohnungsgenossenschaften selbst und an die Politik und damit auch an uns, den Bundesgesetzgeber. Die Wohnungsgenossenschaften haben dies bereits aufge- griffen, unter anderem der Gesamtverband der Woh- nungswirtschaft, GdW. Wir begrüßen dies ausdrücklich. Denn es ist ureigenes Interesse der Wohnungsgenossen- schaften, ihr genossenschaftliches Leitbild verstärkt in die Öffentlichkeit zu tragen, die genossenschaftliche Idee zu revitalisieren, ihre Potenziale durch zukunfts- weisende Projekte nachzuweisen. Selbsthilfe bzw. ge- genseitige Hilfe ist gerade auch für die kleinen Genos- senschaften besonders wichtig. Sie werden es bei einem sich verschärfenden Wettbewerb auf dem Wohnungs- markt in der Zukunft nicht leicht haben. Hier ist der Vor- schlag der Kommission, Dachgenossenschaften zu bil- den, ein hilfreicher Vorschlag. Die bestehenden Genossenschaften müssten auch an der Neugründung von Genossenschaften, vor allem von Bewohnergenos- senschaften, ein großes Interesse haben, weil neu gegründete Genossenschaften zur Stärkung der genos- senschaftlichen Idee beitragen und weil es in der Bevöl- kerung offensichtlich ein wachsendes Bedürfnis nach gemeinschaftlichen Wohnformen, besonders für das Wohnen im Alter, gibt. Aber auch der Deutsche Bundestag ist gefordert. Mit unserem Entschließungsantrag greifen wir Empfehlun- gen der Expertenkommission auf. Wir fordern die Bun- desregierung auf, eine breite gesellschaftliche Diskus- sion des individuellen und gesellschaftlichen Nutzens genossenschaftlichen Wohnens gemeinsam mit den Kommunen, Wohnungsgenossenschaften und Verbänden einzuleiten. Wir wollen, dass durch Modellvorhaben und Pilot- projekte neue Impulse gegeben werden, um in den Kom- munen bei der Stadt- und Quartiersentwicklung den Genossenschaftsgedanken zu stärken, Strukturen zur Unterstützung kleiner Wohnungsgenossenschaften und neuer genossenschaftlicher Wohnprojekte zu schaffen. In diesem Zusammenhang unterstreicht die Experten- kommission, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen allenfalls in wenigen kleineren Punkten verändert wer- den sollten. Die Expertenkommission stellt ausdrücklich fest, dass sich das deutsche Genossenschaftsgesetz be- währt hat. Das sehen wir auch so. Dennoch wollen wir, dass im Rahmen der Modernisierung des Genossen- schaftsgesetzes auf eine Flexibilisierung und Erleichte- rung der Gründung von Genossenschaften sowie eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für kleinere Ge- nossenschaften hingewirkt wird. Interessant sind auch die Vorschlage der Kommission, wie das genossenschaftliche Wohnen die staatlich gefor- derte private Altersvorsorge ergänzen kann. Diese Vor- schläge gilt es zu prüfen, möglicherweise auch im Rah- m a s t D w n k s e s l b n d d A s u r d B a s h s t v ü d m A s f d d i g h d G g D w w s R d P (C (D en der Modellvorhaben. Die Kommission geht davon us, dass Vorsorgeangebote von Wohnungsgenossen- chaften dazu beitragen können, die Wohnkostenbelas- ung im Alter zu reduzieren und kalkulierbar zu machen. ie Bundesregierung wird daher aufgefordert zu prüfen, elche Angebote zur privaten Altersvorsorge Woh- ungsgenossenschaften machen können, um die Wohn- ostenbelastung im Alter zu reduzieren. An dieser Stelle ei angemerkt, dass wir die gleiche Frage demnächst in iner Anhörung des Deutschen Bundestages auch für das elbst genutzte private Wohneigentum erörtern werden. Es ist uns gelungen, im Haushalt insgesamt 2,8 Mil- ionen Euro für diese Modellvorhaben und Pilotprojekte ereitzustellen. Mit diesem Entschließungsantrag der Koalition eröff- en wir die parlamentarische Beratung, die wir dann in en Ausschüssen intensivieren. Das sind wir nicht nur er Expertenkommission schuldig, das sind wir auch der ufgabe schuldig, das genossenschaftliche Wohnen zu tabilisieren und weiter zu entwickeln. Auf vielen Veranstaltungen in den letzten Wochen nd Monaten habe ich, erfahren, dass es ein großes Inte- esse an diesem Vorhaben gibt, nicht nur bei den Verbän- en und in der Fachwelt, auch bei vielen interessierten ürgerinnen und Bürgern. Es mag eine Minderheit sein, ber dennoch weiß ich von vielen Initiativen, die Vor- tellungen vom gemeinschaftlichen Wohnen im Alter aben und dabei an die Organisationsform der Genos- enschaft denken. Beklagt wird oft, dass es zu wenig Un- erstützung gibt. Ich weiß von einer Reihe von Initiati- en, die zum Verkauf gestellte Wohnungsbestände bernehmen wollen, aber nicht im Privateigentum, son- ern als Genossenschaft, um ganz bewusst den Zusam- enhalt in ihrem Quartier zu erhalten und zu stärken. uch dieses bürgerschaftliche Engagement wollen wir tützen. Wir freuen uns auf spannende Diskussionen, die hof- entlich auch zu konkreten Ergebnissen führen. Klaus Minkel (CDU/CSU): Über 20 Jahre habe ich em Aufsichtsrat einer Baugenossenschaft als Vorsitzen- er oder als stellvertretender Vorsitzender angehört. Da st es mir eine besondere Freude, heute eine Lanze zu- unsten der Baugenossenschaften brechen zu dürfen. Als Ertrag eines über hundertjährigen Wirkens sind eute 2,1 Millionen Genossenschaftswohnungen vorhan- en. Diese Zahl kennzeichnet die wahre Leistung der enossenschaften nur unvollkommen, da in der Vergan- enheit getreu dem obersten Ziel von Hermann Schulze- elitzsch auch zahlreiche Eigenheime und Eigentums- ohnungen entstanden sind. Mit 2,1 Millionen Bestands- ohnungen sind die Genossenschaften ein wichtiges oziales Korrektiv, da bei den Genossenschaften in der egel die soziale Bindung nicht mit dem Ablauf der Bin- ungsfrist endet. Der Kommissionsbericht wäre ohne die aktuellen robleme der Genossenschaften sicher nicht entstanden. 12736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Im Osten haben wir das Leerstands- und Abbruchpro- blem. Wenn aus dem Aufbau Ost Chefsache wird, kann daraus leicht Abbruch Ost werden. Im Westen gibt es auch schon Abbruchprobleme, aber noch mehr Sanie- rungsprobleme. Die Sozialwohnungen der 50er- und 60er-Jahre sind in der Regel zu klein ausgefallen und heute nicht mehr marktgerecht. Soweit wegen der Bestandsgefährdung nach Staats- hilfe gerufen wird, wird es sicher ohne Staatshilfe nicht gehen. Es muss aber auch danach gefragt werden, wa- rum es in vielen guten Jahrzehnten nicht möglich gewe- sen ist, im Westen einen Solidarfonds aufzubauen. Das hätte dem genossenschaftlichen Prinzip entsprochen. Auch beim Bestandserwerb wird nach Staatshilfe ge- rufen. Es ist ein schwerer Verlust, wie zurzeit öffentli- ches Vermögen verschleudert wird. Die Wohnungen der Rentenversicherung sind für 25 000 Euro/Wohnung an das Ausland verramscht worden, damit die Renten noch einmal gezahlt werden konnten. Hätten die Genossen- schaften im Wege der Selbsthilfe eine leistungsfähige Dachgenossenschaft aufgebaut, hätte der Vermögens- wert für Deutschland erhalten werden können. Nun wird das Ausland extrem hohe Renditen erzielen. In Hessen achtet die Landesregierung immerhin darauf, dass Ge- nossenschaftswohnungen in Genossenschaftshand blei- ben. Im Bericht wird die Verknüpfung von Genossen- schaftsfinanzierung und Alterssicherung durch. Anteile oder stille Einlagen vorgeschlagen. Dagegen ist nichts zu sagen. Der Vorschlag bleibt aber Wunschdenken, so- lange es an der Dividendenfähigkeit und der Einlagensi- cherung fehlt. Nur 25 Prozent der Genossenschaften im Westen, 5 Prozent im Osten schütten Dividenden aus. Auch ist es nicht nachvollziehbar, dass die Genossen- schaftswohnungen als kleine, aber feine Nische bei der Alterssicherung begünstigt werden, nicht aber das Ei- genheim, die Eigentumswohnung. Hier darf es keine Un- gleichbehandlung geben. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Bericht sehr po- sitiv zum Eigentum ausspricht. Es ist dann aber wider- sprüchlich, dass die Eigenheimzulage vollständig aufge- geben werden soll, damit die soziale Stabilisierung von Quartieren besser gefördert werden kann. Die beste so- ziale Stabilisierung erreicht man in Eigenheimquartie- ren. Auch ist es nicht richtig, selbst auf Kosten anderer genesen zu wollen nach dem Motto, wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht. Man würde sich über 80 Prozent der Bevölkerung hinwegsetzen, für die das Eigenheim das oberste materielle Ziel ist. Mieter sind mehrheitlich leider verhinderte Eigentümer. Die Union ist für eine umfassende Stärkung der Ge- nossenschaftsidee. Die Union ist für eine Stärkung durch Dachgenossenschaften. Es muss kritisch gefragt werden, warum es die nicht schon lange gibt. Die Union ist für die Grundsteuerbefreiung im Verkehr der Genossen- schaften untereinander, um Fusionen zu erleichtern. Die Union ist dagegen, dass § 17 Eigenheimzulagen- gesetz die Genossenschaftsförderung wieder unabhängig v d u t h z I F U B l t g 1 t S m r ü a g w u b m l s s l E n e w s d e s l g u d m S a g K i (C (D om Wohnen gewährt. Dafür waren die schwerwiegen- en Missbräuche zu zahlreich. Die Union ist für den Förderzweck wirtschaftliche nd Wohnbelange. Die Union ist gegen ideelle und kul- urelle Förderzwecke. Die Erfahrungen der Vergangen- eit sprechen dagegen. Auch ist das Wohnen ein Rück- ugsbereich des Privaten, der eine Politisierung und deologisierung nicht verträgt. Wir sind für häuslichen rieden statt für kulturellen Häuserkampf. Der Bericht ergibt einen großen Beratungsbedarf. Die nion freut sich auf die Beratungen im Ausschuss. Gerhard Wächter (CDU/CSU): Aus den bisherigen eiträgen meiner Vorredner ist übereinstimmend deut- ich geworden, dass die Grundidee der Genossenschaf- en, speziell auch der Wohnungsgenossenschaften, heute enauso aktuell und modern ist, wie vor mehr als 00 Jahren: das am Eigen- wie auch Gemeinwohl orien- ierte Prinzip der Selbstverantwortung, Selbsthilfe und elbstverwaltung. Gerade in wirtschaftlichen und sozialen Krisenzeiten üssen wir an unsere Bürgerinnen und Bürger appellie- en, mehr Selbstverantwortung für sich und andere zu bernehmen, Selbsthilfe zu mobilisieren, weil der Staat n die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Wohnungs- enossenschaften sind ein guter Partner der Politik, enn es darum geht, für unsere Bürger altersgerechten nd günstigen Wohnraum zu schaffen. Sie haben sich ewährt, sie sind eine wichtige Säule des Wohnungs- arktes. Wir müssen aber feststellen, dass die Mitgliederzah- en seit Ende der 90er-Jahre in den alten Bundesländern tagnieren, in den neuen Bundesländern sogar leicht inken. Die Frage nach der Zukunft des genossenschaft- ichen Wohnens ist deshalb wichtig und richtig. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Bericht der xpertenkommission. Darin wird dem Modell des ge- ossenschaftlichen Wohnens grundsätzlich das Potenzial ingeräumt, auf dem zukünftigen Wohnungsmarkt auch eiterhin eine wichtige Rolle zu spielen. Der Bericht beinhaltet durchaus überlegenswerte An- ätze. Inwieweit die Politik nun dazu beitragen kann, auf iese Form des Wohnens positiv einzuwirken, wird noch ingehend zu erörtern sein. Vernünftigen Vorschlägen tehen wir offen gegenüber. Sie alle wissen, dass die demographische Entwick- ung uns in der Städtebau- und Wohnungspolitik vor roße Herausforderungen stellt. Die Zusammensetzung nserer Gesellschaft ändert sich, nicht nur in Bezug auf as Alter. Eine solche dramatische Veränderung erfordert einen odernen und facettenreichen Wohnungsmarkt und tädtebau. Das ist eine große Herausforderung, aber uch eine große Chance, nicht zuletzt für die Wohnungs- enossenschaften. Daher stehen wir dem Antrag der oalitionsfraktionen in den Punkten positiv gegenüber, n denen es um die Initiierung einer breiten gesellschaft- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12737 (A) ) (B) ) lichen Debatte und Entwürfe von Modellvorhaben und Projekten geht. Positiv bewerten wir auch, dass die Bundesregierung dazu aufgefordert wird, die Einbeziehung von Woh- nungsgenossenschaften in die Altersvorsorge zu prüfen. Doch wir mahnen an, diesen Aspekt nicht einseitig zu betrachten. Die Integration in die Altersvorsorge darf nicht auf das Modell der Wohnungsgenossenschaften be- schränkt sein, sondern das Thema Wohnimmobilie als Bestandteil der Altersvorsorge muss grundsätzlich ange- gangen werden. Vorsicht ist geboten, wenn es darum geht, neue För- derinstrumente ins Leben zu rufen. Ich sage dies im Hin- blick auf die Forderung, die Sie unter Punkt 5 Ihres An- trages formulieren, und zwar die Überprüfung der Empfehlungen der Kommission zu speziellen Förder- maßnahmen. Das Wort „prüfen“ ist gut, aber die Emp- fehlungen der Kommission dürfen nicht zu einem Selbstläufer werden. Deutschlands finanzielle Lage lässt keine großen Sprünge zu. Im Gegenteil, die Förder- und Subventionspolitik in Deutschland gehört generell auf den Prüfstand. Daher muss auch jede Überlegung, neue Fördermaßnahmen ins Leben zu rufen, auf Herz und Nieren geprüft werden. Wenn Förderpolitik unverzichtbar ist, dann muss sie nicht nur zielgerichtet, sondern auch verlässlich sein. Unberechenbares Taktieren – wie bei der Eigenheimzu- lage – zerstört Vertrauen. Umso wichtiger ist es, dass die staatlichen Rahmenbedingungen verlässlich sind. Und da habe ich angesichts der bisherigen Erfahrungen mit der Politik der jetzigen Bundesregierung erhebliche Zweifel. So ehrenwert Ihre Ansätze zur Stabilisierung und Weiterentwicklung von Wohnungsgenossenschaften sind, sie passen nicht zu Ihrem Verhalten. Zum einen ziehen Sie neue Fördertatbestände zuguns- ten der Wohnungsgenossenschaften in Betracht, auf der anderen Seite stellen Sie mit der immer wieder in Gang gesetzten Diskussion um die Aufhebung der Eigenheim- zulage ein erfolgerprobtes Förderinstrument zur Disposi- tion. Das passt nicht zusammen. Angesichts dieser Widersprüche kommt der Verdacht auf, dass Sie eine bestimmte Ziel- bzw. Wählergruppe bedienen wollen, oder, was noch schlimmer wäre, Sie haben schlichtweg kein ganzheitliches Konzept, was die Wohnraumversorgung unserer Bevölkerung in der Zu- kunft anbelangt. Ich stelle für meine Fraktion fest: Wohnungsgenos- senschaften sind sinnvoll, sie sind neben dem privat ge- nutzten Eigenheim und der Mietwohnung eine wichtige Säule. Unsere Aufgabe muss es sein, den Wohnungsge- nossenschaften gewissermaßen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Dass heißt, wir müssen die entsprechenden Rah- menbedingungen schaffen. Rahmenbedingungen, die den Wohnungsgenossenschaften Freiräume eröffnen, die sie von zusätzlichen Belastungen befreien und ihnen die Chance geben, sich aus eigener Kraft, im Wettbewerb auf dem Wohnungsmarkt zu behaupten. g w a i G m v t d S i l W e s z g S n a t w t g v m V g g l a o n li h M s m M s li c i s m B s g d g f (C (D Maßvollen Vorschlägen – zum Beispiel zu Änderun- en im Steuerrecht oder auch Genossenschaftsrecht – ird sich die Union nicht verschließen. Wir freuen uns uf intensive und hoffentlich konstruktive Beratungen m Ausschuss. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE RÜNEN): Im April dieses Jahres hat die Expertenkom- ission „Wohnungsgenossenschaften“ ihren Bericht orgelegt. Mit unserem Antrag möchten wir, Bundes- agsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, as genossenschaftliche Wohnen als dritte tragende äule, neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnen m Eigenheim, stärken. Wir setzen uns auf der Grund- age des Expertenberichts für eine Stabilisierung und eiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens in. Die Empfehlungen der Expertenkommission müs- en genauestens geprüft und erprobt werden. Das Poten- ial der Wohnungsgenossenschaften ist noch nicht aus- eschöpft! Die genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe, elbstverwaltung und Selbstverantwortung sind nicht ur Basis für eine moderne Zivilgesellschaft, sie sind uch wichtige Stabilisatoren für ein Quartier. Dieses Po- enzial muss erkannt und von den Kommunen genutzt erden. In den Wohnungsgenossenschaften wird priva- es Kapital für gemeinschaftliche Projekte genutzt. Auf- rund der schlechten Haushaltslage muss es zukünftig erstärkt zu privaten gemeinnützigen Aufgaben kom- en. Die Wohnungsgenossenschaften spielen dabei eine orreiterrolle. Neben dem gesellschaftlichen Nutzen der Wohnungs- enossenschaften profitieren auch bestimmte Personen- ruppen von der nachbarschaftlichen und gemeinschaft- ichen Wohnform, zu nennen sind vor allem ältere oder llein stehende Menschen, aber auch Alleinerziehende der Familien, die auf Hilfe angewiesen sind. Das ge- ossenschaftliche Wohnen ist sozial und integrativ. Durch das Dauernutzungsrecht ist das genossenschaft- che Wohnen eine langfristige und sichere Wohnform mit oher Qualität. Es vereint die Vorteile des Wohnens zur iete mit denen des Wohnens im Eigenheim. Als wirt- chaftliche Miteigentümer des genossenschaftlichen Ge- einschaftseigentums haben Genossenschaftsmitglieder itspracherechte und Dauernutzungsrechte. Dadurch be- teht Schutz vor Verdrängung und Kündigung. Zur Stabi- sierung und Weiterentwicklung des genossenschaftli- hen Wohnens fordern wir die Bundesregierung auf: Erstens. Eine breite gesellschaftliche Diskussion des ndividuellen und gesellschaftlichen Nutzens genossen- chaftlichen Wohnens zu initiieren. Dazu müssen Kom- unen, Wohnungsgenossenschaften und Verbände ins oot geholt werden. Zweitens. Durch Modellvorhaben und Pilotprojekte ollen neue Impulse für das genossenschaftliche Wohnen egeben werden. Der Genossenschaftsgedanke muss bei en Kommunen in der Stadt- und Quartiersentwicklung estärkt werden. Das genossenschaftliche Wohnen muss ür neue Bewohnergruppen attraktiv gemacht werden. 12738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Ebenso sollen eine private Altersvorsorge, in und mit Genossenschaften entwickelt werden. Drittens. Best-Practice-Beispiele und Arbeitshinweise sollen den Ländern, Kommunen, Verbänden und der in- teressierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wer- den. Viertens. Das genossenschaftliche Wohnen muss mit den bisherigen Instrumenten der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge verbunden werden. Fünftens. Die Modernisierung des Genossenschaftsge- setzes muss auf eine Flexibilisierung und Erleichterung der Gründung von Genossenschaften sowie Verbesserung der Rahmenbedingungen für kleine Genossenschaften zielen. Sechstens. Strukturen zur Unterstützung kleiner Wohngenossenschaften und Dachgenossenschaften müs- sen geschaffen werden. Wir hoffen auf breite Unterstützung unseres Antrages. Eberhard Otto (Godern) (FDP): Seit mehr als 100 Jahren sind die deutschen Wohnungsgenossenschaf- ten ein wichtiger Anbieter von preiswertem Wohnraum. Sie bieten unter anderem Wohnsicherheit, günstige Nut- zungsentgelte und neben der reinen Wohnraumversor- gung verfolgen sie auch freiheitliche Prinzipien wie das Identitätsprinzip, die Selbsthilfe, die Selbstverwaltung und die Selbstverantwortung. Gerade in den neuen Bundesländern hat dieses eine besondere Bedeutung; Wohnungsgenossenschaften ver- hindern so unter anderem zumindest teilweise eine noch stärkere Abwanderung. Demnach ist die Stärkung der Wohnungsgenossenschaften als eine Säule der Woh- nungsversorgung grundsätzlich zu begrüßen. Die FDP vertritt ein liberales Leitbild zur Wohnungs- politik, das von dem Obersatz „Durch mehr Markt zu ei- ner besseren, effizienteren und differenzierteren Woh- nungsversorgung“ geprägt ist. Wir wollen deshalb, dass möglichst viele Menschen in den eigenen vier Wänden wohnen und der Rest durch den Markt versorgt wird, der aus einer Vielzahl von Unternehmen und aus wohnungs- politischer Vielfalt besteht. Die FDP steht für Eigentum. Dazu zählt für uns aus- drücklich auch genossenschaftliches Eigentum, wenn die Eigentumsmerkmale ausreichend gewahrt sind. Das heißt: Durch den Erwerb von Genossenschaftsanteilen muss echtes Eigentum entstehen. Eine Grundeigenschaft von echtem Eigentum ist es, dass es auch vererbt werden kann. In der genossenschaftlichen Wohnform kann über Ge- nerationen Vermögen akkumuliert werden. Jedoch ist nach § 77 Genossenschaftsgesetz die Mitgliedschaft nicht voll vererbbar. Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf, um die fortlaufende Vermögensbildung abzusichern. r m m b 7 B s S A T t s w r g m l d a s e w s A z s w t s a w b N s v E a s g w e w Ä d r w s R a (C (D Die Genossenschaften verfügen über einen umfang- eichen Bestand an Genossenschaftswohnungen. Dieser uss auf seine Attraktivität für die Nutzer und seine Ver- arktung hin untersucht werden, bevor weiter neu ge- aut wird. Das heißt, in rückläufigen Märkten – über 0 Prozent der Wohnungsgenossenschaften in den neuen undesländern sind von Wohnungsleerstand betroffen – ind auch Bestandsverringerungen zur wirtschaftlichen tabilisierung notwendig. nlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weite- rer Gesetze (Zusatztagesordnungspunkt 6) Dr. Max Stadler (FDP): Es kommt sicher nicht alle age vor, dass ein Gesetz, das noch gar nicht in Kraft ge- reten ist, bereits wieder korrigiert werden muss. So ge- ehen ist es kein Ruhmesblatt für den Gesetzgeber, wenn enige Monate nach Verabschiedung des Zuwande- ungskompromisses schon wieder ein erstes Reparatur- esetz im Bundestag beraten und beschlossen werden uss. Allerdings muss zur Entschuldigung aller Betei- igten gesagt werden, dass die meisten Änderungen da- urch veranlasst worden sind, dass zwischenzeitlich zu nderen Materien Gesetzesbeschlüsse gefasst worden ind, an die das am 1. Januar 2005 in Kraft tretende Auf- nthaltsgesetz mit Nebenmaterien nunmehr angepasst erden muss. Demgemäß handelt es sich um eine ziemlich unüber- ichtliche Vielzahl von redaktionellen Änderungen und ngleichungen an andere Gesetze, die im Wesentlichen wischen den Fraktionen des Bundestages unstrittig ind. Gerade wegen der Kompliziertheit der Materie äre es aber angebracht gewesen, die Ausschussbera- ungen erst nach einem Berichterstattergespräch zwi- chen den Regierungs- und den Oppositionsfraktionen bzuschließen. Stattdessen hat die rot-grüne Koalition ieder einmal gezeigt, dass sie intern oft große Pro- leme hat, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. och bis Dienstag dieser Woche, also in letzter Minute, ind von der rot-grünen Koalition Änderungsanträge orgelegt worden. Da der Zuwanderungskompromiss am nde einvernehmlich vereinbart worden war, wäre es uch anzustreben gewesen, über das erste Änderungsge- etz Konsens zwischen den Fraktionen zu erzielen. Auf- rund des Zeitdrucks, den die Koalition selbst zu verant- orten hat, hat sie dann aber den Oppositionsfraktionen ine Berichterstatterrunde zur intensiven Beratung ver- eigert. Dennoch stimmt die FDP-Bundestagsfraktion dem nderungsgesetz zu, weil die vorgelegten Regelungen urchaus sachgerecht sind. Dies gilt sowohl für die Er- ichtung einer Fundpapierdatenbank beim Bundesver- altungsamt, mit der der Missbrauch, dass Ausländer ich bewusst ihrer Ausweispapiere entledigen, um einer ückführung zu entgehen, bekämpft werden soll, als uch für die Neuregelung, traumatisierten Personen me- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12739 (A) ) (B) ) dizinische Hilfe zukommen zu lassen. Es ist für die FDP nicht recht verständlich, warum die CDU/CSU-Fraktion im Innenausschuss diese letztere Maßnahme kritisiert hat. Denn für die Hilfeleistungen gegenüber Traumati- sierten existiert eine EU-Richtlinie, zu deren Umsetzung in nationales Recht die Bundesrepublik Deutschland ver- pflichtet ist. Es spricht daher nichts dagegen, diese ohne- hin notwendige Umsetzung der Richtlinie gleich im Än- derungsgesetz zum Aufenthaltsgesetz vorzunehmen. Die FDP kann sich auch der Kritik der CDU/CSU- Fraktion an einer Klarstellung im Bereich der Flücht- linge nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht an- schließen. Diese Flüchtlinge erhalten nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis, wenn ihnen vom Bundes- amt für Migration und Flüchtlinge mitgeteilt wurde, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rück- nahme der Anerkennung nicht vorliegen. Die Neurege- lung fingiert jetzt diese Mitteilung für diejenigen Aus- länder, die vor dem 1. Januar 2005 seit mehr als drei Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitzen. Damit wird unnötiger Verwaltungsaufwand vermieden. Denn ohne diese Klarstellung wäre das Bundesamt unter den zeitli- chen Druck geraten, in den verbleibenden Wochen des Jahres 2004 zahlreiche Einzelfälle zu prüfen und über die Mitteilung, dass keine Widerrufs- oder Rücknahme- gründe vorliegen, zu entscheiden. Eine ungerechtfertigte Bevorzugung ist mit der nun vorgesehenen gesetzlichen Fiktion nicht verbunden. So- bald nämlich im Einzelfall Anhaltspunkte dafür vorlie- gen, dass der Flüchtlingsstatus zu widerrufen oder zu- rückzunehmen sei, hat das Bundesamt nach wie vor das Recht, gemäß § 73 des Asylverfahrensgesetzes die Aner- kennung nach Ermessen wieder zu beseitigen. Also eig- net sich dieser Punkt nach Meinung der FDP ebenso we- nig für einen neuen politischen Streit in der Migrationsdebatte wie die vorgesehene Neuregelung, dass der Anspruch auf Teilnahme an Integrationskursen auch für die im Jahr 2004 anerkannten Asylbewerber gelten soll. Somit bleibt von denjenigen Punkten, die im Innen- ausschuss zu einer langen Debatte geführt haben, aus Sicht der FDP nur die Frage nach einer Altfallregelung übrig. Dass gerade darüber am längsten gesprochen wurde, ist etwas eigenartig, weil das heute zu beschlie- ßende Gesetz eine solche Bleiberechtsregelung für lange in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig lebende Ausländer gar nicht vorsieht Vielmehr handelt es sich um eine Frage, die im Rahmen des Zuwanderungskom- promisses nicht gelöst werden konnte, weil die CDU/ CSU zu einer Altfallregelung nicht bereit war. Ohne Zu- stimmung der Union kann sie auch jetzt nicht eingeführt werden. Aus Sicht der FDP wäre sie aber dennoch zweckmäßig, so wie sie auch vom Ausschuss für Men- schenrechte gefordert worden ist. Die praktische Erfah- rung lehrt, dass die Gründe für einen schon längeren Aufenthalt ohne gesicherten rechtlichen Status vielfältig sind. Keineswegs liegt immer ein Verschulden der Asyl- bewerber oder eine bewusste Ausnutzung von Möglich- keiten zur Verfahrensgestaltung vor. v t w d u g u o d t s s k V w e f d ü M a r l S x s z e D Q d g e s A ü g J b b s M d s s e l s (C (D Immer dann, wenn die Betroffenen nicht selbst zu ertreten haben, dass nach langen Jahren über ihren wei- eren Verbleib keine endgültige Entscheidung getroffen orden ist, wäre es aber richtig, auf den erreichten Stand er Integration in Deutschland abzustellen. Jeder von ns hat immer wieder mit Petitionen zu tun, mit denen anze Dorfgemeinschaften, die Kirchen, Arbeitgeber nd Sportvereine uns mitteilen, dass gerade der seit zehn der zwölf Jahren in Deutschland aufhältliche Auslän- er, der jetzt doch noch abgeschoben werden soll, bes- ens sozial und gesellschaftlich integriert sei. Mit einer innvollen Altfallregelung, die nicht etwa Gesetzesver- töße belohnt, aber erreichte Integration anerkennt, önnte hier durch den Gesetzgeber geholfen werden. Solange diese Position, die von der FDP auch in den erhandlungen zum Zuwanderungsgesetz klar vertreten orden ist, mit der CDU/CSU nicht gemeinsam zu ver- inbaren ist, muss man sich mit der Regelung für Härte- älle aus dem Zuwanderungskompromiss behelfen. Wie ie Länder, in deren Ermessen es übrigens liegt, ob sie berhaupt Härtefallkommissionen einrichten, diese öglichkeit praktizieren werden, muss man erst noch bwarten. Manche Vorstellungen bei den Zuwande- ungsverhandlungen gingen ja dahin, Härtefälle ledig- ich bei schwerer Krankheit oder ähnlichen persönlichen chicksalen anzunehmen. Die FDP meint, dass eine pra- isgerechte Anwendung zumindest auch einen Teil der o genannten Altfälle einbeziehen müsste. Da aber dieser Streitpunkt gar nicht Inhalt des heute u beschließenden Gesetzes ist, besteht kein Anlass zu iner aufgeregten Diskussion. Die Migrationspolitik in eutschland hat mit dem Zuwanderungsgesetz eine neue ualität erreicht. Nach den heute zu beschließenden re- aktionellen Änderungen, Anpassungen und geringfügi- en Ergänzungen sollte jetzt die Praxis eine faire Chance rhalten, die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes innvoll anzuwenden. nlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Scheinvaterschaften wirksam bekämpfen (Tagesordnungspunkt 11) Gabriele Fograscher (SPD): Wir diskutieren heute ber einen Antrag der CDU/CSU, der ein Thema auf- reift, das auf den ersten Blick Unverständnis hervorruft. eder kennt den Begriff der Scheinehe zur Erlangung un- efristeter Aufenthaltstitel. Diese ist in Deutschland ver- oten und strafbewehrt. Doch was ist eine Scheinvater- chaft und welche Ziele werden verfolgt? Bei einer Scheinvaterschaft erkennt ein deutscher ann ein ausländisches Kind als leibliches Kind an, das amit die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, und des- en Mutter, die meist einen ungesicherten Aufenthalts- tatus hat, erlangt dann zur Ausübung der Personensorge inen unbefristeten Aufenthaltstitel. Oder aber: Ein aus- ändischer ausreisepflichtiger Mann erkennt die Vater- chaft eines deutschen Kindes an und bekommt dadurch 12740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Mit dem unbefriste- ten Aufenthaltstitel steht in Deutschland auch der Zu- gang in die Sozialsysteme offen. In dem vorliegenden Antrag wird unterstellt, dass gezielt der Kontakt zwi- schen Mutter und möglichem Vater, der Sozialhilfeemp- fänger ist, hergestellt wird. Dem anerkennenden Vater würden aufgrund seiner Bedürftigkeit keine Unterhalts- kosten entstehen. Natürlich ist es völlig legal, wenn die Vaterschaft ei- nes leiblichen Kindes anerkannt wird und daraus für die Mutter oder den Vater ein unbefristetes Bleiberecht in Deutschland resultiert. Doch in den Fällen der Scheinva- terschaft ist der anerkennende Vater nicht der biologi- sche Vater und er hat kein Interesse an dem Kind und der Mutter; es wird kein Vater-Kind-Verhältnis angestrebt. Die Union erklärt nun in ihrem Antrag, es hätte in Deutschland von Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 1 694 Verdachtsfälle des Leistungsmissbrauchs und der Erschleichung von Aufenthaltstiteln durch Scheinvater- schaften gegeben. Damit wird ein Teil der Bevölkerung unter Generalverdacht genommen, denn es ist nicht gesi- chert, ob es sich bei diesen Zahlen wirklich um Schein- vaterschaften handelt oder die anerkennenden Väter nicht doch die biologischen Väter sind Väter bzw. Müt- ter mit ungesichertem Aufenthaltstitel sind nicht auto- matisch alles Fälle für Scheinvaterschaften, die Leis- tungsmissbrauch im Hinterkopf haben. Auf dieser ungesicherten Datenlage ist ein derart massiver Eingriff in das seit 1998 geltende neue Kindschaftsrecht, wie ihn die CDU/CSU fordert, nicht vertretbar. Es ist unstrittig: Das Kindeswohl und die Rechte des Kindes stehen im Vordergrund und müssen geschützt werden. Das Kind hat das Recht auf Abstammung und Umgang mit den leiblichen Eltern und auch dem rechtli- chen Vater. Das Kindschaftsrecht soll weder rückgängig gemacht noch ausgehebelt werden. Eine Rückkehr zur Amtspflegschaft, die automatisch alle alleinstehenden Mütter betraf, ist für uns ausgeschlossen. Für uns ist es allerdings auch nicht hinnehmbar, dass mit der Notlage von Müttern mit kleinen Kindern Geschäfte gemacht werden. Es ist kriminell, wenn Menschen sich darauf spezialisieren, schwangere Frauen oder junge Mütter an potenzielle Väter zu vermitteln. Hierbei handelt es sich um organisierte Kriminalität, die es zu bekämpfen gilt. Die Unionsfraktion schlägt vor, sich an dem Schwei- zer Modell, dem § 260 a des Zivilgesetzbuches, zu orientieren, sodass die Vaterschaft, die als Scheinvater- schaft vermutet wird, angefochten werden kann. Im Schweizer Recht heißt es – ich zitiere: „Die Anerken- nung kann von jedermann, der ein Interesse hat, bei Ge- richt angefochten werden, …“ Ich glaube, diese Rege- lung geht zu weit und greift auch zu weit in die Persönlichkeitsrechte der Mutter und gegebenenfalls auch des Vaters ein, insbesondere wenn nur ein vager Verdacht besteht. Sicherlich ist das Ziel, Scheinvaterschaften als krimi- nelle Handlung zu bekämpfen, richtig. Doch ein Schnell- schuss, wie die CDU/CSU ihn fordert, ist ganz bestimmt nicht die richtige Lösung dieses Problems. b k T n b v t w ä ä s m z v s S t p m g C k s K V a K S s n M W e s l w a v H v t k a k g r N s d s h t g (C (D Wir werden aber bei diesem Problem nicht untätig leiben und nur zuschauen. Bereits die Innenminister- onferenz hat sich in diesem Jahr schon mit diesem hema befasst und wird es bei ihrer nächsten Sitzung er- eut tun. Auch die Justizminister, Jugendminister, Ar- eits- und Sozialminister befassen sich mit diesem Sach- erhalt. Wichtigste Voraussetzung, um hier als Gesetzgeber ätig zu werden, ist eine gesicherte Datenlage. Die haben ir bisher nicht, es gibt nur Vermutungen. Das muss sich ndern. Deshalb müssen wir die Jugendämter, Sozial- mter und Ausländerbehörden für diesen Sachverhalt ensibilisieren. Auch müssen die Behörden die Instru- ente, die ihnen bereits heute zur Verfügung stehen, wie um Beispiel der teilweise Entzug der Vormundschaft on der Mutter bei Gefährdung des Kindeswohls, aus- chöpfen. Zunächst muss klar sein, in welchem Umfang durch cheinvaterschaften Sozialleistungen und Aufenthalts- itel erschlichen werden. Dann hat der Gesetzgeber zu rüfen, ob die vorhandenen rechtsstaatlichen Instru- ente ausreichen oder ob diese durch Neuregelungen er- änzt werden müssen. Christine Lambrecht (SPD): Der Antrag der CDU/ SU mit dem Titel „Scheinvaterschaften wirksam be- ämpfen“ richtet sich gegen missbräuchliche Vater- chaftsanerkennung. Hintergrund ist folgender: Das ind einer ausländischen Mutter und eines deutschen aters erwirbt, abgeleitet vom Vater, die deutsche Staats- ngehörigkeit. Damit die Mutter mit ihrem deutschen ind in Deutschland leben kann, erhält sie, wenn sie die orge für das Kind ausübt, eine Aufenthaltserlaubnis. In dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion heißt es, dass ich bundesweit die Fälle häufen, in denen Vaterschaften ur mit dem Ziel anerkannt werden, der ausländischen utter eine solche Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen. enn diese Annahme zutreffend ist, müssen wir sie sehr rnst nehmen. Einer zunehmenden Praxis, in der „fal- che“ Vaterschaftsanerkenntnisse allein wegen des aus- änderrechtlichen Vorteils abgegeben werden, müssten ir entgegentreten. Dies wäre ausländerpolitisch nicht kzeptabel und auch die Interessen des Kindes würden ernachlässigt. Zwar kann es für das Kind in materieller insicht günstig sein, mit der Mutter in Deutschland erbleiben zu können. Die an sich wünschenswerte Va- er-Kind-Beziehung wird jedoch zu einem Mann, der eine Beziehung zu der Mutter und auch kein Interesse n dem Kind hat, in der Regel nicht aufgebaut werden önnen. Gleichwohl möchte ich davor warnen, jetzt so- leich nach einer Gesetzesänderung im Abstammungs- echt zu rufen. Ein „Schnellschuss“ kann hier mehr achteile als Vorteile bringen. Zunächst sind die Wertentscheidungen der Kind- chaftsrechtsreform von 1998 zu berücksichtigen, die amals in einem breiten fraktionsübergreifenden Kon- ens beschlossen wurde. Die Kindschaftsrechtsreform at ganz bewusst die Rechtsstellung und die Verantwor- ung der Mutter eines nicht ehelich geborenen Kindes estärkt. Die bisherige „Bevormundung“ der Mutter Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12741 (A) ) (B) ) durch die Amtspflegschaft wurde abgeschafft. Seitdem setzt eine wirksame Vaterschaftsanerkennung nicht mehr die Zustimmung des Amtspflegers, sondern die der Mut- ter voraus. Ebenso wie bei ehelichen Kindern, für die eine Vaterschaftsvermutung zugunsten des Ehemannes gilt, nimmt das Gesetz damit auch hier Scheinvater- schaften in Kauf. Auf diese Weise wird ermöglicht, dass derjenige, der die soziale Vaterschaft für ein Kind über- nimmt, in der Regel auch rechtlicher Vater des Kindes sein kann. Ein Recht zur Anfechtung der Vaterschaft steht nur dem rechtlichen Vater, der Mutter, dem Kind und unter begrenzten Voraussetzungen auch dem biolo- gischen Vater zu. Ein Anfechtungsrecht einer Behörde kennt das Gesetz bisher nicht. Führte man es ein, wäre dies ein Schritt zurück zur alten Amtspflegschaft und der damit verbundenen „Bevormundung“ der Mutter. Bei der Abfassung der Voraussetzungen eines behörd- lichen Anfechtungsrechts müsste man zudem äußerst sensibel vorgehen. Eine Regelung, die, wie von der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, darauf abstellt, dass die Vaterschaft „ausschließlich zur Erlangung von Auf- enthaltstiteln und Sozialleistungen“ anerkannt wird, kann leicht als diskriminierend empfunden werden. Sie würde allein Ausländer bzw. Ausländerinnen treffen. Man könnte daher daran denken, die Missbrauchsrege- lung weiter, also nicht auf den ausländerrechtlichen Missbrauch beschränkt, zu fassen. Eine solche weit ge- fasste Regelung würde jedoch noch stärker mit den In- tentionen der Kindschaftsrechtsreform kollidieren. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, ei- nen genauen Blick auf die Zahlen zu werfen, mit denen der gesetzgeberische Handlungsbedarf begründet wird. Die Zahl von 1 694 Verdachtsfällen von Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 entnimmt der CDU/CSU-Antrag, ohne die Quelle zu nennen, einem Bericht des Arbeits- kreises I der Innenministerkonferenz vom Oktober 2004. Es handelt sich um die Zahl der Fälle, in denen eine aus- ländische Mutter ausreisepflichtig war und ein deutscher Mann oder ein ausländischer Mann mit gesichertem Aufenthaltsstatus die Vaterschaft ihres nicht ehelichen Kindes anerkannt hat. Man hat damit nur erhoben, wie häufig eine zunächst ausreisepflichtige Frau durch eine Vaterschaftsanerken- nung ihres Kindes eine Aufenthaltsgenehmigung erhal- ten hat. Zu der Frage, ob diese Vaterschaftsanerkennt- nisse missbräuchlich waren, weil der Mann nicht der leibliche Vater des Kindes ist und auch kein soziales Va- ter-Kind-Verhältnis angestrebt wird, konnten die befrag- ten Ausländerbehörden keine Angaben machen. Der Bericht des Arbeitskreises der Innenministerkon- ferenz wertet die Zahl daher selbst nur als „Indiz“ dafür, dass es eine nicht unerhebliche Zahl von Missbrauchs- fällen gäbe. Auf einer derart unsicheren Tatsachengrund- lage kann man guten Gewissens keine Gesetze erlassen. Dies gilt insbesondere, wenn es – wie hier – um Rege- lungen geht, die speziell unsere ausländischen Mitbürge- rinnen und -bürger betreffen. Wer sich hier nicht des Vorwurfs der Diskriminierung aussetzen will, muss seine Gesetzesänderungen sorgfältig und mit belastbaren Zahlen begründen. n S g u f m g w e t i A g t a t d z li lu E t e a g e V z K d t s n k l M r s A h h d k l d t s d t t I – (C (D Wir sollten in der Folgezeit gemeinsam darüber achdenken, wie wir die Datenlage verbessern können. innvoll sein könnte hier etwa eine Befragung in Ju- endämtern, die im Rahmen ihrer Aufgabe zur Beratung nd Unterstützung von Müttern häufig mehr über deren amiliäre Situation erfahren als die Ausländerbehörden. Einen rechtlichen Ansatzpunkt, um den geschilderten issbräuchlichen Vaterschaftsanerkenntnissen entge- enzuwirken, könnte § 1629 Abs. 2 Satz 3 BGB bieten, onach das Familiengericht dem gesetzlichen Vertreter ines Kindes nach Maßgabe des § 1796 BGB die Vertre- ungsbefugnis entziehen kann. Nach § 1796 Abs. 1 BGB st die Entziehung der Vertretungsbefugnis für einzelne ngelegenheiten oder einen bestimmten Kreis von An- elegenheiten möglich. Dass der Entzug der Vertre- ungsmacht bezüglich der Feststellung der Vaterschaft usgeschlossen ist, steht einer Beschränkung der Vertre- ungsmacht zur Vaterschaftsanfechtung nicht entgegen. Zugleich mit der Beschränkung der Vertretungsmacht er Mutter muss dann das Familiengericht einen Ergän- ungspfleger gemäß § 1909 BGB bestellen, dem hinsicht- ch der Frage der Vaterschaftsanfechtung bzw. -feststel- ng die elterliche Sorge übertragen wird. Der rgänzungspfleger ist dann als insoweit für das Kind tä- ig werdender gesetzlicher Vertreter berechtigt, dessen igenes Vaterschaftsanfechtungsrecht – § 1600 BGB – uszuüben und die Vaterschaft anzufechten. Dieser Er- änzungspfleger kann somit dann in der zweiten Stufe in entsprechendes gerichtliches Verfahren einleiten. Eine Vaterschaftsanfechtung durch einen gesetzlichen ertreter des Kindes ist gemäß § 1600 a Abs. 4 BGB nur ulässig, wenn sie dem Wohl des Vertretenen, also des indes, dient. Hier muss das zuständige Gericht neben en allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Va- erschaftsanfechtungsverfahrens als weitere Sachent- cheidungsvoraussetzung eine Kindeswohlprüfung vor- ehmen. Ein familiengerichtliches Verfahren auf Beschrän- ung der Vertretungsmacht der Mutter setzt keinen förm- ichen Antrag voraus. Es handelt sich hier um ein nach aßgabe der §§ 621 Abs. 1 Nr. 1, 621 a Abs. 1 ZPO ge- egeltes Verfahren, für welches grundsätzlich die Vor- chriften des FGG Anwendung finden. Ein förmlicher ntrag ist nicht Verfahrensvoraussetzung. Es genügt da- er eine formlose Anregung, welche auch von einer Be- örde, zum Beispiel der Staatsangehörigkeits-, Auslän- er- oder auch Sozialhilfebehörde, gegeben werden ann. Schon aus praktischen Erwägungen erscheint al- erdings eine Koordination einer solchen Anregung mit em örtlich zuständigen Jugendamt sinnvoll. Es sollten daher zunächst die Möglichkeiten des gel- enden Rechts ausgelotet werden, um gegen Vater- chaftsanerkenntnisse, die nur das Ziel haben, der Mutter es Kindes einen gesicherten Aufenthaltsstatus und un- er Umständen verstärkte Ansprüche nach sozialen Leis- ungsgesetzen zu verschaffen, vorzugehen. Über die Möglichkeiten könnte durch entsprechende nformation der in Betracht kommenden Behörden Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Sozialbehörden 12742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) sowie Jugendämtern – Zusammenarbeit mit den zustän- digen Stellen der Länder abgeholfen werden. Die sach- nahen örtlichen Behörden könnten dann in einschlägigen Fällen gerichtliche Verfahren anregen. Bevor Gesetzes- änderungen erwogen werden, sollte erst beobachtet wer- den, wie seitens der Gerichte auf solche Anregungen re- agiert wird. Roland Gewalt (CDU/CSU): Die Gesetzeslücke im deutschen Kindschaftsrecht, über die wir hier heute re- den, ist groß wie ein Scheunentor. Sie ermöglicht es in einer Vielzahl von Fällen, dass über die Anerkennung ei- ner nicht gegebenen Vaterschaft Mutter und Kind ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland und umfas- sende Sozialhilfeansprüche erlangen. Umgekehrt kön- nen auch ausländische Männer Aufenthaltsrecht und So- zialhilfeansprüche durch eine zum Schein erklärte Anerkennung der Vaterschaft bekommen. Das Problem ist keineswegs neu. Seit drei Jahren ha- ben Parlamentarier der Union auf Landes- und auf Bun- desebene immer wieder auf dieses Einfallstor hingewie- sen. Bis heute hat die Bundesregierung nicht einmal im Ansatz versucht, die Lücke zu schließen. Lassen Sie mich von Fällen erzählen, wie sie sich in Berlin zugetragen haben, von Fällen, die die Problematik in ihrem ganzen Ausmaß dokumentieren: Gut organisierte Banden vermitteln ausländischen Frauen, die zur Ausreise verpflichtet sind, einen deut- schen Staatsangehörigen, der die Vaterschaft für das Kind der Frau anerkennt. Dabei ist der Deutsche regel- mäßig Sozialhilfeempfänger und er ist weder der biolo- gische Vater noch hat er irgendeine soziale Beziehung zu dem Kind. Der wirkliche Vater lebt weiter mit Mutter und Kind ganz offen zusammen. Ändern tut sich nach der zum Schein erfolgten Anerkennung der Vaterschaft durch einen Dritten nur eines: Das Kind erhält die deut- sche Staatsangehörigkeit; die Mutter ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht und die ganze Familie, also auch die Geschwister des von dem Deutschen anerkannten Kin- des, erlangt umfassende Sozialhilfeansprüche. Wie ge- sagt, es wird nichts verheimlicht. Die ausländische Fa- milie lebt mit dem wirklichen Vater weiter, als sei nichts geschehen, denn die Anerkennung der Vaterschaft durch einen Dritten zum Schein ist nach deutschem Recht völ- lig legal. Das Ganze wird mittlerweile perfekt organisiert. In Berlin sind den Behörden Fälle bekannt, bei denen ein deutscher Sozialhilfeempfänger bis zu sechs Kinder ver- schiedener ausreisepflichtiger Frauen anerkannt hat. Da- bei fällt es denjenigen, die die Vaterschaftsanerkennung organisieren, nicht besonders schwer, Männer zu finden, die sich dazu bereit erklären. Sie selbst sind ja Sozialhil- feempfänger und deshalb keinerlei Unterhaltsansprü- chen ausgesetzt. Im Gegenteil: Die Ausländerfamilie verschafft dem deutschen Scheinvater einen lukrativen Nebenverdienst. Es ist in Berlin mittlerweile kein Ge- heimnis, dass es hierfür regelrechte Tarife gibt. Um die 5 000 Euro liegt der Lohn für den Scheinvater. e M t b m s l B u d H g n m i s D r s n d r e s g d i „ a s m m i w i d n e e E g n l ü r n s t o d d r (C (D Die Innenministerien der Länder haben mittlerweile rmittelt, um welche Größenordnung es sich hier bei den issbrauchsfällen in Deutschland handelt. Die ermittel- en Zahlen sind auch der Bundesregierung seit langem ekannt. Zwischen Frühjahr 2003 und Frühjahr 2004 hat an l 694 konkrete Verdachtsfälle ermittelt. Besonders chwer betroffen sind Nordrhein-Westfalen mit 398 Fäl- en, Brandenburg mit 207, Niedersachsen mit 183 und ayern mit 112 Fällen. Weshalb die Bundesregierung dennoch bisher nichts nternommen, hat, ist für mich unbegreiflich. Bereits in er letzten Legislaturperiode hat mein Berliner Kollege elias eine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung erichtet. Die damalige Staatssekretärin im Bundesin- enministerium, die Kollegin Sonntag-Wolgast, hat da- als in ihrer Antwort vom 12. April 2001 die Situation n unverantwortlicher Art und Weise heruntergespielt. Es eien nur vereinzelt Missbrauchsfälle vorgekommen. ie einzige Konsequenz, die die damalige Staatssekretä- in zu ziehen bereit war: Man werde die Entwicklung orgfältig beobachten. Eine schöne Umschreibung dafür, ichts zu tun. Unmittelbar nach dieser Antwort der Bun- esregierung hat die Berliner Senatsverwaltung für Inne- es an das Bundesinnenministerium gemeldet, dass es ntgegen der Auffassung der Bundesregierung ein mas- ives Auftreten des Missbrauchs des Kindschaftsrechts ebe. Ein Alarmbrief des damaligen Staatssekretärs in er Senatsinnenverwaltung Diwel, heute Staatssekretär m Bundesinnenministerium, geriet damals über den Focus“ an die Öffentlichkeit. Die Bundesregierung war lso über den Umfang des Missbrauchs der Vater- chaftsanerkennung von Anfang an umfassend infor- iert. Geschehen ist nichts. Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute it einem Thema, das sensibel, aber auch brisant ist. Es st nicht ganz neu. Die Entwicklung zeigt aber mittler- eile, dass ein Handeln des Gesetzgebers geboten ist. Um Aufenthaltsrechte und auch staatliche Leistungen n Deutschland zu erlangen, ist offenbar inzwischen je- es Mittel Recht. Bislang wurden dazu in der Regel vor- ehmlich Scheinehen geschlossen. Die Eheschließung ines Ausländers oder einer Ausländerin mit einem oder iner Deutschen erfolgte lediglich auf dem Papier. Das ingehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft war nie eplant. Zweck war allein, durch die Eheschließung ei- en gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland zu er- angen. Der Gesetzgeber hat hierauf reagiert und Regelungen ber die Behandlung von Scheinehen in das Familien- echt aufgenommen. Darüber hinaus ist das Eingehen ei- er Scheinehe sowie die Vermittlung nach § 92 a AuslG trafbar. Schnell hat sich leider eine neue Gesetzeslücke aufge- an. Sie wird auch schamlos ausgenutzt: Ausländerinnen hne Bleibe- oder Aufenthaltsrecht betrügen den Staat amit, dass sie in der Regel von Sozialhilfeempfängern ie Vaterschaft ihres Kindes anerkennen lassen. In ande- en Fällen erkennen Ausländer ohne Bleibe- oder Auf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12743 (A) ) (B) ) enthaltsrecht in Deutschland das Kind einer deutschen Frau an. In beiden Fällen besteht keinerlei Verbindung zwi- schen der Frau und dem Mann. Zwischen dem Vater und dem Kind ist weder eine biologische noch eine soziale Beziehung vorhanden. Trotzdem erwirbt das Kind mit der rechtlichen Anerkennung der Vaterschaft bei einer ausländischen Frau die deutsche Staatsangehörigkeit. Damit dürfen alle Angehörigen des Kindes ersten Gra- des, das heißt seine ausländische Mutter und weitere Kinder in Deutschland bleiben oder wieder nach Deutschland einreisen. Im anderen Fall erhält der aner- kennende ausländische Vater eines deutschen Kindes ebenfalls ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht. In der Regel werden dann in beträchtlicher Höhe durch den Staat So- zialleistungen für alle erbracht. Gezielt werden Sozialhilfeempfänger für die Vater- schaftsanerkennung gesucht: Denn sie sind finanziell nicht in der Lage, die mit der Anerkennung entstehenden Unterhaltsverpflichtungen für das Kind und auch die Mutter zu tragen. Der Staat zahlt. Eine Handhabe dage- gen gibt es nicht. Die rechtliche Anerkennung nicht leib- licher Kinder aus sachfremden ist bisher legal. Dies ist allerdings nicht länger hinnehmbar. Ungeachtet der Mil- lionen zu Unrecht gezahlten Sozialleistungen der öffent- lichen Hand zulasten der Allgemeinheit sind die Folgen für das betreffende Kind verheerend. Die Anerkennung durch den falschen Vater vereitelt sein Recht auf Kennt- nis der Abstammung und Umgang mit dem leiblichen Vater. Dies stellt einen erheblichen Eingriff in das grund- rechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht des Kindes – Art. 2 Abs. 1 und Artikel 6 GG – dar. Die Innenministerkonferenz der Länder hat sich Ende 2002 mit der Thematik befasst, nachdem sich unter an- derem in Berlin und in Hamburg die Verdachtsfälle von Scheinvaterschaften beträchtlich häuften. Auf Initiative von Bremen untersuchte zwischenzeitlich eine Arbeits- gruppe im Rahmen der Innenministerkonferenz die Ent- wicklung von Scheinvaterschaften in allen Bundeslän- dern. Das Ergebnis liegt vor: Allein im Zeitraum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 betrug die Zahl der Ver- dachtsfälle des Leistungsmissbrauches und der Erschlei- chung von Aufenthaltstiteln bundesweit 1 694. Nach vorliegenden Erkenntnissen hat sich das Geschäft mit zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennungen inzwischen zu einer lukrativen Einnahmequelle entwickelt, mit der bei nahezu keinem Risiko sehr hohe Profite erzielt wer- den. Dem muss jetzt ein Riegel vorgeschoben werden. Mangels finanzieller Leistungsfähigkeit der anerken- nenden Väter entstehen zu ihren Lasten keine materiel- len Nachteile, strafrechtliche Konsequenzen gibt es auch keine und als Belohnung für die Anerkennung werden Beiträge bis zu 10 000 Euro pro Fall gezahlt. Die Allge- meinheit muss oft für Sozialleistungen jahrelang auf- kommen. Das scheint inzwischen ebenso gut durch pro- fessionelle Schleuserbanden organisiert zu sein wie der Menschenhandel. Dort haben wir noch bestehende Ge- setzeslücken gerade geschlossen bzw. sind dabei. Bei den Scheinvaterschaften müssen wir es nun auch tun. n w D k V d t m t d n s g f r d k W B E r h H b s r G r S s d s n t a z h s N d d V h g M e t e s S d a d s (C (D Derzeit kann bei uns die Vaterschaft durch Anerken- ung wirksam begründet werden, wenn sie bewusst ahrheitswidrig ist und allein den Zweck verfolgt, in eutschland ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht zu erwir- en. Vor der Kindschaftsrechtsreform 1998 war für die aterschaftsanerkennung noch die Zustimmung durch as Kind und dessen gesetzlich vorgeschriebene Vertre- ung vor dem Jugendamt erforderlich. Dieses Zustim- ungserfordernis ist weggefallen. Die Stellung der Mut- er wurde gestärkt und es wurde ihr überlassen, auch enjenigen als Vater zu akzeptieren, der es genetisch icht ist, es – im Hinblick auf gewachsene oder neu ent- tehende familiäre Strukturen – aber sein will. Dieser so enannte „soziale Vater“ darf jetzt auf keinen Fall in- rage gestellt werden. Der Gesetzgeber konnte bei der Reform nicht damit echnen, dass es hier einmal einen Missbrach zulasten es Staates und insbesondere auch der Kinder geben önnte. Dieses Problem hat aber nicht nur Deutschland. ährend man in Frankreich die Ausländergesetze zur ekämpfung illegaler Einwanderung reformiert und für lternteile eines französischen Kindes die Anspruchsvo- aussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis verschärft at, hat die Schweiz hier der öffentlichen Hand – der eimat – und Wohnsitzgemeinde ein Anfechtungsrecht ei Vaterschaftsanerkennungen eingeräumt. Nach Prüfung der Rechtslage in Deutschland er- cheint weder eine Änderung des Staatsangehörigkeits- echts noch des Ausländergesetzes, wohl aber eine esetzesänderung des Kindschaftsrechts durch Erweite- ung der Anfechtungsberechtigten um eine staatliche telle geeignet, dem Problem der zweckwidrigen Vater- chaftsanerkennung adäquat zu begegnen. Zum Schutz eutsch-ausländischer Paare und dort vollzogener Vater- chaftsanerkennungen müssen – um sie nicht unter Ge- eralverdacht zu stellen – die Hürden für ein Anfech- ungsrecht eines öffentlichen Trägers ausreichend hoch ngesetzt werden. Wir wollen das Schützenswerte schüt- en und den Missbrauch ausschließen. In den jetzt anste- enden weiteren Beratungen werden wir geeignete Lö- ungswege aufzeigen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS/90 DIE GRÜ- EN): Nach dem vorliegenden Antrag sollen die zustän- igen Länderbehörden ein Anfechtungsrecht bezüglich er Vaterschaft erhalten, wenn es Hinweise gibt, dass die aterschaft ausschließlich zur Erlangung von Aufent- altstiteln oder Sozialleistungen anerkannt wird. Be- ründung der Unions-Fraktion: Es gebe immer mehr issbrauchsfälle, in denen weder eine biologische noch ine soziale Vater-Kind-Beziehung bestehe und die Va- erschaft nur anerkannt werde, um der Mutter einen Auf- nthaltstitel bzw. dem Kind die deutsche Staatsbürger- chaft zu verschaffen. Auch würden professionelle chleuserbanden dies immer mehr als Geschäftsfeld ent- ecken. Zum Hintergrund: Insbesondere im Land Berlin, aber uch in NRW soll es Missbrauchsfälle gegeben haben, in enen sich ausreisepflichtige Mütter oder Väter wie be- chrieben, einen Aufenthalt „erschlichen“ haben. Diese 12744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Zahlen liegen uns leider noch nicht vor. Die Thematik hat einen zweijährigen Vorlauf bei der Innenminister- konferenz; bisher gab es kein empirisch gesichertes Zah- lenmaterial. Auch das jetzt von den Ausländerbehörden gelieferte Material ist nach unserer Ansicht nicht hinrei- chend aussagekräftig. Lassen Sie mich auf die Schwä- chen im vorliegenden Unionsantrag zu sprechen kom- men: Er bezieht sich nur auf Frauen ohne Aufenthaltsrecht, die über einen deutschen Mann oder einen ausländischen Mann und damit über einen sicheren Aufenthalt ihres Kindes selbst ein Aufenthaltsrecht erhalten können. Die umgekehrte Richtung wäre aus Sicht der Union also nicht möglich. Nach Angaben der Union nimmt seit 2001 die Zahl der Missbrauchsfälle stetig zu. Wie sie zu einer solchen Einschätzung kommt, ist unklar, da in der von der IMK beschlossenen Erhebung bei den Ausländerbehörden al- lein der Zeitraum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 er- fasst ist. Außerdem – und das sagt die Union auch selbst – handelt es sich allenfalls um Verdachts- und nicht um Missbrauchsfälle. In der Erhebung der Ausländerbehör- den wurde nämlich allein die Zahl der Vaterschaftsaner- kennungen erfasst, woraus noch lange nicht die Miss- brauchsfälle abzulesen sind. Genausogut könnten sie sagen, dass, wenn im Jahr 2003 30 Millionen Steuerer- klärungen abgegeben wurden, es möglicherweise bis zu 30-millionenfachen Steuerbetrug gibt. Ein anderer wichtiger Punkt des Unionsantrages ist neben der angeblichen Erschleichung von Aufenthaltsti- teln der Verdacht des Leistungsmissbrauchs: Durch die Vaterschaftsanerkennung „erlangen alle Beteiligten ei- nen Anspruch auf Sozialhilfe“. Die Erhebung der Aus- länderbehörden umfasste jedoch – naturgemäß – über- haupt nicht die Bedürftigkeit der Betroffenen. Es ist daher klar, dass es sich bei dieser Behauptung um reine Spekulation handelt. Gleiches gilt für die Annahme, dass Schleuserbanden als „Vaterschaftsvermittler“ in großem Maße tätig wer- den. Hierzu gibt es unseres Wissens keinerlei empirisch gesichertes Material. Die Union sieht besonders verheerende Folgen für die betroffenen Kinder. Die Anerkennung durch den „fal- schen“ Vater vereitele ihre Rechte auf Kenntnis der Ab- stammung und Umgang mit dem leiblichen Vater. Dies ist jedoch ein allgemeines – wenn man so will – „Pro- blem“ des neuen Kindschaftsrechts. Das neue Kind- schaftsrecht akzeptiert nicht nur den biologischen, son- dern auch den sozialen Vater. Will man hier also Änderungen vornehmen, sind Grundsätze des 1999 re- formierten Kindschaftsrechtes betroffen. Es ist aber fraglich, ob das Kindeswohl tatsächlich für eine Aufhebung der so genannten „falschen“ Vaterschaft mit dem daraus resultierenden Verlust des Aufenthalts- rechtes spricht, so auch der Zwischenbericht der IMK. Dass es eine Anfechtungsbefugnis öffentlicher Stellen im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnun- gen „noch nicht“ gibt – als Beispiel wird § 260 a des S d R e w D m t w K K l S g a w A d z f m d b z c c d f a P T l A t h A J „ a f M n s n e e w n i t D s e U (C (D chweizer Zivilgesetzbuches genannt –, liegt unter an- erem auch am reformierten Kindschaftsrecht. Vor der eform des Kindschaftsrechtes musste auch das nicht- heliche Kind der Vaterschaftsanerkennung zustimmen, as durch das Jugendamt in Amtspflegschaft erfolgte. iese Bevormundung der Mutter durch den Staat wollte an jedoch gerade abschaffen. Die Union will zumindest Hürden für ein Anfech- ungsrecht der Ausländerbehörden aufbauen. Kriterien ie die fehlende soziale Beziehung zwischen Vater und ind oder die fehlende Bereitschaft des Vaters, für das ind zu sorgen, sind jedoch abzulehnen. Die Feststel- ung der sozialen Beziehung kann nicht wie bei einer cheinehe an einer familiären Lebensgemeinschaft fest- emacht werden. Väter kümmern sich heutzutage häufig uch viel um ihre Kinder, ohne mit ihnen zusammen zu ohnen. Hier stellt sich weiterhin die Beweisfrage. Ein bstellen auf die fehlende Bereitschaft des Vaters, für as Kind zu sorgen, würde zu einer Diskriminierung und u einem Generalverdacht gegen Sozialhilfeempfänger ühren. Ein Zurückdrehen der Kindschaftsrechtsreform ist it Rot-Grün nicht zu machen. Der Gesetzgeber hat bei ieser Reform bewusst auf eine behördliche Beteiligung ei der Vaterschaftsfeststellung unehelicher Kinder ver- ichtet und damit die Rechte der Mütter gestärkt. Staatli- he Stellen haben weder bei ehelichen noch bei uneheli- hen Kindern von Deutschen das Recht, die Vaterschaft es biologischen oder auch des sozialen Vaters in Zwei- el zu ziehen. Gleiches muss auch für die Kinder von usländischen Vätern oder Müttern und für binationale aare gelten. Ein behördliches Anfechtungsrecht öffnet ür und Tor für einen Generalverdacht gegen alle Fami- ien mit einem ausländischen Elternteil mit unsicherem ufenthalt. Soll der Staat herumschnüffeln, was die Mo- ive einer Vaterschaftsanerkennung waren? Ich verweise ier noch mal auf die Ihnen bekannte Stellungnahme der rbeitsgruppe der IMK, die festgestellt hat, dass die ugendämter bundesweit – bis auf einige Ausnahmen keinen nennenswerten Missbrauch von Vaterschafts- nerkennungen zum Zwecke der Aufenthaltserlangung estgestellt“ haben. Und zu den Fällen, in denen es doch einmal zum issbrauch gekommen ist: Gerade in der Vorweih- achtszeit sollten Sie sich mal an die Weihnachtsge- chichte – in der ja die Frage der Vaterschaftsanerken- ung eine wesentliche Rolle spielt – erinnern. In was für iner verzweifelten Lage muss eine ausländische Mutter igentlich sein, wenn sie die Abstammung ihres Kindes egen einer Aufenthaltserlaubnis verleugnet? Aber, wie gesagt, ich halte das für eine seltene Aus- ahme und daher lehnen wir Ihren Antrag ab. Sibylle Laurischk (FDP): Vor neun Monaten stand ch hier schon einmal, um über die Anfechtung der Va- erschaft zu sprechen, allerdings zum Wohle des Kindes. as heute in Rede stehende Phänomen war damals chon hinreichend bekannt, sodass es verwundert, dass s nicht schon im Februar von der antragstellenden nion thematisiert wurde. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12745 (A) ) (B) ) Viel lieber als über Vaterschaftsanfechtung würde ich in diesem Hause über die Übernahme von Vaterverant- wortung sprechen, das vorneweg und nebenbei. Die Sache selbst ist durchaus ernst, die Zahl der Ver- dachtsfälle so genannter Imbissväter allein für den Zeit- raum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 wird auf 1 700 bundesweit geschätzt, wobei die erhobenen Daten wegen der mangelnden Aufklärung der tatsächlichen biologischen oder sozial-familiär vermittelten Vater- schaft kaum belastbar erscheinen, was der Bericht des Arbeitskreises 1 der Ständigen Konferenz der Innen- minister und -senatoren vom 7./8. Oktober 2004 selbst einräumt. Eine über diese Verdachtsfälle hinausgehende Dunkelziffer gibt es nicht, da die Innenminister alle Fälle der Aufenthaltsrechtserteilung nach Vaterschaftsa- nerkennung statistisch erfasst haben. Davon ausgehend, dass mit der zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennung nicht nur Aufentshaltstitel für einen Elternteil und Staatsbürgerschaft für das Kind, sondern auch daran an- knüpfende Sozialleistungen erschlichen werden, können wir das fiskalische Interesse nicht leugnen: Plünderung unserer überstrapazierten Sozialkassen darf es nicht ge- ben. Insofern verwundert die bevorstehende Initiative der IMK zu diesem Thema, dem der vorliegende Antrag vorgreift, nicht. Allerdings befremdet mich der Anknüpfungspunkt für eine Missbrauchsverhinderung, die beabsichtigte Än- derung des Kindschaftsrechts. Mit gutem Grund ist mit der Reform des Kindschaftsrechts 1998, übrigens noch zu Zeiten der Koalition von Union und FDP, die Zustim- mungspflicht des Jugendamtes zur Vaterschaftsanerken- nung abgeschafft worden, um diesen Kernbereich fami- liärer und personeller Selbstbestimmung vor staatlichem Zugriff und Gestaltung zu bewahren. Wie sollte denn ein Anfechtungsrecht der „zuständigen Behörden“ der Län- der aussehen, wer sollte das sein, Sozialamt, Jugendamt, Staatsanwaltschaft? Oder kommt die Ausländerbehörde? Immerhin geht es hier um minderjährige, möglicher- weise neugeborene Kinder. Wie sollen die „Hinweise“ aussehen, die ein solches Anfechtungsrecht auslösen soll? Wie sollen wir uns die Ermittlung der wahren Va- terschaft vorstellen. Einfacher, genetischer Vaterschafts- test mit Speichelprobe oder qualifizierter Vaterschafts- test durch Feststellung einer sozial-familiären Beziehung zwischen Vater und Kind? Einen solchen Vaterschafts- test der höheren Art würde übrigens eine Vielzahl von biologischen Vätern auch nicht bestehen, eine Hürde für das Anfechtungsrecht, wie im Antrag beschrieben, stellte dies auch nicht dar. – Kurz, wir halten das Bürger- liche Gesetzbuch nicht für den systematisch richtigen Ort, missbräuchliche Vaterschaftserklärungen zu be- kämpfen. Wir sollten die vorhandenen Mittel des Rechtsstaats nutzen, weshalb ich die Länder dazu auffordere, die Möglichkeiten de lege lata auszuschöpfen. Die wahr- heitswidrige Vaterschaftsanerkennung ist auch unter dem Aspekt des Persönlichkeitsrechts des Kindes nicht hinzunehmen und erst recht nicht der damit oft einherge- hende Betrug zum Nachteil der Sozialkassen. Benennen wir doch das Problem, wie es ist, und verfolgen es auch als ein solches: Wenn einem deutschen Mann sach- f d s d r l K A a g w P v z a t s W L h A g m F d s d G n g v b p R F E s A w (C (D remde Vorteile dafür versprochen oder gewährt werden, ass er die Vaterschaft wahrheitswidrig für ein ausländi- ches Kind anerkennt, ist dies allein schon zum Schutz es Kindes missbilligenswert, ebenso die Vorteilsgewäh- ung gegenüber einer deutschen Mutter, die einen aus- ändischen Vater wahrheitswidrig die Vaterschaft für ihr ind anerkennen lässt, um diesem Scheinvater einen ufenthaltstitel zu verschaffen. Hier ist die Überprüfung usländerrechtlicher und sozialrechtlicher Vorschriften efragt. Einer Änderung des Kindschaftsrechts können ir nicht zustimmen. Ein sozial- und innenpolitisches roblem sollte nicht in den Regelungskreis des BGB erlagert werden. Versuchen wir nicht, binationale Be- iehungen generell unter einen Verdacht zu stellen, wenn uch die Mutter und das Kind oder der ausländische Va- er Vorteile aus einer solchen Bindung an einen Deut- chen ziehen mögen. Mir scheint der Antrag der Union zu sehr vom unsch nach tagespolitischen Effekten geprägt zu sein. eider trifft dies die Falschen, nämlich die Kinder, wes- alb wir den Antrag ablehnen. nlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlungen und Berichte zu den Anträgen: – Umsetzung des nationalen Radverkehrs- plans 2002–2012 forcieren – Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht vorlegen – Den Fahrradtourismus in Deutschland um- fassend fördern (Tagesordnungspunkt 12 a und b) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ich freue mich, als neu ewählte Berichterstatterin für das Thema Fahrradtouris- us im Tourismusausschuss zu sprechen! Denn: Der ahrradtourismus in Deutschland ist ein wichtiges – lei- er häufig unterschätztes – Thema, wie nicht zuletzt die päte Debattenzeit zeigt. Warum setzt sich die SPD-Fraktion für die Förderung es Fahrradtourismus ein? Dafür gibt es mehrere gute ründe, aus denen ich fünf herausgreifen möchte: Erstens. Der Fahrradtourismus boomt: Über 2 Millio- en Deutsche verbrachten 2003 ihren Urlaub überwie- end im Fahrradsattel. Das entspricht einer Zunahme on 12,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und der Boom eim Radurlaub hält an: Rund 6,5 Millionen Deutsche lanen für die nächsten drei Jahre mindestens eine adreise. Zweitens. Das Fahrrad ist ein Wirtschaftsfaktor: Im ahrradtourismus werden jährlich rund 5 Milliarden uro umgesetzt. Namhafte Veranstalter von Radpau- chalen verzeichneten 2003 zweistellige Zuwächse. Der bsatz von Karten und Radwanderführern konnte 2003 iederum gesteigert werden. Erfolgreichstes Produkt ist 12746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) die ADFC-Radtourenkarte, die – seit ihrem Ersterschei- nen 1990 – im Jahr 2003 einen Gesamtabsatz von über 2 Millionen Exemplaren erreichte. Damit gilt sie als die erfolgreichste Radlerkarte der Welt. Drittens. Radfahren kann jeder: Für uns Sozialdemo- kratinnen und Sozialdemokraten hat die Förderung von Urlaubsformen, die für möglichst viele Menschen nutz- bar sind, Priorität, und Fahrradurlaub ist eine Form des Reisens, die für viele Zielgruppen geeignet ist. Ob Fami- lie oder Single, ob jung oder alt – fast jeder kann sich in den Sattel schwingen. Die Kosten, insbesondere bei ei- nem Inlandsurlaub, sind vergleichsweise gering, sodass diese Form des Reisens auch für Menschen mit kleinem Portemonnaie geeignet ist. Viertens. Radreisen schützen die Natur: Uns Sozial- demokratinnen und Sozialdemokraten liegt das Thema Umwelt- und Naturschutz am Herzen. Auch aus diesem Grund halten wir den Fahrradtourismus für besonders förderungswürdig, denn er ermöglicht Erholung in und mit der Natur, ohne Luftverschmutzung und mit gerin- gem Flächenverbrauch. Fünftens. Mit dem Radtourismus werben wir für Deutschland: Der Boom beim Fahrradurlaub nützt vor allem dem Deutschlandtourismus, denn ein großer Teil der Fahrradurlauber bleibt im Land, und es kommen zu- nehmend Gäste aus dem Ausland hierher, um Deutsch- land vom Sattel aus zu erkunden. Diese Zuwächse sind kein Zufall, denn kaum ein anderes Land wirbt so inten- siv um die Zielgruppe der Radfahrer. Laut Länderver- gleich des ADFC halten Deutschland und Österreich das nutzerfreundlichste Angebot für Urlauber bereit, wäh- rend beliebte Urlaubsländer wie Spanien, Italien oder die USA schlechtes oder gar kein Informationsmaterial bie- ten. Deutschland weist mit seiner serviceorientierten Broschüre „Deutschland per Rad entdecken“, die mehr als 50 Routen und Regionen vorstellt, und dem dazuge- hörigen Internetauftritt ein schlüssiges Konzept vor. Wir müssen viel vernetzter denken. Warum sage ich das? Seit dem vergangenen Jahr stellen wir jährlich 10 Millionen Euro für den Ausbau von Betriebswegen an Bundeswasserstraßen zur Verfügung: Da diese Wege landschaftlich besonders reizvoll, meist frei von Autos und oft historisch interessant sind, etwa im Bereich des Elbe-Lübeck-Kanals mit der Alten Salzstraße, werden sie von Radlern gut angenommen. Leider sind viele die- ser Wege in einem Zustand, der ein zügiges oder auch nur sicheres Fortkommen für Radfahrer nicht erlaubt. Deshalb haben wir uns entschlossen, für den fahrradge- rechten Ausbau der Uferwege zu sorgen. Der Radwegebau an Flüssen und Kanälen bietet die Chance, das landseitige Angebot für Radfahrer, Wande- rer und Spaziergänger mit wasserseitigen Aktivitäten zu verbinden. Hier ist vernetztes Denken gefragt: Wir dür- fen nicht länger jede Sportart oder Tourismussparte für sich betrachten, sondern sollten die Voraussetzungen da- für schaffen, dass attraktive Kombinationsangebote ent- wickelt werden können. In Niedersachen gibt es bereits das erfolgreiche Angebot „Paddel & Pedal“, das Fahr- rad- und Kanuurlaub miteinander verbindet. Solche Kombinationen sind ausbaufähig, wenn wir gemeinsam m b f w d k K w e m k g i r n f n t k a b r F is li g g z b S g b u c f s J N B s z B S in u te ti e S d b ti la F h (C (D it den Ländern und Kommunen dafür sorgen, dass die enötigte Infrastruktur zu Lande und zu Wasser zur Ver- ügung steht. Was mir allerdings Sorgen macht: So richtig und ichtig der Ausbau von Betriebswegen also ist, so hat es och, und das möchte ich nicht verschweigen, bei der onkreten Umsetzung Schwierigkeiten gegeben. Die onstruktion, dass Mittel nur beantragt werden können, enn das zuständige Wasser- und Schifffahrtsamt einen igenen Bedarf für den Ausbau sieht, hat sich als proble- atisch erwiesen. Vielfach, so auch in meinem Wahl- reis, sind die Ämter nicht gewillt, Gelder zu beantra- en, weil der Zustand der Wege für die Befahrung mit hren Maschinen noch ausreicht. Die Folge: Von den be- eitgestellten 10 Millionen Euro wurden bislang in 2004 ur knapp 500 000 abgerufen. Wir als SPD-Bundestags- raktion fordern die Bundesregierung deshalb auf, für ei- en besseren und zügigen Abfluss der Mittel Sorge zu ragen. So steht es auch in unserem Antrag. Das Ver- ehrsministerium hat das Problem ebenfalls erkannt und rbeitet mit Hochdruck an einer Lösung. Ich habe bereits die Notwendigkeit angesprochen, eim Tourismus stärker vernetzt zu denken. Ein erfolg- eiches Beispiel für eine solche Vernetzung, in diesem all zwischen Radfahrern und Übernachtungsbetrieben, t das Label „Bett & Bike“. Die Zahl der fahrradfreund- chen Beherbergungsbetriebe mit dem ADFC-Gütesie- el ist von 216 im Jahr 1995 auf über 3 500 im Jahr 2004 estiegen. Damit ist „Bett & Bike“ die erfolgreichste ielgruppenbezogene Marketingkooperation von Gast- etrieben in Deutschland. In meinem Heimatland chleswig-Holstein ist es in diesem Jahr erstmals gelun- en, einen regionalen „Bett & Bike“-Führer herauszuge- en. Der ADFC hat hier hervorragende Arbeit geleistet nd viele Betriebe überzeugt, künftig fahrradfreundli- hen Service anzubieten. Ich selbst habe die Werbung ür „Bett & Bike“ in meinem Wahlkreis tatkräftig unter- tützt. Im ersten Verzeichnis sind 175 Hotels, Pensionen, ugendherbergen, Campingplätze, Heu-Herbergen und aturfreundehäuser aufgeführt, die auf die besonderen edürfnisse von radelnden Gästen eingehen und signali- ieren: „Radfahrer willkommen“. Für das nächste Ver- eichnis ist mit einem weiteren Anstieg der beteiligten etriebe zu rechnen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, auch ie bewegt das Thema Fahrradtourismus, das stellen Sie dem vorliegenden Antrag dar. Zu Ihren Feststellungen nd den Schlüssen, die Sie daraus ziehen, ist in der ers- n Debatte von meinen Kolleginnen bereits alles Wich- ge gesagt worden. Wir stimmen ja grundsätzlich über- in: Natürlich ist es wünschenswert, möglichst genaue tatistiken über den Fahrradtourismus zu haben. Man arf hier aber auch nicht übertriebene Erwartungen ha- en, einiges gibt es schon und letztlich hängt die Attrak- vität des Fahrradtourismus wirklich nicht an der Daten- ge. Auch wir wollen gute Transportmöglichkeiten für ahrräder in der Bahn. Wir fordern deshalb in unserem eute debattierten Antrag die Bahn auf, ein Konzept für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12747 (A) ) (B) ) die Fahrradmitnahme unter Berücksichtigung des ICE vorzulegen. Natürlich wollen auch wir mehr Abstellplätze für Fahrräder und bessere Sicherheit vor Diebstahl. Wir sind hier in Bund-Länder-Gesprächen und erwarten gute Er- gebnisse. Ihr Antrag wiederholt Bekanntes und fordert Dinge, die überflüssig sind oder die wir bereits machen – deswegen lehnen wir ihn ab! Deutschland, das hatte ich bereits erwähnt, ist ein fahrradfreundliches Land. Wir haben hier vielen Staaten etwas voraus – diesen Vorteil müssen wir nutzen. Wir wissen allerdings auch um die Chancen zu weiteren Ver- besserungen und sind bereit, sie gemeinsam mit der Bundesregierung anzugehen. Heidi Wright (SPD): Weder die Tageszeit noch das Jahreswetter eignet sich wirklich gut zum Fahrradfahren, umso besser eignet es sich, die Umsetzung des Natio- nalen Radverkehrsplanes voranzubringen. Dies tun wir natürlich nicht nur mit dieser Debatte, sondern mit den wichtigen Umsetzungsschritten der vergangenen Monate und den notwendigen weiteren Umsetzungsschritten in Zukunft. Ich darf uns alle zu dieser Umsetzung weiter auffor- dern und nicht nur in unserer Arbeit im Deutschen Bun- destag, sondern in unseren oft vielfältigen Funktionen und Einflussmöglichkeiten auf kommunaler Ebene. Keine Frage, alle haben es erkannt – Fahrradpolitik ist ein Gewinnerthema und alle – oder zumindest viele – stricken mit an dem Muster der Fahrradpolitik. Diese wurde von dieser Bundesregierung mit der Aufstellung des Nationalen Radverkehrsplanes aus dem Schattenda- sein herausgeholt und mit einer eigenen Planstelle im Ministerium, mit eigenen Haushaltstiteln – mehreren –, mit dem Aufbau eines Internetportals als Kommunika- tionsplattform für Bund, Länder, Verbände und Fach- kreise versehen. Das Gewinnerthema Radpolitik hat viele Aspekte. Es trägt bei zu einer besseren, flexibleren Mobilität. Es trägt bei zur Umweltentlastung. Es reduziert die Mobilitäts- kosten der Verbraucher: Mineralölpreis. Es entlastet das Verkehrschaos in den Städten. Es trägt zu mehr Wohlbe- finden und Gesundheit durch Bewegung bei. Nur leider sind wir in Deutschland noch recht am An- fang der Entwicklung, diese Aspekte auch wirklich zu realisieren. Also, so ganz das Fahrradland sind wir in Deutsch- land noch nicht – aber wir haben mehr als den guten Willen. Wir haben den politischen Willen. Wir haben die Erkenntnis in die Notwendigkeit. Wir haben höchst ak- tive Partner, Akteure und Unterstützer. Wir haben in Deutschland inzwischen ein sehr positives öffentliches Bewusstsein für das Fahrradfahren in der Freizeit und zum Sport, aber auch für tägliche Besorgungen, zur Ar- beit, zur Schule. Bewusstseinsbildung fängt ja nicht hier im Bundestag an – wir können das nur unterstützen. i s d d A n n k – R s I G n w n 4 V t j ü z A w A d v n C u d A w n k z A v d A u c d i u I o s (C (D Bewusstseinsbildung findet draußen, in den Familien, n den Kindergärten, in den Schulen und in den Cliquen tatt. Es muss einfach cool sein, Fahrrad zu fahren: mit em Fahrrad zur Schule, mit dem Fahrrad zur Arbeit, mit em Fahrrad auch über den Führerschein hinaus. Das uto ab 18 bzw. die ab 18 auftretende Fußkrankheit ist icht cool. Mit dem politischen Hintergrund des Radverkehrspla- es und insbesondere den neuen finanziellen Möglich- eiten konnte bereits einiges bewirkt werden. Wir sorgen trotz schwieriger Haushaltssituation – für Geld für den adwegebau an Bundesstraßen. Wir sorgen für die Ver- tetigung der Mittel im Haushaltsplan. Wir konnten die nvestitionen in 2002 und 2003 auch etwas steigern. anz zufrieden stellend ist das für mich jedoch noch icht. Ganz besonders gilt das für Radwege an Bundes- asserstraßen. Hier werden die vorgesehenen Mittel icht ausgeschöpft: veranschlagte Ausgaben rund 80 000 Euro. Deshalb haben wir in Auftrag gegeben, orschläge zur besseren Umsetzung zu erarbeiten. Als wichtig haben wir auch erkannt, dass die Investi- ionsmittel das eine wichtige, die nicht investiven Mittel edoch ebenso wichtig sind. Ich bin ganz fest davon berzeugt, dass es richtig war, hier einen eigenen Titel u schaffen, und danke unseren Haushältern – liebe nnette Faße, ich weiß, Du hast Dich da sehr eingesetzt. Mit den nicht investiven Mitteln konnten unterstützt erden: der bundesweite Wettbewerb Best-of-Bike, die uflage des NRVP in englischer und russischer Sprache, iverse Fachveranstaltungen, unter anderem die Impuls- eranstaltung „Kinder in Bewegung“, aber auch Aktio- en des ADFC, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad- lubs, der in diesem Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert nd echt ein tolles Rad dreht, also Aktion des ADFC mit er AOK „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“, Projekt des DFC zur Zweiten aktualisierten Fernradwegekarte so- ie das ADFC-Projekt „Radreiseanalyse 2005“. Wir können uns freuen, dass wir diese Projekte mit icht unerheblichen finanziellen Mitteln unterstützen önnen. Diese sind jedoch wirklich nur eine Unterstüt- ung, denn Deutschland ist groß und es liegt enorm viel rbeit an. Diese wird mit unglaublichem Engagement on vielen Ehrenamtlichen geleistet. Hier geht mein aus- rücklicher Dank an alle, die sich einsetzen und an der ktualisierung der Fernradwegekarte arbeiten. Ich bin sicher, hier wird etwas Bleibendes geschaffen nd etwas wirklich Sinnvolles vorangebracht. Herzli- hen Dank! Zum Abschluss der Aufzählung der guten Taten: In er nächsten Woche werden wir einen Fahrradkongress n Berlin haben, bei dem die Aktivitäten in den Regionen nd best practice dargestellt werden und aus dem weitere mpulse gewonnen werden müssen. Abstimmungsarbeit steht an. So liegt aktuell die Ver- rdnung der Änderung straßenverkehrsrechtlichen Vor- chriften zur StVO vor. 12748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Und das ruft mir in Erinnerung die Regelung für mehr Sicherheit für Fahrradfahrer, die wir mit dem verbesser- ten Sichtfeld für LKW-Fahrer – Ausschaltung des toten Winkels – gemacht haben. Wie sieht hier die Praxis aus? Von der Vorsitzenden des Arbeitskreises Sicht und Bediensicherheit des Verbandes der Automobilindus- trie, VDA, Frau Elisabeth Frank, wurde auf meine An- frage nochmals bestätigt, dass die deutsche Automobil- industrie nach wie vor zu ihrer Zusage steht, so schnell wie möglich die Neufahrzeuge über 7,5 Tonnen mit dem neuen Spiegelsystem auszurüsten sowie diese Spiegel auch für die Nachrüstung anzubieten. Ein Aspekt beschwert unsere doch recht positive Ar- beit für den Fahrradverkehr – die Mitnahme des Fahr- rads auch im ICE. Also ich muss das hier nicht lang und breit ausführen. Der ADFC und seine Mitglieder fordern das. Ich will das und fordere das. Die Opposition will das und fordert das. Die Bahn will nicht und erklärt hinlänglich umständlich und nicht nachvollziehbar, dass sie das nicht will. Liebe Bahn, die Forderung – Fahrrad im ICE – steht in unserem Antrag drin, also werden wir da dranbleiben. Ich kann die Opposition nur aufordern, sich an der Über- zeugungsarbeit an der Bahn mit zu beteiligen – wir fei- ern dann auch gemeinsam. Zum Schluss, trotz Wetter, Winter und sonstige Wi- drigkeit: Das Fahrrad ist ein Verkehrsmittel der Zukunft. Das Fahrrad gehört zu einer zukunftsfähigen Verkehrs- politik wie die Sonnenenergie zu einer zukunftsfähigen Energiepolitik. So wie es uns mit einer vernünftigen Politik gelungen ist, so richtig die Sonne anzuzapfen, müssen wir mit ei- ner vernünftigen Politik dafür sorgen, dass sich die Rä- der im Fahrradverkehr immer mehr und besser drehen. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mitte der 90er- Jahre eingebrachte Initiative zur Schaffung eines Natio- nalen Radverkehrsplanes ist von der Bundesregierung in der Zwischenzeit umgesetzt worden. Das begrüßen und anerkennen wir. Doch wir beklagen, dass zwischen An- spruch und Wirklichkeit der Berliner Politik für das Ver- kehrsmittel „Fahrrad“ ein zunehmender Widerspruch deutlich wird. Doch zunächst zu den kleinen Kuriositäten unseres parlamentarischen Systems: Diesem haben wir es zu ver- danken, dass wir die zwei – zu Sommeranfang gestellten – Anträge zum Fahrradverkehr genau dann debattieren, wenn es draußen nass und kalt wird und so mancher sein Fahrrad winterfest im Keller parkt. Allerdings: Einen echten Radfahrer hält schlechtes Wetter ja auch nicht vom Radfahren ab, somit sollte auch nichts gegen eine politische Debatte zum Thema „Förderung des Radver- kehrs“ mitten im November sprechen. Bei der Fahrradpolitik scheint die Bundesregierung aufs Einrad umgestiegen zu sein: Mehr blumiger Rad- korso als klares „Radfahr-Förderkonzept“, mehr „Kreis- v g R t h s d R J e u V k i A – m b E c w n d t d w n w t g W l g K r d g m c z a A u w s n b g V d R f d (C (D erkehr“ als Strecke, mehr „Steher-“ als „Tempo-Strate- ie“! Der Antrag der Regierungskoalition zum Nationalen adverkehrsplan erstaunt. Er ist auch nur vor dem Hin- ergrund einer vernichtenden Kritik des ADFC zu verste- en. Dessen Repräsentanten, die kompetent und kon- truktiv sind, ist beim letzten parlamentarischen Abend er Kragen geplatzt; den andauernden Stillstand in der adverkebispolitik haben sie kritisiert. Nach über zwei ahren Winterschlaf meldet sich die Regierungskoalition ndlich zurück aufs fahrradpolitische Parkett. CDU/CSU nd FDP haben sich im gleichen Zeitraum mit einer ielzahl von Initiativen fördernd für eine aktive Radver- ehrspolitik eingesetzt; doch stets haben Rot-Grün mit hrer Mehrheit jeglichen Fortschritt verhindert. Erfreulich ist, dass die heute hier vorliegenden zwei nträge sich im Ziel kaum unterscheiden. Beide fordern auch in einzelnen Punkten erstaunlich übereinstim- end – eine konsequentere Förderung des Radverkehrs, eziehungsweise eine forcierte Umsetzung des NRVP. s herrscht Einigkeit über das Grundsätzliche: Die Förderung des Radverkehrs ist aus gesundheitli- hen, verkehrspolitischen und ökologischen Gründen ichtig. Und wer die Erfolge der Fahrradpolitik in Dä- emark, den Niederlanden und in der Schweiz verfolgt, er weiß: Wir alle müssen noch mehr in die Pedale tre- en. Bei aller Freude über Gemeinsamkeiten muss aller- ings festgestellt werden: Es überwiegt Verunsicherung, enn man den Koalitionsantrag genau in Augenschein immt. Welchen Zweck hat der Antrag der Koalition irklich? Geht es im Antrag wirklich um die dargestell- en Ziele, oder sollen der Bundesregierung die Waden estärkt und die Pedale geputzt werden? Sicher ist: unsch und Wirklichkeit stimmen nicht überein. Nur so assen sich die drei Seiten Lobeshymnen und langwieri- en Darstellungen vor den eigentlichen Forderungen im oalitionsantrag erklären. Nur so lässt sich erklären, wa- um anstelle der seit langem von uns geforderten Vorlage es Fortschrittberichtes zum NRVP mit einem Propa- anda-Antrag reagiert wird. Statt neue Wege zu suchen und Mögliches möglich zu achen, ist man meist damit beschäftigt, Gründe zu su- hen, irgendetwas nicht zu tun – oder besser: nicht tun u können. Statt kraftvoll Ideen, die sowohl im NRW als uch im Bundestagsbeschluss aber natürlich auch vom DFC und anderen Verbänden vorgeschlagen wurden mzusetzen, beschreitet man den Weg der „idealen“ Ver- altung: Ideen sammeln, Listen erstellen, prüfen, for- chen, verwerfen, neue Ideen anfordern, ablehnen. Trotzdem ist anzuerkennen, dass die Bundesregierung icht ganz untätig gewesen ist: Die Mittel für den Aus- au der Radwege gehören dazu, wobei aber unterschla- en wird, dass mit Beginn der 90er die entscheidenden oraussetzungen für die Auslegung und Finanzierung er Radwegenetze geschaffen wurden. Aus Gründen der edlichkeit auch gegenüber den fast 60 Millionen Rad- ahrern in Deutschland ist jedoch festzustellen, dass in er konkreten Umsetzung des NRVP, nämlich der da- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12749 (A) ) (B) ) mals festgelegten aktiven Förderung des Radverkehrs durch die Bundesregierung, in vielen Bereichen zu we- nig getan wurde und wird. In Bezug auf die Umsetzung des NRVP müsste man sogar Shakespeare widersprechen, der einmal sagte: „Wo Geld vorangeht, sind alle Wege offen“. Denn um das Ziel des NRVP, den Anteil des Radverkehrs bis 2012 deutlich zu erhöhen, reicht der Bau von Radwegen bei weitem nicht aus. Die Umsetzung – so das Konzept – erfolgt im Klei- nen: auf Länder- und kommunaler Ebene. Die zahlrei- chen Pro-Rad-Organisationen und freiwilligen Initiati- ven brauchen jedoch Unterstützung in der Umsetzung vor Ort. Denn sonst haben wir im Jahr 2012 mehr Rad- wegekilometer als Radfahrer. Durch das Aufschieben der Vorlage des Fortschrittbe- richtes zum NRVP und des „zweiten Berichts über die Situation des Fahrradverkehrs in Deutschland“ bis zum Frühjahr 2006 entzieht sich die Bundesregierung der Kontrolle und der Verantwortung auch in diesem Be- reich der Verkehrspolitik. So bleibt zu vermuten, dass die Bundesregierung mit dem Hinweis, dass eine Be- standsanalyse über die Umsetzung des NRVP drei Jahre nach dessen Umsetzung im Frühjahr 2006 sinnvoller ist, bereits jetzt das nächste Wahljahr im Auge hat. Sachge- recht wäre eine Vorlage im Frühjahr 2004 gewesen. Inte- ressant und amüsant ist in diesem Zusammenhang auch die Rechenmethode der Regierung: Die Zeit zwischen Auflage des NRVP im Frühjahr 2002 und der beabsich- tigten Veröffentlichung des Fortschrittsberichtes im Frühjahr 2006 errechnet sie mit drei Jahren. Das nenne ich kreativ. Wäre die Regierang genauso dynamisch wie sie bei Zeitfragen kreativ ist, dann wäre nicht erst im Juni dieses Jahres die seit langem von der Union und vom ADFC geforderte eigenständige „Arbeitseinheit Fahrradver- kehr“ einberufen worden. Ohne sie ist eine effiziente Umsetzung des NRVP gar nicht möglich! Sie hätte be- reits viel früher geschaffen werden müssen! Hier liegt ein unnötiges Versäumnis der rot-grünen Bundesregie- rung vor. Für die Öffentlichkeit sind die Handlungsmaximen in der Fahrradpolitik der Bundesregierung nur schwer er- kennbar. Zwar versucht das Verkehrsministerium mit der Durchführung von Veranstaltungen zur Förderang des Radverkehrs und zur Umsetzung des NRVP den Schein der Aktivität zu wahren; trotzdem gilt – frei nach Shake- speare: „Die Kappe macht den Mönch nicht aus“. Zurück zum Antrag: Die im Antrag als „Feststellun- gen des Deutschen Bundestages“ getarnten „Schönwet- ter-Worte“ halten einer genaueren Prüfung meist nicht stand: So heißt es unter 1.: „Viele Maßnahmen zur För- derung des Radverkehrs liegen aufgrund unserer födera- tiven Verfassung in der Verantwortung von Ländern und Kommunen.“ So weit ist gegen diese Feststellung nichts einzuwen- den. Weiter heißt es: „Dem Bund kommt die Koordinie- rungsfunktion für die Umsetzung des NRVP zu. Mit Vor- lage des NRVP bekennt sich die Bundesregierung zu i d k U g m i d b b d a d w w N h s b n F s r W E n R w D b s I n s w n c G v d a R e G s d v r z e d f s A u (C (D hrer aktiven Rolle als Katalysator und Moderator bei er Förderung des Radverkehrs.“ Interessanterweise wird vom Bund-Länder-Arbeits- reis genau diese Rolle der Bundesregierung bei der msetzung nicht bestätigt. Hier hat man deutlich die zö- erliche Zusammenarbeit mit dem BMVBW kritisiert. Von einer Moderatorenrolle kann keine Rede sein; ehr von einer Hinterradbremse. Aber seit Shakespeare st ja bekannt: „Menschen deuten oft nach ihrer Weise ie Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn“. Zu hoffen leibt, dass mit der Schaffung einer eigenständigen Ar- eitseinheit im BMVB auch die Zusammenarbeit mit em Bund-Länder-Arbeitskreis verbessert wird. Aber uch wenn es um die Vernetzung von Radwegen geht, elegiert die Bundesregierung die Verantwortung immer ieder an die Länder, Kommunen und Verbände. Dabei äre es ihre Aufgabe als „Moderator und Motor des RVP“ eine Zusammenarbeit sicherzustellen. Sie hat ier die Pflicht, für die Abstimmung der Interessen zu orgen. Sie hat die Verantwortung, dass das seit langem estehende Konzept für eine fahrradtouristische Koordi- ierungsstelle endlich umgesetzt wird. Anders sieht die Sache bei der Diskussion um die ahrradmitnahme im Bahnfernverkehr aus. Hier gefällt ich die Bundesregierung ausnahmsweise in der Mode- atorenrolle. Sie erweist sich jedoch als „Schaf im olfspelz“! Anstatt zu prüfen, ob die im Allgemeinen isenbahngesetz und in der Eisenbahn-Verkehrsverord- ung geregelte Beförderungspflicht von Personen und eisegepäck auf Fahrräder ausgedehnt werden kann, erden seit Jahren sporadische Verhandlungen mit der eutschen Bahn geführt, die bisher nicht wirklich ziel- ringend sind. Auch hier wieder: viel Aktionismus, ohne innvolle Konsequenzen. Was wir brauchen, sind neue nitiativen, um die Erreichbarkeit deutscher Ferienregio- en im Fernverkehr für Radtouristen deutlich zu verbes- ern. Trotz aller Kritik bleiben Lichtblicke. Konfuzius usste schon: „Wenn über das Grundsätzliche keine Ei- igkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu ma- hen.“ Das ist hier glücklicherweise nicht der Fall. Im rundsatz sind wir uns über alle Fraktionen beim Rad- erkehr einig und wir sollten auch weiter gemeinsam für en Erfolg des Radverkehrsplans arbeiten. Die bereits ngesprochene Verbesserung bei den Mitteln für den adwegeausbau ist als Lichtblick zu nennen. Jetzt gilt s, diese Mittel auch zu verstetigen und jährlich in dieser rößenordnung bereit zu stellen, das gilt auch für For- chungs- und Projektvorhaben. Aber auch die Schaffung er eigenständigen Einheit „Radverkehr“ im BMVBW erspricht Besserung. Auch sind inzwischen die haushaltsrechtlichen Vo- aussetzungen für eine vereinfachte Vergabe der Mittel ur Umsetzung des NRVP und zur konkreten Förderung inzelner Projekte geschaffen worden. Dies erleichtert ie unermüdlichen Anstrengungen der Verbände. Denn ür die sachkundige und wirkungsvolle verkehrspoliti- che. Arbeit zur Umsetzung des NRVP müssen der DFC und andere Umsetzungsträger mit berechenbaren nd angemessenen finanziellen Mitteln ausgestattet sein. 12750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Unabhängig davon muss die Verkehrssicherheit – auch beim Radverkehr – wieder mehr in den Fokus ge- nommen werden. Die dafür vorgesehenen Mittel von jährlich 11 Millionen Euro bedeuten pro Bundesbürger einen Betrag von nur 14 Cent. Das ist nicht ausreichend. Immerhin beklagen wir pro Jahr um die 600 Todesopfer im Radverkehr. Die Zahl der Fahrradunfälle mit Perso- nenschaden ist im Jahr 2003 sogar um 7,7 Prozent auf über 76 000 angestiegen. Alarmierend! Wer für mehr Radverkehr in Deutschland sorgt, wer in diesem Verkehrsbereich Defizite und Barrieren ab- baut, wer bei einer bundesweiten Kampagne für das Rad mitmacht, der findet unsere Anerkennung und unsere Unterstützung. Mit einem Dank an alle radfahrenden MdB-Kollegen möchte ich schließen. Immer mehr par- ken ihr Zweirad im Regierungsviertel und sogar von den Bündnisgrünen-Kollegen haben einige ihre Autophase beendet und sind wieder auf das Rad umgestiegen. Es lebe die Einsicht! Klaus Brähming CDU/CSU: Das Ziel des Antrags der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel „Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern“ war es, Deutschland noch fahrradfreundlicher zu gestal- ten und das Potenzial des Fahrradtourismus für die deut- sche Wirtschaft besser auszuschöpfen. Dies gilt sowohl für die deutschen Fahrradhersteller, wie beispielsweise Biria in Neukirch in Sachsen, als auch für den weiteren Auf- und Ausbau einer hochwertigen Infrastruktur rund um die regionalen und überregionalen Radwanderwege. Radfahren dient nicht nur der Gesundheit und ist eine Fortbewegung mit dem umweltfreundlichsten Verkehrs- mittel überhaupt, sondern in Verbindung mit dem Fahr- radtourismus ist Radfahren auch ein wichtiger, wachsen- der Wirtschaftsbereich in Deutschland. Die neuesten Zahlen bestätigen die wachsende Bedeutung des Fahr- radtourismus für die deutsche Tourismuswirtschaft. Im Jahr 2003 haben 2,25 Millionen Deutsche einen mehrtä- gigen Urlaub auf dem Sattel verbracht. Dies stellt eine 12,5-prozentige Steigerung gegenüber dem Vorjahr dar. Die Zunahmen gehen dabei fast vollständig auf die Zu- nahmen im Deutschlandtourismus zurück. Nach einer Umfrage der Forschungsgemeinschaft Ur- laub und Reise – FUR – nimmt der Fahrradurlaub auch zukünftig zu: 10,1 Prozent der Deutschen, das sind fast 6,5 Millionen Menschen, planen für die nächsten drei Jahre „ziemlich sicher“ oder „wahrscheinlich“ mindes- tens eine Radreise. Wie wichtig Radurlauber mittler- weile als Wirtschaftsfaktor sind, zeigt folgende Zahl: Die Gesamtausgaben von knapp 70 000 Radtouristen und Tagesausflüglern im sächsischen Teil des Elberad- weges betrugen von April bis Oktober 2003 27,93 Mil- lionen Euro. Aus diesen Gründen haben wir den heute zu debattierenden Antrag in den Deutschen Bundestag ein- gebracht. In dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die rot-grüne Bundesregierung beispielsweise dazu aufgefordert, den Ausbau überregionaler Radwege und die WegbeschiIderung der überregionalen Routen voran- zutreiben und sich bei der Deutschen Bahn AG für eine k H s v F h d r d A d a B T 2 g a z R d g g c W t p A t a F d r l t a s 4 r A R F B m D E R a a r z z n a d d K (C (D undenfreundlichere Fahrradmitnahme vor allem in ochgeschwindigkeitszügen einzusetzen. In den Aus- chusssitzungen bezeichneten die Koalitionsfraktionen on SPD und Bündnis 90/Die Grünen zahlreiche unserer orderungen als überholt oder nicht sinnvoll bzw. außer- alb der Zuständigkeit des Bundes und verwiesen statt- essen auf den Nationalen Radverkehrsplan der Bundes- egierung als dem richtigen Instrument zur Förderung es Fahrradverkehrs. Die Regierungskoalition will daher heute gegen den ntrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen und as stimmt mich persönlich traurig, denn es gibt durch- us gemeinsame Ziele. Beispielsweise haben SPD und ündnis 90/Die Grünen selbst einen Antrag mit dem itel „Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans 002–2012 forcieren“ in den Deutschen Bundestag ein- ebracht. Schon aufgrund des Titels dieses Antrags wird lso deutlich, dass die Regierungskoalition Fehleinschät- ungen und Umsetzungsprobleme bei ihrem eigenen adverkehrsplan einräumt. Gleichzeitig wird der heute ebattierte Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Be- ründung abgelehnt, der Radverkehrsplan der Bundesre- ierung aus dem Jahre 2002 sei das allein glücklich ma- hende Instrument zur Förderung des Radtourismus. as gilt denn nun? Bei einer tiefer gehenden Beschäftigung mit dem An- rag der Regierungskoalition zum Thema Radverkehrs- lan werden weitere Widersprüche deutlich. In diesem ntrag wird die rot-grüne Bundesregierung von den sie ragenden Fraktionen ermahnt, „die Deutsche Bahn AG ufzufordern, ein Konzept für die Fahrradmitnahme im ernverkehr unter Berücksichtung des ICE vorzulegen, as geeignet ist, verlorene Marktanteile bei der Beförde- ung von Fahrradtouristen von und zu ihren Urlaubszie- en zurückzugewinnen“. Recht hat die Regierungskoali- ion, denn Radler nutzen die Bahn erheblich stärker als ndere Touristen. Nach Angaben des Allgemeinen Deut- chen Fahrradclubs – ADFC – wählten im Jahr 2003 1,8 Prozent der Radtouristen die Bahn für die Rück- eise von ihrer Radtour. Bei der Anreise stieg der Bahn- nteil auf 36,3 Prozent. Insofern ist es mir ein völliges ätsel, wie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere orderung nach einer Fahrradmitnahme im ICE mit der egründung ablehnt, man wolle nicht in die unterneh- erische Freiheit der Deutschen Bahn AG eingreifen. ie Initiative der Regierungskoalition ist dann also kein ingriff in die unternehmerische Freiheit? Weiterhin heißt es in dem eben erwähnten Antrag der egierungskoalition, man wolle die Bundesregierung uffordern, „das Radfernwegenetz – D-Netz – weiter uszubauen und durch die Einrichtung einer Koordinie- ungsstelle gemeinsam mit den Ländern für die Umset- ung eines hohen Ausbau- und Beschilderungsstandards u sorgen, da es an einer länderübergreifenden Koordi- ierung mangelt“. Genau die gleiche Forderung erheben uch wir mit unserem Antrag. Unser Antrag wird aller- ings mit der Begründung abgelehnt, diese Themen wür- en in den Zuständigkeitsbereich der Länder und der ommunen fallen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12751 (A) ) (B) ) Angesichts dieser Tatsachen wird deutlich, dass die Ablehnung unseres Antrages weniger auf inhaltlichen, als vielmehr auf ideologischen Gründen basiert. Seit Jahren hinken Sie als Regierungskoalition unseren Ini- tiativen zur Förderung des Radverkehrs und des Fahrrad- tourismus hinterher. Mein Kollege Wolfgang Börnsen und ich freuen uns zwar, dass Sie unsere Forderungen mit etwas Zeitverzögerung übernehmen, bedauern aber den fehlenden Hinweis auf die Ideengeber. Diese un- ideologischen Probleme hätte man auch gemeinsam an- gehen können. Dafür braucht man wahrscheinlich aber Diskussionspartner auf gleicher Höhe und keine Beifah- rer im Windschatten. Wir werden auch weiterhin die Finger in die offenen Wunden legen und sind gespannt auf die nächste Fahr- raddebatte im Plenum zur Beantwortung der Großen An- frage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als wir vor zwei Jahren den Nationalen Radverkehrs- plan verabschiedet haben, geschah dies über alle Frak- tionen hinweg einstimmig. Das war ein gutes Signal und ein Aufbruch für eine neue Verantwortung des Bundes in Sachen Radverkehr. Auch wenn wir heute mehrere Anträge debattieren und wohl auch unterschiedlich abstimmen, so bleibt der Konsens im Kern doch erhalten. Alle Fraktionen wollen, dass mehr für die Förderung des Radverkehrs getan wird und dass die Bundesregierung die Umsetzung des Natio- nalen Radverkehrswegeplans engagiert vorantreibt. Unser Antrag ist aktueller, enthält übrigens viele Punkte, die auch die Union fördert. Sie können also durchaus zustimmen, denn der Antrag zieht eine durch- aus kritische Bilanz der Tätigkeit des Bundesverkehrs- ministeriums und fordert zahlreiche Maßnahmen ein, um das Thema Radverkehr auf einen vorderen Platz der ver- kehrspolitischen Agenda zu holen. Ein erster Erfolg des Antrags ist es, dass im Bundes- verkehrsministerium endlich eine Arbeitsgruppe Rad- verkehr eingerichtet worden ist, die sich voll und ganz dem Thema „Umsetzung des Nationalen Radverkehrs- plans“ widmen kann. Diese Arbeitsgruppe wird in den kommenden Wochen noch zusätzlich personell verstärkt werden. Mittelfristig sehen wir dennoch Bedarf für ein eigenes Referat für den Radverkehr. Es kann nicht sein, dass ein Verkehrsträger wie das Fahrrad ohne institutio- nellen Ansprechpartner ist, während sich alleine acht Referate mit dem Thema Wasserstraßen in Deutschland befassen. Positiv ist, dass die zwei Millionen Euro für nicht in- vestive Maßnahmen zur Umsetzung des NRVP, die die rot-grünen Fraktionen seit diesem Jahr erstritten haben, beginnen Wirkung zu zeigen. Wir freuen uns sehr, dass das erfolgreiche Programm von ADFC und AOK „Mit dem Rad zur Arbeit“ dieses Jahr mit rund 250 000 Euro aus diesen Mitteln gefördert werden konnte. Das Fahrradportal im Internet wird dem- nächst online gehen. Nachdem eine Projektträgerschaft i g O r e p n Ü d s d w d t w G P k v d l l R k ö s d D m z d w i D k E f s f n k b z B h f k d w f d g f s M R g (C (D nstalliert wurde, sind nun Ausschreibungen für Projekte estartet worden, die zum Beispiel die Hemmnisse im rdnungsrecht systematisch analysieren und Verbesse- ungsvorschläge machen sollen, die die Übertragbarkeit iner Stiftung FahrRad, wie sie in der Schweiz existiert, rüft und die eine Förderfibel erstellt, in der für Kommu- alpolitiker und -verwaltung eine leicht verständliche bersicht über die Vielzahl an schon existierenden För- ermöglichkeiten zur Förderung des Radverkehrs ge- chaffen wird. Wir halten es im Übrigen für sinnvoll, bei der Vergabe er nicht investiven Mittel in Zukunft einem Beirat mit- irken zu lassen, dem Vertreter des Bundes, der Länder, er Verbände, der Wissenschaft und der Zweiradindus- rie angehören. So würde gewährleistet, dass die Aus- ahl der Projekte praxisnah und mit Expertise erfolgt. leichzeitig kann der Beirat genutzt werden, um die rojekte und ihre Ergebnisse in der Öffentlichkeit be- annter zu machen. Der Antrag der Koalition fordert zudem ein Konzept on der Deutschen Bahn AG, wie sie sich die Zukunft er Fahrradmitnahme im Fernverkehr vorstellt. Die Zah- en sind, wie der Antrag ausführt, dramatisch: In den etzten fünf Jahren hat sich die Zahl der transportierten adreisenden fast halbiert. Die Position der Bahn, in Zu- unft weiter nur das IC/EC-Netz für den Radtransport zu ffnen, ist für uns nicht hinnehmbar. Das IC/EC-Netz oll noch weiter ausgedünnt und durch ICE ersetzt wer- en. Von Berlin nach München oder von Köln nach resden käme man bei Fahrradmitnahme dann nur noch it vier- bis fünfmaligem Umsteigen mit Nahverkehrs- ügen. Auch die Umbaukosten, die von der Bahn bei je- er passenden und unpassenden Gelegenheit genannt erden, sind für uns nicht nachvollziehbar. Der ICE-T st schon heute für die Fahrradmitnahme vorgerüstet. er Umbau des ICE 1 könnte fahrradgerecht ohne Mehr- osten erfolgen. Wenn die Bahn an dieser Stelle nicht insicht zeigt, werden wir zu prüfen haben, ob eine Be- örderungspflicht nicht Gegenstand des Allgemeinen Ei- enbahn-Gesetzes werden muss. Sorge bereitet uns auch nach wie vor, dass das Geld ür den Bau von Radwegen an Bundeswasserstraßen icht abfließt. Hier wird intensiv über Lösungsmöglich- eiten nachgedacht, zum Beispiel über eine Verschie- ung dieser Mittel in das Gemeindeverkehrsfinan- ierungsgesetz, GVFG. Der Antrag fordert die undesregierung zudem auf, mit den Ländern in Ver- andlungen über eine Zweckbindung von mindestens ünf Prozent der Mittel für die Förderung des Radver- ehrs zu verhandeln. Hier wird zunächst das Ergebnis er Föderalismuskommission abzuwarten sein, wo es, ie man hört, Bestrebungen gibt, das GVFG als Misch- inanzierung abzuschaffen. Unabhängig vom Ausgang ieser Verhandlungen müssen wir in Zukunft dafür sor- en, dass mehr Geld in die kommunale Radverkehrsin- rastruktur investiert wird. Nur so holen wir die Men- chen aus den Autos auf die Räder. In Zeiten knapper ittel sei nochmals daran erinnert: Die Förderung von adverkehr ist die preiswerteste Verkehrspolitik und zu- leich ein Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz. Und 12752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) zu guter Letzt: auch ein Beitrag zur Gesundheitspräven- tion. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es ist doch schon interessant, was diese Bundesregierung unter „Mobilität“ versteht. Anscheinend gibt es eine neue so- zialdemokratische Definition: Stillstand. Das sind wir ja aus anderen verkehrspolitischen Bereichen schon ge- wohnt. Aber dass es bei der Umsetzung des Ziels, mehr Radverkehr in Deutschland zu fördern, derartige Verzö- gerungsspielchen gibt ist wirklich unglaublich. Was tun denn eigentlich die nachhaltig durch die Liebe zur Mut- ter Natur durchdrungenen Gutmenschen in dieser fulmi- nanten Bundesregierung für den Radverkehr in Deutsch- land? Erst ablehnen und dann nachdenken. Das tun sie. Im Verkehrsausschuss wurde von den Mitgliedern beider Koalitionsfraktionen der Antrag auf unverzüg- liche Vorlage eines Fortschrittsberichts – dieser Begriff ist ja schon der reinste Euphemismus – zum Radver- kehrsplan abgelehnt mit der Begründung, dass ja der sehr ambitionierte Radverkehrsplan vorliege, der aber zu langsam umgesetzt worden sei und man diese Umset- zung nun beschleunigen müsse. Für diese Erkenntnis haben die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen zwei Jahre gebraucht. Same procedure as every year! Denn wir haben vor einem Jahr bereits abgefragt, was denn überhaupt schon von dem „Masterplan für den Radverkehr“ umgesetzt wurde. Natürlich nicht sehr viel. Mittlerweile haben dies also auch die Kollegen der Mehrheitsfraktionen mitbe- kommen. Aber vielleicht wollte man vonseiten der Bundesre- gierung auch das erreichen, was im Laufe des letzten Jahres eingetreten ist: Der Anteil der Rad Fahrenden in Deutschland ist nach jüngsten Zahlen gesunken. Wenn Sie glaubwürdige Politik für den Radverkehr machen wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitions- fraktionen, muss mehr geschehen als das Beantragen ei- ner Forcierung einer Umsetzung eines Plans. Was könnte man also für den Radverkehr tun? Viel- leicht sollte man das Wort „Handlungsempfehlungen“ im Nationalen Radverkehrsplan wörtlich nehmen und pragmatisch vorgehen. Einen Haushaltstitel eigens für Fahrradverkehrsinfrastruktur einführen und das Gemein- deverkehrsfinanzierungsgesetz ändern ist ja ein schöner Ansatz. Aber die Vorschläge der Kommunen und Flä- chengemeinden sowie Fahrradverbände zu prüfen wäre weitaus effizienter. Gerade in strukturschwachen Re- gionen ist der Fahrradtourismus wichtig. In Zeiten von leeren Gemeindekassen ist dieser Wirtschaftzweig eine wichtige Einnahmequelle geworden. Um regulierungs- wütige Aktionen zu verhindern und sinnvolle umzuset- zen, sollte die Steuerungsgruppe Fahrradverkehr im Ministerium mit entsprechenden Kompetenzen ausge- stattet werden und endlich handeln. Eine gute Maß- nahme wäre die Erneuerung der Schilder für Rad Fah- rende an Wegen und Straßen. Notwendig sind neue Beschilderungen für Fahrradtouristen. Aber bevor man sich ein zusätzliches System ausdenkt, sollte man eher ü d z A m f b e t w s a k h u f R a r r u z s s l f s u w F P b t D u V d L i v A B s t n (C (D ber die „Lichtung“ des allgemein vorhandenen Schil- erwaldes diskutieren. Vorbildlich für eine gut funktionierende Kooperation wischen Politik und Verbänden ist das Projekt des DFC und des baden-württembergischen Wirtschafts- inisteriums mit dem Titel „Bett & Bike – Fahrrad- reundliche Beherbergungsbetriebe in Baden-Württem- erg.“ 1995 gab es 216 Einträge – zehn Jahre später sind s 3 500. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali- ionsfraktionen, ich will Sie nicht überfordern, daher er- ähne ich nur noch zum Schluss, dass es neben der Um- etzung des Nationalen Radverkehrsplans noch einige ndere Problemfelder gibt, die zum Thema Fahrradver- ehr in Deutschland dazu gehören. Die Verkehrssicher- eit der Rad Fahrenden ist zu bedenken, allerdings ist nterdessen bei dem Zustand der Straßen in Deutschland ast jeder Verkehrsteilnehmer gefährdet. Zum Thema adverkehr und damit auch Straßenverkehr gehört aber uch die Reform der Verkehrserziehung und der Fahrleh- erausbildung. Das Vorhalten von Verkehrsinfrastruktur eicht nicht aus, das Verhalten der Verkehrsteilnehmer ntereinander ist mindestens genauso wichtig. Die Voll- ugsdefizite bei Verkehrskontrollen wie auch die techni- che Ausrüstung von LKW und PKW sind ebenfalls tändig in der Diskussion. Zu guter Letzt komme ich zu meinem Lieb- ingsthema, der DB AG. Sie „aufzufordern, ein Konzept ür die Fahrradmitnahme im Fernverkehr unter Berück- ichtigung des ICE vorzulegen“, wie die Kolleginnen nd Kollegen der Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag agen, mag ja noch realistisch sein. Es im Sinne der mit ahrrad Reisenden zu realisieren leider nicht. Aber das roblem würde gar nicht existieren, gäbe es einen Wett- ewerb im Personenfernverkehr auf der Schiene. Also: Die Voraussetzung für einen erfolgreichen Rad- ourismus und damit mehr Fahrrad Fahrenden in eutschland sind ordentliche Radwege, eine einfache nd gut verständliche Beschilderung sowie eine gute ernetzung der verschiedenen Verkehrsträger. Entschei- end dafür ist die enge Zusammenarbeit zwischen Bund, ändern und Verbänden. Einen Nationalen Radverkehrsplan, der unbeachtet in rgendeiner Schublade des Bundesverkehrsministeriums or sich hin modert, braucht keiner. nlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Pilotprojekt für die virtuelle Rekonstruktion von vorvernichteten Stasi-Unterlagen beginnen (Tagesordnungs- punkt 13) Barbara Wittig (SPD): In den letzten Wochen des estehens der DDR hat das Ministerium für Staats- icherheit in großem Umfang Akten vernichtet – auf un- erschiedliche Weise. Circa 16 000 Säcke mit zerrisse- em Material konnten sichergestellt werden – es waren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12753 (A) ) (B) ) circa 600 Millionen Schnipsel. Sie stammen überwie- gend aus der Zeit von 1980 bis 1989. Gerade diese Unterlagen aus den letzten Jahren der Existenz der Stasi sind aber von besonderem Interesse. Zwar hatte die Leitung der Stasi mit ihrer Weisung vom 22. November 1989 versucht, die aus ihrer Sicht schutz- würdigen Quellen hastig zu vernichten, doch das gelang zum Glück nur teilweise. Die mehr als 16 000 Säcke mit zerrissenem Material sind der Beweis dafür. Wir alle wissen es zu schätzen, dass fleißige Mitarbei- ter in mühevoller Kleinarbeit per Hand seit 1995 insge- samt mehr als 500 000 Seiten wiederhergestellt haben. Das rekonstruierte Material ist nicht nur interessant – nein, es ist von unschätzbarem historischen Wert. Des- halb ist es auch der politische Wille aller Fraktionen des Bundestages, diese Unterlagen wiederherzustellen, und zwar IT-gestützt. Dass das möglich ist, davon haben wir uns im Fraunhofer-Institut überzeugt. Der Haken ist nur der: Das ganze Projekt mit 16 000 Säcken würde 60 Millionen Euro kosten. Ein Pi- lotprojekt mit nur 400 Säcken würde 6,3 Millionen Euro kosten. Um dieses Pilotprojekt mit nur 400 Säcken geht es der CDU/CSU in ihrem Antrag. Ein solches Pilotprojekt müsste in zwei Phasen ablau- fen: 2005 müsste der Bund 2,2 Millionen Euro für die Weiterentwicklung der Software zur virtuellen Rekons- truktion bis zur Produktionsreife bereitstellen. 2006 wären für die Test- und Evaluierungsphase, in der Unterlagen aus 400 Säcken im industriellen Maßstab rekonstruiert werden sollen, weitere 4,1 Millionen Euro nötig. Diese Mittel haben wir zurzeit nicht – weder für das Pilotprojekt noch für das Gesamtprojekt. Die Bericht- erstatter aller Fraktionen im Haushaltsausschuss haben dies übrigens auch so gesehen. Wenn die CDU/CSU heute in der so genannten Berei- nigungssitzung des Haushaltsausschusses einen Antrag stellt, 2,2 Millionen Euro bereitzustellen, ohne zu sagen, wo dieses Geld hergenommen werden soll, dann ist das unredlich und verantwortungslos. Unsere Position ist folgende: Am Ziel der Rekonstruktion der vorvernichteten Unterlagen halten wir fest. Das Projekt – und zwar das Gesamtprojekt – müssen wir aus finanziellen Gründen zurückstellen. Deshalb muss das Material sicher unterge- bracht bleiben. Abschließend möchte ich deshalb meine besondere Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass der Haus- haltsausschuss heute knapp 3 Millionen Euro für 2005 bereitstellen wird, um mit den notwendigen Struktur- maßnahmen in der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- ligen DDR beginnen zu können. i e t s g v s S r Z F s A M s s z a z d d v O t S ü R A n G d n P z u 1 z n f E n g S t a w m g r d s n n E „ (C (D Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Bereits m Jahr 2000 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, lektronische Bildauswertungssysteme zur Rekonstruk- ion von zerrissenen Stasi-Unterlagen einzusetzen. Die- er Beschluss wurde von allen Fraktionen dieses Hauses etragen. Begründet wurde er vor allem damit, dass die orvernichteten Stasi-Unterlagen hochaktuell sind, weil ie vorwiegend aus den letzten DDR-Jahren stammen. ie sind hierdurch besonders wertvoll und authentisch. Aus einem sehr sorgfältigen Ausschreibungsverfah- en, an dem sich 15 Anbieter beteiligt hatten, ging der uschlag schließlich an ein Konsortium aus dem raunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Kon- truktionstechnik und der Lufthansa-Tochter GbD. Der usschreibungssieger erstellte zunächst einmal eine achbarkeitsstudie. Diese Studie formulierte die techni- chen Möglichkeiten, die Kosten und auch die politi- che, historische und menschliche Bedeutung der bereits usammengesetzten Unterlagen. In zehnjähriger Puzzletätigkeit sind Papierschnipsel us 250 Säcken zusammengesetzt worden. Das sind war gerade einmal 1,5 Prozent der Gesamtmenge; aus ieser relativ geringen Zahl sind allerdings äußerst be- eutsame personen- und sachbezogene Unterlagen her- orgegangen. Immerhin 970 registrierte Vorgänge über pfer und Täter haben sich hieraus ergeben. Aus der Li- eratur waren es Günter Wallraff, Sascha Anderson, tefan Heym oder Jürgen Fuchs. Es fand sich Material ber die Dopingmediziner Wendler und Krämer, die AF-Terroristen Baader/Ensslin, Maier-Witt oder lbrecht; aber auch wichtige Unterlagen über Oppositio- elle wie Robert Havemann, Bärbel Bohley, Ulrike und erd Poppe, Rainer Eppelmann oder Wolf Biermann wur- en zusammengesetzt. Von den Sachvorgängen nenne ich ur Berichte und Maßnahmen zu Parteiengründungen und rotestbewegungen des Herbst 1989, über Verhandlungen um Grundlagenvertrag oder über Rechtsextremismus nd jugendliche Randgruppen in der DDR. Damit sind in den insgesamt noch nicht bearbeiteten 6 250 Säcken noch zahlreiche interessante Unterlagen u erwarten. Das Pilotprojekt hätte den Charme, nicht ur die praktische Wirksamkeit des elektronischen Ver- ahrens in der Alltagspraxis auf den Prüfstand zu stellen. s würde vielmehr auch ohne eine mögliche Fortsetzung ach einem Jahr Sinn machen. Mit Blick auf die bisheri- en wertvollen Erkenntnisse der zusammengepuzzelten eiten sind auch aus den 400 zusätzlichen Säcken wei- ere interessante Inhalte zu erwarten. Wir wissen jetzt uch, dass das Puzzeln von Hand sogar bedeutend teurer ar als die elektronische Anwendung; denn auch das anuelle Verfahren war nicht umsonst. Wenn man die leichen Maßstäbe anwendet, welche das Innenministe- ium für das elektronische Verfahren gesetzt hat, dann ist as Handpuzzeln dreimal so teuer wie die neuen techni- chen Möglichkeiten. Bisher sind in zehn Jahren immerhin 11,385 Millio- en Euro für 250 Säcke aufgewandt worden. Elektro- isch rekonstruiert kosten 400 Säcke jetzt 6,3 Millionen uro. Leider scheinen Sie von Rot-Grün die Maxime Hinhalten der Opposition und der Wissenschaft durch 12754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Beschäftigung“ ausgegeben zu haben. Eine ganze Reihe von Terminen mit der Birthler-Behörde, mit dem Fraun- hofer-Institut und mit den Haushaltsberichterstattern sollte der Öffentlichkeit vorspielen, sei Rot-Grün es mit dem Suchen nach einer Lösung wirklich ernst. Vollmun- dig wird immer wieder die Wichtigkeit der weiteren Aufarbeitung der Stasi-Akten betont. Noch am 22.Okto- ber 2003 wollte Herr Wiefelspütz „das Projekt energisch vorantreiben“. Er sagte wörtlich: „Es dauert mir zu lange.“ Wenn es allerdings konkret wurde, dann wurden sie ganz kleinlaut. Ihr ganzer Aktionismus war also reine Nebelwerferei. Seit dem Juli 2000 haben sie mehrmals Anträge der Union abgelehnt, zumindest erste kleinere Summen in die jeweiligen Haushalte einzustellen. Herr Wiefelspütz und Frau Stokar haben uns immer wieder versichert, dass die Regierung ihren Worten auch glaub- hafte Taten folgen lassen würde. Bei den Haushaltsbera- tungen im Innenausschuss mussten sie kapitulieren. Sie stellten keinen einzigen Cent für das Projekt ein. Herr Wiefelspütz selbst bezeichnete diesen Vorgang als „Stunde der Wahrheit“. Gerade in diesen Tagen fällt auf, dass diese Bundesre- gierung nach wie vor ein gebrochenes Verhältnis zur Überwindung der deutschen Teilung hat. Sie will die Häftlingshilfestiftung für SED-Opfer im nächsten Jahr abwickeln. Sie stattet die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht mit den notwendigen Mitteln aus. Engagierte Koalitionsvertreter wie Markus Meckel oder Werner Schulz beklagen sich zu recht darüber. Sie wollte sogar allen Ernstes den Tag der Deutschen Einheit als gesetzlichen Feiertag streichen. Die Aufarbeitung und Bewältigung der SED-Diktatur hat bei dieser Regierung keine Lobby. Die Regierung hat sich auch geweigert, die neu ent- standene Gerechtigkeitslücke in Deutschland zu schlie- ßen. Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach verbesserten Rentenregelungen für ehemals staatsnahe Personen bis hin zu Stasi-Mitarbeitern wurde von ihr er- füllt. Gleichzeitig stimmte sie aber gegen unseren Antrag nach einer Besserstellung der SED-Opfer. Herr Schily lehnte zudem ab, gemeinsam mit Frau Birthler in der Sendung vom 19. September bei Sabine Christiansen vor die Kamera zu treten. Dabei ist die Stasi-Unterlagen- behörde zu einem Exportschlager für viele Staaten ge- worden, die gerade eine linke oder rechte Diktatur über- wunden haben. Die Birthler-Behörde ist ein moralischer TÜV, der für die Ausbildung einer verfeinerten politischen Kultur in Deutschland von immenser Wichtigkeit ist. Immer weni- ger Menschen kennen die DDR aus eigenem Erleben. So kommt Einrichtungen wie der Stasi-Unterlagenbehörde oder der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine immer größere Bedeutung zu. Wenn die Regierung schon für die Deutsche Einheit und für die Opfer der SED-Diktatur nur wenig übrig hat, dann sollte sie doch wenigstens der Anwendung einer neuen technischen Innovation eine Chance geben. M s F e H f f w w V A g m B t t F n d w D d b s D G u W s w r v s m m d z V s (C (D Angeblich will die Regierung auch deshalb keine ittel in die Vergangenheitsbewältigung stecken, weil ie einen Schwerpunkt ihrer Politik in der Förderung von orschung und Technologie sieht. Unter dem Eindruck ines Transrapid, der im Alltagsbetrieb nicht zwischen amburg, Schwerin und Berlin, sondern in China fährt, ällt es allerdings schwer, ihr dies zu glauben. Wenn die Bundesregierung diese Maxime trotzdem ür sich beansprucht, dann verstehe ich überhaupt nicht, arum sie die Chancen nicht nutzen will, die sich aus eiteren Anwendungsmöglichkeiten des elektronischen erfahrens ergeben. Wie wir wissen, bestehen aus dem usland bereits Anfragen für so unterschiedliche Fach- ebiete wie Archäologie, Kunst, Medienwirtschaft, Kri- inal- und Polizeitechnik. Seit Monaten fordere ich die undesregierung auf, einen Vertragsentwurf zu erarbei- en, der dem Deutschen Bundestag die Rechte an dem echnischen Verfahren sichert. Bereits im Mai hat das raunhofer-lnstitut in einem Schreiben an das Innenmi- isterium und an Berichterstatter darauf hingewiesen, ass die Umsetzung dieser Pläne nur gelingen wird, enn es schnell geht. Wörtlich heißt es: Wie der internationale Forschungs- und Industrie- markt zeigt, hängen Innovationen insbesondere da- von ab, wie schnell man Ideen umsetzen kann. Wir müssen leider bereits registrieren, dass in mehreren Ländern Forschungszentren bzw. Industrieunter- nehmen unsere Ideen im Zusammenhang mit der virtuellen Rekonstruktion aufgegriffen haben, man von staatlicher und privater Seite investiert und in diese Richtung Produkte plant. Es wäre schade, wenn der wissenschaftliche und technische Vor- sprung verspielt wird und hoch qualifizierte Ar- beitsplätze in unserem Land nicht entstehen wür- den. Ich kann die Regierung nur bitten, nach vier Jahren iskussion endlich ein Zeichen zu setzen. Nutzen wir ie sich bietenden Möglichkeiten zur praktischen Aufar- eitung der SED-Diktatur! Geben wir dem neuen techni- chen Verfahren eine praktische Anwendungschance in eutschland! Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE RÜNEN): Im Berliner Ministerium für Staatssicherheit nd seinen Bezirksverwaltungen lief während der ende zwischen Herbst 1989 und Januar 1990 eine bei- piellose Aktion zur Spurenverwischung. MfS-Offiziere ollten die Spuren ihrer Tätigkeit verwischen. Sie zer- issen Unterlagen und bereiteten sie für die Vernichtung or. Das Ergebnis: 16 000 Säcke voll mit Papierschnip- eln, die erhalten geblieben sind. Nun sollen die Frag- ente mit Computerhilfe automatisiert wieder zusam- engesetzt werden. Nach der Besetzung von Kreis- und Bezirksstellen es MfS im Dezember 1989 konnten Bürgerkomitees usammen mit der Militärstaatsanwaltschaft und der olkspolizei einen großen Teil dieses nicht endgültig, ondern eben nur vorvernichteten Materials sichern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12755 (A) ) (B) ) Nach Gründung der Behörde des BStU wurden circa 16 000 Säcke gezählt, die circa 600 Millionen Papier- schnipsel enthalten. Die Erschließungsergebnisse bestä- tigten die Annahme, dass die Stasi-Offiziere 1989 vor al- lem aktuelle und brisante Unterlagen aus den letzten 20 Jahren der DDR zu vernichten suchten. Im Jahr 1995 wurde in Zirndorf bei Nürnberg damit begonnen, besonders relevante Unterlagen per Hand zu- sammenzusetzen. Die so genannte Projektgruppe Re- konstruktion besteht gegenwärtig aus zwölf Beschäftig- ten des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. In mühevoller Arbeit haben die Beschäftig- ten über 500 000 Blatt wieder zusammengefügt. Das ent- spricht circa zehn Blatt pro Tag und Mitarbeiter. Mate- rialien aus 250 Säcken konnten rekonstruiert werden. Der Bundestag hat allen Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für diese wichtige und verdienstvolle Arbeit zu danken. Mithilfe der manuellen Rekonstruktion konnten be- reits über 1 000 Vorgänge rekonstruiert werden. Das wa- ren keineswegs unwichtige Begebenheiten, sondern An- gelegenheiten von erheblicher öffentlicher Bedeutung. Die Birthler-Behörde macht hier darauf aufmerksam, dass es sich beispielsweise bei IM-Unterlagen wie Ver- pflichtungserklärungen um Unikate handelt. Wiederhergestellt wurden auch Opferakten, mit deren Hilfe Menschen, die von der Stasi verfolgt wurden, ihre Rehabilitierung betreiben können. In den Säcken befin- den sich auch Spionageunterlagen der Abteilung XV, die nicht allzu häufig vorhanden sind. Die Befunde der Zirndorfer Arbeit veranlassten dann den Bundestag in einem fraktionsübergreifenden Be- schluss vom Dezember 2000, die Bundesregierung auf- zufordern, die Birthler-Behörde bei ihren Bemühungen zu unterstützen, das zeit- und kostenintensive manuelle Verfahren durch ein geeignetes IT-gestütztes Verfahren zu ersetzen. Dies war Veranlassung für die BStU, schnel- lere und effektivere Alternativen zur händischen Er- schließung der Unterlagen aus den Papiersäcken zu suchen, nachdem sich erste Überlegungen als zu kost- spielig erwiesen hatten. Den Zuschlag bekam das Fraun- hofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruk- tionstechnik. Uns liegt der Vorschlag für ein Pilotprojekt vor. Für die Entwicklung der Software bis zur Produktionsreife würden im Haushalt 2005 2,2 Millionen Euro benötigt. Die Test- und Evaluierungsphase würde später beginnen, aber 2006 würden Haushaltsmittel von 4,1 Millionen Euro benötigt. Alles in allem beläuft sich die Kalkula- tion auf circa 57,5 Millionen Euro, wenn man die För- dergelder einrechnet. Angesichts der Haushaltslage hat diese Zahl dazu ge- führt, dass wir noch nicht so weit sind, im Bundeshaus- halt verbindliche Zusagen machen zu können. Für mich persönlich und für meine Fraktion heißt das aber nicht, dass wir dieses wichtige Projekt beerdigen. Zwei Über- legungen veranlassen mich, die Zuversicht nicht aufzu- geben: Zunächst einmal bezieht sich die zitierte Gesamt- kalkulation auf alle Kosten im Zusammenhang mit dem P Z f k w k L n S d w e r t j z A b t a s w f z s v l w 1 s B s s n 5 s s w s S b j U M l e s f (C (D rojekt. Wir müssen aber auch die Kosten der manuellen usammensetzung der Akten mit einberechnen. Allein ür die Jahre 1995 bis 2004 beliefen sich die Personal- osten der Behörde auf über 10 Millionen Euro. Eine eitere Million kommt durch die rechnerischen Miet- osten beim BAFL hinzu. Ich denke auch, dass wir die Varianten näher unter die upe nehmen müssen, die eine Rekonstruktion von we- iger Säcken vorsehen. Möglicherweise lässt sich durch tichproben eine bessere Vorsortierung nach dem Grad er Wichtigkeit vornehmen. Lassen Sie mich zusammenfassend festhalten, dass ir fraktionsübergreifend weiter versuchen müssen, hier ine Lösung zu finden, die der zeitgeschichtlichen He- ausforderung, aber auch der Haushaltslage Rechnung rägt. Gisela Piltz (FDP): In Zeiten, in denen sich nach üngsten Umfragen fast jeder fünfte Deutsche die Mauer urückwünscht und der Bundesfinanzminister als erste lternative den Tag der Deutschen Einheit am 3. Okto- er streichen würde, wird deutlich, dass die Aufarbei- ung der DDR-Diktatur nach wie vor aktuell ist und auch ktuell sein muss. Natürlich müssen wir uns in der wirtschaftlich ange- pannten Lage in Deutschland die Frage gefallen lassen, as wir uns leisten können und was nicht. Das gilt auch ür diesen Bereich. Fakt ist: Die Wiederherstellung der errissenen Stasi-Unterlagen ist ein wichtiger Mosaik- tein der Aufarbeitung. In den Zeiten der Wende wurden on den Stasi-Mitarbeitern systematisch wichtige Unter- agen zerrissen. Das, was in dieser Zeit zerrissen wurde, ar mit Sicherheit wichtig. Das Ergebnis sind über 6 000 Säcke voll mit Papierschnipseln. In den Jahren eit 1995 haben sich zuletzt 13 Mitarbeiter der Birthler- ehörde mit dem Zusammenfügen der Puzzlestücke be- chäftigt. In fast zehn Jahren sind so 250 Säcke fertig ge- tellt, 250 von 16 000. Bei diesem Tempo müssten sich die letzten Betroffe- en bis zur Aufklärung einer Bespitzelung noch über 00 Jahre gedulden. Das darf nicht sein. Wie wir alle wissen, könnte mittels eines computerge- tützten technischen Verfahrens eine Rekonstruktion we- entlich schneller und kostengünstiger vorgenommen erden. Die schlichte Frage ist doch: Wollen wir die zerris- enen Akten jetzt wiederherstellen oder packen wir die äcke in den Keller, bis irgendwann dafür wieder Geld ereitsteht? Ich bin der Überzeugung, wir müssen es etzt anpacken. Mit einem ersten Schritt, dem Pilotprojekt, könnten nterlagen aus insgesamt 400 Säcken im industriellen aßstab rekonstruiert werden, deutlich mehr als in den etzten zehn Jahren per Hand. Die FDP hat immer die Auffassung vertreten, dass bei iner konsequenteren Umsetzung der neuen Regional- truktur der BStU das hierfür notwendige Geld zur Ver- ügung stehen könnte; denn uns war immer klar, dass 12756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) zwei neue Großprojekte in diesem Bereich kaum zu finanzieren sind. Dies ist von Rot-Grün im Innenaus- schuss bis vor kurzem immer bestritten worden. Aber es ist eben einfach, erst alle mit einzubinden; aber wenn es um die konkrete Finanzierung geht, kneifen Sie. Sie haben sich nicht wirklich mit unseren Vorschlägen auseinander gesetzt, auch nicht mit denen der Haushäl- ter. Ihnen ist eine halbgare Regionalstruktur lieber als ein Anfang bei der Rekonstruktion. Mit unseren Vor- schlägen müssten keine Mitarbeiter entlassen werden und sie könnten zu den Rekonstruktionsarbeiten heran- gezogen werden. 400 Säcke zerrissener Akten wären da- mit innerhalb kurzer Zeit zusammengefügt und auswert- bar. Im Vergleich zur manuellen Rekonstruktion mit über zehn Jahren Bearbeitungszeit für weniger Säcke und Kosten von über 10 Millionen Euro ist das ein ganz erheblicher Vorteil. Ich bin gespannt, wie Sie den Betroffenen erklären wollen, dass sie zwar problemlos ihre Akten einsehen könnten, aber sie nicht wissen, ob es vielleicht noch mehr Unterlagen gibt, weil die noch nicht zusammenge- setzt sind. Aufgabe der BStU ist die Lagerung und die Wiederherstellung. Das sollten wir immer bedenken. Auch 15 Jahre nach dem Fall der Mauer sollten wir der Aufarbeitung der DDR-Diktatur einen hohen Stel- lenwert einräumen. Die Rekonstruktion ist dazu ein wichtiger Beitrag. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister des Innern: Das Pilotprojekt für die Rekon- struktion vorvernichteter Unterlagen ist ein ehrgeiziges Projekt. Ehrgeizig nicht nur hinsichtlich der technischen Herausforderung, in mehr als 16 000 Säcken aufbe- wahrte Aktenschnipsel einzuscannen und elektronisch zusammenzusetzen, sondern leider auch hinsichtlich der hierfür erforderlichen Kosten. Ich will hier nicht missverstanden werden: Diese Ein- leitung soll nicht den Versuch darstellen, ein unliebsa- mes Projekt über die Kostenfrage zu beerdigen. Die Bundesregierung teilt das mit dem Projekt verfolgte Ziel, neue Erkenntnisse über die Arbeit des Ministe- riums für Staatssicherheit sowie über Täter und Opfer zu gewinnen. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihres Macht- und Repressionsapparates ist eine Aufgabe, der die Bundesregierung unverändert einen hohen Stellen- wert einräumt. Hierzu gehört selbstverständlich auch der finanzielle Einsatz. Ich darf daran erinnern: In den Jahren 1999 bis 2003 sind jährlich weit über 100 Millionen Euro allein in die Behörde der Bundesbeauftragten geflossen. Trotz der angespannten Haushaltslage sieht der Regierungsent- wurf für die Behörde der Bundesbeauftragten – wie 2004 – auch im Jahr 2005 beachtliche 99 Millionen Euro vor. An der Bewältigung der historischen Aufgabe der Aufarbeitung der SED-Diktatur arbeiten dort mehr als 2 300 Mitarbeiter. Insgesamt flossen seit 1991 dafür aus dem Bundeshaushalt rund 1,5 Milliarden Euro. d n t g t f E 6 g A v – w b d f B h U v V m f w g s d d n l g B i d t s h M d w h w c c j d k i s w v g (C (D Es ist aber leider eine unumstößliche Tatsache, dass arüber hinaus im Haushalt 2005 kein Spielraum für eue, kostenintensive Projekte vorhanden ist. Die Kos- en für die Rekonstruktion der vorvernichteten Unterla- en beschränken sich leider nicht auf die in Ihrem An- rag erwähnten 6,5 Millionen Euro. Die Gesamtkosten ür das Projekt betragen vielmehr rund 65 Millionen uro. Hinzu kommen jährliche Folgekosten von circa 00 000 Euro, die im Kapitel der Behörde zu veranschla- en wären. Wer diesen Zusammenhang nicht nennt – Ihr ntrag verschweigt diese Tatsache –, rechnet den Betrag on 6,5 Millionen Euro für das Pilotprojekt letztlich das muss man ehrlicherweise sagen – schön. Ob die Durchführung einer Pilotstudie Sinn macht, enn nicht zumindest Aussichten bestehen, die zu erpro- ende Technik dann auch wie geplant einzusetzen und as Gesamtprojekt durchzuführen, erscheint mir zwei- elhaft. Ich bestreite nicht die fachkundige Analyse der undesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, die darauf ingewiesen hat, dass aus den bereits rekonstruierten nterlagen vor allem historisch und archivarisch wert- olle Erkenntnisse gewonnen wurden. Dennoch: Der ergleich der mutmaßlichen Ergebnisse der Pilotstudie it den Aufwendungen und Ergebnissen der bisher er- olgten manuellen Rekonstruktion ist unredlich. Dies eiß jeder, der die personalwirtschaftlichen Hinter- ründe kennt. Hinzu kommt, dass – auch dies gehört zu einer voll- tändigen Abwägung – die Pilotstudie – so sagt schon ie Bezeichnung – nicht ohne technisches Risiko ist. Ob ieses Risiko sowie die übrigen Einschränkungen hin- ehmbar sind, ist letztlich eine Abwägungsfrage, die al- erdings nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichti- ung auch der Haushaltslage beantwortet werden kann. Wie sind hier die Gegebenheiten? Der Haushalt des undesministeriums des Innern für das kommende Jahr, st durch Personalausgaben sowie von Mehrausgaben für en Sicherheitsbereich gekennzeichnet. Gleichwohl leis- et das Bundesinnenministerium auch seinen solidari- chen Beitrag für die Konsolidierung des Bundeshaus- alts. So sind unter anderem 100 Millionen Euro globale inderausgabe im Haushaltsjahr 2005 im Einzelplan es Bundesinnenministeriums zu erwirtschaften. Bei der vorhandenen Haushaltslage muss der Ge- ährleistung und Weiterentwicklung der inneren Sicher- eit Priorität vor anderen, durchaus bedeutenden und ünschenswerten Aufgaben eingeräumt werden. Für Si- herheitsüberprüfungen der Beschäftigten im öffentli- hen Dienst und anderer Personengruppen wird das Pro- ekt ohnehin, und zwar weder das Gesamtprojekt noch ie Pilotstudie, keine nutzbaren Erkenntnis mehr bringen önnen, denn wie Ihnen bekannt ist, werden die Fristen nsoweit Ende 2006 auslaufen. Bei einer Verbesserung der Haushaltslage – darin sind ich wohl die Fachpolitiker aller Fachrichtungen einig – erden wir das Projekt der IT-gestützten Rekonstruktion orvernichteter Unterlagen erneut auf die politische Ta- esordnung setzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12757 (A) ) (B) ) Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter- nationalen Arbeitsorganisation über Aus- weise für Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis (Tagesordnungspunkt 14) Dr. Margit Wetzel (SPD): Im Juni 2003, unmittelbar nachdem 129 Mitgliedsländer der ILO mit allen Stim- men der deutschen sowie der amerikanischen Delegation das neue Übereinkommen über Identitätsausweise für Seeleute angenommen hatten, appellierte der Verband Deutscher Reeder an die Bundesregierung und die Ge- setzgebungsorgane, die innerstaatliche Gesetzeslage rasch an das neue Übereinkommen anzupassen und des- sen Ratifizierung unverzüglich in die Wege zu leiten, da- mit es zu einer schnellen internationalen Anwendung des Übereinkommens kommt, um bereits eingeleitete regio- nale Eigenentwicklungen künftig zu verhindern, die nicht im Interesse der weltweiten und nationalen See- schifffahrt liegen. Eigentlich ganz im Sinne der Regie- rung, denn schon die G-8-Gipfeltreffen 2002 in Kanada und im Juni 2003 in Frankreich hatten diese Forderung aufgestellt. Diese hochrangigen Bemühungen und der Appell der Reeder hatten und haben einen sehr realen Hintergrund: Die Internationale Konvention der IMO zum Schutz von Schiffen und Häfen vor terroristischen Anschlägen, der so genannte ISPS-Code, der auf Drängen Amerikas Ende 2002 beschlossen und über die SOLAS-Vereinba- rung schnellstmöglich, nämlich zum 1. Juli 2004, inter- national in Kraft gesetzt wurde, hatte die Fragen der Identitätskontrolle von Schiffsbesatzungen ausgespart. Hier musste also dringend nachgearbeitet werden. Wieso dringend? Weil nach den Anschlägen vom 11. Septem- ber das internationale Bemühen um „security“ eine über- ragende Bedeutung gewann, sich aber niemand Gedan- ken darum machte, dass die 90 Prozent des Welthandels, die über Schiffe abgewickelt werden, Arbeitskräfte brau- chen, die an Bord dieser Schiffe arbeiten, die ihren Ar- beitsplatz „Schiff“ in Häfen erreichen müssen. Besatzun- gen – will man sie nicht wie Gefangene am Arbeitsplatz behandeln, sondern ihnen ihre ganz normalen Men- schenrechte zugestehen – müssen in Häfen zum Land- gang von Bord dürfen. Reeder haben ein absolut ver- ständliches Interesse daran, den Crewwechsel so reibungslos wie möglich vollziehen zu können: Die Identität von Seeleuten muss auf verlässlicher, moderns- ter und international einheitlicher Grundlage, kosten- günstig und schnell feststellbar sein, damit eine ausge- wogene Balance geschaffen wird zwischen den Sicherheitsbedürfnissen der Staaten, den individuellen Menschenrechten der Seeleute und den Handelsinteres- sen der Wirtschaft. Dies alles wurde mit der ILO Konvention 185 er- reicht. Unsere französischen Nachbarn haben zum Bei- spiel sehr schnell ratifiziert: Die ILO 185 wird zum 9 n D n m i t i t l s S v b P m d s v a D e d w g g g D d v W P s m d L h v t p Z z I ü d e a d h d H z z v t T v z (C (D . Februar 2005 in Kraft treten. Jeder Seemann soll ei- en international gleichen Identitätsausweis erhalten, ein okument, das ihm die aktive Berufsausübung beschei- igt, das später gegebenenfalls ein biometrisches Merk- al enthält, ein Dokument, dessen Daten für Kontrollen n einer international stets zugänglichen nationalen Da- enbank gespeichert sind: das Dokument, das ihm nach nternationalem Übereinkommen ohne weitere Bürokra- ie den Landgang und zusammen mit seinem Pass mög- ichst auch die visumsfreie Durchreise zum Schiffswech- el oder zum Heimaturlaub ermöglichen soll. icherheitsbegründete Ausnahmeregelungen sind selbst- erständlich möglich. Deutschland aber hat die Konvention wider Erwarten isher nicht ratifiziert, sondern ist immer noch mit der rüfung befasst. Und genau hier setzt der eigentlich ein- ütige Wille des Parlaments – quer über alle Fraktionen es Bundestages – ein: Wir wollen, dass die Prüfung chnellstmöglich zu Ende gebracht, die Ratifizierung orgenommen, in nationales Recht umgesetzt und vor llem so schnell wie möglich zur Realität gebracht wird. ie Unterschiede bezüglich des möglichen Verzichts auf in Visum in den Anträgen der Fraktionen dürfen wir bei ieser Debatte getrost vernachlässigen: Sie kommen, enn überhaupt, erst zum Tragen, wenn es die nationale esetzliche Implementierung der Prüfungsergebnisse ibt. Gerade bei der Visumsfrage sollten wir einen er- änzenden Blick auf die vom Europäischen Rat geplante atenbank des Visa-Informationssystems VIS werfen, as inklusive der biometrischen Daten bis Ende 2007 erwirklicht sein soll. Warum haben wir Parlamentarier es denn so eilig? arum drängen wir in Form von Anträgen und einer lenardebatte die Ministerien zur Eile, wenn doch schon eit mehr als einem Jahr geprüft wird? Werfen Sie mit ir einen Blick auf die derzeitige Praxis in vielen Häfen er Welt: Landgang ist für Seeleute aufgrund der kurzen iegezeiten ihrer Schiffe inzwischen auch ohne Sicher- eitshintergrund schon schwierig geworden. Für viele on ihnen ist er inzwischen unmöglich. Zahlreiche wich- ige Welthäfen haben seit dem 1. Juli 2004 derart kom- lizierte, bürokratische Sicherheitsvorschriften, dass die eit nicht reicht, all die bürokratischen Anforderungen u erfüllen. So wird Verzicht auf Landgang erzwungen. n vielen Häfen dürfen Seeleute aus islamischen Ländern berhaupt nicht mehr von Bord. In manchen Häfen darf ie ganze Besatzung nicht von Bord, wenn die Angaben ines einzelnen Seemanns meist islamischer Herkunft ngezweifelt werden. Selbst schwer kranke Seeleute urften in amerikanischen Häfen nicht von Bord zur Be- andlung gebracht werden. Das erinnert fatal an Rassen- iskriminierung. Oder stellen Sie sich vor, was mir aus dem Hafen amburg berichtet wurde: Ein Seemann darf sein Schiff um Landgang verlassen und soll, weil sein Schiff in- wischen zum Laden oder Löschen an einen anderen Kai erholt, dort nach drei Stunden wieder seine Arbeit an- reten. Er kann aber nicht an Bord, weil an dem anderen erminal andere Sicherheitsvorschriften gelten, die er orher nicht kannte. Was dann? Pakistanische Besat- ungsmitglieder durften in Brunsbüttel nicht einmal zum 12758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Landgang von Bord, um mit ihren Familienangehörigen zu telefonieren. Oder denken Sie an all die Reedereien, die ihre Crew wie üblich in irgendeinem Hafen der Welt auswechseln wollen: Die alte Besatzung darf nicht von Bord, darf nicht zum Flughafen, um zum nächsten Schiff zu kommen oder den verdienten Heimaturlaub anzutre- ten. Auch das ist übrigens in unserem Welthafen Ham- burg geschehen. Wie viele Besatzungen mussten deshalb schon weiterarbeiten und an Bord bleiben, obwohl der Heuervertrag zu Ende war. Wie viel Leid bei Seeleuten, wie viele unnötige Kosten bei Reedereien sind daraus bereits entstanden. Seeleute werden wirklich zu Gefan- genen auf ihren Schiffen – das kann so nicht bleiben, das muss schnellstens geändert werden. Landgang ist für den Seemann ein ebenso grundle- gendes Menschenrecht wie das Recht darauf, seinen Ar- beitsplatz erreichen und verlassen zu dürfen. Was wür- den wir sagen, wenn man uns in unseren Häusern einsperrte, Besucher nicht durchlässt und uns das Verlas- sen des Hauses aus Sicherheitsgründen untersagt? Das ist nicht vergleichbar? Oh doch! Denn auch Besuch darf der Seemann in vielen Häfen nicht mehr empfangen. Da ist zum Beispiel die Kapitänsfrau, die nach langer An- reise zu ihrem Ehemann in der Schleuse Kiel-Holtenau nicht an Bord durfte. Selbst den Diakonen der See- mannsmission und den Vertretern der Gewerkschaft wird das Betreten der Schiffe unendlich schwer gemacht: Sie sind es, die wenigstens noch Kontakt zur Außenwelt schaffen können, die Medikamente, Briefe von Angehö- rigen oder die dringend benötigten Telefonkarten brin- gen könnten – wenn man sie ließe. Aber auch da sieht es schlimm aus: Seemannsdiakone berichten davon, dass sie sich beim Zugang zum Hafen ausweisen müssen, am Terminal noch einmal und an Bord des Schiffes ein drit- tes Mal. In vielen Fällen müssen sie ihren Identitätsnach- weis abgeben, was nach Verbrauch von Personalausweis und Führerschein dann letztlich schwierig wird. Da können wir nicht tatenlos zusehen. In jedem Ha- fen, an jedem Kai, auf jedem Schiff andere Sicherheits- bestimmungen – so kann kein Seemann arbeiten. Und genau deshalb, aus dieser Verantwortung den Arbeitge- ber für ihre Besatzungen heraus, kam auch der eingangs erwähnte Appell der Reeder, dass wir für eine schnellst- mögliche Umsetzung der Konvention 185 sorgen sollen. Deshalb nun die einmütige Aufforderung der Fraktionen an die Mitarbeiter in den Ministerien, die dort ihrer Prüf- arbeit nachgehen: Bitte denken Sie daran, dass auf den Schiffen Menschen arbeiten, Menschen mit dem Bedürf- nis nach unbürokratischem Landgang, mit dem Bedürf- nis, ihren Arbeitsplatz zu erreichen und verlassen zu können, mit dem Bedürfnis, zurück in die Heimat zu ih- rer Familie zu fahren. Um mehr geht es nicht, aber auch nicht um weniger. Was unsere französischen Nachbarn können, wollen wir auch, nämlich schnellstmöglich die ILO Konvention 185 ratifizieren. Seeleute dürfen nicht de facto über ihren Beruf als potenzielle Terroristen dis- kriminiert werden. 129 Länderdelegationen haben im Wissen um den ISPS-Code im Juni 2003 ihr Bestes ge- tan, um die Menschenwürde der Seeleute, die Handelsin- teressen der Reeder und die Sicherheitsbedürfnisse der Staaten in Einklang zu bringen. Die Ausweise für See- l t a l r d R d F g t b G z s U b B l d b u e 2 3 s G T z U g n s d z n w p w J D z K o g g m d s d n A n i (C (D eute, den damit visumsfreien Landgang und die erleich- erte Durchreise – wo immer vertretbar – ohne Visum, ber mit internationalem Seemannsausweis und nationa- em Pass, hätte es – als Gebot der Menschenwürde – be- eits zum 1. Juli 2004 geben müssen. Ich danke Ihnen für die – trotz kleiner Differenzen – och im Kern breite überfraktionelle Unterstützung zur atifizierung der ILO-Konvention 185. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Seit en Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 haben ragen von Sicherheit und Schutz einen neuen herausra- enden Stellenwert erhalten. Jeder bekommt das fast agtäglich am eigenen Leib zu spüren: am Flughafen, eim Grenzübertritt, bei der Abschirmung öffentlicher ebäude. Überall haben die Sicherheitsvorkehrungen ugenommen. Handel und Tourismus sind in Mitleiden- chaft gezogen, besonders beim Warenverkehr mit den SA. Die Folgen sind bekannt und wirken weltweit. Auch und ganz besonders ist die Seeschifffahrt davon etroffen. Jedoch wird dieses Mehr an Auflagen und ürokratie, an Zeitaufwand und Kosten von der Öffent- ichkeit nur wenig wahrgenommen, weil sich die Han- elsmarine derzeit in einem Boom, in einem Aufwind efindet wie seit Jahren nicht mehr. Unsere Reeder, nsere deutschen Schifffahrtsgesellschaften sind derzeit rfolgreich wie nie zuvor! Sie bereedern nahezu 500 Handelsschiffe mit einer Bruttoraumzahl von 7,5 Millionen, das heißt eine Vervierfachung der Flotte eit 1991. In der Welthandelsflotte nimmt die deutsche esamtflotte nach Eigentumsverhältnissen und BRZ- onnage hinter Griechenland, Japan und Norwegen in- wischen den vierten Platz ein. China und sogar die SA sind längst überholt. Zu diesem Erfolg sollten wir ratulieren und die Tüchtigkeit aller Beteiligten anerken- en. Die beispielhafte Entwicklung der deutschen See- chifffahrt, aber auch der Boom in der Weltschifffahrt ecken jedoch Defizite auf: Die Nachfrage nach qualifi- iertem Seepersonal steigt ständig, das Angebot leider icht. Im Gegenteil: Immer weniger junge Menschen ollen zur See fahren. Mangel an deutschem Seefach- ersonal ist die Folge, der Arbeitsmarkt für Seeleute ist ie leer gefegt. Auch deshalb, weil wir in den letzten ahren versäumt haben, auf den Nachwuchs zu setzen. ie Reeder greifen zunehmend auf ausländische Crews urück. Schiffspersonal kommt heutzutage aus Indien, roatien, Russland und vielen anderen Ländern und das, bwohl die deutschen Fachkräfte als die Zuverlässigsten elten, so die Einschätzung des Vorstandes der Flensbur- er Reedereien Tom Jakob. Die momentane gespannte Lage auf dem Arbeits- arkt für Seeleute hat allerdings viele Väter: So zwingt er wachsende Kostendruck die deutschen Reeder dazu, ich ausländisches Personal ins Boot zu holen. Beson- ers nach der Osterweiterung ist es einfacher denn je, ei- en kroatischen oder polnischen Seemann einzustellen. ber auch Mitarbeiter aus anderen Kontinenten sind zu- ehmend verfügbar. Der große Unterschied besteht nicht n der Ausbildung, sondern in den Kosten: So schlägt ein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12759 (A) ) (B) ) indischer Kapitän lediglich mit 5 000 Dollar im Monat, ein deutscher mit 12 000 bis 15 000 Dollar zu Buche. Junge deutsche Anwärter für den Dienst auf See wissen um ihre Konkurrenz und bewerben sich erst gar nicht. Aber auch die Lotsen werben massiv um hoch qualifi- zierte Seeleute und verschärfen den Nachfrageüberhang auf dem Markt, weil sie selber Nachwuchsmangel ha- ben. Sie locken mit hoher Bezahlung und attraktiven Ar- beitszeiten an Land. Auch der relativ hohe Verdienst trägt zum Abgang von Bord bei. Kostendruck und inter- nationaler Wettbewerb dürfen jedoch nicht über das ei- gentliche Problem bei der Nachwuchsförderung von Seepersonal hinwegtäuschen: Über 20 Jahre lang wurde dieser Beruf in seiner Bedeutung, seinen Herausforde- rungen und seiner Attraktivität unter Wert diskutiert. Motive wie viel Geld und viele Abenteuer stehen bei vielen Berufsanfängern nicht mehr so hoch im Kurs wie früher. Freizeit und Familie kommen heutzutage an ers- ter Stelle. Monatelanges Vagabundieren auf den Ozea- nen ist nicht mehr angesagt. Das Bild des fliegenden Holländers ist bei vielen noch im Kopf, wenn es ums Anheuern auf einem Schiff geht, und das, obwohl sich die Zeit auf See wesentlich verkürzt hat: Wurde früher im Schnitt noch 9 Monate zur See gefahren, so sind es heute noch 3 bis 4 Monate. Genügend Zeit für Frau und Kind. Hoffentlich. Mangelnde Attraktivität des Berufstandes scheint ein Hauptproblem zu sein, auch wenn jetzt nach Angaben des aktiven Verbandes Deutscher Reeder 540 Ausbil- dungsplätze – 200 mehr als in den vergangenen Jahren – besetzt sind. Die Bundesregierung hat zwar das Problem erkannt, handelt aber höchst ambivalent. Auf der einen Seite fördert sie die Ausbildung junger Seemänner drei Jahre lang mit 25 500 Euro pro Platz, auf der anderen Seite fährt sie teilweise nationale Alleingänge bei der Gefahrenabwehr, was zu unzumutbaren Beeinträchti- gungen für das Seepersonal führt. Auch die Anschläge vom 11. September und ihre Fol- gen haben der Attraktivität des Berufstandes nachhaltig geschadet. Mit den Terrorangriffen auf die USA hat das Thema Gefahrenabwehr eine ganz neue und globale Di- mension erhalten. Für die Schifffahrt und die Betreiber von Hafenanlagen gipfelte es in der Einführung des ISPS-Code am 1. Juli dieses Jahres und den damit ver- bundenen neuen Sicherheitsmaßnahmen. Seitdem ist nichts wie vorher bei Reedern und Häfen: Hafenanlagen mussten mit Zäunen abgesichert, Sicherheitsoffiziere an Bord der Schiffe, in den Unternehmen und in den Hafen- anlagen ernannt und ausgebildet sowie Trainingseinhei- ten mit der Besatzung durchgeführt werden. Allein die Anfangskosten für die deutschen Reeder belaufen sich auf mehr als 55 Millionen Euro. In den Folgejahren wer- den jährlich weitere 50 Millionen Euro veranschlagt. Für die erhöhten Sicherheitsanforderungen haben wir Verständnis. Das hohe Sicherheitsbedürfnis insbeson- dere der USA darf aber nicht dazu führen, dass die welt- weit 1,25 Millionen Seeleute auch in den Häfen sozusa- gen an Bord eingeschlossen sind und kaserniert werden, weil ihnen der Landgang nicht gestattet oder über die Maßen erschwert wird. An amerikanischen Häfen wird i l w m S b l h w a S D d Z t b c g S g z a d f b h K g s b d l z L B n b p r E n w v s g B f ü g s a l s n b z d o (C (D hnen sogar jeglicher Landgang untersagt, wenn die Auf- agen nicht bis zum I-Tüpfelchen erfüllt werden. Be- affnete Wächter, die von den Reedern bezahlt werden üssen, hindern die Seeleute beim Verlassen der chiffe. Es gibt Fälle, so Berichte von Reedern aus Lü- eck, Hamburg und Flensburg, in denen Seeleute in eng- ischen und amerikanischen Häfen keinen Landgang er- ielten oder bei Rückkehr von Sicherheitskräften sofort ie Schwerverbrecher zu stundenlangen Vernehmungen bgeführt worden sind, mit der Konsequenz, dass sie ihr chiff vor der Abreise nicht mehr erreichen konnten. ies steht in eklatantem Widerspruch zu dem Prinzip, ass Seeleute für den Landgang keine Visa benötigen. ur Lösung dieses Problems hat die ILO eine Konven- ion über die Sicherheit der Ausweise für Seeleute erar- eitet, die den Landgang weiterhin ungehindert ermögli- hen soll. Die uns vorliegenden Anträge fordern emeinsam die schnelle Umsetzung dieser Konvention. Die Sicherheit darf nicht noch weiter zulasten unserer eeleute gehen. Sie haben schwer genug an den bisheri- en Auswirkungen des ISPS-Codes zu tragen: Es gibt ahlreiche Beispiele von Behinderungen und zum Teil uch Diskriminierungen von Seeleuten nach Einführung er Maßnahmen. Es wurde über Fälle von „Sippenhaft“ ür das gesamte Schiff berichtet, nur weil einzelne Anga- en für ein Besatzungsmitglied von den Sicherheitsbe- örden angezweifelt wurden. Aber auch die sozialen ontakte vieler Seeleute sind durch den ISPS-Code ein- eschränkt und werden ad absurdum geführt: So er- chweren die unübersichtlichen bürokratischen Handha- ungen der Sicherheitsvorschriften in einigen – auch eutschen Häfen – den Kontakt der Familie mit den See- euten. So wurde beispielsweise pakistanischen Besat- ungsmitgliedern an einer Hamburger Schleuse der andgang für Telefonate mit Familienangehörigen vom GS verboten. Auch durften drei Seeleute ihre Reise icht wie geplant beenden, um den Heimflug von Ham- urg aus anzutreten. In Kiel durfte die Ehefrau eines Ka- itäns diesen an Bord nicht besuchen und musste unver- ichteter Dinge wieder abreisen. Diese Fälle, wenn auch inzelfälle, gefährden zunehmend die Attraktivität für autische Berufe und behindern extremst die Nach- uchsförderung. Einem jungen Berufsanfänger ist es nur schwer zu ermitteln, um es zugespitzt zu formulieren, dass er in einem zukünftigen Beruf als potenzieller Terrorist ein- estuft wird. Die soziale Situation vieler Seeleute an ord, insbesondere die Arbeitsbedingungen, hat mit Ein- ührung des ISPS-Codes die Grenzen der Zumutbarkeit berschritten. In vielen Fällen liegen die Beeinträchti- ungen nicht am ISPS-Code selbst, sondern an der Um- etzung dieser Vorschriften und an einer zu rigiden und uch oft uneinheitlichen Anwendung. Gerade Deutsch- and nimmt es mit der Umsetzung besonders, wenn nicht ogar zu genau. Fast alle Schiffe und Hafenanlagen sind ach den Vorschriften des ISPS-Codes zertifiziert. Vor- ildlich! Deutsche Schiffe sind aber nicht nur zertifi- iert! Deutschland ist Musterschüler, was die Umsetzung er IMO-Maßnahmen angeht. Selbstverständlich nicht hne Folgen für unsere Wirtschaft; denn die Kosten für 12760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) übertriebene Maßnahmen tragen hierzulande die Unter- nehmen. Ein passendes Beispiel für die Umsetzung des ISPS- Codes auf deutschen Schiffen gibt der drei Seiten umfas- sende Bericht über die Jahresinspektion der US Coast Guard auf einem deutschen Container-Frachter im Hafen von New York. Nach Beendigung der über vier Stunden dauernden Inspektion stellten die Inspektoren beein- druckt fest, dass es nichts, aber rein gar nichts zu bemän- geln gab. So etwas hatten sogar die amerikanischen Be- hörden bis dato nicht erlebt. Probleme gibt es dennoch genug. Es sind vor allem Behördenvertreter, die die Vorschriften ungerechtfertigt auslegen oder sich selbst nicht an die Regularien halten. Viele „designated authorities“ – das sind die Behörden eines jeweiligen Bundeslandes, die für die Gefahrenab- wehr zuständig sind – stellen im Rahmen der Umsetzung des ISPS-Codes zum Teil zu hohe Anforderungen. So sollten im Rahmen einer Insellösung Mindeststandards ausschließlich für Kreuzfahrtterminals in Deutschland eingeführt werden. Der ISPS-Code sieht aber weder für Schiffe noch für Hafenanlagen Mindeststandards vor. Die von den Küstenländern erarbeiteten Standards stell- ten eher Höchst- als Mindeststandards dar. Sie hätten zur Folge gehabt, dass das Kreuzfahrtgeschäft in deutschen Häfen zum Teil nicht mehr durchführbar gewesen wäre, weil die Kosten für die Betreiber ins Unermessliche ge- stiegen wären. So einen Behördenaufwand darf es nicht geben. Auch in anderen Fällen kommt es immer wieder zu überzogenen Anforderungen von Behördenvertretern, aber verantwortlich bleibt der Gesetzgeber. Erst wenn klar wird, dass im Vergleich zu europäischen Wettbewer- bern deutlich zu hohe Ansprüche gefordert wurden, rudern die Behörden nach Aussagen der Reeder wieder zurück. Die dringend erforderliche Planungssicherheit für die Unternehmen fehlt. Investitionen werden verschoben oder sogar aufgehoben. Das muss und darf nicht sein. Die Bundesregierung sollte daher nicht nur darauf ach- ten, dass in Deutschland alle Hausaufgaben gemacht werden. Sie hat auch dafür Sorge zu tragen, dass unsere Nachbarn und andere Länder den ISPS-Code ordnungs- gemäß umsetzen. Ansonsten kommt es zu Wettbewerbs- verzerrungen. So war es deutschen Technikern nicht ge- stattet, ein in einem spanischen Hafen liegendes deutsches Schiff nach einem Schadensfall zu reparieren. Die Spanier ließen die Deutschen unter Verweis auf den ISPS-Code nicht an Bord und forderten den Kapitän auf, einen spanischen Techniker an Bord zu nehmen. Ein nach ISPS-Code eindeutig unzulässiges Verhalten. Nach diesem Muster gibt es zahlreiche Beispiele. Einige Län- der legen den ISPS-Code zum eignen Vorteil aus. Hier muss die Bundesregierung einschreiten, denn die Mus- terschülerrolle in Sachen Auflagenerfüllung bringt in ei- ner globalisierten Welt bekanntermaßen oft nationale Nachteile. Die Problematik beim nationalen Alleingang bzw. bei staatlicher Ungleichbehandlung haben wir von der Union schon bei der Verabschiedung des Ausführungs- g w V ß t S n D b b t ü k a s v B l F b t m n I Z A v g m d I s m u t d E w 2 a a s E L B a t v s r D V l h (C (D esetztes zum ISPS-Code angesprochen. Damals hatten ir uns hier im Deutschen Bundestag für eine gerechtere erteilung der Kosten eingesetzt und einen Entschlie- ungsantrag eingebracht, der von der Regierungskoali- ion leider abgelehnt wurde. Es war und ist aus unserer icht nicht akzeptabel, für staatliche Verpflichtungen ach dem ISPS-Code Gebühren zu erheben. In anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel änemark, Polen, Spanien und Frankreich, werden Ge- ühren für die staatlichen Verpflichtungen nicht erho- en. Auch die Holländer – unsere schärfsten Konkurren- en – sind da geschickter als Manfred Stolpe: Dort bernimmt der Staat die Kosten für die geforderte Risi- obewertung und die Erstellung der Pläne zur Gefahren- bwehr. Geringere Kosten und Hafengebühren machen o den Seeverkehrsstandort Niederlande noch attrakti- er. Eine von vielen Konsequenzen: Rotterdam gewinnt, remen und Hamburg verlieren. Diese Einschätzung tei- en viele Kolleginnen und Kollegen quer Beet durch alle raktionen im Verkehrsauschuss. Doch die Regierung ewegt sich immer noch nicht. Sie will ein Exempel sta- uieren und die Wirtschaft zum Mitträger ihrer Finanznot achen. Zurzeit bemühen sich zahlreiche Verbände und Orga- isationen um eine ordnungsgemäße Umsetzung der MO-Maßnahmen. Dabei brauchen sie Unterstützung. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): um Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen rbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur ereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis lie- en heute drei unterschiedliche Anträge zur Abstim- ung vor, die im Kern eigentlich identisch sind. Jeder ieser Anträge fordert die Bundesregierung auf, das AO-Abkommen Nr. 185 zügig zu ratifizieren und inner- taatliche Vorschriften gegebenenfalls anzupassen. Nie- and kann ein Interesse daran haben, den Aufenthalt nd den Austausch von Seeleuten in Deutschland unnö- ig zu erschweren. Regelmäßig werden in Deutschland ie Besatzungen der dort liegenden Schiffe ausgetauscht. ine Erschwerung des Austauschs der Besatzungen ürde auch den Güterverkehr nur unnötig behindern. Die internationale Arbeitskonferenz hat am 19. Juni 003 ohne Gegenstimmen das Übereinkommen Nr. 185 ngenommen, mit dem die Ausstattung der Seemanns- usweise mit zusätzlichen Identitätsmerkmalen festge- chrieben wurde. Mit dem Übereinkommen wird die in- und Durchreise von Seeleuten erleichtert. Für den andgang wird immer von der Visumspflicht abgesehen. ei der Durchreise von Seeleuten kann hingegen die Be- ntragung und Erteilung von Visa vor der Einreise fakul- ativ durch die Unterzeichnerstaaten verlangt werden. Die Regierungskoalitionen haben nun einen Antrag orgelegt, nach dem die Auswechselungen der Mann- chaften möglichst kostengünstig und ohne vermeidba- en Verwaltungsaufwand durchgeführt werden können. ieses Ziel kann dadurch erreicht werden, dass auf die isumspflicht verzichtet werden kann. Diese Feststel- ung ist an und für sich unkompliziert und unstrittig. Wir aben es hier nicht mit einem politisch umkämpften Vor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12761 (A) ) (B) ) haben zu tun, an dem sich die Gegensätze zwischen Re- gierung und Opposition entzünden müssten. Es hätte dem Parlament gut zu Gesicht gestanden, sich an diesem Punkt einheitlich zu äußern. Dies hätte den gemeinsa- men Wunsch unterstrichen, den wirtschaftlichen Interes- sen des Reedereigewerbes keine unnötigen Steine in den Weg zu legen. Diesem Ziel wird hier im Bundestag nie- mand offensiv widersprechen. Union und FDP haben jedoch den Weg gewählt, sich dennoch ausländerpolitisch in dieser Frage zu profilie- ren. Während die Koalitionsfraktionen die oben ge- nannte Feststellung, dass von der Visumspflicht abgese- hen werden kann, ohne weitere Einschränkungen in der Begründung treffen, nehmen Union und FDP hier zu- sätzliche ausländerpolitische Hinweise auf, die mit dem Anliegen an sich gar nichts zu tun haben. So schlägt die Union im Begründungstext vor, dass die Bundesregie- rung vom Erfordernis der Einholung eines Visums bei der Durchreise verzichten kann, sofern dies mit dem Ausländerrecht in Einklang steht und Sicherheitsbelan- gen Rechnung getragen wird. Die FDP lässt im Begrün- dungstext ihres Antragstextes verlauten, dass die Bun- desregierung vom Erfordernis der Einholung eines Visums, bei der Durchreise verzichten kann, da die neuen Seemannsausweise biometrische Daten enthalten und deshalb hohen Sicherheitsstandards genügen. Der einzige Dissenz in der Sache besteht anscheinend darin, Selbstverständlichkeiten zusätzlich betonen zu müssen. Natürlich handelt die Bundesregierung stets im Einklang mit dem Ausländerrecht. Ebenso natürlich wird bereits im ILO-Abkommen Nr. 185 darauf hinge- wiesen, dass die zusätzlichen biometrischen Daten in den Seemannsausweisen eine visumsfreie Durchreise er- leichtern. Auch die Regierungsfraktionen weisen in ihrem Antrag darauf hin, dass ein Zusammenhang zwi- schen dieser Regelung und den gegebenen Sicherheits- fragen besteht. Union und FDP reicht dies nicht. Sie müssen noch einmal zusätzlich auf das Ausländerrecht verweisen. Mit Wirtschaftspolitik oder Schifffahrtsfragen hat dies nichts zu tun. Ich kann das Bedürfnis weiterer Anträge nur so verstehen, dass die Oppositionsfraktionen hiermit ein Zeichen der Marke „Das Boot ist voll“ setzen wollen. Das zeugt von wenig wirtschaftspolitischem Sachver- stand und einem hohen Bedürfnis, auch eine solche Sachfrage populistisch nutzen zu wollen. Ein solches Vorgehen ist dieser Frage nicht angemessen und ich kann diesen Politikstil daher nur bedauern. Hans-Michael Goldmann (FDP): Vor eineinhalb Jahren hat die FDP-Fraktion einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung aufforderte, das ILO-Überein- kommen 185 zügig zu ratifizieren. Wir zogen diesen An- trag zurück, um einen interfraktionellen Brief an die zu- ständigen Minister zu ermöglichen, leider ohne entsprechende Reaktion der Regierung. Anfang dieses Jahres versuchten wir dann fraktions- übergreifend, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen, um der Regierung noch einmal Dampf zu machen. Erfreulich ist, dass es uns in den Ausschussbe- r r a r s b b i w k g d i h J c r d a w s T S L c a s E g D l E S b S m n s s g I h n R A A „ r w (C (D atungen gelungen ist, beim Forderungsteil an die Regie- ung auf einen Nenner zu kommen. Damit sind wir uns lle hier im Hause im Ziel einig, dass die Bundesregie- ung das Übereinkommen schnellstmöglich umsetzen oll. Ziel des ILO-Übereinkommens 185 ist es, die Le- ens- und Arbeitsbedingungen für die Seeleute zu ver- essern und den Arbeitgebern den Personalwechsel auf hren Schiffen zu erleichtern. Arbeitnehmer und Reeder aren sich von Anfang an einig, dass dieses Überein- ommen ein richtiger und wichtiger Schritt ist, um die esteckten Ziele zu erreichen. Leider scheint die Bun- esregierung immer noch Probleme zu sehen, obwohl nzwischen auch die EU eine Ratifizierung empfohlen at. Die soziale Situation der Seeleute hat sich im letzten ahr deutlich verschlechtert. Durch das gestiegene Si- herheitsbedürfnis in den Häfen, ist die Absicherung der echtlichen Position der Seeleute dringender denn je. Ich gestehe offen, dass ich nicht vorausgesehen habe, ass der ISPS-Code solch gravierende Auswirkungen uf die soziale Situation der Seeleute nach sich ziehen ürde. Wie ich von der Seemannsmission erfahren habe, tehen Seeleute offensichtlich vielerorten unter einem error-Generalverdacht. Es kann nicht angehen, dass eeleute in englischen und amerikanischen Häfen keinen andgang erhalten oder stundenlang wie Schwerverbre- her zu Vernehmungen abgeführt werden. Dabei haben uch die USA dem ILO-Übereinkommen in Genf zuge- timmt. Das ILO-Übereinkommen sollte doch gerade zu rleichterungen beim Landgang der Seeleute führen. Die Erfahrungen der letzten Monate zeigen, wie drin- end die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens ist. ie Bundesregierung sollte sich hier nicht länger bitten assen und endlich zur Tat schreiten. Auf internationaler bene sollte die Regierung das Problem der sozialen, ituation der Seeleute auch bei der IMO zur Sprache ringen. Die Sicherheitsvorschriften im Rahmen des OLAS-Übereinkommens und des ILO-Übereinkom- ens sollten doch für Sicherheit sorgen. Es ist nicht hin- ehmbar, wenn einzelne Besatzungsmitglieder arabi- cher Herkunft nur wegen ihrer Herkunft unter Verdacht tehen. Das ist Rassismus und dagegen müssen wir vor- ehen. Der geplante neue Seeleuteausweis, der durch das LO-Übereinkommen 185 eingeführt werden soll, wird offentlich helfen, dieses Problem zu beseitigen. Also, och einmal zum Schluss mein Appell an die Regierung: atifizieren Sie endlich das ILO-Übereinkommen! nlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Marketing für die Hauptstadt Berlin (Tagesordnungspunkt 16) Brunhilde Irber (SPD): Lassen sie uns den Titel des ntrages der CSU/CSU zu Beginn genau anschauen: Marketing für die Hauptstadt Berlin“. Da die Federfüh- ung im Bereich Tourismus liegt, soll es sich wohl im eitesten Sinne um das touristische Marketing handeln. 12762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Nun zu den Fakten: Im Jahr 2003 gab es in Berlin 11,4 Millionen Übernachtungen, im Vergleich zum Vor- jahr eine Steigerung um 2,6 Prozent. Mit diesen Werten verfestigt Berlin die Position des beliebtesten Städte- reiseziels in ganz Deutschland. Um es für sie noch deut- licher zu betonen: Die deutsche Hauptstadt zählt, neben London, Paris und Rom, zu den meistbesuchten Metro- polen Europas. Die Erfolgsgeschichte steigert sich enorm, wenn man sich die aktuellen Zahlen vor Augen führt: In den ersten acht Monaten besuchten insgesamt 3,8 Millionen Hotelgäste die deutsche Hauptstadt, das sind rund 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der registrierten Übernachtungen stieg im gleichen Zeitraum um 17 Prozent auf 8,7 Millionen an. Da in Ihrem Antrag deutlich differenziert wird zwi- schen deutschen und ausländischen Gästen, hier noch weitere Fakten: Die Anzahl der Ankünfte ausländischer Berlinbesucher stieg von Januar bis August diesen Jah- res um 27,9 Prozent auf 1,07 Millionen an. Bei den Übernachtungen wurde ein Wachstum von 24,5 Prozent auf 2,79 Millionen verzeichnet. Auch die Zahlen von Berlingästen aus dem Inland geben Anlass zu großer Zu- friedenheit: ein Plus an Gästen von 17,1 Prozent von Ja- nuar bis August, ein Übernachtungsplus von 13,7 Pro- zent auf rund 5,9 Millionen! Und zum Schluss dieser im höchstem Maße erfreuli- chen und positiven Zahlen noch ein paar Bemerkungen zu der Bettenauslastung und somit zum wirtschaftlichen Zustand der Beherbergungsbetriebe: Die 558 Berliner Betriebe hielten im August 2004 75 934 Betten für Gäste bereit. Dies sind rund 7 300 mehr als im Vorjahresmo- nat. Trotz dieser erhöhten Kapazität stieg die durch- schnittliche Bettenauslastung von 50,9 Prozent um knapp 6 Prozentpunkte auf 56,5 Prozent. So weit zum Hintergrund. Nun wollen sie also mit Ihrem Antrag dafür sorgen, dass das Marketing für Berlin mithilfe der Regierung weiter gestärkt und ergänzt wird. Ja sagen sie denn mal warum? Herr Nerger, Chef der Berlin Tourismus Marke- ting, und sein Team leisten hervorragende Arbeit und sind auf alle Fälle zu beglückwünschen. Warum soll denn die Bundesregierung hier noch zusätzlich aktiv werden und sich somit auch noch in eine Länderangele- genheit mischen? Ich brauche Ihnen doch Wohl hoffentlich nicht zu er- klären, dass Tourismus bei uns in der Bundesrepublik eine föderale Aufgabe ist. Außerdem dachte ich, müsste ich Ihnen auch nicht erklären, dass für das Auslandsmar- keting bei uns im Lande die Deutsche Zentrale für Tou- rismus zuständig ist. Diese fördern wir finanziell übri- gens seit der Regierungsübernahme mit über 30 Prozent mehr, als sie es zu ihrer Zeit getan haben. Wir setzten da- mit die richtigen Schwerpunkte, Sie nicht. Für das Mar- keting der Länder, und sie fordern eine finanzielle Unter- stützung für das Marketing eines Bundeslandes, ist allein das betreffende Bundesland zuständig. Und allein schon wegen der Missachtung dieser Strukturen in Ihrem An- trag haben sie sich mal wieder ins Abseits begeben. Wie- der mal nichts Neues von ihnen. S F l w w O B d c g d n ä D w i p j n a B r M n i i E r s h d d d t Ü e D M c g B G d u v n D W d ß w W v f (C (D Doch begeben wir uns nun in diesem Werk, auf die uche nach einer Antwort auf die eingangs gestellte rage, warum sie denn eine Marketingförderung für Ber- in für nötig halten, und dies trotz dieser traumhaften Zu- achsraten. Nur nebenbei: Die BTM – und ich zitiere örtlich – sagte vergangene Woche zu „Spiegel- nline“: „Das wird das beste Jahr, das wir je hatten.“ ei dieser Suche nach einer Antwort stolpert man über ie Kernaussage, die da lautet, dass eine nicht ausrei- hend positive Wahrnehmung Berlins als Hauptstadt ge- eben sei. Aus ihrer eigenen Behauptung folgt nun für ie CDU/CSU – ich zitiere und hören sie bitte ganz ge- au zu –: „Über Berlin muss daher eine Bewusstseins- nderung bei den Menschen hin zur ‚Hauptstadt der eutschen’, national wie international, herbeigeführt erden“. Ich habe an Forderungen und Wünschen Ihrerseits, nsbesondere seitdem sie zum Glück in der Rolle der Op- osition sind, in diesem Hause und in den Ausschüssen a schon einiges von Ihnen erlebt, aber dies hier setzt ja un allem Vergangenen im absurdesten Sinne die Krone uf! Die Bundesregierung soll, ich betone nochmals, eine ewusstseinsänderung herbeiführen und dies alleine eicht noch nicht, denn dies soll auch noch bei allen enschen auf der Welt geschehen – ich wiederhole ochmals wörtlich – „bei den Menschen, national und nternational“. Warum nur formulieren sie solche, man st ja fast geneigt zu sagen, Dummheiten. Ich stelle fest: s gehört sicherlich nicht zu den Aufgaben der Bundes- egierung, eine Bewusstseinsänderung bei den Men- chen in aller Welt in Bezug auf die Funktion Berlins erbeizuführen. Sie begründen leider auch überhaupt nicht, warum ies alles geschehen soll. Was haben sie denn nur gegen as derzeitige Bewusstsein der Menschen gegenüber ieser schönen und abwechslungsreichen Stadt. Touris- en aus aller Welt strömen in diese Stadt, die Zahl der bernachtungen steigt in enormen Maße an. Berlin hat ine kulturelle Vielfalt wie kaum eine andere Stadt in eutschland, Berlin ist das Mekka für eine Vielzahl von enschen aus den unterschiedlichsten kulturellen Berei- hen. Berlin ist ein wunderbares Schaufenster der ver- angenen und gegenwärtigen deutschen Architektur. erlin ist eine nahezu komplette Bühne, um die deutsche eschichte nachzuvollziehen. Nehmen wir die Anzahl er Besucher auf dem Dach dieses Gebäudes, in dem wir ns befinden. Meinen sie denn wirklich, die Millionen on jährlichen Besuchern hier im Reichstag wissen icht, dass sie sich in der Hauptstadt der Bundesrepublik eutschland befinden? Das kann nicht ihr Ernst sein. Im Übrigen: Haben sie überhaupt Zahlen von der ahrnehmung Berlins als Hauptstadt? Worauf begrün- en sich denn überhaupt ihre Annahmen, die sie hier äu- ern? Sie geben keinerlei Zahlen, geschweige denn Hin- eise an. Es scheint so, als gehe es hier wieder nur um ichtigtuerei und wieder mal werden nur Luftgespinste on ihrer Seite aufgebaut. Ich frage sie weiter, ob sie denn wirklich die Schaf- ung eines „Hauptstadtbezirkes Berlin“ nach dem Vor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12763 (A) ) (B) ) bild Washington D. C. anstreben. Abgesehen von allen damit verbundenen Schwierigkeiten und Gesetzesände- rungen möchte ich mich hierzu jetzt in diesem Moment nicht äußern. Eine Projektgruppe der Föderalismuskom- mission beschäftigt sich zurzeit mit diesem Thema: Sie werden sicherlich verstehen, dass wir uns hier nicht im vorhinein auf Richtungen festlegen lassen, ohne das end- gültige Ergebnis der Föderalismuskommission abzuwar- ten. Über die übrigen Forderungen ihres Antrages möchte ich mich nicht mehr auslassen. Diese sind natürlich mit Kosten verbunden, welche die Bundesregierung mal eben wieder aus dem Ärmel schütteln soll. Sie fordern doch immer nur mehr Geld, verweigern sich den Spar- vorschlägen und verklagen dann unseren Finanzminister in Karlsruhe. Ein trauriges Verhalten Ihrerseits. Ich betone nochmals, dass Berlin nicht nur eine Reise Wert ist, sondern dass sich aufgrund der Vielfältigkeit gleich mehrere Reisen nach Berlin lohnen. Berlin ist aus unserer Sicht ein tolles, interessantes und abwechslungs- reiches Reiseziel für nationale und internationale Gäste. Das, was sie hier abliefern, ist erschreckend, geht an den Kompetenzen und Aufgaben der Regierung vorbei, dient nichts anderem, als einmal mehr eine überaus posi- tive Entwicklung schlechtzureden. Sie benötigen dringend eine Bewusstseinsänderung, nicht die Touristen, die Berlin besuchen. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Antrag fordert die CDU/CSU die Bundesregierung auf, zusammen mit der Berlin Touris- mus Marketing, BTM, für drei Jahre eine Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“ einzurichten. Der Bund soll diese Projektgruppe aus Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit för- dern. Die Federführung soll bei der Tourismus Marke- ting GmbH liegen. Inhaltlich soll die Hauptaufgabe die- ser Projektgruppe in der nationalen und internationalen Darstellung von Leistungen der Hauptstadt liegen, ins- besondere: Berlin als Spiegel der (gesamt-)deutschen Geschichte, Berlin – kultureller Schmelztiegel, Berlin – Tor zum Osten, Berlin – Architekturspiegel Deutsch- lands. Die Projektgruppe bzw. die in dem Antrag zur Feder- führung bestimmte Berlin Tourismus Marketing soll mit Botschaften, Außenhandelskammern, Goethe-Instituten, der Deutschen Welle, der Deutschen Zentrale für Touris- mus und anderen Institutionen zusammenarbeiten. Zu diesem Konzept möchte ich Folgendes anmerken: Erstens. Von der rot-grünen Bundesregierung wird eine engagierte und qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Die Opposition kritisiert das immer wieder als zu aufwendig und teuer. Darum ist es sehr erstaunlich, dass die CDU/CSU jetzt eine extra Marketing-Projekt- gruppe einrichten will. Deren Arbeit ist ja nicht zum Nulltarif zu haben. Zweitens. Die Aufgaben der Bundesregierung werden durch das Bundespresseamt und durch die einzelnen Ressorts, öffentlich dargestellt. Im Ausland repräsentie- r G t n F a t b d d L h A d s n n f S t e v e t t f z A t m w t d t d h n S i d F N d g n (C (D en die Botschaften, die Außenhandelskammern, das oethe-Institut, die Deutsche Welle und andere Institu- ionen die deutsche Politik. Es kann nicht Aufgabe einer euen Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“ sein, unter der ederführung der Berlin Tourismus Marketing GmbH ll diese bundespolitischen Institutionen unter dem Kri- erium „Hauptstadt“ zu koordinieren. Tourismuswer- ung ist im Übrigen eine Angelegenheit der Länder. Drittens. Die Hauptstadtfunktion stärkt Berlin – und as ist auch gut so. Es ist aber nicht Aufgabe des Bun- es, Mittel bereitzustellen, mit denen eine Institution des andes Berlin Werbung für die Bundespolitik macht. Ich alte es für wichtig, dass eine klare Trennung zwischen ufgaben des Landes Berlin und den Aufgaben des Bun- es bestehen bleibt. Viertens. Eine Prüfung der Schaffung eines „Haupt- tadtbezirks Berlin“ nach dem Vorbild der US-amerika- ischen Hauptstadt Washington, D.C. halte ich nicht für otwendig. Ich meine, dass es weder mit dem deutschen öderalen System noch mit dem Prinzip der kommunalen elbstverwaltung vereinbar ist, Berlin unter bundespoli- ische Verwaltung zu stellen. Ich werbe nach wie vor für ine Länderneugliederung mit einem Zusammengehen on Berlin und Brandenburg, sodass Berlin den Status iner Kommune bekommt. Kurzum: Unsere Fraktion lehnt den CDU/CSU-An- rag in allen Punkten ab. Die vorhandenen Bundesinsti- utionen machen gute Öffentlichkeitsarbeit und Werbung ür unsere Hauptstadt Berlin, sodass es keiner Unterstüt- ung durch eine Marketing-Projektgruppe bedarf. nlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung der Akademie der Künste (AdKG) (Tagesordnungspunkt 17) Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Um den wichtigs- en Punkt gleich vorneweg zu nennen: Was der Akade- ie der Künste, um die es in dieser Debatte geht, am enigsten nützt, ist ein kleinteiliger Streit um Kompe- enzen und Zuständigkeiten. Deshalb bin ich sehr froh, ass wir im Ausschuss für Kultur und Medien einen par- eiübergreifenden Weg zur Übernahme der Akademie er Künste in die Verantwortung des Bundes gefunden aben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, diesen Weg och einmal zu rekapitulieren. Es wird ja der Bundesregierung und insbesondere der taatsministerin für Kultur und Medien gelegentlich von nteressierter Seite der Vorwurf gemacht, die Kulturför- erung des Bundes sei unsystematisch oder gar ein lickenteppich, wie zuletzt Herr Nooke vernehmen ließ. un ist aber gerade die aktuelle Entscheidung zur Aka- emie der Künste ein Beispiel dafür, dass dieser Vorwurf anz und gar unberechtigt ist. Man muss nur einen Blick auf die Kriterien werfen, ach denen sinnvollerweise entschieden wird, wofür der 12764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Bund kulturpolitisch zuständig ist, um dies zu erkennen. Diese Kriterien sind nämlich sehr einfach nachvollzieh- bar. Neben der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik steht die kulturelle Repräsentation des Gesamtstaates im Fokus der Bundesverantwortung. Daraus folgt, dass Kul- tureinrichtungen von übergeordneter nationaler Bedeut- samkeit bezüglich ihrer Förderung selbstverständlich Sa- che des Bundes sind. Diese nüchterne Feststellung ändert nichts daran, dass solche Einrichtungen – die Akademie der Künste gehört zweifellos zu ihnen – be- züglich ihres Nutzens gleichwohl eine Sache der Länder und des Gesamtstaates sind und bleiben. Nie ist daran gedacht worden, die Übernahme der Akademie der Künste in Bundesverantwortung als einen ersten Schritt zur Beschneidung der Kulturkompetenz der Länder zu sehen. Es ist also schon sehr kleinteilig gedacht, wenn – wie seitens des Bundesrates geschehen – argumentiert wird, zwar begrüße man die Absicht, im Rahmen des Haupt- stadtkulturvertrags vom 9. Dezember 2003 die finan- zielle Existenz der Akademie der Künste zu sichern, könne jedoch einer institutionellen Übernahme der Aka- demie durch den Bund in Form einer Körperschaft öf- fentlichen Rechts nicht zustimmen, da der Bund hier keine Kompetenzen besitze. Ich habe diese Argumenta- tion nie verstanden. Sie ist beliebig und widersprüchlich. An ihre Stelle muss die Frage treten, ob die Akademie der Künste eine kulturelle Einrichtung von übergeordne- ter nationaler Bedeutsamkeit zur kulturellen Repräsenta- tion des Gesamtstaates ist oder nicht. An dieser – und nur an dieser – Frage entscheidet sich, ob der Bund hier zuständig ist. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Akademie so- wie auf die heute von ihr behandelten Themen und ihre heutigen Mitglieder liefert, so meine ich, eine eindeutige Antwort auf diese entscheidende Frage. Die Akademie der Künste entwickelte sich schon sehr früh von einer Ausbildungs- und Unterrichtsstätte für zunächst bil- dende Kunst und Architektur zu einem öffentlichen Fo- rum für Kunst- und Kulturdebatten. Spätestens seit der Präsidentschaft Max Liebermanns war die Akademie als eine nationale Institution der Kunstproduktion und -dis- kussion mit internationaler Bedeutung etabliert. Stets waren ihre Mitglieder Wegbereiter und Vorreiter. Dass die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur eine der Lebensadern moderner Gesellschaften ist, diese Einsicht wird durch Existenz und Arbeit der Akademie der Künste sehr markant. Die heutige Programmgestaltung unter der Präsident- schaft Adolf Muschgs zeigt diese Mittlerfunktion ganz deutlich. Diese Funktion und damit auch die Akademie als solcher ist zweifelsohne von gesamtstaatlicher Be- deutung, sowohl was die Repräsentation Deutschlands in der Welt betrifft als auch bezüglich der ästhetisch-politi- schen Selbstbestimmung der deutschen Gesellschaft nach innen. Die Vielfalt des Programms ist im Rahmen einer kurzen Rede gar nicht darstellbar. Sie reicht von Kunstdebatten in den Sparten Literatur, Film, Architek- tur, Bildende und Darstellende Kunst, Medienkunst und Musik über Preisverleihungen bis zu Debatten über Per- spektiven der internationalen Politik. Sie ist verbrieft d K w W d S tr D Z K n d L F o s s k h te K a p k g m im m K k k G w M A B p G t t t B Z B m A l s H 2 a z t f (C (D urch die internationale Besetzung der Akademie der ünste. Die bis zu 500 Mitglieder – unter ihnen Namen ie Rebecca Horn, Daniel Libeskind, Pierre Boulez, olfgang Hilbig, Pina Bausch und George Tabori – wer- en unabhängig von Staatsangehörigkeit, Wohnort und prache ausgewählt und sind lebende und lebhafte Illus- ationen der Rede vom internationalen Kulturstaat eutschland. Wenn man das alles zusammennimmt, kann es keinen weifel mehr daran geben, dass die Akademie der ünste eine kulturelle Einrichtung von übergeordneter ationaler Bedeutsamkeit zur kulturellen Repräsentation es Gesamtstaates ist und als solche ein für das ganze and bedeutsamer Impulsgeber. Wir können also die rage nach der Zuständigkeit des Bundes eindeutig und hne Zögern mit Ja beantworten. Die finanzielle Träger- chaft des Bundes inklusive Einrichtung einer Körper- chaft des öffentlichen Rechts durch den Bund ist die onsequente Folgerung daraus. Im Übrigens – das muss ier auch noch einmal festgehalten werden – ist das in- rnational renommierte Archiv der Akademie der ünste in Form einer Stiftung bereits in die Bundesver- ntwortung gegangen, ein Vorgang, bei dem niemand rotestiert hat, was die aktuelle Debatte um die Bundes- ompetenz erst recht unverständlich macht. Lassen Sie mich abschließend noch einmal bekräfti- en, dass ich mich freue, dass das Akademiegesetz nun- ehr – nach einigen kleinen Änderungen, über die wir mer gesprächsbereit waren – eine allgemeine Zustim- ung finden wird. Der Vision einer Akademie der ünste als einer nationalen Geistesinstanz, in der sich ulturelle und gesellschaftliche Debatten begegnen und reuzen, wird durch das vorliegende Gesetz eine gute rundlage gegeben. Lassen Sie uns gemeinsam daran eiterarbeiten. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Jede ünze hat zwei Seiten. Auch auf die Übernahme der kademie der Künste Berlin/Brandenburg durch den und trifft diese Binsenweisheit zu. Die eine Seite, die ositive nämlich, ist, dass mit der Zustimmung zu dem esetz die Finanzierung einer Kulturinstitution von in- ernationalem Rang künftig gesichert ist. Als Kulturpoli- iker, der ich immer wieder für eine ausfinanzierte Kul- ur kämpfe, begrüße ich das ausdrücklich. Denn der und übernimmt nicht nur die Akademie der Künste. usätzlich werden die Deutsche Kinemathek und der erliner Anteil am Hamburger Bahnhof übernommen. Ganze 22 Millionen Euro lässt sich die Kulturstaats- inisterin das kosten. 16 Millionen fließen davon in die kademie. Dass da auch die Freude aufseiten der Künst- er groß ist, versteht sich. Der Geschäftsführer des Deut- chen Kulturrates, Olaf Zimmermann, zieht sogar den ut vor Frau Weiß: Denn dem Finanzminister 2 Millionen Euro zusätzlich für die Kulturförderung bzuknöpfen, sei eine beachtenswerte Leistung. Das „Abknöpfen“ der Mittel an sich mag bei der der- eitigen Haushaltslage schon eine beachtenswerte Leis- ung sein. Dies möchte ich gern zugeben. Doch das Ver- ahren der Umsetzung des Gesetzes ist weniger Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12765 (A) ) (B) ) beachtlich. Damit sind wir, Sie merken es meine Damen und Herren, bei der anderen, der negativen Seite der Me- daille. Denn die Kulturstaatsministerin ist mit ihrem Ge- setzesvorschlag in der Länderkammer am 14. Mai Knall auf Fall durchgerasselt. Die Erklärung dafür war ganz simpel: Was fehlte, war die Begründung, warum der Bund die Zuständigkeit für eine sich in Länderhoheit be- findlichen Kulturinstitution übernehmen wollte. Dass sich die Länder dabei in ihren föderalen Rechten verletzt sehen und auf den Schlips getreten fühlen würden, hätte die Kulturstaatsministerin voraussehen können und müs- sen. Hier wäre sauberes Arbeiten gefragt gewesen. Warum musste es unbedingt ein Gesetz sein? Frau Weiß hätte das ganze Hickhack mit den Ländern vermei- den können, wenn sie die Übernahmen im Rahmen des Hauptstadtkulturvertrages geregelt hätte, wie in der Ver- gangenheit ja auch. Außerdem hätte so vermieden werden können, dass die Kulturstaatsministerin einem Beschluss des Parla- ments vorausgreifen muss. Denn bereits seit dem 1. Ja- nuar erbringt der Bund seine Leistung und finanziert die Akademie der Künste. Auf welcher Basis, frage ich Sie, wenn wir erst jetzt, elf Monate später, ein Gesetz be- schließen? Hier ist über die Köpfe der Abgeordneten hinweg entschieden worden. Da kann ich Ihnen, Frau Weiß, nur dramatische handwerkliche Fehler attestieren! Meine Damen und Herren, noch etwas ist mehr als unglücklich: Ich meine die Knüpfung der Übernahme der Akademie der Künste an den Einsatz der frei wer- denden Mittel im Berliner Kulturetat für eine funktionie- rende Opernstiftung. Wohlgemerkt: funktionierend. Doch bisher funktioniert hier gar nichts. Nach einem Jahr der Suche kann Kultursenator Flierl immer noch keinen adäquaten Intendanten präsentieren. Warum wohl? Liegt es vielleicht doch am Konzept der Stiftung? Und ist die Opernstiftung vielleicht doch kein – ich zitiere die Kulturstaatsministerin aus einem „Focus“- Interview vom 17. November vergangen Jahres – „Exempel für modernes Kulturmanagement“? Was kann Berlin bislang vorweisen? „Big Brother in der Oper“, wie vorgestern die „Berliner Morgenpost“ titelte. Sehen Sie, deshalb haben wir auch die Verknüp- fung von Opernstiftung und der Akademie der Künste immer kritisiert. Denn was die Akademie dringend be- nötigt, ist Planungssicherheit. Was sie durch das unsou- veräne Agieren von Frau Weiß bekommen hat, ist genau das Gegenteil. Sicherheit für die Akademie der Künste, das ist der Grund, warum wir dem Gesetz zustimmen. Ansonsten kann ich dem Gesetz nichts Positives abgewinnen. Denn es zeigt nur einmal mehr die Konzeptlosigkeit, mit der die Kulturstaatsministerin die Hauptstadtkultur betreibt. Oder würden Sie die „Entlastung des Berliner Kultur- haushaltes“ als Konzept bezeichnen? Ich nenne es eher Armutszeugnis und Flickschusterei. Sie hangeln sich von einer Notlösung zur anderen. Heute übernimmt der Bund die Akademie der Künste, den Hamburger Bahnhof und die Kinemathek. Morgen ist es vielleicht das Naturkundemuseum. Auf welcher Grund- l d A r k f d l w B R p ü d r d D h g d e f s l e K J d g G s G A d J F D A S B B a A r P d k d d t V A (C (D age? Erklären Sie mir doch einmal, warum es die Aka- emie der Künste Berlin/Brandenburg ist und nicht die kademie der Bildenden Künste in Nürnberg? Und wa- um der Hamburger Bahnhof? Ja, der Bund hat die Aufgabe, sich um die Hauptstadt- ultur zu kümmern. Daran gibt es nichts zu deuten. Ich inde es hervorragend, wenn sich der Bund nicht nur azu bekennt, sondern den Bekenntnissen Taten folgen ässt. Aber Kultur ist nun einmal auch Ländersache. Umso ichtiger ist es, dass wir alle – die Parlamentarier im undestag, aber auch die Länder – wissen, wohin die eise geht! Welche Kulturinstitutionen in der Hauptstadt lanen Sie, Frau Kulturstaatsministerin, noch vom Bund bernehmen zu lassen und auf welcher Basis? Was wir ringend benötigen, ist endlich eine klare Aussage da- über, für welche Kulturinstitutionen in der Hauptstadt er Bund und für welche das Land Berlin zuständig ist. ie Zeit des Förderns auf Zuruf muss endlich ein Ende aben! Frau Weiß, der November neigt sich seinem Ende ent- egen. Langsam beginnt die Zeit des Wünschens und es Schenkens. Ich wünsche mir von Ihnen, dass Sie ndlich ein in sich stimmiges und langfristiges Konzept ür das Engagement des Bundes in der Frage der Haupt- tadtkultur vorlegen. Und ich hoffe sehr, dass Sie uns al- en dieses Geschenk machen werden. Erika Steinbach (CDU/CSU): Hans Scharoun, der rste Präsident der neugegründeten Akademie der ünste in West-Berlin, sprach bei der Eröffnung im ahre 1954 von Freiheit und Wahrheit als den Sternen, ie über der Kunst und dem neuen Haus leuchten mö- en. Die Bundesregierung greift mit dem vorliegenden esetzentwurf nach diesen Sternen und möchte sie über ich selber leuchten sehen. Bei viel Verständnis für das rundanliegen der Bundesregierung, die Existenz der kademie der Künste zu sichern, lehnen CDU und CSU ie Vorgehensweise ab. Die Akademie der Künste ist seit ihrer Gründung im ahr 1696 Beratungsorgan ihrer Träger in künstlerischen ragen. Kaum eine heute noch aktive Institution in eutschland hat eine so ehrwürdige Tradition wie die kademie. Ihre Idee war maßstabsetzend für die „Hohe chule“. Gegründet wurde sie von Kurfürst Friedrich III. von randenburg mit dem hohen Anspruch, die Provinz randenburg kulturell den anderen deutschen Ländern nzugleichen. Unter Friedrich Wilhelm II. wurde die kademie der Künste gar zum Symbol der Modernisie- ung Preußens. Mit ihren liberalen und demokratischen rinzipien erwarb sie sich internationales Renommee. In er Weimarer Republik war sie der Anlaufpunkt der ünstlerischen Elite Deutschlands und Europas. Nach em vorläufigen Untergang der Akademie der Künste urch die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialis- en wuchs sie nach dem Krieg und insbesondere nach der ereinigung der Akademie der Künste West mit der kademie der Künste Ost im Zuge der deutschen Einheit 12766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) wieder zu dem bedeutendsten Treffpunkt internationaler Künstler in Deutschland heran und knüpfte damit an ihre alte und herausragende Tradition an. Die Geschichte der Akademie der Künste verpflichtet uns heute, sie nicht als politischen Spielball zu benutzen. Sie verdient unser aller Unterstützung. Deshalb möchte ich auch heute keine Diskussion über die Gesetzge- bungskompetenz des Bundes zu dem uns vorliegenden Gesetz führen. Genauso lasse ich heute das Für und Wi- der der föderalen Vielfalt unserer Kulturpolitik aus dem Spiel, auch wenn mir die Bundesregierung die Bedenken des Bundesrates zu leichtfertig vom Tisch gewischt hat. Wir unterstützen das Bemühen der Bundesregierung, die finanzielle Existenz der Akademie der Künste zu si- chern. Wir schließen uns auch ihrer Auffassung an, dass die Akademie aus ihrer über 300-jährigen Tradition he- raus wie kaum eine andere nationale Institution im Aus- land als herausragende Repräsentanz deutscher Kultur wahrgenommen wird. Ebenso verschließen wir uns nicht dem von den Mitgliedern der Akademie geäußerten Wil- len einer Überführung in Bundeszuständigkeit. Wir kritisieren aber scharf die Vorgehensweise und Motive der Bundesregierung, die hinter diesem Gesetz- entwurf stehen. Bereits seit dem l. Januar 2004 finanziert der Bund die Akademie der Künste. Wir fragen uns, auf- welcher Grundlage dies geschieht, wenn wir erst heute über eine Übernahme der Trägerschaft debattieren. Die Übernahme der Trägerschaft wiederum ist ein zweifelhaftes Koppelgeschäft mit der Gründung der Opernstiftung. Dies weckt schlimmste Befürchtungen, da die Gründung der Opernstiftung mit schriller Begleit- musik einhergeht. Von „politischem Krieg“ und „Berli- ner Kulturkampf“ ist heute in den Medien die Rede. Wie kann man die Akademie der Künste zu diesem Zeitpunkt in derart stürmisches Fahrwasser werfen? Warum über- haupt lässt sich die Bundesregierung, wenn sie der Aka- demie eine herausragende und besonders förderwürdige Bedeutung zuspricht, auf dieses Kompensationsgeschäft ein? In anderen Fällen – ich erinnere an das Jüdische Museum – war das auch nicht der Fall. Dieses Gesetz wird immer den faden Beigeschmack behalten, dass Berlin die Akademie der Künste an den Bund abschiebt, um die neue Opernstiftung zu errichten. Dieses Vorgehen ist der Akademie der Künste unwürdig. Mit diesem Gesetzentwurf beteiligt sich die Bundes- regierung an einem abschreckenden Geschacher. CDU und CSU werden, um den Mitgliedern der Aka- demie der Künste und dem kulturellen Leben im In- und Ausland kein falsches Signal zuzusenden, heute dem Gesetzentwurf trotzdem zustimmen. Für uns steht die Existenz der Akademie der Künste im Mittelpunkt unse- rer Überlegungen. Dafür stellen wir erhebliche genannte Bedenken hinten an. Wir bedauern sehr, dass kein würdigeres Verfahren und Vorgehen gewählt wurde. Der Wechsel der Träger- schaft der Akademie der Künste bleibt ein weiteres un- rühmliches Kapitel dieser Bundesregierung. Die ein- gangs angesprochenen Sterne von Freiheit und Wahrheit leuchten heute leider nicht heller, weder über der Kunst, n s E d c H s – d k w s k A h r l t H d d f t h w S S l k u M H M h l d B s g e d s s is B d A d s K d t s W d d (C (D och über der Akademie, und schon gar nicht über die- em Gesetzentwurf. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rinnern wir uns kurz: Die Entscheidung des Bundes, ie Akademie der Künste als Körperschaft des öffentli- hen Rechts zu übernehmen, wurde Ende 2003 im neuen auptstadtkulturvertrag festgeschrieben. Durch die ent- prechende Entlastung des Berliner Kulturhaushalts 16 der insgesamt 22 Millionen Euro Entlastung sind er Übernahme der Akademie der Künste zu verdan- en – sollte der Berliner Senat in die Lage versetzt erden, die Berliner Opernreform durchzuführen. Tat- ächlich kann die Berliner Opernreform als Modell für ünftige Reformen im Kulturbereich betrachtet werden. ngesichts der derzeitigen Querelen und skandalösen andwerklichen Fehler bei der Suche nach einem Gene- aldirektor der Berliner Opernstiftung fragt man sich al- erdings, ob der Berliner Kultursenator selbst die Bedeu- ung dieser Reform überhaupt begriffen hat. Dieser Hintergrund und das derzeitige personelle ickhack dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, ass es sich bei der Entscheidung des Bundes, die Aka- emie der Künste als rechtsfähige Körperschaft des öf- entlichen Rechts in Trägerschaft des Bundes zu errich- en, um eine kulturpolitische Grundsatzentscheidung andelt. Denn dass die Akademie der Künste eine ehr- ürdige Institution mit nationaler und internationaler trahlkraft war und ist – darüber besteht kein Zweifel. eit ihrer Gründung 1669 ist sie ein Ort des internationa- en Austauschs von Künstlern; sie ist ein Hort der Demo- ratie, in dem das kulturelle Erbe Deutschlands gepflegt nd weiterentwickelt wird. Große Namen wie Felix endelssohn-Bartholdy, Thomas Mann, Heinrich Mann, ermann Hesse, Ricarda Huch, Alfred Döblin, Heiner üller – alle waren sie Mitglieder der Akademie – ste- en für den humanistischen Ansatz dieser internationa- en „Gelehrtenrepublik“. Was haben wir der Akademie er Künste nicht alles zu verdanken? Ohne sie wäre zum eispiel das Brandenburger Tor in seiner klassizisti- chen Form niemals gebaut worden. Stets, auch unter rößter Repression, bildete die Akademie der Künste ine Gegenkraft zu nationaler Engstirnigkeit. Dass ihr erzeitiger Präsident Adolf Muschg ein Schweizer ist, ein Vorgänger György Konrad ein Ungar, zeigt, dass ich die Akademie der Künste dieser Tradition bewusst t. Ich freue mich deshalb über das Engagement des undes und darüber, dass nun eine kompakte Lösung für iese Institution gefunden wurde. So kann die Rolle der kademie im kulturellen Austausch, bei der Vermittlung er Künste und der Pflege unseres kulturellen Erbes ge- ichert werden. In der Übernahme der Akademie der ünste zeigt sich eine doppelte Zuständigkeit des Bun- es: erstens seine besondere Verantwortung für die kul- urelle Entwicklung der Bundeshauptstadt, zweitens eine Zuständigkeit für Institutionen, die in besonderer eise der Repräsentation des Gesamtstaats dienen. Bei- es trifft im Falle der Akademie der Künste zu. Die Bun- eskompetenz, die von einigen Bundesländern ange- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12767 (A) ) (B) ) zweifelt wurde, ist damit eindeutig gegeben. Die Entscheidung ist verfassungskonform und sie liegt zu- dem im ureigenen Interesse des Gesamtstaats. Die neue Satzung der Akademie der Künste präzisiert diese be- sondere Kompetenz des Bundes; im Verwaltungsbeirat ist der Bund als Zuschussgeber mit der Mehrheit der Stimmen vertreten. An der künstlerischen Autonomie der Akademie wird dies selbstverständlich nichts än- dern. Von ihrem neuen Sitz am Pariser Platz im Zentrum Berlins wird die Akademie der Künste ihre Wirkung weiter entfalten, kulturelle Debatten anstoßen und so Kultur zu einem zentralen Bestandteil der – politischen – Identitätsfindung der so genannten „Berliner Republik“ machen. Vergessen wir außerdem nicht: Die Zuwendun- gen und Preise der Akademie zur Unterstützung von Künstlern gewährleisten auch unter schwierigen ökono- mischen Bedingungen ein Klima, in dem sich Künstler in diesem Land willkommen fühlen dürfen. Nach Osteuropa pflegt die Akademie stets fruchtbare Kontakte, sodass sie zur kulturellen Vertiefung des euro- päischen Einigungsprozesses Wichtiges beiträgt. Über- haupt sollten wir uns über die immense Bedeutung die- ser Institution in einem zunehmend unübersichtlichen, von ökonomischen Sachzwängen geprägten Globalisie- rungsprozess im Klaren sein. Nur wenn das kulturelle und geistige Erbe Europas und Deutschland weiter le- bendig gehalten wird, kann die Globalisierung als ein humaner Prozess gestaltet werden. Für diesen Willen steht die Akademie der Künste. Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- kanzler: Wir debattieren heute über das geistige Institut unserer Nation. Die Akademie der Künste blickt auf eine stolze, über 300 Jahre alte Tradition zurück. Als unab- hängige Künstlersozietät ist sie die älteste ihrer Art in Europa. Wie kaum eine zweite Institution bildet die Aka- demie die Entwicklung der Künste und den geistigen Zu- stand einer Gesellschaft ab. Sie ist damit nicht nur ein Kernelement der Kulturlandschaft in der Hauptstadt, sondern auch eine Einrichtung von internationaler Repu- tation. Mit der Übernahme in die finanzielle und rechtliche Obhut des Bundes soll die Akademie auch künftig für die Künste streiten. Wir wollen aber keine Staatsakade- mie, vielmehr sehen wir uns in der schönen Tradition der Akademiebewegung, einen freien Ort des freien Gedan- kens und des freien Urteils zu unterstützen. Vom Pariser Platz sollen künftig kulturpolitische Diskussionen ausge- hen, die ganz Deutschland bewegen, vielleicht sogar ver- ändern können. Die Akademie bleibt also inhaltlich au- tonom. Die von ihr ausgehenden Impulse entfalten sie coram publico; sie wirkt öffentlich. Durch ihre Veran- staltungen vermittelt sie wesentliche künstlerische Strö- mungen der Gegenwart. Durch ihr interdisziplinäres Archiv, ihre umfangreiche Bibliothek und die zwei Ge- denkstätten in ihrer Obhut trägt sie erheblich zur Pflege des kulturellen Erbes bei. v B i D U g m B A z n i g B A d e l z B t d O N 1 g w d w d b l t s w g t d Ä s d B n d K d W g d f s (C (D Mit seinem Engagement für die Akademie der Künste ertieft der Bund sein kulturpolitisches Engagement in erlin. Dieses Institut – ich kann es nur wiederholen – st von herausragender Bedeutung für die Kulturnation eutschland und es ist eben keine Regionalakademie. m ihre Strahlkraft zu erhalten, hat sich die Bundesre- ierung entschlossen – übrigens im völligen Einverneh- en mit dem Senat von Berlin und der Landesregierung randenburg – in die alleinige Verantwortung für die kademie einzutreten. In einem juristischen Sinne technisch gesprochen ielt das Ihnen vorliegende Gesetz auf die Errichtung ei- er rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts n Trägerschaft des Bundes. Sie soll an die Stelle der leichnamigen Körperschaft treten, die von Berlin und randenburg errichtet wurde. Mit der Übernahme der kademie kommt der Bund einer Verpflichtung nach, ie im Hauptstadtkulturvertrag vom 9. Dezember 2003 nthalten ist. Er entlastet damit die Kulturhaushalte Ber- ins und Brandenburgs und sichert zugleich das finan- ielle Fundament der Akademie. Dieses Engagement des undes fügt sich ein in sein Gesamtkonzept für die Kul- ur in der Hauptstadt Berlin. Es schafft, wie Sie wissen, ie Voraussetzung für den Erhalt der drei Berliner pernhäuser, den ja alle Fraktionen dieses Hauses mit achdruck gefordert haben. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 4. Mai dieses Jahres das Ansinnen grundsätzlich be- rüßt, „im Rahmen des Hauptstadtlkulturvertrages die eitere finanzielle Existenz der Akademie der Künste, ie von den Ländern Berlin und Brandenburg getragen ird, zu sichern“. Gleichwohl hat eine Mehrheit im Bun- esrat die Auffassung vertreten, dass der Bund nicht erechtigt sei, die Akademie als Körperschaft des öffent- ichen Rechts zu errichten, da die Gesetzgebungskompe- enz für kulturelle Angelegenheiten in der alleinigen Zu- tändigkeit der Länder liege. Die Bundesregierung hat diese Auffassung zurückge- iesen: Die Länder begrüßen in ihrer Stellungnahme rundsätzlich die Übernahme der Akademie und akzep- ieren sie damit als hauptstädtische Einrichtung, die – wie er im Ausschuss für Kultur und Medien angenommene nderungsantrag zum Gesetz noch einmal klar heraus- tellt – der nationalen wie internationalen Repräsentation es Gesamtstaates dient. Wenn dem so ist, dann sieht der und auch für die Umwandlung in eine Körperschaft ach Bundesrecht „eine evidente Handlungskompetenz“. Der Bundesregierung liegt es fern, die Kulturhoheit er Länder zu untergraben. Der Bund hat jedoch für die ulturnation Deutschland auch ungeschriebene Zustän- igkeiten: Befugnisse und Verpflichtungen, die ihrem esen nach im bundesstaatlichen Gesamtverband wahr- enommen werden müssen, stehen ihm aus der Natur er Sache zu. Die Bundesregierung sieht sich daher ver- assungsrechtlich befugt, die Akademie in eine Körper- chaft nach Bundesrecht umzuwandeln. 12768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. November 2002 zur Gründung ei- ner Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ei- nerseits und der Republik Chile andererseits – Antrag: Für einen europäischen-kolumbia- nischen Dialog und einen erfolgreichen Frie- densprozess in Kolumbien einsetzen (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Lothar Mark (SPD): Das Assoziationsabkommen zwischen der EU und Chile ist das umfangreichste, das die EU jemals mit einem Drittstaat geschlossen hat, und es stellt damit einen Meilenstein für die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika insgesamt dar. Nach Mexiko ist Chile das zweite Land, mit dem ein sol- ches Abkommen vereinbart wurde. Dieser Vertrag umfasst weit mehr als ein reines Han- delsabkommen. Der scheidende EU-Handelskommissar Pascal Lamy, beschreibt dies wie folgt: Mit der Unter- schrift unter dieses Dokument haben Chile und die EU vor dem Rest der Region die Verantwortung zur Bildung einer strategischen Beziehung zwischen Europa und La- teinamerika übernommen. – Es geht folglich um mehr als die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen, es geht auch um das gemeinsame Bekenntnis zu unseren Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte. Entsprechend den Vereinbarungen im politischen Pro- tokoll, das neben dem Wirtschafts- und Handelskapitel den zweiten Pfeiler bildet, sollen die EU und Chile ihre Positionen in Fragen der internationalen Politik künftig noch besser koordinieren und in internationalen Gremien gemeinsame Initiativen einbringen. Wir sind vom Nut- zen einer solchen Politik der internationalen Koopera- tion überzeugt, die auf Alleingänge bewusst verzichtet und unbedingt dem Konzept des Multilateralismus ver- pflichtet ist. Hinzu kommt als dritter Pfeiler ein Koope- rationsabkommen, das eine verstärkte Zusammenarbeit im kulturellen sowie im Bildungsbereich vorsieht und Chile einen privilegierten Zugang zu den Rahmenpro- grammen der EU gewährt. Die Handelsvereinbarungen des Abkommens bieten Chile Zugang zu einem Markt von über 450 Millionen Verbrauchern. Dem Land eröffnen sich damit Chancen, die von der Einführung neuer Qualitätsstandards und dem damit verbundenen Gewinn des Vertrauens der eu- ropäischen Verbraucher bis hin zur Diversifizierung der Absatzgebiete und der eigenen Produkte reichen. Selbstverständlich ist das Abkommen auch für Eu- ropa von allergrößtem Interesse. Im Weltbankbericht „Doing Business 2004“ wird Chile als bester Geschäfts- standort Lateinamerikas bezeichnet; unter den „Emer- ging Markets“ rangiert es an zweiter Stelle. Im vergan- g O b i A g d n s E s h t g I a s m n H h a s d t g h z s S r d s a m n t m d S w C K e g a s d z r d e n (C (D enen Jahr hat Chile zudem Antrag auf Aufnahme in die ECD gestellt. Bekanntlich finden bestimmte Abkommensteile – ins- esondere Bestimmungen zum Warenverkehr und über nstitutionelle Fragen – bereits seit dem 1. Februar 2003 nwendung. Somit kann eine erste, vorläufige Bilanz ezogen werden, die durchaus positiv ausfällt: Das Han- elsvolumen der EU mit Chile hat sich in den ersten Mo- aten dieses Jahres sprunghaft entwickelt. Die chileni- chen Exporte nach Europa sind um 52 Prozent, die xporte nach Deutschland sind um 56 Prozent gewach- en. Die deutschen Ausfuhren nach Chile legten immer- in um 11 Prozent zu. Das Assoziierungsabkommen hat also schon jetzt den raditionell guten und intensiven Wirtschaftsbeziehun- en zwischen Deutschland und Chile einen wesentlichen mpuls verleihen können. Deutschland hat seinen Rang ls wichtigster Lieferant Chiles innerhalb der Europäi- chen Union behauptet, wenngleich angemerkt werden uss, dass Deutschland wie auch die EU insgesamt icht so stark wie andere Regionen vom chilenischen andelswachstum profitieren. An dieser Stelle geht da- er mein Appell an die deutsche Wirtschaft, den Blick uch wieder verstärkt über den Südatlantik zu richten. Diese Entwicklungen lassen hoffen, dass die fort- chreitende Liberalisierung des Warenverkehrs auf bei- en Seiten dazu beitragen wird, das Wirtschaftswachs- um zu steigern, die Arbeitslosigkeit zu senken und der esellschaftlichen Entwicklung neue Impulse zu verlei- en. Der Vertrag leistet somit einen wesentlichen Beitrag ur Sicherung des Friedens, der Sicherheit und der wirt- chaftlichen Stabilität in der Region. Chiles Funktion als tabilitätsanker in der Region wird durch die Ratifizie- ung des Assoziierungsabkommens unterstrichen. Nicht zuletzt möchte ich noch auf die Signalwirkung es Abschlusses auf die Verhandlungen mit dem Merco- ur über ein vergleichbares Abkommen hinweisen. Wir lle hoffen, dass die Erfolgsbilanzen aus den Abkommen it Mexiko und Chile auch dazu führen werden, dass ach dem Verfehlen des selbst gesteckten Abschlussda- ums Ende Oktober nunmehr unter der neuen EU-Kom- ission in nicht allzu ferner Zukunft der Abschluss mit em Mercosur zustande kommt. Angesichts der dargelegten Argumente stimmt die PD-Bundestagsfraktion dem vorliegenden Gesetzent- urf der Bundesregierung ohne Änderungen zu. Die DU/CSU-Fraktion ist mit dem vorliegenden Antrag zu olumbien in wesentlichen Punkten auf unsere Linie ingeschwenkt. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen; ich ehe gleich im Einzelnen darauf ein. Dennoch zeigt sich us unserer Sicht ganz deutlich, dass diese richtigen An- ätze nicht in letzter Konsequenz zu Ende gedacht wer- en. Verschiedene Punkte lassen eine Befürwortung der u beratenden Drucksache nicht zu. Der Antrag benennt die bisherigen Erfolge der Regie- ung Uribe und verweist richtigerweise darauf, dass iese zunächst vorläufig sind und der Weg zu einer dau- rhaften Befriedung der kolumbianischen Gesellschaft och lang und äußerst beschwerlich sein wird. Umso Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12769 (A) ) (B) ) wichtiger ist auch aus unserer Sicht die Unterstützung der Regierung Uribe auf diesem Weg. Vor diesem Hintergrund ist es unbestritten notwendig, von europäischer Seite neue Impulse für den festgefahre- nen Friedensprozess zu geben. Diese Auffassung, vertre- ten wir seit langem. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in einer Entschließung vom April letzten Jahres – aber auch schon im Juli 2000 – auf die Wichtigkeit eines entschie- deneren Engagements der Europäischen Union hinge- wiesen. In diesem Zusammenhang haben wir die Ernen- nung und Entsendung eines Hohen Beauftragten der Europäischen Union für den Konflikt in Kolumbien vor- geschlagen. Seine Aufgabe bestünde darin, den vorhan- denen europäischen Ansatz für eine friedliche Konflikt- lösung auf dem Verhandlungswege mit Nachdruck zur Geltung zu bringen und damit dazu beizutragen, in enger Abstimmung mit der kolumbianischen Regierung, dem Sondergesandten der Vereinten Nationen und der OAS den Friedensprozess wieder neu zu beleben und zu dyna- misieren. Von kolumbianischer Seite ist dieser Vorschlag bisher sehr positiv aufgenommen worden, so auch jüngst während meiner letzten Reise nach Bogota im vergange- nen Oktober. Die Einschätzung der CDU/CSU zu den Hauptpro- blemfeldern teilen wir, wenn auch mit etwas anderer Ge- wichtung: Die Menschenrechtssituation in Kolumbien ist nach wie vor kritisch. Es gilt weiterhin, die kolumbia- nische Regierung auf die Umsetzung der Empfehlungen des VN-Hochkommissars für Menschenrechte vom ver- gangenen Februar zu verpflichten und dabei zu unter- stützen. Unserer festen Überzeugung nach kann es letztend- lich nachhaltigen Frieden in Kolumbien nur auf dem Verhandlungswege geben. Deshalb begrüßen wir die Forderung, die kolumbianische Regierung bei der An- bahnung konstruktiver Friedensverhandlungen mit allen illegalen Gruppen zu unterstützen. In diesem Zusammenhang verfolgen wir aufmerksam den Demobilisierungsprozess mit den Paramilitärs, den wir grundsätzlich befürworten. Viele Stimmen in Ko- lumbien sprechen sich allerdings kritisch gegenüber ei- ner Quasilegalisierung der paramilitärischen Verbände im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung aus, zumal das diesbezügliche Konzept der Regierung nicht kohä- rent erscheint und auch noch kein Gesetzesrahmen exis- tiert. Trotz aller Schwierigkeiten im Prozess der Demo- bilisierung und Wiedereingliederung der Paramilitärs sehen wir dazu keine Alternative. Gleichwohl gilt es aus unserer Sicht, darauf zu achten, dass die Verhandlungen transparent gestaltet werden und die Balance zugunsten der Rechte der Opfer gewahrt bleibt. Der Vorschlag zur Einrichtung einer Wahrheitskommission kann in diesem Prozess ein wichtiges Instrument sein, setzt allerdings den politischen Willen und ein funktionierendes Rechts- system voraus. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt insbesondere, dass die CDU/CSU in diesem Kontext auch die Notwen- digkeit von umfassenden gesellschaftlichen Reformen in Kolumbien betont. B t e K n C a C s u I P l is K s d m A A g V u s e V l w A p a m d s a l t t d u r s d t a m e e m s g E s D d (C (D Zu Recht fordert sie in diesem Zusammenhang die ündelung der friedenspolitischen Anstrengungen sei- ens der USA und Europa. Zumindest die Zeichen für ine geschlossenere Haltung der Europäer gegenüber olumbien stehen nach dem Regierungswechsel in Spa- ien gut. Damit verbessern sich zwar grundsätzlich die hancen von multilateralen Initiativen; inwiefern diese ber in einen ausgewogeneren neu aufgelegten „Plan olombia“ münden, bleibt abzuwarten. Im Ergebnis ollte ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ziviler nd militärischer Konfliktbewältigung hergestellt sein. ch freue mich, dass die CDU/CSU-Fraktion in diesem unkt von der einseitigen Unterstützung eines vornehm- ich militärisch ausgelegten „Plan Colombia“ abgerückt t. Ich möchte nun aber zu meiner eingangs geäußerten ritik am vorliegenden Antrag kommen. Es ist schon er- taunlich: Einerseits betont die CDU/CSU richtigerweise ie regionale Dimension des Konflikts. Nur zusammen it den Anrainerstaaten können die friedenspolitischen nstrengungen zu einer konstruktiven Lösung führen. ndererseits aber muss in ihrer Situationsanalyse fast ebetsmühlenartig die Verunglimpfung des Nachbarn enezuela folgen. Sie stützt sich dabei – wie so oft – auf ngesicherte Erkenntnisse, Verdächtigungen und Unter- tellungen. Es ist mir unverständlich, wie versucht wird, inen bedeutenden Partner von diesem gemeinsamen orgehen auszugrenzen, wenn man doch einen regiona- en Ansatz in dieser Frage fördern will. Bedauerlicher- eise disqualifiziert sich die CDU/CSU mit ihren guten nsätzen in dieser Frage. Ein weiterer Punkt ist die Einschätzung der Drogen- roblematik. Natürlich geht es um unsere Sicherheit, ber es geht auch um unsere Verantwortung als Konsu- entenländer, zu der sich die CDU/CSU im vorliegen- en Antrag nicht hinreichend bekennt. Es muss aus un- erer Sicht eine langfristige Perspektive für den lternativen Anbau eröffnet werden. Insofern ist von al- ergrößter Wichtigkeit, dass vonseiten der EU ein attrak- ives Nachfolgerregime für das APS „Drogen“ angebo- en wird. Wir sehen bisher, dass Maßnahmen im Rahmen es „Plan Colombia“ zur Bekämpfung von Drogenanbau nd -kriminalität zum Teil nicht in dem Maße erfolg- eich waren wie erwartet, oft nur kurzfristig eingetreten ind oder lediglich zu einer Verlagerung in Nachbarlän- er geführt haben. Die CDU/CSU spricht sich schließlich in ihrem An- rag für die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten us. Über eine Verfassungsänderung in Kolumbien mag an in der Tat denken, wie man will. In jedem Fall steht s dem Deutschen Bundestag aber nicht an, sich in der inen oder anderen Weise dazu zu erklären und sich da- it in diese innerkolumbianische Diskussion einzumi- chen. Ich bin überzeugt, dass der kolumbianische Kon- ress unter Abwägung des Für und Wider die richtige ntscheidung in dieser wichtigen Frage treffen wird. Insgesamt ist dem Antrag sehr deutlich die Hand- chrift des zugrunde liegenden SWP-Papiers von r. Günther Maihold anzumerken. Es wäre schön, wenn ie darin zum Ausdruck kommenden Intentionen auch 12770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) tatsächlich Eingang ins Bewusstsein der CDU/CSU- Fraktionsmitglieder gefunden hätten. Die Zukunft wird zeigen, ob meine diesbezügliche Skepsis berechtigt ist. Ich möchte abschließend einige Bemerkungen zum internationalen Kontext machen, der meines Erachtens die Bemühungen um den Frieden in Kolumbien nicht gerade erleichtert. Allzu vorschnell werden derzeit unter den Kampf gegen den Terrorismus weltweit Entwicklungen subsumiert, die vielleicht einer differenzierteren Betrachtung bedürften. Bei diesen Konflikten in der Welt gerät Ursachenforschung stellen- weise völlig in den Hintergrund und nachvollziehbare Lösungsansätze für eine nachhaltige Sozial- und Frie- denspolitik werden weitestgehend ignoriert und tabui- siert. Chancen und Möglichkeiten, Friedenspolitik prä- ventiv durch umsichtige und gerechte Sozialpolitik anzugehen, werden in der globalisierten Welt oft aus Ide- ologiegründen nicht gesehen, negiert, zumindest aber nicht offensiv propagiert und verfolgt. Monokausale Er- klärungs- und Lösungsansätze können aber nur in eine Sackgasse führen, wie uns an den Beispielen der Eskala- tion im Irak, im Nahen Osten und anderen Regionen schmerzlich, inzwischen fast täglich vorgeführt wird. Dies sollten wir auch in Bezug auf Kolumbien im Hin- terkopf behalten. Da es, wie oben erläutert, in verschiedenen Punkten Übereinstimmung zwischen unseren Fraktionen gibt, finden wir es bedauerlich, dass nicht im Vorfeld der Ein- bringung ins Plenum der Versuch unternommen wurde, zu einer Verständigung zu kommen. In der vorliegenden Form kann die SPD-Bundestagfraktion trotz aller begrü- ßenswerten Ansätze nicht zustimmen. Erich G. Fritz (CDU/CSU): „Nur ein Land ist der lateinamerikanische Malaise entronnen – Chile“, heißt es in einem „Welt“-Artikel vom 21. Oktober 2004. Das sind gute und ermutigende Nachrichten, die uns den Nutzen des von der Bundesregierung erst jetzt vorgeleg- ten Gesetzentwurfs zur Ratifizierung des Abkommens vom 18. November 2002 über eine Assoziation zwi- schen der EU und Chile verdeutlichen. Das Abkommen ist in seinen wesentlichen handelspolitischen Bestim- mungen von der EU-Kommission im Rahmen ihrer Kompetenzen im Februar 2003 in Kraft gesetzt worden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und un- terstützt die vorgesehene Ratifizierung, nicht zuletzt weil Deutschland Chiles wichtigster Handelspartner inner- halb der Europäischen Union ist. Nach Mexiko ist Chile das zweite Land Lateinamerikas, mit dem auf der Basis des Assoziationsabkommens die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen intensiviert und die wirtschaft- liche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes un- terstützt werden soll. Dass es Chile im Gegensatz zu anderen Staaten La- teinamerikas gelungen ist, sich für die EU als ernst zu nehmender Partner darzustellen, hat erst jüngst die neue Studie des World Economic Forums gezeigt. Danach zählt Chile zu den Aufsteigern im Growth Competitive- ness Index, GCI, da es sich vom 28. auf den 22. Platz verbessert hat. Nicht nur das: Auch der Abstand zum n 2 s m J b B m e v a m l d e K s d z L P D l S m t r v d d d m r l n r E g f 9 H A b a e k s d h n a v h m s (C (D ächstbesten südamerikanischen Staat, Mexiko, ist auf 6 Plätze angewachsen. Aber nicht nur die wirtschaftlichen Erfolge Chiles prechen für die Ratifizierung des Assoziationsabkom- ens. Chile hat seit seiner Rückkehr zur Demokratie im ahre 1990 seinen demokratischen Weg kontinuierlich eschritten. Mithilfe des in dem Abkommen enthaltenen ekenntnisses zur Wahrung der demokratischen und enschenrechtlichen Grundsätze soll Chile auf diesem rfolgreichen Weg weiter unterstützt werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ferner die orgesehene finanzielle Zusammenarbeit, die sich vor llem auf die Förderung von Reformen zur Wirtschafts- odernisierung und zur Verbesserung der wirtschaft- ichen Infrastruktur Chiles erstrecken soll, und fordert ie EU und Chile auf, die bislang noch nicht genau ver- inbarte finanzielle Zusammenarbeit umgehend nach In- raft-Treten des Abkommens festzulegen. Besonders erfreulich sind die weit gehenden Liberali- ierungsmaßnahmen im Handelsbereich: zum Beispiel er vollständige Abbau der Zölle für gewerbliche Er- eugnisse bis zum 1. Januar 2010 und die schrittweise iberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen rodukten durch Aufhebung bzw. Senkung von Zöllen. ie wirtschaftlichen Vorteile eines solchen Zollabbaus iegen für beide Seiten auf der Hand: Der Abbau von chranken führt zu einer besseren Arbeitsteilung und da- it zu einem wirtschaftlichen Gewinn für alle Beteilig- en. Die Reformen machen Chile attraktiver für Investo- en, weil wirtschaftspolitische Reformen glaubhaft erankert werden. Außerdem können Erfahrungen mit em Abbau von Handelsbarrieren gesammelt werden, ie dem WTO-Ziel eines weltweiten Abbaus von Han- elsbarrieren nützen können. In diesem Zusammenhang öchte ich allerdings hervorheben, dass bilaterale und egionale Handelsabkommen keine Alternative zu multi- ateralen Vereinbarungen sein dürfen. Dies würde zu ei- er Schwächung des multilateralen Handelssystems füh- en und vor allem Entwicklungsländern schaden. rfreulicherweise ist auch für die EU und die Bundesre- ierung der multilaterale Rahmen der bevorzugte Weg ür die Gestaltung der weltweiten Handelsbeziehungen. Mir ist bewusst, dass die Realität seit Beginn der 0er-Jahre anders aussieht. Seither erleben regionale andelsabkommen einen unvergleichlichen Boom. uch und gerade die USA machen davon regen Ge- rauch. Ein Freihandelsabkommen mit Chile ist bereits bgeschlossen. Auch vor diesem Hintergrund halten wir ine rasche Ratifizierung des EU-Chile-Assoziationsab- ommens für wünschenswert und notwendig, wohl wis- end, dass das vorliegende Assoziationsabkommen über as Freihandelsabkommen zwischen Chile und den USA inausgeht, weil es auch den sozialen, kulturellen, tech- ischen und politischen Dialog umfasst. Bedauerlicherweise hat außer Chile keines der latein- merikanischen Länder eine wirkliche Entwicklung zu erzeichnen – weder in makroökonomischer Sicht noch insichtlich der Verminderung der Armut, in der die eisten Menschen leben. Korruption und Drogenhandel tehen auf der Tagesordnung. Hinzu kommt eine unzu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12771 (A) ) (B) ) reichende Gewaltenteilung, fehlende Rechtsstaatlichkeit und die mangelnde Transparenz politischer Prozesse. Zwar genießt Lateinamerika in der Handelspolitik der EU seit Ende der 90er-Jahre eine Sonderrolle, weil euro- päische Großunternehmer im Zuge der lateinamerikani- schen Privatisierungswelle massive Investitionen vorge- nommen haben, eine Annäherung zwischen Europa und den Staaten Lateinamerikas mit Ausnahme Mexikos und Chiles verläuft dagegen nur schleppend. EU-Handels- kommissar Lamy machte daher auf dem EU-Lateiname- rika-Gipfel vom Mai 2004 eine stärkere regionale und wirtschaftliche Integration zur Vorbedingung für ein Freihandelsabkommen, über das die Staaten Lateiname- rikas schon ab Anfang 2005 verhandeln möchten. Von einem solchen Abkommen würde natürlich auch Europa stark profitieren, da eine Einigung etwa mit dem Mercosur den Europäern den Zugang zu einem Markt mit 265 Millionen Menschen öffnen würde. Wie Sie alle wissen, konnte die für Oktober 2004 vorgesehene Eini- gung über ein EU-Mercosur-Abkommen nicht erzielt werden. Wünschenswert wäre es, wenn Chile als assozi- iertes Mitglied des Mercosur wie auch als Vertragspart- ner des EU-Chile-Assoziationsabkommen als Vermittler auftreten und auf einen raschen Konsens zwischen dem Mercosur und der EU hinwirken würde. Vor dem Hintergrund vieler noch ungelöster Fragen und Defizite ist es für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unverständlich, warum die Bundesregierung ein lateina- merikanisches Land nach dem anderen aus der bilatera- len Zusammenarbeit mit Deutschland ausschließt. Ende 2004 soll die Zusammenarbeit mit Argentinien und Uru- guay aufhören. Darüber hinaus plant die Bundesregie- rung als Nächstes, Chile oder auch Paraguay von der Liste der Kooperationsländer zu streichen. Ich hoffe nicht, dass das im Falle Chiles eine Reaktion auf die be- vorstehende Ratifizierung des EU-Chile-Assoziationsab- kommens ist. Wenn ja, wäre das ein falsches Signal. Die erzielten Reformerfolge der chilenischen Regie- rung dürfen nicht gefährdet werden. Trotz aller Erfolge darf es auch auf bilateraler Ebene kein Nachlassen in den Reformbemühungen geben. Auch Chile steht noch vor großen Herausforderungen. Es zählt zu den Ländern mit der ungünstigsten Einkommensverteilung. Ein Großteil der Bevölkerung bleibt vom Konsum ausgeschlossen, was negative Konsequenzen für die für den Inlandsbe- darf produzierenden Mittelstandsbetriebe hat. Zudem hat die radikale Privatisierung des Ausbildungssystems dazu geführt, dass Chile bei Studien über die Effizienz der Bildungssysteme im internationalen Vergleich regelmä- ßig auf den hintersten Plätzen landet. Ein Überbleibsel des Pinochet-Regimes – das binomi- nale Wahlrecht – macht Chiles Demokraten das Leben schwer. Es zwingt seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 Sozialisten, Sozialdemokraten und Christliche De- mokraten in der aus vier Parteien bestehenden Concerta- tión zusammen. Gleichzeitig bevorzugt es die rechte Op- position dadurch, dass jeder der beiden Blöcke – Linke wie Rechte – pro Wahlkreis nur je zwei Kandidaten auf- stellen darf und damit die rechte Opposition – Allianz aus den Parteien „Demokratisch-Unabhängige Union“, U e s E m n z s v b l d i b n ü k d z z u e W Á c z r d d z g z K u n e p f Ü l v s u d e V s r r d r b e e z t t (C (D DI, und „Nationale Erneuerung“, RN – mit lediglich inem Drittel der Stimmen die Hälfte aller Parlaments- itze bekommen kann. Die Concertatión wird trotz der rfüllung ihrer Aufgabe als Bündnis sämtlicher der De- okratie verpflichteter Parteien gegenüber der Diktatur och so lange bestehen, bis das binominale Wahlsystem ugunsten eines demokratischeren Verfahrens abge- chafft ist. Noch aber wird eine Reform des Wahlrechts on der Opposition aus Eigeninteressen weitgehend lokkiert. Es bleibt also noch viel zu tun in Chile wie auf dem ateinamerikanischen Kontinent insgesamt. Deshalb for- ern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, die von hr aufgekündigte bzw. zurückgefahrene Zusammenar- eit mit vielen Ländern Lateinamerikas wieder aufzu- ehmen und auch auf EU-Ebene auf enge Beziehungen ber das uns hier vorliegende EU-Chile-Assoziationsab- ommen hinaus hinzuwirken. Es muss ganz entschieden arum gehen, Lateinamerika bei seiner politischen, so- ialen und wirtschaftlichen Stabilisierung zu unterstüt- en. Überlassen wir Lateinamerika der wirtschaftlichen nd politischen Einflusssphäre der USA, schadet das uropäischen wie deutschen Interessen im weltweiten ettbewerb. Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Präsident lvaro Uribe Vélez genießt in Kolumbien eine ungebro- hen hohe Popularität: Unter seiner Regierung erscheint um ersten Mal eine dauerhafte Lösung des über 40-jäh- igen blutigen inneren Konfliktes möglich. Doch auch ie internationale Gemeinschaft ist gefragt, den Frie- ensprozess durch geeignete Maßnahmen zu unterstüt- en. Bei den verschiedenen Bemühungen um eine Beile- ung des Konfliktes in Kolumbien hat sich letztlich ge- eigt, dass ein Erfolg versprechender Weg nur in der ombination der beiden Elemente „militärischer Druck“ nd „Verhandlungen“ liegt. Präsident Uribe hat mit sei- em Programm „Demokratische Sicherheit“ diesen Weg ingeschlagen. Seine bisherige Erfolgsbilanz liest sich ositiv: Die Anzahl der Entführungen und der Binnen- lüchtlinge ist um die Hälfte gesunken, Massaker und berfalle auf ländliche Gemeinden haben stark nachge- assen, zudem konnte die Koka-Anbaufläche insgesamt erringert werden. 6 000 bis 7 000 Paramilitärs haben ich nach Regierungsangaben freiwillig demobilisiert nd nehmen an Wiedereingliederungsprogrammen teil. Trotzdem bleibt der Friedensprozess äußerst fragil, ist ie prinzipielle Schwäche der staatlichen Institutionen vident und sind Rückschläge sowohl hinsichtlich der erhandlungen mit den Paramilitärs, AUC, als auch hin- ichtlich der zaghaften Friedensgespräche mit der Gue- illa nicht ausgeschlossen. Die Bemühungen der Regie- ung, im ganzen Land Staatlichkeit wiederherzustellen, as Recht durchzusetzen und der ländlichen Bevölke- ung eine Perspektive jenseits des Drogenanbaus zu ge- en, werden von dieser positiv bewertet. Als Folge wird ine Verfassungsänderung erwogen, die Präsident Uribe ine direkte Wiederwahl ermöglichen und die Fortset- ung seiner Politik der demokratischen Sicherheit garan- ieren soll. Ohne die innenpolitischen Balancen und his- orischen Traditionen, die mit der Frage der direkten 12772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Wiederwahl in Kolumbien verknüpft sind, verkennen zu wollen, würden wir die generelle Möglichkeit der Wie- derwahl des Staatspräsidenten begrüßen. Die Einschrän- kung der direkten Wiederwahl zu Staatsämtern, wie sie zahlreiche lateinamerikanische Länder vorsehen, weist auch klare Nachteile in puncto Kontinuität und Verläss- lichkeit auf. Waffenstillstand, Demobilisierung und Reintegration werden jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn sie von der Gesellschaft als Ganzer getragen werden. Die Re- form der kolumbianischen Gesellschaft und die Über- windung der sozialen Ungleichheit sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Frieden überhaupt möglich wird und langfristig Bestand hat. Insbesondere gilt es, der wirtschaftlichen Elite des Landes zu verdeutlichen, dass sie ihrer gesellschaftspolitischen und sozialen Ver- antwortung zum Beispiel durch Reinvestition ihrer er- zielten Gewinne in höherem Maße gerecht werden muss. Die Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und die deutschen politischen Stiftungen und ihre Partner müs- sen verstärkt in die Lage versetzt werden, diesen Prozess zu begleiten. Die Beziehungen Kolumbiens zu Europa sind schwie- rig. Die EU hat trotz ihres Engagements in Kolumbien, zum Beispiel für Friedenslaboratorien, bisher keinen konstruktiven Dialog mit der Regierung Uribe etablieren können. Angesichts der strategischen Bedeutung eines möglichst stabilen, demokratischen Lateinamerika auch für Europa und der negativen Auswirkungen des Dro- genhandels und der Geldwäsche auf Europa müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten aber ein gewichtiges Inte- resse daran haben, im internationalen Rahmen eine stär- kere, gestaltende Rolle im kolumbianischen Konflikt zu übernehmen. Dies ist in ureigenem europäischen Interesse. Kolum- bien als prominentestes Beispiel steht für die gesamte Region, die geplagt ist von Terrorismus, Drogenproduk- tion und -handel, Kriminalität sowie Konflikten, die Umweltschäden und Ressourcenknappheit ausgelöst ha- ben. Protagonisten sind unter anderem Guerillas, Para- militärs, organisiertes Verbrechen, transnationale Terro- risten, Drogen- und Waffenhändler, die immer häufiger grenzüberschreitend zusammenwirken. Die Verbindun- gen der kolumbianischen Narkoguerilla mit IRA und ETA sind Anzeichen für ein globales Zusammenwirken. Dabei nutzen und schaffen sich die Protagonisten rechts- freie Räume und destabilisieren damit und über ihr regionales Zusammenwirken sowie über die Geldwäsche ihr Ursprungsland, die Region und die Zielländer des illegalen Handels. In diesem Zusammenhang muss deutlich ausgesprochen werden, dass in Venezuela unter seinem Präsidenten Hugo Chávez – der, dies sei hier am Rande erwähnt, die Demokratie in Venezuela schritt- weise ab- und ihm ergebene Parallelstrukturen aufbaut – keine ausreichenden Grenzkontrollen vorgenommen werden und auch keine hinreichend klare ideologische und faktische Abgrenzung zur kolumbianischen Gue- rilla, insbesondere zur FARC, erfolgt. Diese Gefahren fordern also nicht nur die Staaten Lateinamerikas, son- dern auch andere Regionen einschließlich Europas he- raus. p r s V P m z ü d d d d g z f – g s p d K V T w k E N b a w a a S R r g D E m i s b g t ü n g n N a A d s g (C (D Beide Regionen, Europa und Lateinamerika, teilen rinzipielle Vorstellungen zur Gestaltung der Globalisie- ung, zur weltweiten Förderung von Demokratie, Men- chenrechten, Marktwirtschaft sowie zur Stärkung der ereinten Nationen. Darin sind sie einander natürliche artner. Stabile demokratische, rechtsstaatliche und arktwirtschaftliche Verhältnisse sind erste Vorausset- ungen dafür, dass Menschenrechte eingehalten, Armut berwunden und Bildungsgerechtigkeit hergestellt sowie ie Wirtschaftsbeziehungen ausgebaut werden können; ies gilt nicht nur für Kolumbien, sondern auch für an- ere Demokratien in Lateinamerika. Deshalb sind Deutschland und die EU aufgefordert, en kolumbianischen Staat bei den Friedensverhandlun- en mit den illegalen bewaffneten Gruppen zu unterstüt- en, auf die Zusammenführung der bisher parallel ge- ührten Zusammenarbeit Kolumbiens mit den USA überwiegend militärisch – und mit Europa – überwie- end Entwicklungszusammenarbeit – zu drängen und ich für die Wiederherstellung eines konstruktiven euro- äisch-kolumbianischen Dialoges einzusetzen. Auch bei er Stärkung eines unabhängigen Rechtssystems muss olumbien Unterstützung erfahren. Die Drogenproduktion und der Drogenhandel, deren erquickung mit Terrorismus, das Zusammengehen von errorismus und internationaler Kriminalität – wie er- ähnt besonders evident bei der kolumbianischen Nar- oguerilla – müssen entschieden bekämpft werden. benso muss den erwähnten Verbindungen zwischen arkoguerilla und transnationalem Terrorismus vorge- eugt werden. Nur so können die Integrität der latein- merikanischen Staaten und die regionale Stabilität ge- ahrt und Gefahren für die internationale Sicherheit bgewendet werden. Wenn die EU ihrer globalen Ver- ntwortung gerecht werden will, wie es die europäische icherheitsstrategie vorgibt, muss sie sich gerade in der egion auch sicherheitspolitisch viel stärker engagie- en, mit der sie die größten Gemeinsamkeiten hat. Er- änzend müssen die Anstrengungen verstärkt werden, in rogenanbaugebieten Perspektiven für alternative legale inkommensquellen zu schaffen. In diesem Zusam- enhang muss auch die internationale Handelspolitik nsbesondere im Hinblick auf Agrarprodukte stärker icherheits- und entwicklungspolitische Überlegungen erücksichtigen, um letztlich eine einheitliche Politik egenüber den Ländern Lateinamerikas zu gewährleis- en. Schließlich muss die innerkolumbianische Debatte ber innere Reformen wie Zugang zu Ressourcen, Öff- ung des Parteiensystems und Partizipation der Zivil- esellschaft sowie die Landreform angestoßen und inter- ational angemessen flankiert werden. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- EN): Ich bedauere, dass die Entwicklungen in Latein- merika, die heute mit dem Gesetzesentwurf zu einem ssoziationsabkommen mit Chile und mit dem Antrag er Unionsfraktion zu Kolumbien auf der Tagesordnung tehen, hier erst zu so später Stunde zur Debatte gelan- en. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12773 (A) ) (B) ) Der von der CDU/CSU vorgelegte Antrag zur Kolum- bienpolitik enthält einiges Richtiges, nämlich genau das, was zum Teil wörtlich übernommen worden ist aus dem Antrag der Koalitionsfraktionen vom vergangenen Herbst. Diese Punkte brauchen wir allerdings nicht zu beschliessen; der Deutsche Bundestag hat sie bereits am 25. September 2003 beschlossen. Der Antrag verfolgt aber in der Hauptsache das Ziel, die Bundesregierung und die EU zu verpflichten auf die Politik eines neuen Planes Columbia. Dazu sucht er die schweren Konflikte in der kolumbianischen Gesellschaft zu verengen auf eine „der politischen Inhalte weitgehend entleerte Auseinandersetzung mit in den Drogenhandel eingebundenen Kriminellen und Terroristen, die eine Demokratie bedrohen“. Ich glaube, nicht einmal die Re- gierung Uribe selbst, mit der wir ja eine – wie der Antrag feststellt – „schwierige“ Kommunikation haben, würde die Situation so apolitisch beschreiben. Ein Blick auf die aktuelle Situation in Kolumbien zeigt dies; während des vergangen Monats Oktober gab es beinahe täglich Streiks und Protestaktionen in den verschiedenen Teilen des Landes. So wurde zum Bei- spiel am 5. Oktober dieses Jahres ein studentischer Streik gegen Mittelkürzungen von über 1 000 Polizisten mit harter Gewalt beendet; sogar Panzer fuhren auf dem Universitätsgelände auf. Am 11. Oktober protestierten Gewerkschafter des Ge- sundheitssektors. Ihre Forderungen sind aufschlussreich: ein Stopp der selektiven Morde und Massaker sowie der Verfolgung von Mitgliedern der afrokolumbianischen, indigenen und Bauerngemeinden, ein Stopp der willkür- lichen Verhaftungen und Strafverfolgungen, eine Entmi- litarisierung der Schulen und Universitäten des Landes. Am 12. Oktober hatten die kolumbianischen Gewerk- schaftszentralen zu einem 24-stündigen Ausstand aufge- rufen. Es gab Demonstrationen in vielen Städten. Lehrer und Erziehungsgewerkschaften protestieren; im De- partement Arauca an der Grenze zu Venezuela fordern die Lehrer derzeit ein Ende des Missbrauchs der Schulen durch Militärs und Paramilitärs als Unterkünfte und zur Lagerstätten von Kriegsgerät. Dies zeigt, dass die innere Situation Kolumbiens nicht auf ein einfaches Terrorismusschema zu reduzieren ist und dass sehr viele Menschen in die Konflikte einbezo- gen sind. 50 Prozent des Gebietes werden nicht vom Staat kontrolliert. Soll ein tragfähiger Frieden und keine Friedhofsruhe geschaffen werden, dann führt der Weg nur über Verhandlungen. Selbst der scheidende General James Hill, Komman- deur des Kommando Süd der US-Armee, das Latein- amerika und die Karibik umfasst, erklärte in einem Inter- view mit der ecuadorianischen Tageszeitung „El Comercio“ noch vor einem Monat, am 13. Oktober 2004, es werde „niemals eine militärische Lösung für das interne kolumbianische Problem geben“. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der US-Kongress am 9. Oktober eine Verdoppelung des in Kolumbien tätigen US-Militärpersonales genehmigte. t B R p d u l a C e t v f s V m s V M r l v k w d v w r t d C d K g d n s d i V H t „ g w R i e (C (D Aber auch der Antrag selbst widerspricht der genann- en Einschätzung an vielen Stellen, wenn in ihm zum eispiel „innere Reformen wie Landreform, Zugang zu essourcen, Öffnung des Parteiensystems sowie Partizi- ation der Zivilgesellschaft“ – Punkt 13 – gefordert wer- en. Deshalb muss es weiterhin Linie der Bundesregierung nd der EU bleiben, zivile Programme, die auf die wirk- ichen Ursachen der Gewalt zielen, zu unterstützen. Eine uf militärische Lösungen setzende Politik des Plan olombia bzw. eines neuen Planes Colombia lehnen wir ntschieden ab. Dass die Ergebnisse der bisherigen militärischen Op- ion überhaupt nicht positiv sind, spricht wiederum der orliegende Antrag selbst an: Warum muss denn Punkt 9 ordern, dass die Bundesregierung an die kolumbiani- che Regierung appellieren soll, den Empfehlungen des N-Hochkommissars für Menschenrechte nachzukom- en? Weil die menschenrechtliche Situation nur verbes- ert werden kann, wenn die nach wie vor bestehenden erbindungen zwischen paramilitärischen Gruppen und ilitärs abgebrochen, die Verletzungen der Menschen- echte und des humanitären Völkerrechts durch parami- itärische und andere bewaffnete Akteure strafrechtlich erfolgt und willkürliche Handlungen der Sicherheits- räfte gegenüber Indigenen und Bauern eingedämmt erden. Dazu steht aber im krassen Gegensatz, wenn Präsi- ent Uribe gegenüber seinen Militärs über die vielen zi- ilgesellschaftlichen Verteidiger der Menschenrechte, ie am 8. September 2003 geschehen, als „Menschen- echtshändler“ spricht, von denen man sich nicht aufhal- en lassen solle. Die Problematik des Vorgehens gegen Koka-Anbau urch Besprühungen mit Pestiziden als Teil des Planes olombia wird im Antrag vollkommen ausgeblendet. Je- ermann kennt die Folgen, selbst wenn er sich nicht für olumbien interessiert – aus Vietnam. Die Besprühun- en treffen nicht die Profiteure des Drogenhandels, son- ern die Bauern, zerstören ihre Lebensgrundlagen – im egativen Sinne – nachhaltig. Die Zerstörung der öko- ozialen Grundlagen, das Ausweichen in den Naturwald, as Übergreifen des Konfliktes und der Verseuchungen n Nachbarländer sind die schrecklichen Folgen dieses orgehens. Die Erfolge, die der Antrag beschreibt, finden ihren öhepunkt in der These, dass 6 bis 7 000 von geschätz- en insgesamt 15 000 Paramilitärs sich selbst freiwillig demobilisiert“ hätten. Um aber für solche Behauptun- en, die dem Bundestag zum Beschluss anempfohlen erden, nicht geradestehen zu müssen, wird ein „nach egierungsangaben“ zugefügt. Und noch ein Letztes zu dem Antrag. Etwas daneben st sein Votum für eine Verfassungsänderung zugunsten ines starken Mannes Uribe: Die kolumbianische Bevölkerung hat diese Maß- nahmen und auch die Arbeit der Sicherheitsorgane positiv bewertet. Als Folge wird eine Verfassungs- änderung erwogen, die Präsident Alvaro Uribe 12774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Velez eine direkte Wiederwahl ermöglicht und die Fortsetzung seiner Politik der „demokratischen Sicherheit“ garantieren soll. Wir sind gut beraten, wenn wir uns in die Verfas- sungslage des Landes Kolumbien als Deutscher Bundes- tag nicht einmischen zugunsten eines amtierenden Präsi- denten. Den von der Union vorgeschlagen politischen Kurs- wechsel und damit den Antrag der Unionsfraktionen leh- nen wir ab. Die Verbesserung und Vertiefung der Beziehungen zu Lateinamerika sind nach wie vor notwendig. In diesem Sinne ist es wichtig, dass auch die wirtschaftlichen Be- ziehungen zum Mercosur in einer Weise ausgebaut wer- den, die den Menschen Lateinamerikas zugute kommt. Es ist daher richtig, in den Verhandlungen zum biregio- nalen EU-Mercosur-Assoziationsabkommen mit Blick auf die Interessen der Menschen Lateinamerikas vorzu- gehen. In diesem Sinne stimmen wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Assoziationsabkommen mit Chile zu. Harald Leibrecht (FDP): Vor gut einem Jahr debat- tierten wir im Deutschen Bundestag über den Friedens- prozess in Kolumbien. Inzwischen ist dieser Friedens- prozess, wenn auch nur wenig, vorangeschritten. Die ultrarechten Paramilitärs haben vergangene Woche mit ihrer Demobilisierung begonnen. Wenn alles nach Plan läuft, werden bis Jahresende 3 000 Kämpfer ihre Waffen niederlegen. Des Weiteren sollen bis Ende 2005 die Kämpfer der so genannten Vereinigten Selbstverteidi- gungsgruppen von Kolumbien, der AUC, ihre Waffen abgeben. Es muss uns jedoch bewusst sein, dass es sich bei diesen Maßnahmen nur um einen Etappensieg han- delt und nicht um einen Durchbruch des Friedensprozes- ses in Kolumbien. Ganz wichtig wird jetzt sein, den demobilisierten Kämpfern ein klares Konzept vorzulegen, das ihnen eine akzeptable Zukunft und somit Lebensperspektive auf- zeigt. Diese Menschen sind Teil des kolumbianischen Volkes und müssen im eigenen Land wieder voll inte- griert werden. Wenn diese Integration nicht gelingt, wer- den sich die ehemaligen Kämpfer in ihrer Frustration und Enttäuschung wieder vom Staat abwenden und der alte Konflikt wird neu aufflammen. Die Integration muss gelingen; denn nur so kann die Drogenmafia geschwächt und letztlich erfolgreich bekämpft werden. Es wäre für die Zukunft Kolumbiens fatal, wenn die Waffen an der Vordertür abgegeben werden und diese mangels erfolg- reicher Integration wieder an der Hintertür abgeholt wer- den. Dies wäre das Scheitern des Fiedensprozesses dort. Die Annäherung zwischen der Regierung und der Pa- ramilitärgruppe AUC gibt Anlass zur Hoffnung. Nun macht sich vielleicht bezahlt, dass die Regierung und die AUC schon länger in Verbindung stehen. Die Demobili- sierung der AUC gestaltet sich dadurch etwas leichter, wenn auch langwierig. Der Friedensprozess mit der linksgerichteten Guerillagruppe FARC wird wesentlich mühsamer sein. An deren Bereitschaft, einen aktiven B b U B P R v R l d w z w f t P i v n g a g i d d d N l e t w w L g s s C A w z r d g n d E f (C (D eitrag zum Frieden in Kolumbien zu leisten, besteht egründeter Zweifel. Es ist bedauerlich, dass Präsident ribe keine Friedensverhandlungen mit der FARC in etracht zieht, sondern ausschließlich auf seinen „Plan atriota“ setzt. Seine militärische Offensive gegen die ebellen zeigt bisher kaum Erfolg. Für uns, für die FDP-Bundestagsfraktion, ist nach wie or der rein militärische Einsatz, den die kolumbianische egierung als ausschließliches Mittel gegen die Parami- itärs fährt, nicht der richtige Ansatz. Darum sind wir mit en Antragstellern nicht einer Meinung. Sicherlich, es urden einige Erfolge im Kampf gegen die Rebellen er- ielt. Doch der Preis für diese Erfolge ist viel zu hoch, ie die Opferzahlen auf beiden Seiten zeigen. Eine zu- rieden stellende Lösung des kolumbianischen Konflik- es kann nur in einem Prozess entstehen, der sowohl die aramilitärs als auch die Guerilla umfasst. Dies scheint nzwischen auch Präsident Uribe zu verstehen; denn er erhandelt, entgegen seiner bisherigen Vorgehensweise, un mit den Rebellen über einen Austausch von Gefan- enen. Jetzt ist der Ball bei den Rebellen. Sie sind gefordert, uf die kolumbianische Regierung zuzugehen. Nur dann ibt es eine echte Chance für einen dauerhaften Frieden n Kolumbien. Aus eigener Kraft wird es Kolumbien nicht schaffen, en Friedensprozess voranzutreiben. Hier sind die Bun- esregierung und die Europäische Union gefordert, auf ie notwendigen Reformen in Kolumbien zu dringen. ur wenn die notwendigen Reformen greifen, kann Ko- umbien langfristig einen vergleichbaren Weg wie Chile inschlagen. Wer hätte gedacht, dass sich Chile, gebeu- elt von der Diktatur und nach schwierigem Neuanfang, irtschaftlich und gesellschaftspolitisch so positiv ent- ickelt. Heute steht Chile im Vergleich zu den anderen ändern Lateinamerikas gut und durchaus stabil da. We- en dieser positiven Entwicklung und Stabilität unter- tützen wir, die FDP-Bundestagsfraktion, auch das As- oziationsabkommen der Europäischen Union mit Chile. hile muss ein positives Beispiel für Kolumbien sein. nlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen Familienrecht (Zusatztagesord- nungspunkt 7) Christine Lambrecht (SPD): Der Regierungsent- urf des internationalen Familienrechtsverfahrensgeset- es ordnet die innerstaatlichen Vorschriften zur Ausfüh- ung von bestimmten Übereinkommen auf dem Gebiet es internationalen Familienrechts neu und enthält zu-leich die notwendigen Durchführungsvorschriften zur euen „Brüssel-II-a-Verordnung“. Die neue Verordnung über die internationale Zustän- igkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von ntscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betref- end die elterliche Verantwortung gilt ab dem 1. März Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12775 (A) ) (B) ) 2005 in allen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Däne- mark, unmittelbar. Sie ersetzt damit die bisher geltende „Brüssel-II-Verordnung“, deren Anwendungsbereich sich im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität in den EU-Staaten als zu eng erwiesen hat. Die neue „Brüssel-II-a-Verordnung“ erfasst nunmehr im Gegensatz zur bisherigen „Brüssel-II-Verordnung“ auch diejenigen Verfahren zur elterlichen Verantwor- tung, die nicht im Zusammenhang mit einer Ehesache stehen. Sie gilt zudem nicht nur für die gemeinsamen Kinder von Ehegatten, sondern für alle Kinder. Eine weitere grundlegende und praktisch wichtige Neuerung stellt die Möglichkeit der Vollstreckung von Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die Anordnung der Rückgabe eines Kindes in anderen Mit- gliedstaaten ohne vorherige Vollstreckbarkeitserklärung dar, im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Euro- päischen Rates von Tampere. Dafür sind verfahrens- rechtliche Mindeststandards vorgesehen durch die Aus- stellung bestimmter Bescheinigungen durch die Gerichte der Ursprungsmitgliedstaaten. Für die Fälle grenzüber- schreitender Kindesentführungen enthält die Verordnung außerdem Regelungen zur schnelleren und effektiveren Ausgestaltung des Verfahrens nach dem Haager Kindes- entführungsübereinkommen. Der Regierungsentwurf zum internationalen Fami- lienrecht ermöglicht die nahtlose Einfügung in das in- nerstaatliche Prozessrecht, soweit die Verordnung den Mitgliedstaaten Spielraum zur Anpassung lässt. Mit An- lehnung an die Grundkonzeption des Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetzes in Zivil- und Handelssachen – AVAG, Gesetz zur Ausführung zwi- schenstaatlicher Verträge und zur Durchführung von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen – stellt der Regierungsentwurf der fami- lienrechtlichen Praxis ein eigenständiges, umfassendes und vereinfachtes Aus- und Durchführungsgesetz zur Verfügung. Die Ausführungsvorschriften zum interna- tionalen Familienrecht werden damit in einem einzigen Gesetz zusammengefasst und insgesamt neu strukturiert. Diese Entscheidung ist zu begrüßen. Die zunehmende Zahl familienrechtlicher Besonderheiten und die Integra- tionstiefe der neuen Regelungen spricht eindeutig gegen die Aufnahme der Durchführungsvorschriften in das AVAG, wo bislang im Besonderen Teil die Durchfüh- rungsvorschriften der „Brüssel-II-Verordnung“ geregelt sind, die nunmehr aufzuheben sind. Zudem wäre auch eine Einstellung in das neue Buch Elf der Zivilprozess- ordnung über die justizielle Zusammenarbeit in der EU nicht zweckmäßig, da die vorgesehenen Regelungen auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit hier schlecht hineinpassen und der Entwurf im Einklang mit der ge- setzgeberischen Tendenz steht, farnilienrechtliche Vor- schriften aus der Zivilprozessordnung herauszuhalten. Durch den Regierungsentwurf wird zudem eine Rechtszersplitterung vermieden: Aufgrund des Sachzu- sammenhangs übernimmt der Entwurf die bisherigen Ausführungsvorschriften des Haager Kindesentfüh- rungsübereinkommens unverändert. Ebenso nimmt der E S E f w ü b d e t t t t H E V k r m a „ l v l V n d g m d b e m z d O R r s B w s Z l Z l ü w T u j r (C (D ntwurf die Ausführungsvorschriften des Europäischen orgerechtsübereinkommens auf und gleicht sie mit der instellung dem Anerkennungs- und Vollstreckungsver- ahren der neuen EG-Verordnung „Brüssel II a“ so weit ie möglich an, wohingegen das bisherige Sorgerechts- bereinkommens-Ausführungsgesetz zugleich aufgeho- en wird. Die Neuregelung der Ausführungsvorschriften auf em Gebiet des internationalen Familienrechts in einem inheitlichen Gesetz ermöglicht auch die zukünftige In- egration weiterer Vorschriften zur Ausführung interna- ionaler Regelungen des Familienrechts, was einen wei- eren wichtigen Vorteil bietet. Darüber hinaus stellt der Regierungsentwurf die prak- ische Wirksamkeit der „Brüssel-II-a-Verordnung“, des aager Kindesentführungsübereinkommens und des uropäischen Sorgerechtsübereinkommens sicher durch erbesserung der grenzüberschreitenden Durchsetzbar- eit familiengerichtlicher Entscheidungen. Insbesondere hinsichtlich des Haager Kindesentfüh- ungsübereinkommens hat sich die in diesem Zusam- enhang einschlägige Regelung des § 33 FGG als nicht usreichend erwiesen, die insgesamt auch als ein stumpfes Schwert“ bezeichnet wird in der Kommentar- iteratur zum Familienrecht. Die nun mit dem Entwurf orgesehene Einführung von Ordnungsmitteln ermög- icht im Gegensatz zur jetzigen Praxis auch dann deren erhängung, wenn im Einzelfall der konkrete Erfolg icht mehr zu erreichen ist, zum Beispiel, wenn durch as Ferienende – wegen Zeitablaufs – der gerichtlich an- eordnete Umgang nicht mehr realisiert werden kann it Zwangsmitteln. Da erst recht in vielen grenzüberschreitenden Fällen en gerichtlich angeordneten Umgangs- und Herausga- eentscheidungen nicht Folge geleistet wird, erscheint in Wechsel zu repressiven Zwangsvollstreckungs- echanismen geboten, auch im Hinblick auf mögliche ukünftige Zuwiderhandlungen. Insbesondere enthält er Entwurf eine Regelung, nach der die Androhung des rdnungsmittels auch nicht isoliert anfechtbar ist. Die egelung stärkt damit insgesamt die Autorität der Ge- ichte bei der Durchsetzung familiengerichtlicher Ent- cheidungen in grenzüberschreitenden Fällen. Der Entwurf weist zudem die Aufgaben der Zentralen ehörde nach der Verordnung dem Generalbundesan- alt beim Bundesgerichtshof zu. Die Zentralen Behörden stellen zum einen unter Inan- pruchnahme des Europäischen Justiziellen Netzes für ivil- und Handelssachen Informationen über innerstaat- iche Rechtsvorschriften und Verfahren zur Verfügung. um anderen arbeiten sie in bestimmten Fällen der elter- ichen Verantwortung zusammen. Sie fördern die grenz- berschreitende Zusammenarbeit der Gerichte und Ver- altungsbehörden und informieren und unterstützen die räger elterlicher Verantwortung, die die Anerkennung nd Vollstreckung von Entscheidungen erwirken wollen. Der Generalbundesanwalt verfügt bereits über lang- ährige Erfahrung als zentrale Behörde nach dem Sorge- echtsübereinkommens-Ausführungsgesetz. Bestehende 12776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) Strukturen, Erfahrungen und Kontakte beim General- bundesanwalt können somit genutzt werden. Ute Granold (CDU/CSU): Der Rat der Europäischen Union hat im November 2003 die Verordnung zur Zu- ständigkeit sowie zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren be- treffend die elterliche Verantwortung verabschiedet, die ab dem 1. März 2005 in den Mitgliedstaaten der Euro- päischen Union, mit Ausnahme Dänemarks, gelten wird. Wir befassen uns heute mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, der der Durchführung dieser Verord- nung, der so genannten „Brüssel-II-a-Verordnung“, dient und darüber hinaus der familienrechtlichen Praxis ein ei- genständiges und umfassendes Ausführungsgesetz zu den bestehenden europäischen und internationalen, Rechtsgrundlagen zur Verfügung stellt. Während die bisherige „Brüssel-II-Verordnung“, die durch die neue „Brüssel-II-a-Verordnung“ außer Kraft gesetzt wird, lediglich für Sorgerechtsstreitigkeiten an- wendbar war, in denen die Eltern des Kindes miteinan- der verheiratet sind, gilt die neue Verordnung fortan auch für Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheira- tet oder bereits geschieden sind. Die steigende Zahl von Scheidungen und aller damit zusammenhängenden Probleme machen vor nationalen Grenzen nicht halt. Elterliche Konflikte zum Sorge- und Umgangsrecht bis hin zu teilweise dramatischen Fällen von grenzüberschreitenden Kindesentführungen zeigten in der Vergangenheit bereits Handlungsbedarf für eine europäische Rechtsvereinheitlichung. Der vorliegende Entwurf behandelt im Detail um- fänglich praktische Fragen des familiengerichtlichen Verfahrens, fasst diese klar strukturiert zusammen und stellt nun in einem Gesetz alle Regelungen in einer ein- heitlichen und vereinfachten Form zur Verfügung. Einer Rechtszersplitterung wird damit entgegengewirkt. Zu begrüßen sind die besondere Beachtung des Rechts zum persönlichen Umgang und auch die Be- schleunigung der Verfahren und die verbesserte Durch- setzung gerichtlicher Anordnungen bei grenzüberschrei- tenden Familienkonflikten. Bei der Berücksichtigung und notfalls auch Durchsetzung des Rechts zum persön- lichen Umgang muss das Wohl des Kindes im Mittel- punkt stehen. Jedes Kind hat ein Recht auf seinen Vater und seine Mutter, die es beide braucht. Dies wurde bereits bei der Kindschaftsrechtsreform 1998 in unser Gesetz geschrie- ben. Damit wurde deutlich gemacht, dass der Umgang nicht ausschließlich ein Recht – und eine Pflicht – der Eltern ist, sondern ein Recht des Kindes auf Wahrung und Förderung seiner Entwicklungschancen darstellt. So ist auch die mit Blick auf das Wohl des Kindes nun festgeschriebene Verfahrensbeschleunigung zu begrü- ßen. Künftig darf das vollstreckende Gericht nicht mehr prüfen, ob die Entscheidungen ausländischer Stellen im eigenen Land Bestand haben sollen. Die Zwangsvoll- streckung ist vielmehr sofort einzuleiten. Damit fallen z d g d F W O z g w g A d n s n s a b Z a d h s d E m s a K u A a p H d t B w N f z P i f b A g b r n D (C (D eitraubende und kostenpflichtige Zwischenschritte bei er Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidun- en weg. Mit dieser Verfahrensstraffung wird die Zeit er Ungewissheit und ungeklärten Verhältnisse in den amilien erheblich verkürzt, was letztendlich auch dem ohl der Kinder zugute kommt. Im Rahmen der Vollstreckung können Geldbußen und rdnungshaft verhängt werden, auch dann noch, wenn um Beispiel der Zeitraum für die Gewährung des Um- angsrechts bereits abgelaufen ist. Es ist für die Praxis ichtig, über effektive Sanktionsmechanismen zu verfü- en, wenn – was leider nicht selten ist – ein Elternteil die nordnungen des Gerichts missachtet. Zuständig für die Verfahren nach dieser Verordnung ist ie Zentrale Behörde, das heißt für Deutschland der Ge- eralbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der inzwi- chen eine langjährige Erfahrung als Zentrale Behörde ach dem Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsge- etz hat. Die Zentrale Behörde verkehrt unmittelbar mit llen zuständigen Stellen im In- und Ausland und fertigt ei Bedarf auch notwendige Übersetzungen. Nimmt die entrale Behörde einen Antrag nicht an oder lehnt sie es b, tätig zu werden, so kann die unanfechtbare Entschei- ung des Oberlandesgerichts im Bezirk der Zentralen Be- örde beantragt werden. Das heutige Gesetz, das der Durchführung der „Brüs- el-II-a-Verordnung“ dient, ist ein weiterer Schritt für ie Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten der uropäischen Union hin zur Schaffung echten gemeinsa- en europäischen Rechtsraums. Weitere Schritte müs- en folgen. Sie stehen auch schon zur weiteren Beratung n. Zu nennen ist hier die internationale Abwicklung der indesunterstützung und anderer Formen des Familien- nterhalts. Die Europäische Kommission hat in Erfüllung ihrer ufgabe aus dem Europavertrag unabhängig von ihren utoritären Mitgliedstaaten das Grünbuch „Unterhalts- flichten“ endgültig verordnet, das den Inhalt der neuen aager Konvention für das internationale Privatrecht ab- eckt. Es bleibt zu hoffen, dass auch die weiteren Bera- ungen hin zu einem vereinten Europa im Interesse der ürgerinnen und Bürger konstruktiv vonstatten gehen erden. Irmgard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- EN): Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt aller amilienrechtlichen Entscheidungen, bei denen Kinder u berücksichtigen sind. Es ist zentraler Anker grüner olitik. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum nternationalen Familienrecht sind sowohl anwender- reundliche als auch die Belange von Eltern und Kindern erücksichtigende Regelungen in grenzüberschreitenden useinandersetzungen geschaffen worden. Es gibt immer mehr Kinder, deren Eltern nicht die leiche Staatsangehörigkeit haben. Diese Kinder leiden esonders unter möglicherweise eintretenden Sorge- echts- und Umgangstreitigkeiten, weil Verfahren hier och länger dauern. Auch in der Bundesrepublik eutschland werden in Zukunft immer mehr Fälle von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12777 (A) ) (B) ) den zuständigen Familiengerichten zu bearbeiten sein, in denen es zum Beispiel um die Anerkennung ausländi- scher Entscheidungen zu Sorge und Umgangsrechts oder darum geht, durch Entführung der Kinder unterbrochene Sorgerechtsverhältnisse wiederherzustellen. Es hat sich gezeigt, dass die bestehenden Instrumenta- rien nicht ausreichen, um grenzüberschreitend eine effektive Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen zu gewährleisten. Deutschland war aus diesem Grunde im- mer wieder internationaler Kritik ausgesetzt. Die Bun- desregierung hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf diese Kritik und die veränderte Lebenswirklichkeit von Familien reagiert. Es kann kein Zweifel daran beste- hen, dass die insoweit vorhandenen Erkenntnisse und Erfahrungen im internationalen Kontext gerade im Inte- resse der betroffenen Kinder genutzt werden müssen. Der Gesetzentwurf führt mit seinem § 44 das Instrument des Ordnungsmittels und damit die Möglichkeit der Verhän- gung der Ordnungshaft ein. Bisher war dies im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht möglich. Ein Pro- blem liegt darin, dass das deutsche Recht bisher nur das durch einen Beugecharakter gekennzeichnete Zwangs- vollstreckungssystem anbietet, um mit der Situation um- zugehen, dass sich die verpflichtete Person der angeord- neten Rückgabe des Kindes oder der Gewährung des Umgangs verweigert. Der Sanktionscharakter wird durch dieses Instrument gegenüber dem Erzwingungscharakter in den Vorder- grund gestellt. Maßnahmen mit Sanktionscharakter wir- ken in höherem Maße präventiv, zum Vorteil für die be- teiligten Kinder. Ich begrüße diese für das deutsche Recht insoweit neuen Regelungen ausdrücklich. Selbst- verständlich ist bei der Anwendung aller Regelungen das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen. Zudem begrüße ich die Benennung des Generalbun- desanwalts beim Bundesgerichtshof als zentrale Behörde im Sinne der genannten Übereinkommen. Dieser war be- reits bisher in entsprechender Funktion im Bereich des Sorgerechtsübereinkommens sowie nach dem Adop- tionsübereinkommens-Ausführungsgesetz und dem Aus- landsunterhaltsgesetz tätig. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Ge- setzentwurf im Wesentlichen der Umsetzung verbindli- chen EU-Rechts dient und im Übrigen vornehmlich be- reits vorhandene gesetzliche Regelungen zusammenfasst und übersichtlicher gestaltet. Die darüber hinausgehen- den Anliegen der Verfahrensbeschleunigung und Effek- tivierung sind unbedingt unterstützenswert. Mit den Änderungen werden einheitliche innerstaatliche Verfah- rensvorschriften zur Ausführung von verschiedenen Übereinkommen auf dem Gebiet des internationalen Fa- milienrechts geschaffen. Dies erleichtert die Rechtsan- wendung. Ein umfassendes Durchführungsgesetz wird die Bearbeitung grenzüberschreitender familienrechtli- cher Sachen für die Praxis aufgrund einer höheren Über- sichtlichkeit der Rechtsgrundlagen erleichtern. Den zu- ständigen Gerichten wird ermöglicht, auf grundlegende innerstaatlich geltende Verfahrensbestimmungen zurück- zugreifen, soweit die Verfahren auf den genannten inter- nationalen Abkommen beruhen. m Z d m v d m e w E b t K t w i u r U z w l i s d g K g D t s d i n m f n e d g k z d d b s l n Z f l A (C (D Jenseits der bereits beschlossenen Neuregelungen uss auch klar sein, dass das internationale gemeinsame usammenwirken von Gerichten, Jugendämtern sowie em internationalen Sozialdienst als helfendem Instru- ent der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit intensi- iert und ausgebaut werden muss. Sibylle Laurischk (FDP): Es ist bemerkenswert, ass das Familienrecht hier im Hause eine solche Auf- erksamkeit genießt, dass selbst unumstrittene Gesetz- ntwürfe, mit denen EU-Recht innerstaatlich umgesetzt erden soll, einer Beratung zugänglich gemacht werden. s ist nicht die Einmütigkeit, die den zu regelnden Le- enssachverhalten eigen ist; diese sind an Konfliktträch- igkeit und menschlichem Drama kaum zu überbieten. reidekreisentscheidungen sind heutzutage selten anzu- reffen. Es wird mit allen Finessen um Kinder gekämpft, obei oft vergessen wird, dass es gerade dieser Kampf st, der die Kinder so kränkt, verunsichert und verstört nd eine unbeschwerte Kindheit vereitelt, oft mit gravie- enden Folgen für ihr ganzes Leben. Die Fälle der Auseinandersetzungen über Sorge- und mgangsrecht aus binationalen Beziehungen nehmen u, da mit Wachstum der EU häufiger über Grenzen hin- eg Verbindungen entstehen und mit wachsender Mobi- ität der EU-Bürger ein Zuwachs an Fällen zu erwarten st. Die Ablehnung eines Kommissionsmitgliedes wegen eines unzeitgemäßen Familien- und Menschenbildes urch das EU-Parlament zeigt, dass die EU in diesem esellschaftspolitisch zentralen Bereich einen wachen urs steuert. Mit dem vorliegenden Gesetz kann dem in der Ver- angenheit oft erhobenen Vorwurf begegnet werden, eutschland halte sich in Kindschaftssachen nicht an in- ernationale Vereinbarungen, es herrsche hier „das Ge- etz des Dschungels“ – so der französische Staatspräsi- ent Chirac, zitiert nach einem Bericht des „Spiegels“ m Jahr 2000. Begrüßenswert ist die handliche Über- ahme der Vorschriften des Sorgerechtsübereinkom- ensrechtes unter dem Dach des vorliegenden Entwur- es, die dem sachlichen Zusammenhang entspricht. Zu begrüßen ist auch die vorgesehene Beschleu- igung der Verfahren; denn Zeit ist in der Entwicklung ines Kindes der Faktor, der Fakten schafft. Ein Kind, as rechtswidrig über Monate von einem Elternteil fest- ehalten wird, hat sich dann womöglich eingelebt und ann bei richtig verstandenem Kindeswohl kaum mehr urückgegeben werden. Die Konzentration der Zustän- igkeit auf wenige, sachlich kompetente Gerichte und ie Einrichtung der Zentralen Behörde beim General- undesanwalt in Karlsruhe wird zu einer weiteren Be- chleunigung führen. Am umstrittensten erschien auch aufgrund der Stel- ungnahmen der Verbände die Einführung von Ord- ungsgeld und Ordnungshaft als Ultima Ratio der wangsvollstreckung. Eine Kriminalisierung der Betrof- enen ist damit keineswegs gewollt, vielmehr geht es al- ein um die Durchsetzung gerichtlicher Maßnahmen und nordnungen zum Wohle der Kinder. Auch im 12778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) nationalen Bereich ist die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen der konfliktträchtigste Teil des elterli- chen Sorgerechts. Aus der Sicht eines Kindes wird es allerdings sehr befremdlich sein, zu erleben, dass ein El- ternteil in Haft genommen wird, weil es sich beispiels- weise einer gerichtlichen Anordnung nicht beugt und ein in seiner Obhut befindliches Kind nicht herausgibt. Die damit verbundene Verschärfung der Betreuungssituation des Kindes ist ein weiteres Problem. Ordnungsgeld und insbesondere Ordnungshaft müssen deswegen Ultima Ratio bleiben, wobei in vereinzelten Fällen mit grenz- überschreitender intensiver Auseinandersetzung um Kinder Eltern nur durch ebendiese Ordnungsmittel da- von abzuhalten sind, das Kindeswohl durch ihr Verhal- ten zu gefährden bzw. ihm zuwiderzuhandeln. Wir setzen auf die generalpräventive Wirkung dieser Vorschrift. Der Sanktionscharakter soll hier auch hin- sichtlich der Durchsetzung von zukünftigen Anordnun- gen gleichsam erzieherisch wirken. Der Grund für die- sen Wechsel zu repressiven Zwangsmaßnahmen ist in der Erfahrung der bisherigen Durchsetzungsschwäche von gerichtlichen Entscheidungen über Umgang oder Aufenthaltsrechten von Kindern zu sehen. Natürlich hängt die Praktikabilität des Gesetzes nicht zuletzt auch von den flankierenden Maßnahmen der Jugendämter, Sozialdienste und Erziehungsberatungsstellen ab. Das absolute Gewaltanwendungsverbot gegen Kinder zur Durchsetzung des Umgangsrechts ist selbstverständlich. Dies muss auch bei einer Regelung im internationalen Rahmen Maßstab für uns alle bleiben. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Die Bundesregierung hat im Sommer dieses Jahres einen Gesetzentwurf in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht, der der innerstaat- lichen Durchführung der sogenannten Brüssel-II-a-Ver- ordnung dient. Die Brüssel-II-a-Verordnung wird in ih- ren wesentlichen Teilen ab dem 1. März 2005 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme Dänemarks gelten. Zur Erörterung des Gesetzentwurfs ist es daher erforderlich, die Brüssel-II-a-Verordnung kurz zu skizzieren. Die neue EG-Verordnung enthält verfahrensrechtliche Regelungen in grenzüberschreitenden Ehesachen und in- ternationalen Streitigkeiten über das Sorge- und Um- gangsrecht. Sie ersetzt die geltende so genannte Brüssel- II-Verordnung und erweitert ihren Anwendungsbereich. Während die bislang geltende Brüssel-II-Verordnung le- diglich auf Sorgerechtsstreitigkeiten in solchen Fällen anwendbar ist, in denen die Eltern des Kindes miteinan- der verheiratet sind, gilt die neue Verordnung fortan für Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind, und in Fällen, in denen die Ehe der Eltern bereits ge- schieden ist. Im Einzelnen regelt die Verordnung, welche Gerichte für Ehesachen und Verfahren betreffend das Sorge- und Umgangsrecht international zuständig sind. Darüber hinaus schreibt die Verordnung vor, unter welchen Vorrausetzungen Entscheidungen aus einem Mitgliedstaat der Verordnung in den anderen Mitglied- staaten gültig sind und dort vollstreckt werden können. I V g d s E h s r s s s k a m V r B k E a n s f V r r E u a t d R n e g s m t k r w g a s k w a V l s m m K v d g g (C (D n diesem Zusammenhang beschleunigt die neue EG- erordnung die Durchsetzung bestimmter Entscheidun- en über das Umgangsrecht sowie über die Rückgabe es Kindes. Das Gericht im Vollstreckungsstaat darf in- oweit zukünftig nicht mehr prüfen, ob die getroffene ntscheidung auch wirklich im eigenen Land Bestand aben soll. Stattdessen kann dort gleich die Zwangsvoll- treckung eingeleitet werden. Der Wegfall dieses zeit- aubenden und kostenpflichtigen Zwischenschrittes chafft bislang bestehende Hürden bei der grenzüber- chreitenden Anerkennung und Vollstreckung von Ent- cheidungen ab. Wer eine Entscheidung erstritten hat, ommt damit zukünftig nicht nur schneller, sondern uch kostengünstiger zu seinem Recht. Der Entwurf eines Gesetzes zum internationalen Fa- ilienrecht enthält die zur Umsetzung der neuen EG- erordnung in Deutschland notwendigen Durchfüh- ungsvorschriften, damit diese für die Bürgerinnen und ürger optimale Wirkung entfaltet. Durch die unbüro- ratische Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher ntscheidungen mit grenzüberschreitender Bedeutung in llen Mitgliedstaaten der Europäischen Union außer Dä- emark werden die Vorteile eines gemeinsamen europäi- chen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ür die Bürgerinnen und Bürger spürbar. Gleichzeitig nimmt der Gesetzentwurf die geltenden orschriften zur Ausführung des Haager Kindesentfüh- ungübereinkommens und des Europäischen Sorge- echtsübereinkommens auf und passt sie den heutigen rfordernissen an. Damit wird der Praxis ein kompaktes nd übersichtliches Gesetz zur Verfügung gestellt, das lle ergänzenden nationalen Vorschriften zu den interna- ionalen Rechtsinstrumenten insbesondere im Bereich es Sorge- und Umgansrechts enthält. Richter und echtanwälte können die notwendigen Informationen unmehr einem einzigen anwenderfreundlichen Gesetz ntnehmen. Darüber hinaus werden im Anwendungsbereich der enannten internationalen Rechtsinstrumente die Voll- treckungsregelungen effektiver ausgestaltet. Ordnungs- ittel in Form von Ordnungsgeld und Ordnungshaft tre- en an die Stelle von Zwangsgeld und Zwangshaft. So ann anders als bisher eine Geldbuße wegen Nichtgewäh- ung eines Umgangsrechts auch dann noch festgesetzt erden, wenn der Zeitraum für die Gewährung des Um- angsrechts – zum Beispiel die Osterferien 2005 – bereits bgelaufen ist. Die Gerichte haben damit – selbstver- tändlich unter Berücksichtigung des Verhältnismäßig- eitsgrundsatzes – effektivere Sanktionsmöglichkeiten, enn ein Elternteil die Anordnungen des Gesichts miss- chtet. Dies ist dringend erforderlich, da nicht nur ein erstoß gegen die Rechte des Elternteils vorliegt, dem aut Beschluss des Gerichts ein Umgangsrecht zusteht, ondern auch gegen das Recht des Kindes auf Umgang it seinem ihn nicht betreuenden Elternteil. Gerade der öglicherweise endgültige Abbruch der Beziehung des indes zum anderen Elternteil aufgrund der Umgangs- erweigerung durch den betreuenden Elternteil kann für as Kind extrem schädlich sein. Hinzu tritt, dass eine Fol- enlosigkeit der Nichtbeachtung richterlicher Anordnun- en anderen Personen in ähnlichen Konflikten noch ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12779 (A) ) (B) ) borgen bleibt und zur Nachahmung verleitet. Schließlich ist Rechtsdurchsetzung eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Kinder und Eltern darauf vertrauen können, dass die Gerichte im Streitfall den Umgang zwischen Kind und nicht betreuendem Elternteil garantieren, und es nicht zu Selbsthilfemaßnahmen von Eltern kommt, die trotz Gerichtsurteil ihre Kinder nicht sehen können. Die Brüssel-II-a-Verordnung gilt in ihren wesentli- chen Teilen ab dem 1. März 2005. Es ist daher zu hoffen, dass die weiteren Beratungen des Gesetzentwurfs kon- struktiv und zügig geführt werden, damit das Gesetz zum internationalen Familienrecht ebenfalls zu diesem Datum in Kraft treten kann. Der federführende Rechts- ausschuss und der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben in ihren gestrigen Sitzungen dem Gesetzentwurf einstimmig zugestimmt. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschafts- namensrechts (Zusatztagesordnungspunkt 8) Christine Lambrecht (SPD): Nach § 1355 Abs. 2 BGB kann ein durch frühere Eheschließung erworbener Familienname nicht zum Ehenamen bestimmt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung mit Urteil vom 18. Februar 2004 für verfassungswidrig erklärt. Die dem Urteil vom 18. Februar zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde betraf die Frage, ob es verfas- sungsrechtlich zulässig ist, dass als Ehename nur der Ge- burtsname der Frau oder des Mannes, nicht jedoch ein durch frühere Eheschließung erworbener Familien- name, den einer der Ehegatten zum Zeitpunkt der Eheschließung führt, gewählt werden kann. Die Be- schwerdeführerin berief sich vor allem auf ihr Persön- lichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 6 und Art. 3 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass § 1355 Abs. 2 BGB mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist, soweit er aus- schließt, dass Ehegatten zum Ehenamen einen durch frü- here Eheschließung erworbenen und geführten Namen bestimmen können. Auch der durch Eheschließung er- worbene Familienname erfährt den vollen Schutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Dieses schützt auch den gewählten Ehenamen als Ausdruck der Identität und Individualität des Namensträgers über die Ehezeit hinaus. An dem erheirateten Namen erwerbe ein Ehegatte nicht nur ein Nutzungsrecht für die Dauer der Ehe. Dieser Name stehe ihm vielmehr als eigenes Recht zu und sei durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ge- schützt, das verletzt werde, wenn der Name nicht zum Ehenamen bestimmt werden dürfe. Die Beschränkung der Ehenamenswahl sei auch unvereinbar mit dem be- sonderen Schutz für Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG, der den Ehegatten die Freiheit gebe, ihren Ehena- m s d m n u g b d g a Ü d h s b s d m n E n m B l e g d m u t 2 s d n d n g V N I d g N m m m w n N d (C (D en selbst zu bestimmen. Das Gleichbehandlungsgebot ei zudem verletzt, da der erheiratete Name zwar an Kin- er weitergegeben werden könne, die nicht aus der Ehe it dem Namensgeber stammten, nicht dagegen an den euen Ehegatten. Außerdem dürfe nicht zwischen Ehen nter Deutschen und solchen mit ausländischer Beteili- ung differenziert werden. Art. 10 Abs. 2 Satz 1 EGBGB evorzugt insofern bei der Ehenamenswahl Deutsche, ie einen ausländischen Staatsangehörigen heiraten, ge- enüber Ehen allein deutscher Nationalität. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber ufgegeben, bis zum 31. März 2005 auch für Alt- und bergangsfälle Abhilfe zu schaffen. Der Gesetzentwurf ient der Umsetzung der Aufforderung unter Einbezie- ung von Regelungen zur Wahl des Lebenspartner- chaftsnamens. Er sieht als Kernpunkt Änderungen der eanstandeten Norm des § 1355 BGB vor. Die Regelung oll entsprechend den Vorgaben des Gerichts im Sinne er Erweiterung der Wahlmöglichkeiten für den Ehena- en ergänzt werden, einen aus Ehenamen und Begleit- amen zusammengesetzten Namen eines Ehegatten als henamen zu bestimmen. Eine befristete Übergangsregelung ermöglicht die achträgliche Änderung des bereits bestimmten Ehena- ens, der nicht Geburtsname eines der Ehegatten ist. innen eines Jahres nach In-Kraft-Treten der Neurege- ung kann die bislang nicht mögliche Bestimmung des rheirateten Namens zum Ehenamen nachgeholt werden. Für eingetragene Partnerschaften gilt Entsprechendes emäß § 3 LPartG ohne Begründung der Zuständigkeit es Standesbeamten. Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute it dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- nd Lebenspartnerschaftsnamensrechts, mit dem ein Ur- eil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar 004 umgesetzt werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Verfas- ungsbeschwerde eines Ehepaares zu entscheiden, das en von der Ehefrau geführten früheren Ehenamen in der euen Ehe als Ehenamen beibehalten wollte. Dies hatte er Standesbeamte unter dem Hinweis, nur der Geburts- ame dürfe zum Ehenamen bestimmt werden, abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht sah den hier einschlä- igen § 1355 Abs. 2 BGB als mit Art. 2 Abs. l GG in erbindung mit Art. l Abs. l GG nicht vereinbar, die den amensschutz eines Menschen als Ausdruck seiner dentität und Individualität ohne zeitliche Befristung auf ie Ehe gewährleisten. § 1355 Abs. 2 BGB greift in das verfassungsrechtlich eschützte Namensrecht des Trägers dieses erworbenen amens ein und behandelt damit den erworbenen Na- en gegenüber dem Geburtsnamen als geführten Namen inderer Qualität; denn der Träger des erworbenen Na- ens wird gezwungen, bei gemeinsamer Ehenamens- ahl erneut seinen geführten Namen aufzugeben und ei- en neuen anzunehmen. Dem steht ein Entzug des amensrechts gleich, was angesichts des hohen Wertes es Namensrechts nicht ohne gewichtige Gründe 12780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) ) (B) ) geschehen und nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf. Allerdings rechtfer- tigt weder die Rücksicht auf die Gefühle des Ehegatten aus dem früheren Familienverband, der es als belastend und kränkend empfinden könnte, wenn sein Name zum Ehenamen einer neuen Ehe seines geschiedenen Ehegat- ten bestimmt und so an den neuen Ehepartner weiterge- geben wird, noch die drohende Missbrauchsgefahr, die mit der Möglichkeit, den in früherer Ehe erworbenen Namen zum neuen Ehenamen zu wählen, verbunden ist, den Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Na- mensrecht. Aufgrund der Verfassungswidrigkeit von § 1355 Abs. 2 BGB hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzge- ber aufgegeben, die Rechtslage bis zum 31. März 2005 mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen und auch eine Übergangsregelung zu schaffen. Der Regelungsgehalt dieser Vorschrift – so zeigt es uns die Geschichte des bürgerlichen Ehenamensrechts – unterlag stets einem Wandel, der immer Ausdruck sich verändernder gesellschaftspolitischer Bedingungen war und leider zu oft erst nach Aufforderung durch das Bun- desverfassungsgericht vom Gesetzgeber vollzogen wurde. In seiner ursprünglichen Fassung von 1896 bestimmte § 1355 BGB, dass die Frau mit der Eheschließung den Familiennamen des Ehemannes annehmen musste. Erst 60 Jahre später erhielt sie als Folge des Gleichberechti- gungsgesetzes die Möglichkeit, ihren Geburtsnamen hinzuzufügen. Mit dem ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 wurde § 1355 BGB dahin gehend geändert, dass die Ehegatten nunmehr als gemeinsamen Ehenamen auch den Geburts- namen der Frau wählen konnten, wobei bei Nichteini- gung der Geburtsname des Mannes Vorrang genießen sollte. Dabei beschränkte der Gesetzgeber die Namens- wahl bewusst auf den Geburtsnamen, da er Namensüber- tragungen ausschließen wollte. Zugleich sollte es dem Ehemann untersagt sein, seiner geschiedenen Ehefrau die Fortführung des durch die Eheschließung erworbe- nen Namens zu untersagen. 1991 machte das Bundesver- fassungsgericht eine weitere Reform des Ehenamens- rechts erforderlich. Mit Beschluss vom 5. März erklärte es § 1355 BGB insofern für verfassungswidrig, als Abs. 2 Satz 2 den Vorrang des Mannesnamens bei Nicht- einigung vorschrieb. In dem folgenden Gesetzgebungs- verfahren sah der ursprüngliche Regierungsentwurf zunächst vor, dass die Ehegatten neben ihrem Geburts- namen auch ihren zum Zeitpunkt der Eheschließung geführten Namen zum Ehenamen bestimmen können sollten. Dieser Vorschlag stieß jedoch in der sich an- schließenden parlamentarischen Beratung auf Wider- spruch. Insbesondere die Adelsverbände protestierten unter Verweis auf die von ihnen befürchtete „Titelinfla- tion“ gegen die erweiterte Wahlmöglichkeit. In der Folge erhielt § 1355 Abs. 2 BGB die jetzt geltende Beschrän- kung der Namenswahl auf den Geburtsnamen. Der heute zur Beratung stehende Gesetzentwurf sieht als Kernpunkt eine Modifizierung der vom Bundesver- fassungsgericht beanstandeten Vorschrift vor. § 1355 A e G d f s g b K a h g g g d z g s d i M v G E g R I w G g c t s e n d s z 2 s g d n E k u ß g L W G t (C (D bs. 2 BGB soll hinsichtlich seiner Wahlmöglichkeiten rweitert werden. Künftig können Ehegatten neben dem eburtsnamen auch den von einem Ehegatten zur Zeit er Erklärung über die Bestimmung des Ehenamens ge- ührten, in einer früheren Ehe erworbenen Namen be- timmen. Ehegatten, die vor In-Kraft-Treten der Neure- elung die Ehe geschlossen und bereits einen Ehenamen estimmt haben, können binnen eines Jahres nach In- raft-Treten dieses Gesetzes einen vom Geburtsnamen bweichenden Namen als Ehenamen bestimmen. Weiter- in muss diese Neuregelung konsequenterweise auf ein- etragene Lebenspartnerschaften entsprechend übertra- en werden. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme eine Er- änzung vorgeschlagen, mit der klargestellt werden soll, ass es Ehepaaren auch erlaubt ist, nur einen Namen des urzeit der Eheschließung geführten Doppelnamens zum emeinsamen Ehenamen zu bestimmen, auch wenn die- er nicht Geburtsname ist. Der Bundesregierung ist allerdings zuzustimmen, ass eine dahin gehende Ergänzung nicht erforderlich st, da auch das geltende Recht bereits ausreichende öglichkeiten bereithält, um den mit der Empfehlung erfolgten Zweck zu erreichen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass uns als esetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht die ntscheidung weitestgehend vorgegeben ist. Der vorlie- ende Gesetzentwurf stellt den einzigen Weg dar, die echtslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen. ch denke daher, dass wir dem vorliegenden Gesetzent- urf zustimmen sollten. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE RÜNEN): Heute steht ein Gesetzentwurf auf der Ta- esordnung, bei dem wenig Unstimmigkeiten auftau- hen sollten, da es sich um die Umsetzung eines eindeu- igen Bundesverfassungsgerichtsurteils handelt. Inhaltlich geht es um Folgendes: Das Bundesverfas- ungsgericht hat in seinem Urteil am 18. Februar 2004 indeutig festgestellt, dass das Recht zur Wahl des Ehe- amens mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar ist, a bisher ausgeschlossen ist, einen durch frühere Ehe- chließung erworbenen Familiennamen zum Ehenamen u bestimmen. Mit einer kurzen Frist bis zum 31. März 005 ist der Gesetzgeber aufgefordert, dies Urteil umzu- etzen und ebenso eine Regelung für die Alt- und Über- angsfälle zu schaffen. Genau dieser Pflicht kommt die Bundesregierung mit em vorliegenden Gesetzentwurf nach. Zukünftig gilt un auch für einen in einer früheren Ehe erworbenen henamen in vollem Umfang der grundgesetzlich veran- erte Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dies mfasst auch das Recht, bei einer erneuten Eheschlie- ung einen Doppelnamen festlegen zu können. Gleiches ilt – und das ist für die weitere Gleichstellung in diesem and ebenso wichtig – selbstverständlich auch für die ahl des Lebenspartnerschaftsnamens. Denn die ründe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts be- reffen Lebenspartnerschaften in gleicher Weise. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12781 (A) ) (B) ) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei- dung klar festgestellt, dass sowohl Vor- als auch Familien- name Ausdruck der Identität und Individualität eines Menschen sind, die durch die Art. 1 und 2 unserer Ver- fassung geschützt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob der Familienname Geburtsname ist oder durch Ehe- namenswahl erworben wurde. Im geltenden Recht wird bisher, so hat das Bundes- verfassungsgericht festgestellt, der erworbene Ehename im Vergleich zum Geburtsnamen als Name „zweiter Klasse“ behandelt. Da dies nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wird das von nun an aufgehoben sein. Wenn wir uns anschauen, wer von der bisherigen Re- gelung profitiert, wird deutlich warum wir diese gesetz- liche Anpassung benötigen. Mit der bisherigen Regelung wurde vor allem das Recht desjenigen Ehegatten ge- schützt, der seinen Geburtsnamen auch als Ehenamen behalten konnte. Das sind nach wie vor zu über 95 Pro- zent die Ehemänner. Erst durch die Reformen des Na- mensrechts 1976 und schlussendlich 1991 gilt das mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz unvereinbare Vor- recht des Mannesnamens nicht mehr. Wir wissen, dass gesellschaftlich die traditionelle Re- gelung immer noch fortwirkt. Auch heute noch sind es in der überwiegenden Mehrzahl Frauen, die auf ihren Ge- burtsnamen bei der Festlegung des Familiennamens ver- zichten. Sie waren nach dem geltenden Recht gezwun- gen, gegebenenfalls ihren Namen ein zweites Mal abgeben zu müssen. So verständlich der Wunsch des geschiedenen Ehe- gatten ist, dass der „eigene“ Name nicht auch der Name des neuen Partners wird, so hat das Bundesverfassungs- gericht doch in seinem Urteil klargestellt, dass dieses Recht zum grundgesetzlich verankerten Namensschutz nachrangig ist. Ein Festhalten an einer Regelung – so die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts –, die denjenigen schützt, der seinen Geburtsnamen als Ehenamen behält, würde eine traditionelle Vorstellung verfestigen, die mit einem an den Gleichheitsgrundsätzen orientierten Namensrecht nicht zu vereinbaren ist. Eigentlich – so sollte man meinen – ist doch bei ei- nem so eindeutigen Urteil und einer so konkreten Um- setzung alles klar. Dem war aber nicht ganz so. Denn im Bundesrat haben die sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition doch noch einmal die Zustimmungs- pflicht angemahnt. Das hat die Bundesregierung bereits zurückgewiesen. Sibylle Laurischk (FDP): Dieses Gesetz ist durch die beharrliche Initiative einer Privatperson entstanden, derjenigen nämlich, die sich bis zum Bundesverfas- sungsgericht durchgeklagt hat, um ihr Recht durchzuset- zen, den angenommenen Ehenamen nach Scheidung der Ehe als eigenen Namen auch als Familiennamen einem neuen Ehegatten weitergeben zu können. Die Bundesre- gierung vollzieht hier nur eine Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichts, vertrat auch in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht noch eine andere A s d s k i u r c I t m l d m U A s d m a a Z f s s h s m f t d e g n n m N F s r s g n m m h T R m W B 1 g (C (D uffassung und musste sich eines Besseren belehren las- en. Das Namensrecht ist von hoher, auch emotionaler Be- eutung für jeden Einzelnen. Aus der Vielfalt der Zu- chriften mit den unterschiedlichsten Personenstands- onstellationen und Lebensläufen ist abzulesen, welche dentitätsstiftende Funktion der Name für den Einzelnen nd auch für einen Familienverband hat. Das Namens- echt verfolgt mehrere, zum Teil einander widerspre- hende Zwecke. Die vorrangige Funktion ist die der ndividualisierung des Namensträgers. Diese Identifika- ionskraft des Namens ist abhängig auch von der Na- enskontinuität, die auch nach der bisherigen Rechts- age durch die Namenswahl von Eltern für ihre Kinder urchbrochen ist. Allerdings macht die Vielfalt der Na- enswahlmöglichkeiten das praktische Leben gerade im mgang mit Familien, unübersichtlich und verlangt den ußenstehenden eine größere Merkfähigkeit und Unter- cheidungsfähigkeit ab. Da das Gesetz verschiedene Wahlmöglichkeiten bei er Änderung des Personenstandes vorsieht, machen im- er mehr Menschen von der Möglichkeit, eine privat- utonome Entscheidung über ihren Namen und damit uch über die Dokumentation ihrer Vergangenheit bzw. ukunft zu treffen, Gebrauch. Dabei tritt die Ordnungs- unktion des Namensrechts, die auch nach außen die Ab- tammung und familiäre Zuordnung sichtbar machen ollte, in den Hintergrund. Insofern bildet auch schon eute das Namensrecht die sich ändernden und wech- elnden Lebens- und Familienformen ab. Der Fall, der it dem vorliegenden Entwurf geregelt werden soll, olgt hinsichtlich des Individuums der Namenskontinui- ät, die hier aber durchaus im Spannungsverhältnis zu er Ordnungsfunktion steht. Es zeigt, dass ein Ehename ben kein Leihname ist, sondern Bestandteil der ihn tra- enden Person wird, auch über den Bestand der Ehe hi- aus. Ein Familienname muss heute einen Menschen nicht otwendig sein Leben lang begleiten, und umgekehrt uss auch eine Personenstandsänderung nicht unbedingt iederschlag im Namen finden, wovon zunehmend rauen bei einer Eheschließung Gebrauch machen, be- onders dann, wenn sie unter ihrem eigenen Namen be- uflich Geltung erlangt haben. Die Vielzahl von Zuschriften, die sicher nicht nur un- ere Fraktion erreicht hat mit der Schilderung jeweils ei- ener, höchst nachvollziehbarer Konstellationen, in de- en nach dem Dafürhalten der Petenten der Name nicht it dem übereinstimmt, was er nach außen hin doku- entiert und dargestellt wissen möchte, deutet darauf in, dass dies nicht der letzte Gesetzentwurf zu diesem hema sein wird. Namen sind eben nicht Schall und auch, sondern stellen die Verbindung des Einzelnen it seiner Umwelt, die Geltung des Menschen in der elt dar. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der undesministerin der Justiz: Mit seinem Urteil vom 8. Februar 2004 hat das Bundesverfassungsgesetz fest- estellt, dass das geltende Ehenamensrecht nicht mit 12782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 (A) (C) (B) (D) dem Grundgesetz vereinbar ist. Das geltende Recht ver- bietet Eheleuten, einen Namen zum gemeinsamen Ehe- namen zu wählen, wenn dieser Name nicht der Geburts- name eines Ehegatten, sondern ein aus einer Vorehe erworbener, also „erheirateter“ Name ist. Das Bundes- verfassungsgericht hat ausgeführt, der Gesetzgeber sei gehalten, die derzeitige Rechtslage bis zum 31. März 2005 mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf setzt diese Aufforderung des Bundesverfassungsge- richts um. Nach der vorgeschlagenen Neufassung kön- nen die Ehegatten den Geburtsnamen oder den geführten Namen der Frau oder des Mannes zum Ehenamen be- stimmen. Damit wird dem Anliegen des Bundesverfas- sungsgerichts Rechnung getragen: Ein zur Zeit der Na- mensbestimmung von einem Ehegatten geführter Name darf zum gemeinsamen Namen bestimmt werden. Dabei unterscheidet der Entwurf nicht zwischen einem ein- gliedrigen Namen und einem Ehenamen mit Begleitna- men. Auch ein solcher Doppelname kann neuer Ehe- name werden. Ein Ehegatte, der möglicherweise Jahrzehnte mit seinem Ehenamen mit Begleitnamen ge- lebt hat, kann diesen zusammengesetzten Namen als Ganzes in die Ehe einbringen. Weiterhin enthält der Entwurf die vom Bundesverfas- sungsgericht gleichfalls angemahnten Übergangsrege- lungen. Waren Eheleute wegen der bisherigen grundge- setzwidrigen Gesetzeslage gehindert, den von ihnen gewünschten Ehenamen zu wählen, so können sie dies binnen Jahresfrist nachholen. Diese Frist erscheint völlig ausreichend, um den Interessierten die Namensänderung zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil keine Veranlassung, sich zu den Namenswahlbeschrän- kungen bei eingetragenen Lebenspartnern im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes zu äußern. Bei diesen stel- len sich jedoch genau die gleichen Probleme. Deshalb ist es unerlässlich, dass der Gesetzentwurf zur Regelung des Ehenamens entsprechende Regelungen für den Le- benspartnerschaftsnamen vorsieht. Das Gesetz ist entgegen der Auffassung der Mehrheit des Bundesrates nicht zustimmungsbedürftig. Es enthält insbesondere keine Änderung einer verfahrensrechtli- chen Regelung im Sinne des Art. 84 Abs. 1 des Grund- gesetzes. Änderungen des Personenstandsgesetzes sind nicht erforderlich. Die dort bereits vorhandenen Verfah- rensregelungen ermöglichen es den zuständigen Stan- desbeamtinnen und Standesbeamten, die neuen Vor- schriften ohne Änderung anzuwenden. Der Entwurf erweitert lediglich die materiellen Rechte des Bürgers und ist deshalb zustimmungsfrei. Es freut mich, dass der Entwurf in den Ausschüssen des Bundestages einstimmig angenommen wurde. Ich bitte deshalb um breite Zustimmung auch hier. 138. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Nachtrag zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1513800000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Eduard Lintner feierte am 4. Novem-

ber seinen 60. Geburtstag und der Kollege Siegfried
Scheffler am 5. November ebenfalls seinen 60. Ge-
burtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich beiden
Kollegen sehr herzlich und wünsche alles Gute.


(Beifall)

Der Kollege Christoph Hartmann hat am 1. Novem-

ber 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes-
tag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete
Dr. Karl Addicks am 1. November 2004 die Mitglied-
schaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße
Sie sehr herzlich.


(Beifall)

Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass die Kolle-

ginnen und Kollegen Alexander Dobrindt, Melanie
Oßwald, Hannelore Roedel und Andreas Scheuer ihr
Amt als Schriftführer niedergelegt haben. Als Nachfol-
ger werden die Kolleginnen Dorothee Mantel, Doris
Meyer (Tapfheim), Marlene Mortler sowie der Kollege

Rede
Thomas Silberhorn vorgeschlagen. Sind Sie mit diesen
Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kolle-
gen als Schriftführer gewählt.

Der ehemalige Kollege Hubert Ulrich ist aus dem
Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen ausge-
schrieben. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
schlägt die Kollegin Jutta Krüger-Jacob als ordentli-
ches Mitglied für den Programmbeirat vor. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist die Kollegin Krüger-Jacob als ordentliches Mitglied
für den Programmbeirat benannt.

Interfraktionell wurde vereinbart, die ver
gesordnung um die in einer Zusatzpunktlis
ten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten V

(Ergänzung zu TOP 26)

tzung

n 11. November 2004

0.00 Uhr

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim
Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den
Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig,
Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche
– Drucksache 15/4134 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Stra-
tegischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der
Richtlinie 2001/42/EG (SUPG)

– Drucksache 15/4119 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 27)

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gräbergesetzes

text
– Drucksache 15/3753 –

(Erste Beratung 129. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss)

– Drucksache 15/4170 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)

Thomas Dörflinger
Irmingard Schewe-Gerigk
Ina Lenke

b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Ent-

(Entschädigungsrechtsänderungs etz – EntschRErgG)

rucksache 15/3944 –
ste Beratung 132. Sitzung)
chlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
bundene Ta-
te aufgeführ-

erfahren

ges
– D

(Er Bes Präsident Wolfgang Thierse – Drucksache 15/4169 – Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Hilsberg Manfred Kolbe ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bedeutung des Sparkassensektors für die Mittelstandsfinanzierung vor dem Hintergrund von Forderungen nach Privatisierung der Sparkassen ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes – Drucksache 15/4133 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach, Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten – Drucksache 15/4130 – ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze – Drucksachen 15/3784, 15/3984 – Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses – Drucksache 15/4173 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Rüdiger Veit Reinhard Grindel Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen Familienrecht – Drucksache 15/3981 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses – Drucksache 15/4168 – Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Bätzing Christine Lambrecht Ute Granold Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eheund Lebenspartnerschaftsnamensrechts – Drucksache 15/3979 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses – Drucksache 15/4167 – Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Ute Granold Daniela Raab Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk ZP 9 a)


(7. Ausschuss)





(A) (C)


(B) (D)


(Erste Beratung 129. Sitzung)


(4. Ausschuss)


(Erste Beratung 135. Sitzung)


(6. Ausschuss)


(Erste Beratung 135. Sitzung)


(6. Ausschuss)

Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Flexiblere
Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hoch-
schulbereich schaffen
– Drucksache 15/4131 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Befristungen von Beschäfti-
gungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren
– Drucksache 15/4151 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.

Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 15 a und b
– Änderung des Parteiengesetzes – abgesetzt werden.

Außerdem mache ich auf geänderte bzw. nachträgli-
che Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr
dem Verteidigungsausschuss federführend überwiesen
werden.

Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus
Haupt, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Bundeswehr stärken –
Beschäftigungsbedingungen für Soldatinnen
und Soldaten verbessern
– Drucksache 15/3960 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen
werden.

Antrag der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk
Fischer (Hamburg), Georg Brunnhuber, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Europäische Eisenbahnmagistrale Paris–Bu-
dapest im deutschen Abschnitt voranbringen
– Drucksache 15/3715 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Der in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Rechtsausschuss, dem Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Haus-
haltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform

(Berufsbildungsreformgesetz – BerBiRefG)







(A) (C)



(B) (D)


Präsident Wolfgang Thierse

– Drucksache 15/3980 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
zunächst einen Geschäftsordnungsantrag der Abge-
ordneten Gesine Lötzsch behandeln. Frau Lötzsch hat
fristgerecht beantragt, den Tagesordnungspunkt 6 – Be-
ratung des Jahresberichts zum Stand der deutschen
Einheit 2004 – bereits jetzt anschließend mit einer De-
battendauer von zwei Stunden zu beraten.

Das Wort hat Kollegin Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1513800100

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und

Herren! Wir als PDS-Abgeordnete halten es für ange-
messen, dass über den Stand der deutschen Einheit in-
nerhalb der so genannten Kernzeit beraten wird. Wir ha-
ben kein Verständnis dafür, dass der Jahresbericht zum
Stand der deutschen Einheit erst am späten Nachmittag
– außerhalb der Kernzeit und, wie von den Fraktionen
intern vorgesehen, bei geringer Teilnahme – besprochen
werden soll.

Gestern hatte ja die Fraktion der CDU/CSU den
Wunsch geäußert, in einer Aktuellen Stunde über den
3. Oktober und dessen Abschaffung als arbeitsfreien
Feiertag zu sprechen. Augenscheinlich durch hand-
werkliche Ungeschicklichkeit, wenn ich das richtig ver-
standen habe, ist diese Rechnung nicht aufgegangen; es
hat nicht geklappt. Ich kann Sie nur ermuntern: Stimmen
Sie meinem Antrag zu, jetzt über den Stand der deut-
schen Einheit zu sprechen! Es ist ja nicht zu übersehen,
dass es in den letzten zehn Tagen in den Medien eigent-
lich kein anderes Thema gab als das, wer nun Vater-
landsliebe zeigt und zur deutschen Einheit steht und wer
den 3. Oktober als Feiertag abschaffen will.

Ich habe mir heute Morgen zwar überlegt, ob die Ma-
cher der Tagesordnung vielleicht vermeiden wollten,
dass zum Beginn der Karnevalszeit um 11.11 Uhr zum
Stand der deutschen Einheit gesprochen wird; aber ich
glaube, diejenigen, die aus dem Rheinland kommen,
wissen, dass auch Narren bei wichtigen Themen ernst
sein können.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Bedeu-
tung des Themas „Stand der deutschen Einheit“ in der
Form angemessen zu würdigen, dass darüber zu einem
Zeitpunkt debattiert wird, zu dem die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit durch die Fernsehübertragung ge-
währleistet ist, und nicht erst zur Abendbrotszeit, wenn
die Fernsehkameras schon abgeschaltet sind.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1513800200

Ich erteile das Wort dem Kollegen Küster.


Dr. Uwe Küster (SPD):
Rede ID: ID1513800300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

9. November 1989 ist für uns immer ein Tag der freudi-
gen Erinnerung. Mit diesem Tag nahm der Zug der deut-
schen Einheit seine Fahrt auf; die Mauer fiel. Wir haben
uns seit diesem Tag immer gern an die Ereignisse von
1989 erinnert, die zur Herstellung der deutschen Einheit
geführt haben. Anlässlich des Gedenkens an diesen Tag
ist in den vergangenen Tagen alles gesagt worden. Die
Medien haben ausführlich darüber berichtet; die unter-
schiedlichen Sichtweisen sind ausgetauscht worden. Wir
werden an dieser Stelle sozusagen keine Vermisstenan-
zeige stellen können.

Wir werden die Debatte zum Stand der deutschen
Einheit heute Nachmittag in aller Ausführlichkeit und
unter reger Beteiligung des Parlamentes führen. Frau
Lötzsch, Ihre Vorhersagen, die Sie aufgrund Ihrer sehe-
rischen Fähigkeiten geäußert haben, kann ich nicht tei-
len.

Der Zeitpunkt, zu dem wir die Debatte zum Stand der
deutschen Einheit führen, hat nichts mit dem Datum des
9. November zu tun. Sie wissen, dass es Tradition des
Hauses ist, dass wir uns jeweils im Herbst über den
Stand der deutschen Einheit auseinander setzen und über
die Konsequenzen für die Fortführung des Prozesses zur
Wiederherstellung der deutschen Einheit auch auf ande-
ren Gebieten debattieren.

Sie von der PDS, der Nachfolgepartei der SED, haben
die Einheit Deutschlands 40 Jahre lang nicht gewollt.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Verhindert!)

Sie tragen die Verantwortung für das Auseinanderdriften
der beiden deutschen Staaten und für die unterschiedli-
chen Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten.
Daher fällt es mir sehr schwer, zu akzeptieren, dass Sie
sich zum Fürsprecher der Debatte zum Stand der deut-
schen Einheit machen. Dieses Haus unterstützt eine sol-
che Debatte jederzeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Beschimpfen Sie Ihren Koalitionspartner nicht so!)


Wir lehnen Ihren Antrag eindeutig ab. Wir werden
heute Nachmittag die Debatte zu diesem Tagesordnungs-
punkt führen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1513800400

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den

Antrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden
fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt.






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Wolfgang Thierse

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in
Brüssel am 4./5. November 2004

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513800500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Ver-
fassungsvertrages in Rom trat der Europäische Rat in
Brüssel zusammen. Dabei standen vier europapolitische
Kernthemen im Mittelpunkt der Beratung: erstens die
Lissabon-Strategie, die auf die zentralen Bereiche
Wachstum und Beschäftigung angepasst und ausgerich-
tet wurde, zweitens die Verabschiedung des Haager Pro-
gramms, in dem die gemeinsame europäische Asyl- und
Migrationspolitik weiterentwickelt wurde, drittens die
europäische Öffentlichkeitsarbeit, die angesichts des an-
stehenden Prozesses der Ratifizierung der Verfassung
verstärkt werden muss, und viertens eine ganze Band-
breite wichtiger außenpolitischer Themen. Dabei ging es
vor allen Dingen um die Perspektive für den Friedens-
prozess im Nahen Osten, um den Irak und den Iran so-
wie um die Lage in Sudan, Darfur. Damit wird klar, wel-
che Bedeutung diese neue Dimension in der erweiterten
Europäischen Union hat.

Bevor ich auf die einzelnen Themen eingehen werde,
lassen Sie mich kurz auf einen anderen, allerdings zen-
tralen Aspekt zu sprechen kommen, der selbstverständ-
lich beim Rat ebenfalls eine Rolle gespielt hat. Während
der Europäische Rat tagte, liefen die Bemühungen des
designierten Kommissionspräsidenten Barroso um die
Aufstellung der neuen Kommission weiter. Auch wenn
es formal nicht auf der Tagesordnung des Rates stand,
spielte sein neues Personalpaket eine wichtige Rolle. Die
Bundesregierung ist der Meinung, dass der künftige
Kommissionspräsident Barroso die richtigen und not-
wendigen politischen Konsequenzen gezogen hat.

Das Europäische Parlament hat durch seine klare Hal-
tung in beeindruckender Weise zu einer Stärkung seiner
Rolle im Zusammenspiel der europäischen Institutionen
beigetragen. Dies hat das demokratische Prinzip sichtbar
gefördert. Das war auch im Sinne der Verfassungsgeber
im Konvent.

Formell hat der Rat bereits seine Zustimmung zur
neuen Liste der designierten Kommissare erteilt. Es ist
jetzt erneut Sache des Europäischen Parlaments, eine
Entscheidung über die neue Kommission zu treffen. Die
Bundesregierung hofft, dass der designierte Kommis-
sionspräsident im zweiten Anlauf eine klare Mehrheit für
die Kommission in der neuen Zusammensetzung erhält.
Damit werden wir wohl noch im November eine neue
Kommission bekommen. Dies ist – so unsere Meinung –
von entscheidender Bedeutung. Das erweiterte Europa
braucht starke und handlungsfähige Institutionen und als
entscheidende integrative Institution die Kommission.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie bei der SPD)


Meine Damen und Herren, der Europäische Rat hat
sich intensiv mit der Lissabon-Strategie befasst. Deren
Halbzeitüberprüfung wurde konkret vorbereitet. Auf
dem Weg zu dem dafür entscheidenden Frühjahrsrat
2005 sind wir dabei ein großes Stück vorangekommen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Voran? Zurückgefallen seid ihr!)


– Warum zurück?

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Abstand wird doch immer größer!)

– Zu wem?


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte Sie: Sie können doch nicht allen Ernstes be-
haupten, dass wir uns diesbezüglich zurückentwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Fahren Sie fort! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)


– Ich fahre fort; aber diesen Zuruf nehme ich gerne auf.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Herr Bundeskanzler, er soll fortfahren!)

Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen:


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein Schritt vor und zwei zurück!)


Von Wim Kok ist ein Bericht vorgelegt worden; genau
darüber wurde gesprochen.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Schallende Ohrfeige!)


– Das ist keine schallende Ohrfeige. Ich weiß nicht, ob
Sie sich selbst dabei bedenken wollen.

Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Herr Minister, lassen Sie sich doch nicht aus der Ruhe bringen!)


– nein, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen –:

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Lesen Sie doch einfach weiter vor! Wir können nachher diskutieren!)


Die Empfehlungen des Berichtes der Expertengruppe
um Wim Kok wie auch der Mitgliedstaaten wurden dort
vorgelegt und diskutiert. Die Konsequenzen aus diesem
Bericht werden in den Frühjahrsgipfel mit einfließen.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

Mit den Leitlinien des Kok-Berichtes stimmt die Bun-

desregierung weitgehend überein. Er hält im Grundsatz
an dem ehrgeizigen Ziel fest, Europa bis 2010 zum
stärksten Wirtschaftsraum zu entwickeln. Die Bundes-
regierung unterstützt gemeinsam mit anderen Partnern in
der EU die Konzentration auf die beiden zentralen Ziele:
auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, wie es
im Kok-Bericht empfohlen wird.

Wir teilen auch seine richtigen und wichtigen Aussa-
gen zu zentralen Schlüsselthemen wie Umwelt, For-
schung, Binnenmarkt, Bildung und lebenslangem Lernen
sowie die Forderung, das Geschäfts- und Investitions-
klima überall in Europa zu verbessern.

Trotz des schwierigen weltwirtschaftlichen Umfeldes
konnte im Rahmen der Lissabon-Strategie schon einiges
erreicht werden. Ich will hier nur vier Bereiche nennen:
Erneuerbare Energien leisten einen zunehmenden Beitrag
zu Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. Schlüssel-
märkte wie die Telekommunikation wurden vollständig
für den Wettbewerb geöffnet. Heute wird in Europa ver-
stärkt in Forschung und Entwicklung investiert. In
Deutschland werden trotz der derzeit schwierigen Haus-
haltslage Bundesmittel in Höhe von rund 8,9 Milliarden
Euro dafür bereitgestellt. Damit steigt der Anteil der
Forschungs- und Entwicklungsförderung am Bruttoin-
landsprodukt. Die wissensbasierte Gesellschaft, wie sie
in der Lissabon-Strategie eingefordert wird, ist heute in
Deutschland und Europa bereits Realität geworden.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Papiertiger!)

Ende vergangenen Jahres nutzten 98 Prozent der deut-
schen Unternehmen und mehr als die Hälfte der Privat-
personen bereits das Internet. Diese Entwicklung wird
weitergehen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?)


Wir waren uns auf dem Europäischen Rat aber auch ei-
nig: Solche Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es noch viel zu tun gibt, um das ambitionierte Lissa-
bon-Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung hat zur Halb-
zeitbilanz ein eigenes Positionspapier erstellt, das sich
mit den Grundaussagen des Kok-Berichtes deckt.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was über die ökonomische Wahrheit!)


Es wurde der Kommission vorgelegt und während des
Rates diskutiert. Seine zentralen Anliegen werden somit
in die Vorbereitung des nächsten Frühjahrsgipfels ein-
fließen.

In diesem Papier betonen wir besonders folgende
Punkte: Die Bundesregierung sieht in einem wachstums-
orientierten Verständnis von Innovation, Wettbewerbsfä-
higkeit und Umweltschutz große Chancen. Die Bundes-
regierung tritt daher für eine Binnenmarktinitiative ein,
deren Schwerpunkt in folgenden Bereichen liegen soll:
Die Energiemärkte und die Energieversorgungssysteme
sollen zum Nutzen der Verbraucher weiter liberalisiert
werden. Durch die Einführung einheitlicher Standards
soll der europäische Zahlungsverkehr erleichtert werden.
Um Dienstleistungen gemeinschaftsweit anbieten zu
können, müssen die Arbeiten an europaweit geltenden
Regelungen vorangetrieben werden.

All das sind Maßnahmen, die von entscheidender Be-
deutung für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
sind, die allerdings Anpassungsprobleme für die jeweili-
gen nationalen Wirtschaften mit sich bringen. Wer
meint, dies sei nicht wichtig, dem kann ich nur sagen,
dass die Dienstleistungsrichtlinie uns alle gemeinsam
vor sehr große Herausforderungen stellen wird.

Ein gesamteuropäisches Vertragsrecht soll geschaf-
fen werden, um grenzüberschreitende Geschäfte zu er-
leichtern. Auch dies ist, wie es scheint, ein trocken klin-
gender Punkt; aber es wird ganz erheblicher Leistungen
bedürfen, um hier eine Harmonisierung zu erreichen.
Eine einheitliche Bemessungsgrundlage bei der Unter-
nehmensbesteuerung soll eingeführt werden, um die
Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Europa insgesamt
zu fördern. Ein europäisches System der Finanzaufsicht
soll geschaffen werden, da die Stabilität und Krisenresis-
tenz der Finanzmärkte für Europa von entscheidender
Bedeutung ist. Zugleich soll ein einheitlicher Rüstungs-
binnenmarkt die Konsolidierung der europäischen Rüs-
tungsindustrie unterstützen und zur Entwicklung einer
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei-
tragen.

Im Rahmen der Vorbereitung der Halbzeitüberprü-
fung hat der Europäische Rat auch die gemeinsame Ini-
tiative des Bundeskanzlers, des französischen Staatsprä-
sidenten und der Ministerpräsidenten von Spanien und
Schweden zur stärkeren Einbeziehung der Jugend in den
Lissabon-Prozess aufgegriffen. Hierbei geht es konkret
darum, einen europäischen Pakt für die Jugend auszuar-
beiten, das heißt, allen Jugendlichen die Möglichkeit be-
ruflichen Erfolgs zu geben.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Was für ein Scheiß!)


– Ich wage nicht, das zu wiederholen, was Sie gerade ge-
sagt haben.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)


– Natürlich sind Regierungserklärungen aufgeschrie-
ben. Sie werden nicht frei formuliert; denn Sie wollen ja,
dass sie Ihnen, bevor sie gehalten werden, schriftlich
vorliegen.

Kollege Schäuble, ich will das Wort, das Sie benutzt
haben, nicht wiederholen. Aber ich sage Ihnen: Ange-
sichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die es zwar
nicht in Deutschland, aber in anderen Ländern gibt, ist
das eine wichtige Initiative, die ich nicht mit einem solch
unflätigen Wort besetzen würde, wie Sie es gerade getan
haben. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Schaffung einer stärkeren Kohärenz der unions-
weiten Maßnahmen für Jugendliche und die Verbesse-
rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf


(Beifall des Abg. Franz Müntefering [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

– in diesem Bereich, in dem andere Länder wesentlich
weiter sind, haben wir in Deutschland aufgrund 16 Jahre
langer Versäumnisse und einer ideologiegesteuerten
Politik große Defizite –,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


das sind entscheidende Punkte, die der Initiative von
Staatspräsident Chirac, des Bundeskanzlers und der Mi-
nisterpräsidenten von Spanien und Schweden zugrunde
liegen. Auch wenn Sie das langweilig finden, handelt es
sich hierbei um große Herausforderungen,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann tun Sie doch endlich etwas!)


denen wir uns auf europäischer Ebene zu stellen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Mit diesen klaren Perspektiven hat der Rat ein Signal in
Vorbereitung des wichtigen Frühjahrsgipfels 2005 gege-
ben. Mit einer verbesserten Lissabon-Strategie hält die
EU Kurs, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu er-
reichen. Das ist für die Bundesregierung ebenfalls ein
wichtiges Ziel.

Meine Damen und Herren, auf dem Rat wurde da-
rüber hinaus das Haager Programm beschlossen. Dieses
neue, auf fünf Jahre ausgerichtete Programm für den Be-
reich Justiz und Inneres knüpft an die im Oktober 1999
in Tampere vereinbarte Schaffung eines Raumes der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa an.
Dies hat zum bisher größten Integrationsschub seit der
Schaffung des Binnenmarktes geführt. Dieser Erfolg soll
jetzt weitergeführt werden.

Das Haager Programm setzt dabei drei zentrale, zu-
kunftsweisende Schwerpunkte: Erstens soll eine gemein-
same europäische Asyl- und Migrationspolitik entwi-
ckelt werden, die mit Fragen der inneren Sicherheit,
insbesondere der Bekämpfung des internationalen Terro-
rismus, verknüpft wird.

Zweitens wollen wir europaweit einsetzbare Rechts-
instrumente schaffen, insbesondere im zivil- und wirt-
schaftsrechtlichen Bereich, beispielsweise ein europäi-
sches Mahnverfahren.

Drittens müssen bereits bestehende Rechtsinstru-
mente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit aus
dem Tampere-I-Programm evaluiert und entsprechend
umgesetzt werden.

Ein längerfristiges Ziel des Haager Programms ist die
weitere Ausgestaltung des Raums der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts. Das Programm soll dabei hel-
fen, das In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages in die-
sen entscheidenden Politikbereichen vorzubereiten.
Deshalb enthält es detaillierte Arbeitsaufträge und klar
definierte Zeitpläne, so zum Beispiel die Entwicklung
eines gemeinsamen europäischen Asylsystems sowie
den Aufbau einer europäischen Asylbehörde bis 2010.

Die Bundesregierung begrüßt dieses Programm nach-
drücklich. Wir wären bereit gewesen, gerade im Bereich
der justiziellen Zusammenarbeit noch weiter zu gehen;
aber unser von Frankreich und Spanien unterstützter
Wunsch, schon jetzt mit den nötigen Vorarbeiten, bei-
spielsweise für die Einrichtung einer europäischen
Staatsanwaltschaft, zu beginnen, ließ sich noch nicht
umsetzen.

Meine Damen und Herren, „Europa den Menschen
vermitteln“, so lautete die Überschrift.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Da sind gerade Sie dabei! – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Weit weg davon! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist so!)


– Ich will Ihnen eines sagen, Kollege Schäuble: Sie kön-
nen mir sicher viel vorwerfen, aber nicht, dass ausge-
rechnet ich Defizite hätte, Europa zu vermitteln.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Im ganzen Europawahlkampf war ich sehr erfolgreich
unterwegs. Ich kann kein solches Defizit feststellen.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Entschuldigung, Majestät!)


Dass Sie davon nicht begeistert sind, ist doch völlig klar;
darüber brauchen wir nicht zu streiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schauen Sie: Ich saß jahrelang auf den Oppositionsbän-
ken, als Sie die Mehrheit hatten. Ich werde nie die
Regierungserklärungen morgens um 9 Uhr vom Bundes-
kanzler – heute a. D. – Dr. Helmut Kohl vergessen: Re-
gierungserklärungen sind Regierungserklärungen und
nicht frei gehaltene Reden. Sie tun alles, um wieder in
den Zustand zu kommen, solche Regierungserklärungen
abgeben zu müssen. Und wir tun alles, damit das nicht
eintritt, und Sie können davon ausgehen, wir werden da-
bei erfolgreich sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Tragen Sie erst einmal zu Ende vor!)


– Ihnen, Herr Schäuble, gefällt das nicht. Der vor Ihnen
sitzt, sagt: „Tragen Sie erst einmal zu Ende vor!“ Sie
werden gleich auf die Regierungserklärung antworten
können, also bitte ich Sie: Lassen wir das doch, das sind
doch nur Scheingefechte; das wissen Sie als erfahrener
Parlamentarier so gut wie ich.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Weiterreden! – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/ CSU]: Bringen Sie’s hinter sich! – Zuruf von der CDU/CSU: Für den Papierkorb war die Rede! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Geben Sie’s zu Protokoll!)


– Nein, ich gebe es nicht zu Protokoll.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

Ich muss Ihnen eines sagen: Diese Reihe großartiger

Redner hier vorne bei der CDU/CSU, von denen ja nach-
her ein paar zu Wort kommen,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Lassen Sie sich doch nicht aus der Ruhe bringen!)


die werden natürlich alle frei reden und jeder von denen
würde bei einem Rednerwettbewerb die Nummer eins.
Dabei kennen wir Ihre Reden seit langem. Jetzt hören
Sie doch damit auf!


(Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Warum lassen Sie sich heute Morgen immer aus der Ruhe bringen?)


– Ich lasse mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen,

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Warum antworten Sie dann auf jeden Zwischenruf, Herr Minister?)


sondern ich empfinde es als wohltuend. Insofern kann
ich nur sagen – –


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt lacht selbst der Kanzler! – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Der liest auch immer ab! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Der lacht Sie aus!)


– Herrgott, was soll man dazu sagen? Meine Güte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Europa

den Menschen vermitteln“, ich sehe, wir sind gerade hef-
tig dabei. Neulich haben wir den Widerspruch Ihrer
Fraktion in der Verfassungsfrage erlebt, Kollege
Schäuble.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aba!)

– Nicht „aba“!


(Lachen bei der CDU/CSU – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe doch den Kollegen Müller aus München, den
Kollegen Silberhorn und wie diese genialen Staatsmän-
ner von der CSU alle heißen –


(Lachen bei der CDU/CSU – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


große Freunde Europas! – hier gehört, als es um die Be-
dingungen ging; ich habe doch gesehen, wie sie mit zu-
sammengebissenen Zähnen und ohne die Hand zu rühren
dabeisaßen und Frau Merkel vorher, nach dem „FAZ“-
Artikel,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt fangen Sie wieder von vorne an!)


tapfer durch die Reihen ging und versuchte, die Fraktion
zusammenzubringen. Europa vermitteln, das wird sich
vor allen Dingen daran festmachen, ob es wirklich ge-
lingt, hier Mehrheiten für den Verfassungsvertrag zu be-
kommen. Das ist die entscheidende Frage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vor allen Dingen der Kollege Wolfgang Schüssel hat
hierzu einen besonderen Beitrag geleistet. Herr Bundes-
kanzler, wir haben es doch selbst gehört: Es waren vor
allen Dingen Angehörige von konservativen Mehrheiten
– Ministerpräsidenten und Bundeskanzler –, die dieses
betrieben haben. Ich werde ihnen berichten: Die CDU/
CSU-Fraktion findet dieses lustig und meint tatsächlich,
man könnte darüber hinweggehen.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wir waren auf Seite 4! – Zuruf von der CDU/CSU: Seite 4, Absatz 2!)


– Es ist überhaupt nicht nötig, mir die Seite zu nennen;
ich weiß selbst, auf welcher Seite ich bin.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Es ist ja schön, dass Sie die Seiten mitgezählt haben. Ich
sehe, Sie sind mit Begeisterung dabei. Das Thema Eu-
ropa zu vermitteln, es ist gelungen: Wir können sehen,
dass Sie aufgewacht sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Europäische Rat hat sich weiter mit dringenden

außenpolitischen Fragen beschäftigt; das ist eine, wie ich
finde, immer wichtigere Dimension. Die Europäische
Union ist zunehmend gefordert, ein stärkeres außenpoli-
tisches Profil zu zeigen. Denken wir an das Jahr 2001
zurück, an die furchtbaren Attentate in New York: Da-
mals stellten wir fest, dass die Europäische Union zwar
mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-
politik begonnen hatte, eine eigene Außen- und Sicher-
heitspolitik zu entwickeln. Aber angesichts einer solchen
Krise wie den furchtbaren Verbrechen vom 11. Septem-
ber 2001 hat sich gezeigt, dass die Europäische Union
für die Frage von Krieg und Frieden nicht gebaut war.

Heute stellen wir fest, dass der europäische Beitrag
für die Beantwortung der offenen Fragen im Iran, im
Irak, im Nahen Osten und auf dem Balkan unverzichtbar
geworden ist. Dies gilt auch für Afrika und den Mittleren
Osten. Krisenbewältigung und Krisenprävention sind
dabei zwei der entscheidenden Aufgaben geworden.

Ohne substanzielle Fortschritte im Nahost-Friedens-
prozess sind alle anderen Konflikte in der Region unse-
res Erachtens – damit meine ich nicht nur die Bundesre-
gierung, sondern den gesamten Europäischen Rat – nicht
lösbar. Der Plan für den Rückzug aus Gaza und Teilen
der Westbank eröffnet eine Chance für einen Fortschritt
im Friedensprozess, die es zu nutzen gilt. Angesichts des
Todes von Präsident Arafat – die Bundesregierung hat
der palästinensischen Führung, der Familie und dem
ganzen palästinensischen Volk ihre Anteilnahme und ihr
Mitgefühl ausgedrückt – ist es aber wichtig, dass jetzt
kein Machtvakuum entsteht und dass es einen geordne-
ten Übergang auf die Nachfolger gibt. Dieser Plan für
den Rückzug aus Gaza und Teilen der Westbank eröffnet
nach Meinung des Europäischen Rats die Chance für
Fortschritte.

Die Positionen der EU und des Quartetts hierzu sind
klar: Der Abzug darf nicht in einer chaotischen Situation
enden; er muss vielmehr ein beispielhafter Schritt in






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

Richtung weiterer Fortschritte auf dem Weg zur Zwei-
Staaten-Lösung gemäß der Roadmap sein. Das ist von
entscheidender Bedeutung, weil wir – damit meine ich
wiederum den Europäischen Rat – der festen Überzeu-
gung sind, dass dieser alte, tragische Konflikt, dem auf
beiden Seiten so viele unschuldige Menschen zum Opfer
gefallen sind, nur durch eine Zwei-Staaten-Lösung, ge-
mäß der Israel und Palästina friedlich als Demokratien
Seite an Seite leben, aus der Welt geschaffen werden
kann. Nur so kann auf Dauer auch das Existenzrecht Is-
raels gesichert werden, an dem wir ein besonderes Inte-
resse haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn man dies so sieht, dann ist es allerdings ebenso
wichtig, die palästinensische Staatsfähigkeit herzustel-
len. Die palästinensischen Autonomiegebiete dürfen sich
nicht zu einem Failed State entwickeln, bevor sie über-
haupt die Chance haben, ein eigener Staat zu werden.
Deshalb sind Reformen der Sicherheits-, der Verwal-
tungs- und der Wirtschaftsstrukturen unbedingt erforder-
lich. Vor allem aber sind Wahlen unerlässlich. Nur sie
können der palästinensischen Regierung die notwendige
Legitimation verleihen, die sie als Verhandlungspartner
im Friedensprozess international benötigt.

Der Europäische Rat hat deshalb das vom Hohen Re-
präsentanten Solana vorgelegte Programm gebilligt. Es
sieht kurzfristig umsetzbare und breit gefächerte Maß-
nahmen zur Umsetzung der überfälligen Reformen und
die Unterstützung der Wahlen in den palästinensischen
Autonomiegebieten vor. Wichtig wird dabei zunächst
die Unterstützung der Kommunalwahlen sein, die für
den 23. Dezember 2004 vorgesehen sind. Durch den Tod
von Präsident Arafat kommt jetzt hinzu, dass gemäß der
Verfassung eine 60-Tage-Frist zu laufen beginnt. Auch
das muss bei diesen Überlegungen berücksichtigt wer-
den. Die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen
müssen im Einklang mit dem palästinensischen Grund-
gesetz erfolgen.

Auf dem Europäischen Rat bestand auch Einverneh-
men darüber, dass alle konkreten Maßnahmen der EU
die Aufnahme echter politischer Verhandlungen zwi-
schen der palästinensischen Führung und der Regierung
von Israel unterstützen müssen. Wir wollen, dass alle
konkreten Maßnahmen in diese breite politische Per-
spektive eingebettet werden. Zur Untermauerung einer
solchen Perspektive hat der Rat deshalb beschlossen,
dass Javier Solana in Kürze entsprechende Konsultatio-
nen mit den Parteien der internationalen Gemeinschaften
und vor allem mit den Mitgliedern des Quartetts durch-
führen wird.

Meine Damen und Herren, auch im Irak muss eine
politische Lösung gefunden werden. Deshalb haben die
Vorbereitungen und die Durchführung demokratischer
Wahlen bis zum Januar 2005 entsprechend der einschlä-
gigen Sicherheitsratsresolutionen eine große Bedeu-
tung, um dort landesweit eine demokratisch begründete
Legitimität herzustellen. Die Verbesserung der Sicher-
heitslage ist eine entscheidende Voraussetzung für den
erfolgreichen Übergang zu Demokratie und Wiederauf-
bau.

Der Europäische Rat hat die jüngsten Terroran-
schläge, Geiselnahmen und Morde an unschuldigen Zi-
vilisten im Irak erneut auf das Schärfste verurteilt. Wäh-
rend des Mittagessens beim Treffen mit dem irakischen
Ministerpräsidenten Alawi hat die Europäische Union
am Freitag zum Ausdruck gebracht, dass wir den Kurs in
Richtung der Wiederherstellung von Sicherheit, Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit, den das irakische Volk
eingeschlagen hat, unterstützen werden. Dabei wurden
konkrete Maßnahmen aus dem bereits laufenden umfas-
senden Hilfspaket der Union erörtert.

Diese Maßnahmen sind breit gefächert. Wir unterstüt-
zen die Wahlen und den Wiederaufbau mit insgesamt
mehr als 300 Millionen Euro für 2003 und 2004. Darauf
haben wir in einem bilateralen Treffen mit Präsident
Alawi deutlich hingewiesen. Bei diesem Treffen hat es
übrigens überhaupt keine Kritik von seiner Seite gege-
ben. Im Gegenteil: Das Treffen begann seitens Minister-
präsident Alawi mit Dankesworten für die bisher geleis-
tete Unterstützung und Hilfe, die Deutschland gegenüber
dem „neuen“ Irak erbracht hat, und der Bitte darum,
diese Unterstützung und Hilfe in Zukunft zu intensivie-
ren. Wir haben gegenüber Ministerpräsident Alawi klar
gemacht, dass sich Deutschland bilateral intensiv im
Irak, vor allen Dingen im Bereich des Wiederaufbaus
und der Sicherheit, engagiert. Wir haben für diese Maß-
nahmen einschließlich der humanitären Hilfe bisher rund
200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

Wir sind auf dem Treffen des Europäischen Rates
weiterhin übereingekommen, dass eine integrierte Poli-
zei-, Rechtsstaats- und Zivilverwaltungsmission einen
wertvollen Beitrag zum Wiederaufbau des Iraks leisten
könnte. Wir waren uns aber einig, dass für eine solche
Mission, die mit Verbindungselementen im Irak präsent
sein soll, erst alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sein
müssen; vorher kann keine konkrete Entscheidung ge-
troffen werden.

Auf dem Treffen des Europäischen Rates haben wir
einvernehmlich bekräftigt, dass der Ausbau der politi-
schen Beziehungen mit dem Iran für die Europäische
Union weiterhin prioritär ist. Unser politisches Ziel blei-
ben langfristig angelegte gute Beziehungen, die auch
eine wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit
umfassen. Entscheidende und unabdingbare Vorausset-
zung für den Ausbau dieser Beziehungen sind aber die
Herstellung von überprüfbarem Vertrauen in den friedli-
chen Charakter des iranischen Nuklearprogramms.
Nur die vollständige und anhaltende Suspendierung der
Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsaktivitäten
durch den Iran kann den Weg für ergebnisorientierte Ge-
spräche über eine langfristige Zusammenarbeit öffnen.

Der Europäische Rat hat deshalb nachdrücklich die
anhaltenden Bemühungen der EU-3 um eine Lösung der
Nuklearfrage noch vor Beginn der Sitzung des Gouver-
neursrats der Internationalen Atomenergie-Agentur am
25. November in Wien unterstützt. Es ist gelungen, in
den Gesprächen voranzukommen, aber ich kann noch
keinen Durchbruch vermelden. Der aktuelle Stand ist,






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Joseph Fischer

dass wir die Gespräche noch nicht wirklich abschließen
konnten.

Unsere Haltung ist zweifelsfrei klar: Wir wollen nicht
das souveräne Recht auf zivile Nutzung der Atomener-
gie infrage stellen, das jedem Land im Rahmen der ein-
gegangenen internationalen Verpflichtungen vertraglich
zusteht. Diese Entscheidungen sind national zu treffen.
Klar ist aber auch, dass eine militärische Nuklearisie-
rung des Irans zu einer gefährlichen Entwicklung in der
gesamten Region, die schon heute zu den gefährlichsten
Regionen gehört, führen würde. Deswegen engagieren
wir uns, hier eine Lösung herbeizuführen. Ich hätte mich
gefreut, Ihnen am heutigen Tag eine positive Nachricht
übermitteln zu können. Ich kann Ihnen aber weder etwas
Positives noch etwas Negatives mitteilen; denn der Pro-
zess ist noch nicht abgeschlossen. Allerdings muss ich
hinzufügen: Diese Gespräche auf der Ebene der hohen
Beamten sind alles andere als einfach gewesen.

Weiterhin hat sich der Europäische Rat mit der Situa-
tion in Darfur befasst. Wir hatten gestern beim Besuch
des Premierministers von Äthiopien Gelegenheit,
schwerpunktmäßig über die dramatische Situation in
Darfur zu sprechen. Die Lage im Westen des Sudans
bleibt weiter dramatisch. Mit großer Besorgnis haben
wir in den vergangenen Wochen die eingehenden Be-
richte über Angriffe auf die Zivilbevölkerung, anhal-
tende Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen sowie
Vertreibungen zur Kenntnis nehmen müssen.

Die sudanesische Regierung hat ihre gemachten Ver-
sprechungen – so der Bericht des Sonderbeauftragten der
Vereinten Nationen – bisher nicht eingehalten. Die Mili-
zen in der Region wurden entgegen der gemachten Zusa-
gen bislang nicht entwaffnet. Wir hoffen, dass die ge-
samtsudanesischen Friedensgespräche und vor allen
Dingen die Umsetzung zu einem positiven Ergebnis füh-
ren. Ermutigend ist die Unterzeichnung von Protokollen
zu humanitären und Sicherheitsfragen durch die sudane-
sische Regierung und die Rebellenorganisationen in
Darfur.

Es ist jetzt überaus wichtig, dass der politische Druck
vor allem auf die sudanesische Regierung, aber auch auf
die Rebellenorganisationen weiter aufrechterhalten wird.
Für ein solches politisches Zeichen haben wir uns auf
dem Europäischen Rat entschieden eingesetzt. Ich ver-
hehle nicht: Aufgrund unserer nationalen Position wären
wir gerne weitergegangen. Aber ich denke, dass das
Signal, das jetzt gesetzt wurde, ein wichtiges und be-
deutsames Signal in die richtige Richtung ist.

Die Achtung der Menschenrechte und die Verbesse-
rung der Sicherheitslage für die Bevölkerung in Darfur
bleibt unser zentrales Anliegen. Dahinter steht natürlich
die Frage einer drohenden Desintegration dieses großen
und für diesen Teil Afrikas und dessen Stabilität ent-
scheidenden Landes. Die humanitären Besorgnisse ste-
hen im Vordergrund, aber eine falsche Politik kann dazu
führen, dass es nicht zu einem neuen nationalen Konsens
kommt, sondern zu dessen Gegenteil und damit zu sehr
viel weiter gehenden, sehr viel schlimmeren humanitä-
ren Folgen. Deswegen bleibt die Bundesregierung mit
ihren Partnern in den Vereinten Nationen wie auch in der
Europäischen Union und der Afrikanischen Union enga-
giert.

Ich möchte nochmals unterstreichen, wie wichtig das
Engagement der Afrikanischen Union ist. Die Mittel,
die die Afrikanische Union hat, sind gering. Dort, wo
wir helfen können, sollten wir helfen. Wenn diese Hilfe
angefordert wird, sollten wir sie tatsächlich leisten; denn
es ist eine völlig neue Entwicklung in Afrika, dass
Afrika die Verantwortung für die Konfliktlösung, für die
Stabilisierung und für den Frieden auf dem eigenen Kon-
tinent übernimmt. Ich denke, das ist eine herausragende
Entwicklung, die aller Unterstützung seitens der Euro-
päer und auch unseres Landes wert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben deshalb beschlossen, dass die Afrikanische
Union durch uns materiell, finanziell, logistisch und per-
sonell unterstützt wird; denn letztendlich bleibt eine
politische Lösung notwendig, die wir mit unseren euro-
päischen Partnern, insbesondere auch im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen, weiter mit Nachdruck einfor-
dern.

Der Europäische Rat vom 4. und 5. November hat in
wichtigen europapolitischen Kernbereichen Neuerun-
gen oder Vorbereitungen für wichtige Entscheidungen,
die unmittelbar bevorstehen, gebracht. Es war vor allen
Dingen ein Rat, auf dem vorbereitet wurde, auf dem die
Arbeiten nur an wenigen Punkten abgeschlossen werden
konnten, ein Arbeitsrat, gleichwohl, wenn man sich die
parallele Entwicklung im Parlament und in der Kommis-
sion anschaut – das hatte Einfluss auf den Rat –, ein sehr
bedeutsamer. Es war ein Rat, in dem wichtige außenpoli-
tische Fragen zur Entscheidung anstanden.

Ich freue mich, dass es gelungen ist, nicht nur Kon-
sense zu erzielen, sondern zugleich wichtige Entschei-
dungen in außenpolitischen Bereichen zu treffen. Ich
erwähne etwa den Plan von Solana, der die Partner-
schaftsfähigkeit der palästinensischen Seite betrifft, die
eine Voraussetzung für eine positive Entwicklung im
Rahmen der Roadmap ist. Die Unterstützung des Euro-
päischen Rates im Hinblick auf die Initiative der EU-3
gemeinsam mit Javier Solana gegenüber Iran ist von
zentraler Bedeutung, auch wenn ich, wie gesagt, Ihnen
noch nicht von einem positiven Abschluss berichten
kann.

Dieser Rat und sein Erfolg sind nicht zuletzt der ge-
schickten Vorbereitung durch die niederländische Präsi-
dentschaft zu verdanken. Deswegen möchte ich ihren
Beitrag hier abschließend ganz besonders würdigen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1513800600

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1513800700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-

desaußenminister, Sie haben sich ein wenig betroffen ge-
zeigt, als wir kritisiert haben, dass Ihre Regierungserklä-
rung eine sehr bürokratische Pflichtübung gewesen ist.
Sie haben gesagt, bei früheren Regierungserklärungen
sei das auch so gewesen. Sie hätten gleich hinzufügen
sollen, wie Ihr Verhalten damals als Oppositionspolitiker
war.


(Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Spaß beiseite. Wenn es beim Europäischen Rat ein
Thema war, Europa zu kommunizieren, also Europa den
Menschen näher zu bringen, dann ist diese Form einer
bürokratischen Regierungserklärung, wo über alle we-
sentlichen Punkte hinweggeredet wird, ein Beispiel da-
für, wie man es nicht machen darf, wenn man die Men-
schen für Europa gewinnen will.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es macht auch keinen Sinn, so zu tun, als wäre alles
Friede, Freude, Eierkuchen und als gäbe es überhaupt
keine Probleme, und über alles hinweg zu reden.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist doch gerade über Probleme gesprochen worden!)


Ich nenne vorweg nur ein Beispiel. Sie sagen: Mit
dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi gab es
überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil. Ich frage
mich nur, warum dann der Bundeskanzler in seiner ihm
eigenen Art davon gesprochen hat, Herrn Alawi sei „ein
Lapsus sprachlicher Art“ unterlaufen. Irgendetwas ist ja
offensichtlich geschehen; es muss also doch ein Problem
gegeben haben.


(Dietmar Nietan [SPD]: Ein Problem sprachlicher Art!)


– Es muss jedenfalls eine Auseinandersetzung gegeben
haben, weil der irakische Ministerpräsident Kritik an der
Zuschauerhaltung Deutschlands und Frankreichs geäu-
ßert hat. Beim Problem Irak können wir aber keine Zu-
schauerhaltung gebrauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Diese Bundesregierung hat der Resolution des Weltsi-
cherheitsrats ausdrücklich zugestimmt, wonach diese
Übergangsregierung unterstützt werden muss. Man kann
deshalb nicht sagen, es habe überhaupt kein Problem ge-
geben. Schließlich hat sich Ministerpräsident Alawi
nicht bedankt, sondern die Haltung Deutschlands kriti-
siert. Offenbar wollen Sie über diese Kritik nicht reden,
sonst hätten Sie dazu in Ihrer Regierungserklärung etwas
gesagt.

Ich möchte noch auf einige Themen eingehen, die Sie
in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht erwähnt
haben, von denen ich aber hoffe, dass beim Europäi-
schen Rat vielleicht doch darüber geredet worden ist. Sie
haben natürlich über Darfur gesprochen – das ist richtig
und das unterstütze ich auch –, aber Sie haben kein Wort
über die Elfenbeinküste gesagt. Vor allen Dingen haben
Sie aber über die Vereinigten Staaten von Amerika und
über das Verhältnis zwischen Europa und den USA
gar nichts gesagt. In Amerika waren Präsidentschafts-
wahlen und es gibt eine allgemeine Debatte darüber, ob
jetzt die Chance besteht, in einer neuen Etappe und nach
vorne blickend die Schwierigkeiten im transatlantischen
Verhältnis, die nicht zuletzt durch die Politik dieser Bun-
desregierung in den letzten Jahren verursacht worden
sind, zu überwinden.


(Widerspruch bei der SPD)

Kein Wort darüber in der Regierungserklärung über den
Europäischen Rat. Meine Damen und Herren, das ist ein
Skandal. So kann man die transatlantischen Beziehun-
gen nicht verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich nenne als weiteres Beispiel die Lissabon-Strate-

gie. Sie haben es fertig gebracht, hier den Eindruck zu
erwecken, als würden im Zwischenbericht der Kom-
mission von Wim Kok die erreichten Fortschritte auch
noch gelobt. Damit wir uns nicht über Pressemeldungen
streiten müssen, habe ich die deutsche Übersetzung des
Berichts mitgebracht. Bereits im zweiten Absatz der Zu-
sammenfassung steht:

Denn in vielen Bereichen der Lissabon-Strategie
wurde es versäumt, die Reformen mit dem erforder-
lichen Nachdruck voranzutreiben. Dass die Umset-
zungsbilanz so enttäuschend ausfällt, hat verschie-
dene Gründe: eine überfrachtete Agenda, eine
mangelhafte Koordinierung, miteinander konfligie-
rende Prioritäten. Vor allem aber mangelt es an ei-
nem entschlossenen politischen Handeln.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Diese Aussagen im Kok-Bericht muss man einmal mit
Ihren Aussagen vergleichen. Das geht so nicht!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dietmar Nietan [SPD]: Wen meint er denn?)


– Ich will Ihnen genau sagen, wen er meint – das ist
nämlich das Entscheidende an dem Kok-Bericht –, und
das bringt mich gleich zum nächsten Punkt. Sie, Herr
Bundeskanzler, Herr Außenminister, müssen aufhören,
die Europäische Union als faule Ausrede für die Pro-
bleme in unserem Land zu nehmen, die durch Ihre fal-
sche Regierungspolitik nicht gelöst, sondern verschärft
werden. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist völliger Quatsch!)


Kok sagt ganz klar in seinem Zwischenbericht: Ent-
scheidend für den Erfolg der Lissabon-Strategie – von
dem bisher nicht die Rede sein kann; wir haben uns von
der Erreichung der Lissabon-Ziele in den ersten Jahren
weiter entfernt als angenähert – ist, dass die nationalen
Regierungen die Probleme lösen. Sie lösen sie aber
nicht, sondern Sie verursachen sie. Sie müssen dieses






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Schäuble

Land voranbringen durch eine bessere Politik oder Sie
müssen als Regierung Platz machen für eine bessere Po-
litik. Das ist der entscheidende Punkt und darüber kann
Europa nicht hinwegtäuschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil wir gerade bei dem Thema „faule Ausreden“

sind: Der Bundeskanzler beliebt ja inzwischen immer zu
sagen – auch bei der Debatte über die Lissabon-Strate-
gie –, das würden wir ja alles machen, aber leider haben
wir den europäischen Stabilitätspakt. Meine Damen und
Herren, die Ursache für die wirtschaftlichen und sozia-
len Probleme unseres Landes liegt nun wirklich nicht
darin, dass wir zu wenig Schulden machen. Wir beraten
in diesem Monat noch den Bundeshaushalt 2005 und den
Nachtragshaushalt 2004. Wir müssen das Verfassungs-
gericht anrufen, weil Sie alle Grenzen sowohl des eu-
ropäischen Stabilitätspakts wie auch des nationalen
Grundgesetzes überschreiten. Wir haben die höchste
Neuverschuldung in der Geschichte unseres Landes.
Und dann kommt diese Regierung und sagt, wenn wir
mehr Schulden machen könnten, hätten wir weniger Pro-
bleme. Nein, das Problem ist: Wir machen zu viele
Schulden und zu wenig Reformen und diese Regierung
kann es nicht. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen dürfen Sie Europa nicht als Ausrede benut-
zen, um die von Ihnen selbst gemachten Probleme zu er-
klären. Denn wenn wir die Ursachen der Probleme nicht
richtig analysieren, dann können sie nicht gelöst werden.
Darum geht es und darum bitte ich Sie.

Ich will noch etwas zu dem Haager Programm anmer-
ken. Wenn Sie schon eine Regierungserklärung zu die-
sem Thema abgeben, Herr Bundesaußenminister, dann
hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich auch zu der Frage
geäußert hätten, mit der die Regierung die Öffentlichkeit
in letzter Zeit mehr beschäftigt hat als alles andere, ins-
besondere zu der Reaktion der europäischen Partner auf
die Idee des Bundesinnenministers, in Afrika Auffang-
lager für Asylbewerber einzurichten. Darüber ist in
Den Haag gesprochen worden. Ich hätte gerne erfahren,
was die Partner dazu gesagt haben und ob es zutrifft,
dass unsere engen französischen Freunde diesen Vor-
schlag nachhaltig unterstützen oder ob sie eher dagegen
sind. Darüber sollte man nicht einfach hinweggehen.
Wer Europa kommunizieren will, muss darüber reden,
was in Europa Sache ist, statt so zu tun, als würde es um
Themen gehen, die das Zuhören nicht lohnen. Man ge-
winnt im Grunde den Eindruck, dass der vortragende
Außenminister schon Mühe hatte, seinen Text nur vorzu-
lesen.

Wenn wir schon über eine gemeinsame Zuwande-
rungspolitik reden, dann würde ich von der Regierung
gerne hören – demnächst wird sich auch ein Untersu-
chungsausschuss damit beschäftigen –, was es mit der in
den vergangenen Jahren immer wieder geäußerten Kritik
unserer EU-Partner auf sich hat, dass die Visapolitik
dieser Bundesregierung in der Verantwortung des Bun-
desaußenministers nicht die gemeinsamen konsulari-
schen Richtlinien des Schengen-Mechanismus einhält;
vielmehr stellt die Umkehr der Beweislast bei der Visa-
erteilung einen Verstoß dagegen dar. Dazu müssen Sie
Stellung nehmen. Damit würden Sie sich Ihrer Verant-
wortung stellen. Nur so kommen wir zu einer gemeinsa-
men Visapolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich noch etwas zu der Lage im Nahen

und Mittleren Osten ausführen. Bei diesem Thema be-
steht eine größere Übereinstimmung zwischen uns als in
anderen Fragen. Sie haben Ihr Mitgefühl gegenüber dem
palästinensischen Volk angesichts des Todes von Jassir
Arafat zum Ausdruck gebracht. Wir teilen das Mitge-
fühl. Das palästinensische Volk hat mit Jassir Arafat ei-
nen politischen Führer verloren, der ihm über eine lange
Zeit seine Identität vermittelt hat. Aber das Leben von
Arafat war zwischen den beiden Extremen Terrorismus
und Friedensnobelpreis zerrissen. Insofern ist sein Le-
ben, wie ich meine, fast ein Symbol für die zutiefst zer-
rissene Lage in diesem Teil der Welt. Im Grunde wün-
schen wir nicht nur dem palästinensischen Volk, dass es
nach Arafats Tod besser gelingt, die Zerrissenheit im
Sinne eines nachhaltigen Friedens zu überwinden. Dafür
sollten sich alle einsetzen. Diese Chance sollte genutzt
werden.

Dies würde übrigens notwendigerweise auch bedeu-
ten, dass man sich im Europäischen Rat mit der trans-
atlantischen Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten
von Amerika beschäftigt. Denn es wird den Europäern
nicht alleine gelingen, den Anstoß zu geben, um Israel
und den Palästinensern zu helfen, auf dem Weg des Frie-
densfahrplans voranzukommen; dies wird nur gelingen,
wenn Europa und Amerika gemeinsam tatkräftig die Ini-
tiative ergreifen. Ich rate sogar dazu, auch Russland stär-
ker zu beteiligen.

Ihre Iranpolitik unterstütze ich. Man sollte nicht
streiten, wenn dazu kein Anlass besteht. Ich hoffe viel-
mehr, dass Sie mit Ihrer Politik Erfolg haben. Aber ich
wiederhole an dieser Stelle: Ich halte es für sehr wichtig,
dass die Politik gegenüber dem Iran nicht nur zwischen
den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäi-
schen Union in engster Abstimmung, Geschlossenheit
und auch Entschlossenheit gestaltet wird. Der Iran muss
wissen, dass wir alles daransetzen werden, dass der Iran
keine Nuklearwaffen erhält. Ich rate auch dazu, Russ-
land stärker in diese Partnerschaft einzubeziehen. Die
Vereinigten Staaten von Amerika, Europa und Russland
zusammen haben die beste Chance, den Iran auf dem
Wege der Zusammenarbeit zu überzeugen, dass das Stre-
ben nach Nuklearwaffen auch nicht im wohlverstande-
nen Interesse des Iran liegt und dass die Welt gefährli-
cher würde, wenn der Iran über Atomwaffen verfügte.
Darauf müssen wir uns konzentrieren.

Was das Thema Irak anbetrifft – das hat mit der trans-
atlantischen Agenda zu tun, mit der sich der Europäische
Rat hoffentlich beschäftigt hat, auch wenn der Bundes-
außenminister in seiner Regierungserklärung kein Wort
darüber verloren hat –, so muss in den nächsten Jahren
die Chance genutzt werden, die schweren Beschädigun-
gen des transatlantischen Verhältnisses zwischen Euro-
päern und Amerikanern, die in den vergangenen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Schäuble

Jahren eingetreten sind, in der kommenden Amtszeit des
mit einer so eindrucksvollen Mehrheit wiedergewählten
Präsidenten Bush zu reparieren. Das liegt doch in unse-
rem gemeinsamen Interesse.

Es macht gar keinen Sinn, darüber zu diskutieren, wer
in der Vergangenheit welchen Fehler gemacht oder wer
mit welcher Mahnung Recht behalten hat. Wir haben im-
mer gesagt: Die Amerikaner können den Krieg vielleicht
alleine gewinnen, aber nicht für Frieden sorgen. Dies
bleibt richtig. Aber es liegt auch in unserem gemeinsa-
men Interesse, dass eine stabilere, friedlichere und nach-
haltigere Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten,
insbesondere im Verhältnis Israels zu Palästina, im Iran
und im Irak, möglich wird und dass Fortschritte in der
Frage betreffend die Verbreitung von Massenvernich-
tungswaffen erzielt werden. Der internationale Terroris-
mus, die zunehmende Verbreitung von Atomwaffen so-
wie das Konfliktpotenzial im Irak und im Iran – wo auch
immer – bedrohen nicht nur die Amerikaner, sondern
auch uns. Deswegen müssen wir für eine stärkere Ge-
schlossenheit in den Beziehungen zwischen Amerika
und Europa sorgen.

Wenn der Europäische Rat in der vergangenen Woche
eine Aufgabe hatte, dann war es die, vertrauensvoll da-
rüber zu beraten, wie wir in Zukunft das, was in den ver-
gangenen Jahren nicht gut gelungen ist, besser machen
können; denn nur transatlantische Gemeinsamkeit garan-
tiert unsere Sicherheit und kann die Welt insgesamt sta-
biler machen. Dass Sie dazu kein Wort in Ihrer Regie-
rungserklärung gesagt haben, ist für mich ein
unfassbares Versäumnis. Das zeigt, dass Sie offenbar
nicht die Fähigkeit haben, sich der Lösung der Probleme
zu stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte ein einfaches, konkretes Beispiel nennen.

In einer Resolution des Weltsicherheitsrates ist beschlos-
sen worden, die irakische Übergangsregierung bis zu
den Wahlen zu unterstützen und nach den Wahlen dem
frei gewählten Parlament zu helfen, das Land zu stabili-
sieren. Der Weltsicherheitsrat hat in diesem Zusammen-
hang die Mitgliedstaaten aufgefordert, für den notwendi-
gen Schutz und insbesondere für eine militärische
Absicherung zu sorgen.

Herr Fischer, ich habe mit Ihrem neu ernannten unga-
rischen Kollegen am Tag seiner Amtseinführung in der
vergangenen Woche über das Problem gesprochen, dass
Ungarn – nach der bisherigen Beschlusslage – zum Jah-
resende seine Soldaten aus dem Irak zurückziehen will.
In Polen ist die Situation ähnlich. Ich habe den ungari-
schen Außenminister gefragt, ob es angesichts der Tatsa-
che, dass im Januar kommenden Jahres Wahlen im Irak
anstehen und dass wir alle ein Interesse daran haben
– auch in den Vereinigten Staaten von Amerika findet
eine entsprechende Überprüfung statt –, die Tendenzen
in der amerikanischen Politik hin zu mehr multilateralen
Entscheidungen zu stärken, klug sei, wenn sich weitere
europäische Truppensteller aus dem Irak zurückzögen.
Er hat mich – so höflich können manche Außenminister
sein – daraufhin gefragt, ob ich glaubte, dass deutsche
Vertreter besonders legitimiert seien, eine solche Frage
zu stellen.

Ich habe gedacht, dass vielleicht unsere Staats- und
Regierungschefs auf dem Europäischen Rat am
4./5. November dieses Jahres über die Fragen betreffend
einer europäischen Solidarität, für die Ungarn mit sei-
nem Engagement im Irak steht, reden werden. Herr
Fischer, ich hätte gerne etwas von Ihnen dazu gehört;
denn wenn wir multilaterale Entscheidungen wollen,
müssen wir multilaterale Entscheidungen auch gemein-
sam vollziehen.

Die NATO hat beschlossen, die irakischen Streitkräfte
im Rahmen einer von ihr geführten Mission auszubilden,
damit sie die Sicherheit im eigenen Land gewährleisten
können. Das ist auch unstreitig. Deutschland leistet sei-
nen Beitrag durch die Ausbildung in den Vereinigten
Arabischen Emiraten. Das will ich gar nicht kritisieren.
Diese Woche war der Oberbefehlshaber der NATO vom
Kommando in Norfolk, Admiral Giambastiani, in Berlin
zu Besuch. Er hat nicht nur mir, sondern auch Kollegen
von den Koalitionsfraktionen gesagt, dass in den Kom-
mandos in Norfolk und in Stavanger – dort geht es um
die Transformation der NATO – die meisten Offiziere,
die für die Tätigkeit in integrierten NATO-Stäben ausge-
bildet würden, nach den Amerikanern Deutsche seien;
aber es stoße auf große Probleme, wenn in konkreten
Entscheidungssituationen, beispielsweise während der
Ausbildungsmission der NATO im Irak, die deutschen
Offiziere aus den integrierten Stäben zurückgezogen
würden.

So werden wir multilaterale Entscheidungstendenzen
nicht verstärken. Das ist deutscher Unilateralismus. Er
ist nicht besser als der Unilateralismus anderer und er
muss aufgegeben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn wir multilaterale Strukturen, wenn wir die atlanti-
sche Partnerschaft wollen, dann müssen wir verlässliche
Partner sein, dann müssen wir integrierte Strukturen
stärken und dann dürfen wir nicht das Gegenteil machen,
weil wir sonst nicht vorankommen, sondern weiter zu-
rückfallen werden.


(Zuruf des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


– Ja, ich kenne dieses Thema.
Der Bundesaußenminister beschreibt die Bedrohun-

gen in dieser Welt gelegentlich richtig: internationaler
Terrorismus, „failing states“, und zwar nicht nur im Na-
hen und Mittleren Osten. Vor einiger Zeit war Kaschmir
das allergrößte Problem. Es gibt ohne Ende Gefahren.
Ich erinnere an die Spaltung auf dem afrikanischen Kon-
tinent. Man hätte auch etwas zur Elfenbeinküste und zu
all dem, was sonst noch entsetzlich ist, sagen können.
Die Beobachtungsliste der Vereinten Nationen zeigt,
dass die Situation im Osten des Kongo noch schlimmer
als die Lage in Darfur ist. Das ist aber nicht so, weil sich
in Darfur etwas verbessert hat, sondern weil die Situa-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Schäuble

tion im Osten des Kongo noch katastrophaler geworden
ist.

Wenn wir diesen und anderen Bedrohungen wehren
wollen, dann müssen wir uns klar machen, dass dies nur
durch atlantische Solidarität und durch eine Stärkung der
Gemeinsamkeit der zivilisierten Welt möglich ist. Wenn
wir uns noch nicht einmal an integrierten Stäben beteili-
gen, dann stärken wir diese Tendenzen nicht, sondern
schwächen sie. Wenn wir nicht in diesem Sinne europäi-
sche Politik machen, dann werden wir eine Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht erreichen.
Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik Europas nicht erreichen, dann werden wir die
Menschen nicht davon überzeugen, dass dieses Europa
im Interesse unserer eigenen nationalen Zukunft notwen-
dig ist; schließlich können wir unsere Sicherheit nur ge-
meinsam gewährleisten. Dann muss sie aber auch ge-
meinsam gewährleistet werden. Das alles hat mit der
Integration zu tun. Entscheidend sind dabei nicht die
großen abstrakten Phrasen, sondern die konkreten Ent-
scheidungen.

Man sollte sagen: Lasst uns die Streitigkeiten der Ver-
gangenheit vergessen und lasst uns nach vorne blicken!


(Dietmar Nietan [SPD]: Dann sagen Sie doch einmal konkret, was Sie wollen!)


– Ich habe es doch gerade gesagt: Wir dürfen uns nicht
aus integrierten Stäben zurückziehen. Das wäre ein ers-
ter konkreter Schritt.


(Dietmar Nietan [SPD]: Dürftig!)

Wenn wir uns selbst aus integrierten Stäben zurückzie-
hen, dann signalisieren wir: Wir setzen nicht auf Partner-
schaft. Dadurch wird in Washington die Tendenz ver-
stärkt, zu sagen: Am Ende müssen wir es doch wieder
allein oder mit einer „coalition of the willing“ machen
und eben nicht mit Bündnissen, da sie wegen der euro-
päischen Partner nicht verlässlich sind. Das ist das Pro-
blem. Man kann es konkret oder allgemein darstellen.
Wichtig ist, dass dort, wo Entscheidungen anstehen, ent-
schieden wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht um Folgendes: Europa ist doch – das steht im

Gegensatz zu der Routine, mit der diese Regierungs-
erklärung vorgetragen wurde – in einer wirklich schwie-
rigen, entscheidenden und auch kritischen Phase. Europa
ist voller Chancen, aber auch voller Schwierigkeiten und
Widerstände. Machen Sie sich weniger Sorgen über die
Ratifizierung des Verfassungsvertrages! Die Zustim-
mung der Bevölkerung zur europäischen Politik zu
erlangen ist sehr viel schwieriger. Diese Zustimmung ist
aber entscheidend. Wir können Europa nicht als ein arti-
fizielles, bürokratisches Gebilde bauen; vielmehr müs-
sen wir die Menschen in Deutschland, in Frankreich, in
Polen und in allen Teilen Europas davon überzeugen,
dass dieses Europa die politische Einheit ist, der wir un-
ser Schicksal anvertrauen. Daher müssen wir – in einer
schwierigen Phase – eine glaubwürdige Politik machen,
die über die Probleme der Menschen nicht hinweggeht.
Auch der Verfassungsvertrag ist in vielen Bereichen
zu kompliziert, als dass man ihn wirklich kommunizie-
ren kann. Die Erweiterung der Europäischen Union ist in
Bezug auf ihre politische Dimension noch lange nicht
wirklich so konsolidiert, dass sie von den Menschen ak-
zeptiert wird. Ständig über die nächsten Schritte zu re-
den, ohne auf die wirklich ernsthaften Besorgnisse, Ge-
fühle, Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen
einzugehen, gefährdet das europäische Projekt. Wenn
man dann noch nicht einmal darüber redet, wie man
Europa zu unser aller Garanten für Sicherheit, Frieden
und Freiheit in der atlantischen Partnerschaft entwickeln
kann, dann wird man den großen, kritischen Zuspitzun-
gen in der europäischen Politik nicht gerecht.

Europa ist in einer kritischen Phase: Erweiterung,
Vertiefung; die Institutionen müssen ihre Rolle finden.
Darin bestand der Konflikt zwischen Kommission und
Parlament. Dieser Konflikt, der vielfältige Facetten hat,
ist noch nicht ausgetragen. Die Ablehnung der Kom-
mission durch das Europäische Parlament war übri-
gens eine Niederlage der Regierungen wie der Kommis-
sion; schließlich hat der Rat die Zusammensetzung der
Kommission ausdrücklich gebilligt. Der Bundeskanzler
hat sich für die Zustimmung des Europäischen Parla-
ments zur Kommission eingesetzt. Es handelte sich also
nicht nur um ein Problem der Kommission, sondern
auch um ein Problem der Regierungen der Mitgliedstaa-
ten. Wir wollen hoffen, dass es jetzt gut geht.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Und es handelte sich um ein Problem der EVP-Fraktion!)


– Die haben dafür gestimmt. Dagegen gestimmt haben
die wortbrüchigen Sozialdemokraten, obwohl der Bun-
deskanzler auf sie eingewirkt hat, sowie Grüne und
Liberale. Aber lassen wir das. – Das zeigt, dass die Insti-
tution ihr Selbstverständnis noch nicht hinreichend ge-
funden hat. Es muss aber gefunden werden.

Eine Bemerkung ist mir noch wichtig. Wenn wir die
Menschen davon überzeugen wollen, dass Europa im In-
teresse unserer Zukunft und unserer Sicherheit von ent-
scheidender Bedeutung ist, dann brauchen wir eine inte-
grierte Politik.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Man muss gelegentlich daran erinnern, dass es schon in
der Präambel des Grundgesetzes heißt: „als gleichbe-
rechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden
der Welt zu dienen“.

Weil dies so ist: Hören Sie auf, Außenpolitik auf na-
tionalen Sonderwegen zu machen! Setzen Sie auf ver-
lässliche europäische Zusammenarbeit, nicht auf Domi-
nanz von Achsen, sondern auf Gemeinsamkeit aller in
Europa, und setzen Sie auf verlässliche atlantische Part-
nerschaft! Das und nicht nationale Sonderwege und Re-
nationalisierung von Außenpolitik ist der Weg in eine
bessere Zukunft.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513800800

Das Wort hat nun die Kollegin Angelica Schwall-

Düren für die SPD-Fraktion.


Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1513800900

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen
auch vonseiten der SPD-Fraktion dem palästinen-
sischen Volk unsere Solidarität ausdrücken; denn es hat
mit dem Tod von Jassir Arafat eine Person verloren, die
in der Tat die Verkörperung der palästinensischen Identi-
tät bedeutet. Wir hoffen und erwarten, dass die palästi-
nensischen Führungskräfte nun ihrer Verantwortung ge-
recht werden und dem Frieden den Weg ebnen. Alle
Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstützen
diesen Weg über die Umsetzung der Roadmap. Sie un-
terstützen die Zwei-Staaten-Lösung. Sie unterstützen die
Durchführung demokratischer Wahlen.

Der Frieden im Nahen und Mittleren Osten ist das
Wichtigste, was wir in der kommenden Zeit erreichen
müssen. Das gilt genauso für den Irak mit der Wieder-
herstellung einer friedlichen Gesellschaft und mit dem
Ende der Gewalt. Auch hierbei ist die Europäische
Union gefordert und hat auf dem Europäischen Rat ihre
Unterstützung zugesagt; mein Kollege Dietmar Nietan
wird näher darauf eingehen.

Das Haager Programm, das den Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts fünf Jahre nach den Be-
schlüssen von Tampere neu anpackt, wird auch ein Pro-
gramm sein, das den Menschen Europa stärker vermit-
telt; denn wenn sich die Menschen sicher fühlen und
wenn die Menschen demokratische Beteiligung erleben,
dann werden sie sich mit diesem Europa identifizieren.
Deswegen freue auch ich mich darüber, dass am
29. Oktober von den Staats- und Regierungschefs der
Verfassungsvertrag unterzeichnet worden ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich freue mich auch darüber, dass wir nun gute Aus-
sichten dafür haben, dass die neu zusammengestellte
Kommission ihre Arbeit beginnen kann; denn, wie wir
schon in der Regierungserklärung gehört haben, es liegt
ein großes Arbeitsprogramm vor uns.

Ich will heute hier vor allem auf die Lissabon-Strate-
gie eingehen; denn sie ist eine Strategie für mehr
Wachstum und mehr Beschäftigung. Das ist das, was
die Menschen unmittelbar spüren, was sie unmittelbar
erwarten. In den Monaten nach dem Jahr 2000, als die
Lissabon-Strategie entwickelt worden ist, ist man von ei-
nem sehr optimistischen Klima ausgegangen, und zwar
im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Bereich
der New Economy. Jetzt ist es Zeit, eine Zwischenbilanz
zu ziehen. Im Hinblick auf den Frühjahrsgipfel wird es
hierzu umfangreiche Debatten geben. Es ist jetzt schon
klar, dass es eine Neuausrichtung und Neufokussierung
dieser Strategie geben muss; denn man kann heute nicht
umhin, festzustellen, dass sich die Umstände durch die
sich rasch verschlechternde weltwirtschaftliche Situation
aufgrund einer Reihe von externen Schocks – dem Plat-
zen der spekulativen Blase an der Börse, den Terroran-
schlägen am 11. September, dem Irakkrieg, den steigen-
den Weltmarktpreisen für Öl und andere Rohstoffe – in
der Tat sehr negativ entwickelt haben. Dies hat natürlich
auch Auswirkungen auf Deutschland gehabt: Wir haben
eine dreijährige Phase wirtschaftlicher Stagnation er-
lebt.

Dennoch, Herr Schäuble, hat Europa in diesem
schwierigen Umfeld eine Reihe richtungweisender
Reformen auf den Weg gebracht, vor allem bei der Ge-
staltung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes
und bei der Integration der Energie-, Finanz- und Kapi-
talmärkte. Die gemeinsame Währung konnte erfolgreich
eingeführt und ihre Stabilität auch in schwierigen Zeiten
gewährleistet werden. Aber auch in Deutschland sind
wir dank der Politik der Bundesregierung und der sie tra-
genden Fraktionen ein gutes Stück vorangekommen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
glaube, in diesem Bereich müssen wir uns den Schuh Ih-
rer Kritik nicht anziehen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und zwar aus zweierlei Gründen:
Zunächst einmal möchte ich angesichts Ihrer Klage,

dass im Rahmen der Lissabon-Strategie nicht ausrei-
chend Reformen durchgeführt worden sind, in Erinne-
rung rufen, in welch starkem Ausmaß Sie selbst dafür
die Verantwortung tragen. Sie wissen doch ganz genau,
dass mithilfe des Bundesrates eine ganze Reihe unserer
Reformvorschläge ausgebremst, abgeblockt und gede-
ckelt wurden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Unfug war!)


Das müssen Sie sich anrechnen lassen.
Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen: Herr

Schäuble hat heute kein Wort dazu gesagt, geschweige
denn eigene Vorstellungen entwickelt, was im Rahmen
dieser Lissabon-Strategie getan werden sollte. Er hat
darauf verwiesen, dass hierfür die nationale Ebene ver-
antwortlich ist. Das ist richtig. In Ihrem Leitantrag für
den Bundesparteitag im Dezember in Düsseldorf können
wir aber kein Konzept für mehr Wachstum und Beschäf-
tigung erkennen. Das Fehlen von Vorschlägen ist auf die
vielen ungeklärten Widersprüche innerhalb der CDU
und erst recht zwischen CDU und CSU zurückzuführen.
Warum haben Sie denn beispielsweise das entscheidende
Kapitel Finanzpolitik ausgeklammert? Doch nicht nur,
weil Ihnen der Kollege Merz abhanden gekommen ist,
sondern auch, weil Ihre Vorschläge für mehr – –


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Melde mich! Bin hier! Sitze direkt vor Ihnen, gnädige Frau!)


– Sie, Herr Merz, sind insofern abhanden gekommen, als
Sie die wichtige Funktion des Stellvertreters nicht mehr
bekleiden, nachdem Ihre Positionen mit anderen nicht in
Übereinstimmung zu bringen waren.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angelica Schwall-Düren

Glauben Sie allen Ernstes, dass die Menschen drau-

ßen nicht merken, dass Sie weniger Sozialstaat und we-
niger Rechte für Arbeitnehmer wollen? Sie wollen die
Tarifautonomie einschränken. Sie wollen de facto
Lohnsenkungen. Sie wollen den Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit abschaffen. Sie wollen eine längere Wo-
chenarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Sie wollen die Mit-
tel für die aktive Arbeitsmarktpolitik kürzen.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Schließlich sind Sie gegen die Angleichung der Löhne
im Osten an die des Westens und fordern die Kopfpau-
schale in der Krankenversicherung. Wollen Sie uns heute
weismachen, dass Sie in der Gesundheitspolitik tatsäch-
lich mehr als einen Formelkompromiss zustande brin-
gen?


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr faul!)

Wir fordern Sie auf: Erläutern Sie uns, wie mit sin-

kenden Arbeitnehmereinkommen die Binnenkonjunktur
in Schwung kommen soll. Legen Sie einen Vorschlag
vor, auf welche Weise Ihr Bauchladen von Ideen finan-
ziert werden kann. Es ist völlig unklar, wie Sie mehr Bil-
dung und mehr Forschung, den Sozialausgleich bei der
Kopfpauschale, die staatliche Subventionierung von
Niedriglöhnen und die merzsche Steuerreform finanzie-
ren wollen. Erklären Sie, warum Sie hier im Bundestag
unseren Vorschlag, die Eigenheimzulage abzuschaffen,
ablehnen. Wir wollten die frei werdenden Mittel in Bil-
dung und Forschung investieren, eines der ganz wichti-
gen Schwerpunktfelder der Lissabon-Strategie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Vorgehen leuchtet den Menschen generationen-
übergreifend ein, während Sie Klientelpolitik betreiben,
verantwortungslos handeln, die Menschen verunsichern
und unseren Standort schlechtreden.

Kehren wir zu dem zurück, was in der Bundesrepu-
blik tatsächlich schon erreicht worden ist. Der Kok-
Bericht gibt in fünf wichtigen Feldern Hinweise. Das
sind die Wissensgesellschaft, der Binnenmarkt, das
Wirtschaftsklima, der Arbeitsmarkt und die ökologische
Nachhaltigkeit. Ich will diese Felder der Reihe nach be-
trachten.

In Bezug auf die Wissensgesellschaft stellen wir fest,
dass wir die Zukunft nur gewinnen können, wenn wir die
Massenökonomie zugunsten einer Wissensökonomie
überwinden, wenn wir mit neuen Produkten, neuen Pro-
duktionsmethoden und Innovationen reagieren und Qua-
lität produzieren. Dafür brauchen wir Menschen, brau-
chen wir Investitionen in die Köpfe. Diese Investitionen
hat die Bundesregierung getätigt. Seit 1998 haben wir
die Mittel für Forschung und Technologieentwicklung
um 36,7 Prozent erhöht. Während der Kohl-Regierung
ist von 1992 bis 1998 aus diesem Zukunftsfeld eine
Summe von weit über 600 Millionen verschwunden.
Herr Rüttgers lässt grüßen, sage ich. Wo sind hier die
Zukunftsperspektiven?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen aus
der Opposition, die Wissensgesellschaft braucht Bildung
von Anfang an. Das bedeutet auch Investitionen in die
Kleinen, in die Kinder. Hier hat die Bundesregierung mit
ihrem Programm für die Betreuung der unter 3-Jährigen
und mit ihrem Ganztagsschulprogramm einen ganz
wichtigen Anstoß gegeben. Wir warten darauf, dass die
Länder in ihrer Bildungsverantwortung, die sie gerade
im Rahmen der Föderalismuskommission sehr hoch hal-
ten, in diesem Bereich nun ebenfalls entscheidend inves-
tieren.

Ich komme zum nächsten Punkt: Der Binnenmarkt
braucht im Bereich der Dienstleistungen noch eine
Vereinheitlichung, eine konkrete Dynamisierung. Die
Bundesregierung reagiert mit ihrem Vorschlag sehr
differenziert auf die Belange und die Chancen des Bin-
nenmarktes. Ich möchte an dieser Stelle nur auf den
Dienstleistungsbereich eingehen; denn sein Wachstums-
potenzial zu entwickeln ist eine ganz entscheidende Zu-
kunftsinvestition. Wir müssen dabei aber auch die be-
rechtigten Schutzbelange der Mitgliedstaaten und die
Auswirkungen auf die Beschäftigung berücksichtigen.
Die Dienstleistungsrichtlinie bedarf eines intensiven Be-
ratungsprozesses, damit Wege gefunden werden, die auf
dem Dienstleistungsmarkt Wachstumsimpulse setzen,
ohne Sozial-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards aufzu-
geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind uns bewusst, dass dieses Vorhaben eines der
wichtigsten und umfangreichsten der kommenden Zeit
sein wird. Deshalb wird meine Fraktion die Gesetzge-
bungsarbeit sorgfältig begleiten. Gerade hier gilt, dass
die Folgenabschätzung europäischer Gesetzgebungsvor-
haben auch mit Blick auf die Beschäftigung verbessert
werden muss.

In diesem Feld ist die Frage des Wirtschaftsklimas
wichtig. Wir brauchen ein wirtschaftsgünstiges, ein
gründungsfreundliches und unternehmensfreundliches
Umfeld. Hier kann uns der Abbau von bürokratischen
Hemmnissen in der Tat sehr voranbringen. Deshalb ist
auch hier die Initiative der Bundesregierung zu begrü-
ßen.

Wir haben Reformen am Arbeitsmarkt angepackt,
sie sind beschlossen. Nun geht es darum, diese Refor-
men konsistent umzusetzen. Dazu müssen alle Ebenen
beitragen: Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die
Agenturen für Arbeit und ihre Beschäftigten, ebenso die
Unternehmen und die Arbeitsuchenden selbst. Niemand
darf sich aus der Verantwortung stehlen.

Außerdem brauchen wir eine Strategie des lebenslan-
gen Lernens, die Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik
gleichermaßen in die Verantwortung nimmt. Nur die
Menschen, denen man die Möglichkeit bietet, sich wei-
ter zu qualifizieren, können ihre Zukunftschancen ver-
bessern und ihre Existenz auf Dauer eigenverantwortlich
sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Angelica Schwall-Düren

Nun zur ökologischen Nachhaltigkeit: Dabei geht es

insbesondere um die Verbreitung ökologischer Innovati-
onen, den Ausbau führender Positionen in der Ökoindus-
trie und die Implementierung von Politiken, die nachhal-
tige Produktivitätssteigerungen im Sinne einer größeren
Ökoeffizienz ermöglichen. Hier hat diese Bundesregie-
rung in den vergangenen Jahren schon sehr viel erreicht.
Der Außenminister hat bereits darauf hingewiesen, dass
wir gerade im Bereich der erneuerbaren Energien und
anderer Umwelttechnologien gut vorangekommen sind.
Bereits heute werden in diesem Bereich 120 000 Ar-
beitsplätze gesichert. Aber die neuerliche Ölkrise ver-
schärft die Herausforderungen an eine nachhaltige Res-
sourcenpolitik. Deshalb müssen wir uns auf den Weg zu
einer Politik weg vom Öl machen. Wir müssen im Be-
reich der Steigerung der Energie- und Materialproduk-
tivität weiter voranschreiten. Das wird dann auch in der
Zukunft Arbeitsplätze sichern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschland hat auf die eingetretenen und anstehen-
den Veränderungen mit einem Modernisierungs- und
Reformprogramm reagiert, das sich in die europäische
Reformagenda einfügt. Zur Bewältigung künftiger He-
rausforderungen sind allerdings weitere Anpassungen
unerlässlich. Zu deren Umsetzung bedarf es der Zusam-
menarbeit aller. Das unwürdige und für die Bürger und
Bürgerinnen nicht durchschaubare Schauspiel, dass über
den Bundesrat wichtige Reformarbeit blockiert und die
Verantwortlichkeiten verschleiert werden, darf nicht
fortgesetzt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insofern hoffe und erwarte ich, dass die Kommission zur
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Arbeits-
ergebnisse vorlegt, die die politische Handlungsfähigkeit
stärken und für mehr Durchschaubarkeit dergestalt sor-
gen, dass die Bürger und Bürgerinnen wissen, welche
politische Kraft welche Entscheidungen getroffen hat.
Dann wird es uns auch gelingen, die Menschen auf den
Weg der Veränderungen mitzunehmen.

Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Arbeitspro-
gramm nicht nur die Zukunft unseres Landes und die Zu-
kunft der Europäischen Union sichern, sondern dass wir
damit den Menschen Europa auch näher bringen, sodass
die Menschen verstehen, dass die gemeinsame Arbeit in
Europa dazu beiträgt, dass wir die Herausforderungen
der Zukunft im Wettbewerb des 21. Jahrhunderts ge-
meinsam bestehen. Deshalb fordere ich alle auf, auch Sie
von der Opposition, daran mitzuwirken.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513801000

Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion,

Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1513801100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn wir hier Debatten über internationale Po-
litik führen und dann eine solche Debattenkultur – ge-
fehlt hätte nur noch das Dosenpfand – über uns gezogen
wird, erinnert man sich daran, dass bei uns Problemlö-
sungen im Bereich des Zahnersatzes manchmal auch vor
der Lösung der Probleme auf dem Balkan gesucht wer-
den.


(Zuruf von der SPD: Das hat keiner verstanden!)


Das macht die ganze Art deutlich, wie wir uns den The-
men nähern:


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU])


Da war ein europäischer Gipfel. Nun müssen sich Gip-
felveranstaltungen – das ist richtig – manchmal routine-
mäßig mit vielen Vorlagen beschäftigen. Aber aufgrund
der Zeitumstände, in denen dieser europäische Gipfel
stattfand, hätte man mehr erwarten dürfen. Im Kommu-
niqué lese ich:

The European Council warmly congratulated Presi-
dent Bush on his re-election.

Ich hätte in dem Kommuniqué gerne etwas mehr gele-
sen, weil sich dieser europäische Gipfel, der nach der
Wahlentscheidung in Amerika getagt hat, doch da-
rüber klar sein muss, dass er sich nach den ganzen Diffe-
renzen, die diskutiert worden sind, jetzt überlegen muss,
ob nach dieser Entscheidung irgendein Teil des Seiles
wieder erfasst werden kann, um transatlantisch einiges
zu entspannen.


(Zuruf von der SPD: Hat Ihr Mitarbeiter zu wenig gelesen?)


Natürlich gratuliert man einem amerikanischen Präsi-
denten zur Wiederwahl. Aber danach muss eine Gipfel-
diskussion darüber stattfinden, wie jetzt das transatlanti-
sche Potenzial eingesetzt werden kann, um die weltweit
anstehenden Probleme zu lösen. Wenn darüber auf dem
Gipfel diskutiert worden ist, warum hat dann der Bun-
desaußenminister mit diesem Punkt nicht begonnen?
Denn weder die Fragen des Irak noch die des Iran noch
die Palästinas/Israels können gelöst werden, ohne dass
dieses geostrategische Potenzial gewinnbringend einge-
setzt wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu ist nichts gesagt worden. Das ist aber der Kern-
punkt.

Wenn sich im Nahen Osten, Herr Bundesaußenminis-
ter, das Thema Iran zu einem gewaltigen, problemati-
schen Thema schon entwickelt hat und wenn man es
nicht vorgreiflich mit allen Anstrengungen, die Sie si-
cher in Person und als Bundesregierung unternehmen,
lösen kann, was in der Region erneut zu einer sehr ner-
vösen Situation führen wird, dann wird die Lösung des
Problems ohne intensive, klare Gespräche mit den ame-
rikanischen Freunden nicht funktionieren. Die EU hat






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

viele Möglichkeiten. Sie kann diplomatische Anstren-
gungen unternehmen, sie hat ein Talent für Krisenprä-
vention und auch für die Nachsorge; das ist unbestritten.
Aber in diesem Fall würde ich mich nicht allein darauf
verlassen wollen, dass die geschickten bisherigen Bemü-
hungen der Europäischen Union – die ich begrüße, die
aber noch nicht zum durchschlagenden Erfolg geführt
haben – ohne die Vereinigten Staaten von Nordamerika
zu einem guten Ende kommen. Russland haben Sie be-
teiligt; das weiß ich. Aber jetzt sofort – wir haben kein
großes Zeitfenster – muss gemeinsam mit den Vereinig-
ten Staaten von Nordamerika der Prozess beginnen, im
internationalen Bereich etwas einzudämmen. Denn wir
stimmen Ihnen zu: Wir wollen nicht, dass sich dieses
Land zu einer Nuklearmacht entwickelt.

Präsident Arafat ist gestorben. Es ist von allen Fraktio-
nen – das tue ich auch für meine – die Anteilnahme ge-
genüber dem palästinensischen Volk zum Ausdruck ge-
bracht worden, bei allen Zwiespältigkeiten, die ein sol-
ches Leben verkörpert. Wenn man nun zu einem
europäischen Gipfel zusammentritt und tagt und weiß,
dass eines der wichtigsten Probleme im Nahen Osten
noch immer nicht gelöst ist, die das Image Amerikas, das
die Friedensfähigkeit dort nicht herstellt, so nachteilig
bestimmen, dann muss doch das Thema Israel/Paläs-
tina zu einem Hauptthema werden, und zwar gerade in
Verbindung mit der Wahlentscheidung in Nordamerika,
wo ein Präsident wiedergewählt worden ist, der sich jetzt
eigentlich die Zeit nehmen müsste, dieses Thema, das
wegen des Wahlkampfes praktisch liegen geblieben ist,
zuallererst anzugehen. Also hat man doch gute Gründe,
den amerikanischen Freunden von dieser Seite des At-
lantiks aus zu sagen: Gehen wir jetzt gemeinsam entwe-
der in die alte Roadmap oder mit dem israelischen
Ministerpräsidenten und dem Quartett in ein Gespräch
darüber, wie wir in dieser Situation wenigstens einiger-
maßen Friedensfähigkeit herstellen können: Wie können
wir stabile Institutionen in Palästina schaffen? Wie sieht
das Angebot der Europäischen Union aus? Wird das so
fortgesetzt, läuft das so weiter? Ist das ein spezieller
Aufgabenbereich für uns?


(Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer)

– Man mag das besprochen haben, Herr Bundesaußen-
minister. Es wäre besser gewesen, Sie hätten das hier
noch einmal konzeptionell vorgetragen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn Europa können Sie den Menschen nur näher brin-
gen, wenn Sie die Fähigkeit Europas, zur Lösung der
Probleme in der Welt etwas beizutragen, darstellen.

Europa hat zu wenig Gewicht. Bezüglich der Lissa-
bon-Strategie, die das Ziel verfolgt, dass wir 2010 die
Besten auf der Welt sind, wenn wir unsere eigenen Be-
schlüsse ernst nehmen, haben wir ja die Hälfte des We-
ges bereits zurückgelegt, denn das ist 2000 beschlossen
worden und jetzt haben wir fast 2005.
Die Bilanz sieht laut Kok-Bericht äußerst mager aus.
Herr Bundesaußenminister, man kann darüber streiten,
wie dieser sehr kritische Bericht von Wim Kok sprach-
lich interpretiert werden kann. Der noch amtierende Prä-
sident der EU-Kommission Prodi konnte diesem Bericht
nichts hinzufügen. Er hat vielmehr bedauert, dass sich
die Nationen in Europa überhaupt nicht an das gehalten
haben, was damals in Lissabon verabredet worden ist.

Es nützt eben nichts, dem Iran zu Leibe rücken oder
ein gewichtiges Wort bei anderen Konfliktherden der
Welt mitreden zu wollen, wenn man nicht eigenes Ge-
wicht auf die Waage bringt. Eigenes Gewicht auf die
Waage bringen heißt, dass die Repräsentanten der Euro-
päischen Union in internationalen Verhandlungen gar
nicht mit lauter Stimme sprechen müssen, weil die ande-
ren schon wissen, dass in diesem Kontinent ein gewalti-
ges Potenzial und eine gewaltige Kraft in Wissenschaft,
Politik, gesellschaftlicher Entwicklung, Forschung und
Innovationsdrang steckt.


(Beifall bei der FDP)

Das aber hat die Europäische Union bis heute nicht

zustande gebracht. Sie hat sich international kein Ge-
wicht gegeben. Selbst bei den Beschlüssen zur eigenen
Sicherheitspolitik ist erkennbar, dass sich 400 Millio-
nen Europäer im Kern immer noch auf 250 Millionen
Amerikaner verlassen. Dass wir mit Amerika angesichts
seiner Verteidigungsausgaben und seiner wirtschaftli-
chen Kraft nicht mithalten können, ist klar. Dass wir in
Europa aber so wenig aus unseren Chancen machen, das
hätte ich mir nach den Beschlüssen von Lissabon nicht
vorstellen können.

Das ist nichts, was auf Brüssel geschoben werden
könnte. Denn der Kern der Lissabon-Strategie ist die Er-
ledigung der eigenen Hausaufgaben in jedem Mitglieds-
land der Europäischen Union. Deutschland, eine der
größten Volkswirtschaften der Welt, trägt nur sehr wenig
dazu bei, dass die Europäische Union zu diesem Kraft-
paket wird und dieses Fähigkeitspotenzial entwickelt,
das wir uns alle wünschen.

Diese Defizite müssen nicht auf einem europäischen
Gipfel besprochen werden. Die eigenen Hausaufgaben
muss man selbst erledigen. Sie müssen sich aber fragen
lassen, wie Sie es begründen, dass das bevölkerungs-
reichste Land der Europäischen Union mit einer der
größten Volkswirtschaften der Welt bisher einen derart
dürftigen Beitrag zur Kraftentwicklung der Europäi-
schen Union nach dem Lissabon-Prozess geleistet hat.


(Günter Gloser [SPD]: Weil Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben!)


Wir bleiben weit hinter unseren Möglichkeiten zurück,
und zwar so weit, wie es in der Nachkriegsgeschichte
der Bundesrepublik noch nie der Fall gewesen ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man kann den Menschen Europa nur vermitteln,
wenn man ihnen klar macht, dass wir die Chance haben
– und das auch wollen –, Probleme aktiv zu lösen, und
dass wir Führung in internationalen Angelegenheiten
nach einem Wertekanon übernehmen wollen, der in un-
serer Verfassung enthalten ist. Man kann den Menschen
Europa auch nur dann vermitteln, wenn sie das Gefühl






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt

haben, dass sie etwas von Europa haben, dass ihre Frei-
heit gesichert wird und dass sie mehr wirtschaftliche
Chancen haben. All das wird gegenwärtig nicht in aus-
reichender Weise getan. Man sollte sich daher hinterher
nicht wundern, wenn gegrummelt wird und wenn sich
Gesellschaften nicht innovativ am europäischen Prozess
beteiligen. Diese Aufgabe obliegt uns; denn wir bilden
die politische Führung des Landes.

Herr Bundesaußenminister, Sie sollten zu einem solch
wichtigen Thema nicht noch einmal eine Regierungser-
klärung wie nach einem normalen europäischen Gipfel
abgeben, wenn Sie aus Europa etwas machen wollen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sehr gut!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513801200

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513801300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Dr. Gerhardt, der Europäische Rat zeich-
net sich durch einen komplexen Arbeitsprozess aus, in
dem viele Punkte behandelt werden. Aber Sie haben es
fertig gebracht, zu keinem dieser Punkte wirklich etwas
zu sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es war sicherlich ganz bewusst kein Gipfel, der sich mit
der US-Wahl oder mit der US-Politik befasst hat.

Ich will Ihr Stichwort aufgreifen, dass man Europa
den Menschen vermitteln muss. Dazu gehört für mich,
dass man wichtige und positive Entwicklungen in der
EU in den Vordergrund stellt. Dazu gehört ganz gewiss
die Unterzeichnung der EU-Verfassung durch die Re-
gierungschefs. Diese Verfassung bedeutet mehr Demo-
kratie, mehr Transparenz und die Stärkung des Europäi-
schen Parlaments. Die für alle Mitgliedsländer und alle
Bürgerinnen und Bürger der EU verbindliche Grund-
rechte-Charta versteht Europa nicht nur als Wirtschafts-
gemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft. Das
ist ein wichtiger Prozess.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört dann auch Butter bei die Fische, Herr
Dr. Schäuble. Mit Ihrer Polemik vermitteln Sie den euro-
päischen Prozess auch nicht besser. Dazu gehört viel-
mehr, die Ratifizierung der Verfassung in Deutschland
voranzutreiben, diesen Prozess gegen Instrumentalisie-
rungen von rechts oder auch durch eine Fraktion dieses
Bundestages zu verteidigen und diese Ratifizierung zu
einem Erfolg zu führen.

Zu den positiven Entwicklungen gehören auch die
demokratischen Prozesse um die Bildung der neuen
EU-Kommission. Der Europäische Rat hat die neue
Liste der designierten Mitglieder der Kommission ange-
nommen. In zwei Fällen wurde ein Kommissar ersetzt.
Auch in der Energiepolitik hat es einen Wechsel gege-
ben. Gerade bei dem hochaktuellen Thema der Energie
hoffen wir, bald in den Arbeitsprozess überzugehen. Ich
will darauf aufmerksam machen, dass sich die Bundesre-
gierung gemeinsam mit Österreich und Irland erfolg-
reich dafür eingesetzt hat, dass dem europäischen Ver-
fassungsvertrag eine Erklärung beigefügt ist, die besagt,
dass der Euratom-Vertrag im Rahmen einer so rasch wie
möglich einzuberufenden Regierungskonferenz auf den
Prüfstand zu stellen ist. Hierzu wird eine kluge, starke
und kompetente EU-Kommission benötigt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Man kann sich sicherlich die Frage stellen, ob nicht
eine umfassendere Umgestaltung der designierten Kom-
mission angemessen gewesen wäre. Nach der Auswer-
tung der Befragungen der Kommissare hätten wir uns in
einigen weiteren Fällen Veränderungen gewünscht. Aber
generell kann man sagen: Demokratie bringt Leben in
die Bude und führt zu mehr Aufmerksamkeit für die eu-
ropäische Politik. Insgesamt lässt sich der Prozess, nach
dem sich die neue Kommission letztlich zusammenset-
zen wird, mit Fug und Recht als Beleg für das Funktio-
nieren der europäischen Institutionen und als Beitrag zu
ihrer weiteren Stärkung werten.

Es zeigt sich übrigens auch, wie weise der Vorschlag
des Verfassungskonventes war. Er hatte nämlich vorge-
schlagen, aus jedem Mitgliedsland eine Liste von drei
Kandidaten vorzulegen – darunter mindestens eine
Frau –, aus der der Kommissionspräsident wählen kann.
Eine solche Liste hätte den Charme gehabt, dass natio-
nale Befindlichkeiten nicht so sehr getroffen würden,
wenn der eine oder andere Kommissar in die Kritik ge-
rät. Man kann hoffen, dass es in Zukunft doch noch eine
solche Veränderung geben wird.

Zur Lissabon-Strategie. Ich denke, das ist, wie die
Kollegin Schwall-Düren schon betont hat, ein Prozess,
der die Menschen in Europa sehr direkt bewegt. Dies ist
darum auch ein sehr wichtiger Prozess für Europa. Nun
geht es um die Halbzeitüberprüfung. Der Plan, die EU
bis 2010 durch eine ausgewogene Strategie, die eine
wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Dimension
umfasst, zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wurde natürlich
seinerzeit in der Hochphase der New Economy geboren.
Er war – das wissen wir nun alle – zu ehrgeizig. Die Be-
schäftigungsraten auf 70 Prozent zu erhöhen war das
Ziel.

Großen Worten – das muss man sagen – sind bisher
zu wenige Taten gefolgt. Das ist nicht nur wirtschaftspo-
litisch bedauerlich, sondern, auch was die Glaubwürdig-
keit der EU-Politik angeht, ein bedauernswürdiger Pro-
zess, weil wir keine Erwartungen und Ziele formulieren
dürfen, die hinterher nicht erfüllt werden können; das
wissen wir auch aus der nationalen Politik. Sonst wird,
wie es Wim Kok hinsichtlich der Halbzeitbilanz in Be-
zug auf die Lissabon-Strategie formuliert hat, die EU zu
einem Synonym für verfehlte Ziele und gebrochene Ver-
sprechen. Das darf nicht der Fall sein.






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Höfken

Es ist klarzustellen – das hat Herr Schäuble schon be-

tont –: Die negative öffentliche Meinung würde sich in
diesem Fall natürlich gegen die Mitgliedstaaten richten.
Festzustellen ist aber auch, dass die Schwierigkeiten, die
gesetzten Ziele zu erreichen, nicht die Ziele an sich, also
weder die Ziele im Hinblick auf die Beschäftigung noch
die Modernisierungsstrategie von Lissabon und Göte-
borg, falsch machen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


An der gesellschaftlichen Modernisierungsstrategie, die
auf dem Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Um-
welt beruht, gilt es festzuhalten.

Jetzt wird kritisiert, dass die Agenda durch vielfältige
Ziele überfrachtet wird. Insbesondere die umweltpoliti-
schen Ziele geraten in die Kritik. Als Antwort wird auch
im Kok-Bericht die Fokussierung auf das Ziel der Wett-
bewerbsfähigkeit formuliert. Damit kann allerdings
nicht die Industriepolitik der 60er-Jahre gemeint sein;
denn im Zeitalter der Globalisierung kann man das Ziel
der Wettbewerbsfähigkeit durch sie ganz gewiss nicht
erreichen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)

Europas Erfolg hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit und
Stabilität beruht auf der konzeptionellen Verbindung
von Sozialem, Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit. Ins-
besondere der Prozess von Kioto, der jetzt wieder ein-
setzt, wird dazu beitragen. Wir erwarten, dass die Euro-
päische Union, wie es auch der Minister formuliert hat,
unterstützt von der Bundesregierung das Zusammenwir-
ken von nachhaltiger Entwicklung und nachhaltigem
Wachstum zu einem Erfolg führen wird.

Eine letzte Bemerkung. Ich habe gesagt, dass die Mit-
gliedsländer in die Kritik zu nehmen sind. Aber ich will
auch ganz deutlich sagen: Es ist unerlässlich, dass wir
unsere Strukturreformen in Deutschland erfolgreich
umsetzen. Es ist von der Opposition unglaublich schein-
heilig, in öffentlichen Debatten eine Fundilinie zu fah-
ren, im Bundesrat den Subventionsabbau zu blockieren
und gleichzeitig nach dem Stabilitätspakt zu schreien.
Wir müssen unsere besagten Hausaufgaben gemeinsam
erledigen. Ich denke – die Kollegin hat das bereits ge-
sagt –, dass die Bundesrepublik nicht schlecht da steht,
weder bei der Mehrwert- noch bei der Einkommen- oder
der Körperschaftsteuer.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, ja! Von wegen!)


Sehr wichtig ist allerdings die Binnenmarktstrategie
der Bundesregierung. Dazu wurde ein Positionspapier
formuliert, in dem unter anderem deutlich gemacht
wurde, dass wir bei der Unternehmensbesteuerung eine
einheitliche Bemessungsgrundlage und die entsprechen-
den Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene brau-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513801400

Frau Höfken, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513801500

Ja. – Die Lissabon-Strategie wird dann ein Erfolg,

wenn die Mitgliedsländer der EU – so auch Deutsch-
land – erfolgreich sind. Unsere Verantwortung, auch die
der Opposition, besteht darin, die begonnenen Reformen
im Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt zu
guten Ergebnissen zu führen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513801600

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Wissmann,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID1513801700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Der Gipfel verlief den Zei-
tungen zufolge fast so wie die Rede des Bundesaußenmi-
nisters:


(Zuruf von der SPD: Ach nein!)

ohne Spannungen und ohne Höhepunkte.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist das denn mit Ihrer Rede?)


In Wahrheit führte dieser Gipfel aber zu einem der größ-
ten Fehlschläge beim Kernthema Lissabon-Strategie.

Welch ein Fehlschlag die Lissabon-Strategie gewesen
ist, wird nicht nur von uns christlichen Demokraten be-
schrieben. Das hat auch der Vertreter der SPD in der
Kok-Gruppe, Herr Mirow, getan, indem er gesagt hat:

Der wichtigere Aspekt ist, dass die Hausaufgaben
nicht gemacht worden sind.

Der noch amtierende Kommissionspräsident, Romano
Prodi, hat die Lissabon-Strategie in der „Financial
Times“ mit den Worten umschrieben: „Lissabon ist ein
großer Fehlschlag“. Wim Kok hat immer wieder gesagt:
Vor allem die fehlende Handlungsbereitschaft der natio-
nalen Regierungen ist Grund dafür, dass die Lissabon-
Strategie bis jetzt gescheitert ist.

Meine Damen und Herren, durch diese Aussagen
wird der Blick auf folgende Frage gelenkt: Was hat ei-
gentlich die Bundesregierung in den letzten vier Jahren
getan,


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Haben Sie mir nicht zugehört?)


damit das, was sie unterschrieben hat, auch umgesetzt
wird? Dass es anders gehen kann, dass man in einem eu-
ropäischen Land Wachstumsimpulse setzen kann und
dass man über einen langen Zeitraum Innovationen reali-
sieren kann, zeigt sich beim Vergleich zweier Länder.
Vergleichen Sie die Entwicklung in Großbritannien in






(A) (C)



(B) (D)


Matthias Wissmann

den letzten Jahren mit der in Deutschland: Das reale
Bruttoinlandsprodukt ist in den Jahren 2001 bis 2003 in
Deutschland um 0,9 Prozent, in Großbritannien um
6,2 Prozent gestiegen. Hätte Deutschland zwischen 2001
und 2003 das gleiche reale Wirtschaftswachstum er-
reicht wie Großbritannien, läge unser Bruttoinlandspro-
dukt heute um mehr als 100 Milliarden Euro höher. Herr
Bundesaußenminister, in den letzten zehn Jahren ist das
Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens Jahr für Jahr stär-
ker gewachsen als das Deutschlands. In den letzten zehn
Jahren ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien immer
weiter gesunken, auf jetzt unter 5 Prozent – Größenord-
nungen, wie wir sie vielleicht noch im mittleren Neckar-
raum erreichen. Was die meisten vergessen: Vor zehn
Jahren lag das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in
Großbritannien um 10 Prozent unter dem in Deutsch-
land. Heute liegt das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer
in Großbritannien im Schnitt um 10 Prozent über dem in
Deutschland. Das heißt, eine langfristig anhaltende, mu-
tige Innovationspolitik in Großbritannien – früher von
Konservativen, heute von Sozialdemokraten – führt ganz
offensichtlich genau zu den Ergebnissen, die mit der Lis-
sabon-Strategie beabsichtigt sind. Das gegenteilige Ver-
halten führt zu dem großen Fehlschlag, den wir leider in
Deutschland, Frankreich, Italien und anderen Ländern
der Europäischen Union zu verzeichnen haben. Ich
finde, das müssen wir zum Ausdruck bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wie reagiert der Bundeskanzler darauf? Der Bundes-
kanzler gibt im Anschluss an den Gipfel zu erkennen,
dass er überhaupt nichts davon hält, Ranglisten der re-
formfreudigsten EU-Mitglieder bezüglich der Lissabon-
Strategie einerseits und der reformlangsamsten anderer-
seits zu erstellen. Das ist ungefähr so, als würde ein Bun-
desliga-Fußballverein, der kurz vor dem Abstieg steht,
sagen: Bitte in Zukunft keine Tabelle mehr! Man könnte
ja merken, dass wir schlecht gespielt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Gegenteil ist richtig: Wir brauchen Wettbewerb.

Wir brauchen Tabellen, um zu erkennen, wo wir Schwä-
chen und wo wir Stärken haben. Betrachten wir zwei Bei-
spiele: erstens die Erwerbstätigenquote älterer Arbeit-
nehmer. In Deutschland sieht sich mancher schon mit 55,
56, 57 oder 58, früher als er will, aus dem Arbeitsmarkt
herausgedrängt. In der EU der 25 liegt die Erwerbstäti-
genquote älterer Arbeitnehmer bei 40,2 Prozent. In
Deutschland liegt sie bei 39,5 Prozent, in den USA bei
59,9 Prozent. Das Lissabon-Ziel liegt bei 50 Prozent.

Zweites Beispiel: die Forschungsausgaben im Ver-
hältnis zum Bruttosozialprodukt: 2003 betrug das Ver-
hältnis in Deutschland 2,5 Prozent, in den USA 2,8 Pro-
zent, in Japan 3 Prozent, in Schweden sogar 4,3 Prozent.
Es genügt nicht, sich darüber hinwegzutrösten, dass die
Ausgaben für einzelne Forschungsbereiche etwas gestie-
gen sind; das ist ein Irrtum. Wenn wir in Deutschland
nicht mehr in Forschung und Technologie investieren,
dann werden wir weiter zurückfallen. Wir haben die Ver-
dopplung der Forschungsausgaben nicht erreicht, die Sie
einst versprochen haben.
Die Expertengruppe der Europäischen Union mit
Herrn Mirow, einem sozialdemokratischen Mitglied,
nennt in ihrem Bericht dringend erforderliche Maßnah-
men, die auf europäischer Ebene, aber auch in den Mit-
gliedstaaten angegangen werden müssen. Ich nenne nur
einige wenige:

Erster Punkt: Forschung und Entwicklung müssen
absolute Priorität bekommen. Sind wir dieses Ziel in
Deutschland wirklich mit Nachdruck angegangen? Sie
haben Ihr Versprechen der Verdopplung der Ausgaben
für Forschung nicht eingehalten. Sie sagen jetzt, sie wä-
ren um 36 Prozent angestiegen. In Wahrheit war es we-
niger. Dabei müsste hier im Parlament doch eigentlich
Konsens darüber bestehen, dass wir alles machen dürfen,
außer bei der Blutzufuhr zum Kopf Deutschlands kür-
zen.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ich sage nur: Eigenheimzulage!)


Wir brauchen Wissenschaft und Forschung. Wir müssen
diese beiden Beispiel stärken und nicht auch noch dort
Mittel kürzen, wie wir es in den letzten Jahren leider er-
lebt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweiter Punkt: der Binnenmarkt. Der Binnenmarkt

für den freien Kapital- und Warenverkehr in Europa
muss vollendet werden. Auch der Binnenmarkt für
Dienstleistungen muss unverzüglich geschaffen werden.
Die schnelle Verabschiedung der Richtlinie der EU-
Kommission „Dienstleistungen im Binnenmarkt“ wäre
ein konsequenter Schritt zur Umsetzung der Forderun-
gen und Vorschläge der Kok-Gruppe. Was tun wir in
Deutschland dafür, den vollständigen Binnenmarkt her-
beizuführen? Ich finde, auch wir in Deutschland tun da-
für zu wenig.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513801800

Herr Kollege Wissmann, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kuhn?


Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID1513801900

Ja.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513802000

Bitte sehr, Herr Kuhn.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513802100

Herr Wissmann, Sie haben gerade gesagt, dass

Deutschland zu wenig für Forschung, Wissenschaft und
Ausbildung tut und dass deshalb die Lissabon-Ziele
nicht erreicht werden. Haben Sie die Haushaltsdiskussio-
nen in den letzten Wochen mitbekommen, in denen Rot-
Grün den Vorschlag gemacht hat, eine wesentliche Sub-
vention alter Strukturen, nämlich die Eigenheimzulage,
zu streichen und diese Mittel für Wissenschaft, For-
schung und Bildung auszugeben?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Er will sie doch gar nicht streichen, sondern sie für den Haushalt zur Verfügung stellen!)







(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn

Wie können Sie sich hier hinstellen und sagen, die

Bundesregierung würde diese Ziele nicht anstreben und
nicht erreichen wollen? Sie, die Union, blockieren dies
systematisch. Sie wollen das Alte subventionieren und
damit den Weg für das Neue nicht frei machen. Das, was
Sie hier von sich geben, finde ich extrem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID1513802200

Herr Kollege Kuhn, Sie erhalten von uns immer Un-

terstützung für eine intelligente Erhöhung der For-
schungs- und Technologieanstrengungen nicht nur auf
Bundes-, sondern auch auf Länderebene. Schauen Sie
sich einmal an, was Bayern und Baden-Württemberg tun
und vergleichen Sie das mit der Situation in sozialdemo-
kratisch regierten Ländern!


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern wird gestrichen, Herr Wissmann!)


Ich sage Ihnen aber: Wir werden auf gar keinen Fall
damit einverstanden sein, dass Mittel von einem Haus-
haltstitel zu einem anderen umgeschichtet werden, wäh-
rend sich gleichzeitig die Schulden erhöhen. Kürzen Sie
den konsumtiven Teil des Haushalts und stärken Sie den
Forschungsteil! Kürzen Sie die Subventionen – auch mit
uns –, aber tun Sie das intelligent!


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nehmen Sie beim Wort! – Zurufe und Lachen bei der SPD)


Greifen Sie nicht eine bestimmte Maßnahme heraus und
ersetzen Sie diese durch eine andere! Sie erhalten von
uns immer Unterstützung, wenn Sie den Gesamthaushalt
kürzen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von irgendwoher muss es kommen! Was heißt „Gesamthaushalt“? – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Helau! – Dietmar Nietan [SPD]: Das war eine Aussage vom 11. November!)


Eigenheimzulage gegen Forschung – was für ein
kleinkariertes Spiel!


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist nicht kleinkariert, sondern zukunftsorientiert! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kleinkarierte Milliarden!)


Durch die Streichung der Eigenheimzulage könnten Sie
die Forschungsausgaben nicht so erhöhen, wie es drin-
gend notwendig wäre. Kürzen Sie im konsumtiven Teil
des Haushalts!


(Dietmar Nietan [SPD]: Wo?)

Gehen Sie an die hohen Ausgaben der Bundesanstalt für
Arbeit!


(Jörg Vogelsänger [SPD]: Wo?)

Gehen Sie an die viel zu hohen Transferleistungen im
konsumtiven Bereich! Dann werden Sie unsere Unter-
stützung mit Sicherheit erhalten.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sagen Sie doch mal, wo gekürzt werden soll! Erzählen Sie mal ein bisschen! Wo wollen Sie kürzen? Beim Kindergeld?)


Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber ohne eine
Erhöhung unserer Forschungsausgaben werden wir im
weltweiten Wettbewerb nicht Schritt halten.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Außer Blasen nichts „gewasen“!)


Meine Damen und Herren, in dem Expertenbericht
der 13 wird vorgeschlagen, die Empfehlungen der euro-
päischen Task Force „Beschäftigung“ rasch umzusetzen,
das heißt unter anderem, Arbeitsmarktreformen durch-
zuführen. Wo sind Ihre Strategien für eine Erneuerung
des Arbeitsmarkts über die Agenda 2010 hinaus? Wo
sind Ihre Vorstellungen für eine langfristige Flexibilisie-
rung des Arbeitsmarktrechts? Wo sind Ihre Maßnahmen
zur Modernisierung des Jugendschutzes? Wo sind Ihre
Vorschläge zur Deregulierung von Ausbildungsverord-
nungen? Wo sind Ihre Vorstellungen, die langfristig zu
einer Erneuerung unserer verkrusteten Arbeitsmarkt-
strukturen führen?

Stattdessen hat sich der Bundeskanzler nach dem eu-
ropäischen Gipfel dazu verstiegen, den Eindruck zu er-
wecken, man müsse den Stabilitätspakt aufweichen, um
der Lissabon-Strategie doch noch zum Erfolg zu verhel-
fen. Dieses Argument ist meiner Ansicht nach schlicht-
weg falsch. Deutschland hat nicht Schwierigkeiten beim
wirtschaftlichen Wachstum, weil wir zu wenig Schulden
machen. Das Wachstum ist vielmehr wegen der schlech-
ten politischen Rahmenbedingungen und gerade auch
wegen der zu hohen Staatsschulden so gering.

Seit dem Jahr der Euro-Bargeldeinführung hat die rot-
grüne Bundesregierung die Kriterien von Maastricht be-
züglich der Neu- und der Gesamtverschuldung perma-
nent verletzt: 2002 betrug die Defizitquote 3,5 Prozent,
2003 waren es 3,9 Prozent und für 2004 erwarten wir
eine Quote von 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Wir verletzen ein weiteres Stabilitätskriterium. 2004
wird die Gesamtverschuldung Deutschlands 60 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts übersteigen und 66 Prozent
betragen. Damit verstoßen wir elementar gegen den Sta-
bilitätspakt. Wir verstoßen auch gegen das, was wir als
Bundestag einmal gemeinsam beschlossen haben. Vor
zwölf Jahren hat der Bundestag beschlossen – ich zitiere
wörtlich –, sich jedem Versuch zu widersetzen, die Sta-
bilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht verein-
bart worden sind.

Der potenzielle Nachahmungseffekt der stabilitäts-
widrigen Haltung Deutschlands in Sachen Defizitverfah-
ren darf nicht unterschätzt werden. Es wird der Eindruck
erweckt, Regeln zählten in Europa nicht, wenn es sich
um die Großen handelt, so wie damals, als Bundeskanz-
ler Schröder und Finanzminister Eichel mit der Brech-
stange einen blauen Brief aus Brüssel abgewendet






(A) (C)



(B) (D)


Matthias Wissmann

haben. Inzwischen berufen sich andere Nationen auf das
schlechte Beispiel Deutschlands. Deutschland hat ein-
mal den Stabilitätspakt herbeigeführt. Heute erwecken
der Bundeskanzler und die gesamte Bundesregierung
den Eindruck, als sei der Stabilitätspakt nichts mehr
wert. Sie verfolgen die falsche Strategie. Leider haben
Sie sich bis heute nicht zu einer Korrektur entschlossen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte ein anderes großes Thema des Gipfels an-

sprechen, das heute leider nur in wenigen Bemerkungen
thematisiert worden ist, nämlich das Verhältnis zwi-
schen Europa und den USA. Wir müssen jetzt, nach
der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten, auf eu-
ropäischer und amerikanischer Seite alle Anstrengungen
unternehmen, um Brücken zwischen Europa und Ame-
rika zu bauen. Es gibt Bereiche, in denen wir die Interes-
sen bündeln könnten. Wir müssen zum Beispiel neue Im-
pulse für eine Öffnung der Märkte setzen. Wir müssen
bis 2015 das Ziel verfolgen, einen gemeinsamen euro-
päisch-amerikanischen Handelsraum, eine Transatlantic
Free Trade Area, TAFTA, zu erreichen.

Zwischen den beiden Wirtschaftsräumen Europa und
Amerika ist bis heute – das wird auch in Zukunft so blei-
ben – der größte Handelsraum der Erde entwickelt wor-
den. 40 Prozent des Welthandels finden in diesem Be-
reich statt. Die Amerikaner haben ein Interesse daran,
ihre konjunkturelle Entwicklung zu verstärken; die Eu-
ropäer, vor allem wir Kontinentaleuropäer, haben ein In-
teresse daran, zusätzliche Wirtschaftsimpulse zu setzen.
Der Abbau bestehender Zoll-und-Nichtzoll-Barrieren im
transatlantischen Sektor hätte einen bedeutenden Wachs-
tumsimpuls zur Folge. Für die Europäische Union wird
ein Zuwachs von 0,7 bis 2 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts geschätzt. Auch für die Amerikaner wären erhebli-
che zusätzliche Wachstums- und Jobimpulse möglich.

Ich habe eine Aussage dazu vermisst, Herr Bundesau-
ßenminister, was wir tun können und tun müssen, um im
europäisch-amerikanischen Dialog neue Wege zu be-
schreiten und positive Impulse zu setzen. Unser Vor-
schlag ist: Setzen Sie nicht nur, aber auch in der Wirt-
schafts- und Handelspolitik neue Impulse! Sorgen Sie
nicht für Gräben zwischen Europa und Amerika, son-
dern für transatlantische Brücken! Damit täte Europa et-
was Gutes für die Welt, für die Wirtschaftsentwicklung
zu Hause und die Jobs in Deutschland. Hierzu haben wir
heute eine Aussage vermisst, Herr Bundesaußenminister.
In Zukunft wünschen wir uns weniger tönerne Erklärun-
gen und mehr klare politische Schritte für Europa, für
Wirtschaftsimpulse und für ein besseres transatlanti-
sches Verhältnis.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513802300

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege

Dietmar Nietan.

Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1513802400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dieser Europäische Rat hat gerade auch zu wichtigen au-
ßenpolitischen Rahmenbedingungen, die für Europas Si-
cherheit und Stabilität von grundlegender Bedeutung
sind, wichtige Entscheidungen getroffen und wichtige
Erklärungen abgegeben. Ich will darauf gleich zurück-
kommen.

Erlauben Sie mir bitte, zu Beginn auf das, was von
den Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagt
wurde, kurz einzugehen. Europa näher bringen bedeutet,
dass die Menschen im politischen Wettbewerb in Eu-
ropa, aber auch in unserem Land erkennen können, wo-
für politische Parteien stehen. Ich bin sehr selbstkritisch
und sage Ihnen, dass manche in unserem Land vielleicht
schon graue Haare wegen des einen oder anderen hand-
werklichen Fehlers dieser Koalition bekommen haben.
Aber diesen werden die Haare ausfallen angesichts der
Tatsache, dass sie an diesem Tag nur Gezeter gehört ha-
ben, aber keine Aussage darüber, was diese Opposition
will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie will man Europa den Menschen näher bringen,
wenn sie nicht wissen, wofür die Union steht. Kollege
Wissmann, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, aber
ich muss an dieser Stelle sagen: Wenn Sie von der Kür-
zung von Transferleistungen sprechen, dann sollten Sie
auch so mutig sein, zu sagen, welche Sie meinen, und
sich der öffentlichen Diskussion stellen. Wenn die Kopf-
pauschale kommt, dann werden wir uns über ganz an-
dere konsumtive Transferleistungen in diesem Bundes-
haushalt unterhalten. Wie Sie argumentiert haben, das
nenne ich unredlich.


(Beifall bei der SPD)

Es ist hoch spannend zu sehen, dass der Kollege

Gerhardt – für uns alle nicht überraschend – sogar auf
Englisch zitiert, wie die Schlussfolgerungen des Euro-
päischen Rats zum transatlantischen Verhältnis be-
ginnen. Es ist auch bezeichnend, dass der Kollege
Gerhardt nach dem ersten Satz aufhört. Ich will weiter
zitieren. Erlauben Sie mir, dass ich das auf Deutsch tue.
Nach dem Glückwunsch heißt es:

Unsere enge transatlantische Partnerschaft, die auf
gemeinsamen Werten basiert, ist für Europas Kon-
zept der Schaffung von Frieden, Sicherheit und
Wohlstand auf internationaler Ebene

– jetzt kommt die entscheidende Passage –
von grundlegender Bedeutung.

Weiter heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäi-
schen Rates:

Die EU und ihre Mitgliedstaaten freuen sich darauf,
sehr eng mit Präsident Bush und seiner neuen Re-
gierung zusammenzuarbeiten, damit gemeinsame
Anstrengungen – und zwar auch in multilateralen
Institutionen – unternommen werden können, um
die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und eine gerechte,
demokratische und sichere Welt zu schaffen.

Wenn Sie also zitieren, dann zitieren Sie bitte zu Ende
und versuchen Sie nicht krampfhaft, den Eindruck zu er-






(A) (C)



(B) (D)


Dietmar Nietan

wecken, als würde diese Regierung weiterhin transatlan-
tische Gräben aufreißen. Das Gegenteil ist der Fall.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch zu einem Punkt des Kollegen
Schäuble kommen. Natürlich kann man sagen, dass das,
was dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi auf dem
europäischen Gipfel versprochen wurde, noch nicht ge-
nug sei. Aber wenn Sie von einer Zuschauerrolle
Deutschlands und Frankreichs sprechen


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Er hat zitiert! Alawi hat das gesagt!)


– ja, aber Sie haben dem nicht widersprechen wollen –
und dies als Untermauerung Ihrer Kritik zitieren, dann
müssen Sie auch sagen, was Ihrer Meinung nach die
Bundesregierung tun muss, damit man nicht in den Ver-
dacht gerät, eine Zuschauerrolle einzunehmen. Sie müs-
sen auch zugeben, dass jetzt deutsche Truppen im Irak
stünden, wenn es seinerzeit eine unionsgeführte Bundes-
regierung gegeben hätte. Ich bin gespannt, ob das die
Bevölkerung dazu anhalten würde, Ihren Kurs in dieser
Sache zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will einen letzten Punkt ansprechen: Natürlich ist
es richtig – das steht außer Frage –, dass wir das transat-
lantische Verhältnis neu beleben und intensivieren
müssen. Ich halte es aber für an den Haaren herbeigezo-
gen, wenn Sie die Tatsache, dass der Außenminister in
seiner Regierungserklärung nicht noch einmal auf diese
Punkte im Schlusskommuniqué eingegangen ist, als
Skandal bezeichnen. Der Außenminister hat zu Beginn
des Jahres mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz
in München


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Zu spät!)


und auch mit seinen Ausführungen in der „FAZ“ zur Re-
konstruktion des Westens gezeigt, dass er sich wie kaum
ein anderer in der Europäischen Union darum bemüht,
mit ganz konkreten Projekten wie zum Beispiel Broader
Middle East die transatlantische Zusammenarbeit zu ver-
stärken. Ihm jetzt nur deshalb, weil er das an dieser
Stelle nicht noch einmal betont hat, skandalöses Verhal-
ten vorzuwerfen, nenne ich unredlich, Herr
Dr. Schäuble.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Gerhardt hat noch einmal zu Recht darauf hinge-
wiesen, dass wir im Nahostfriedensprozess in einer ganz
entscheidenden Situation sind. Das möchte ich hier noch
einmal unterstreichen. Ich habe es für das richtige Signal
gehalten, dass der Europäische Rat den Beschluss der
Knesset vom 26. Oktober unterstützt, sich aus dem Ga-
zastreifen und aus Teilen der nördlichen West Bank zu-
rückzuziehen. Ich halte es auch für dringend notwendig,
dass die Europäer diesen Prozess unterstützen. Denn ich
glaube: Nur mit europäischer Hilfe und nur in dem
Maße, wie es auch schon Javier Solana mit seinem Maß-
nahmenprogramm angedeutet hat, können wir sicherstel-
len, dass im Gazastreifen nach einem Rückzug geord-
nete Verhältnisse eintreten.

Nach dem Tod von Präsident Jassir Arafat stehen wir
hier in der Tat an einem Scheideweg. Ich wünsche mir,
dass die Europäische Union über das hinaus, was sie
dankenswerterweise bisher schon getan hat, diesen Pro-
zess mit weiteren und noch konkreteren Vorschlägen un-
terstützen wird. Ich glaube, gerade am Beispiel des
Rückzugs aus dem Gazastreifen wird deutlich, wie wich-
tig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
Europäischen Union ist und wie wichtig Europa als Ak-
teur im Friedensprozess in dieser Region ist.

Ich halte es auch für dringend notwendig, bei diesen
Bemühungen der Europäischen Union zu unterstreichen,
dass der Rückzug aus Gaza der erste Schritt hin zu einer
Zwei-Staaten-Lösung ist. Es muss sichergestellt werden,
dass Verhandlungen folgen, die am Ende zu einem er-
folgreichen Abschluss des Friedensprozesses führen
werden.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513802500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fischer?

Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1513802600

Gern.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Alles muss man selber machen! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie nur zu!)


Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Kollege, selbstverständlich bedanke ich mich
zunächst einmal für Ihre freundlichen Worte, aber ich
möchte Sie fragen, ob Sie meinen Eindruck teilen, dass
Herr Schäuble hier zum wiederholten Male in seiner Kri-
tik an der Irakpolitik der Bundesregierung nichts ande-
res vorgetragen hat als seine eigene Position und damit
auch die Position der CDU/CSU, die es für notwendig
hält, deutsche Soldaten in den Irak zu schicken, und dass
wir hier völlig anderer Meinung sind.


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1513802700

Wir beide sind hier völlig einer Meinung und der ge-

sunde Menschenverstand lässt aus den Äußerungen von
Herrn Schäuble nur den Schluss zu, den Sie gerade gezo-
gen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es noch ein-
mal unterstreichen: Ich glaube, dass wir Europäerinnen
und Europäer die Verpflichtung haben, mit einem kon-
kreten Engagement dafür zu sorgen, dass der Rückzug
aus dem Gazastreifen nicht im Chaos endet, sondern
dass er der Beginn einer Erfolgsstory ist, an deren Ende
eine friedenssichernde Zwei-Staaten-Lösung stehen






(A) (C)



(B) (D)


Dietmar Nietan

wird. In diesem Sinne sollten wir Europäer uns dafür
einsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Außenminister hat deutlich gemacht, dass Chan-
cen für eine Übereinkunft mit dem Iran in der Frage sei-
nes Nuklearprogramms bestehen. Auch wenn wir noch
nicht absehen können, ob die Verhandlungen am Ende
erfolgreich sein werden, will ich schon darauf hinwei-
sen, dass der Chefunterhändler der Iraner, Hossein
Mousavian, deutlich gemacht hat, er gehe davon aus,
dass man zu einer vorläufigen Übereinkunft gekommen
ist. Ich will sehr deutlich sagen: Wenn es gelingt, durch
das beständige Engagement der EU 3 nicht nur zu einer
vorläufigen, sondern zu einer echten und belastbaren
Übereinkunft mit dem Iran zu kommen, die sicherstellt,
dass das Zusatzprotokoll zum Nichtverbreitungsvertrag
unterschrieben wird und dass es bis zu langfristigen
Vereinbarungen mit dem Iran zur Suspendierung der
Urananreicherung kommt, die ein Monitoring und ein
Controlling in der Nuklearfrage sicherstellen, wäre das
ein großer Erfolg und der Beginn einer neuen Ära in der
gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, liebe Kol-
leginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte auch die gewählte Konstruktion nicht für be-
denklich, dass die so genannten EU 3, bestehend aus
Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die Ver-
handlungen führen. Die Tatsache, dass an den letzten
Verhandlungen am vergangenen Wochenende auch ein
Vertreter von Javier Solana teilgenommen hat, zeigt,
dass die drei Staaten für die gesamte EU sprechen. Alle
diejenigen, die das mit einem gewissen Hochziehen der
Augenbrauen beobachtet haben, bitte ich, dafür zu sor-
gen und uns dabei zu unterstützen, dass die europäische
Verfassung möglichst schnell ratifiziert wird. Wenn wir
in Zukunft nicht mehr die EU 3 brauchen, weil wir einen
starken und handlungsfähigen europäischen Außen-
minister haben, würde das auch solche Verhandlungen
erleichtern und sie erfolgreicher machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische
Rat von Brüssel hat aus meiner Sicht deutlich gezeigt:
Die EU muss sich weiterentwickeln. Sie muss sich in der
Gestaltung der verschiedenen Politikbereiche, zum Bei-
spiel der gemeinsamen Agrarpolitik, weiterentwickeln.
Sie muss sich auch in der zentralen Frage der Lissa-
bonstrategie weiterentwickeln. Es hilft nichts, drum her-
umzureden: Die Versäumnisse und Schwierigkeiten, das
Ziel zu erreichen, sind in dem Bericht der Kok-Kom-
mission benannt worden. Sie müssen ernst genommen
werden. Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen und daran
arbeiten, dass die Lissabonstrategie letztlich doch zu ei-
nem Erfolg wird.

Genauso wichtig ist es aber, die Institutionen und In-
tegrationsfähigkeit der Europäischen Union auch vor
dem Hintergrund der geplanten weiteren Erweiterung zu
stärken. Deshalb will ich zum Schluss die Forderung von
Herrn Schäuble aufgreifen, die Menschen mitzunehmen:
Lassen Sie uns durch entsprechende Gesetzesinitiativen
dafür sorgen, dass plebiszitäre Elemente in unsere Ver-
fassung aufgenommen werden! Lassen Sie die Men-
schen in unserem Land gemeinsam über die EU-Verfas-
sung abstimmen! Es ist das Beste, sie mitzunehmen, weil
sie dann ernst genommen werden und eine Stimme ha-
ben. Lassen Sie uns in einem solchen Prozess gemein-
sam die Menschen davon überzeugen, mit einer großen
Mehrheit für Europa zu stimmen! Wenn Sie uns auf die-
sem Weg folgen, die Menschen mitzunehmen, dann zei-
gen Sie, dass Sie es mit Ihrer Forderung ernst meinen,
die Menschen in Europa mitzunehmen. Andernfalls
– das vermute ich eher – war sie Schall und Rauch.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513802800

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege

Schäuble das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1513802900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abge-

ordnete Fischer hat in einer Zwischenfrage zum wieder-
holten Mal wahrheitswidrig unterstellt, die CDU/CSU
habe die Entsendung deutscher Soldaten in den Irak ge-
fordert. Ich habe in meiner Rede ausdrücklich festge-
stellt: Es ist in Ordnung, dass die Bundesrepublik
Deutschland ihren Beitrag zur Ausbildung irakischer
Soldaten in den Vereinigten Arabischen Emiraten leistet.
Ich habe lediglich über das Thema gesprochen und von
einem Gespräch mit Admiral Giambastiani, einem der
Oberkommandierenden der NATO, am Dienstag dieser
Woche berichtet, in dem er gesagt hat: Wenn die deut-
schen Offiziere für die Arbeit in integrierten Stäben der
NATO ausgebildet würden, sei es schlecht, schädlich
und widersprüchlich, wenn sie im Einsatzfall zurückge-
zogen würden.

Deswegen möchte ich den Abgeordneten Fischer und
den Bundesaußenminister bitten, die wahrheitswidrige
Verdrehung dessen, was hier gesagt worden ist, zu unter-
lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513803000

Zur Erwiderung, Herr Kollege Fischer.
Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE

GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter

Kollege Schäuble, ich denke nicht daran, irgendetwas
zurückzunehmen. Sie haben sich zum wiederholten
Male – es begann bereits vor dem Irakkrieg – in öffentli-
chen Äußerungen dafür ausgesprochen, dass die Bun-
desrepublik Deutschland in der Koalition mit Soldaten
präsent sein soll. Ich habe Sie in einer der letzten Debat-
ten – aus dem Stand kann ich nicht genau verifizieren, in
welcher – schon einmal darauf hingewiesen.






(A) (C)



(B) (D)


Joseph Fischer (Frankfurt)


Heute haben Sie das Argument der Bündnisverpflich-

tung angeführt. Ich halte Ihnen entgegen, dass die Hal-
tung der Bundesregierung unverändert ist: Wir werden
keine Soldaten in den Irak schicken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dafür gibt es gute Gründe, die ich Ihnen nochmals nen-
nen will. Wir waren von Anfang an der Meinung, dass
– anders als im Fall Afghanistan – weder die Gründe be-
lastbar noch die Folgewirkungen bedacht worden sind.
Deswegen wird die Frage, was westliche Truppen leisten
können, von uns negativ beantwortet. Wir sehen uns
durch die Entwicklung diesbezüglich bestätigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir lassen es Ihnen und Ihrer Partei aber nicht durch-
gehen – ich erinnere in diesem Zusammenhang an den
gemeinsamen Auftritt Ihrer Parteivorsitzenden mit dem
Kollegen Pflüger vor dem Weißen Haus in Washington
an einem Februartag –, dass Sie die Bundesregierung auf
der einen Seite dafür kritisieren, dass wir unseren Ver-
pflichtungen nicht nachkämen, auf der anderen Seite
aber insinuieren – und zwar manchmal in der Sprache
eines Winkeladvokaten –, dass deutsche Truppen betei-
ligt werden sollten. Darin liegt der grundsätzliche Dis-
sens zwischen Ihrer und unserer Politik, den man auch
benennen muss. Das werden wir auch immer wieder tun.
Gegebenenfalls stellen wir die Frage ein weiteres Mal
zur Abstimmung. Dann werden wir sehen, wie sich die
Mehrheit des deutschen Volkes entscheidet.

Ich bin mir sicher, dass die Irakpolitik der Bundesre-
gierung, die auch durch die Fakten getragen wird, von
der Mehrheit unseres Volkes – und zwar auch von vielen
CDU/CSU-Wählerinnen und -Wählern im konservativen
Süden unseres Landes – unterstützt wird. Wir werden
Sie mit Ihrer Position nicht entkommen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513803100

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger, FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1513803200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Für die FDP steht auf der heutigen
Tagesordnung nicht – ich denke, das gilt genauso für die
CDU/CSU –, sich – vielleicht sogar positiv – zu der
Frage zu äußern, ob deutsche Soldaten in den Irak ge-
schickt werden sollen. Das steht tatsächlich nicht auf der
Tagesordnung.


(Beifall bei der FDP)

Wir wollen vielmehr, dass sich Deutschland in starkem
Maße an humanitärer und ziviler Hilfe beteiligt und dass
es die Ausbildung gerade derjenigen Kräfte unterstützt,
die in Zukunft im Irak für mehr Stabilität und Ordnung
sorgen sollen. Lassen Sie uns mit der heutigen Debatte
über den europäischen Gipfel in Brüssel nicht den Wahl-
kampf 2006 vorziehen!


(Beifall bei der FDP)

Auf dem Gipfel sind sehr wichtige Dinge gerade im

Bereich der Innen- und Justizpolitik entschieden wor-
den, die in der bisherigen Debatte keine Rolle gespielt
haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang aus dem
Bericht von Herrn Kok zitieren. Er sagte zu der bisher
gescheiterten Strategie für mehr Wachstum und Beschäf-
tigung:

Die Spitzenvertreter Europas müssen die Hoffnung
verbreiten, dass das Morgen besser sein wird als das
Heute.

Genau darum geht es. Wenn wir die Bürgerinnen und
Bürger für Europa begeistern wollen, müssen wir klar
sagen, wo die Defizite liegen und wie sich die derzeitige
reale Situation darstellt, und zwar gerade unter Berück-
sichtigung der Tatsache, dass wir bisher bei der Umset-
zung der Lissabonstrategie für mehr Wettbewerb,
Wachstum und Beschäftigung überhaupt nicht vorange-
kommen sind. Wir müssen auch erklären, was sich hinter
dem Haager Programm – das ist der zweite Komplex –
verbirgt. Dort geht es um Freiheit, Sicherheit, den
Schutz der Grundrechte, bessere Möglichkeiten zur Ver-
folgung von Terroristen und eine bessere Zusammenar-
beit der Polizeien sowie um eine gemeinsame Asyl- und
Flüchtlingspolitik. Wir müssen den Menschen ehrlich
sagen: Jawohl, das beschlossene, umfassende Haager
Programm – das war ein Schwerpunkt des Gipfels in
Brüssel – bedeutet in vielen Punkten einen echten Para-
digmenwechsel in der deutschen Innen- und Justizpoli-
tik. Wir müssen zudem die Punkte nennen, die wir unter-
stützen, und diejenigen, in denen wir Gefährdungen
sehen und die wir kritisieren.

Wir Liberale unterstützen die Forderung nach Verbes-
serung der Kontrolle und Überwachung der europäi-
schen Außengrenzen. Wir wollen des Weiteren eine ge-
meinsame Asylpolitik in der Europäischen Union. Das
ist schon im ersten Punkt des Asylkompromisses von
1992 vereinbart worden, in dem die Forderung nach ei-
ner umfassenden europäischen Asylkonvention erhoben
wird. Wir wollen des Weiteren, dass in Zukunft das Eu-
ropäische Parlament eine stärkere Rolle spielt, wenn es
um die Innen- und Justizpolitik sowie die Zusammenar-
beit der Polizeien in Europa geht. Frau Höfken, Sie und
auch Vertreter der Sozialdemokraten haben gesagt, dass
das Europäische Parlament eine stärkere Rolle spielen
müsse. Das könnte es bereits nach dem nun zu Ende ge-
gangenen Gipfel, wenn sich der Bundesinnenminister
dafür eingesetzt hätte und wenn er einige zaudernde Kol-
legen, die sonst gerne seiner Fährte folgen, davon über-
zeugt hätte, dass es auch im Bereich der legalen Migra-
tion qualifizierte Mehrheitsentscheidungen geben muss,
und zwar unter Berücksichtigung der Entscheidungs-
kompetenz des Europäischen Parlaments; denn das ge-
hört unverzichtbar zusammen.


(Beifall bei der FDP)

Warum macht man das nicht bereits heute – das würde
eine Stärkung des Europäischen Parlaments bedeuten –,






(A) (C)



(B) (D)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

wenn dies in zwei Jahren nach der Ratifizierung und
dem In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages sowieso
kommen wird? Wir halten das, was jetzt beschlossen
worden ist, für keine richtige Weichenstellung. Das wird
für eine Blockade in der EU sorgen.

Da ich leider nur noch wenig Zeit habe, möchte ich
eine Bemerkung zur Flüchtlingspolitik machen. Im
Haager Programm ist nicht der Vorschlag des Bundesin-
nenministers aufgenommen worden, außerhalb der Eu-
ropäischen Union Asyllager – oder wie auch immer man
diese Einrichtungen nennen will – zu errichten. Es gibt
zwar einen Prüfauftrag, wonach Zweckmäßigkeit und
Durchführbarkeit untersucht werden sollen. Das muss
aber – das sollten Sie genau nachlesen – auf der Grund-
lage internationaler Konventionen und europäischen
Rechts erfolgen. Das fordern wir ein. Das zu tun ist
wichtig. Ich vermisse auch in der heutigen Debatte – ge-
rade aus den Reihen der Grünen – Stimmen, die diesen
Vorschlag einmal massiv kritisieren –


(Abg. Otto Schily [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513803300

Frau Kollegin!


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1513803400

– und deutlich machen, dass wir diese Form von euro-

päischer Flüchtlingspolitik nicht wollen.
Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513803500

Da die Redezeit schon deutlich überschritten war,

konnte ich keine Zusatzfrage zulassen.
Ich will hier deutlich auf Folgendes hinweisen: Die

Einhaltung der von den Fraktionen vereinbarten Debat-
tenzeiten können wir nur dann einigermaßen organisie-
ren, wenn sich die Redner möglichst an die Redezeiten
halten, die die Fraktionen für sie angemeldet haben, und
wenn darüber hinaus keine Zusatzfragen nach Ablauf
der Redezeit angemeldet und eingefordert werden. Das
führt nämlich wegen der Nichtanrechnung auf die Rede-
zeit selbstverständlich zu einer weiteren Verlängerung
der Debattenzeit. Ich bitte alle Fraktionen um Nachsicht
dafür, dass das jeweilige Präsidium bemüht ist, sich an
die Vorgaben zu halten, die die Fraktionen durch ihre
Vereinbarungen gesetzt haben.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513803600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegin-

nen und Kollegen! Ich wollte die Angriffe des Kollegen
Schäuble und des Kollegen Gerhardt – er ist nicht mehr
anwesend – gegen den Bundesaußenminister und die
Bundesregierung nicht unwidersprochen lassen. Aber
der Kollege Nietan und der Kollege Fischer sind mir zu-
vorgekommen und haben dazu alles Notwendige gesagt.
Ich erspare es mir deswegen, das zu wiederholen.

Ich möchte an dieser Stelle nur sagen: Herr Kollege
Schäuble, die Kritik an der Bundesregierung, die Sie be-
züglich des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten
von Amerika formuliert haben, ist wohlfeil. Bei all Ihrer
Kritik drücken Sie sich immer vor einer konkreten Dar-
stellung der von Ihnen gewünschten Position der Bun-
desrepublik Deutschland in den weiterhin strittigen Fra-
gen. Ich nenne als Beispiele Kioto, Internationaler
Strafgerichtshof und – diese Frage ist mit der Wieder-
wahl von Präsident Bush nicht ad acta gelegt – die Be-
wertung des militärischen Eingriffs im Irak.

Angesichts der Wackelpolitik Ihrer Vorsitzenden in
dieser Frage und der Schwäche der FDP sage ich Ihnen
– auch wenn Sie mit Ihrer Kurzintervention dazu noch
einmal Stellung genommen haben –: Sie dürfen den
Menschen im Lande nichts vorgaukeln. Wenn Sie die
Regierung in der entscheidenden Situation geführt hät-
ten, dann wären deutsche Soldaten im Irak. Unseretwe-
gen sind sie es nicht und das bleibt auch so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Europäische Rat hat sich in Brüssel mit dem Haa-
ger Programm, mit der Fortentwicklung und der Stär-
kung der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Men-
schen in der Europäischen Union, befasst. Seit fünf
Jahren, seit der Verabschiedung des Vertrags von Amster-
dam, wird an einer schrittweisen Errichtung dieses Raums
gearbeitet. Das ist auch richtig so. Wir wissen: Wirkliche
Freizügigkeit in der Union kann es nur geben, wenn alle
Menschen in den Mitgliedstaaten der Union gleichen Zu-
gang zu gleichen oder zumindest zu vergleichbaren Rech-
ten haben, wenn ihre Grund- und Bürgerrechte im gesam-
ten Gebiet der Gemeinschaft gewahrt sind und wenn sie
vor grenzüberschreitender Kriminalität und auch vor ter-
roristischen Anschlägen geschützt werden.

Dazu hat der Europäische Rat bereits 1999 in Tam-
pere ein Fünfjahresprogramm aufgestellt, das diese Bun-
desregierung und die rot-grüne Koalition – im Sinne von
Hausaufgaben, die uns gestellt worden sind – im Bereich
der europäischen Justiz- und Innenpolitik abgearbeitet
haben. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.

Die rot-grüne Koalition hat die Grundlagen für die
Zusammenarbeit deutscher Strafverfolgungsbehörden mit
Europol und Eurojust geschaffen. Wir haben den Euro-
päischen Haftbefehl in internationales Recht umgesetzt.
Der Bundestag hat zuletzt erstmals auf dem Gebiet der
Rechtspolitik nach Art. 23 des Grundgesetzes einen Be-
schluss in die Debatte über eine Regelung einer europäi-
schen Beweisanordnung eingebracht. Damit haben wir
deutlich gemacht, dass wir gewillt sind, uns in Zukunft
frühzeitiger und noch dezidierter in europäische Gesetz-
gebungsverfahren einzuschalten.
Dazu hat der Deutsche Bundestag nicht nur das Recht,
sondern, wie ich meine, auch die Pflicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag

Angesichts grenzüberschreitender Kriminalität und

realer terroristischer Bedrohung machen die Tätigkeit
von Olaf sowie die Tätigkeit von Europol und Eurojust
selbstverständlich Sinn. Wir sind auch mit dem ge-
planten Ausbau der Befugnisse dieser Stellen, soweit
sachlich begründet, einverstanden. Die Ergebnisse der
vergangenen fünf Jahre belegen jedoch, dass die schritt-
weise Realisierung des Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts überwiegend von exekutiven
Elementen geprägt ist. Die Terroranschläge vom
11. September 2001 und vom 11. März 2004 haben diese
Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Wir haben hier im
Deutschen Bundestag zum Beispiel mit der Umsetzung
des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung
auch auf diesem Gebiet das getan, was wir tun mussten.

Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit hat
in Europa eine rasche Entwicklung genommen. Die
grundlegenden Verfahrensrechte der Menschen sind
bisher aber dahinter zurückgeblieben. Ich will es so sa-
gen: Die eine Sache steht schon im Gesetzblatt und die
andere Sache steht immer noch in Grünbüchern und in
Entwürfen. Wenn die Kommission in ihrer Mitteilung an
den Rat und an das Europäische Parlament im Juni die-
ses Jahres schreibt: „Fakt ist, dass sich das europäische
Aufbauwerk auf diesem Gebiet“ – sicherheitspolitische
Maßnahmen – „rigoros auf die Grundrechte stützt“, dann
sagen wir und dann sage ich: So soll es sein, so muss es
in Zukunft auch sein, aber so ist es heute noch nicht in
vollem Umfang.

Der im April 2004 vorgelegte Vorschlag für einen
Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in
Strafverfahren greift leider nur ganz wenige Aspekte des
Schutzes grundlegender Verfahrensrechte in Europa auf.
Weite Bereiche wie die Garantien einer fairen Beweis-
aufnahme und des Schutzes der Unschuldsvermutung
sind noch nicht angegangen worden. Eine Kodifizierung
des Verbots der Doppelbestrafung in Europa ist bislang
noch nicht zur Entscheidungsreife gekommen. Deswe-
gen darf sich die Bilanzierung der Ergebnisse von Tam-
pere als Voraussetzung für das Haager Programm nicht
darauf reduzieren, finde ich, die tatsächlich fehlende
Verabschiedung einiger der im Programm vorgesehenen
Rechtsakte zu beklagen. Im Rahmen des neuen Haager
Programms, das diese thematische Schwerpunktsetzung
von Tampere für den Aufbau einer harmonisierten In-
nen- und Rechtspolitik aufgreift, müssen wir im Sinne
des von mir beschriebenen Missverhältnisses die Arbeit
vielmehr dahin gehend voranbringen, dass die bisher
noch fehlenden Mindeststandards für Beschuldigten-
rechte geschaffen werden. Ich möchte mich an dieser
Stelle ausdrücklich beim Bundesjustizministerium be-
danken, das im Rahmen der Vorschläge Deutschlands
für das Mehrjahresprogramm 2004 bis 2009 genau die
Vorstellung des Deutschen Bundestages in die europäi-
sche Ebene eingebracht hat.

Nach einer „Eurobarometer“-Umfrage vom 12. März
dieses Jahres – damit komme ich zum Schluss – sind
70 Prozent der Bürger der Europäischen Union der An-
sicht, dass gemeinsames Handeln der bessere Weg ist,
um Kriminalität zu bekämpfen. 90 Prozent sind aber so-
gar für die Festschreibung gleicher Verteidigungsrechte
in allen Mitgliedstaaten. Deshalb sage ich: Die Aufgabe
des Haager Programms muss eine doppelte sein: Europa
muss Sicherheit für die Grund- und Bürgerrechte der
Menschen sowie Sicherheit der Menschen vor Verbre-
chen und Gewalt schaffen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513803700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1513803800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

beginne mit einem Vorgipfel, den viele EU-Parlamenta-
rier als Sternstunde empfanden: Das EU-Parlament er-
zwang eine Neu- und Umbesetzung der künftigen EU-
Kommission. Es verhinderte, dass mittelalterliche Posi-
tionen zum Beispiel in der Gleichstellungspolitik in der
EU Gewicht bekamen. Dieses Beispiel macht aber zu-
gleich auch eine Schattenseite des EU-Parlaments deut-
lich: Es hat nach wie vor zu wenig Gewicht. Die EU-
Politik wird in aller Regel von der Exekutive und den
Regierungen der Nationalstaaten dominiert. Das ist eine
nach wie vor bestehende Bruchstelle im EU-Gefüge. Da-
mit bleibt die EU hinter üblichen Demokratiestandards
zurück.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Nun soll durch die künftige EU-Verfassung am Ver-
hältnis von Parlament zu Kommission einiges verbessert
werden. Das ist gut und wichtig und wird von der PDS
im Bundestag begrüßt, auch wenn nach unserer Meinung
die angestrebten Änderungen längst nicht ausreichen.
Der bisherige Zustand aber, nach dem die EU-Bürgerin-
nen und -Bürger ein Parlament wählen dürfen, das bei
Lichte betrachtet kein richtiges ist, muss überwunden
werden, auch damit EU-Politik endlich transparenter, er-
kennbarer und bewertbarer wird.

Damit bin ich schon bei unserem Dauerthema. Viele
hier im Bundestag und auch viele Redner heute in der
Debatte beklagen, dass die EU einerseits immer wichti-
ger wird, andererseits aber von den Bürgerinnen und
Bürgern als fremd und weit weg von ihnen empfunden
wird. Das ist übrigens auch ein Einfallstor für Rechtsex-
tremisten, das wir gemeinsam schließen sollten.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Zu diesem Problem trägt allerdings auch der Deutsche
Bundestag seinen Teil bei: Solange Sie sich weigern, die
Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, solange Sie eine
Volksabstimmung über die EU-Verfassung verweigern,


(Günter Gloser [SPD]: Wer?)

so lange nähren Sie auch das beklagte Problem. Deshalb
wiederhole ich die Forderungen der PDS: erstens Ände-
rung des Grundgesetzes, damit auch auf Bundesebene
endlich mehr direkte Demokratie möglich wird,


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau

zweitens eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung
auch in der Bundesrepublik und drittens ein EU-weites
Plebiszit über die EU-Verfassung am 8. Mai des nächs-
ten Jahres, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Fa-
schismus.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Durch mehr Rechte für das EU-Parlament und mehr
Mitbestimmung der EU-Bürgerinnen und -Bürger
könnte übrigens auch eine andere Unart eingedämmt
werden: das üblich gewordene Spiel über die Bande. Wir
alle kennen Beispiele dafür. So manches, was daheim in
der Bundesrepublik nicht mehrheitsfähig ist, wird über
den Umweg EU eingespeist. Dort wird es in Richtlinien
gegossen und kehrt als bindendes EU-Recht nach
Deutschland zurück. Das stärkt nicht die Demokratie,
sondern umgeht sie. Ein praktisches Beispiel liegt vor
uns: Otto Schily ist ein Fan von persönlichen Daten. Er
sammelt sie und will sie in großen Dateien und kleinen
Dokumenten speichern – natürlich namens der Sicher-
heit. Seine Pläne fanden auch im Bundestag Widerhall,
insbesondere bei der CDU/CSU. Sie stießen aber insge-
samt auf Skepsis. Von Datenschützern und Bürgerrecht-
lern werden sie ohnehin abgelehnt, und zwar strikt. Das
Gleiche gilt auch für mich und die PDS.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Nun ereilt uns die Erfassung biometrischer Daten doch,
von ganz oben, aus der EU. Mehr noch: Es sollen ge-
meinsam verfügbare Dateien angelegt werden, um
potenzieller Terroristen und Straftäter besser habhaft zu
werden. „Potenziell straffähig“ ist jeder und jede. Das ist
die Dimension, über die wir hier reden. Ich glaube nicht,
dass jede und jeder seine persönlichen Daten gern beim
Geheimdienst der Regierung Berlusconi abliefert. Ich
kann mir auch nur schwer vorstellen, dass sich Bürger
der Bundesrepublik über prophylaktische Vermerke
beim CIA oder beim „Heimatschutz“ der USA freuen.
Das aber ist bzw. wird Praxis dank EU-Bandenspiel.

Nun noch zu einem weiteren Gipfelthema der EU,
dem Stabilitätspakt. Er besagt, dass die nationale Ver-
schuldung einen Umfang von 3 Prozent des jeweiligen
Haushaltes nicht übersteigen darf. Andernfalls drohen
drastische Strafen. Die PDS hat diese Regelung immer
abgelehnt, vor allem, weil es zu diesem Geldpakt keinen
adäquaten Sozialpakt gibt. Er wäre aber sehr wichtig, um
der EU-weit steigenden Arbeitslosigkeit, der wachsen-
den Verarmung großer Schichten und der ungehemmten
Privatisierung öffentlicher Leistungen zu begegnen.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Mein letzter Punkt zum Thema EU-Gipfel heißt „Ver-
wunderung“; denn wenn ich es recht gelesen und gehört
habe, wurde die Wiederwahl des US-Präsidenten nicht
nur pragmatisch begrüßt, sondern „besonders“. Wenn
das stimmt, dann war das ein übler Kniefall vor jeman-
dem, der die UNO missachtet, willkürlich Kriege ent-
facht und die Menschheit gefährdet.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und wer hat den Präsidenten gewählt? Das amerikanische Volk! Das interessiert Sie überhaupt nicht! Das ist Demokratie, oder?)


Für eine EU, die das toleriert, ist die PDS nicht zu haben.
Wir wollen eine soziale, eine demokratische und eine
friedfertige EU.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513803900

Das Wort hat nun der Kollege Rüdiger Veit für die

SPD-Fraktion.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1513804000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Zu den allgemeinen Zielsetzungen des
Haager Programms haben der Bundesaußenminister,
aber auch die Kollegin Schwall-Düren und der Kollege
Jerzy Montag einiges gesagt. Ich darf mir daher im Rah-
men der mir zur Verfügung stehenden, eher knappen Zeit
ein paar innenpolitische Anmerkungen und Hervorhe-
bungen erlauben.

Zunächst einmal zum Komplex Biometrie- und In-
formationssysteme bzw. Visumspolitik. Wir finden
hierzu im Haager Programm die Absicht, das Schenge-
ner Informationssystem, genannt SIS II, das Visainfor-
mationssystem, genannt VIS, und Eurodac zur Bekämp-
fung der illegalen Einwanderung und der Grenzkontrolle
besser miteinander zu verbinden. Ich glaube, in dieser
Zielsetzung stimmen wir alle überein. Ihnen, Frau Pau,
möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Machen
Sie sich da keine Sorgen! Wir werden sorgfältig darauf
achten, dass dabei die Einhaltung der Grundrechte und
auch der Maßstäbe des Datenschutzes, wie wir sie ken-
nen, gewährleistet wird, wie das auch der Rat beabsich-
tigt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erklärtermaßen sollen Mindestnormen für nationale
Identitätsausweise entwickelt und die Aufnahme biome-
trischer Identifikatoren in Reisedokumente, also in Visa,
in Aufenthaltstitel und in die Reisepässe der EU-Bürger,
sowie auch in die Informationssysteme vorbereitet und,
was die Visa angeht, bis Ende des Jahres 2007 rasch ver-
wirklicht werden. Ich bin mir sicher – auch das sage ich
an Ihre Adresse, Frau Pau –, dass wir diese Bestrebun-
gen – die wir vom Grundsatz her für richtig halten und
die auch immer das Anliegen von Bundesinnenminister
Otto Schily waren –, diese Aufgabe sei auf europäischer
Ebene einheitlich anzugehen, sorgfältig beobachten und
kritisch begleiten werden.

Bei den Stichworten Terrorismusbekämpfung und
polizeiliche Zusammenarbeit finden wir nicht nur als
Ziel, sondern als die ausdrücklich so formulierte Voraus-
setzung – ich zitiere –,

dass die Mitgliedstaaten die Befugnisse ihrer Nach-
richten- und Sicherheitsdienste nicht nur zur Ab-






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit

wehr von Bedrohungen der eigenen Sicherheit, son-
dern gegebenenfalls auch zum Schutz der inneren
Sicherheit der anderen Mitgliedstaaten nutzen; den
zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten
alle ihren Diensten vorliegenden Informationen,

– ich wiederhole: alle ihren Diensten vorliegenden Infor-
mationen –

die Bedrohungen der inneren Sicherheit eines der
anderen Mitgliedstaaten betreffen, unverzüglich zur
Kenntnis bringen …

An anderer Stelle heißt es, dass mit Wirkung vom
1. Januar 2008 unionsweit ein Strafverfolgungsbeamter
alle für die Erfüllung seiner Aufgaben nötigen Informa-
tionen auch aus anderen Mitgliedstaaten erhalten soll.

An dieser Stelle fragt man sich natürlich unwillkür-
lich, wie eigentlich die Bundesrepublik ihre so eingegan-
genen oder noch einzugehenden Verpflichtungen auf eu-
ropäischer Ebene erfüllen will, solange wir diese
Aufgabe noch nicht einmal bei uns selbst im Lande auch
nur annähernd befriedigend gelöst haben. Ich nenne hier
beispielsweise den meines Erachtens völlig unnötigen
Bestand eigenständiger Landesämter für Verfassungs-
schutz und höchst unzureichende Ermittlungskompeten-
zen des Bundeskriminalamtes. Viele der diesbezüglichen
Vorstellungen von Bundesinnenminister Otto Schily fin-
den ihre aktuelle Begründetheit auch in dem hier darge-
legten europäischen Kontext. Einiges davon, wenn nicht
vieles oder gar alles, sollte von uns Bundespolitikern ge-
genüber antiquierten Föderalismusdebattierern aus-
drücklich unterstützt werden.


(Lachen der Abg. Sabine LeutheusserSchnarrenberger [FDP])


Um einmal ein Beispiel herauszugreifen: Können Sie
mir vielleicht erklären, was das spezifisch Schützens-
werte etwa einer Bremer Landesverfassung ist, dass zu
ihrem Schutz eigens zwei Dutzend Beamte aufgeboten
werden müssen, die vielleicht wesentlich sinnvoller als
Außenstelle eines Bundesamtes arbeiten würden?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie gesagt, auch hier wird ausdrückliche Zustimmung
signalisiert.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo bleibt hier der Widerspruch aus Bremen? Wo sind die Leute?)


– Ich habe keinen ausgemacht, ich würde das aber auch
Nichtbremern – meinetwegen auch Hessen – in ähnli-
cher Weise sagen.


(Zuruf von der SPD: Bayern!)

Bezogen auf Bremen ist das Beispiel eigentlich am nied-
lichsten und am deutlichsten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein wichti-
ger weiterer Punkt ist die Integration. Dieses Thema ha-
ben wir nicht nur im Zusammenhang mit den Beratun-
gen des Zuwanderungsgesetzes erörtert und haben das
Jahrzehnt der Integration ausgerufen. Wir bemühen uns
jetzt um die Umsetzung, erleben aber gerade jetzt aktuell
und sogar auch in dieser Nacht in den Niederlanden,
dass Rückschläge bei dem Versuch der – offensichtlich
misslungenen – Integration zu beklagen sind.

Deswegen ist es notwendig, sinnvoll und richtig, dass
die europäischen Regierungschefs die zentralen Forde-
rungen der Integration noch einmal vorangestellt haben,
indem sie ausgeführt haben: Integration umfasst Antidis-
kriminierungspolitik. Sie setzt selbstverständlich Res-
pekt vor den Grundwerten des Gastlandes voraus und er-
streckt sich vor allem auch auf Beschäftigung und
Bildung. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, es han-
dele sich um einen fortlaufenden, wechselseitigen Pro-
zess, an dem sich die sich rechtmäßig aufhaltenden
Migranten und die Gesellschaft des Gastlandes beteili-
gen sollten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Am Rande sei bemerkt: Ich fand es erfreulich, dass
der Europäische Rat nicht nur im Dezember 2003 vorge-
schlagen hat, mit aller Entschlossenheit gegen Rassis-
mus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vorzu-
gehen, sondern dass auch jetzt vorgeschlagen worden ist,
den Aufgabenbereich der Europäischen Stelle zur Beob-
achtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in
Wien dahin gehend auszuweiten, dass sie zu einer Agen-
tur für Menschenrechte wird.

Bei der Asyl-, Migrations- und Grenzpolitik wurde
eine zweite Phase – Beginn 1. Mai 2004 – eingeleitet;
was wir sehr begrüßen. Zugleich wird angemahnt, die
erste Phase durch baldige einstimmige Annahme der
Asylverfahrensrichtlinie abzuschließen. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang daran, dass der Inhalt dieser
Richtlinie bereits im Frühjahr dieses Jahres politisch
konsentiert wurde, aber in Bezug auf die Frage der Liste
der sicheren Drittstaaten noch Dissens besteht. Auch
wenn es in der deutschen Flüchtlings- und Anerken-
nungspraxis insoweit keine aktuellen Probleme gibt,
sollten wir aus deutscher Sicht einer Ausweitung der
Liste sicherer Drittstaaten auf solche Staaten, in denen
die Genitalverstümmelung immer noch zur gesellschaft-
lichen Realität gehört, wie etwa Mali und Benin, wider-
sprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nun komme ich auf das Stichwort „Auffanglager“ des
Kollegen Wolfgang Schäuble zurück. Was die Schaffung
einer einheitlichen europäischen Asylbehörde oder auch
die Frage von Aufnahmeeinrichtungen in Transit-
und Herkunftsländer angeht, würde ich am liebsten die
entsprechenden Passagen aus dem Haager Programm
wörtlich zitieren:

In dieser Hinsicht
– gemeint ist die zweite Phase bis 2010 –

ersucht der Europäische Rat die Kommission, eine
Studie über die Zweckmäßigkeit, die Möglichkeiten
und Schwierigkeiten sowie über die rechtlichen und
praktischen Auswirkungen einer gemeinsamen Be-
handlung von Asylanträgen in der Union vorzulegen.






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit

Ferner sollten in einer gesonderten, in enger Ab-
sprache mit dem UNHCR durchzuführenden Studie
die Vorteile, die Zweckmäßigkeiten und die Durch-
führbarkeit einer gemeinsamen Behandlung von
Asylanträgen außerhalb der EU geprüft werden,
wobei dieses Verfahren die gemeinsame europäi-
sche Asylregelung ergänzen und den einschlägigen
internationalen Normen entsprechen würde.

Weiterhin heißt es dort:
Der Europäische Rat stellt fest, dass unzureichend
regulierte Wanderungsbewegungen zu humanitären
Katastrophen führen können. Er verleiht seiner gro-
ßen Besorgnis über die menschlichen Tragödien
Ausdruck, die sich im Mittelmeer bei Versuchen
abspielen, illegal in die Europäische Union einzu-
reisen.

In diesen Formulierungen kommt eine durchaus ange-
messene kritische Distanz zum Ausdruck. Die Prüfauf-
träge verdeutlichen, dass auch der Europäische Rat zu
diesem Themenkomplex mehr Fragen als Patentlösun-
gen oder Antworten parat hat. Insoweit befinden wir uns
hier in diesem Parlament und auch in den Koalitions-
fraktionen in guter Gesellschaft und werden diesen Pro-
zess kritisch begleiten.

Zum Thema Arbeitsmigration kann ich aus Zeitgrün-
den leider nicht mehr kommen, obwohl Sie, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, mir das Stichwort gege-
ben haben.

Ich will Ihnen aber auch zu den Themen „Legale Zu-
wanderung“ und „Wechselbeziehung zur Flüchtlingspo-
litik“ etwas ins Stammbuch schreiben –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513804100

Das müssen Sie aber bitte knapp halten.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1513804200

– das wird geschehen –, was Kofi Annan – so viel

Zeit muss sein – bei der Verleihung des „Sacharow-Prei-
ses für geistige Freiheit“ vor dem Europäischen Parla-
ment gesagt hat:

Einwanderer brauchen Europa. Aber Europa
braucht auch Einwanderer!

Binnen der kommenden 50 Jahre werde die alternde
Bevölkerung der erweiterten Europäischen Union dras-
tisch sinken. Daher seien wir zwingend auf Zuwanderer
angewiesen. Er plädiert im Übrigen für „breite Wege für
legale Zuwanderung“. Er erinnerte die Europaabgeord-
neten daran, dass eine restriktive Asyl- und Einwande-
rungspolitik die Menschen massenhaft in die Fänge kri-
mineller Schlepperbanden treibe und damit zahllose von
ihnen in den Tod.


(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Da hätte man mehr machen können! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein Irrweg!)


Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, sollten wir bei den einschlä-
gigen Diskussionen hier im Haus – jetzt richte ich meine
Worte an und meine Augen ausdrücklich auf die Kolle-
ginnen und Kollegen von der CDU/CSU – häufiger be-
denken, bevor wir mit populistischen Parolen versuchen,
Stimmung zu machen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513804300

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Otto Schily.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ange messene kritische Distanz!)


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1513804400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!

Weil von mehreren Rednern die Frage angesprochen
worden ist, wie wir uns bezüglich der Migration aus
Nordafrika nach Europa verhalten sollen, scheint es mir
geboten, Sie über einen Sachverhalt zu informieren.

Bereits Ende November des Jahres 2003 ist vom Rat
der Europäischen Union ein Programm zur Bekämpfung
der illegalen Migration über das Mittelmeer beschlossen
worden. Es gibt also bereits einen Beschluss. In diesem
Beschluss ist enthalten, dass die Personen, die an der il-
legalen Einreise über das Mittelmeer gehindert werden,
in ihre Heimatländer zurückgebracht werden müssen


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das heißt Rückführung! Das haben wir bisher anders verstanden!)


und dass man dafür eine Zwischenunterbringung in den
Transitländern schaffen muss. Es heißt dort wörtlich,
dass dafür entsprechende Aufnahmeeinrichtungen ge-
schaffen werden müssen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Weiß das auch die SPD?)


Dieser Beschluss sollte sich vielleicht einmal herum-
sprechen, damit über dieses Thema etwas sachlicher dis-
kutiert werden kann, als es mitunter in der Öffentlichkeit
geschehen ist.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Halten Sie doch in der SPD-Fraktion dazu mal einen Vortrag!)


Als zweiten Punkt habe ich zur Sprache gebracht,
dass wir uns die Frage stellen müssen, was mit den Men-
schen geschieht, die sich auf den Flüchtlingsstatus beru-
fen. Ich habe gesagt – übrigens in Übereinstimmung mit
dem EU-Kommissar Vitorino –: Man muss der Frage
nachgehen, ob es nicht Sinn macht, sich über das Schutz-
bedürfnis solcher Personen schon außerhalb der Grenzen
der Europäischen Union ein Bild zu machen und dann
darüber zu entscheiden, wie wir diesen Personen helfen
können. Dazu habe ich geäußert: Auch wenn es um ein
festgestelltes Schutz- und Hilfebedürfnis geht, ist es
richtig, dem zu folgen, was grundsätzlich vom UNO-
Flüchtlingskommissar immer wiederholt wird und was






(A) (C)



(B) (D)


Otto Schily

meine Zustimmung findet: dass wir den Schutz und die
Hilfe für die Flüchtlinge tunlichst in der Region, aus der
sie kommen, organisieren.

Das ist der Stand der Diskussion. Wenn einige mei-
nen, zu dem Wort „Lager“, das ich nie gebraucht habe,
auf kritische Distanz gehen zu sollen, wie ich es soeben
gehört habe, ist es vielleicht ganz sinnvoll, solche kriti-
schen Distanzen auf einer sachlichen Grundlage noch
einmal zu überprüfen, damit man über einen Sachverhalt
redet und nicht über ein Mediengespinst.

Vielen Dank.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das können Sie doch in der Fraktionssitzung erörtern! – Gegenruf des Abg. Otto Schily [SPD]: Das galt auch für Herrn Schäuble! Das war auch sinnvoll, dass Sie das kennen lernen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513804500

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1513804600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Im Jahr 2000 haben die europäischen Regie-
rungschefs in Lissabon beschlossen, dass die Europäi-
sche Union bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der
Welt werden soll. Als ob man so etwas einfach beschlie-
ßen könnte! Wissen Sie, ich hatte in meinem Büro eine
Zimmerpflanze, die mir vertrocknet ist. Als ich sie ge-
kauft habe, habe ich beschlossen, dass sie grünt, wächst
und gedeiht; aber dann habe ich das Gießen und Düngen
vergessen und so ist es halt gekommen.


(Ute Kumpf [SPD]: Nichts von Zielvorgabe gehört?)


Ebenso haben wir heute wieder erlebt, wie die Regie-
rung zum x-ten Mal beschließt, jetzt endlich erfolgreich
zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Sie sind doch Diplomkaufmann! Dann kennen Sie was vom Zielesetzen!)


Sie haben die letzten sechs Jahre darauf verwendet,
scheibchenweise Reformen durchzuführen, die Sie vor-
her im Bundesrat blockiert haben, Stichwort: Steuer-
reform. Sie haben die Zeit darauf verwendet, Reformen
durchzuführen, die Sie zuvor rückgängig gemacht ha-
ben. Stichworte sind: 400-Euro-Jobs, Selbstbeteiligung
im Gesundheitswesen oder der demographische Faktor
in der Rente. Sechs Jahre Fehlerkorrektur!

Das zarte Pflänzchen „Wachstum“, das 1998 vor dem
Regierungswechsel aufkeimte – vielleicht erinnern Sie
sich daran, dass der Bundeskanzler schon vor dem Re-
gierungswechsel den Aufschwung für sich in Anspruch
genommen hat und gesagt hat, dass es sein Aufschwung
sei –, haben Sie erst vertrocknen lassen. Jetzt sind Sie
dabei, es mithilfe der Opposition mühsam aufzupäppeln.

(Lachen der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD])


Deutschland war der tragende Ast der europäischen
Wirtschaft. Das ist vorbei. Kollegin Schwall-Düren, das
liegt nicht an der Weltwirtschaft. Sonst müssten die Bri-
ten andere Auswirkungen der Weltwirtschaft spüren,
was natürlich nicht der Fall ist. Der Grund, weshalb wir
uns in dieser wirtschaftlichen Situation befinden, ist,
dass in Deutschland die Hausaufgaben nicht gemacht
wurden, die man aber machen muss, um in Europa wei-
terzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Heute sind Sie an einem Punkt angelangt, an dem Sie

sich angesichts einer komplett verfehlten Wirtschafts-
und Finanzpolitik genötigt sehen, Hand an den Stabili-
täts- und Wachstumspakt zu legen. Dieser Pakt war
eine vertrauensbildende Maßnahme bei der Euroeinfüh-
rung.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Ja!)

Soweit ich das übersehen kann, bestand damals Einig-
keit über alle Parteigrenzen hinweg, dass diese vertrau-
ensbildende Maßnahme notwendig ist. Wer jetzt so vor-
geht, wie Sie es vorhaben, wer jetzt Hand an den
Stabilitätspakt legt, der beschädigt nicht nur sein eigenes
Ansehen, er beschädigt nicht nur die Europäische Union
und den Euro, sondern er beschädigt auch die gesamte
deutsche Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Tun Sie doch bitte nicht so, als ginge es Ihnen um

Haushaltsspielräume für Wachstum! Ihnen müsste doch
bekannt sein, dass Deficit-Spending-Strategien wie
Strohfeuer verpuffen. Die Wirklichkeit sieht doch so aus:
Sie wollen einen Blankoscheck für hemmungslose
Staatsverschuldung.


(Günter Gloser [SPD]: Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!)


Den wird Ihnen die Opposition nicht ausstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Spielraum, den die Maastricht-Kriterien, bei-
spielsweise das 3-Prozent-Kriterium, aufweisen, muss
angesichts der demographischen Entwicklung künftig
ausreichen. Wenn Sie schon keine Sorge um die langfris-
tige Stabilität des Euro drückt, wenn Sie schon europäi-
sche Vereinbarungen nicht ernst nehmen, dann sollten
Sie doch bitte wenigstens das Interesse der nachfolgen-
den Generation berücksichtigen.

Wir laufen im Jahr 2004 auf eine Rekordverschul-
dung in Höhe von 43,7 Milliarden Euro zu. Finanzminis-
ter Eichel kündigt bereits den nächsten Korrekturbedarf
an, verbunden mit einer – ich sage es ganz deutlich – lä-
cherlichen und unpatriotischen Diskussion um den
3. Oktober.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Jeder fünfte Euro der Steuereinnahmen des Bundes geht
für Zinsen drauf. Die Schuldenuhr rast mit 2 660 Euro






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein

pro Sekunde auf den Rekordschuldenstand von
1,41 Billionen Euro für das gesamte deutsche Gemein-
wesen zum Jahresende zu. Die Pro-Kopf-Verschuldung
beträgt derzeit knapp 17 000 Euro.

Ich habe einmal folgendes Gedankenspiel durchge-
führt:


(Günter Gloser [SPD]: Was haben Sie bis 1998 gemacht, Herr Nüßlein?)


Wenn wir ein durchschnittliches Wachstum in Höhe von
2 Prozent unterstellen – das hätten Sie gerne – und eine
Neuverschuldung in Höhe von 3 Prozent annehmen,
dann würde bei dem prognostizierten Bevölkerungsrück-
gang auf 74,2 Millionen Menschen die Pro-Kopf-Ver-
schuldung im Jahr 2040 rund 66 000 Euro betragen.


(Ute Kumpf [SPD]: Deswegen sind wir für Zuwanderung!)


Das ist in etwa das Vierfache des heutigen Standes.
Noch schlimmer sähe es aus, wenn man nicht die Ge-
samtbevölkerungszahl, sondern nur die Zahl der Er-
werbstätigen betrachten würde. Dann würde die Alte-
rung noch stärker durchschlagen. Diese Zahlen muss
sich jeder vor Augen halten, der den Stabilitätspakt auf-
weichen will.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Hoffentlich auch die CDU/CSU!)


Ihre Strategie heißt: Augen zu und durch. Mir ist auch
klar, warum. Bevor ich Abgeordneter geworden bin, war
ich Banker. Ich habe vielfach erlebt, wie sich Leute ver-
halten, denen das Wasser bis zum Hals steht: Luftbu-
chungen und kreative Finanzierungen. Der Preis für das
kurzfristige Überleben hat nie eine Rolle gespielt. Es ist
doch ganz deutlich: Herr Eichel diskutiert offen darüber,
Forderungen gegenüber der Telekom und der Post zu
verkaufen. Das käme uns nicht nur wegen des Ab-
schlags, der in einem solchen Fall erheblich über dem
Zins liegt, den man für die normale Verschuldung zahlen
würde, sondern auch deswegen teuer zu stehen, weil die
langfristigen Verpflichtungen für Pensionen bei der Post
und der Telekom als Verpflichtungen bei der Bundes-
republik verbleiben würden. Treffen würde das die junge
Generation.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Es ist ein Bankrott!)


Pensionszusagen und damit Eventualverbindlichkei-
ten haben wir genug. In keinem öffentlichen Haushalt
werden diese berücksichtigt. Man müsste sie eigentlich
mit einrechnen. Stattdessen schlagen Sie vor, dass man,
um den Stabilitätspakt der Form halber erfüllen zu kön-
nen, bestimmte Ausgaben herausrechnen sollte: die
Franzosen die Rüstungsausgaben, Deutschland die Aus-
gaben für Bildung und Forschung oder die Nettozahlun-
gen an die EU.

Ich sage Ihnen ganz offen: Jeder Gerichtsvollzieher
wird Ihnen bestätigen, dass man Schulden nicht wegdis-
kutieren bzw. wegbeschließen kann, sondern dass man
sie am Ende zahlen muss. Für mich liegt die Vermutung
nahe: Wer mit einem Pakt, mit einer klaren Vereinba-
rung, so umgeht wie die Bundesregierung, nimmt eine
bloße Strategievereinbarung wie die von Lissabon erst
recht nicht ernst. Belege dafür gab es heute. Der Bundes-
außenminister spricht die Telekommunikation als
Schlüsselmarkt an. Als Sie aber für teures Geld UMTS-
Lizenzen versteigert und die Branche beschädigt und be-
nachteiligt haben, haben Sie das offenkundig vergessen.

Heute wurde auch über Forschung, Bildung und
Innovationen gesprochen. Dabei wird immer über das
Geld diskutiert. Das alles ist aber nicht nur eine Frage
des Geldes. Sie müssen auch die Frage beantworten, wo
Sie Forschung, Bildung und Entwicklung vorantreiben
wollen. Diese Frage beantworten Sie nur negativ. Sie sa-
gen: Die Grüne Gentechnik wollen und brauchen wir
nicht. Die Chemie wollen und brauchen wir nicht.


(Zurufe von der SPD: Quatsch!)

– Durch REACH wird doch der Chemiestandort Europa
insgesamt beschädigt. – Die Kerntechnologie wollen
und brauchen wir nicht.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Herr Nüßlein, von Ihnen hätte ich mehr Niveau erwartet!)


Meine Damen und Herren, beantworten Sie die Frage,
wo die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland liegen
soll und in welchen Bereichen Sie Bildung und For-
schung vorantreiben wollen! Die Geisteswissenschaften
allein werden zu keinem Erfolg führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Fangen Sie mal bei sich an!)


Vielfach ist von Steuerharmonisierung die Rede. Ein-
heitliche Bemessungsgrundlagen werden gefordert; auch
das ist richtig. Dann müssten Sie aber auch darüber mit
den neuen europäischen Kollegen aus den Ländern re-
den, die Steuerdumping betreiben und sich ihre Haus-
halte über die Europäische Union und den Nettozahler
Deutschland ausgleichen lassen.


(Günter Gloser [SPD]: Auch wieder so ein Schmarren!)


Wir beklagen ein Übermaß an Bürokratie; Kollegin
Schwall-Düren hat dies ausgeführt. Wo bleiben dann
aber die Initiativen? Wohlgemerkt, seit der letzten Bun-
destagswahl haben Sie mehr als 500 neue Rechtsverord-
nungen und an die 100 Gesetze erlassen. Das ist Büro-
kratieabbau?


(Ute Kumpf [SPD]: Gesetze werden erlassen, damit andere geköpft werden können!)


Schauen Sie sich einmal abgesehen von Hartz IV
– diese Reform finde ich insgesamt positiv; das sage ich
ganz offen – Ihre Reformen an: Im Rahmen der Ich-AGs
haben Sie 500 000 Arbeitslose weniger pro Jahr verspro-
chen. 180 000 Gründungen sind tatsächlich in zwei Jah-
ren erfolgt. 30 000 haben aufgegeben. Dafür wurden aus
Beitragsmitteln 1,1 Milliarden Euro bis zum Jahresende
zur Verfügung gestellt.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein

Sie sollten ein Wort von Altkanzler Helmut Schmidt

beherzigen:
Nicht alle Reformen kosten Geld und nicht alles,
was Geld kostet, ist deshalb schon eine Reform.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513804700

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Vogelsänger,

SPD-Fraktion.


Jörg Vogelsänger (SPD):
Rede ID: ID1513804800

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Dr. Nüßlein, Sie sind Nachfolger im Wahlkreis von
Dr. Theo Waigel. Er war nicht gerade ein Sparkommis-
sar gewesen; das sollten wir in diesem Hause einmal
festhalten.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die deutsche Einheit wolltet ihr gar nicht!)


Europa ist unsere gemeinsame Zukunft. Auf dem
Weg zu einem gemeinsamen Europa haben wir einiges
erreicht. Bei aller vielleicht nicht immer ganz unberech-
tigten Kritik an Europa sollte man dies nicht vergessen.
Ich möchte nur daran erinnern, dass noch vor 15 Jahren
hier am Reichstag eine Mauer stand. Diese ist auf Druck
der ostdeutschen Bevölkerung gefallen. Die deutsche
Einheit aber wurde nur im gesamteuropäischen Konsens
möglich. Wir haben Europa also sehr viel zu verdanken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies war der entscheidende Schritt für die europäische
Einigung. Daran, dass die Europäische Union einmal
25 Mitgliedstaaten haben wird, hat damals allerdings
niemand zu denken gewagt.

In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in
Brüssel am 4. und 5. November werden auf der Basis ei-
ner Analyse des Iststandes das im europäischen Eini-
gungsprozess Erreichte und die Aufgaben für die Zu-
kunft dargestellt. Neben den Schwerpunkten in der
Außen- und Sicherheitspolitik und in der gesamteuropäi-
schen Innenpolitik steht die Vorbereitung der Halbzeit-
überprüfung der Lissabon-Strategie in den Schlussfol-
gerungen an erster Stelle. Diese Halbzeitbilanz – das
kann gar nicht anders sein; denn im Jahr 2000 lagen
ganz andere Voraussetzungen vor – wird mit Sicherheit
nicht unkritisch ausfallen. Aber in Deutschland ist eini-
ges auf den Weg gebracht worden. Im Rahmen dieses
eingeleiteten Prozesses hat die Bundesregierung, hat
Gerhard Schröder mit der Umsetzung der Agenda 2010
wichtige politische Forderungen realisiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Umsetzung insbesondere der Reformen am Arbeits-
markt ist eine große Kraftanstrengung, bei der sich alle,
auch die Opposition, einbringen sollten.
Einen weiteren Schwerpunkt der Lissabon-Strategie
bildet die Forderung nach größeren Anstrengungen bei
den Investitionen in Forschung und in die allgemeine
sowie berufliche Bildung. Forschung und Entwicklung
haben absolute Priorität. Die Debatte zur Vorbereitung
der Halbzeitbilanz im März 2005 wird sich mit Sicher-
heit in besonderer Weise auf diesen Punkt konzentrieren.

Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir dafür
deutliche Zeichen gesetzt. Jetzt liegt es an Ihnen, meine
Damen und Herren von der Opposition, die Mittel, die
bisher für die Eigenheimzulage zur Verfügung gestellt
wurden, im Bundesrat in eine nachhaltige Förderung des
Wissenschaftsstandortes Deutschland umzuwandeln.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie fordern doch immer einen umfassenden Subven-
tionsabbau. Fangen Sie jetzt damit an! Gemeinsam soll-
ten wir uns weiterhin für die Erhöhung der Mittel im
nächsten, dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm ein-
setzen, wohlgemerkt innerhalb der Obergrenze von
1 Prozent.

Eine weitere Aufgabe, die in den Schlussfolgerungen
des Europäischen Rates in Brüssel genannt wird, ist die
Bekämpfung von Schattenwirtschaft und illegaler
Beschäftigung. An dieser Stelle sei den Tausenden Kol-
leginnen und Kollegen der Bundesagentur für Arbeit,
des Bundesgrenzschutzes, der Polizei und der Finanzbe-
hörden gedankt, die die illegale Beschäftigung täglich
bekämpfen.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Durch diese Arbeit und durch die Maßnahmen der Bun-
desregierung – ich nenne nur die Stichworte Minijobs,
Ich-AGs und Eingliederungshilfen für Arbeitnehmer –
konnten, insbesondere in großen Städten wie Berlin,
erste sichtbare Erfolge bei der Zurückdrängung illegaler
Beschäftigung erreicht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotzdem bedarf es weiterer, zusätzlicher Anstrengun-
gen. Vor allen Dingen brauchen wir ein entsprechendes
gesellschaftliches Klima.

Sehr geehrte Damen und Herren, wie sind die
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Brüssel
aus der Sicht der Region, aus der ich komme – einer
Grenzregion zu Polen –, zu bewerten? Der Rat weist da-
rauf hin, dass das Bewusstsein aller Bürger für Europa
gestärkt werden muss. Gestern haben wir zu diesem
Thema – das kann man fraktionsübergreifend so sagen –
eine sehr interessante Anhörung im EU-Ausschuss
durchgeführt, auf die ich kurz eingehen möchte.

Der geschäftsmäßige Umgang der Menschen auf bei-
den Seiten der Grenze ist bereits heute Realität. Die An-
erkennung der Realitäten ohne Wenn und Aber bildet ge-
rade für die Entwicklung eines freundschaftlichen und
menschlichen Miteinanders in der europäischen Völker-
familie eine solide Basis. Die neue Koordinatorin für das






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Vogelsänger

deutsch-polnische Verhältnis, Frau Professor Gesine
Schwan, wird diesen Prozess – dessen bin ich mir si-
cher – in vorbildlicher Weise befördern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder
mit über einem Drittel ausländischer, insbesondere ost-
europäischer Studenten unterstützt mit ihrer Ausrichtung
die Stärkung des Bewusstseins für ein neues Europa.
Dies färbt natürlich auch auf die Menschen in der Re-
gion positiv ab. Ein Osteuropa-Kompetenzzentrum in
Frankfurt/Oder würde diesen Prozess nicht nur substan-
ziell, sondern auch mental unterstützen.

Europa den Menschen vermitteln heißt aber auch,
dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auf europäischer,
nationaler und regionaler Ebene höchste Priorität beizu-
messen. Dafür wurde und wird viel getan, aber es zeigt
sich schon fünf Monate nach der EU-Erweiterung, dass
dies möglicherweise nicht ausreichen wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich habe nur einige Aspekte der Schluss-
folgerungen von Brüssel beleuchtet, doch an diesen lässt
sich exemplarisch festmachen, welchen Weg die Euro-
päische Union schon zurückgelegt hat und welcher Weg
noch vor uns liegt. Es bleibt eine spannende Aufgabe,
Europa zu gestalten. Ich wünsche uns – bei allen, unbe-
strittenen Problemen – ein wenig mehr Mut, ein wenig
mehr Zuversicht beim europäischen Einigungsprozess.
Das sind wir unseren Menschen in Europa schuldig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513804900

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1513805000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor wenigen Tagen wurde in Rom in einer feierlichen
Zeremonie der Vertrag der europäischen Verfassung un-
terschrieben. Am Wochenende befasste sich der EU-
Gipfel mit der Lissabon-Strategie, mit der Europa bis
2010 zur dynamischsten Wachstumsregion weltweit ge-
macht werden soll. Müsste eine Regierungserklärung
nach solchen Ereignissen nicht Aufbruchstimmung, Op-
timismus und europäisches Selbstbewusstsein vermit-
teln?


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das haben wir doch gemacht!)


Mit seinem müden, gelangweilten und griesgrämigen
Aktenvortrag hat der Außenminister heute Morgen Anti-
werbung in Sachen Europa betrieben.


(Dietmar Nietan [SPD]: Ich wusste gar nicht, dass es bei der Union schon Wahrnehmungsstörungen gibt!)


Seit dem Ende des Kalten Krieges waren wir uns im
Bundestag auf allen Seiten einig, dass mit der Osterwei-
terung der Europäischen Union ihre politische Vertie-
fung einhergehen muss. Tatsächlich hat die Erweiterung
ohne die erforderlichen Integrationsfortschritte stattge-
funden. Im Gegenteil, derzeit geben uns deutliche Desin-
tegrationstendenzen in der EU Anlass zu großer Sorge.
Die Europäische Union kann ihr Potenzial, Wachstum
und Beschäftigung zu fördern, nicht entfalten, solange
die beiden größten Volkswirtschaften – vor allem
Deutschland, aber auch Frankreich – ihre Strukturpro-
bleme nicht lösen. Der Bundeskanzler hat dazu viel zu
spät Anlauf genommen, dann mithilfe der Opposition ei-
nen Schritt getan und tritt jetzt wieder auf der Stelle.
Herr Müntefering nennt das „das Ende der Zumutun-
gen“.

Auf dem Brüsseler Gipfel plädierte der Bundeskanz-
ler für eine Aufweichung der Stabilitätskriterien, weil er
wie weiland Lafontaine glaubt, dauerhaftes Wachstum
durch höhere Staatsverschuldung erzeugen zu können.
Genau das, Herr Müntefering, ist eine Zumutung – für
kommende Generationen. Nur wer sich den schwierigen
Problemen – Umbau des Gesundheitswesens und der Al-
terssicherung, Vereinfachung des Steuerrechtes, Flexibi-
lisierung des überregulierten Arbeitsmarktes – stellt und
Widerstände überwindet, kann Wachstum und Beschäfti-
gung in Deutschland und Europa nachhaltig fördern.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Mit Ihren Rezepten bestimmt nicht!)


Der Verfassungsvertrag sieht einen Präsidenten des
Europäischen Rates und einen Europäischen Außenmi-
nister vor. Das sind wichtige Schritte, die Europäische
Union zu einem starken internationalen Akteur zu ma-
chen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann sind wir den Joschka endlich los!)


In ihrer praktischen Politik aber hat die Bundesregierung
eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik der Eu-
ropäischen Union verhindert: durch die Alleingänge von
Schröder und Chirac, nicht nur in der Irakfrage. Im Inte-
resse unserer eigenen Sicherheit muss sich die Europäi-
sche Union stärker im Nahen und Mittleren Osten und
beim Wiederaufbau des Iraks engagieren. So steht es üb-
rigens in den Schlussfolgerungen des Rates.

Nun hat der Kollege Schäuble von einem Gespräch
mit dem NATO-Oberbefehlshaber berichtet, wonach die-
ser gesagt habe, es sei problematisch, in integrierten
NATO-Stäben dabei zu sein, aber a priori zu erklären, im
Einsatzfall die deutschen Soldaten zurückzuziehen. Da-
raufhin hat sich der Abgeordnete Fischer zu einer Kurz-
intervention gemeldet und zum wiederholten Mal dem
Kollegen Schäuble vorgeworfen, er fordere den Einsatz
deutscher Soldaten im Irak. Das war beim letzten Mal
wahrheitswidrig und das war auch heute wieder wahr-
heitswidrig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Kollege Fischer hat uns auch explizit gesagt, wes-
halb er diese Kurzintervention gemacht hat. Er sagte
nämlich, dass man darüber 2006 noch einmal abstimmen
lassen werde.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Schockenhoff

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundesre-

gierung vor einer engen und vertrauensvollen Abstim-
mung mit den EU-Partnern und mit den Vereinigten
Staaten aus rein wahltaktischen Gründen ständig betont,
woran sich Deutschland unter keinen Umständen beteili-
gen werde – nicht im NATO-Rahmen und auch nicht im
EU-Rahmen –, dann schwächt das die politische Rolle
Europas und die transatlantischen Beziehungen. Lieber
Kollege Fischer, die Wähler sind nicht so blöd, dass sie
das nicht merken.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Reform der Vereinten Nationen strebt die

Bundesregierung für Deutschland einen ständigen Sitz
im Sicherheitsrat an, mit der Begründung, dass ein euro-
päischer Sitz heute nicht erreichbar sei. Für diesen Pres-
tigegewinn der nationalen Außenpolitik will diese Re-
gierung den Preis bezahlen, dass es auf Jahrzehnte
keinen europäischen Sitz mehr geben wird. Damit opfert
sie ein wichtiges Motiv für eine integrierte europäische
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch das
trägt zur Desintegration der Europäischen Union bei.

Die CDU/CSU-Fraktion bleibt dem Ziel einer wert-
orientierten Politischen Union verbunden. Um den poli-
tischen und ideellen Zusammenhalt der EU nicht zu
gefährden, ist die privilegierte Partnerschaft der richtige
Weg zur Einbindung der Türkei in Europa. Wenn die
Bundesregierung beim nächsten EU-Gipfel am 17. De-
zember 2004 ausschließlich über eine Vollmitgliedschaft
verhandeln will, dann gefährdet sie die politische Inte-
gration der EU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

So sieht es im Übrigen auch der SPD-Fraktionsvorsit-
zende im Niedersächsischen Landtag, Sigmar Gabriel. In
einem „Focus“-Interview in der vergangenen Woche
sagte er – ich zitiere –

Es gehört zur Political Correctness, dass wir immer
für EU-Erweiterungen sind und wenig über Vertie-
fung reden. Aber erst wenn Dinge wie eine gemein-
same Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik
geklärt sind, können wir über weitere Beitritte re-
den.

Sigmar Gabriel fährt fort:
Zurzeit brauchen wir die Türkei-Debatte doch nur,
um uns vor unseren eigenen Aufgaben zu drücken.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo
er Recht hat, hat er Recht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dietmar Nietan [SPD]: Daran arbeiten wir noch einmal!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513805100

Herr Ramsauer, bitte.

Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1513805200

Frau Präsidentin! Wir sind bereits am Ende dieser De-

batte. Da ich der Bundesregierung bewusst die Chance
geben wollte, den einen oder anderen Bundesminister
herbeizuholen, möchte Sie erst jetzt fragen, was Sie da-
von halten, dass große Teile der Aussprache zu einer
Regierungserklärung – vor allem der letzte Teil der De-
batte – ohne ein einziges Mitglied der Bundesregierung
geführt wurden. Ist das nicht eine ausgesprochene Miss-
achtung des Parlaments?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513805300

Es ist eigentlich nicht üblich, dass die Sitzungslei-

tung, die zur Neutralität verpflichtet ist, einzelne Vor-
gänge im Parlament kommentiert.

Ich bin aber eben informiert worden, dass Außenmi-
nister Joschka Fischer – mit Zustimmung Ihres Ge-
schäftsführers, Herrn Kauder –


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Moment!)

in der Sitzung des Haushaltsausschusses ist.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo sind die übrigen 40 Mitglieder?)


Das ist nun einmal eine parlamentarische Verpflichtung,
die zu den Aufgaben eines Ministers gehört. Wenn sol-
che Ausschüsse parallel zum Plenum tagen, wird ja die
Zustimmung der anderen Geschäftsführer eingeholt. –
So viel nur dazu.

Wenn Sie etwas beantragen oder eine Debatte darüber
beginnen wollen, dann können Sie das tun. Eine Diskus-
sion mit dem Präsidium ist aber normalerweise nicht üb-
lich.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen die auch! Das lassen wir jetzt!)



Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1513805400

Frau Präsidentin, vielleicht können Sie mir trotzdem

noch einmal das Wort erteilen. – Auf dieses Argument
Ihrerseits war ich natürlich vorbereitet. Was Sie sagen,
trifft zwar zu, aber das ist keine Antwort auf meine
Frage; denn die Bundesregierung umfasst nicht nur den
Außenminister, sondern auch andere Bundesminister. Es
wäre ohne weiteres möglich gewesen, sie ins Plenum zu
holen. Früher wäre so etwas nicht passiert, da hätte min-
destens ein anderer Bundesminister auf der Regierungs-
bank gesessen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513805500

Jedenfalls sehe ich, dass Sie keinen Antrag stellen

wollten. Daher nehme ich Ihren Beitrag als eine Art
Kurzintervention; eine solche Möglichkeit sieht unsere
Geschäftsordnung ja vor.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist eine neue politische Kultur! Wir führen Aussprachen ohne die Regierung! Es ist auch besser, dass sie zu Hause bleibt! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die Bundesregierung ist zurückgetreten!)


Möchte noch jemand dazu das Wort ergreifen? – Frau
Schwall-Düren, bitte.






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1513805600

Herr Ramsauer, sind Sie so freundlich, zur Kenntnis

zu nehmen, dass auf Wunsch Ihrer Fraktion heute Mor-
gen zunächst Fraktionssitzungen stattgefunden haben,
die dann noch länger als erwartet dauerten, und deswe-
gen die Debatte eine Stunde später als ursprünglich ge-
plant begonnen hat, wodurch natürlich die Terminpläne
der Minister durcheinander gebracht wurden?


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sind alle Minister durcheinander? – Peter Hintze [CDU/ CSU]: Das Parlament ist der erste Ort! Was Sie hier sagen, ist das Allerletzte!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513805700

Damit schließe ich zu diesem Punkt die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach, Maria
Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen
für Eltern und Kinder
– Drucksache 15/3948 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Psychosoziale Beratungsangebote bei Schwan-
gerschaftsabbrüchen nach medizinischer Indi-
kation ausbauen
– Drucksache 15/4148 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Wi-
derspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Maria Böhmer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1513805800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jede Spätabtreibung ist eine Abtreibung zu viel. Deshalb
unternehmen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
heute erneut den Versuch, dass es hier im Deutschen
Bundestag zu einer tragfähigen Initiative kommt, damit
Spätabtreibungen vermieden werden.
Wir müssen Frauen und ihren Partnern, wir müssen
dem Kind, das sie erwarten, und wir müssen den Ärztin-
nen und Ärzten und den Hebammen die notwendige
Hilfe und Unterstützung geben. Darum geht es; das sage
ich in aller Deutlichkeit. Es geht nicht um die Bevor-
mundung der Frau, wie es uns von Rot-Grün unterstellt
wird. Unser Ziel ist es, die Verzweiflung der Frauen zu
mindern. Das verdient unseren vollen Einsatz.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ebenso klar möchte ich sagen, dass niemand bei uns In-
teresse an einer erneuten Diskussion über den
§ 218 StGB insgesamt hat.


(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])

Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Beo-
bachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt. Die-
sem Auftrag müssen wir endlich nachkommen.

Es gab im Jahr 2003 217 Spätabbrüche. Geht man da-
von aus, dass die Lebensfähigkeit des Kindes aufgrund
des medizinischen Fortschritts heute schon sehr viel frü-
her gegeben ist, nämlich ab der 22. Schwangerschaftswo-
che, dann ist es im vergangenen Jahr sogar zu 337 Spät-
abbrüchen gekommen. Das mag manchem angesichts
von insgesamt 128 000 Schwangerschaftsabbrüchen pro
Jahr wenig vorkommen. Aber die Zahl ist kontinuierlich
gestiegen. Dabei ist noch die Dunkelziffer zu berücksich-
tigen; denn so mancher Schwangerschaftsspätabbruch
wird als Totgeburt registriert. Ich will hier eines klar sa-
gen: Das ist keine Frage von Zahlen. Es geht hier um die
Frage: Wie können wir in einer besonders bedrückenden
Situation Leben schützen?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese Situation ist deshalb so bedrückend, weil Spät-

abbrüche zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem die Kin-
der bereits lebensfähig sind, weil sie Paare betreffen, die
sich ein Kind wünschen, und weil es um den Umgang
mit behindertem Leben geht. Ich hatte in den vielen Ge-
sprächen, die wir fraktionsübergreifend geführt haben,
den Eindruck, dass wir uns darin einig waren – ich hoffe,
dass wir uns darin noch einig sind –, dass das Leben des
Kindes zu schützen ist, dass Eltern in dieser verzweifel-
ten Situation Hilfe erfahren müssen und dass behindertes
Leben zu achten ist.

Wir wissen aber auch – dies zeigt die Entwicklung
nach der Reform des § 218 StGB –, dass bei Spätabbrü-
chen ein besonderer Handlungsbedarf besteht; denn die
embryopathische Indikation ist damals in guter Ab-
sicht entfallen. Man wollte dafür sorgen, dass damit
keine weitere Diskriminierung behinderten Lebens statt-
findet. Aber damit ist gleichzeitig die zeitliche Begren-
zung von Abtreibungen bis zur 22. Woche entfallen.
Weggefallen sind auch die verpflichtende Beratung und
die Bedenkzeit. Das heißt, Schwangerschaftsabbrüche
sind im Rahmen der medizinischen Indikation heute
ohne jegliche Beratung und ohne jede Bedenkzeit prak-
tisch bis unmittelbar vor der Geburt zulässig. Das mag
nachvollziehbar sein und muss es sogar sein, wenn un-
mittelbare Lebensgefahr für die Mutter besteht. Aber das
ist nicht mehr nachvollziehbar, wenn es um eine medizi-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Maria Böhmer

nische Indikation im Zusammenhang mit PND geht. Es
ist doch geradezu widersinnig, dass dann, wenn die
Schwangerschaft fortgeschritten ist und das Konfliktpo-
tenzial und die Belastung der Frau in dieser Situation
noch größer werden, weil das Kind lebensfähig ist, das
Schutz- und Beratungskonzept wegfällt. Denn dann sind
keine verbindliche Beratung und keine Bedenkzeit mehr
gegeben. Die Mutter steht ohne Hilfe da, sie ist auf sich
allein gestellt, sie ist allein gelassen. Unsere Auffassung
ist: So kann es nicht bleiben, das muss geändert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Das Ziel, behindertes Leben besser zu schützen, ist
bisher nicht erreicht worden. Die Praxis zeigt, dass Kin-
der nach wie vor wegen einer erwarteten Behinderung
abgetrieben werden. Das steht in krassem Gegensatz
zum Grundgesetz; dort haben wir in Art. 3 den Satz ein-
gefügt:

Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-
teiligt werden.

Dieser Vorschlag kam in der letzten Legislaturperiode,
als wir interfraktionell darüber beraten haben, von dem
früheren Kollegen Schmidt-Jortzig von der FDP. Wir ha-
ben ihn gerne aufgegriffen.

Deshalb möchten wir klarstellen: Eine absehbare Be-
hinderung allein ist kein Grund für einen Schwanger-
schaftsabbruch. Es kommt auf die Gefährdung für das
Leben der Mutter an. Es kann nicht sein, dass allein we-
gen einer Behinderung abgetrieben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in einem Zwischenruf gefragt, was denn die

Ärztinnen und Ärzte und die Hebammen dazu sagen. Ich
will Ihnen aus dem Positionspapier des Bundes Deut-
scher Hebammen etwas mit auf den Weg geben. Dort
heißt es, dass gerade die Spätabtreibungen die dunkelste
Seite von pränataler Diagnostik sind, weil die Frauen
traumatisiert sind und weil diese Traumata Auswirkun-
gen auf die Gesundheit, auf nachfolgende Schwanger-
schaften und Geburten haben. So sehen es die Hebam-
men. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir können das
Problem nicht einfach negieren, wie Sie es in Ihrem An-
trag tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Das tun wir nicht!)


Wenn ein Kind dank medizinischen Fortschritts heute
ab der 22. Schwangerschaftswoche lebensfähig ist, dann
wird dieses Kind häufig im Mutterleib getötet – das ist
Fetozid – oder es kommt auf die Welt und bleibt unter
Umständen unversorgt liegen, in der Erwartung, dass es
bald sterben wird. Sie alle kennen den Fall des Olden-
burger Babys Tim, der durch die Presse gegangen ist. Es
ist 1997 wegen eines Downsyndroms in der 25. Schwan-
gerschaftswoche abgetrieben worden, aber wie durch ein
Wunder hat Tim überlebt. Er hätte heute wahrscheinlich
weniger Behinderungen, wenn er nicht nach der Abtrei-
bung viele Stunden unversorgt liegen gelassen worden
wäre. Ein solcher Fall darf sich nicht wiederholen.
Ich glaube, an erster Stelle muss es zu einem Werte-
wandel in unserer Gesellschaft kommen, und zwar in
zweifacher Hinsicht. Wir müssen wieder verstärkt die
Tatsache in das Bewusstsein rücken, dass Schwanger-
schaftsabbrüche dem Grunde nach eine Tötung sind und
damit rechtswidrig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Gradistanac [SPD]: Dass das kommt, war klar!)


So steht es auch im Urteil des Bundesverfassungsge-
richts. Ein ungeborenes Kind hat denselben Anspruch
auf Schutz wie ein geborenes Kind.

Zum anderen brauchen wir eine andere Einstellung zu
Menschen mit Behinderungen. Sie dürfen in unserer Ge-
sellschaft nicht ausgegrenzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Die Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer 1 000-Fragen-
Aktion die Frage aufgeworfen: Gibt es ein Recht auf ein
gesundes Kind? – Natürlich gibt es ein solches Recht
nicht. Es gibt den Wunsch von Eltern – der ist nachvoll-
ziehbar –, ein gesundes Kind zu haben. Aber was heißt
gesund? Was heißt behindert? Die Aktion Mensch tritt
für ein Recht auf Unvollkommenheit ein. Ich glaube, wir
brauchen dringend diese neue, andere Sicht behinderten
Lebens sowie auch seiner Qualität und seines Wertes.
Dafür müssen wir uns gemeinsam stark machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dem dient unser Ansatz und dem dient unser Bemühen,
Spätabtreibungen zu vermeiden.

Wir haben immer wieder neue Anläufe unternommen.
Wir haben mit Ihnen das Gespräch gesucht und über
viele Stunden hinweg verhandelt. Oft hatte ich die Hoff-
nung, wir würden zusammenkommen und gemeinsam
einen Weg finden. Wir haben in der letzten Legislaturpe-
riode einen Versuch unternommen, aber unser Antrag
wurde kurz vor Ende der Legislaturperiode abgelehnt.
Wir haben es erneut versucht und wir werden auch in
den Ausschussberatungen weiterhin versuchen, gemein-
sam mit Ihnen diesen Weg zu finden. Ihr heute vorlie-
gender Antrag erschöpft sich in Appellen und kann des-
halb nicht der Weg sein. Wir haben gesehen, dass der in
der letzten Legislaturperiode aufgrund Ihrer Initiative
beschlossene Appell an die Ärzteschaft, den Rechts-
anspruch auf Beratung im Mutterpass festzuschreiben,
ins Leere gegangen ist und sich nichts geändert hat.

Aus unserem Antrag ergeben sich fünf Ansatz-
punkte, die realisiert werden müssen:

Erstens. Wir legen großen Wert auf eine verbesserte
umfassende Beratung. Sie muss verbindlich sein und sie
muss über die medizinische Beratung hinausgehen. Sie
muss psychosozialer Art sein und sie muss den Müttern
in dieser verzweifelten Situation helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens. Es bedarf der Sicherheit im Befund. Des-

halb braucht man ein interdisziplinär besetztes Gremium






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Maria Böhmer

von Ärzten. Hier sind neben dem Gynäkologen auch der
Kinderarzt und der Genetiker gefordert. Es geht nicht
darum, dass die Frau vor ein Gremium zitiert wird, son-
dern darum, den ärztlichen Befund abzustützen und da-
mit Klarheit zu schaffen.

Drittens. Wir brauchen die Einführung einer Bedenk-
zeit von drei Tagen, denn in einer Schocksituation kann
man nicht verantwortlich handeln. Diese Frist ist not-
wendig, damit die Frauen und ihre Partner sich Klarheit
verschaffen können, um Ja zum Kind zu sagen oder un-
ter Umständen in dieser bedrängten Situation doch den
Weg zur Abtreibung zu gehen. Diese Entscheidung darf
nicht in einer Schocksituation getroffen werden.

Viertens. Wir müssen die Arzthaftung auf den Prüf-
stand stellen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513805900

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!


Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1513806000

Viele Ärzte drängen die Frauen zur Abtreibung. Des-

halb glauben wir, dass man den Weg, der in Frankreich
eröffnet worden ist, diskutieren muss, nämlich die Haf-
tung auf grobe Fahrlässigkeit zu beschränken.

Fünftens. Wir legen Wert darauf, dass der gesetzgebe-
rische Wille klargestellt wird.

Ich appelliere noch einmal an Sie: Gehen Sie mit uns
gemeinsam diesen Weg. Lassen Sie die Frauen nicht al-
lein. Helfen Sie denjenigen, die sich ein Kind wünschen,
und helfen Sie, dass behindertes Leben in unserem Land
besser anerkannt wird!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513806100

Für die Bundesregierung hat die Staatssekretärin

Christel Riemann-Hanewinckel das Wort.

Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre-
tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1995 haben wir in diesem Haus nach intensi-
ver fünfjähriger Debatte und nach dem Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts von 1993 für Deutschland eine
Neuregelung über den Schwangerschaftsabbruch ge-
schaffen. Die embryopathische Indikation entfiel, da nie-
mand mehr wollte, dass eine Schwangerschaft allein we-
gen einer Schädigung des zu erwartenden Kindes
abgebrochen werden darf.

Mit der Einführung der medizinischen Indikation
nach § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch ging die Zahl der
danach indizierten Abbrüche seit 1996 kontinuierlich zu-
rück. Der Anteil an der Gesamtzahl der Abbrüche liegt
seitdem gleich bleibend bei 3 Prozent. Der Anteil der so
genannten späten Abbrüche – der Abbrüche, die nach
der 23. Schwangerschaftswoche erfolgen – liegt gleich
bleibend bei 0,1 Prozent der gesamten Abbrüche; 2003
waren das in Deutschland 217 Fälle.

Heute liegen dem Parlament zwei Anträge zur Bera-
tung vor. Der CDU/CSU-Antrag zielt in Übereinstim-
mung mit den Forderungen der Deutschen Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe in erster Linie darauf
ab, die Position der behandelnden Ärztinnen und Ärzte
gegenüber der Schwangeren zu stärken und insofern die
der schwangeren Frau sowohl in rechtlicher als auch in
psychosozialer Hinsicht zu beschränken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Genau das wollen wir eben nicht!)


Hierzu enthält der Antrag unter anderem folgende
Maßnahmen: psychosoziale Pflichtberatung nach präna-
taler Diagnose mit Befund; Kostenübernahme für präna-
tale Diagnostik durch die Krankenkassen nur bei Inan-
spruchnahme ärztlicher und psychosozialer Beratung;
Feststellung einer medizinischen Indikation im Zusam-
menhang mit einer Behinderung des Ungeborenen durch
Begutachtung eines interdisziplinären Gremiums; Haf-
tungsbeschränkung behandelnder Ärztinnen und Ärzte
bei mangelhafter Durchführung der Pränataldiagnostik;
Erweiterung des Weigerungsrechts der Ärzte, an einem
späten Abbruch mitzuwirken; Ausweitung der statisti-
schen Erfassung sowie Ergänzung des § 218 a Abs. 2
Strafgesetzbuch in dem Sinne, dass ein embryopathi-
scher Befund alleine nicht ausreicht, um eine Abtrei-
bung durchführen zu können.

Ich will mich an dieser Stelle auf den letzten Punkt
beschränken. Der Gesetzgeber hat deutlich gemacht
– dass geht aus dem § 218, wie wir ihn 1995 gemeinsam
verabschiedet haben, eindeutig hervor –, dass nicht al-
lein ein die Gesundheit der Frau gefährdender Befund im
Rahmen der Schwangerschaft, sondern darüber hinaus
auch familiäre und soziale Lebensumstände zu berück-
sichtigen sind. Damit hat der Gesetzgeber die Konflikte
und Belastungen der Schwangeren anerkannt, auch aus
der Vorausschau auf ihre umfassenden Sorge- und Ein-
standspflichten für das Kind. Diese Intention kommt fast
wortgleich auch in der Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 28. Mai 1993 zum Ausdruck.


(Zuruf von der CDU/CSU: Tragen Sie das mal dem Kind vor!)


Der Wortlaut der geltenden Regelung im Gesetz von
1995 ist damit eindeutig und nicht ergänzungsbedürftig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein interdisziplinär besetztes Gremium, das über
das Vorliegen der Voraussetzung einer medizinischen In-
dikation entscheidet, müssen wir nicht gesetzlich fest-
schreiben. Die Kliniken, die heute Spätabbrüche vorneh-
men – Sie können sich in der Charité erkundigen –,
arbeiten schon jetzt interdisziplinär und klären mit allen
betroffenen Fachrichtungen, inwieweit die Befunde eine
Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren dar-






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel

stellen. Aus meiner Sicht stellen Sie Forderungen auf,
die nach ärztlichem Standesrecht selbstverständlich sind.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Alles in allem stellen die im CDU/CSU-Antrag gefor-
derten Maßnahmen eine starke Bevormundung und aus
meiner Sicht eine Diskriminierung schwangerer Frauen
dar.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Der Zusammenhang zwischen dem Leben der Frau und
dem Schicksal ihres Kindes wird weitgehend vernach-
lässigt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben den Antrag wirklich nicht gelesen!)


– Sie können sich sicher sein, dass ich ihn sehr genau ge-
lesen habe. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit
diesem Thema.

SPD und Grüne dagegen wollen die Position der
schwangeren Frau stärken, indem ihre Entscheidungs-
kompetenz im Zusammenhang mit pränataldiagnosti-
schen Maßnahmen und ihre Entscheidungsautonomie
respektiert bzw. verbessert werden.


(Beifall der Abg. Renate Gradistanac [SPD])

Hierzu fordern wir unter anderem flexible psychosoziale
Beratungsangebote zwischen Beratungsträgern und prä-
nataldiagnostischen Zentren sowie – das ist ein sehr
wichtiger Punkt – die Fort- und Weiterbildung von Ärz-
tinnen und Ärzten im Blick auf ihre eigene Beratungs-
kompetenz. Außerdem fordern wir die Bundesärztekam-
mer auf, Richtlinien zur verbindlichen Information und
Beratung von Schwangeren zu verabschieden, die auch
die Kooperation mit Fachleuten anderer ärztlicher Diszi-
plinen und anderer betroffener Berufsgruppen sicherstel-
len. Daran herrscht bis heute ein großer Mangel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was die betroffenen Frauen brauchen, ist keine Pflicht
zur Beratung. Vielmehr müssen die Ärztinnen und Ärzte
verpflichtet werden, die schwangere Frau über ihren An-
spruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 Schwanger-
schaftskonfliktgesetz und vor allen Dingen über die Aus-
wirkungen der pränatalen Diagnostik – und zwar vor
deren Einsatz – zu informieren.

Sie müssen auch lernen, zu respektieren, dass es ein
Recht auf Nichtwissen gibt. Frauen haben mir berichtet,
dass sie im Paket die Schwangerschaftsvorsorge ab-
zeichnen und damit Untersuchungen über sich ergehen
lassen mussten, über deren Sinn sie nicht informiert wa-
ren und die sie abgelehnt hätten, wenn sie Bescheid ge-
wusst hätten.

Die Pränataldiagnostik ist in Deutschland in den
letzten Jahren zu einem festen und selbstverständlichen
Bestandteil der Schwangerenvorsorge geworden. Jede
schwangere Frau muss bzw. soll sich heute in der ärzt-
lichen Schwangerschaftsvorsorge mit einem sehr breiten
Spektrum von pränatalen Untersuchungsmethoden aus-
einander setzen. Viele wissen nicht – dieses Wissen wird
den Frauen oft vorenthalten –, dass die Untersuchungen
neben der Kontrolle des allgemeinen Schwangerschafts-
verlaufs eine gezielte Suche nach Fehlbildungen bzw.
chromosomalen Auffälligkeiten des Fötus beinhalten. Es
macht Sinn, in diesem Hause darüber zu debattieren,
welchen Stellenwert wir insgesamt der Pränataldiagnos-
tik beimessen wollen und wie wir als Gesellschaft in Zu-
kunft mit den Ergebnissen, die diese Diagnostik zeitigt,
umgehen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Leider wird die Pränataldiagnostik häufig ohne ent-
sprechende Beratung der Schwangeren und ohne The-
matisierung der Konsequenzen bzw. Aufzeigen von
Alternativen durchgeführt. Da bisher nur bei wenigen
Diagnosen intrauterine Therapiemöglichkeiten bestehen,
geht es letztlich zumeist darum, bei einem auffälligen
Befund über einen Abbruch der Schwangerschaft zu
entscheiden. Ein solcher Befund bringt sehr oft die
Schwangere und ihren Partner in enormen Entschei-
dungszwang. Oft genug wird den Betroffenen – auch das
wissen Sie alle – die Entscheidung von ärztlicher Seite
abgenommen, indem ihnen mit der Verkündung der Dia-
gnose gleich der Termin für den Abbruch genannt wird.
Es wird also nicht über Alternativen diskutiert.

Was meistens nicht angeboten bzw. worauf nicht ver-
wiesen wird, ist der Anspruch der Schwangeren auf
psychosoziale Beratung. Notwendig ist die Verpflich-
tung der Ärztinnen und Ärzte, den Betroffenen darzule-
gen, welche Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten es gibt,
damit die Frauen eine für sie verantwortliche und verant-
wortbare Entscheidung treffen können. Dafür muss aber
vor allem die Beratung im Kontext der Pränataldiagnos-
tik sowohl vor als auch nach Inanspruchnahme der Dia-
gnostik verbessert werden, um Frauen eine kompetente
Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme be-
stimmter diagnostischer Methoden zu ermöglichen. Wir
müssen also schon sehr viel früher beginnen, aus der rein
medizinischen Betrachtungsweise auszusteigen und zu
fragen: Was kann und was soll Pränataldiagnostik? Wird
respektiert, dass Eltern bestimmte Untersuchungen nicht
in Anspruch nehmen wollen?

Vor diesem Hintergrund finde ich es doppelt ungeheu-
erlich, dass im Antrag der CDU/CSU die Finanzierung
der Pränataldiagnostik an die psychosoziale Beratung
gekoppelt werden soll. Die Eltern, die von einer ernst-
haften Behinderung oder Krankheit ihres ungeborenen
und in der Regel erwünschten Kindes erfahren, suchen
von sich aus Information und Beratung, ohne dass ihnen
dies bei Strafandrohung vorgeschrieben werden muss.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Von Strafandrohung steht überhaupt nichts drin! Verdrehung des Antrags, Frau Staatssekretärin! – Gegenruf der Abg. Christel Humme [SPD]: Ich habe den Eindruck, Sie lesen Ihre eigenen Anträge nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel

Ein Anspruch auf Beratung, der auch die Information
über die Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschen
und ihre Familien umfasst, die vor und nach der Geburt
eines in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen
Gesundheit geschädigten Kindes zur Verfügung stehen,
besteht schon jetzt nach § 2 Abs. 1 des Schwanger-
schaftskonfliktgesetzes.

Als eine Frau, die aus der Beratungsarbeit kommt,
weiß ich, dass Menschen in Situationen kommen kön-
nen, in denen sie nicht mehr weiter wissen und in denen
sie Beratung und Begleitung brauchen. So ist es auch bei
späten Schwangerschaftsabbrüchen. Sie, meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU, vermuten – das
wird durch Ihre Forderungen offenbar –, dass Frauen aus
nichtigen Gründen abtreiben. Doch keine Frau nimmt
leichtfertig einen späten Abbruch vor.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle 217 Spätabbrüche sind besondere und einmalige
Fälle.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Es sind viel mehr; das wissen Sie auch! Sie wollen gar nicht wissen, wie viele es tatsächlich sind!)


Es handelt sich um Frauen, die sich ein Kind gewünscht
haben. Wer den Konflikt, eine Entscheidung über einen
Abbruch in diesem Stadium der Schwangerschaft fällen
zu müssen, nicht selbst erlebt hat, kann die Tragweite
des Konfliktes und der Krise kaum erfassen.

Medizinische Beratung und psychosoziale Begleitung
können Frauen in diesen wirklich schwierigen Situatio-
nen helfen. Der Gesetzgeber kann nur Rahmenbedingun-
gen schaffen, damit genügend fachübergreifende Bera-
tungsangebote zur Verfügung stehen und Frauen nicht
alleine gelassen werden.

Wir brauchen keine Klarstellung des § 218 StGB. Wir
brauchen auch keine Verschärfung des § 218 StGB.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Darum geht es überhaupt nicht! – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Nicht zu glauben! Sie hätten unseren Antrag einmal lesen sollen, bevor Sie sich hier darüber auslassen!)


Wir brauchen vor allen Dingen Vertrauen in die Frauen,
die in dieser Krise qualifizierte Begleitung, Hilfestellung
und Respekt benötigen, und zwar durch Ärztinnen und
Ärzte, Beraterinnen und Berater, Seelsorgerinnen und
Seelsorger und nicht zuletzt durch Politikerinnen und
Politiker.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513806200

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.

Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1513806300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolle-

ginnen! Der Umgang mit den Chancen und Risiken der
Pränataldiagnostik beschäftigt uns fraktions- und partei-
übergreifend schon seit langem. Der Schutz des Lebens
und ganz besonders der Schutz des ungeborenen Lebens
sind eine wichtige Aufgabe und eine Verpflichtung des
Staates, die wir auch heute wieder wahrnehmen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die Frauenorganisation der FDP Bundesvereinigung

Liberale Frauen, deren Vorsitzende ich bin, hat auch im
März dieses Jahres einen Beschluss zur Vermeidung von
späten Schwangerschaftsabbrüchen gefasst. In diesem
Parlament haben wir uns – wir müssen sagen: dank der
Union – in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aller Frak-
tionen in mehreren Sitzungen mit dieser Problematik be-
fasst. Bei Fragen der Ethik wie bei der des Schwanger-
schaftsabbruchs ist meines Erachtens ein sehr breiter
politischer Konsens wichtig. Das stärkt das Vertrauen
in die Politik und ist ein gutes Signal an Bürger und Bür-
gerinnen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich sehr klar sagen:
Die gesetzlichen Bestimmungen des § 218 StGB mit der
bestehenden Beratungsregelung, die Frauen vor einem
Schwangerschaftsabbruch – er ist bis zur zwölften Wo-
che erlaubt – zur Beratung verpflichten, stehen für die
FDP – gerade heute – nicht zur Debatte.


(Beifall bei der FDP)

Wir alle, die im politischen Geschäft tätig sind, wis-

sen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Parlament
die Pflicht zur Beobachtung und gegebenenfalls zur
Nachbesserung beim Schutz des ungeborenen Lebens
auferlegt hat. Das zwingt uns – da hat die CDU Recht –
zu einer genaueren Analyse.

1995 fasste der Deutsche Bundestag § 218 a
Abs. 2 StGB mit dem Schwangeren- und Familienhilfe-
änderungsgesetz neu. Darauf ist schon in einer der letz-
ten Reden hingewiesen worden. Ich glaube, es ist ganz
wichtig, dass wir uns klar machen, dass die embryo-
pathische Indikation mit dieser Neuregelung weggefal-
len ist. Diese Indikation gewährte Straffreiheit bei großer
Gefahr einer nicht behebbaren Schädigung des Gesund-
heitszustandes des Kindes, die so schwer wiegt, dass die
Fortsetzung der Schwangerschaft von der Schwangeren
nicht verlangt werden kann.

Gleichzeitig wurde 1995 die so genannte medizini-
sche Indikation neu geregelt. Sie sieht vor, dass ein
Schwangerschaftsabbruch nicht als rechtswidrig gilt,
wenn damit eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr
einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körper-
lichen oder seelischen Gesundheitszustandes der
schwangeren Frau abgewendet wird. Das ist ein großer
Unterschied. Eine zeitliche Befristung des Abbruchs
– deshalb reden wir darüber – sowie eine Pflicht zur Be-
ratung bestehen in diesen Fällen nicht.

Die seit 1996 erfassten Abbrüche nach medizinischer
Indikation gingen von damals 3,7 Prozent auf 2,7 Pro-
zent – in Zahlen: 3 421 – im Jahr 2003 zurück. Auch






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke

Frau Böhmer hat darauf hingewiesen. Die Zahl der so
genannten Spätabbrüche bei einer Schwangerschafts-
dauer von 23 Wochen und mehr – da ist manches Früh-
chen schon lebensfähig; diese Fälle beschäftigen uns alle
so sehr – betrug deutschlandweit laut Bundesstatistik im
Jahr 2003 217.

Frau Böhmer, diese Zahlen allein sagen uns aber noch
nicht, ob ein politischer Handlungsbedarf besteht. Da die
embryopathische Indikation seit 1995 nicht mehr exis-
tiert, wissen wir nicht – das ist richtig –, wie viele der
3 421 Fälle einer medizinischen Indikation mit einer Ge-
sundheitsbeeinträchtigung des ungeborenen Kindes in
Zusammenhang stehen.

Die Pränataldiagnostik, das heißt die Untersuchung
der Schwangeren und des Ungeborenen, steht nun im
Fokus der Diskussion. Wir sollten zunächst einmal fest-
halten, dass die Pränataldiagnostik zuallererst eine wert-
volle medizinische Errungenschaft und eine Chance ist.
Oft können mit ihrer Hilfe der Schwangeren die Sorgen
über den Verlauf der Schwangerschaft genommen wer-
den, können Risiken ausgeschlossen oder gemindert
werden. Durch die Pränataldiagnostik können – das ist
doch das Gute – Fehlbildungen oder schwere Erkrankun-
gen des Ungeborenen erkannt werden. In manchen Fäl-
len – das haben uns die Ärzte in den Arbeitskreissitzun-
gen gesagt – gibt es bei solch einem Befund pränatale
Therapiemöglichkeiten oder auch Therapiemöglichkei-
ten direkt nach der Geburt.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Das ist doch etwas Gutes. Das sollten wir zunächst einmal
begrüßen. In wenigen Fällen – das wissen wir, die wir uns
damit beschäftigen, auch – ist zu erwarten, dass ein Kind
nicht lebensfähig sein würde oder mit schweren Behinde-
rungen oder schweren Krankheiten leben müsste.

Wir wissen, dass solche Diagnosen zum Teil erst in
einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft
gestellt werden können. Man kann das nicht bis zur
zwölften Woche feststellen. Frauen und ihre Partner wer-
den durch einen solch schwierigen Befund natürlich oft
in eine wirklich verzweifelte Situation gestürzt. Deshalb
bin ich der Meinung, dass auch die Zulassung der PID
am Anfang einer Schwangerschaft – da sind wir unter-
schiedlicher Meinung, Frau Böhmer – eine Hilfe für
Frauen in Konfliktsituationen sein könnte.

Aus der Ärzteschaft selbst und auch von Behinderten-
verbänden haben wir im Beratungsvorlauf Anregungen
dafür erhalten, wie Frauen in dieser Situation mehr ge-
holfen und ungeborenes Leben möglicherweise besser
geschützt werden kann. Die derzeitige Praxis ist also
sehr sorgfältig zu prüfen.

Die FDP will die verantwortungsvollen Regelungen
für betroffene Männer und Frauen verbessern und eine
überstürzte Entscheidung für einen Abbruch vermeiden
helfen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da könnten wir einer Meinung sein!)


Darüber sind wir uns doch nun wirklich einig.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Fraktionsübergreifend wollen wir gemeinsam beraten
und für folgende Problematiken – jetzt komme ich zu
meinen Punkten – Lösungen finden:

Erstens. Frauen sollen sich auf der Basis einer guten
Information und Aufklärung für, aber auch gegen prä-
nataldiagnostische Maßnahmen entscheiden können.
Frauen haben ein Recht auf Wissen; sie haben aber auch
ein Recht auf Nichtwissen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Die Beratung vor und nach der Pränataldia-
gnostik soll verstärkt werden, wie die Staatssekretärin
schon gesagt hat. Wenn der Befund einer Erkrankung,
Behinderung oder Entwicklungsstörung des Ungebore-
nen vorliegt, kann eine interdisziplinäre Beratung durch
Gynäkologen, Humangenetiker oder Pädiater sehr sinn-
voll sein. Die psychosoziale Beratung – auch das haben
wir festgestellt – ist besonders wichtig. Frauen und ihre
Partner brauchen sie. Wir wollen Frauen in den vielen le-
benspraktischen und ethischen Fragen, mit denen sie
konfrontiert sind, Hilfe von professioneller Seite gewäh-
ren. Der lebenspraktische Aspekt ist ganz wichtig, wenn
zu dem Kind Ja gesagt wird.

Drittens. Ich plädiere für eine Bedenkzeit von drei Ta-
gen zwischen der Feststellung der medizinischen Indika-
tion und der möglichen Durchführung eines Abbruchs.
Eine dreitägige Frist soll für weitere ärztliche und psy-
chosoziale Beratung Zeit geben. Das wollen wir aber
auch wohl alle.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag!)


– Ja. Ich habe doch gesagt, dass wir alle das wollen.
Aber auch die Position der FDP muss heute hier deutlich
werden.


(Beifall bei der FDP)

Viertens und letztens. Wir wollen einem Anliegen der

Ärzte entsprechen. Ganz klar muss künftig geregelt sein,
dass auch bei einem Schwangerschaftsabbruch nach me-
dizinischer Indikation der Arzt oder die Ärztin die Mit-
wirkung verweigern kann, sofern nicht eine akute Le-
bensbedrohung für die Schwangere besteht.

Auch die FDP will das Thema mit Experten in einer
Anhörung vertiefen.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Gut!)

Wir wollen zudem einen eigenen Antrag in den Bundes-
tag einbringen.

Abschließend möchte ich sagen, dass wir alle uns ge-
meinsam bemühen sollten, Frauen in schwierigen Le-
benssituationen zu helfen. Sie haben es wirklich nötig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513806400

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard

Schewe-Gerigk.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen haben sich 1995 zu Recht dafür eingesetzt,
dass die embryopathische Indikation aus dem § 218 he-
rausgenommen wurde; denn eine Behinderung des Em-
bryos allein – darüber sind wir uns über Fraktionsgren-
zen hinweg einig – darf kein Grund für einen
Schwangerschaftsabbruch sein. Aber ich bin davon
überzeugt, dass die medizinische Indikation, so wie sie
jetzt im Gesetz steht, notwendig ist.

Eine Schwangere wäre in unzumutbarer Weise über-
fordert, wenn das Austragen der Schwangerschaft auf
Kosten ihres eigenen Lebens oder Gesundheitszustandes
von ihr verlangt würde. Der Gesetzgeber hat aber auch
deutlich gemacht, dass nicht allein eine Gefährdung der
körperlichen Gesundheit der Frau, sondern darüber hi-
naus auch familiär-soziale Lebensumstände zu berück-
sichtigen sind. Diese Intention kam im Übrigen schon in
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von
1993 zum Ausdruck.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in
diesem Zusammenhang zunächst auf die Fragen der prä-
natalen Diagnostik eingehen. Schwangerschaft wird
zunehmend als Krankheit definiert. Zahlen aus Nieder-
sachsen zeigen, dass im Jahre 1999 bei 74 Prozent aller
schwangeren Frauen Schwangerschaftsrisiken im Mut-
terpass angegeben wurden. Diesen Schwangeren wird
nicht nur ein hoher Untersuchungsaufwand zugemutet,
sie werden oft auch zu Untersuchungen gedrängt, über
deren Auswirkungen sie oft nicht genügend informiert
sind. Das führt zu Verunsicherungen und zu Ängsten.
Dabei kommen zwischen 96 und 98 Prozent aller Kin-
der gesund auf die Welt.

Wir sehen insgesamt mit Sorge, dass den Frauen im-
mer mehr pränatal-diagnostische Maßnahmen angeboten
werden. Das stellt bei sinkenden Geburtenzahlen sicher-
lich auch einen wirtschaftlichen Faktor für viele Praxen
dar. Die Schwangeren erwarten von der PND ja keine
auffälligen Befunde, sondern wollen beruhigt werden,
wollen, dass ihnen gesagt wird, dass alles in Ordnung ist.
Das ist auch ein Grund für die hohe Akzeptanz. Wir wol-
len, dass die Frauen in die Lage versetzt werden, wirk-
lich nur die Untersuchungen zuzulassen, die sie auch
wollen. Dabei muss auch das Recht auf Nichtwissen ein-
geräumt werden. Auch hier sind wir uns einig. Wenn
sich eine Frau gegen eine Fruchtwasseruntersuchung
ausspricht, muss das akzeptiert werden. Ich weiß, dass es
häufig ganz schwierig ist, das gegenüber den Ärzten
durchzusetzen.

Die Wahrscheinlichkeit für eine 37-Jährige, ein Kind
mit Down-Syndrom zu haben, liegt bei 0,5 Prozent. Das
Risiko, durch eine Fruchtwasseruntersuchung eine Fehl-
geburt zu erleiden, ist doppelt so hoch. Das sollte uns zu
denken geben, liebe Kollegin Lenke. Deshalb sehe ich
die Pränataldiagnostik nicht so positiv, wie Sie sie eben
dargestellt haben. Darum wollen wir den im Schwanger-
schaftskonfliktgesetz bereits ausdrücklich verankerten
Rechtsanspruch auf Beratung stärken. Bei vielen, vor
allen Dingen bei invasiven Untersuchungen sind die
Auswirkungen eines eventuell auffälligen Befundes für
Frauen nicht übersehbar. Hier sollte in jeder Phase das
Recht der Schwangeren auf psychosoziale Beratung aus-
gebaut werden. Ich finde, die Ärztinnen und Ärzte haben
die Pflicht, die Schwangeren darauf hinzuweisen. Dabei
spielt eine angemessene Bedenkzeit zwischen den Bera-
tungen nach einem auffälligen Befund bzw. bis zu einem
eventuellen Schwangerschaftsabbruch eine große Rolle,
dass alles seelisch verarbeitet werden kann und voreilige
Entscheidungen vermieden werden können. Auch hier
sind wir uns mit den Kolleginnen der CDU/CSU und
auch der FDP einig.

Darüber hinaus setzen wir uns aber für eine Stärkung
der Begleitung der Schwangeren durch Hebammen ein.
Dieses könnte der Medizinisierung von Schwanger-
schaften etwas entgegensetzen. Das heißt, wir wollen
vermeiden, dass sich immer mehr Schwangere möglichst
vielen, oft risikoreichen Pränataldiagnoseverfahren in
der Hoffnung auf vorgeburtliche Therapiemöglichkeiten,
die es kaum gibt, unterziehen müssen. Bei einem Herz-
fehler ist etwas zu machen, aber bei fast allen anderen
Diagnosen wird den Frauen suggeriert, man könne etwas
tun, obwohl das nicht der Fall ist. Darum wollen wir den
Informed Consent der Schwangeren durch einen Ausbau
von Aufklärung und Beratung stärken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten sowohl
in dieser wie auch in der letzten Legislaturperiode eine
interfraktionelle Arbeitsrunde zu diesem Thema. Aller-
dings wurde deutlich, dass Teile der CDU/CSU eher an
einer Verschärfung des § 218 interessiert waren und da-
für das Thema Spätabtreibung als Aufhänger nutzten.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch unerhört! Das ist doch gar nicht wahr! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht, was Sie da sagen!)


Frau Böhmer hat heute den Beweis dafür – erstmalig
hörte ich das von Ihrer Seite, Frau Böhmer – geliefert,
indem sie sagte, ein Schwangerschaftsabbruch bei einer
medizinischen Indikation sei rechtswidrig. So stimmt
das nicht. Ein Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wo-
chen ist rechtswidrig, aber straffrei.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt! Sie müssen genau zuhören! Das bezog sich auf die psychosoziale Indikation!)


– Dann sind wir uns ja einig.
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU ist meines Er-

achtens von einem tiefen Misstrauen gegenüber Frauen
sowie Ärztinnen und Ärzten geprägt. Anders sind die
Forderungen in Ihrem Antrag, eine Zwangsberatung für
die Schwangeren vorzusehen, nicht zu verstehen. Sie
misstrauen den Frauen so sehr, dass Sie ihnen damit dro-
hen, dass die Krankenkassen die PND nicht bezahlen
würden, wenn nicht vorher eine Pflichtberatung absol-






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk

viert wurde. Wir glauben dagegen, dass Schwangere mit
einer diagnostizierten Behinderung ihres Kindes ein weit
reichendes, umfassendes und zeitnahes Beratungsange-
bot brauchen. Sie brauchen die Aufklärung und sie brau-
chen die Beratung. Sie brauchen das aber als Angebot,
nicht als Zwang. Sie brauchen in einer solchen Situation
jede Unterstützung, nicht aber die finanzielle Keule der
Krankenkassen.

In die Kategorie Misstrauen fällt auch, dass eine me-
dizinische Indikation nach Ihren Vorstellungen nur durch
ein interdisziplinäres Ärztegremium festgelegt werden
soll.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist doch barer Unsinn! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch eine Unterstellung!)


Die Unterstellung, Frauen machten es sich leicht und
würden wegen einer zu erwartenden Kiefer-Gaumen-
Spalte einen Abbruch verlangen, entbehrt jeder Grund-
lage.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Können Sie sagen, wer das behauptet hat?)


– Das wird immer unterstellt; fragen Sie vielleicht ein-
mal Herrn Hüppe. – Es gibt lediglich einen Fall in Eng-
land, in dem so etwas aktenkundig geworden ist.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Frau Schewe-Gerigk, nehmen Sie einmal Abstand von diesen antiquierten Vorstellungen!)


Zu der anderen Frage: Expertenbefragungen an den
Universitätskliniken Bonn und München haben ergeben,
dass 80 Prozent der durchgeführten Abbrüche Schwan-
gerschaften mit außerhalb des Mutterleibs nicht lebens-
fähigen Kindern betrafen. Den Kindern fehlten lebens-
wichtige Organe, sie hätten also nicht leben können. –
So viel zur Versachlichung dieser Debatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wie Sie dennoch mit einer statistischen Erfassung
über die Art der Behinderung und des Eingriffs künftig
Spätabtreibungen verhindern wollen, ist mir ein Rätsel.
Erstens ist eine Behinderung kein Abbruchgrund. Zwei-
tens reden wir von etwas über 200 Fällen pro Jahr. Auf-
geschlüsselt wären das ein bis zwei Personen pro Quartal
und Bundesland, auf die natürlich direkte Rückschlüsse
möglich wären. Der Datenschutzbeauftragte hat das in
der letzten Legislaturperiode sehr deutlich gemacht.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aber er hat auch gesagt, dass dies lösbar ist!)


Dass in Deutschland Spätabbrüche durch Fetozide
erfolgten – auch Frau Böhmer hat das eben angespro-
chen –, die in der Bundesstatistik als Totgeburten gemel-
det wurden, fällt leider auch in die Kategorie Misstrauen.
Es gibt keinen Beweis dafür. Die Zahl der Totgeburten
ist seit 1996 kontinuierlich zurückgegangen. Wenn Ihre
These stimmen würde, dass neuerdings die Abbrüche
durch Fetozide zunähmen und als Totgeburten gemeldet
würden, dann müsste diese Zahl angestiegen sein. Das
entbehrt also jeder Grundlage.

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Es ist hoffnungslos!)


Lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen vorge-
schlagenen Haftungseinschränkung für Gynäkologen
und Gynäkologinnen sagen. Sie soll nur noch bei grober
Fahrlässigkeit gelten. Wollen Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, tatsächlich Schwangere und
Ungeborene schlechter stellen als andere Patientinnen?
Mir fehlt dafür wirklich jedes Verständnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich zusammenfassen: Es gibt keinen
bundesgesetzlichen Handlungsbedarf. § 218 a Abs. 2
des Strafgesetzbuches ist eindeutig: Eine absehbare Be-
hinderung allein ist kein Grund für einen Schwanger-
schaftsabbruch und wäre nach geltendem Recht strafbar.
Was wir allerdings brauchen, ist eine Verbesserung der
Beratung. Das haben wir in unserem Antrag, der Ihnen
vorliegt, sehr deutlich belegt. Die Beratung ist allerdings
nicht Sache des Gesetzgebers, sondern der Ärzteschaft,
die wir dabei sehr gerne unterstützen wollen. In Gesprä-
chen ist ja sehr häufig darauf eingegangen worden, dass
die Ärzte von sich aus viel machen müssen.

Was wir aber auch brauchen, sind eine verstärkte
Fortbildung und Qualitätssicherung rund um die präna-
tale Diagnostik. Was die Schwangeren dringend brau-
chen, ist eine bessere Information und Aufklärung. Aber
auch hier ist nicht der Bund gefragt, sondern der Bun-
desausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Eine ange-
messene Bedenkzeit im Rahmen einer medizinischen In-
dikation, wenn Leben und Gesundheit der Schwangeren
nicht akut bedroht sind, wird von uns begrüßt, muss aber
auch vom Bundesausschuss in den Richtlinien verankert
werden. Tun Sie doch nicht immer so, als wollten wir
hier alles ablehnen. Hier ist nicht der richtige Ort, das zu
entscheiden; das muss in den Richtlinien festgelegt wer-
den. Helfen Sie uns, das umzusetzen!

Ich glaube, dass es gerade in solchen Fällen für die
Frauen ganz dringend notwendig ist, Bedenkzeit zu ha-
ben. Ich würde auch nicht sagen, dass sie drei Tage Zeit
haben sollen, sondern dass sie angemessen Zeit haben
sollen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich habe mit vielen gesprochen, die gesagt haben: Es kann
kürzer sein, es kann aber auch länger sein. Es kann auch
Frauen geben, die sagen: Ich möchte 14 Tage Trauerarbeit
machen. Diese Möglichkeit muss man ihnen geben.

Dass bei einer diagnostizierten Behinderung Fach-
leute verschiedener Disziplinen hinzugezogen werden,
damit sich die Eltern umfassend informieren können, ist
doch eine Selbstverständlichkeit.

Meine Damen und Herren, die Grünen verbindet
ebenso wie die Sozialdemokraten und früher auch die
FDP eine lange Geschichte mit dem § 218.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)







(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk

Für mich selbst war dies vor 30 Jahren der Grund, in die
Politik zu gehen. Wir haben uns immer für Frauen einge-
setzt. Gerade in schwierigen Situationen brauchen die
Frauen unsere Unterstützung und nicht unser Miss-
trauen. Wir aber vertrauen den Frauen, dass sie das Le-
ben ihrer Kinder schützen. Das wird auch so bleiben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513806500

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1513806600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Der Verlust menschlichen Lebens berührt
uns alle. Ich denke, das gilt in ganz besonderem Maße
für das bedrückende Phänomen der Spätabtreibung. Es
ist tief beunruhigend, dass die Zahlen in den letzten Jah-
ren gestiegen sind.


(Dr. Erika Ober [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Das darf uns nicht ruhen lassen.
Die Entscheidung der Mutter, ihre Schwangerschaft

in einem Spätstadium abbrechen zu lassen, wird in ei-
nem großen Gewissenskonflikt getroffen. Die Entschei-
dung, das eigene Kind wegen körperlicher Schädigun-
gen nicht austragen zu können, mit der seelischen
Belastung, die individuell empfunden wird, ist die
schwerste Entscheidung, die ein Mensch überhaupt tref-
fen kann.


(Ute Kumpf [SPD]: Eine Frau!)

Die seelische Not der Mutter ist deshalb so groß, weil

der Konflikt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern
auch das zu erwartende Schicksal ihres behinderten Kin-
des betrifft. Es geht hier nicht um die Frage von Gut und
Böse. Es geht darum, den betroffenen Eltern einen Raum
zu schaffen, der ein Ja für das Kind ermöglicht. Genau
das ist das Anliegen des Antrages der Christlich Demo-
kratischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Besonderheit bei Abtreibungen nach der

23. Schwangerschaftswoche ist die fortgeschrittene Ent-
wicklung des Kindes, das in diesem Stadium außerhalb
des Körpers der Mutter meist lebensfähig ist. Dies ver-
leiht der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem unge-
borenen Leben ein ganz besonderes Gewicht.

Je weiter das Kind entwickelt ist, desto größer ist
auch die emotionale Bindung der Mutter an ihr Kind. In
der heutigen Zeit fühlt sie ihr Kind nicht nur, sondern sie
kann es sehen und beobachten, seinen Herzschlag hören
und damit einen ganz besonderen Bezug zu ihrem Kind
entwickeln. Das bedeutet, dass nicht nur das Kind eines
besonderen Lebensschutzes bedarf. Es geht auch um ei-
nen besonderen Schutz der Mutter. Spätabtreibungen
sind eine extreme Belastung. Viele Frauen leiden ein Le-
ben lang unter dem Verlust des Kindes und sind trauma-
tisiert durch die in einer Zwangslage getroffene Ent-
scheidung.

Nach einer embryopathischen Diagnose befinden sich
viele Frauen in einem Schockzustand. Vielen erscheint
es so, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Sie fühlen sich
angesichts der Vorstellung, ein schwer behindertes Kind
aufzuziehen, überfordert und meinen, über Jahre daran
gefesselt zu sein. Sie verspüren Angst vor Isolation und
haben das Gefühl, ein krankes Kind bedeute ein Versa-
gen ihrerseits. Neben das Gefühl, dem Erfolgsdruck
nicht gerecht geworden zu sein, tritt oft die Befürchtung,
den erhöhten Betreuungsanforderungen nicht gerecht
werden zu können. Nicht unerheblich trägt auch der
Druck durch Angehörige dazu bei. Insbesondere die
Partner fürchten oft den Verlust von Freiheit und drän-
gen die Mutter nicht selten zum Abbruch. Gravierend ist
auch die Furcht, den Lebenspartner zu verlieren.

Die wichtigste Aufgabe ist es deshalb, den Eltern
Perspektiven für ein gelungenes und glückliches Leben
mit ihrem behinderten Kind aufzuzeigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu gehört neben der Erörterung der medizinischen
Fragen auch die Gelegenheit, die seelischen Konflikte in
Ruhe zu besprechen und nicht zuletzt auch praktische
Fragen bezüglich eines Lebens mit Behinderung zu klä-
ren. Ein ärztliches und ein psychosoziales Beratungsge-
spräch sollten daher unbedingte Voraussetzungen eines
späteren Schwangerschaftsabbruchs sein. Auch der Va-
ter des Kindes sollte dabei berücksichtigt werden; denn
beide Elternteile sind davon betroffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine gute Beratung kann Raum schaffen, der den

Eltern ein selbstbestimmtes Ja zum Kind eröffnet.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in

Deutschland, Bischof Huber, hat darauf hingewiesen,
dass Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen,
damit die Schwangerschaft, also das Lebensverhältnis
zwischen Mutter und Kind, gelingt. Schärfere strafrecht-
liche Vorkehrungen seien dafür weder hilfreich noch
sinnvoll, so Wolfgang Huber.

Sehr geehrte Damen und Herren, an die Beratung
muss sich unseres Erachtens stets eine Bedenkzeit von
drei Tagen anschließen, sofern das Leben der Mutter
nicht akut gefährdet ist. Bei so extrem weit reichenden
Überlegungen wie der einer späten Abtreibung muss der
Frau und dem Paar Gelegenheit zu einer alles abwägen-
den Entscheidung gegeben werden. Die Frau muss Zeit
haben, sich über ihre Situation und die Beziehung zu ih-
rem Kind klar zu werden und über das nachzudenken,
was ihr die Beratung ermöglichen wollte. Die Bedenk-
zeit stellt damit die sinnvolle Fortsetzung einer guten
Beratung dar. Deswegen möchten wir diese Bedenkzeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Thomas Rachel

Der Mutter wird dadurch auch Zeit gegeben, den Kon-
takt zu Familien mit behinderten Kindern zu suchen.
Dies nimmt Ängste.

Das Problem der Spätabtreibung wird auch durch Fol-
gendes verschärft. Es gibt Fälle, in denen der Anlass ei-
nes späten Abbruchs eine embryopathische Diagnose ist,
die sich später als falsch herausstellt. Deshalb muss es
uns auch um Qualitätssicherung bei der pränatalen Dia-
gnose gehen.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammen-
hang der haftungsrechtliche Hintergrund. Gynäkolo-
gie und Geburtshilfe ist die heute am stärksten vom Haf-
tungsrisiko belastete Fachrichtung der Medizin. Die
Rechtsprechung zum – Zitat – „so nicht gewollten Kind“
als „Schaden“ hat auch die betroffene Ärzteschaft verun-
sichert. Dies verhindert die gebotene Zurückhaltung in
den Fällen, in denen eine Fehlbildung oder Schädigung
zwar möglich, aber eben nicht sicher ist.

Deshalb sind wir dafür, eine Beschränkung auf die
grobe Fahrlässigkeit, wie es sie auch in Frankreich gibt,
einzuführen. Dies erscheint uns als Christdemokraten als
sinnvolle und angemessene Lösung.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zynisch ist das!)


Sehr geehrte Damen und Herren, bei späten Abbrü-
chen sollte auf jeden Fall der Schutzrahmen geschaffen
werden, der auch für das Anfangsstadium einer Schwan-
gerschaft gilt, also Beratung und Bedenkzeit. Hier fehlen
die entsprechenden Regelungen. Diese Regelungslücke
ignoriert die Tatsache, dass die Schutzbedürftigkeit von
Mutter und Kind mit fortschreitender Schwangerschaft
zunimmt und sich die mögliche Konfliktsituation ver-
schärft.

Wir sind deshalb sehr froh, dass der Antrag der Unions-
fraktion zur Vermeidung von Spätabtreibungen von der
Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts-
hilfe unterstützt wird; denn sie ist an den Betroffenen am
nächsten dran.

Auch die anderen Fraktionen sehen die Probleme der
Spätabtreibung. Wir bedauern es aber, dass sich die Koa-
litionsfraktionen bisher einer wirksamen Regelung ver-
sperren.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist bei Ihnen denn wirksam zur Vermeidung von Spätabtreibungen?)


Die Belastungen für Eltern sind generell gestiegen,
sowohl in finanzieller Hinsicht als auch im Hinblick auf
den gesellschaftlichen Kontext. Extremes Gewicht er-
langen diese Mehrbelastungen, wenn sich herausstellt,
dass das erwartete Kind behindert sein wird. Es wird
dann zusätzlicher Pflege, Betreuung und Begleitung be-
dürfen sowie unter Umständen einen größeren finanziel-
len Einsatz erfordern. Dies kann aus Sicht der betroffe-
nen Eltern existenzielle Fragen aufwerfen, vor denen wir
nicht die Augen verschließen dürfen. Deshalb müssen
wir bei allen Reformmaßnahmen im sozialen Bereich
sehr aufpassen, dass wir den besonderen Anliegen der
Behinderten und ihrer Angehörigen gerecht werden.
Dies müssen wir im Blick behalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für die späten Schwangerschaftsabbrüche dürfen

nicht allein die Eltern und die Ärzte verantwortlich ge-
macht werden. Auch wir tragen Verantwortung. Unsere
Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen für die Betrof-
fenen zu verbessern, ihnen ein erweitertes Betreuungs-
angebot, finanzielle Unterstützung und eine gelingende
Integration ihrer Kinder in die Gesellschaft zu ermögli-
chen. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass die Ge-
sellschaft positiv auf behinderte Kinder zugeht, haben
wir schon sehr viel erreicht. Das muss unser gemeinsa-
mes Anliegen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will abschließend sagen: Es steht uns nicht an, die

betroffenen Eltern zu verurteilen, sondern es ist unsere
Aufgabe, unserer Fürsorgepflicht gerecht zu werden.
Das wollen wir gemeinsam tun.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513806700

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Ober.


Dr. Erika Ober (SPD):
Rede ID: ID1513806800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Ich stehe heute hier als Abgeordnete, aber auch als
Gynäkologin und Geburtshelferin. Ich beschäftige mich
mit diesem Thema seit 30 Jahren. Ich weiß um viele
schwere Schicksale, die damit verbunden sind. Ich kenne
auch die Verzweiflung der Frauen und Familien. Ich
weiß, wovon ich rede.

Der Antrag der CDU/CSU „Vermeidung von Spätab-
treibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ zielt darauf
ab, Spätabtreibungen im großen Umfang zu vermeiden
und sie eigentlich ganz abzuschaffen. Sie, verehrte Kol-
leginnen und Kollegen von der Union, wollen eine
Pflichtberatung bei der Spätabtreibung einführen. An
diese Zwangsberatung soll dann auch die Kostenüber-
nahme des Eingriffs durch die Krankenkasse geknüpft
werden. Das wurde vorhin zwar geleugnet, aber es ist in
Ihrem Antrag enthalten. Zudem soll eine Frau in dieser
sehr schwierigen Situation immer mindestens drei Tage
warten müssen, bevor ein Eingriff stattfinden kann. Ich
teile Ihre Meinung nicht. Denn mit Ihrem heute vorge-
legten Antrag unterstellen Sie, dass viele Spätabtreibun-
gen fälschlicherweise vorgenommen werden.

Worum handelt es sich, medizinisch gesehen, bei einer
Spätabtreibung? Spätabtreibungen sind Abbrüche der
Schwangerschaft nach der 23. Schwangerschaftswoche.
Sie unterscheiden sich von psychosozialen Schwanger-
schaftsabbrüchen bis zur zwölfte Woche durch ein ganz
wichtiges Merkmal: Bei Abbrüchen nach der zwölfte
Schwangerschaftswoche handelt es sich grundsätzlich
um Abbrüche von Schwangerschaften, die gewollt wa-
ren. Hier geht es um Wunschkinder.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist völlig richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Erika Ober

Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Aber auch wenn
Mutter und Vater sich für ein Kind entschieden haben,
können Schwangerschaften in ihrem Verlauf entweder
für die Mutter oder für das Ungeborene oder für beide
erhebliche gesundheitliche Gefahren und Schäden mit
sich bringen. Dann müssen die Eltern die Möglichkeit
haben, sich neu entscheiden zu dürfen.

Mutter und ungeborenes Kind sind eine Einheit. Ein
ungeborenes Kind kann nicht isoliert von der Mutter ge-
sehen werden. Ich nenne Ihnen drei Gefährdungspoten-
ziale für Mutter und Kind, die aus medizinischer Sicht
auszumachen sind.

Erstens kann eine Gefährdung der Mutter vorliegen,
wie zum Beispiel ein Herzfehler, eine Uterusmissbil-
dung oder eine Lungenerkrankung. Weil Mutter und
Kind eine Einheit sind, haben solche Erkrankungen der
Mutter auch Auswirkungen auf das Ungeborene. Das
Kind ist dann auch gefährdet. Stellt sich eine solche Ge-
fährdung der Mutter im Verlauf der Schwangerschaft
heraus, darf es keinen Zwang für die Mutter geben, unter
Gefahr für ihr eigenes Leben das Kind austragen zu müs-
sen.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Das will doch keiner!)

– Lassen Sie mich die Beispiele weiter nennen! Man
sollte diese Punkte einmal systematisch auflisten und
nicht immer nur hochemotional diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens kann eine spezifische Schwangerschaftser-

krankung auftreten, zum Beispiel eine Präeklampsie,
landläufig auch Schwangerschaftsvergiftung genannt.
Durch einen solchen Befund sind Mutter und Kind er-
heblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Es kann
zu einem Versagen aller Organe sowohl der Mutter als
auch des Kindes kommen. Auch hier darf es keinen
Zwang für die Mutter geben. Sie muss zusammen mit
dem Vater frei entscheiden können.

Drittens können auch die Lebensaussichten von Mut-
ter und Kind nach der Geburt gefährdet sein. Eine
Schwangerschaftspsychose und auch eine Suizidgefahr
sind für die Lebensaussichten der Mutter und des Kindes
von Bedeutung.

Diese drei Gefahrenpotenziale für Mutter und Kind
können wir nicht voneinander trennen. In der Medizin
gibt es oft fließende Übergänge. Es ist keine reine Ma-
thematik.

Ein weiterer Aspekt. Schwangeren Frauen werden
immer mehr Untersuchungen angeboten. Das haben wir
auch heute schon mehrfach gehört. Die meisten Schwan-
geren wollen viele dieser Untersuchungen. Ob sie diese
Angebote wahrnehmen wollen, ist zu Recht allein eine
Entscheidung dieser Frauen und der werdenden Väter.
Sie haben aber auch – das möchte ich betonen – ein
Recht auf Nichtwissen.

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frauen
und Familien vor einer Untersuchung über mögliche
Folgen aufgeklärt werden. Die behandelnden Ärzte ha-
ben eine Informationspflicht. Die qualifizierte Bera-
tung im Vorfeld der Untersuchung ist ebenso notwendig
wie nach Erhalt eines möglicherweise pathologischen
Befundes. Über die Notwendigkeit einer qualifizierten
Beratung sind wir uns alle sicher einig.

Es gibt heute viele Untersuchungsmethoden für
Schwangere, die während der gesamten Schwanger-
schaft auf mögliche gesundheitliche Probleme aufmerk-
sam machen und gegebenenfalls Erkrankungen in der
Schwangerschaft aufdecken und, wie schon gesagt, eine
Therapie aufzeigen können. Dies schützt Leib und Le-
ben der Mutter und des Kindes.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union,
Ihr Argument für eine Pflichtberatung ist schwach. Sie
führen eine Scheindiskussion. Denn Sie geben nicht zu,
dass das Mehr an diagnostischen Möglichkeiten eben
nicht zu einem Mehr an Spätabtreibungen geführt hat;
auf die entsprechenden Zahlen wurde schon hingewie-
sen. Die Zahlen der Spätabbrüche – ich habe sie genau
notiert – schwanken seit 1996 jährlich zwischen 159 und
217 – und dies nicht kontinuierlich ansteigend, sondern
von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Die Abbrüche sind von
der Indikation abhängig. Insgesamt 0,1 Prozent aller in
Deutschland vorgenommenen Abbrüche sind Spätabbrü-
che.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Nur die registrierten!)


Wir wenden uns ausdrücklich gegen Ihren Antrag, der
unserer Meinung nach eine Schlechterstellung von
Frauen zur Folge hätte. Sie diskriminieren und bevor-
munden mit Ihrem Vorschlag Frauen und Familien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist eine Scheuklappendiskussion!)


– Sie sollten einmal zuhören, um was es hier geht.
Im Falle von Spätabtreibungen müssen wir davon

ausgehen, dass das Kind gewollt und es ein Wunschkind
ist, es aber ein für die Einheit von Mutter und Ungebore-
nem schwerwiegendes gesundheitliches Problem gibt.
Spätabtreibungen kann man nicht durch eine Pflicht-
oder Zwangsberatung von Frauen verhindern, wie hier
fälschlicherweise dargestellt wird.

Wir reden bei Spätabtreibungen auch über Kinder, die
nach der Geburt nicht lebensfähig sind. Wir reden über
Familien, in denen ein Kind beispielsweise lebenslang
von Maschinen abhängig ist; auch darauf möchte ich
hinweisen. Wir reden auch über Frauen, die durch den
Antrag der Union möglicherweise neuen Risiken ausge-
setzt wären. Mit Ihrem Antrag müsste zum Beispiel eine
suizidgefährdete Frau nach einer Pflichtberatung min-
destens drei Tage auf einen ihr zustehenden Abbruch
warten. Das ist doch nicht Ihr Ernst! Ich frage Sie, Frau
Professor Böhmer: Wie können Sie dieser Frau, die
suizidgefährdet ist und drei Tage warten müsste, mit die-
sem Vorschlag helfen?


(Zuruf der Abg. Hildegard Müller [CDU/ CSU])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Erika Ober

– Das ist keine Seltenheit; das ist in der Praxis Alltag,
Frau Müller.

Ich möchte noch ein weiteres Beispiel aus der Praxis
ansprechen. Bei schwangeren Frauen kann es während
der gesamten Phase der Schwangerschaft zu einem Bla-
sensprung kommen. Dies lässt sich nicht prospektiv
feststellen. Es ist fast unmöglich, eine Schwangerschaft
mit einem Blasensprung über die normale Dauer einer
Schwangerschaft durchzuhalten.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Das ist doch dummes Zeug! Das will doch überhaupt keiner!)


Die Folgen können sein: Ein Kind kommt durch die sich
nach einem Blasensprung entwickelnde Infektion
schwer geschädigt zur Welt. Die Frau kann schwer ge-
schädigt sein. Dies kann sogar zum Tode führen.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Es ist doch absurd, was Sie hier erzählen!)


Ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit – das betrifft
die Mehrzahl der Spätabtreibungen, über die wir reden;
Sie wollen sie ja abschaffen –: Es geht bei Spätabtrei-
bungen nicht darum, dass eine Frau ein Kind leichtferti-
gerweise plötzlich nicht mehr haben möchte. Es wurde
in den Raum gestellt – das wurde mehrfach gesagt; die
Kollegin eben hat auch darauf hingewiesen –, dass in
Deutschland zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gau-
menspalte zu Spätabbrüchen führen würde. Ich sage Ih-
nen: Das ist unsachlich. Eine späte Abruptio wird nicht
wegen einer Hasenscharte des Kindes vorgenommen,
sondern kann nur aus Gründen eines schwerwiegenden
medizinischen Befundes der Mutter – wohlgemerkt: der
Mutter – vorgenommen werden.

Mit dem Thema Spätabtreibung soll – ich unterstelle
das; das erkennt man, wenn man zwischen den Zeilen
liest – die Diskussion um den § 218 StGB wieder aufge-
macht werden.


(Widerspruch von der CDU/CSU)

Wir als SPD-Fraktion wollen das nicht. Wir wollen
keine Gesetzesänderung und keine Beratungspflicht für
Frauen nach einem medizinischen Befund.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Sie wollen keine behinderten Kinder!)


Wir wollen keine Verschlechterung der Situation der
Frauen durch eine Zwangsberatung. Wir wollen die
Frauen und Familien im Falle eines schwerwiegenden Be-
fundes in dieser ohnehin schwierigen Situation nicht noch
zusätzlich belasten. Wir wollen, dass mit diesem Gesetz
auch weiterhin verantwortungsvoll umgegangen wird.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513806900

Frau Kollegin.

Dr. Erika Ober (SPD):
Rede ID: ID1513807000

Noch eine Bemerkung, Frau Präsidentin; dann bin ich

fertig. – Frauen und Männer sollen qualitativ hochwer-
tige Beratungsangebote vorfinden. Das unterstützen wir.
Aber Frauen und Familien sollen auch in Zukunft die
Entscheidungsgewalt über ihre Gesundheit behalten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513807100

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1513807200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-
Grün, es geht nicht um eine Verschärfung des § 218
StGB, sondern darum, Frauen in einer extremen Kon-
fliktsituation mehr Hilfe anzubieten


(Beifall bei der CDU/CSU)

und einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens zu
gewährleisten. Das hat für meine Fraktion und für mich
oberste Priorität.

Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem
Urteil vom 28. Mai 1993 beauftragt, menschliches Le-
ben – auch das ungeborene – zu schützen sowie ausrei-
chende Maßnahmen zu ergreifen, damit ein angemesse-
ner und somit wirksamer Schutz erreicht wird. Als der
Deutsche Bundestag diese Vorgaben umsetzte, musste
ich, die ich für die CDU/CSU-Fraktion mit den anderen
Fraktionen verhandelt habe, erleben, wie schwierig es
war, nach jahrelangem Streit zu einem parteiübergreifen-
den Kompromiss zu kommen.

Mit der Verabschiedung des Schwangeren- und Fami-
lienhilfeänderungsgesetzes wurde im Juni 1995 die so
genannte embryopathische Indikation als eigener Tatbe-
stand abgeschafft und als Bestandteil der medizinischen
Indikation aufgenommen. Die Kolleginnen und Kolle-
gen aus der Union, die damals dabei waren, wissen, wie
schwierig uns diese Entscheidung gefallen ist und wie
sehr wir damals bei diesem Thema miteinander gerun-
gen haben.

Insbesondere die Behindertenverbände, aber auch die
Kirchen haben uns immer wieder aufgefordert, auf eine
embryopathische Indikation zu verzichten. Behinderte
Menschen sahen in dieser Indikation eine Diskriminie-
rung. In der Begründung zur neu formulierten medizini-
schen Indikation haben wir klargestellt, dass eine Behin-
derung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes
führen darf. Damit haben wir unmissverständlich deut-
lich gemacht, dass eine Behinderung als solche niemals
der Grund für eine Abtreibung sein kann.

Das setzt natürlich voraus, dass wir Rahmenbedin-
gungen schaffen, die ein Leben mit behinderten Men-
schen ermöglichen. Es kommt darauf an, wie wir mit Be-
hinderten umgehen und wie wir uns gegenüber Müttern
verhalten, die ein behindertes Kind zur Welt bringen.
Wenn Eltern behinderter Kinder gefragt werden, ob denn
das Kind nicht hätte abgetrieben werden können, ist das
ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn

Die Art und Weise, wie bei uns in zunehmendem Maße
darüber geurteilt wird, ob Leben lebenswert ist, ist er-
schreckend. Das gilt übrigens nicht nur für den Anfang
des Lebens.


(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!)

Dieser Entwicklung müssen wir mit allem Nachdruck
entgegentreten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Bundesverfassungsgericht hat uns, dem Gesetz-

geber, eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht
aufgegeben. Entgegen der gesetzgeberischen Erwartung
aus dem Jahre 1995 zeigt sich jedoch, dass Schwanger-
schaftsabbrüche allein wegen einer Behinderung des
Kindes erfolgen.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Wo zeigt sich das denn?)


Der Grund für eine medizinische Indikation kann jedoch
nur eine schwerwiegende Beeinträchtigung der körperli-
chen oder seelischen Gesundheit der Schwangeren sein.

Da die Kinder immer früher lebensfähig sind, werden
auch immer mehr lebensfähige Kinder abgetrieben. Die-
ser Tatsache dürfen wir uns nicht verschließen. Die Zah-
len, die in Ihrem Antrag genannt werden, beweisen, dass
die Anzahl der Spätabtreibungen gestiegen ist. Frau
Ober, in Ihrem Antrag steht, dass es im Jahre 1996 zu
159 und im Jahre 2003 zu 217 Spätabtreibungen gekom-
men ist. Das ist doch eine Steigerung.


(Dr. Erika Ober [SPD]: Aber keine kontinuierliche! Gucken Sie sich doch mal die Zahlen von 1998 an!)


Der Bundesverband Lebensrecht nennt eine Dunkelzif-
fer von 800 Spätabtreibungen, also weit mehr. Diese
Zahlen können Sie nicht einfach vom Tisch wischen,
meine Damen und Herren von der Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der medizinischen Indikation findet weder eine

psychosoziale Beratung statt, noch gilt eine Frist für die
Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs. Wir hatten
deswegen bereits in der letzten Legislaturperiode Ge-
spräche geführt und einen entsprechenden Antrag zur
Vermeidung von Spätabtreibungen im Bundestag einge-
bracht, den Sie aber – leider Gottes – abgelehnt haben.
Auch jetzt wollen Sie auf unsere Vorschläge nicht einge-
hen. Sie ignorieren auch, dass die Deutsche Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe dringend Änderungen
fordert. Bei der Verabschiedung des Gesetzes 1995
wurde die pränatale Diagnostik wesentlich seltener an-
gewandt: nur in Ausnahmefällen. Heute findet bei 70 bis
80 Prozent aller Schwangerschaften Pränataldiagnostik
statt. Das sind völlig andere Verhältnisse.

Natürlich kann man mit der Pränataldiagnostik hel-
fen, schon im Mutterleib. Aber der umgekehrte Fall,
nämlich dass mit einer Diagnose sozusagen der Rollla-
den abläuft und die Frauen sich in dann großer Not zu ei-
ner Abtreibung raten lassen, kommt doch weit häufiger
vor. Vor dieser Tatsache können Sie die Augen nicht ver-
schließen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen ist eine umfassende Beratung vor und nach

pränataler Diagnose ein Kernpunkt unseres Antrags.

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Das Recht auf Beratung gibt es bereits, aber es reicht
nicht aus, um das ungeborene Leben zu schützen und ge-
nügend Hilfen für die Frauen in großer Not anbieten zu
können. Werdende Eltern müssen frühzeitig über mögli-
che Konfliktsituationen aufgeklärt werden, besonders im
Zusammenhang mit Pränataldiagnostik. Deswegen brau-
chen wir die psychosoziale Beratung. Nach einer prä-
natalen Diagnose mit pathologischem Befund muss nach
unserer Meinung und nach Meinung der Fachleute Bera-
tung erfolgen, und zwar ärztliche und psychosoziale. Die
Praxis zeigt eben, dass Frauen dort, wo ihnen die
Diagnose gestellt wird, zugleich der Abbruch angeboten
wird. Diese Frauen stehen unter großem Druck und neh-
men sich oft nicht genug Zeit zum Überlegen, weil die
Lösung so nahe zu liegen scheint. Eine sofortige Abtrei-
bung bietet sich nicht nur räumlich an, sondern ist auch
praktikabel, weil sich in der Schocksituation zunächst
keine andere Lösung anzubieten scheint.

Mit der Beratungspflicht wollen wir erreichen, dass
die Entscheidungsfindung nach dem ersten Schock er-
folgt. Unser Ansatz ist, neben einer medizinischen Bera-
tung alle Möglichkeiten und Hilfen aufzuzeigen, die El-
tern ermutigen, auch Kinder mit einer Behinderung
anzunehmen. Auf der Grundlage möglichst umfassender
Informationen, die alle Aspekte einbeziehen, kann sich
eine Frau für oder gegen die Fortsetzung der Schwanger-
schaft entscheiden. Wenn aber eine Abtreibung vorge-
nommen wurde, ist die Entscheidung nicht mehr änder-
bar. Viele leiden ein Leben lang darunter, sich vorschnell
entschieden zu haben. Deswegen fordern wir, nach Fest-
stellen der Indikation eine verbindliche Bedenkzeit von
mindestens drei Tagen vorzuschreiben, sofern das Leben
der Mutter nicht gefährdet ist.

Wenn Sie gemäß Ihrem Antrag nur wollen, dass
Schwangere auf eine angemessene Bedenkzeit hingewie-
sen werden, wird das keinerlei Verbesserungen bringen.
Denn das Recht auf Beratung hatten wir auch bisher. Es
ist nicht in genügender Weise wahrgenommen worden.
So ist es mir unbegreiflich, dass Sie, meine Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, die Ihrer Meinung nach be-
währte Beratungsregelung nach § 218 a Abs. 1 StGB für
die medizinische Indikation ablehnen. Gerade diese
Schwangeren sind in besonderer Not und bedürfen unse-
rer besonderen Hilfe. Darum geht es.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine Beratungspflicht und eine verbindliche Bedenk-

zeit sollen der Mutter helfen, sie vor einer Entscheidung
zu bewahren, die sie vielleicht ihr Leben lang bereut.
Um der Nachbesserungspflicht gemäß dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, ist aus
Sicht der Ärzte eine genauere statistische Erfassung von
Abtreibungen dringend erforderlich. Die Bundesregie-






(A) (C)



(B) (D)


Maria Eichhorn

rung hat auf unsere Kleine Anfrage zur Abtreibung ge-
antwortet, dass entsprechende Statistiken fehlen. Vor
diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum Sie
sich einer verbesserten statistischen Erfassung der Ab-
treibungen widersetzen.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Weil sie wissen, dass die Zahlen höher sind!)


Wir werden bei der Anhörung Gelegenheit haben, die
Fachleute zu befragen. Ich hoffe sehr, dass es dann gelin-
gen wird, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.

Nachdem ich hier zu Beginn dieser Legislaturperiode
im Rahmen der Debatte über die Regierungserklärung
das Thema Spätabtreibung angesprochen hatte, kam Mi-
nisterin Renate Schmidt auf mich zu und hat gesagt, dass
wir das Problem lösen müssen.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Heute ist sie nicht da! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wo ist sie denn?)


Mit dem Antrag, den Sie vorgelegt haben, werden Sie
die Zahl der Spätabtreibungen nicht verringern. Dieser
Antrag ist nur ein Scheingefecht. Der Lebensschutz ist
eine Frage des Gewissens. Daher muss der Fraktions-
zwang bei der Abstimmung über die Spätabtreibung
nach unserer Überzeugung aufgehoben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Wenn es Ihnen tatsächlich Ernst damit ist, etwas ver-
ändern zu wollen, dann bitte ich Sie, die Vorschläge der
Fachleute, die wir in unseren Antrag aufgenommen ha-
ben, aufzugreifen. Nur so ist es nach unserer Überzeu-
gung möglich, ungeborenes Leben – auch ungeborenes
behindertes Leben – zu schützen und Frauen in größter
Not mehr zu helfen, als das bisher möglich war.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ina Lenke [FDP])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513807300

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1513807400

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin-

nen! Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, wo-
rüber wir heute diskutieren. Wir diskutieren heute über
die Situation von Frauen, die sich in einer äußerst
schwierigen Konfliktsituation befinden, von Frauen, die
sich zwar ein Kind wünschen, aufgrund einer medizini-
schen Indikation aber vor eine schwerwiegende Ent-
scheidung gestellt werden. Sie werden von den Ereignis-
sen häufig überrollt, weil die entsprechende Beratung
fehlt.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Hat das hier irgendeiner nicht gesagt?)


Diese Frauen haben ein Recht auf unsere Unterstützung.
Sie stehen für uns im Vordergrund. Werdendes Leben
kann nicht gegen sie, sondern nur gemeinsam mit den
Frauen geschützt werden.

(Ilse Falk [CDU/CSU]: Das wollen wir doch!)

Wie soll nun unsere Unterstützung aussehen? Meine

Herren und Damen von der Opposition, Sie fordern eine
ärztliche und psychosoziale Pflichtberatung. Sie sagen:
Wird diese nicht wahrgenommen, dann sollen die Kos-
ten der pränatalen Diagnostik von der gesetzlichen Kran-
kenversicherung nicht übernommen werden. Wir glau-
ben nicht, dass wir die Frauen bevormunden müssen und
dass Druck das richtige Mittel ist, wenn Hilfe benötigt
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus erfordert die besondere Situation der
Schwangeren ein besonderes Vertrauensverhältnis zwi-
schen dem behandelnden Arzt und der betroffenen Frau.
Eine Pflichtberatung wäre an dieser Stelle mit Sicherheit
kontraproduktiv. Darum setzen wir auf ein freiwilliges
psychosoziales Beratungsangebot zur Stärkung der
Entscheidungskompetenz der Frauen. Ganz genau da-
rum geht es nämlich.

Im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik sehe
ich zunehmend die Gefahr, dass Schwangeren heutzu-
tage nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen und
häufig auch ohne eine ausreichende Aufklärung und Be-
ratung über mögliche Konsequenzen eines so genannten
– in Anführungszeichen gesprochen – positiven Befun-
des zu viele dieser Untersuchungen angeboten werden.
Wir wollen die Frauen daher ermutigen, nicht zwingend
jede mögliche und verfügbare Pränataldiagnostik durch-
führen zu lassen. Die Schwangere soll ihr Recht auf
Nichtwissen ausdrücklich in Anspruch nehmen. Das ist
hier von mehreren entsprechend vertreten worden. Dies
kann sie aber nur, wenn sie durch eine professionelle Be-
ratung unterstützt wird. Hier sehen wir vor allen Dingen
die Ärzteschaft in der Pflicht; denn obwohl seit 1992 ein
Anspruch auf Beratung nach § 2 des Schwangerschafts-
konfliktgesetzes besteht, ist bisher noch kein ausreichen-
des psychosoziales Beratungsangebot entwickelt wor-
den. An dieser Stelle gebe ich allen Vorrednerinnen
Recht.

Die Opposition fordert in ihrem Antrag, dass die Ent-
scheidung über das Vorliegen einer medizinischen Indi-
kation – –


(Ina Lenke [FDP]: Wieso das denn? Die CDU/ CSU fordert das in ihrem Antrag, nicht die Opposition!)


– Danke, Frau Lenke; Sie haben Recht. – Die CDU/CSU
– das wiederhole ich gerne – fordert in ihrem Antrag,


(Ina Lenke [FDP]: So weit sind wir noch nicht! – Markus Grübel [CDU/CSU]: Noch nicht!)


dass die Entscheidung über das Vorliegen einer medizi-
nischen Indikation dem behandelnden Arzt entzogen
werden soll.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ja hanebüchen, was hier behauptet wird!)







(A) (C)



(B) (D)


Christel Humme

– Hören Sie zu, Sie müssen Ihren Antrag genauer
lesen. –


(Lachen bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie machen beim Lesen Fehler!)


Dabei soll die Schwangere verpflichtet werden, sich der
Entscheidung eines Ärztekollegiums zu beugen. Die
Konfliktsituation der Frau ist im jeweiligen Fall tragisch
genug. Ich glaube nicht, dass die Entscheidung eines sol-
chen Kollegiums für die betroffene Frau eine Hilfe dar-
stellen würde. Im Gegenteil: Sie wird eher das Gefühl
haben, einer entwürdigenden Vorführsituation ohnmäch-
tig ausgeliefert zu sein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Vorführsituation! Da muss man doch böswillig denken!)


Wir dagegen fordern, dass die Ärzteschaft dafür
Sorge trägt, dass durch den behandelnden Arzt Fachleute
anderer Disziplinen herangezogen werden, wenn die Be-
hinderung des Ungeborenen diagnostiziert wurde. Das
ist im Übrigen in vielen Fällen schon heute der Fall. Dies
noch mehr in das Bewusstsein der Ärzteschaft hineinzu-
tragen ist unser Anliegen.

Der Antrag der CDU/CSU enthält den Vorschlag,
§ 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch um die Formulierung zu
erweitern, dass ein embryopathischer Befund allein kein
Grund für den Abbruch einer Schwangerschaft darstellt.
Eine solche Klarstellung ist aber unserer Ansicht nach
nicht erforderlich; denn eine diagnostizierte Behinde-
rung des Ungeborenen stellt bereits heute keinen Grund
für einen Schwangerschaftsabbruch dar. Eine Ergänzung
des § 218 a Strafgesetzbuch ist damit völlig überflüssig.

Genauso überflüssig ist die von Ihnen gewollte Prü-
fung des Haftungsrechts für Ärzte bei Diagnoseirrtü-
mern. Im Klartext heißt das nämlich, Sie fordern eine
Einengung der Haftung auf Fälle von grober Fahrlässig-
keit. Ich frage Sie: Wollen Sie, dass ausgerechnet gegen-
über dem ungeborenen Leben eine geringere Sorgfalts-
pflicht der Ärzte gelten soll? Das kann doch nicht Ihr
Ernst sein. Wir sind der Meinung, dass die geltende Re-
gelung der allgemeinen Arzthaftung im Interesse der be-
troffenen Frauen beibehalten werden muss. Sie dürfen
anderen Patienten gegenüber nicht benachteiligt werden.


(Beifall bei der SPD)

Schließlich fordern Sie eine deutliche Ausweitung

der statistischen Erfassungsmerkmale für die Ab-
bruchstatistik, Frau Eichhorn.


(Ina Lenke [FDP]: Das haben die Ärzte gefordert!)


Ihrer Forderung stehen erhebliche datenschutzrechtliche
Bedenken gegenüber; das wissen wir. Die Quote aller
medizinisch indizierten Abbrüche liegt bei knapp
3 Prozent. Spätabtreibungen machen in der Gesamtzahl
aller Schwangerschaftsabbrüche einen Anteil von gerade
einmal 0,1 Prozent aus. So ist es leicht möglich, aus der
Statistik Rückschlüsse auf die betroffenen Personen zu
ziehen. Das können wir nicht zulassen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Datenschutz vor Lebensschutz!)

Um es auf den Punkt zu bringen: Der Antrag der CDU/
CSU ist nicht zielführend, weder im Hinblick auf die Ver-
meidung von Spätabtreibungen noch im Hinblick auf nö-
tige Hilfestellungen für die Frauen. Deshalb sagen wir:
Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind ausrei-
chend und sorgen für die notwendige Rechtssicherheit.
Was Frauen in ihrer sehr persönlichen Notlage tatsächlich
brauchen, ist ein besseres Beratungs- und Hilfsangebot,
wie wir es in unserem Antrag festschreiben.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513807500

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl.


(Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Um Gottes willen, jetzt wird es noch schlimmer!)



Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1513807600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Bei der heutigen Diskussion um neue oder ergän-
zende Regelungen bei späten Schwangerschaftsabbrü-
chen, wie Sie sie fordern, können wir uns diesem Thema
natürlich auf unterschiedliche Weise nähern, wie dies
alle Vorrednerinnen und der Vorredner heute getan ha-
ben. Sie können dies mit moralischen und ethischen As-
pekten, medizinischen und statistischen, bevölkerungs-
politischen oder kulturellen Argumenten tun. Aber ich
bin ganz sicher: Zum Schluss sind es meistens ganz sub-
jektive und emotionale Gründe, die unsere grundsätzli-
che Einstellung zu diesem Thema prägen. Es geht gar
nicht vorrangig – das darf es auch nicht – um die Frage,
ob Schwangerschaftsabbrüche auch in Zukunft möglich
sein sollen und müssen, sondern – da gebe ich Frau
Lenke Recht – es muss darum gehen, wie werdende
Mütter und Väter in Konfliktsituationen eine bestmögli-
che Betreuung und Beratung erfahren können. Deshalb
müssen wir uns diesem Thema aus der Sicht der Betrof-
fenen nähern und uns fragen, was werdende Mütter und
Väter brauchen.

Sie brauchen eine verbesserte und zielgenauere ärztli-
che und psychosoziale Beratung. Darin sind wir uns ei-
nig. Aber die Frage ist, auf welchem Weg wir diese er-
reichen. Wir sind davon überzeugt, dass eine
Pflichtberatung, bei der zwischen den Zeilen immer
das Misstrauen gegenüber den Eltern mitschwingen
kann, nicht der richtige Weg ist.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Schauen Sie einmal, was es an Pflichtberatungen gibt!)


Ich will ausdrücklich niemandem von Ihnen dieses Miss-
trauen unterstellen, aber ich will Ihnen deutlich machen,
dass wir die Gefahr, dass Misstrauen zwischen den Zei-
len mitschwingen kann, vermeiden wollen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Außer Ihnen sieht niemand dieses Misstrauen!)


Der Schutz der Frauen ist notwendig. Das will ich aus-
drücklich für uns betonen.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Nicolette Kressl

Sie wecken mit der Überschrift Ihres Antrags die

Hoffnung, echte Hilfen für Eltern und Kinder zu vermit-
teln. In der Passage Ihres Antrags über die Haftung ha-
ben Sie fast wörtlich die Forderungen der Gynäkologen
übernommen. Es geht Ihnen eher um die Hilfen für diese
Ärzte. Das können wir nicht mittragen. Wir können nicht
mittragen, die Haftung in solchen Fällen gegenüber der
Haftung in sämtlichen anderen Krankheitsfällen zu be-
schränken. Das ist für uns nicht akzeptabel. Das will ich
hier ganz deutlich machen.


(Beifall bei der SPD)

Ich frage mich, welch negatives Bild Sie von der Ärz-

teschaft haben, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben,
dass in „der ärztlichen Praxis die Tendenz besteht, im
Zweifel einen Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen“.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist eine Formulierung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V.!)


Sie können darauf doch nicht mit einer Beschränkung
der Haftung reagieren. Damit stellen Sie das Problem
auf den Kopf und bieten falsche Lösungen an.


(Beifall bei der SPD)

Ich bitte Sie, noch einmal Ihren Antrag daraufhin zu
überdenken, wie dieses Gremium beraten soll, das Sie
vorschreiben. Frau Böhmer sagt in Interviews, Frauen
müssten nicht vor dieses Gremium treten.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Richtig! – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!)


Das wäre ein richtiger Ansatz. In Ihrem Antrag ist das
offen. Ihre Formulierung kann völlig frei interpretiert
werden. Ohne eine Klarstellung ist das für uns indiskuta-
bel.

Sie beziehen sich auf Sachverständige und nennen da-
bei vor allem die Gynäkologen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sind das keine Sachverständigen?)


Es gibt Sachverständige in diesem Bereich, die jeden
Tag mit solchen Situationen zu tun haben: Das sind die
Beraterinnen und Berater von Pro Familia. Sie müssten
deren Brief auf dem Tisch haben, in dem sie uns drin-
gend bitten, die Beratungs- und Betreuungssituation der
Frauen und Väter zu verbessern, dieses aber nicht durch
Regelungen zur Verschärfung der medizinischen Indika-
tion oder durch Beschränkungen bei der Haftung zu tun.
In der Anhörung werden wir uns mit diesen Argumenten
auseinander setzen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam einen
sinnvollen, die Würde der Frauen achtenden Weg finden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513807700

Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/3948 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 15/4148 soll an dieselben Ausschüsse über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie
die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf:
26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung der Bundes –Tierärzteordnung
– Drucksache 15/4023 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Verwendung elektronischer Kommunikations-

(Justizkommunikationsgesetz – JKomG)

– Drucksache 15/4067 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des Antrags der Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergän-
gen sofort verbessern
– Drucksache 15/4150 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bürokratieabbau und mehr Bürgernähe
durch Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen
– Drucksache 15/3106 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 1a)Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy
Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker
Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Einführungsgesetzes zum Bürger-
lichen Gesetzbuche
– Drucksache 15/4134 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Strategischen Umweltprüfung und






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG

(SUPG)

– Drucksache 15/4119 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4150 soll
zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 4. Juni
2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete
der Steuern vom Einkommen und vom Vermö-
gen sowie verschiedener sonstiger Steuern und
zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem
Gebiete
– Drucksache 15/4026 –

(Erste Beratung 135. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/4166 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Frechen
Leo Dautzenberg

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/4166, den Gesetzent-
wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt
es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt es Ge-
genstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Lesung einstimmig angenommen wor-
den.

Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgeset-
zes und arzneimittelrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 15/3593 –

(Erste Beratung 126. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit und Soziale Sicherung

(13. Ausschuss)

– Drucksache 15/4174 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer

Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 15/4174, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
von CDU/CSU und FDP angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU/CSU
und FDP angenommen worden.

Tagesordnungspunkt 27 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher
Vorschriften
– Drucksache 15/3943 –

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(14. Ausschuss)

– Drucksache 15/4152 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann

Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/4152, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? –
Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Erheben Sie sich bitte, wenn
Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustim-
men wollen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltun-
gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist da-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

mit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen
worden.

Zusatzpunkt 2 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gräbergesetzes
– Drucksache 15/3753 –

(Erste Beratung 129. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(12. Ausschuss)

– Drucksache 15/4170 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)

Thomas Dörflinger
Irmingard Schewe-Gerigk
Ina Lenke

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4170, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dage-
gen? – Gibt es Enthaltungen? – Einigkeit in der Gräber-
frage in zweiter Beratung.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung einstimmig ange-
nommen worden.

Zusatzpunkt 2 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Ergänzung des Entschädigungsgeset-

(Entschädigungsrechtsänderungsgesetz – EntschRErgG)

– Drucksache 15/3944 –

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 15/4169 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Manfred Kolbe

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/4169, den Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen worden,
während sich die CDU/CSU enthalten hat.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
auch in dritter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der
CDU/CSU angenommen worden.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bedeutung des Sparkassensektors für die Mit-
telstandsfinanzierung vor dem Hintergrund
von Forderungen nach Privatisierung der
Sparkassen

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Hans-Ulrich Krüger.


Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD):
Rede ID: ID1513807800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Gemäß § 2 des Sparkassengesetzes
Schleswig-Holstein haben die dortigen Sparkassen die
Aufgabe, die angemessene und ausreichende Versorgung
aller Bevölkerungskreise, insbesondere der mittelständi-
schen Wirtschaft, mit geld- und kreditwirtschaftlichen
Leistungen auch in der Fläche sicherzustellen. Dadurch
unterstützen sie die Aufgabenerfüllung der Kommunen
im wirtschaftlichen, regionalpolitischen, sozialen und
kulturellen Bereich. Das gilt auch für Nordrhein-Westfa-
len, Herr Dautzenberg.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Jawohl!)

Gemeinwohlorientierung auf der einen Seite, Mittel-

standsförderung auf der anderen – das sind die zwei Fun-
damente, auf denen die Sparkassen in Schleswig-Hol-
stein wie auch in der gesamten Bundesrepublik
aufbauen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Dies funktioniert so hervorragend, dass Sparkassen mit
Marktanteilen von 50, 60 oder sogar 70 Prozent – so-
wohl was ihre Privatkunden als auch die Firmenkunden
angeht – keine Ausnahme, sondern eher die Regel sind.

Die Gründe für diese Erfolgsstory liegen auf der
Hand. Sie liegen zum einen in der dezentralen öffent-
lich-rechtlichen Struktur der Sparkassen, zum anderen in
der Kenntnis der regionalen und lokalen Belange. Die-
sen in Deutschland bewährten Standard wollen nun die
FDP und CDU/CSU in Schleswig-Holstein aufweichen;
denn sie beabsichtigen die Privatisierung der Sparkas-
sen. Wohin dies führen kann, zeigt das Beispiel Groß-
britannien. Mehr als 3 Millionen Briten haben kein
Konto. In Großbritannien haben die Kirchen die Funk-
tionen von Finanzdienstleistern übernehmen müssen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bei der Kollekte oder was?)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Ulrich Krüger

Noch schlimmer ist es in Amerika, wo dubiose Geld-

anbieter Wochen- oder Monatschecks von Menschen
ohne Konto kaufen und für diese Leistung exorbitante
Kosten in Rechnung stellen. Solche Zustände wollen wir
in Deutschland nicht haben, Herr Carstensen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es macht keinen Sinn, durch Privatisierung der Spar-
kassen den erfolgreichsten Anbieter auf dem heimischen
Markt aus dem Rennen zu nehmen. Die Interessen des
Mittelstandes und der Kunden an einer zufrieden stellen-
den Versorgung mit Finanzdienstleistungen vor Ort wür-
den auf der Strecke bleiben. Eine Großbank, die eine
Sparkasse übernimmt, wird – insbesondere auf dem
Lande – nicht deren Filialnetz fortführen. Damit geht die
enge Bindung zu den Kunden vor Ort verloren. Im Mit-
telpunkt stehen dann nicht mehr die Interessen der Kun-
den, sondern die der Bank.

Die Bedeutung der Sparkassen für die Finanzierung
des Mittelstandes ist bekannt. Ich verweise hierzu nur
auf eine Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Selbstständi-
ger Unternehmer vom November 2003. In der Mittel-
standsfinanzierung sind die Sparkassen als klare Sieger
gegenüber den Privatbanken hervorgegangen. Dies gilt
sowohl hinsichtlich der Mittelstandsorientierung als
auch hinsichtlich der Betreuungsqualität für die kleinen
oder mittleren Unternehmen, die mehr als 90 Prozent al-
ler deutschen Unternehmen ausmachen, 50 Prozent der
Bruttoinvestitionen tätigen und 70 Prozent aller Arbeit-
nehmer beschäftigen.

Diejenigen von Ihnen, die meinen, bei einem wie in
Schleswig-Holstein beabsichtigten Privatverkauf würden
nur bis zu 49 Prozent an Kunden, Mitarbeitern und Insti-
tutionen veräußert, erkennen nicht, dass im Aktienrecht
zum einen kein Platz für Gemeinwohlorientierung ist.
Die Gewinnerzielung im Interesse der Aktionäre ist das
dominierende Unternehmensziel. Auch ein Minderheits-
aktionär hat Anspruch darauf, dass sein investiertes Ka-
pital den höchstmöglichen Gewinn abwirft. Der Vorstand
einer AG handelt daher unter Umständen pflichtwidrig,
wenn die AG durch soziale Kosten, zum Beispiel durch
Sponsoring, belastet wird. Zum anderen wird eine Rege-
lung, die eine Eingrenzung des Verkaufs auf nur wenige
Begünstigte vorsieht, mit EU-Recht nicht vereinbar sein
und wird aus Brüssel nur lädiert zurückkommen.

Haben Sie in Schleswig-Holstein und überall dort, wo
Privatisierungsüberlegungen verfolgt werden, den Mut,
Ihren Bürgermeistern vor Ort zu sagen, was es heißt,
wenn die Sparkassen nach erfolgter Privatisierung die
Aufgaben der Kommunen nicht mehr unterstützen kön-
nen! Alleine im Jahre 2001 haben die deutschen Spar-
kassen hierfür über 270 Millionen Euro ausgegeben. Sie
sind damit in Deutschland der größte nicht staatliche
Förderer sozialer und kultureller Belange. Sagen Sie den
aktuell Betroffenen, den 10 000 Mitarbeitern der Spar-
kassen in Schleswig-Holstein, wie viele von ihnen im
Falle einer Privatisierung arbeitslos werden! Sagen Sie
den Bürgerinnen und Bürgern, wo sie die nächste geöff-
nete Filiale finden werden, wenn ihre Sparkasse eines
Tages privatisiert ist! Erkennen Sie doch bitte die Reali-
täten! Nehmen Sie die Bürgerinnen und Bürger in ganz
Deutschland, das heißt auch in Schleswig-Holstein, im
Saarland und insbesondere in Stralsund, ernst! Die Bür-
ger wollen keine Privatisierung der Sparkassen, weil sie
das, was Sie vorhaben, als untauglichen und aussichtslo-
sen Versuch ansehen!

Last, not least: Hören Sie auf den Deutschen Spar-
kassen- und Giroverband, der deutlich davor warnt, das
Ende der öffentlich-rechtlichen Sparkassen mit der Um-
setzung Ihrer Vorschläge zur Privatisierung einzuläuten.

Was wir brauchen, sind solide, kundennahe, effektive
und potente Finanzdienstleister, wie wir sie in ganz
Deutschland und insbesondere in Schleswig-Holstein
haben. Die kommunale Familie kommt in diesem Fall
ohne die Privatwirtschaft sehr gut aus.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513807900

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt.


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1513808000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte gleich zu Beginn meiner Rede das wiederholen,
was ich von dieser Stelle aus sicherlich schon ein halbes
Dutzend Mal gesagt habe: Die CDU/CSU-Fraktion steht
hinter den Sparkassen. Für uns sind die Sparkassen ein
unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Bankenwe-
sens.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Niemand von uns will die Sparkassen gefährden oder
zerstören. Nein, wir werden alles tun, damit die Sparkas-
sen auch morgen so erfolgreich arbeiten können wie
heute.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Als jemand, der sich beruflich nach wie vor mit der

Mittelstandsfinanzierung beschäftigt, erlaube ich mir
den Zusatz: Ohne die Sparkassen und die Genossen-
schaftsbanken wäre die Finanzierung des Mittelstandes
in Deutschland mit Sicherheit nicht gewährleistet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die konkrete Gestaltung des Sparkassenrechtes ist

nicht Angelegenheit dieses Hauses; das ist gut so. Das
haben vielmehr die Bundesländer zu regeln. Schon heute
gibt es sehr unterschiedliche Bestimmungen. Einige ge-
statten stille Beteiligungen, andere gestatten sogar Ge-
nussscheinanteile.


(Zurufe von der CDU/CSU: AG!)

Nun wird in Schleswig-Holstein über einen weiteren
Schritt diskutiert. Herr Dr. Krüger, Ihre Ausführungen
haben gezeigt, dass Sie die Situation in Schleswig-Hol-
stein nicht kennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt

Dort ist gerade die vierte Sparkasse dabei, eine AG zu
werden. Die drei, die schon eine AG sind, leisten hervor-
ragende Arbeit, so auch in meiner Heimatstadt Rends-
burg.


(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Und warum beabsichtigen Sie dann, ein neues Gesetz zu verabschieden?)


Was CDU und FDP in Schleswig-Holstein in ihrem
Regierungsprogramm festgelegt haben, fordern die
Fraktionen dieser beiden Parteien schon lange im dorti-
gen Landtag. Das ist also überhaupt nichts Neues. Die
Aufregung einiger Verbandsfunktionäre kann ich daher
nicht verstehen. Aber noch fehlt uns die Mehrheit, um
das, was wir in unseren Regierungsprogrammen festge-
legt haben, durchzusetzen. Ich sage ganz klar: Dabei
geht es um ein Angebot an die Träger. Die Entscheidung,
ob man dieses Angebot nutzt – das unterscheidet uns
wahrscheinlich –, haben die Kommunalpolitiker zu tref-
fen. Wir von der Union haben volles Vertrauen, dass
Kommunalpolitiker vernünftig entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie und auch einige Verbandsfunktionäre scheinen Angst
vor den Kommunalpolitikern zu haben.

Ich sage von dieser Stelle aus sehr deutlich: CDU und
FDP in Schleswig-Holstein befinden sich in guter Ge-
sellschaft. Das, was denen vorschwebt, fordern der Inter-
nationale Währungsfonds, die EU und auch die Deut-
sche Bundesbank seit langem.


(Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!)

Zurück zur Mittelstandsförderung. Dass weite Teile

des Mittelstandes in Deutschland heute gravierende Pro-
bleme haben, hat nichts mit den Banken zu tun. Das ist
– um es deutlich zu sagen – das Ergebnis Ihrer schlech-
ten Mittelstandspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben zwar einen Mittelstandsbeauftragten;


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wo ist der? – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist der Mittelstandsbeauftragte?)


aber die Politik, die Sie für den Mittelstand machen, ist
– vorsichtig ausgedrückt; ich neige zur Sachlichkeit –
äußerst schlecht.Heute müssen jeden Tag mehr als
100 mittelständische Firmen Konkurs anmelden. Das ist
ein Ergebnis Ihrer Mittelstandspolitik und hat nichts mit
den Banken zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie Sie zum Mittelstand wirklich stehen, das wird

durch eine neue Maßnahme der Regierung deutlich
– und Sie folgen der Regierung –: Man will jetzt 2 Mil-
liarden Euro – das sind 20 Prozent – des ERP-Sonder-
vermögens, des wichtigsten Instruments zur Förderung
des Mittelstandes, nehmen, um Haushaltslöcher zu stop-
fen. Steckte man diese 2 Milliarden Euro in die Mittel-
standsförderung, machte man eine vernünftige Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen:
Sie von Rot-Grün sollten sich keine Sorgen um die Spar-
kassen machen. Die Sparkassen können sich auf uns ver-
lassen. Sie sollten eine bessere Mittelstandspolitik ma-
chen. Wenn Sie das tun, dann werden wir in Deutschland
manche Probleme nicht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513808100

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513808200

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr

Bernhardt, ich schätze Ihre sachliche Art sehr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben hier so getan, als ob dem deutschen Mittel-
stand 2 Milliarden Euro verloren gingen. Das ist schlicht
und ergreifend falsch.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein! Ihr baut die Staatsbanken auf!)


Es ist Unsinn; denn das ERP-Sondervermögen bleibt na-
türlich zur Förderung des Mittelstandes erhalten. Das ist
doch völlig klar. Daran will doch niemand kratzen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das wären 2 Milliarden zusätzlicher Finanzierungsmittel!)


Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, hier nicht solche
Gerüchte zu verbreiten, die mit der Wahrheit über die
Förderung des Mittelstandes wirklich nichts zu tun ha-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir hatten eine sehr unergiebige Diskussion über den
möglichen Verkauf der Sparkasse in Stralsund. Wir hat-
ten Auseinandersetzungen über das Thema Sparkassen
während des Wahlkampfes im Saarland. Wie wir alle
wissen, wird diese Diskussion jetzt auch in Schles-
wig-Holstein geführt. Herr Bernhardt, ich glaube Ihnen
schon, dass Sie der Auffassung sind, dass die Sparkassen
eine sehr wichtige Funktion in unserer Bankenlandschaft
einnehmen.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das ist unser Wahlprogramm! Herzlichen Dank, dass Sie das sagen!)


Ich sehe aber auch, dass es in der CDU/CSU viele, aber
noch mehr in der FDP gibt, die der Auffassung sind, dass
die privaten Großbanken mehr Unterstützung brauchen.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Wer die starke Wettbewerbsposition der Sparkassen
auf dem deutschen Bankenmarkt – sie haben eine solche
Position – zugunsten privater Großbanken verändern
will, muss ehrlicherweise sagen, dass das Management
mehrerer Großbanken in Deutschland seine Aufgaben
offensichtlich nicht gelöst hat. Erst Ende September hat
die Deutsche Bank den Heimatmarkt wiederentdeckt






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel

und einen verantwortlichen Deutschland-Chef ernannt.
Dies ist eine begrüßenswerte Reaktion auf die vielfältige
Kritik der mittelständischen Betriebe am Vernachlässi-
gen des Kreditgeschäftes auf dem deutschen Binnen-
markt.

Auch die Dresdner Bank und die Commerzbank ha-
ben das Management neu ausgerichtet. Aber das ist nicht
verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die privaten
Großbanken im Geschäftsjahr 2003 einen Verlust von
6,8 Milliarden Euro zu verkraften hatten. Der jüngste
Quartalsbericht der Hypo-Vereinsbank ist ebenfalls kein
Ruhmesblatt.

Wir wissen auch, dass die Banken viele Fehlinvesti-
tionen mitfinanziert haben und dass sie jetzt mehr oder
weniger hohe Wertberichtigungen vornehmen. Der Spar-
kassenbereich der Deka-Fonds – das muss man ehr-
licherweise dazusagen – ist ebenfalls betroffen. Jedes
Management hat vor seiner eigenen Tür zu kehren.

Wenn man sich die finanzielle Situation der Sparkas-
sen sowie der Volks- und Raiffeisenbanken anschaut, er-
fährt man, dass für das Jahr 2003 die Sparkassen
1,75 Milliarden Euro und die Volks- und Raiffeisenban-
ken 1,41 Milliarden Euro Gewinn verbuchen konnten.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Geht jetzt der Finanzmarkt hoch oder runter?)


Das war ihnen aufgrund ihrer starken Marktstellung in
Deutschland, aber auch aufgrund einer soliden Anlage-
politik – das muss man natürlich sehen – möglich.

Ich halte es für völlig richtig, dass wir in Deutschland
das Drei-Säulen-Modell von privaten Großbanken, Spar-
kassen und Volksbanken haben.


(Zurufe von der CDU/CSU: Wir auch!)

Wir sind damit sehr gut gefahren, weil dieses Modell
letztlich einen wirklich starken und funktionsfähigen
Wettbewerb sicherstellt.

Natürlich befinden sich die Sparkassen und die Lan-
desbanken durch das Auslaufen der Regelungen zur An-
staltslast und zur Gewährträgerhaftung in einem Um-
strukturierungsprozess; das bestreitet niemand. Aber wir
meinen, dass es völlig unangebracht ist, Privatbanken zu
ermöglichen, mittels regionaler Aufkäufe einzelner
Sparkassen einen verstärkten örtlichen Marktanteil zu
erzielen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In welchem Beschluss steht das?)


Wettbewerb verlangt Kostenkonkurrenz, nicht Auf-
kaufstrategien.

Wir sind der Meinung, dass die Position, die die Spar-
kassen mit ihrer ökonomischen Kraft insgesamt haben,
gut ist, und zwar auch für den europäischen Binnen-
markt. Sie sind mit ihrer Finanzierung gerade für kleine
und mittelständische Betriebe – darauf hat Herr
Bernhardt dankenswerterweise schon hingewiesen; die
Sparkassen sind da wirklich sehr engagiert – gut aufge-
stellt. Das beweist übrigens auch der hohe Anteil der
KfW-Kredite, die über die Sparkassen geleitet werden.
60 Prozent aller dieser Kredite, glaube ich, gehen durch
die Sparkasse. Das ist gut so. Dabei soll es auch bleiben.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513808300

Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDP-

Fraktion.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1513808400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin der Koalition außerordentlich dankbar dafür,
dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat;


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU])


denn so kann man doch einiges klarstellen. Gerade an
Ihrem Beitrag hat man gemerkt, dass Sie von der Sache
anscheinend überhaupt keine Ahnung haben; ich werde
nachher auf Schleswig-Holstein zurückkommen.


(Beifall bei der FDP)

Die Kollegin Scheel hat gar nicht über die Sparkassen

gesprochen. Sie hat Pfeile in Richtung Großbanken ab-
geschossen, statt hier einmal darüber zu sprechen, wie
wir die Sparkassen stärken können. Hier geht es doch
um die Stärkung der Sparkassen und um nichts anderes.

Die Länder müssen sich um das Thema kümmern. In-
sofern wundere ich mich dann doch darüber, dass die
Koalition diese Aktuelle Stunde beantragt hat.

Ich beginne mit einem Zitat aus einer Sitzung des
Schleswig-Holsteinischen Landtags in dieser Woche.
Der Wirtschaftsminister des Landes hat gesagt: Rund die
Hälfte der kleinen und mittleren Betriebe kämpft mit Fi-
nanzierungsproblemen. – Warum? Unter anderem auch
deshalb, weil die Sparkassen nicht helfen können, weil
ihr Kapital zu gering ist.

Wir wollen die Sparkassen stärken. Der Vorsitzende
der FDP-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Land-
tag, Wolfgang Kubicki, hat sehr richtig gesagt: Wir wol-
len den Sparkassen helfen, über private öffentliche Be-
teiligungen mehr Eigenkapital zu erhalten, um den
Mittelstand zu fördern. – Darum geht es. Das ist unsere
Zielsetzung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun können wir uns darüber unterhalten, ob das der
richtige Weg ist; vielleicht haben Sie andere Vorschläge.
Wir wollen also die Sparkassen stärken.


(Zuruf von der SPD)

Ihnen soll es möglich sein, zusätzlich Kapitalgeber bis
zu einer Grenze von 49 Prozent hereinzunehmen.

Da gerade dieser Zuruf kam, will ich sagen: Ich weiß
gar nicht, warum Sie uns beschimpfen, und zwar auch in
Schleswig-Holstein. Wir von der FDP sind da in aller-
bester Gesellschaft. Ich will einmal zitieren, was Karl






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Koppelin

Otto Pöhl, immerhin Mitglied der Sozialdemokraten, in
diesem Jahr in der „Wirtschaftswoche“ gesagt hat:
„Dennoch leuchtet es mir nicht ein, warum eine Kom-
mune eine Bank besitzen muss. Mittelstandskredite kann
auch eine privatisierte Sparkasse effizient vergeben. …
Die Politik ist noch nicht soweit. Das ist ein weiterer
Grund, warum sich das deutsche Bankensystem so
schwerfällig ändert.“


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wir sind auch nicht so weit! Gott sei Dank!)


Herr Koch-Weser, Staatssekretär im Finanzministe-
rium, sagt – das alles ist nachzulesen –:


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist der, der den Stabilitätspakt verändern will!)


Um vermehrt Fusionen in allen drei Säulen und zwi-
schen den Säulen zu ermöglichen, müsste, soweit dies
von den Eigentümern gewünscht würde – das unterstüt-
zen wir von der FDP –, im Bereich der öffentlich-rechtli-
chen Banken über alternative Rechtsformen nachgedacht
werden.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Dann verweise ich, Kollegin Scheel, noch auf den

Monatsbericht der Bundesbank vom Dezember 2003;
auch Sie lesen ja hoffentlich so etwas. Da hat die Deut-
sche Bundesbank genau die gleiche Auffassung vertre-
ten. Die FDP befindet sich also in allerbester Gesell-
schaft.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Wie immer!)


Wir wollen das daher auch umsetzen.
Nun gibt es neben den öffentlich-rechtlich organisier-

ten Sparkassen die privatisierten Sparkassen. Erstaunli-
cherweise sagen Vertreter der privatisierten Sparkassen
in Schleswig-Holstein, die neue Rechtsform habe ihnen
sehr geholfen. Ich zitiere einmal, was der Vorstandsvor-
sitzende der Sparkasse Lübeck sagt: Mit der neuen
Rechtsform sind wir besser für die Anforderungen des
zu erwartenden Wettbewerbes gerüstet. Ein Vertreter der
Sparkasse Bordesholm sagt: Für das Überleben sei es
notwendig, sich in eine AG umzuwandeln. Ich könnte
jetzt noch Aussagen von der Spar- und Leihkasse zu
Bredstedt zitieren, in denen man sich ebenfalls sehr posi-
tiv geäußert hat, usw. Wollen Sie denn behaupten, dass
all diese Aussagen falsch sind? Nein, diese Möglichkei-
ten müssen eröffnet werden. Herr Kollege, kommen Sie
mir nicht mit Beispielen aus England, den USA oder
sonst woher. Bringen Sie mir doch lieber Beispiele aus
Ländern wie Rheinland-Pfalz und Bremen. Da wurde
genau das mit großem Erfolg gemacht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Wer regiert noch einmal in Rheinland-Pfalz?)


Nach dem, was Sie aus Schleswig-Holstein erzählt
haben, muss ich Ihnen sagen, davon haben Sie wirklich
keine Ahnung. Nehmen wir einmal den Kreis, in dem ich
wohne, nämlich den Kreis Segeberg.


(Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])

Die Kreissparkasse dort hat – hören Sie zu, Kollege
Stiegler – so eine Totalpleite hingelegt, dass sie sich jetzt
aus der Fläche völlig zurückzieht. Selbst in Orten mit
3 000 Einwohnern gibt es keine Kreissparkasse mehr.


(Zuruf von der SPD: War bestimmt ein FDPVorstand!)


Wissen Sie, wie sie gerettet wurde? Sie ist dadurch ge-
rettet worden, dass der Kreis mit Bürgschaften ein-
sprang. Dem stimmte die CDU zu – ich will das den
Kolleginnen und Kollegen von der CDU nicht vorwer-
fen –, Sozialdemokraten, Grüne und FDP stimmten da-
gegen, weil Vermögen des Kreises für die Kreisspar-
kasse verbürgt werden musste. Dabei handelt es sich um
nichts anderes als um eine Wettbewerbsverzerrung bzw.
eine Benachteiligung der anderen Banken.


(Zurufe von der SPD)

Ich weiß, dass sich die CDU dort viele Sorgen um die
Kreissparkasse gemacht hat, und will ihr das auch nicht
übel nehmen. Aber bei der Diskussion ging es schon
heiß her. Erstaunlicherweise waren da SPD, Grüne und
FDP auf einer Seite. Hier aber verhalten Sie sich ganz
anders.

Nun komme ich zu einem weiteren Beispiel: Es ist in
meinen Augen ein Skandal, dass der Sparkassen- und
Giroverband in Schleswig-Holstein 500 000 Euro ge-
nommen hat, um eine Kampagne gegen die FDP und die
CDU zu führen.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das waren nicht die Schleswig-Holsteiner!)


Mit Geldern der Kunden führen sie eine Kampagne. Ich
würde gerne einmal wissen, ob eine öffentlich-rechtliche
Anstalt für 500 000 Euro Kampagnen gegen Parteien
führen darf. So viel Geld habe ich als Landesvorsitzen-
der der FDP im Wahlkampf nicht zur Verfügung. Da
werden Kunden angeschrieben und ganzseitige Anzei-
gen geschaltet. Das geht nicht. Das ist nichts anderes als
ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot, das für öffent-
lich-rechtliche Körperschaften gilt.


(Dirk Niebel [FDP]: Mit Spargroschen Wahlkampf machen! Eine Sauerei!)


Nun noch Folgendes: Wenn Sie – das sage ich insbe-
sondere an Ihre Adresse, Frau Scheel – auf dem Stand-
punkt beharren – lassen Sie mich das etwas polemisch
sagen –, dass alle Sparkassen weiterhin öffentlich-recht-
lich verfasst bleiben sollen, entgegne ich als Liberaler,
dass man dann die Spitzenfunktionäre auch nach den Ta-
rifen des öffentlich-rechtlichen Dienstes bezahlen sollte.
Man sollte ehrlicherweise nämlich einmal sagen, dass
die Leute teilweise ein höheres Gehalt als die Minister-
präsidentin des Landes Schleswig-Holstein haben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ein liberaler Neidhammel sind Sie!)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513808500

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.


(Zuruf von der SPD: Ist auch besser!)



Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1513808600

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin; mein letz-

ter Satz: Ich glaube, dass die Sparkassen ohne Funktio-
näre überleben könnten; ohne neues Kapital können sie
nicht überleben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513808700

Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler, SPD-Frak-

tion.


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1513808800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Kollege Bernhardt sagte, die CDU/CSU stehe hinter den
Sparkassen. Diese Aussage erinnert mich an eine von
Theo Waigel, der immer sagte: Wenn ich von vorne an-
gegriffen werde, stehen meine Freunde hinter mir. Das
ist die Art und Weise, wie Sie damit umgehen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das war aber schwach! Nicht einmal Applaus von den eigenen Leuten!)


Was Sie hier betreiben, führt zu einer Gefährdung der
Versorgung des Mittelstandes mit Krediten. Sie wollen
im Grunde den Shareholder-Value ins Sparkassensystem
einführen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Lesen Sie unsere Formulierungen!)


Die Gemeinnützigkeit und der Förderauftrag sollen also
ausgetrieben und der Shareholder-Value eingetrieben
werden. Das werden wir als Sozialdemokraten nicht zu-
lassen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Stimmt alles nicht! Sie haben nicht einmal den Antrag gelesen!)


Die Argumente, die Sie bringen, sind scheinheilig. Es
wird den Sparkassen ein Kapitalbedarf aufgeschwatzt.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)

Ich wollte, wir hätten ein Wirtschaftswachstum, das dem
Finanzierungspotenzial der Sparkassen entspricht. Die
Sparkassen könnten leicht das Eigenkapital aufbringen,
das für die Finanzierung eines 5-prozentigen Wirt-
schaftswachstums notwendig ist. Sie sind nämlich durch
ihre Thesaurierung und ihre Verbandsstruktur wohl dafür
gerüstet. Nachrangkapital konnten sie ja schon immer
aufnehmen. Von daher gesehen kommen Sie wie die
böse Hexe zum Schneewittchen und wollen ihr einen
vergifteten Kamm bzw. einen vergifteten Apfel verkau-
fen, indem Sie von Kapitalstärkung reden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In Wahrheit wollen Sie die Sparkassen den Kapitalmärk-
ten ausliefern und den Mittelstand dazu.


(Beifall bei der SPD – Otto Bernhardt [CDU/ CSU]: Sie sollten sich mal mit dem Thema beschäftigen und hier nicht nur Polemik bringen! Keine Ahnung!)


– Jeden Tag sind wir damit befasst.
Wenn wir die Sparkassen nicht hätten, dann wäre der

deutsche Mittelstand längst am Ende. Schauen wir uns
doch einmal die famosen Großbanken an: Im Jahre 1999
haben sie noch 168 Milliarden Euro an den Mittelstand
ausgeliehen, im Jahre 2004 sind es 131 Milliarden Euro.
Die Sparkassen haben ihre Kredite an den Mittelstand im
gleichen Zeitraum von 344 auf 389 Milliarden Euro er-
höht. Der Anteil der Großbanken ist von 19,2 auf
14,4 Prozent gesunken, der der Sparkassen von 39,2 auf
42,9 Prozent gestiegen. Während die Großbanken mit
der Gier nach dem großen Geld mit den Investmentban-
ken ins Ausland gewandert sind, haben die Sparkassen
zu Hause den Mittelstand aufrechterhalten. Das soll auch
in Zukunft so bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Und die Genossenschaftsbanken!)


Die Großbanken sollen, wenn sie jetzt heimkehren
wie der verlorene Sohn, nicht glauben, dass wir ihnen
das Schwein der Sparkassen braten und dass sie hier
ohne weiteres aufgenommen werden. Sie sollen ihre
Hausaufgaben machen und sich, genauso wie die Spar-
kassen, um die kleinen und mittleren Unternehmen küm-
mern. Dann kämen wir weiter.

Meine Damen und Herren, es ist ein Schwindel zu be-
haupten, die Sparkassen könnten in der Kreditversor-
gung nur überleben, wenn sie privates Eigenkapital be-
kämen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das hat doch keiner gesagt!)


Sie sind in aller Regel gut für das Kreditgeschäft ausge-
stattet. Deswegen ist das ein Vorwand. Sie wollen, dass
auch die Sparkassen gezwungen sind, Eigenkapitalver-
zinsungen in derselben Größenordnung wie die Deut-
sche Bank anzustreben, statt mit soliden Eigenkapital-
verzinsungen dem Mittelstand zu helfen. Auch Ihr
Argument im Hinblick auf Basel II ist fern jeder Wirk-
lichkeit. Die Eigenkapitalanforderungen für den Mittel-
stand sind durch die Granularisierung der Mittelstands-
kredite eher günstiger als schwieriger geworden. Auch
von daher besteht also keine Notwendigkeit zu Eigenka-
pitalerhöhungen.

Wir können die Städte und Gemeinden nur warnen
– im Saarland genauso wie in Schleswig-Holstein oder
wo auch immer –,


(Jürgen Koppelin [FDP]: Bremen!)

sich für ein Linsengericht einer Einmalzahlung das Erbe
und die Struktur von vielen Jahrzehnten Arbeit am Kun-
den und am Mittelstand abkaufen zu lassen. Es wäre ein
schwerer Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutsch-






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler

land, wenn wir hier den Einbruch zuließen. Ich kann Sie
nur bitten: Verlassen Sie diesen falschen Weg und erhal-
ten Sie eine Struktur aufrecht, die wir für die Zukunft
brauchen und die für die Gemeinden keine Anstaltslast
mehr bedeutet, sondern eher eine Anstaltslust – von eini-
gen Ausnahmen abgesehen.

Wenn Sie sich einmal anschauen, wie viele private
Banken die BaFin abgewickelt hat, dann können Sie aus
der Tatsache, dass einmal ein bestimmtes Institut dabei
ist, keinen Staatsskandal machen. Nein, meine Damen
und Herren, Sie betätigen sich hier als Eideshelfer der
Kapitalmärkte, die dem Mittelstand bisher nie etwas Gu-
tes bedeutet haben. Lasst uns deshalb gemeinsam Wider-
stand dagegen leisten und lasst uns die bewährte Spar-
kassenstruktur im Interesse der Bürgerinnen und Bürger
und der kleinen und mittleren Unternehmen erhalten!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513808900

Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/

CSU-Fraktion.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1513809000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Diese Aktuelle Stunde ist ein plumpes Ablen-
kungsmanöver von Rot-Grün von der selbst verursach-
ten Wirtschafts- und Finanzmisere in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

CDU/CSU ist nicht die Gefährdung, Herr Stiegler; wir
sind eine bessere Perspektive. Rot-Grün ist die Gefähr-
dung unserer Wirtschaft und des Mittelstandes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine 100-Milliarden-Gefährdung sind Sie!)


Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Jeder Mittelständler, der Sie von Kapital sprechen hört,
kann eigentlich nur noch seine Kasse festhalten.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Wo haben Sie Ihre Kasse denn hingebracht? Wo ist denn Ihre Kasse? – Heiterkeit bei der SPD)


Herr Stiegler, niemand von der Union will einen Angriff
auf die Sparkassen oder will die Einschränkung der Mit-
telstandsfinanzierung. Das ist der rot-grüne Popanz, der
hier aufgezogen wird.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sind ja bloß auf der Flucht vor Ihren eigenen Taten!)


Die Verbesserung der Mittelstandsfinanzierung hat für
uns höchste Priorität. Hier lassen wir uns von nieman-
dem übertreffen und schon gar nicht von Rot-Grün.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn ausgerechnet Rot-Grün für die Mittelstandsfi-
nanzierung spricht, geschieht dies wieder einmal nach
dem Motto „Haltet den Dieb“. Tatsächlich bedeutet rot-
grüne Politik: Deutschlands Wirtschaft, insbesondere der
Mittelstand, erlebt die schwerste Krise. Wir haben ein
geringes Wirtschaftswachstum, Höchststände bei den
Lohnzusatzkosten und immer höhere Belastungen, die
insbesondere dem Mittelstand große Schwierigkeiten be-
reiten.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben null Ahnung! Vergleichen Sie einmal unsere Zahlen mit denen von Kohl! Vergleichen Sie die schwarze Zeit mit der rot-grünen Zeit!)


Die Insolvenzrate mit über 40 000 Unternehmensin-
solvenzen im Jahr 2004 ist auf Rekordhöhe. Das hat
doch eine Ursache! Hier muss man vom Erbe sprechen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wir hatten die große Erblast mit Höchststeuern!)


Unsere Betriebe wollen die Generationenbrücke, wollen
Erbe weitergeben. Sie können es aber nicht aufgrund Ih-
rer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der rot-grüne Zickzackkurs in der Wirtschafts-,

Steuer- und Finanzpolitik hat zu schwerwiegenden Fehl-
entwicklungen geführt: Die Investitionsquote sinkt. Die
Verbraucher haben hohe Kaufkraftverluste. Der Arbeit-
nehmer hat immer weniger netto. Die Konsumwirtschaft
leidet. Die Unternehmen haben keine Planungssicherheit
und auch die Nachfrage nach Krediten sinkt.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Reden Sie zu den Sparkassen! Frau Präsidentin, Themaverfehlung!)


Fazit: Rot-Grün schadet Mittelstand, Banken und den
Arbeitnehmern in unserem Land.

Ich sage: Nur eine Kehrtwende mit Strukturreformen
und zuverlässiger Wirtschafts- und Finanzpolitik führt
zum Ziel,


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer die gleiche Rede, egal zu welchem Thema!)


zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Es muss eine
neue Vertrauensbasis für unseren Standort hergestellt
werden. Dauerhaftes Wachstum und mehr Beschäftigung
gibt es nur, wenn die angebotsseitigen Rahmenbedin-
gungen der Wirtschaft in Ordnung gebracht werden.
Hierfür benötigen wir eine leistungsfähige Finanzdienst-
leistungsinfrastruktur; denn nur, wo investiert wird und
Investitionen finanziert werden, kann sich Zukunft ent-
wickeln. Hierzu braucht es natürlich Kreditinstitute, die
in den Regionen vor Ort sind und eine hohe Leistungsfä-
higkeit gewährleisten.

Bei allen Diskussionen gibt es keinen Zweifel:

(Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie etwas zu den Sparkassen! Wie halten Sie es mit den Sparkassen?)







(A) (C)



(B) (D)


Hans Michelbach

Die Kreditwirtschaft befindet sich seit Jahren in einem
Prozess tief greifender Veränderungen, was durch faule
Außenstände und niedrige Margen noch verstärkt wird.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wollen Sie nun die Sparkassen privatisieren oder nicht?)


Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass nach Weg-
fall von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung und bei
den zukünftigen Anforderungen nach Basel II die Leis-
tungsfähigkeit und die Mittelstandsunterstützung auch in
Zukunft erhalten bleiben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wie ist das mit den Sparkassen?)


Wir haben in Deutschland durchaus ein gutes Funda-
ment. Letzten Endes aber müssen unsere Kreditinstitute
die Erträge steigern, die Kosten senken und eine Stär-
kung des Haftungsvolumens angehen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Sparkassen sind recht gut! Daran wollen Sie Anteile haben oder wie?)


Das alles soll im Konsens geschehen. Es gibt sicher
Handlungsbedarf. Ich bin dagegen, alles rosarot zu ma-
len, weder bei der Mittelstandsfinanzierung noch bei un-
seren Banken und Kreditinstituten. Hier besteht teil-
weise die Notwendigkeit, zu fusionieren und die
Eigenkapitalbasis zu stärken.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Darum haben wir die Steuern gesenkt! Wir, nicht ihr!)


Das ist zu machen. Das muss jedoch dezentral gesche-
hen und muss von den Verantwortlichen in den Ländern
entschieden werden.

Wir brauchen ein klares Gesamtkonzept. Zum einen
müssen wir eine bessere steuerliche Behandlung von Ei-
genkapital anstreben. Zum anderen muss es ein breites
Finanzierungsangebot und bessere Bedingungen für die
Beteiligungsfinanzierung geben. Zum dritten müssen die
Konditionen im Mittelstandskreditprogramm verbessert
werden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: 1,6 Milliarden Euro haben die Sparkassenbeteiligungsfinanzierungen!)


Nicht zuletzt brauchen wir eine mittelstandsfreundliche
Umsetzung von Basel II.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513809100

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Zum Thema hat er noch nichts gesagt, Frau Präsidentin!)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1513809200

Ich komme zum Schlusssatz. – Die CDU/CSU kämpft

für eine stetige Verbesserung der Mittelstandsfinanzie-
rung und lässt sich dabei von niemandem übertreffen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513809300

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krüger-Jacob, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Es kommt einem wirklich so vor, als stünde jedes
Jahr nicht nur Weihnachten vor der Tür, sondern auch
die Debatte um die Reform des Sparkassensystems.
Standen zunächst Stralsund und das Saarland im Vorder-
grund, so ist es jetzt Schleswig-Holstein. Dort will die
CDU, unterstützt von der FDP,


(Jürgen Koppelin [FDP]: Umgekehrt: die FDP, unterstützt von der CDU!)


zur Stärkung der kommunalen Kompetenz, wie sie selbst
sagt, das Sparkassengesetz liberalisieren und die Spar-
kassen teilweise privatisieren. Ein solcher Schritt hätte
verheerende Auswirkungen insbesondere für kleine und
mittelständische Unternehmen; denn ein eigenständiges
regionales Bankensystem ist die Basis für die Kreditver-
gabe an kleine einheimische Firmen.

Fakt ist, dass die Sparkassen und Genossenschafts-
banken die Hauptlast bei der Finanzierung von kleinen
Unternehmen vor Ort tragen. Wenn ein kleines Unter-
nehmen Kredite bekommt, dann bei ihnen. Durch die
Privatisierung würden den Bürgerinnen und Bürgern des
Landes mittelfristig die Sparkassen entzogen, da das
Vorhaben von CDU und FDP – das dürfte ihnen auch
klar sein – eine zwangsläufig geänderte Geschäftspolitik
der Sparkassen zur Folge hätte.

Aufgabe der Sparkassen ist es, Finanzdienstleistun-
gen für alle und überall anzubieten und mit ihrer gemein-
wohl- und aufgabenorientierten Geschäftspolitik die je-
weilige Region und die dortigen Unternehmen zu
fördern. Aufgrund ihrer Bindung an die Region verfol-
gen Sparkassen eine langfristig orientierte Geschäftspo-
litik mit auf Kontinuität ausgerichteten Kundenbezie-
hungen. Ihre Aufgabe ist es hingegen nicht, die
Interessen einer beschränkten Zahl von Aktionären
durch möglichst hohe Renditen zu befriedigen. Gerade
hier liegt für den Kunden das wesentliche Kriterium.
Denn zu seinen Gunsten oder Lasten wirkt sich aus, ob
mit Unternehmensentscheidungen Mittelstandsfinanzie-
rungen, flächendeckende Versorgung, langfristige Ge-
schäftsverbindungen und Leistungen für alle Bevölke-
rungsgruppen angestrebt werden oder aber im Interesse
des Börsenkurses die Entscheidungsfreiheit lediglich auf
die lukrativsten Geschäftsfelder und Kunden beschränkt
ist. Da eine börsennotierte Aktiengesellschaft verpflich-
tet ist, den größtmöglichen Ertrag für die eigenen Aktio-
näre im Blick zu haben, wird zwangsläufig eine Konzen-
tration auf die lukrativsten Kunden, Geschäfte und
Regionen erfolgen. Die Kreditvergabe an kleine und
mittlere Unternehmen gilt hingegen als renditeschwa-
ches Geschäftsfeld, weshalb sich die privaten Banken-
konzerne in der Vergangenheit aus dem Projekt Mittel-
standsfinanzierung systematisch zurückgezogen haben.






(A) (C)



(B) (D)


Jutta Krüger-Jacob

Damit wird deutlich, dass mit dem Wegfall der öffent-

lich-rechtlichen Sparkassen die Gefährdung der Finan-
zierung des Mittelstandes Hand in Hand geht und für
diesen, aber auch für einkommensschwache Kunden so-
wie Kunden in wirtschaftsschwachen Regionen kein
ausreichendes Angebot an Finanzdienstleistungen mehr
zur Verfügung stehen würde.

Mittelständische Unternehmen in Deutschland sind
auf die flächendeckende Präsenz der Kreditwirtschaft
angewiesen; denn sie brauchen Beratung und Betreuung
vor Ort. Kundennähe und Kundenkenntnis sind im Kre-
ditgeschäft unersetzlich, wobei die Bedeutung dieser
beiden Faktoren durch Basel II und das Rating der Un-
ternehmen sogar noch zunehmen wird.

Natürlich kommen auch Sparkassen aus betriebswirt-
schaftlichen Gründen nicht an einer Straffung und Um-
strukturierung ihrer Filialnetze vorbei. Aber gerade die
dezentralen Strukturen der Verbundgruppe sind der beste
Garant dafür, dass in Regionen ohne Zweigstellen der
privaten Großbanken auch weiterhin intensiver Wettbe-
werb in der Kreditwirtschaft herrscht, ein Wettbewerb,
der ohne die Sparkassen nicht möglich wäre, ein Wettbe-
werb, der zugunsten der Verbraucher sowie mittelständi-
scher Unternehmen stattfindet, weil er ihnen leistungsfä-
hige Angebote zu vernünftigen Konditionen macht.

Auch die CDU-Landtagsfraktion in Schleswig-Hol-
stein stellt zumindest in ihrer Pressemitteilung unstreitig,
dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken der Garant
für eine Stärkung der mittelständischen Wirtschaft und
damit in einem vom Mittelstand geprägten Land wie
Schleswig-Holstein von ganz besonderer Bedeutung
sind. Trotz dieser Bewertung ein erfolgreiches System
aufzugeben und damit bewusst zum Nachteil des Mittel-
standes zu handeln ist auch bei der Absicht, kommunale
Haushaltslöcher zu stopfen, der falsche Weg.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513809400

Es ist wunderbar: Wir haben wieder neue Kolleginnen

und Kollegen. Frau Krüger-Jacob, ich gratuliere Ihnen
recht herzlich zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen
Bundestag und wünsche Ihnen persönlich und politisch
alles Gute.


(Beifall)

Das Wort hat der Finanzminister des Landes Schles-

wig-Holstein, Ralf Stegner.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der hat um diese Aktuelle Stunde gebeten? – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Wahlkampf lässt grüßen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1513809500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Abgeordneten! Wird in Schleswig-Holstein über
die Zukunft des öffentlichen Kreditwesens in Deutsch-
land entschieden? Ich vermute, ja. Nachdem Verkaufsbe-
strebungen von Sparkassen in Stralsund und im Saarland
dank des klaren Bürgerwillens verhindert worden sind,
versucht sich nun die CDU-FDP-Opposition in Schles-
wig-Holstein im dritten Aufguss.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihre Versuche sind gescheitert!)


Das ist Ihre Sache und auch Ihr gutes Recht, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der rechten Seite.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben das Land in die Irre geführt!)


Aber eine Zerstörung der Sparkassenlandschaft ist
schädlich für unser Land, seine Bürgerinnen und Bürger
und seine Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Wer will die in Schleswig-Holstein denn zerstören? – Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])


– Herr Koppelin, ich kann im Gegensatz zu Ihnen sogar
frei reden. – Es geht bei den Sparkassen allein in Schles-
wig-Holstein um 10 000 hoch qualifizierte Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter und um deren Familien.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie wissen gar nicht, über was Sie hier reden!)


– Sie müssen offenbar nervös sein. Denn Sie können
sich meine Ausführungen nicht in Ruhe anhören. – Da
hört der „Spaß“ also auf.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bleiben Sie bei der Wahrheit! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Etwas mehr Niveau!)


– Ihre Lautstärke verstärkt nicht die Kraft Ihrer Argu-
mente.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Etwas mehr Niveau! Dann sind wir ruhig! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Wir sind hier im Bundestag!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513809600

Herr Minister, einen Augenblick bitte. Auch wenn es

vielleicht nicht immer gefällt: In diesem Hohen Haus be-
steht die Gepflogenheit, dass überwiegend der Redner
das Wort hat und dass die anderen zuhören.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Hat er doch! Aber das Niveau sollte schon stimmen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1513809700

Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Die FDP möchte, dass sich private Geldgeber mit bis

zu 49 Prozent bei kommunalen Sparkassen einkaufen
können. Die CDU in Schleswig-Holstein wollte zu-
nächst die volle Privatisierung; jetzt ist sie etwas zurück-
gerudert.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Keiner wollte die volle Privatisierung! Das stimmt nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Minister Dr. Ralf Stegner (Schleswig-Holstein)


Der Entwurf des CDU-Bundesvorstandes für den Bun-
desparteitag Ihrer Partei sieht übrigens wieder ganz an-
ders aus. In ihm werden die besonderen Strukturen be-
tont. Offenbar weiß in der CDU die rechte Hand nicht,
was die linke Hand tut. Jedenfalls passen diese beiden
Positionen nicht zusammen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ludwig Stiegler [SPD]: Da gibt es nur rechte Hände!)


Die schleswig-holsteinische CDU will den Kreis
möglicher Anteilskäufer nun auf Mitarbeiter, Kunden
und Mitglieder der S-Gruppe einschränken. Dieses halbe
Zurückrudern ist sicher auch ein Erfolg der Öffentlich-
keitsarbeit des Deutschen Sparkassen- und Giroverban-
des, dessen Aktivitäten ich nachvollziehen kann.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Welche Blamage für Schleswig-Holstein!)


Herr Koppelin, wie kommen Sie als Mitglied einer li-
beralen Partei dazu, so viel Angst zu haben, wenn sich
ein Verband äußert? Wir ertragen es seit Jahren, dass der
Bauernverband oder andere das, was wir tun, nicht gut
finden. Aber Sie können es nicht ertragen, dass der Spar-
kassen- und Giroverband sagt, was er von dem hält, was
Sie vorschlagen. Er hält nichts von Ihren Vorschlägen,
weil sie den Bürgerinnen und Bürgern schaden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Mit dem Geld der Sparkassenkunden macht ihr das!)


Die Wehleidigkeit, die Sie an den Tag legen, muss einen
Grund haben. Sie werden am 20. Februar erleben, wel-
chen.

Auch dieses Zurückrudern bleibt jedoch eine Mogel-
packung. Denn in Wirklichkeit bestimmt im Norden bei
Schwarz-Gelb die FDP den Kurs. Herr Koppelin, das
werden Sie sicherlich bestätigen können.


(Lachen des Abg. Florian Pronold [SPD] – Ludwig Stiegler [SPD]: Der Schwanz wedelt mit dem Hund!)


Die Sparkassenpolitik der Opposition in Schleswig-Hol-
stein trägt quasi eine gelbe Binde mit schwarzen Punk-
ten.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Zuruf von der SPD: Mit drei schwarzen Punkten!)


Dies geschieht teilweise vorsätzlich wie bei dem pri-
vatbankenpolitischen Sprecher Herrn Bernhardt. Ich will
Ihnen eines sagen, Herr Bernhardt: Es mag ja sein, dass
Sie hinter den Sparkassen stehen, aber – das ist das Pro-
blem – mit dem Knüppel in der Hand. Das wollen die
Sparkassen nicht.


(Beifall bei der SPD – Otto Bernhardt [CDU/ CSU]: Das ist eine Frechheit, was Sie sagen! Das ist nicht das Niveau des Bundestages, was Sie hier bringen! Kommen Sie zurück zum Niveau des Bundestages!)

Bei Ihnen mag das Absicht sein. Aber die EU-wettbe-
werbsrechtlichen Bedenken kümmern Ihren Spitzenkan-
didaten, den Herrn Agrarexperten, wenig.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Dummes Zeug! Wollen die Deutsche Bundesbank und der Internationale Währungsfond auch mit dem Knüppel antreten?)


Er sagt sogar fröhlich, dass das, was Sie in Ihr so ge-
nanntes Regierungsprogramm hineingeschrieben haben,
schließlich kein Gesetzentwurf, sondern ein Programm
sei. Vielleicht brauchen Sie nicht einen Mittelstandsbe-
auftragten, sondern einen Mittelmaßbeauftragten für Ih-
ren Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Sie sind hier nicht auf dem SPD-Parteitag in Kiel! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Und die Deutsche Bundesbank hat auch den Knüppel in der Hand?)


Das ist nämlich das, worüber wir hier eigentlich reden.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU: Oh! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wir sind hier doch nicht in der Provinz! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Meine Güte! Zurück ins Ministerium! Das ist nicht das Niveau dieses Hauses!)


Selbst wenn Sie sich durchsetzen würden, Herr
Koppelin, wäre es ein Pyrrhussieg. Denn es wäre das
Ende der Sparkassen und damit der Mittelstandsfinan-
zierung in der Fläche.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Darum geht es nicht!)


Es ist doch ganz einfach – der Kollege Stiegler hat es
schon gesagt –: Die Privatbanken haben sich lange Zeit
nicht um den Mittelstand und um die Privatkunden ge-
schert.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Und jetzt wollen sie Beute machen!)


Jetzt versuchen sie dieses Versäumnis wettzumachen,
indem sie angebliche Wettbewerbsverzerrungen bekla-
gen und sich einkaufen wollen. So simpel ist das. Aber
so wird es nicht funktionieren.

Mit dem Erwerb durch private Dritte würden die
Sparkassen den Bürgern entzogen, um sie den Kapitalin-
teressen weniger Personen zu öffnen. Wir wollen keine
Entwicklung wie in England und den Vereinigten Staa-
ten von Amerika. Diese Entwicklung wird es mit der So-
zialdemokratie auch nicht geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Sie haben doch gehört, was der Staatssekretär gesagt hat!)


Die schleswig-holsteinische Bevölkerung weiß um
die Bedeutung von Gemeinwohl und Daseinsfürsorge. In
einer Forsa-Umfrage vom September 2004 sprechen sich
mehr als drei Viertel der Bevölkerung, genauer






(A) (C)



(B) (D)


Minister Dr. Ralf Stegner (Schleswig-Holstein)


77 Prozent, gegen den Verkauf von Sparkassen im Land
an private Dritte aus.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Die wissen gar nicht, wie viele schon frei sind!)


Bei allem Selbstbewusstsein, das ich wirklich habe,
muss ich Ihnen, Herr Bernhardt, sagen: Das ist noch ein
wenig mehr als die Stammwählerschaft von Rot-Grün in
Schleswig-Holstein. 77 Prozent sind dagegen.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Was haben Sie vor einem halben Jahr erzählt?)


Ich glaube, dass Sie darum wissen. Sie haben Angst da-
vor, dass die Wähler das merken. Deswegen sind Sie
hier so aufgeregt.


(Beifall bei der SPD)

Die schleswig-holsteinische Landesregierung will so-

lide, kundennahe, effektive und potente Sparkassen. Ich
meine, die Bereitstellung einer Bankverbindung für je-
den und jede ist Ausdruck der sozialen Verantwortung
der Sparkassen. Wir fügen nämlich dem Wort „Markt-
wirtschaft“ das Adjektiv „sozial“ bei. Manches, was ich
von Ihnen höre, enthält dieses Adjektiv nicht. Das ist
falsch; denn unser wirtschaftlicher Erfolg in Deutsch-
land hat auch etwas mit sozialer Marktwirtschaft zu tun.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Sie haben vor einem halben Jahr etwas anderes erzählt! Unglaublich!)


Tragfähige Sparkassenstrukturen sind gerade in unse-
rem durch kleine und mittlere Unternehmen geprägten
Land unentbehrlich. Der Hinweis auf die freien Sparkas-
sen, Herr Koppelin, besagt doch das Gegenteil. Wir ha-
ben in Schleswig-Holstein ein liberales Sparkassenge-
setz. Wir haben freie Sparkassen. Wir brauchen keine
Liberalisierung und keine Öffnung in dem Sinne, wie
Sie sie wollen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das ist nun eine Argumentation! Das ist ja schlimm! Jetzt dreht er sich im Kreis!)


Es funktioniert doch auch so. Insofern sind die Behaup-
tungen, die Sie aufstellen, eher von Unkenntnis über die
Gesetzeslage bestimmt.

Das, was Sie über unseren Wirtschaftsminister, Herrn
Rohwer, gesagt haben, ist natürlich Unfug. Er hat zwar
im Landtag gesagt


(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Zitat!)

– ja, ich habe es gestern gehört; ich saß auf der Regie-
rungsbank –, die kleinen und mittelständischen Unter-
nehmen hätten ein Kreditproblem. Aber das lösen Sie
doch nicht, indem Sie den Teufel mit dem Beelzebub
austreiben und das Problem noch dadurch verschärfen,
dass die Privatbanken es in die Hand bekommen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie verschärfen es doch!)


Die kümmern sich nämlich überhaupt nicht darum.
Kooperationen von Sparkassen und Sparkassenver-
bänden bleiben bei Gewährleistung des Regionalprinzips
ein Weg zur Kapitalstärkung.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Ein teures Spiel für Schleswig-Holstein!)


– Übrigens weiß ich viel besser als Sie, was ich vor ei-
nem halben Jahr gesagt habe, weil ich nämlich immer
das Gleiche sage, wohingegen Sie sich ab und zu drehen
und wenden,


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)

wie das bei der FDP so üblich ist.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Das machen wir noch einmal im Landtag klar!)


– Aber gern.
Es sollte durchaus Veränderungen dadurch geben,

dass sich Sparkassen zusammenschließen. Starke Spar-
kassen werden ihre Kostenseite unter Beibehaltung von
Qualität und Service weiter optimieren müssen. Wir
wollen aber nicht – Herr Stiegler hat das zu Recht ge-
sagt –, dass sich die Sparkassen in Richtung Shareholder-
Value entwickeln. Sie sollen vielmehr dem Gemeinwohl
verpflichtet bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das soll die Kommunalpolitik entscheiden!)


Im Übrigen zahlen die Sparkassen im Gegensatz zu
den meisten Banken sogar noch – auch das finde ich als
Finanzminister richtig – Steuern.


(Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es! Genau!)

Auch dies sollte man hier einmal feststellen. Denn aus
diesen Steuern und nicht aufgrund der windigen Metho-
den, die es teilweise gibt, werden die Aufgaben des Ge-
meinwesens finanziert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wird sich in Schleswig-Holstein die Zukunft des öf-
fentlichen Kreditwesens entscheiden? Ich sage Ihnen: Ja.
Ich weise aber auch auf Folgendes hin: Die Zukunft wird
bei starken und zukunftsfähigen öffentlich-rechtlichen
Sparkassen liegen. CDU und FDP wollen hier als Retter
auftreten; aber die Bürger und die Sparkassen vernageln
ihre Fenster, weil sie solche Rettertruppen gar nicht ha-
ben wollen.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Ach Gott!)

Sie bewirken nämlich das Gegenteil dessen, was sie er-
reichen wollen.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist eine Rede für den SPD-Parteitag!)


Opposition ist die Kunst, etwas zu versprechen, was
die Regierung nicht halten kann. Diese Kunst verstehen
Sie einigermaßen, mehr aber auch nicht. Zur Regie-
rungsfähigkeit gehört deutlich mehr.






(A) (C)



(B) (D)


Minister Dr. Ralf Stegner (Schleswig-Holstein)


Ich bedanke mich sehr bei Ihnen für die Aufmerksam-

keit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das war ein toller Beitrag! Meine Güte! – Jürgen Koppelin [FDP]: In Deutschland kann jeder Minister werden! Wie peinlich! – Dirk Niebel [FDP]: Als Schleswig-Holsteiner schämt man sich ja für einen solchen Minister! Gut, dass ich aus Baden-Württemberg komme!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513809800

Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/

CSU-Fraktion.


Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1513809900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte

Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Stegner, es
muss um die Mehrheitsverhältnisse in Schleswig-Hol-
stein schon sehr schlecht gestellt sein,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, nein! Es wird von Tag zu Tag besser!)


wenn Sie sich hier in dieser Art und Weise zu sachpoliti-
schen Positionen äußern und ein Szenarium an die Wand
malen, das jeder Grundlage entbehrt und auch nicht den
Beschluss des Landesparteitages der CDU widerspie-
gelt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Hier werden, Herr Kollege Krüger, Szenarien an die
Wand gemalt, die mit diesem Beschluss nichts zu tun ha-
ben und die nicht die Interpretationsmöglichkeit herge-
ben, wie Sie es hier dargestellt haben. Wenn das so wäre,
müsste das Sparkassenwesen in Rheinland-Pfalz im
Grunde schon längst untergegangen und müssten all die
Dinge eingetreten sein, die Sie hier an die Wand gemalt
haben. Wir haben in Rheinland-Pfalz im Sparkassenge-
setz als Landesrecht genau die gleiche Gesetzgebung
und die gleichen Möglichkeiten, wie es von der Union
gemeinsam mit der FDP für Schleswig-Holstein gefor-
dert wird.

Lassen Sie mich auf die eigentlichen Fakten zurück-
kommen. Ich darf den Beschluss des Landesparteitages
noch einmal kurz darstellen – ich zitiere –:

Es wird gesetzlich sichergestellt, dass die Mehrheit
der Anteile bei den kommunalen Trägern verbleibt
und die gewünschte Zuführung von Kapital auf
Kunden aus der Region, Mitarbeiter und Institutio-
nen der Sparkassen-Finanzgruppe beschränkt
bleibt.

Meine Damen und Herren, das ist klar auf einen Be-
reich eingegrenzt. Die Mehrheit der Anteile wird sich
auch weiterhin in öffentlicher Trägerschaft befinden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Da lacht sogar Herr Schauerte!)

Daher spielt es im Grunde genommen keine Rolle, für
welche juristische Organisationsform man sich entschei-
det. Es kommt nach wie vor darauf an, welcher Auftrag
mit dem Träger, der Organisation, der Sparkasse verbun-
den ist. Wären sonst nicht alle Neugliederungen, die wir
in manchen Ländern schon durchgeführt haben, fehlge-
schlagen, Herr Stiegler?


(Ludwig Stiegler [SPD]: Es geht nicht um die Neugliederung, sondern um den öffentlichen Förderauftrag!)


Teilweise handelt es sich dabei sogar um die Rechtsform
der Aktiengesellschaft. Trotzdem sind damit öffentliche
Aufträge verbunden.

Ich möchte betonen: Das, was die schleswig-holstei-
nische CDU und das, was sowohl die Bundespartei als
auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschlossen ha-
ben, ist widerspruchsfrei.


(Florian Pronold [SPD]: Das wäre das erste Mal, dass etwas bei Ihnen widerspruchsfrei ist!)


In unserem Papier zum Thema Finanzplatz – Herr Kol-
lege Pronold, vielleicht hören Sie einmal zu – haben wir
uns ausdrücklich für die Dreigliedrigkeit der Banken-
struktur ausgesprochen. Wir wollen sie erhalten und fort-
entwickeln; denn wer nur im Status quo verharrt, wird
die Zukunft des Bankensektors nicht gestalten können.
Gewisse Bereiche muss man fortentwickeln. Das soll bei
den Sparkassen auch weiterhin in Form einer öffentlich-
rechtlichen Struktur geschehen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine öffentlich-rechtliche Struktur und keine Aktiengesellschaft!)


Da dieses Thema der Landesgesetzgebung unterliegt,
Herr Kollege Stiegler, ist der einzige Punkt, den wir als
Bundesgesetzgeber beeinflussen können, § 40 KWG, in
dem festgelegt ist, was Sparkasse bedeutet und inwiefern
sie als öffentlich-rechtliche Institution geschützt ist.


(Florian Pronold [SPD]: Man muss wirklich keine Ahnung von Gesetzen haben, um eine Rede im Bundestag zu halten!)


Alles andere ist Landesrecht.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das bleibt auch so!)


Warum reden wir eigentlich über Subsidiarität und Föde-
ralismus,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wo Sparkasse draufsteht, ist auch Sparkasse drin! Keine Mogelpackung!)


wenn wir den Ländern hinsichtlich ihrer Sparkassenge-
setzgebung nicht Raum zur Eigengestaltung lassen, um
es so zu regeln, wie es vor Ort erforderlich ist?

Sie sollten verbal abrüsten.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sollten Ihren An trag wegschmeißen!)







(A) (C)



(B) (D)


Leo Dautzenberg

Wenn ich sehe, welche Untergangsszenarien betreffend
den öffentlichen Sektor hier präsentiert worden sind,
dann glaube ich, dass ich auf der falschen Veranstaltung
bin.


(Florian Pronold [SPD]: Das stimmt! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach dem Beitrag von Herrn Michelbach zu einem anderen Thema glaube ich das auch!)


Sehen Sie sich doch die Situation in Italien und Spanien
an! Dort sind alle öffentlich-rechtlichen Institutionen
über Stiftungen neu konzipiert worden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das brauchen wir Gott sei Dank nicht!)


Heute gehören sie, zum Beispiel in Italien, sogar zu einer
der größten Bankengruppen. Trotzdem erfüllen sie wei-
terhin einen öffentlich-rechtlichen Auftrag.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wir wollen regionale Kreditversorgung!)


Sehen wir uns an, was in Baden-Württemberg passiert
ist! Dort ist es teilweise schon gelungen, eine Neustruk-
turierung des öffentlich-rechtlichen Bankensektors vor-
zunehmen. Dort hat man sich tatsächlich auf die neuen
Gegebenheiten des Marktes als öffentlich-rechtliche
Aufgabe ausgerichtet. Das ist auch die Aufgabe der Län-
der. In Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Krüger, muss
noch Entscheidendes geleistet werden, wenn es um den
Verbund geht. Dies gilt auch für den genossenschaftli-
chen Bereich – wir reden hier immer nur über die Spar-
kassen –, den wir ebenfalls für die Kreditversorgung so-
wohl in der Fläche als auch für die mittelständische
Wirtschaft brauchen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Lenken Sie nicht ab! Es geht um die Privatisierung!)


– Auch nach einer Privatisierung kann der öffentlich-
rechtliche Auftrag erfüllt werden,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein!)

und zwar dann, wenn man sich für die Rechtsform einer
juristischen Person des privaten Rechts entscheidet. Man
muss sich deshalb darüber klar werden, was man unter
Privatisierung versteht.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie wollen Shareholder Value! Das ist alles!)


Lassen Sie uns keine Szenarien an die Wand malen,
die ohnehin nicht eintreten werden! Lassen Sie uns, die
wir die Strukturveränderungen vornehmen wollen, die
Zeit lieber nutzen, um als Bundesgesetzgeber die Rah-
menbedingungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik
so zu setzen, dass mehr Wirtschaftswachstum und Be-
schäftigung generiert wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513810000

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Leo Dautzenberg (CDU):
Rede ID: ID1513810100

Sie sollten nicht aus Wahlkampfgründen wegen der

bevorstehenden Wahl in Schleswig-Holstein auf Neben-
kriegsschauplätze ausweichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Sie wollen die Sparkassen ruinieren! Das ist jetzt klar geworden!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513810200

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Kofler, SPD-Frak-

tion.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1513810300

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Im Mittelpunkt dieser Aktuellen Stunde steht das
öffentlich-rechtliche Sparkassenwesen in Deutschland.
Jeder kennt das Drei-Säulen-System des deutschen Ban-
kensektors: Einerseits gibt es das altbewährte System der
Sparkassen mit öffentlich-rechtlicher Trägerschaft und
die Genossenschaftsbanken, andererseits die privatwirt-
schaftlich organisierten Banken.

In den vergangenen Jahren haben sich die privaten
Großbanken zunehmend aus dem Flächengeschäft in
Deutschland zurückgezogen und auf das Geschäft auf
den internationalen Finanzmärkten gebaut. Von 1998 bis
2003 haben die privaten Großbanken jede zweite Zweig-
stelle geschlossen. Plötzlich aber scheint der deutsche
Markt für die Privatbanken wieder interessant zu sein
und sie versuchen, ihn zurückzuerobern. Genau in die-
sem Moment machen sich die FDP und die Union stark
für eine Privatisierung des öffentlich-rechtlichen Spar-
kassenwesens. Das muss doch sehr verwundern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Mal schauen, was da an Spenden geflossen ist! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Immer diese Verschwörungstheorien! Mein Gott!)


Die Sparkassen sind in ihrer bisherigen öffentlich-
rechtlichen Organisationsform ein Garant für die Stabili-
tät des deutschen Bankenwesens und der regionalen so-
wie der mittelständischen Wirtschaft. Gerade die kleinen
und mittelständischen Unternehmen haben dank der
Sparkassen Aussicht auf Kredite, die ihnen von privat-
wirtschaftlich arbeitenden Bankinstituten nicht angebo-
ten würden; diese haben sich vom Finanzgeschäft mit
kleinen und mittleren Unternehmen weit gehend verab-
schiedet. Es sind die Sparkassen, die mit besonderer Ver-
antwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer
Region handeln und lange und stabile Kundenbeziehun-
gen pflegen. Das Engagement der Sparkassen für den
Mittelstand und ihre Regionen ist seit Jahren ungebro-
chen. Bei gleich hohen Kreditbestandszahlen finanzieren
die Sparkassen zudem erheblich mehr Einzelvorhaben
als private Großbanken. Sie sind damit für die Förderung
des Mittelstandes unentbehrlich. Für die Privatkunden
sind die Sparkassen insbesondere aufgrund ihrer flä-
chendeckenden Versorgung mit Bankdienstleistungen
bedeutsam. Internet- und Telefonbanking dürfen nicht






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler

die einzigen Angebote einer Bank sein; es braucht auch
kundennahe Beratung und Betreuung vor Ort.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben in Deutschland ein Bankensystem, in dem
ein intensiver Wettbewerb herrscht. Dieser trägt dazu
bei, dass Bankdienstleistungen in Deutschland flächen-
deckend und kostengünstig angeboten werden. Auf-
grund ihres öffentlichen Auftrages unterstützen die Spar-
kassen zudem in produktiver Weise die strukturellen
Reformprozesse in Deutschland. Mit der Mittelstandsfi-
nanzierung und den Vorsorgemöglichkeiten für alle Teile
der Bevölkerung bilden die Sparkassen den notwendigen
Resonanzboden dafür, dass Reformen in Deutschland im
Einklang mit den Menschen erfolgreich sind.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Siehe Hartz IV! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Der Meinung sind wir auch! – Bestreitet doch keiner!)


– Ohne die Sparkassen, nur mit Privatbanken wäre es
schon schlechter.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gilt somit festzuhalten, dass durch das öffentlich-
rechtliche Sparkassenwesen in Deutschland ein wichti-
ger Beitrag zur Daseinsvorsorge geleistet wird. Es be-
steht ein am Gemeinwohl orientiertes Verbandssystem
aller Sparkassen. Die Forderungen nach Privatisierung
sind hier schädlich. Daher lehnen wir diese ab.


(Beifall bei der SPD)

Auch in diesem Bereich gilt, was wir aus der Erfahrung
mit Privatisierungen öffentlich-rechtlicher Einrichtun-
gen bereits kennen: Ein Mehr an Privatisierung heißt
nicht zwingend ein Mehr an Qualität.

Darüber hinaus trägt das Drei-Sulen-System des Ban-
kensektors zur Krisenfestigkeit des deutschen Finanzsys-
tems bei. Daran hat der öffentlich-rechtliche Bankensek-
tor der Sparkassen einen erheblichen Anteil. Angesichts
der immer größeren, weltweiten Verflechtung der Fi-
nanzmärkte ist Stabilität von unschätzbarem Wert. Das
internationale Finanzsystem ist immer wieder von Krisen
geschüttelt worden. Die Funktionsfähigkeit des deut-
schen Finanzsystems wurde dadurch jedoch nicht beein-
trächtigt, was für unsere gesamte Volkswirtschaft von
großer Bedeutung war und ist. Nicht zuletzt dient die Sta-
bilität des deutschen Banken- und Finanzsystems dem
Vertrauensschutz für die Anlagen der Bürgerinnen und
Bürger. Gerade dezentrale Kreditinstitute wie die Spar-
kassen tragen zur Stabilität in konjunkturell schwierigen
Phasen bei und helfen, negative Entwicklung abzufe-
dern.

Egal wer nach einer Privatisierung der Sparkassen
ruft, ihm muss doch eines klar sein: Dadurch würde
nicht nur die Daseinsvorsorge ganzer Regionen betrof-
fen, sondern auch volkswirtschaftlicher Unsinn produ-
ziert.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513810400

Frau Kollegin Kofler, auch Sie sind eine neue Kolle-

gin, auch Sie haben heute Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag gehalten. Wir gratulieren Ihnen recht herzlich
und wünschen Ihnen ebenfalls alles Gute für Ihre per-
sönliche und politische Zukunft.


(Beifall Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Bayern-SPD rüstet auf!)


Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/
CSU-Fraktion.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1513810500

Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Da es um eine wichtige Fragestellung in unserer
mittelständisch organisierten Volkswirtschaft geht, soll-
ten wir die Sachlichkeit in den Vordergrund stellen und
versuchen, zu überlegen, worüber hier überhaupt Streit
entstehen kann und ob er nötig ist.

Die Bundesregierung – Koch-Weser, Clement etc. –
hat mehrfach erklärt, dass das dreigliedrige Bankensys-
tem, also das Drei-Säulen-System, höchst renovierungs-
bedürftig sei und dass man die Dinge ändern müsse.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Deshalb muss man die Säule der Sparkasse nicht einreißen!)


Ich könnte Ihnen die Zitate zeigen. Wolfgang Clement
sagte: Auf dem deutschen Markt gibt es zu viele Kredit-
institute. Ich sollte von hier aus nicht über eine Über-
kreuzzusammenarbeit sprechen, aber ich bezweifle, dass
wir so weitermachen können wie bisher. – Koch-Weser
plädierte im Oktober 2003 zum Verdruss der Sparkassen
für säulenübergreifende Fusionen zwischen privaten
Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Was
ist das anderes, als die Kapitalbasis zu verbreitern und
den öffentlich-rechtlichen Auftrag zu schmälern? Die
Gutachter des Finanzministers sind ganz aktuell dafür,
die Rentabilität des deutschen Bankensystems zu stei-
gern,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das sollen die aber selbst machen!)


indem die Sparkassen zurückgedrängt werden.
Die CDU wird auf ihrem Parteitag in Düsseldorf fol-

genden Text beschließen – ich darf Ihnen den Text vorle-
sen –, der jetzt abgestimmt ist:

Bei der Weiterentwicklung des deutschen Banken-
marktes kommt den Sparkassen und Genossen-
schaftsbanken eine besondere Bedeutung im
Hinblick auf die Kreditversorgung der mittelständi-
schen Wirtschaft zu. Hier liegt eine Rechtfertigung
für die besondere Struktur des Sparkassensektors.

Das ist nach dem Parteitagsbeschluss das Programm der
CDU.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: So steht es darin!)







(A) (C)



(B) (D)


Hartmut Schauerte

Die Bundestagsfraktion hat einen Antrag eingebracht,
wonach die dreigliedrige Bankenstruktur in Deutschland
zu erhalten und fortzuentwickeln ist usw.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie das dem Carstensen! Rufen Sie die Schleswig-Holsteiner zur Ordnung!)


Das und nichts anderes ist die Gefechtslage.
Im internationalen Vergleich ist die Stabilität im Kre-

ditgewerbe in Deutschland hervorragend. Der stabilste
Teil der deutschen Kreditwirtschaft war der Sparkassen-
und Genossenschaftssektor. Er wurde manchmal zwar
belächelt, aber er ist sehr stabil, wertvoll und nützlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie das mal dem Carstensen!)


Kein Vernünftiger – das kann die CDU also überhaupt
nicht treffen; denn in ihr sind alle äußerst vernünftig –


(Lachen des Abg. Florian Pronold [SPD])

kann also ernsthaft darüber nachdenken, die Sparkassen
abzuschaffen. Diese Legendenbildung passt Ihnen ins
Programm. Wissen Sie, was Sie tun, wenn Sie so weiter-
reden?


(Ludwig Stiegler [SPD]: Distanzieren Sie sich von Schleswig-Holstein! Dann ist es gut!)


Sie sorgen dafür, dass sich diese Diskussion festfrisst.
Mit dieser Überzeichnung des Themas schaden Sie den
Sparkassen sehr. Ich finde das nicht klug und nicht in
Ordnung. Ich muss das gar nicht vertiefen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Bundesbank hat ausdrücklich bestätigt, wie sehr

die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken zur Sta-
bilität beitragen. Sie sind also ein Schatz.

Die eigentliche Frage lautet ganz anders, nämlich:
Wie können wir in Deutschland möglichst viele dezen-
trale Bankdienstleistungen nah am Mittelstand, fest ver-
ankert in den Regionen und verbunden mit Wettbewerb
aufrechterhalten?


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie das dem Carstensen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ziehen Sie den Antrag zurück! Dann ist alles klar!)


Ich will Ihnen noch eine ganz nüchterne Frage stellen.
In einer Stadt – egal, wie sie heißt – gibt es eine Spar-
kasse, die sagt, dass ihr Markt zu klein ist oder dass ihr
Kapital nicht reicht.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Dann kann sie mit einer anderen fusionieren!)


In diesem Fall kann sie mit einer anderen Sparkasse
fusionieren. Der Fusionsprozess in diesem Säulensystem
beschleunigt sich;


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist okay!)

am Ende werden ganze Regionen blankgezogen.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür braucht es kein privates Kapital!)


Was würden Sie denn von der Variante halten, dass man
der Bürgerschaft einer Stadt, also dem Mittelstand, die
ein hohes Interesse an dem Erhalt ihrer Sparkasse hat,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das kann eine stille Beteiligung sein!)


erlaubt, sich an ihrer Sparkasse zu beteiligen, wodurch
die Sparkasse möglicherweise in den Mauern dieser
Stadt erhalten bleibt?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP] – Ludwig Stiegler [SPD]: Dann sollen sie sich still beteiligen! Das können sie heute schon!)


Das ist zum Beispiel ein Ziel, das mit dem Antrag in
Schleswig-Holstein verfolgt wird. Was ist daran
schlecht?


(Ludwig Stiegler [SPD]: Man muss sie nicht zu Gesellschaftern machen!)


Wir haben doch nichts anderes vor. Ich nenne nur das
Genussscheinkapital. Das ist doch möglich.

Wir werden sowohl im Genossenschafts- als auch im
Sparkassenbereich jede Modernisierung und Verbreite-
rung mitmachen, wenn dafür gesorgt wird, dass mög-
lichst viele dezentrale Bankdienstleistungen erhalten
bleiben. Wir wollen keine Konzernierung, aber wir brau-
chen an der einen oder anderen Stelle neues Kapital, um
die Konzentrationsbewegung möglicherweise sogar ver-
langsamen zu können, damit wir ortsnäher bleiben.

Sie reden davon, dass man spartenübergreifend mit-
einander fusionieren kann. Die Banken haben zuallererst
eine Dienstleistungsfunktion.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Eben!)

Sie sind nicht aus sich selbst heraus legitimiert, sondern
sie sind legitimiert, weil sie die Finanzwirtschaft in mo-
dernen Volkswirtschaften betreiben und optimieren müs-
sen.

Stellen Sie sich einmal vor, die Genossenschaftsbank
und die Sparkasse vor Ort fusionieren. Damit sind in den
meisten Städten und Gemeinden 80 Prozent der Finanz-
dienstleistungen unseres Landes in einer Hand. Wo soll
der arme Mittelständler dann noch einen Wettbewerber
finden?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513810600

Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist zu Ende.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1513810700

Wenn er mit den fusionierten Banken redet und diese

ihm nicht mehr helfen wollen, dann hat er für den Rest
seines Lebens keine Chance mehr.

Erhalten wir also diesen Wettbewerb! Alles, was den
Wettbewerb stärkt und möglichst viel Dezentralität er-
möglicht, ist gut für den Mittelstand und den Standort
Deutschland. Machen Sie hier keine Schaukämpfe!






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513810800

Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist trotzdem

überschritten.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1513810900

Die CDU/CSU wird dieses Ziel konsequent weiter-

verfolgen.
Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513811000

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-

Fraktion.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1513811100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir

wollen Arbeitsplätze in Deutschland sichern und neue
Arbeitsplätze schaffen.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das versucht ihr schon seit sechs Jahren!)


Keine Frage: Dafür brauchen wir einen starken Mittel-
stand.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihr seid die Mittelstandsvernichter!)


Die 3,3 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen
sind es, die 70 Prozent aller Arbeitsplätze und sogar
80 Prozent der Ausbildungsplätze bereitstellen. Wir
brauchen in Zeiten zunehmender Globalisierung stand-
ortfeste Unternehmen, die ihre Produktionen nicht mir
nichts, dir nichts ins Ausland transferieren, wenn sich
dort bessere Gewinnmaximierungsmöglichkeiten eröff-
nen, und mal eben 200, 400, 1 000 oder mehr Menschen
in die Arbeitslosigkeit entlassen.

Eines ist klar: Ohne wirtschaftsstarke, innovative und
investitionsbereite mittelständische Unternehmen wer-
den wir die Arbeitslosigkeit in unserem Land nicht in
den Griff bekommen. Ohne Moos nichts los – dieser
Satz gilt auch für den Mittelstand. Um neue Ideen in
Produkte umzusetzen, brauchen Unternehmen Kapital.
Das finden sie nicht auf der Straße, sondern in Banken.
Wie sieht es hier aber aus? Immer mehr private Banken
und Kreditinstitute ziehen sich aus ihrer Verantwortung
zurück und lassen innovationsfreudige, hoffnungsvolle
Unternehmer im Regen stehen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)

Im letzten Jahr haben zum Beispiel nur 6 Prozent der
Handwerksbetriebe ihre Kredite von privaten Banken er-
halten.

Ich komme zu den Sparkassen. Wenn wir sie nicht
hätten, dann sähe es düster aus.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Sie stützen den Mittelstand vor allem durch ihre größere
Bereitschaft zur Kreditvergabe und durch ihre Regiona-
lität.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Warum ist Regionalität so wichtig? Wir brauchen in
Deutschland eine flächendeckende Versorgung der
Kommunen mit Finanzdienstleistungen. Es ist die Bera-
tung von Angesicht zu Angesicht, die die Sparkassen
und Genossenschaftsbanken leisten. Ein Glück, dass wir
sie haben! Auch sie müssen sich zwar nach der Decke
strecken, aber sie haben ihr Regionalitätsprinzip erfolg-
reich verteidigt.

Was machen CDU und FDP? Sie holen in Schleswig-
Holstein zum großen Schlag gegen bewährte Strukturen
aus. Ich komme aus Schleswig-Holstein und verfolge
diese Politik mit großer Sorge. Herr Bernhardt, Herr
Dautzenberg und Herr Schauerte, wenn Sie sich hier hin-
stellen und behaupten, dass das gar nicht so ist, so sagen
Sie schlichtweg die Unwahrheit.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Lesen Sie doch mal den Antrag!)


Natürlich wollen CDU und FDP in Schleswig-Holstein
Dritten Beteiligungen an den Sparkassen ermöglichen
und damit den Weg für Privatisierung freimachen. Ge-
nau darum geht es.


(Beifall bei der SPD)

Sie begründen ihr Anliegen auch. Angeblich ist die
Eigenkapitalbasis der Sparkassen zu schmal und die
Banken somit nicht krisenfest.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wo steht denn das? Du hast den Antrag doch gar nicht gelesen! Du hast eine Brille und kannst nicht lesen!)


Alles Quatsch, sagen dazu die Sparkassen. Ihrer Mei-
nung nach ist ihr Haus fit für Europa und damit fit für
die Zukunft. Die Sparkassen sollten es doch wohl am
besten wissen.


(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie ihnen nicht glauben, führe ich eine weitere

Quelle an. Auch der Internationale Währungsfonds be-
scheinigt dem deutschen Bankenwesen erstklassige
Krisenfestigkeit. Diese hohe Sicherheit ist vor allem auf
die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute zurückzufüh-
ren.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Aber die in Lübeck arbeiten gut!)


Eines ist klar: Wenn die Tür für private Investoren
auch nur einen Spalt breit geöffnet wird, werden die
Großbanken nicht zögern, sie ganz aufzustoßen, und un-
liebsame Konkurrenz schlucken. Bewährte Sparkassen-
landschaft ade; es wäre ihr Ende.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nicht auszudenken, was das für die Menschen vor allem
im ländlichen Raum und für den Mittelstand bedeuten
würde. Denn öffentlich-rechtliche Institute sind im Ge-
gensatz zu den privaten Banken dem Gemeinwohl ver-
pflichtet. Damit wäre dann Schluss.






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Hiller-Ohm

Deshalb sagen wir: Nein, nicht mit uns, Kolleginnen

und Kollegen von der CDU und FDP aus Schleswig-
Holstein. Wir setzen uns für die ländlichen Regionen
ein. Wir stärken den Mittelstand.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Sie schwächen die ländliche Region, schaden dem Mit-
telstand und grenzen Menschen aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

gehen mit der Deutschen Bank auf die
Cayman Islands!)

Werfen wir einen Blick in die USA und nach Großbri-
tannien. Da gibt es nämlich das alles schon, womit Sie
uns in Schleswig-Holstein beglücken wollen. Dort be-
stimmen die privaten Banken, wo es langgeht: hohe Ge-
bühren, schlechte Dienstleistungen, von Verantwortung
für das Gemeinwohl keine Spur. Ich nenne ein Beispiel:
In den USA ziehen Banker rote Linien um Stadtteile, in
denen sie keine Hypotheken vergeben. Die Auswirkun-
gen sind so katastrophal, dass die Regierung schon vor
einigen Jahren ein Gesetz erlassen musste, mit dem Ban-
ken gezwungen werden sollen, dieses Verhalten zu än-
dern und Kredite und Dienstleistungen über alle sozialen
Gruppen und strukturschwachen Gebiete zu verteilen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513811200

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie müssen

jetzt den Schlusssatz sagen.

(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es reicht!)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1513811300

Da die Institute ständig überwacht werden müssen, ist

dies mit einem riesigen bürokratischen Aufwand verbun-
den. Auf diese Verhältnisse verzichten wir dann doch
lieber in Deutschland. Schützen wir unsere bewährten
Sparkassenstrukturen!


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513811400

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist jetzt zu Ende.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1513811500

Das ist gut für die Menschen, das ist gut für den Mit-

telstand und das stärkt den Finanzplatz Deutschland.
Danke schön!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513811600

Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSU-

Fraktion.

(Dirk Niebel [FDP]: Er spricht jetzt über die Berliner Bankgesellschaft!)


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1513811700

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass Kollege
Stiegler den Antrag der CDU in Schleswig-Holstein
nicht genau kennt. Wenn aber ein Minister aus diesem
Land kommt, hier Falsches sagt und polemisiert, dann ist
das der Würde des Hauses nicht angemessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Von keiner Seite wird bestritten, dass die Sparkassen

ein deutsches Erfolgsmodell sind. Sie garantieren die Fi-
nanzierung des Mittelstandes sowie die Versorgung des
ländlichen Raums mit Finanzdienstleistungen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Darum dürfen wir sie nicht ruinieren!)


Der Name Sparkasse ist ein Markenzeichen, das jeder
Mitbürger kennt. Es steht für Kundennähe, persönliche
Ansprache, regionale Verwurzelung und die Betreuung
von 75 Prozent aller Unternehmen in der Bundesrepu-
blik Deutschland. Stolz dürfen die Sparkassen darauf
sein, dass vor nicht allzu langer Zeit der Sachverständi-
genrat der Bundesregierung wieder bestätigt hat, dass
die Sparkassen und die Landesbanken einen möglichen
Kreditengpass in Deutschland verhindert haben.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)

Sparkassen und Landesbanken haben bei der Mittel-
standsfinanzierung nach Berechnungen der Bundesbank
seit Anfang 1999 ihren Marktanteil von 38 Prozent auf
über 42 Prozent ausbauen können.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Darum lassen wir auch die Hände davon!)


Bei Krediten an Handwerksunternehmen liegt der
Marktanteil der Sparkassen bei 67 Prozent. Auch hier ist
seit drei Jahren eine Steigerung um circa 3 Prozent fest-
stellbar.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das soll auch so bleiben!)


Im gleichen Zeitraum haben die privaten Großbanken ih-
ren Kreditbestand um über 36 Milliarden Euro bzw.
20 Prozent zurückgefahren. Davon ist überwiegend der
Mittelstand betroffen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sag das dem Carstensen!)


Auch bei den KfW-Programmen für kleine und mittlere
Unternehmen sowie für die Existenzgründer liegen die
Sparkassen mit einem Marktanteil bei den Gesamtför-
dersummen von 40 Prozent weit vor der Konkurrenz.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ernst, das wissen wir alles schon!)


Das lässt sich hören. Ich möchte das ausdrücklich hier
feststellen.

Für mich ist unbestritten: Das Drei-Säulen-Modell
der deutschen Kreditwirtschaft hat sich bewährt. Es ist
ein Erfolgsmodell.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sag das der CDU!)

Wir dürfen alle froh darüber sein, dass der deutsche Ban-
kenmarkt stabil ist. Das ist der Mischung zu verdanken,
zu der die Sparkassen als öffentlich-rechtliche Institute,






(A) (C)



(B) (D)


Ernst Hinsken

die Genossenschaftsbanken und auch die privaten Groß-
banken gehören.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Willkommen im Klub!)


Ich meine aber, dass gerade im einheitlichen europäi-
schen Wirtschaftsraum regional tätige Kreditinstitute ein
Zukunftsmodell sein müssen. Daran sollten und müssen
wir arbeiten.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ernst, sag es ihnen!)

Ich sage auch deshalb ganz klar: Die Sparkassenfi-

nanzgruppe darf kein Steinbruch sein, aus dem sich
Wettbewerber jeweils ein passendes Stück herausschla-
gen können.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU] – Zurufe von der SPD: Bravo! Sehr gut!)


– Ich bedanke mich für den Beifall. – Das genau will
auch die CDU Schleswig-Holstein, an der Spitze Harry
Peter Carstensen. Das ist ganz klar.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Florian Pronold [SPD]: Da lacht die CDU selber!)


Die Sparkassen sind die wichtigste Bank für Mittel-
stand und Handwerk und neben den Genossenschafts-
banken deren Hausbank. Sparkassenkredite sind der
Treibstoff, der den Mittelstand voranbringt. Ohne die
Sparkassen wäre der Mittelstand nicht zu dem gewor-
den, was er heute ist, nämlich Antriebsmotor der gesam-
ten deutschen Wirtschaft und Hauptarbeitgeber in
Deutschland.

Meine Damen und Herren, gerade als ein von einem
Kreistag gewähltes Verwaltungsratsmitglied einer Spar-
kasse weiß ich: Es gibt kaum noch einen Mittelständler,
der Geld braucht und nicht über die restriktive Kredit-
vergabe klagt. Umfragen zeigen: Über die Hälfte der Fir-
men haben Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Die
Eigenkapitaldecke wird immer dünner und beträgt im
Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das musst du dem Bernhardt sagen!)


Das wirtschaftliche Umfeld des Mittelstandes ist ge-
kennzeichnet durch schwache gesamtwirtschaftliche
Nachfrage, hohe Arbeitslosigkeit, ständig neue Rekorde
bei den Unternehmensinsolvenzen, steigende Bürokra-
tiekosten, explodierende Energiepreise, insbesondere
durch die Ökosteuer, hohe Steuern und Abgaben, künst-
liche Konkurrenz durch staatlich subventionierte Ich-
AGs,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ernst, schick dich, die Zeit läuft ab!)


Kollege Stiegler. Für diese Bremsklötze sind Sie, meine
Damen und Herren, mit verantwortlich. Das kann nicht
wegdiskutiert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie müssen sich endlich für bessere wirtschaftliche Rah-
menbedingungen einsetzen und damit die Voraussetzung
dafür schaffen, dass der Mittelstand weiterhin anpacken
kann und dass es aufwärts geht. Wir müssen einen
grundsätzlichen Bewusstseinswandel in der Bundesrepu-
blik Deutschland herbeiführen, eine Kultur, die von Un-
ternehmergeist und Leistungsbereitschaft geprägt ist. Ich
bin fest davon überzeugt, dass die Sparkassen auch dazu
ihren Beitrag leisten.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr! Und die unterstützen wir!)


Sie sollten hier nicht schwarz in schwarz malen,

(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Sparkassen schrei ben schwarze Zahlen und das mögen wir!)

sondern auch die positiven Fortentwicklungen sehen, de-
nen wir uns nicht verschließen können.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513811800

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-

lege Florian Pronold, SPD-Fraktion.

Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1513811900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Lieber Herr Hinsken – das darf ich jetzt sagen –,
alles, was Sie hier zu Sparkassen vorgetragen haben, fin-
det, wie Sie an unserem Beifall gesehen haben, die volle
Unterstützung der SPD. Sie müssen es aber Ihren Kolle-
ginnen und Kollegen in Schleswig-Holstein sagen, denn
die haben das noch nicht begriffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist eine kühne Behauptung!)


Heute ist der 11. 11. und um 11.11 Uhr beginnt die
fünfte Jahreszeit.


(Dirk Niebel [FDP]: Das hat man bei der Rede des Ministers gehört!)


Wenn ich an das denke, was Herr Michelbach hier von
sich gegeben hat, kann ich nur sagen: Er hat in dieser
fünften Jahreszeit die erste Büttenrede gehalten. Vor al-
lem das, was Union und FDP in Schleswig-Holstein pla-
nen, ist schlimmer als so mancher schlechte Faschings-
scherz. Die fünfte Jahreszeit endet, wie mir bekannt ist,
mit der Fastenzeit. Wenn man aber die Sparkassen priva-
tisiert, bedeutet das Fastenzeit für immer, und zwar so-
wohl für den Mittelstand als auch für die Masse der Bür-
gerinnen und Bürger, die bisher davon profitieren, dass
die Sparkassen auch dem Gemeinwohl verpflichtet sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich noch sehr gut an die Aussagen der
Erfolgsmanager einer großen deutschen Bank und einer
anderen Bank, die mit ihr fusioniert hat, sie seien nur
noch für Kunden da, die mindestens 200 000 DM – da-






(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold

mals ging es noch um D-Mark – auf der hohen Kante ha-
ben, und um das ganze „Kleinvieh“ sollten sich doch die
Sparkassen kümmern. Daran erinnere ich mich noch
recht gut. Dieselben Nieten in Nadelstreifen haben sich
auf den Finanzmärkten das große Geld versprochen.


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: So stellen Sie sich die Welt vor!)


Wenn man heute in die Bilanzen der Banken schaut,
sieht man bei den Sparkassen eine durchaus gute Er-
tragslage, während eben jene, die immer nur auf Share-
holder-Value zielen, jetzt mit dem Ofenrohr ins be-
rühmte Gebirge schauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Die Welt ist anders, ganz anders!)


Ausgerechnet denen, die eine solche Misswirtschaft
betrieben haben, wollen Sie jetzt über die Privatisierung
der Sparkassen auch noch dieses Erfolgsmodell auslie-
fern. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn wir
diesen Unsinn mitmachen würden. Wir sind froh, dass es
die Sparkassen als stabile dritte Säule unseres Banken-
systems gibt, die sich durch die Gemeinwohlverpflich-
tung sowohl um den Mittelstand kümmert als auch für
die kleinen Leute da ist.

Ich wundere mich darüber, dass Sie immer wieder die
gleiche Rede zur Mittelstandspolitik halten, Herr
Michelbach, und ausgerechnet uns, die SPD, mit Vor-
würfen überhäufen,


(Dirk Niebel [FDP]: Wen denn sonst?)

die im Übrigen falsch sind. Wir haben vor kurzem ge-
meinsam bei „Antenne Bayern“ über die Bürgerversi-
cherung und die von der Union vorgesehene Kopfpau-
schale diskutiert. Sie haben sich für das Modell von
Angela Merkel stark gemacht – damit waren Sie meines
Wissens bisher der Einzige in der CSU –,


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ist das wahr?)

das eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes vorsieht. Das
würde doch am meisten dem Mittelstand schaden, weil
das für die vielen Mittelständler der Grenzsteuersatz ist.
Sie als Mittelstandsvertreter fordern Steuererhöhungen,
die den Mittelstand treffen. Das bringen auch nur Sie
fertig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zur Mittelstandspolitik noch eines
anmerken. Wenn Sie so viel für den Mittelstand getan
hätten wie wir – wir haben zum Beispiel die Anrechen-
barkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer er-
möglicht, massivste Steuerentlastungen für den Mittel-
stand geschaffen und das Meister-BAföG eingeführt; wir
haben mit der KfW zusammengearbeitet und im Rahmen
von Basel II Korrekturen vorgenommen –, dann würden
Sie mit einer Monstranz über jeden Marktplatz laufen
und sich beweihräuchern lassen.

Sie machen aber das Gegenteil und reden alles
schlecht. Diese Nestbeschmutzung ist die größte Gefahr
für den Standort Deutschland und dient weder dem Mit-
telstand noch uns allen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen bitte ich Sie: Machen Sie nicht die Spar-
kassen kaputt, sondern reden Sie wie Ihr Kollege
Hinsken Ihren Kollegen aus Schleswig-Holstein ordent-
lich ins Gewissen, diesen Unsinn zu unterlassen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513812000

Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit

(9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Klaus Brandner, Doris Barnett, Dr. Axel Berg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Fritz Kuhn, Volker Beck

(Köln), Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Für eine qualifizierte Mitbestimmung bei
grenzüberschreitenden Fusionen
– Drucksachen 15/3466, 15/4087 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Konzernmitbestimmung neu ordnen – Auf-
sichtsräte und Eigentümerrechte stärken
– Drucksache 15/4038 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Doris Barnett, SPD-Fraktion.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1513812100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unser Antrag könnte keinen aktuelleren Bezug haben als
den Schlag mit dem Holzhammer aus dem fernen Detroit
auf die Belegschaft bei Opel.

Managementfehler wie Investitionszurückhaltung und
Innovationsfeindlichkeit bei ständig wechselnden Vor-
ständen in Deutschland haben bei Opel zu Betriebsergeb-
nissen geführt, die zu harschen Maßnahmen zwingen,
nämlich Tausende Arbeitsplätze in Europa und damit
auch Existenzen von Menschen zu vernichten. Diese






(A) (C)



(B) (D)


Doris Barnett

Menschen sind aber keine Schachfiguren, selbst wenn die
Mitarbeiter oft so behandelt werden.

Deshalb mutet es schon seltsam an, wenn gerade die
deutsche Mitbestimmung – also der Betriebsrat und die
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat – die Schuld
dafür tragen sollen. Hätte man den Kolleginnen und Kol-
legen nur rechtzeitig zugehört, wäre die Situation heute
eine andere.

Die demokratische Teilhabe der Arbeitnehmerschaft
– des Faktors Arbeit – an Unternehmensentscheidungen
ist doch gerade die Kehrseite der Medaille der abhängi-
gen Beschäftigung, der Bindung der Existenz an den Ar-
beitsplatz. Im Jahr 2004 kann doch niemand glauben,
dass wir uns eine Rückkehr zu Arbeitsbedingungen der
vorindustriellen Zeitrechnung leisten können. Eine glo-
balisierte Wirtschaft bedingt geradezu die gleichmäßige
Partizipation der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapi-
tal.

Wer engagierte Mitarbeiter will, die mit Einfallsreich-
tum, Erfindungsgeist und Interesse ihre Arbeit versehen,
kann nicht erwarten, dass die demokratischen Prinzipien
am Werkstor abgegeben werden. Das wissen nicht nur
die Gewerkschaften in Deutschland, sondern selbst die
Arbeitgeber akzeptieren dies und praktizieren es auch.
Was wäre aus VW oder der BASF geworden, wenn die
Umstrukturierungen nach Gutsherrenart statt mit Ver-
nunft vorgenommen worden wären?

In dem Betrieb in meiner Heimat wurden binnen
15 Jahren ohne allzu große Verwerfungen 18 000 Ar-
beitsplätze ausgelagert und abgebaut, sodass das Unter-
nehmen dank der konstruktiven Mitarbeit der Arbeitneh-
mer im Betriebsrat und im Aufsichtsrat – also der
paritätischen Mitbestimmung – und der IG BCE heute
eine stärkere Marktstellung als je zuvor hat und sogar
zum Worldplayer wurde. Wenn nun Teile des Arbeitge-
berlagers behaupten, die Mitbestimmung sei ein Irrtum
der Geschichte, muss man sich fragen, in welchem Jahr-
hundert und in welchem Land diese Leute leben. Nach-
vollziehen kann man das nicht, da Herr Rogowski selbst
nie schlecht über die Arbeitnehmervertreter im Auf-
sichtsrat seines eigenen Unternehmens gesprochen hat.
Aber vielleicht wollte er im vorauseilenden Gehorsam
europäische Unternehmen, besonders solche, die mit
deutschen fusionieren wollen, vor der deutschen Mitbe-
stimmung retten. Oder steckt dahinter vielleicht doch
mehr, nämlich dass unser bewährtes Mitbestimmungs-
recht mit Hinweis auf die EU-Kommission und die Welt-
lage generell geschleift werden soll?

Entgegen der von interessierter Seite ständig erhobe-
nen Behauptung, die deutsche Mitbestimmung sei ein-
zigartig – das ist sie auch – und nirgendwo sonst gebe es
so etwas, kann ich feststellen, dass es Mitbestimmungs-
regelungen in 18 von 25 EU-Staaten gibt. Diese sind
zwar anders ausgestaltet. Dennoch weiß man auch dort,
dass die Beteiligung von Arbeitnehmern an Entschei-
dungsprozessen der Unternehmen sinnvoll ist. Nicht um-
sonst beneidet man uns wegen des sozialen Friedens in
den deutschen Betrieben und der damit verbundenen
verschwindend geringen Zahl an Ausfalltagen.


(Beifall bei der SPD)

Deshalb haben wir uns nach jahrelangen Verhandlungen
erfolgreich eingesetzt und durchgesetzt, dass auch in der
Europäischen Gesellschaft, der SE, deutsches Mitbe-
stimmungsrecht möglich ist. Für dieses gute Verhand-
lungsergebnis darf ich an dieser Stelle unseren Kollegin-
nen und Kollegen des Europäischen Parlamentes, den
Gewerkschaften, aber auch unserer Regierung Danke sa-
gen.


(Beifall bei der SPD)

Nachdem die Diskussion über die Richtlinie zur Eu-

ropäischen Gesellschaft zu dem wirklich vernünftigen
Ergebnis geführt hat, dass sich Kapital und Arbeit über
die Beteiligung auf dem Wege der Verhandlung einigen
und dass – falls das fehlschlägt – die günstigere Mitbe-
stimmungsregelung zieht, wollen wir dies auch bei der
Fusionsrichtlinie umsetzen. Das ist doch die logische
Konsequenz. Oder glauben Sie wirklich, dass wir eine
quasi offizielle SE-Regelung wollen, die auch das deut-
sche Mitbestimmungsrecht zulässt, um sie mithilfe einer
Fusionsrichtlinie durch die Hintertür wieder zu kassie-
ren, einer Richtlinie für Firmenzusammenlegungen – im
Gegensatz zu Firmengründungen –, die im Falle des
Scheiterns der Verhandlungen über die Mitbestimmung
als Lösung das Recht des Sitzlandes vorsieht? Wie die
Verhandlungen über die Mitbestimmungsrechte der Ar-
beitnehmer dann aussehen würden, können wir uns leb-
haft vorstellen. Das Ergebnis – dafür braucht man keine
Kugel – wüssten wir ebenfalls im Voraus.

Wir wollen ein soziales Europa, in dem die Menschen
im Mittelpunkt stehen. Deshalb ist auch bei grenzüber-
schreitenden Fusionen von Firmen die Unternehmens-
mitbestimmung kein Nachteil, sondern wird sich als pro-
duktive Kraft erweisen. Daher kann die von den
Arbeitgebern geforderte Reform der Aufsichtsräte nicht
funktionieren, wenn sie einseitig die Arbeitnehmerseite
schwächt. Handeln ist gefordert, aber in eine ganz an-
dere Richtung. In den Aufsichtsräten internationaler
Konzerne, die bei uns ihren Sitz haben, müssen zum Bei-
spiel auch ausländische Arbeitnehmervertreter sitzen.
Deshalb ist das Wahlrecht zu öffnen. Wir brauchen gut
informierte und qualifizierte Aufsichtsräte auf beiden
Seiten. Denn wir meinen es mit der Unternehmenskon-
trolle doch wirklich ernst, oder?

Die Reform des Unternehmensrechts ist notwendig
und muss durchgeführt werden. Aber wer glaubt, dass
bei dieser Gelegenheit die Mitbestimmung abgeschafft,
zumindest massiv zurückgeführt werden kann, wird
nicht nur mit dem Widerstand der Gewerkschaften und
der Koalition rechnen müssen. Vielmehr hat sich auch
Heiner Geißler bei denjenigen eingereiht, die Wider-
stand leisten werden. Bei einer Veranstaltung der
Konrad-Adenauer-Stiftung in Saarburg vor gerade ein-
mal drei Tagen forderte er die großen Volksparteien, also
auch die CDU/CSU, auf, die derzeitige Weltwirtschaft
aufzuhalten, weil sie nur das Recht des Stärkeren kenne.
In der heutigen Ausgabe der „Zeit“ sagt der CDU-Politi-
ker:

Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Ge-
werkschaften, die angesichts der Massenarbeitslo-
sigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen






(A) (C)



(B) (D)


Doris Barnett

sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Men-
schen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre
Hirne zerfrisst …

Recht hat er. Der Shareholder-Value wird nie ein Ersatz
für Mitarbeiter sein, die ihre ganze Kraft, ihr Können
und ihre Leistungsfähigkeit für ihr Unternehmen ein-
bringen, wenn sie bei Entscheidungen mitwirken kön-
nen, die letztlich auch ihre Existenz bestimmen.


(Beifall bei der SPD)

Wenn das endlich verstanden wird, wenn begriffen

wird, dass der Mitarbeiter wertvoller ist als ein schneller
kurzfristiger Gewinn, dann wird auch begriffen, dass die
Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite kein Hemm-
schuh, sondern ein Siebenmeilenstiefel für Unternehmen
im Umbruch sein kann.

Bei einer sich ständig ändernden Welt wird es auch
ständigen Umbruch geben, der am besten mit den
Mitarbeitern bewältigt wird. Das sehen wir so, das sieht
Heiner Geißler so. Deshalb unsere Einladung an die
CDU/CSU, an die CDA-Kollegen, besonders an den
Kollegen Laumann: Wenn Sie Ihre Partei tatsächlich als
die „Mutter der sozialen Marktwirtschaft“ betrachten,
wie es Heiner Geißler tut, dann unterstützen Sie uns und
die Regierung in den Anstrengungen, die Fusionsricht-
linie nicht zu einer Möglichkeit der Flucht aus der deut-
schen Mitbestimmung werden zu lassen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513812200

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf

Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Rolf Bietmann (CDU):
Rede ID: ID1513812300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Kollegin Barnett, Sie haben natürlich Recht: Die Union,
CDU und CSU, sind tatsächlich Mutter, Vater, Erfinder
der sozialen Marktwirtschaft. Wir lassen nicht zu, dass
das Wort „sozial“ vom Wort „Marktwirtschaft“ abge-
trennt wird; „sozial“ und „Marktwirtschaft“ gehören für
uns zusammen. Deswegen sind wir auch Befürworter
der deutschen Mitbestimmung. Wir haben an dieser Mit-
bestimmung seit 1976 maßgeblich gearbeitet.

Heute geht es aber nicht um die deutsche Mitbestim-
mung, sondern um die Mitbestimmung bei grenzüber-
schreitenden Fusionen, das heißt, es geht um europäi-
sches Recht. Ihr Redebeitrag hat bei mir den Eindruck
hinterlassen, dass Sie überhaupt nicht zur Kenntnis neh-
men, was sich auf europäischer Ebene zwischenzeitlich
getan hat und wie sich das europäische Recht weiterent-
wickelt hat. Wir haben in Europa 40 Jahre benötigt, um
zur Europäischen Aktiengesellschaft zu kommen. Diese
40 Jahre waren im Kern durch einen Streit um die Mit-
bestimmung von Arbeitnehmern gekennzeichnet. Wer in
einem Wirtschaftsraum wie Europa aber gemeinsam
handeln will, der braucht natürlich auch gemeinsame Or-
ganisationsformen. Deswegen brauchen wir in Europa
eine Neustrukturierung des Gesellschaftsrechts. Daran
müssen wir uns in Deutschland beteiligen.
Die Auffassungen der Mitgliedstaaten zur Mitbestim-
mung von Arbeitnehmern in den Unternehmensorganen
gehen dabei in Europa krass auseinander. Aus deutscher
Sicht ist immerhin erfreulich, dass sich die Europäische
Kommission bereits 1975 prinzipiell zu einer gemein-
schaftsrechtlichen Verankerung des Mitbestimmungs-
gedankens bekannt hat. Dies wiederum ist verstärkt
worden in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grund-
rechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 und
auch in Art. 137 Abs. 3 des EG-Vertrages. Wer also be-
hauptet, der Mitbestimmungsgedanke sei in Europa
nicht anerkannt – manchmal hört man dies in diesen Ta-
gen –, der verkennt die tatsächliche Rechtslage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Höchst streitig ist allerdings, wie das Mitbestim-

mungsrecht im europäischen Gesellschaftsrecht veran-
kert werden soll. Diese Frage wird sich nicht nur bei der
Behandlung der Richtlinie über grenzüberschreitende
Fusionen stellen, sondern auch bei der Diskussion über
die Schaffung der europäischen Genossenschaft, einer
europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft, die wie-
derum das GmbH-Recht angleichen soll, insbesondere
aber bei der Gestaltung des europäischen Konzernrechts.

Bei all diesen Regelungen bleibt das deutsche Mitbe-
stimmungsrecht der Hauptstreitpunkt. Die Bundesregie-
rungen unter Helmut Kohl – daran muss man an dieser
Stelle wieder erinnern – haben bis 1998 stets deutlich ge-
macht, dass ein europäisches Gesellschaftsrecht, wel-
ches wegen der Mitbestimmungsregelung zu Standort-
nachteilen für Deutschland führen kann, von deutschen
Regierungen nicht akzeptiert wird. Auf diese Weise ha-
ben unionsgeführte Bundesregierungen die Unterneh-
mensmitbestimmung in Deutschland vor europaweiter
Aushöhlung schützen können.

Mit dem hier so gelobten Formelkompromiss des Jah-
res 2001 hat Rot-Grün diesen Pfad erstmals verlassen
und einer Verhandlungslösung zugestimmt. Folge ist,
dass der Wettbewerb unter den nationalen Mitbestim-
mungsregelungen in der Europäischen Gemeinschaft
nunmehr eröffnet ist.

Wenn heute also über Flucht aus der deutschen Mitbe-
stimmung geredet wird, so ist dies auch ein Ergebnis des
völlig unausgereiften Kompromisses von 2001. Die Ei-
nigung der damals 15 Mitgliedsländer auf die Richtlinie
zur Mitbestimmung eröffnet die Möglichkeit, das deut-
sche Mitbestimmungsrecht vertraglich aufzuheben, zu-
mindest aber die Möglichkeit, Europäische Aktienge-
sellschaften unter Außerachtlassung der deutschen
Mitbestimmungsregelungen zu gründen. Wenn sich da-
her ausgerechnet der Bundeskanzler in diesen Tagen vor
den Delegierten der Eisenbahnergewerkschaft Transnet
zum Bewahrer der deutschen Mitbestimmung aufspielt
und an alle appelliert, die Finger von der Mitbestim-
mung zu lassen, so ist dies angesichts seiner eigenen
Politik in Europa ein geradezu dreister Versuch, Men-
schen für dumm zu verkaufen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Rolf Bietmann

Mit dem Formelkompromiss von Nizza ist die Tür für

den nunmehr so beklagten Wettbewerb um die interes-
santesten nationalen mitbestimmungsrechtlichen Lösun-
gen geöffnet worden. Das hat Rot-Grün zu verantworten.

Der Europäische Gerichtshof hat in der Folgezeit in
einer Vielzahl von Entscheidungen aufgezeigt, dass die
von Ihnen beklagte Flucht aus der deutschen Mitbestim-
mung europarechtlich nicht mehr aufzuhalten ist. Spä-
testens seit der so genannten Überseering-Entschei-
dung vom November 2002 steht fest, dass die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Rechtsfä-
higkeit und damit die Parteifähigkeit einer Gesellschaft
zu achten haben, die diese Gesellschaft in dem Staat ih-
rer Gründung besitzt. Diese Voraussetzung war bisher
nach deutschem Recht nicht gegeben. Mit anderen Wor-
ten heißt dies, dass europäische Unternehmen mit Sitz
außerhalb Deutschlands aufgrund der Niederlassungs-
freiheit in Deutschland Niederlassungen in beliebiger
Größe betreiben können, ohne dem deutschen Mitbe-
stimmungsrecht zu unterliegen. Es ist nicht einmal zu
beanstanden, wenn eine Gesellschaft nur deshalb im
Ausland gegründet wird, um sie bei Tätigwerden in
Deutschland dem deutschen Mitbestimmungsrecht zu
entziehen.

Wer daher, wie Rot-Grün im vorliegenden Antrag, die
Bundesregierung auffordert, zu verhindern, dass durch
europäische Regelungen die Flucht aus der deutschen
Mitbestimmung ermöglicht wird, der nimmt die europäi-
sche Rechtslage nicht zur Kenntnis oder täuscht bewusst
die deutsche Öffentlichkeit.


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Oder beides!)

Die europäische Entwicklung ist seit der Einigung

über die Europäische Aktiengesellschaft in großen
Schritten weitergegangen. Der deutsche Sonderweg in
Sachen Mitbestimmung wird von der europäischen
Wirklichkeit eingeholt. Im Vergleich der Rechtsordnun-
gen hat Deutschland mit seiner ausgeprägten unterneh-
merischen Mitbestimmung heute einen Standortnachteil
gegenüber allen anderen europäischen Staaten. Grün-
dungen europäischer Gesellschaften unter deutscher Be-
teiligung werden eben wegen des hiesigen Mitbestim-
mungsmodells gescheut. Wir mögen auf die deutsche
Mitbestimmung stolz sein; im Ergebnis wird uns dieses
Modell von möglichen Neuordnungen in Europa aus-
schließen. Niemand – auch nicht die Bundesregierung –
kann hiervor die Augen verschließen. Von daher ist es
eher ein kontraproduktives Ablenkungsmanöver, nun-
mehr die Bundesregierung aufzufordern, durch europäi-
sche Regelungen die Flucht aus der deutschen Mitbe-
stimmung zu verhindern. Ihr Antrag ist Dokument einer
gescheiterten rot-grünen Europapolitik in Sachen Mitbe-
stimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Rot-Grün trägt Verantwortung dafür, dass Deutsch-

land im Wettbewerb der europäischen Rechtsordnungen
ohne klare Positionierung in dieser Frage ausgespielt
wird.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)

Der sich hieraus ergebende Standortnachteil wird dau-
erhaft zu schweren Schäden für unsere Wirtschaft füh-
ren. Darum ist es nur natürlich, dass Arbeitgeber wie Ge-
werkschaften über die Praktizierung der Mitbestimmung
in Europa neu nachdenken müssen. Gerade bei Fusionen
von Unternehmen drängt es sich auf, den fusionierenden
Parteien über vertragliche Vereinbarungen die Möglich-
keit der Ausgestaltung der Mitbestimmung im unterneh-
merischen Bereich zu übertragen. Nur wer den Mut hat,
das Wie der unternehmerischen Mitbestimmung Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern in Unternehmen und Betrie-
ben zu überlassen, wird die erkennbaren Standortnach-
teile für Deutschland abwenden können. Zum Schutz der
Arbeitnehmer reicht es dann aus, eine fusionierte Gesell-
schaft erst dann handelsrechtlich einzutragen, wenn eine
Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer,
gegebenenfalls auch durch besondere Schiedsverfahren,
nachgewiesen ist.

Nach alledem kann die Union die vorliegenden An-
träge nicht unterstützen. SPD und Grünen ist vielmehr
dringend anzuraten, die europäische Wirklichkeit auch
in Sachen Mitbestimmung zur Kenntnis zu nehmen und
mit uns weitere Schäden für den Wirtschaftsstandort
Deutschland zu verhindern.

Ich sage Ihnen: Es ist höchste Zeit, endlich damit auf-
zuhören, uns immer wieder selber mit dem Segen der
Mitbestimmungsordnung zu beweihräuchern. Die deut-
sche Mitbestimmung hat natürlich ihren Erfolgsweg,
aber europaweit werden Fusionen und Neugründungen
wegen dieser Mitbestimmungsordnung ohne deutsche
Unternehmen stattfinden.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513812400

Herr Kollege.


Dr. Rolf Bietmann (CDU):
Rede ID: ID1513812500

Wir sagen weiterhin Ja zum Mitbestimmungsrecht bei

der deutschen Aktiengesellschaft und bei der deutschen
GmbH.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513812600

Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr.


Dr. Rolf Bietmann (CDU):
Rede ID: ID1513812700

Das ist mein letzter Satz. – Wir sagen, dass wir ange-

sichts der europarechtlichen Entwicklungen darüber dis-
kutieren und hier zu neuen Lösungen kommen müssen.
Da bringt es nichts, Frau Kollegin, die Frage zu diskutie-
ren, wer mehr und wer weniger für Mitbestimmung ist.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513812800

Herr Kollege, ich dachte, es wäre Ihr letzter Satz.


Dr. Rolf Bietmann (CDU):
Rede ID: ID1513812900

Die Union ist für Mitbestimmung. Wir werden unse-

rer Verantwortung nachkommen und sie auch europa-
weit verankern.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513813000

Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die

Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513813100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Union erstaunt mich manchmal schon. Ich will Ih-
nen auch sagen, warum. Wenn wir hier Mitbestim-
mungsdebatten führen – das war bei der letzten über die
Europäische Gesellschaft so und ist auch heute bei der
über die Fusionsrichtlinie so –, dann wird jemand als
Redner benannt, der uns erzählt, die Union bekenne sich
zur Mitbestimmung.


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Sehr richtig!)

Auf Podiumsdiskussionen bei politischen Veranstaltun-
gen oder in Talkshows treten sehr häufig Vertreter der
Union auf, zum Beispiel der Herr Merz, die sagen, die
Mitbestimmung sei ein Risiko für den Standort Deutsch-
land. Was nun, meine Damen und Herren? Darf eine
Volkspartei nach dem Motto verfahren, wir machen es,
wie es gefällt? Ich sage klipp und klar: So läuft es nicht,
dass bei jeder Themenstellung jeweils ein anderer, das
jeweilige Publikum ansprechender Redner auftritt. Sie
müssen öffentlich klar und deutlich sagen, was Sie wirk-
lich wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit komme ich zum springenden Punkt: Wenn Sie,
Herr Bietmann, für die Mitbestimmung sind, also für et-
was, was sich in Deutschland bewährt hat, dann ist es
nur vernünftig, auch in Europa dafür zu werben, dass
diese richtige und gute Lösung dort zum Tragen kommt.
Ich kann doch nicht hergehen und sagen: Bei uns finde
ich sie gut, aber auf europäischer Ebene bin ich gegen
ihre Umsetzung, weil das einen Standortnachteil nach
sich zöge.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Ist doch rechtlich längst erledigt!)


Diese Haltung vertreten Sie aber gegenwärtig in den ent-
sprechenden Debatten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit kommen Sie in diesem Hause nicht durch, weil
wir immer dann, wenn es notwendig ist, genau zuhören.

Jetzt wollen wir einmal Ordnung und Struktur in die-
sen Punkt hineinbringen. Dabei will ich gleich auf Ihre
Argumente eingehen. Wir haben für die Europäische Ge-
sellschaft eine, wie ich finde, vernünftige Lösung gefun-
den, nämlich ein abgestuftes Verfahren: Es wird ver-
handelt und erst dann, wenn man sich nicht einigt,
greifen die Regelungen des Landes, in dem die Mitbe-
stimmung am stärksten ausgeprägt ist, etwa in Form der
paritätischen Mitbestimmung. Hierdurch wird, wenn es
Probleme bei der praktischen Umsetzung gibt, ein hoher
Druck auf die Verhandlungen ausgeübt. Genau das wol-
len wir.
Jetzt zu Ihrem Argument, die Bundesregierung hätte
mit ihrer Zustimmung zur Einführung der Europäischen
Gesellschaft die Mitbestimmung geschleift. So haben
Sie ja argumentiert, wenn ich Sie richtig verstanden
habe.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: De facto ist es so!)


Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich ein äußerst
abstruses Argument. Stellen Sie sich einmal vor, was das
bedeutet hätte, wenn die Bundesregierung diesem Kom-
promiss nicht zugestimmt hätte. Sie wären doch die Ers-
ten gewesen, die gesagt hätten: Nach jahrzehntelangen
Verhandlungen hat die Bundesregierung verhindert, dass
es zur Einführung der Europäischen Gesellschaft
kommt. Dieses Argument lief doch schon über die
Ticker, bis Sie merkten, dass es sich anders verhält. Dass
man Kompromisse eingehen muss, wenn es um die Har-
monisierung von Mitbestimmungsmodellen unterschied-
licher europäischer Volkswirtschaften geht, ist doch
wohl logisch.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dazu muss man auch stehen!)


Es ist eine gute Lösung, dass bei der Europäischen Ge-
sellschaft zuerst über das Mitbestimmungsmodell ver-
handelt wird, bevor eine starre Vorschrift greift. Deshalb
haben wir zugestimmt. Von daher ist also Ihr Argument
nicht viel wert.

Jetzt komme ich auf die Fusionsrichtlinie zu spre-
chen. Es ist doch klar, dass wir nicht sagen können, bei
der Europäischen Gesellschaft wurde eine richtige Kon-
struktion gefunden, aber bei der Fusionsrichtlinie regeln
wir das anders. So hat ja die EU-Kommission vorge-
schlagen, andere Mitbestimmungsmodelle vorzusehen,
die in unseren Augen schlechter wären. Deswegen
verhandeln wir über den vorliegenden Antrag. Im Prin-
zip wird in ihm nichts anderes gesagt, als dass bei der
Fusionsrichtlinie ein ähnliches Modell festgeschrieben
werden soll wie bei der Europäischen Gesellschaft.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie werden es aber nicht erreichen! Das ist der Punkt!)


Wenn Sie sich vor Ihrer Rede besser informiert hätten,
Herr Kollege, hätten Sie wissen können, dass unter der
irischen Ratspräsidentschaft ein neuer Vorschlag auf
den Tisch gelegt wurde. Gemäß diesem sollen in der Fu-
sionsrichtlinie analoge Regelungen wie bei der Europäi-
schen Gesellschaft vorgesehen werden, indem zunächst
verhandelt wird und erst dann, wenn man zu keinem Er-
gebnis kommt, so wie bei der Europäischen Gesellschaft
verfahren wird. Das halte ich für vernünftig. Deswegen
begrüßen wir einhellig den Vorschlag, den die irische
Ratspräsidentschaft unterbreitet hat. Sie sollten sich jetzt
eigentlich nur noch dafür einsetzen, dass er durch-
kommt. Damit hätten wir in beiden Bereichen, die wir zu
gestalten hatten, klare Regelungen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass es
bei dem irischen Vorschlag ein praktisches Problem gibt,






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn

das noch nicht gelöst ist. Was passiert, wenn ein dualis-
tisch strukturierter Betrieb, der einen Vorstand und einen
Aufsichtrat hat, mit einem monistisch strukturierten Be-
trieb, der einen Verwaltungsrat und ein Board of Direc-
tors hat, fusioniert? Zu dieser Fragestellung gibt es den
Vorschlag von der EU, dass nur ein Drittel der Auf-
sichtsratssitze von Arbeitnehmervertretern besetzt wird.
Das halte ich für falsch. Da muss meines Erachtens
nachverhandelt werden.

Der letzte Punkt, den ich in der mir verbleibenden Re-
dezeit noch ansprechen will, ist Ihr Diskussionsumfeld.
Schauen Sie sich doch einmal das Diskussionsumfeld
an, in dem Sie sich bewegen. Da gibt es Leute aus dem
Unternehmerlager – zum Beispiel Herrn Rogowski –,
die sagen, die Mitbestimmung sei ein historischer Irr-
tum. BDA und BDI schlagen jetzt vor, bei der Mitbe-
stimmung nicht über ein Drittel der Sitze hinauszugehen.
Das heißt, auf der einen Seite starten Leute, die zum Teil
in der Union oder unionsnah sind, einen breiten Angriff
auf die Mitbestimmung. Auf der anderen Seite gibt es
praktische Unternehmer wie die aus Zuffenhausen und
aus meiner Heimatstadt Stuttgart, die sagen, dass sich
die Mitbestimmung in vielen praktischen Konflikten so
bewährt hat, dass sie sie nicht missen möchten. Die
Union weiß jetzt nicht so richtig, ob sie sich nach der
BDA, nach dem BDI oder nach Herrn Merz richten soll
oder ob sie sich nach dem Arbeitnehmerflügel richten
und grundsätzliche Bekenntnisse zur Mitbestimmung
ablegen soll.


(Klaus Brandner [SPD]: Nach Herrn Göhner, nach der BDA!)


Ich kann nur sagen: Wir von den Grünen halten die
Mitbestimmung in Deutschland für ein gutes Modell. Es
gibt nichts Gutes, was man nicht reformieren könnte. Es
gibt natürlich Punkte, die man reformieren muss. Wir
müssen uns zum Beispiel fragen, ob bei der paritätischen
Mitbestimmung die Zahl der Aufsichtsräte nicht zu groß
ist; denn Aufsichtsrat und Vorstand tagen meistens zu-
sammen, dann sitzen zu viele Leute am Tisch. Ich finde,
dass man so etwas regeln kann, ohne die paritätische
Mitbestimmung pauschal anzugreifen, so wie es die
BDA getan hat. Man muss konstruktiv nach vorne ge-
richtet die Mitbestimmung verbessern, um sie zu bewah-
ren.


(Jürgen Türk [FDP]: Wie wollen Sie es denn machen?)


Das sollte die Lösung sein. Wenn Sie dem zustimmen,
dann können Sie jetzt – weil ich zum Schluss komme –
heftig Beifall klatschen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513813200

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle,

FDP-Fraktion.

Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1513813300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

erste Lesung des Antrags der Regierungskoalition fand
in einer Nachtsitzung und findet heute zu einer wenig at-
traktiven Zeit statt. Das Ganze ist meines Erachtens eine
Art Placeboeffekt, den Sie bei Ihren Gewerkschafts-
freunden erzielen wollen. Die Bundesregierung wird
meiner Einschätzung nach nicht ernsthaft meinen, dass
sie auf dieser Basis in Brüssel Verhandlungen führen
kann.

Am deutschen Mitbestimmungswesen wird die Welt
sicherlich nicht genesen.


(Beifall bei der FDP)

Kein Land in Europa hat die Absicht, die deutsche Aus-
formung der paritätischen Mitbestimmung zu über-
nehmen; kein Land in Europa wird sie übernehmen. Ihre
protektionistische Haltung bei der Mitbestimmungsfrage
gefährdet den Unternehmensstandort Deutschland.


(Peter Dreßen [SPD]: Schwachsinn!)

Die Erfahrungen haben es gezeigt: Die Unternehmen,
die nur verlängerte Werkbänke sind und deren Entschei-
dungszentren – die Konzernzentralen und Holdings –
nicht im Lande sitzen, sind am ehesten vom Arbeits-
platzabbau betroffen. Deshalb ist Ihre protektionistische
Haltung falsch. Ich begrüße es übrigens sehr, dass sich
der CDU-Wirtschaftsrat unseren Vorstellungen weitest-
gehend angeschlossen hat.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Aha! – Klaus Brandner [SPD]: Da klatscht von der CDA keiner!)


Was man machen muss, ist, die Unternehmensverfas-
sung in Deutschland zu modernisieren. Wir brauchen
eine Runderneuerung. Wir müssen die Aufsichtsräte ver-
kleinern – nach unserer Ansicht höchstens auf zwölf Per-
sonen – und die Eigentumsrechte stärken. Es sollte das
Recht der Eigentümer, also der Hauptversammlung
sein, zu entscheiden, ob Managergehälter veröffentlicht
werden und ob es Zulagenprämien oder Ähnliches gibt.
So etwas sollen die entscheiden, denen das Unternehmen
gehört.


(Beifall bei der FDP)

Es sollte eine Schamfrist geben, wenn ein Vorstandsvor-
sitzender Aufsichtsratsvorsitzender werden will. Das
kann nicht sofort sein, sonst kontrolliert der Aufsichts-
ratsvorsitzende seine frühere Tätigkeit als Vorstandsvor-
sitzender.


(Beifall bei der FDP – Dr. Thea Dünckert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Es muss dabei eine Mindestfrist geben.
Kernpunkt ist aber die paritätische Mitbestimmung,

die ein deutscher Sonderweg ist. Kein Land der Welt hat
diesen Weg übernommen, er war eine Illusion. Ich kann
mich sehr gut erinnern: Das ist in den 70er-Jahren ent-
standen, als man einen dritten Weg zwischen Kapitalis-
mus und Sozialismus gesucht hat. Das war die Zeit, als
in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen wie der Bank






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle

für Gemeinwirtschaft, der Neuen Heimat und der Volks-
fürsorge Milliarden von Arbeitergroschen versenkt wur-
den. Ansatzpunkt war, etwas dazwischen zu erfinden.
Das Vorhaben ist traurig gescheitert.


(Beifall bei der FDP)

Speziell für die Neue Heimat sollten Sie sich heute noch
schämen.

Keiner ist gegen Mitbestimmung, man muss aber die-
sen Sonderweg, den Irrweg der paritätischen Mitbestim-
mung, zugunsten einer drittelparitätischen Mitbestim-
mung, die der Sache gemäß ist, verlassen. Opel und
Karstadt beispielsweise sind paritätisch mitbestimmte
Betriebe und fast alle Beschlüsse sind von den Gewerk-
schaftsvertretern mitgetragen worden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger Unsinn! Sie haben gar keine Ahnung!)


Das hat eben nicht zur Befriedung der Unternehmen bei-
getragen.


(Beifall bei der FDP)

Bei Opel in Bochum gab es trotz paritätischer Mitbe-
stimmung und Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern
wilde Streiks.

Nach unserer Auffassung sollten Gewerkschaftsver-
treter, die dem Betrieb nicht angehören, somit Betriebs-
fremde sind, nicht im Aufsichtsrat sein.


(Beifall bei der FDP)

Am deutlichsten sehen Sie das bei dem grünen Gewerk-
schaftsführer Bsirske.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513813400

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Niebel?

(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt kommen die Karne valsweisheiten! Heute ist der 11. 11.!)


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1513813500

Bitte, gern.

Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1513813600

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege

Brüderle, Sie haben eben die Mitgliedschaft von be-
triebsfremden Gewerkschaftsfunktionären in den Auf-
sichtsräten angesprochen. Wie beurteilen Sie, dass sich
der grüne Gewerkschaftsführer Bsirske als Aufsichts-
ratsmitglied bei der Lufthansa mit seiner Gewerkschaft
Verdi selbst bestreiken konnte, im Hinblick auf die Inte-
ressen des Unternehmens?


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1513813700

Dieser Fall, Herr Kollege Niebel, ist geradezu exem-

plarisch für die Interessenskollision, die hierdurch her-
vorgerufen wird.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wie ist das mit den Bankenvertretern? – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 11. 11.!)

Nach dem Aktiengesetz ist es die Aufgabe des Auf-
sichtsrates einer Aktiengesellschaft, das Wohl des Unter-
nehmens und seiner Beschäftigten zu fördern. Wenn der
stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Lufthansa,
Herr Bsirske, gleichzeitig Streikführer gegen das gleiche
Unternehmen sein kann, zeigt das die Absurdität dieser
Regelung und dass das Gewerkschaftsprivileg beseitigt
gehört.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Darstellung ist absurd!)


Wer nicht Betriebsangehöriger ist, kann im Aufsichtsrat
seine im Aktienrecht vorgegebene Aufgabe der Wahr-
nehmung der Interessen der Betriebsangehörigen eben
nicht erfüllen. Das ist eine klare Fehlsteuerung. Deshalb
muss dies auch geändert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Wie ist das mit den Bankenvertretern? – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!)


Wenn Unternehmensvertreter wie Herr Schrempp
oder andere der Auffassung sind – was Herr Kuhn an-
sprach –, dass Herr Steinkühler – sehr erfahren in
Insiderfragen –, Herr Zwickel und Herr Peters für ein
Unternehmen sehr hilfreich sind und den Wert des Un-
ternehmens steigern, haben sie auch heute schon alle
Möglichkeiten: Nach dem Aktiengesetz kann die Haupt-
versammlung jeden in den Aufsichtsrat wählen. Wenn
Herr Schrempp die Eigentümer seines Unternehmens
überzeugen kann, kann er den Aufsichtsrat seines Hau-
ses komplett mit Gewerkschaftsfunktionären besetzen.
Das geht heute nach dem Aktienrecht.


(Peter Dreßen [SPD]: So ein Blödsinn!)

– Sie müssen einmal das Gesetz lesen. Wenn Sie statt zu
schreien, lesen würden, würden Sie schlauer werden,
aber Sie wollen ja nicht.


(Beifall bei der FDP)

Er kann den gesamten Aufsichtsrat mit Gewerk-

schaftsfunktionären besetzen. Er hat nur ein Problem zu
lösen: Er muss die Eigentümer seines Unternehmens, die
ihn als leitenden Angestellten bezahlen, davon überzeu-
gen, dass dadurch der Wert des Unternehmens nachhal-
tig gesteigert wird. Ich wünsche Herrn Schrempp heute
schon viel Vergnügen bei seinen Bemühungen,


(Beifall bei der FDP)

seine Eigentümer davon zu überzeugen, dass Herr
Steinkühler, Herr Zwickel oder Herr Peters als Auf-
sichtsräte den Wert des Unternehmens nachhaltig stei-
gern. Dafür brauchen wir nichts Neues einzuführen. Man
muss einfach nur das Aktienrecht kennen.

Nun kommen wir zu dem aktuellen Anlass der De-
batte. Wenn wir in Europa ernsthaft mitwirken wollen,
muss man die Realitäten anerkennen.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Auch rechtliche Realitäten!)







(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle

Von dem, was Sie heute mit Ihrem Antrag initiieren wol-
len, werden Sie nichts erreichen. Ich bin fest davon über-
zeugt, dass die Bundesregierung diesen Antrag nicht als
Basis für ihre Arbeit wählen wird. Er dient zur Beruhi-
gung von Zwischenschreiern und Gewerkschaftsfunktio-
nären, bringt in der Sache aber nichts.

Wir müssen uns in Deutschland als Standort attraktiv
halten. Es gibt ja das Europarecht; denn eine holländi-
sche Gesellschaft kann hier genauso wirken. Sie werden
erleben, wie unser Standort zunehmend an Bedeutung
verlieren wird. Herr Breuer von der Deutschen Bank hat
vor 14 Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntags-
zeitung“ in einem langen Interview dargelegt: Wenn sein
Unternehmen mit einem anderen Institut zusammengeht,
werden sie wegen der Steuerpolitik und der Mitbestim-
mung nicht Deutschland als Firmensitz wählen. Das
können Sie auch für andere nachlesen.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen der FDP! In England gibt es keine FDP!)


Tun Sie doch bitte einmal etwas für die Arbeitnehmer!
Tun Sie etwas, dass wir die Standorte und die Entschei-
dungen in Deutschland halten können, damit wir in der
Zukunft möglichst viele Arbeitsplätze sichern können.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU])


Und kommen Sie aus den ideologischen Schützengräben
heraus! Den Gewerkschaften laufen die Mitglieder weg;
jedes Jahr treten rund 500 000 aus den DGB-Gewerk-
schaften aus, weil Sie die Realitäten nicht sehen. Kehren
Sie zu einer Basis zurück, die für Deutschland und die
Arbeitnehmer wirklich etwas bringt. Verlassen Sie die
Schützengräben von vorgestern, aus denen Sie noch im-
mer operieren.


(Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD])

– Spät kommenden Schreiern, die noch nicht in der Rea-
lität unserer Tage angekommen sind, –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513813800

Herr Kollege, Ihre Redezeit!

Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1513813900

– kann ich nur sagen: Sie haben das Recht zu abwegi-

gen Äußerungen, aber Sie müssen nicht jeden Tag de-
monstrieren, dass Sie nichts von der Sache verstehen. –
Stellen Sie die Weichen endlich so, dass die Arbeitneh-
mer in Deutschland eine Chance haben, ihren Job zu be-
halten!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513814000

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Dr. Ditmar Staffelt.

(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Er kann nichts mehr erreichen! Es ist längst entschieden!)

D
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1513814100


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst etwas aus meiner Sicht zum Antrag
der Koalitionsfraktionen. Ich habe diesen Antrag so ver-
standen, dass das deutsche Parlament die Bundesregie-
rung in ihrem Bemühen, deutsche Positionen in Europa
zu formulieren und durchzusetzen, ausdrücklich zu un-
terstützen gedenkt. Das ist der Sinn dieses Antrages.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund haben wir, so denke ich, einen
guten Anlass, uns darüber zu unterhalten, was wir wol-
len und was bisher auf dem Sektor der europäischen Mit-
bestimmung erreicht worden ist.

Eigentlich – wenigstens einige Ansätze dazu habe ich
heute hören können – liegen die großen ideologischen
Schlachten um die Mitbestimmung ja schon 30 Jahre
hinter uns.


(Jürgen Türk [FDP]: Ja, eben! Das sagen wir ja!)


Viele Unternehmen leben mit dieser Mitbestimmung
außerordentlich gut. Die Beispiele bestärken uns in die-
ser Auffassung.

Ich sage das vor dem Hintergrund, dass manch ein
Unternehmer, der sich in einer Zeit des Umbruchs und
der Modernisierung vorwagt, häufig vergisst, dass Mit-
bestimmung in guten Zeiten möglicherweise lästig er-
scheinen mag, in schlechten Zeiten aber von vielen her-
beigesehnt wird, gebraucht wird, unerlässlich ist, um den
Betriebsfrieden und insbesondere die ökonomische Ba-
sis vieler Unternehmen wiederherzustellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sehen das ganz aktuell an den Beispielen Karstadt-
Quelle und Opel. Ich möchte nicht wissen, meine Damen
und Herren, wo wir in diesen schwierigen Fällen heute
stünden, wenn es nicht eine seitens der Arbeitnehmer-
schaft organisierte Verantwortung gäbe, die letztendlich
in den Betrieb hinein Einfluss ausübt und damit stabili-
sierend wirkt. Wenn mir jemand sagen will, dass diejeni-
gen, die an der Sanierung mitgewirkt haben, etwa unver-
antwortlich gehandelt hätten, dass es nicht einer
erheblichen Bewegung der Arbeitnehmerschaft bedurft
hätte, um diese Unternehmen wieder auf die richtige
Schiene zu bringen, wenn mit dem Finger auf die Mitbe-
stimmung und die Arbeitnehmer gezeigt wird, dann
weiß ich nicht, vor welchem Hintergrund das geschieht.

Ich warne ausdrücklich davor, dass in dieser Zeit, in
der die Gewerkschaften und auch die Arbeitnehmer-
schaft weitgehend bereit sind, viele Wege der Reformen
mitzugehen, so schwer sie auch erscheinen mögen, im-
mer und immer wieder draufgesattelt wird, weil es eben
gerade ins ideologische Konzept passt.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Nein! Weil die europäische Wirklichkeit weitergegangen ist!)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt

Das werden wir jedenfalls nicht zulassen. Die Bundes-
regierung wird bei ihrer Position bleiben und nicht nach-
geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Mitbestimmung auch in Europa si-
chern. Wir wissen, dass wir in Europa eine neue Mitbe-
stimmungskultur benötigen, weil die Unterschiede in
den europäischen Ländern außerordentlich groß sind.

Ich denke, dass wir bisher gut verhandelt haben, indem
wir Lösungen angestrebt haben, die aus einer Kombina-
tion aus Verhandlung und Auffangregelung bestehen. Das
heißt: Immer dort, wo Unternehmen miteinander fusio-
nieren, wird zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitge-
bern verhandelt, um eine tragfähige Mitbestimmungsre-
gelung zu finden. Sollte dies zu keinem Ergebnis führen,
dann würde über die Auffangregelung praktisch die weit-
gehendste Mitbestimmungsregelung in Kraft treten. Das
ist, wie der Kollege Kuhn zu Recht gesagt hat, ein guter
Ansatz. Denn alle Beteiligten müssen sich mit der Frage
auseinander setzen, wie man passgerechte Regelungen
für europäische Unternehmen schaffen kann, die sowohl
den Interessen der Arbeitnehmer wie auch denen der Ar-
beitgeber Rechnung tragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind uns der Tatsache sehr wohl bewusst, dass wir
noch nicht alle Hürden genommen haben. Hier ist schon
der Begriff von der monistischen Leitungsstruktur ge-
nannt worden. Es ist klar: Wenn es in einem Unterneh-
men keinen Aufsichtsrat und keinen Vorstand, sondern
ein Board of Directors gibt – das ist das angloamerikani-
sche Modell –, dann ist die Implementierung der Mitbe-
stimmung schwieriger. Hier wird man verhandeln müs-
sen.

Wir wollen ganz im Sinne der deutschen Interessen so
viel Mitbestimmung wie nur irgend möglich durchset-
zen. Aber wir wissen auch, dass das nicht einfach sein
wird. Deshalb muss man mit Augenmaß und Realismus
sehen, was unter diesen Bedingungen an Mitbestim-
mung durchsetzbar ist.


(Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Aha! – Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Da bin ich aber gespannt!)


– Was heißt hier „Aha“? Das ist nun einmal so. Europa
ist in diesem Bereich sehr unterschiedlich strukturiert.
Spanien hat im Bereich der Mitbestimmung praktisch
keine Tradition. Deutschland und andere Länder hinge-
gen haben eine große Tradition. Das alles muss auf ver-
nünftige Weise miteinander verbunden werden. Ich
glaube, darüber sind wir uns alle einig.

Ich sage noch einmal: Wir werden, so gut es nur ir-
gend geht, die Mitbestimmung und damit die Interessen
der Arbeitnehmer in Europa verteidigen.


(Beifall bei der SPD)

Wir werden einer Absenkung des Mitbestimmungsni-
veaus nicht zustimmen, schon gar nicht des Mitbestim-
mungsniveaus im eigenen Land. Wir werden uns auch
nicht von Ihnen treiben lassen. Das gilt nicht für Sie,
Herr Bietmann. Sie haben heute die große Überra-
schungsnummer gezogen. Kollege Kuhn hat das Nötige
schon dazu gesagt.


(Zuruf der Abg. Dagmar Wöhrl [CDU/CSU])

– Frau Wöhrl, bei aller Freundschaft muss ich Ihnen sa-
gen: Ausgerechnet Sie, die Sie die Mitbestimmung für
die größte Plage der letzten 50 Jahre halten, wollen heute
das Hohelied der Mitbestimmung mit Ihrem Kollegen
singen. Das geht nicht. Sie sollten da redlich sein.

Es gibt, wie der Berliner sagt, so ’ne und solche. Ich
will einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion ihre Haltung zur
Mitbestimmung durchaus abnehmen. Aber die Grund-
melodie Ihrer Fraktion und Ihrer Partei ist eine andere.
Sie liegt näher bei den Auffassungen von BDI und BDA
als etwa bei denen der Gewerkschaften. Da wollen wir
uns nichts vormachen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Rolf Bietmann [CDU/ CSU]: Sie sind eine Volkspartei?)


– Natürlich sind wir eine Volkspartei.
Ich will an dieser Stelle grundsätzlich sagen: Wir wis-

sen, dass es Herausforderungen gibt, die uns in Europa
auf diesem Sektor über die Globalisierung erreichen.
Aber die Antwort darauf kann nicht etwa die Abschaf-
fung der Mitbestimmung, sondern muss ihre sinnvolle
und angemessene Weiterentwicklung in den europäi-
schen Unternehmen sein.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Ja, das ist richtig!)


Ich denke, das ist unser gemeinsames Ziel.
Da Sie dieser Feststellung zustimmen, kann ich nur

sagen: Es wäre schön, wenn es auf mancher Veranstal-
tung und in mancher Fernsehdiskussion mehr Sachlich-
keit und ein größeres Miteinander und weniger Konfron-
tation in dieser Frage geben würde. Dann können wir an
das anknüpfen, was Sie vorhin zugestanden haben, näm-
lich dass auch die CDU und die CSU in Sachen Mitbe-
stimmung in diesem Land recht aktiv gewesen sind.
Auch wenn es um die Ausgestaltung von Mitbestim-
mungsrechten in Europa geht, vergessen Sie bitte Ihre
historischen Wurzeln in diesem Bereich nicht gänzlich.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513814200

Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger,

CDU/CSU-Fraktion.

Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1513814300

Geschätzte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Wir diskutieren heute über den Antrag der
Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen, in dem
die Bundesregierung aufgefordert wird, auch auf euro-
päischer Ebene das Instrument der Mitbestimmung






(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger

durchzusetzen. Das ist zwar sicherlich eine gute Forde-
rung. Aber möglicherweise ist der Antrag, den beide
Fraktionen formuliert haben, nicht ganz realitätskon-
form, weil aufgrund der Beschlüsse, die in der Vergan-
genheit mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregie-
rung getroffen wurden, auf der europäischen Ebene ein
Kompromiss – die Europäische Gesellschaft – zustande
gekommen ist. Natürlich ist es wichtig, einen solchen
Kompromiss herbeizuführen. Aber, Herr Kollege Kuhn,
dann sollte man auch zu diesem Kompromiss stehen und
nicht versuchen, ihn in der nationalen Umsetzung wieder
auszuhebeln.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Das kann nicht gut sein und kann nicht funktionieren.
Dies ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland schäd-
lich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die CDU/CSU steht zur Mitbestimmung. Wir sind al-

lerdings auch dafür, dass die Mitbestimmung in den eu-
ropäischen Rahmen, den wir nun einmal haben, einge-
passt wird. Denn wir möchten die Diskussionen
natürlich nicht realitätsfern führen.

Die Entwicklung sieht ja so aus: 1976 wurde das
Mitbestimmungsrecht unter maßgeblicher Beteiligung
von CDU und CSU eingeführt. Seitdem sind fast
30 Jahre vergangen. Die europäische Einigung ist voran-
gekommen. Es hat die deutsche Wiedervereinigung mit
der Öffnung nach Osten gegeben. Das bedeutet, dass
man denjenigen Unternehmungen, die über die Grenzen
hinaus tätig sind und die Niederlassungen und Zweigbe-
triebe in anderen Ländern haben, ein Unternehmensrecht
geben muss, das sie in der Weise agieren lässt, dass in
Europa und vor allen Dingen in Deutschland neue Ar-
beitsplätze entstehen.

Deshalb ist es entscheidend, über die daraus entste-
henden Fragen ohne ideologische Scheuklappen zu dis-
kutieren. Wir müssen uns überlegen, was dies für den
Wirtschaftsstandort Deutschland bedeutet. Kollege
Brüderle hat bereits ausgeführt, dass die Deutsche Bank
dann, wenn sie eine Holdinggesellschaft gründet oder
sich mit einem anderem Institut zusammenschließt,
möglicherweise nicht in Deutschland ihren Firmensitz
haben wird, sondern im Ausland, in einem europäischen
Partnerland.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist so!)

Was hat das dann für Auswirkungen auf den Wirtschafts-
standort Deutschland? Ich glaube, dies wäre ein nicht
wieder gutzumachender Verlust.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Welche Auswirkungen sind für die Arbeitnehmerin-

nen und Arbeitnehmer zu befürchten, wenn aufgrund
von Zusammenschlüssen deutscher Firmen mit euro-
päischen Partnern die Konzernzentralen im Ausland
entstehen, um damit deutsches Mitbestimmungsrecht zu
umgehen? Das ist möglich, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und den Grünen. Das ist blanke
Realität. Wie gehen wir mit diesem Umstand um und
wie schützen wir die Arbeitnehmerrechte in Deutsch-
land? Das oberste Arbeitnehmerrecht ist der Bestand des
Arbeitsplatzes in Deutschland. Das ist meines Erachtens
an erster Stelle in der Gesetzgebung zu beachten und in
den gesetzlichen Regelungen vorzusehen.

Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob es noch
zeitgemäß ist, dass in den Aufsichtsräten drei Posten
für Gewerkschafter frei gehalten werden. Von mehr als
5 200 Aufsichtsratsposten, die hoch dotiert sind, werden
mehr als 1 600 von führenden Gewerkschaftsmitgliedern
eingenommen. Natürlich leisten viele von ihnen eine
gute Arbeit für ihre Unternehmungen. Aber es kann
nicht angehen, dass die, die in den Aufsichtsräten sitzen,
einen Streik herbeiführen, wie es bei Lufthansa unter
dem Gewerkschaftsvorsitzenden Bsirske geschehen ist,
und den Unternehmen dadurch Schaden zufügen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn ausländische Investoren solche Handlungsweisen
von Aufsichtsratsmitgliedern einzelner Unternehmungen
beobachten, empfinden sie unser Mitbestimmungsrecht,
das wir so hoch loben und das gute Erfolge gezeitigt hat,
zum Teil als Bedrohung.

Wir müssen uns dieser realistischen Sichtweise stellen,
sie in Gesetzesform gießen und das Mitbestimmungs-
recht weiterentwickeln. Wir, CDU und CSU, halten
nichts von der pauschalen Kritik am Mitbestimmungs-
recht, wie sie zum Beispiel BDI-Präsident Rogowski ge-
äußert hat. Das ist völlig klar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber wir müssen uns fragen, wie wir durch die bewähr-
ten Elemente unseres Mitbestimmungsrechts, die in ver-
schiedenen Umfragen von deutschen Führungskräften
genannt worden sind, die Gründung neuer Gesellschaf-
ten befördern und Investitionen und Kapital aus aller
Herren Länder in den Wirtschaftsstandort Deutschland
holen können. Das ist mit dem geltenden Recht sicher-
lich nicht zu schaffen. Wir müssen die Mitbestimmung
an die neuen Gegebenheiten anpassen.

Ich glaube, der Antrag von SPD und Grünen hat eigent-
lich nur einen Sinn: wieder eine starke Bindung zwischen
der SPD – bei den Grünen dürfte diese Bindung sicherlich
weniger ausgeprägt sein – und den Gewerkschaften bezie-
hungsweise ihren führenden Funktionären herbeizufüh-
ren.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Bei aller Bedeutung der Gewerkschaften muss man fest-
stellen, dass die gewerkschaftliche Bindung von Tag zu
Tag schwindet, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in Deutschland an Arbeitsplätzen und nicht an
theoretischen Diskussionen interessiert sind.

Wir müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass die
positiven Elemente unseres Mitbestimmungsrechts auch
im Hinblick auf die neue europäische Aktiengesellschaft
erhalten werden. Das schaffen wir aber nur durch eine
gute Zusammenarbeit. Wir müssen eine Diskussion füh-
ren, die wir als CDU/CSU heute ausdrücklich anstoßen






(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger

wollen und in die wir unsere eigenen Vorschläge einbrin-
gen werden.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513814400

Das Wort hat der Kollege Hans-Jürgen Uhl, SPD-

Fraktion.


Hans-Jürgen Uhl (SPD):
Rede ID: ID1513814500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Die aktuelle Mitbestimmungsdebatte macht
deutlich, worum es beim Thema Mitbestimmung geht
und wer wo für welche Interessenlagen steht. Herr
Rogowski, die FDP, insbesondere auch Sie, Herr
Brüderle, und manch einer in der CDU/CSU – wir haben
ja heute wieder zwei Sowohl-als-auch-Reden gehört –
wollen mit ihren Angriffen auf die Mitbestimmung einen
entscheidenden Produktivitätsfaktor ausschalten.

Herr Brüderle, die Konsequenz Ihrer Befangenheits-
argumente hinsichtlich der Gewerkschafter wäre, dass
alle Aufsichtsräte abgeschafft werden müssten; denn
dort sitzen in der Tat Personen, die Interessen vertreten
und dementsprechend ein Stück weit befangen sind. Wer
die Mitbestimmung und damit die Mitverantwortung der
Arbeitnehmer und der Gewerkschaften infrage stellt, der
gefährdet den sozialen Frieden.


(Beifall bei der SPD)

Worum geht es? Die Unternehmensmitbestimmung in

den Aufsichtsräten ist, in enger Verbindung mit den Mit-
bestimmungsrechten der Betriebsräte, ein wesentlicher
Eckpfeiler unserer Demokratie. Hier erinnere ich an das,
was der Arbeitnehmerflügel innerhalb der CDU im
Laufe der Geschichte unseres Landes zur Mitbestim-
mung beigetragen hat.


(Klaus Brandner [SPD]: Ja! Das muss man sich genau anschauen!)


Wie wären wohl die Strukturwandelprozesse in den
Branchen Eisen und Stahl, Kohle, Bergbau, bei der
Bahn, in der Chemieindustrie und der Automobilindus-
trie abgelaufen, wenn es die qualifizierte Mitbestim-
mung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften nicht
gegeben hätte?


(Klaus Brandner [SPD]: So ist es!)

Das kann jeder in den Kahlschlagsregionen der USA und
Großbritanniens besichtigen.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Darum geht es doch überhaupt nicht!)


Welchen Grund sollte es deshalb geben, Bewährtes über
Bord zu werfen und den Häuserkampf in den Betrieben
dafür einzutauschen?


(Beifall bei der SPD – Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: So ein Unfug! Der Rechtsrahmen stimmt doch nicht mehr!)

Die Krise bei Opel bzw. General Motors macht das
doch ganz deutlich: Die Konzernzentrale der mitbestim-
mungsfreien Zone in Detroit schickte Manager nach
Rüsselsheim, die zur Förderung ihrer persönlichen Kar-
riere am kurzfristigen Gewinntransfer in die Zentrale,
aber nicht an einer soliden, nachhaltigen Investitions-
und Produktpolitik interessiert waren. Ausbaden müssen
das jetzt die Arbeitnehmer und ihre Familien. Da ist es
doch besser, wenn Betriebsräte mit der Kenntnis der
Stärken und Schwächen der Betriebe und des Marktes,
unterstützt vom Sachverstand außerbetrieblicher Ge-
werkschaftsvertreter, gemeinsam mit den Kapitalvertre-
tern und dem Vorstand die Weichen für Innovation und
Zukunftsentwicklung der Unternehmen stellen.

Darum gilt: Unser in Jahrzehnten bewährtes und er-
folgreiches deutsches Mitbestimmungsmodell muss
auch im europäischen Recht gesichert und weiterentwi-
ckelt werden.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Dafür ist es schon zu spät! Das ist schon vorbei!)


Deshalb wollen wir von SPD und Grünen mit unserem
Antrag der Bundesregierung den Rücken für die ab-
schließenden Verhandlungen in Brüssel zur europäi-
schen Fusionsrichtlinie stärken. Wir wollen, dass sich
die Arbeitnehmervertreter und die Kapitalvertreter wei-
terhin auf gleicher Augenhöhe begegnen.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das ist doch dummes Zeug! Der Rechtsrahmen ist doch ganz anders!)


Wir wollen, dass der betriebliche Sachverstand und
überbetriebliche Erfahrung auf beiden Seiten dafür sor-
gen können, die Belange von Kapital und Arbeit auszu-
gleichen – im Interesse der Unternehmen, der Beleg-
schaften und vor allem der Standortregionen. Deshalb
sind BDI und BDA völlig auf dem Holzweg, wenn sie
mit ihren Vorschlägen unseren gesellschaftlichen Kon-
sens zur kooperativen Konfliktbewältigung leichtfertig
über Bord werfen.

Während sich Daimler-Chrysler-Chef Jürgen
Schrempp, VW-Personalvorstand Peter Hartz und die
Vorstandsvorsitzenden von EnBW und Porsche klar zur
Mitbestimmung bekennen, wollen Arbeitgeberverbands-
funktionäre und ihre Freunde in Wissenschaft und Poli-
tik die Mitbestimmung kippen.


(Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das können Sie am 1. Mai erzählen, aber doch nicht im Deutschen Bundestag!)


Das ist Rückschritt und schwächt den Standort Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD)

Tatsache ist: Deutschland ist mit unserer Unterneh-

mensverfassung Exportweltmeister geworden. Deutsch-
land ist Investitionsschwerpunkt für amerikanisches Ka-
pital. Die Amerikanische Handelskammer in Deutschland
ist mit über 3 000 Mitgliedern die größte der Welt. Kein Be-
triebsrat und kein Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Jürgen Uhl

schrecken ausländische Kapitalgeber davon ab, in
Deutschland zu investieren.

Meine Damen und Herren, schauen wir uns den vor-
liegenden FDP-Antrag etwas genauer an:


(Dirk Niebel [FDP]: Sehr guter Antrag!)

Ein Zurück zur Drittelbeteiligung kommt für uns nicht
infrage. Ihre Angriffe auf die Gewerkschaften sind abge-
droschene Ideologie; das höre ich in jeder Talkshow, in
der Herr Brüderle auftritt.


(Beifall bei der SPD)

Aber, meine Damen und Herren von der FDP, wo Sie

Recht haben, da haben Sie Recht: Eine Begrenzung der
Zahl der Aufsichtsratsmandate pro Person halte ich für
sinnvoll – gut wäre es, wenn die Aufsichtsräte das frei-
willig lösen würden; wir wollen ja nicht alles gesetzlich
regeln –; denn was auf den Kapitalbänken an Ämterhäu-
fung zusammenkommt, ist schon beachtlich. Zehn bis
15 Aufsichtsratsmandate sind keine Seltenheit; Graf
Lambsdorff war seinerzeit in dieser Disziplin Weltmeis-
ter. Es ist wohl so, dass sich in den Aufsichtsräten der
100 größten deutschen Unternehmen dieselben rund
30 Spitzenmanager immer wieder begegnen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das gilt auch für die Vertreter der Gewerkschaften!)


Alle Achtung, was die an Terminen neben ihrem haupt-
beruflichen Job wahrnehmen!

Ebenso halte ich es nicht für sinnvoll, wenn ehema-
lige Vorstandsvorsitzende nach ihrem Ausscheiden Auf-
sichtsratsvorsitzende desselben Unternehmens werden
und ihren Nachfolger kontrollieren.

Sie sehen, in Ihrem Antrag stehen durchaus ein paar
Punkte, die man mittragen kann.

Aber fragen wir uns auch, warum immer wieder die
Unabhängigkeit von Gewerkschaftsvertretern in den
Aufsichtsräten infrage gestellt wird, nicht aber die der
Vertreter der Kapitalseite. Interessenkollisionen erge-
ben sich häufig gerade auf der Kapitalseite. Nehmen wir
doch einmal die Vertreter von Banken, die Kredite an
Unternehmen vergeben, oder Überkreuzmandate: Erin-
nern wir uns an den Übernahmekampf zwischen Thys-
sen und Krupp. Die Deutsche Bank war an der Übernah-
meaktion beteiligt. Sie hatte sowohl einen Sitz im
Aufsichtsrat von Thyssen als auch in dem von Krupp.
Nennen wir das unabhängig?


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Gleichzeitig möchte ich diejenigen, die die Gewerk-

schaften von der Unternehmensmitbestimmung aus-
schließen wollen, warnen. Deutschland gilt als streik-
arme Zone. Das verdanken wir der Tatsache, dass sich
Arbeitnehmervertreter und Arbeitgebervertreter häufig
begegnen, dass sie sich respektieren und dass sie Pro-
bleme kooperativ lösen. Warum sollten wir das ändern?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Nehmen Sie doch Betriebsangehörige!)


– Die haben wir ja.
Meine Damen und Herren, BDA und BDI wollen mit
dem Hinweis auf andere Länder und europäische Richt-
linien Einschnitte bei der deutschen Mitbestimmung. Sie
sagen, Deutschland sei in der Frage der Mitbestimmung
isoliert. Das ist für mich Unsinn, zumal in der Mehrzahl
der EU-Staaten die Mitbestimmung als Instrument der
Unternehmenskontrolle genutzt wird. Die Beitrittsstaa-
ten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien haben
sich dabei sogar am deutschen Modell der Mitbestim-
mung orientiert.


(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sie haben aber die Drittelparität!)


– Schauen Sie sich das einmal an. Slowenien ist zwar ein
kleines Land, aber dort gibt es die 50/50-Parität; in der
Slowakei übrigens auch.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nein!)

In Europa gibt es eine Vielzahl von Kulturen und Tra-

ditionen zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Wirt-
schaftsleben. Deshalb dürfen wir es nicht akzeptieren,
dass EU-Richtlinien die Flucht aus der deutschen Mitbe-
stimmung eröffnen. Europa hat nämlich nicht nur eine
wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Dimension.
Dazu gehören Teilhabe und Mitbestimmung. Deshalb
haben die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften uns
Sozialdemokraten an ihrer Seite.

Wir wollen die Mitbestimmung in ihrer bewährten
Form erhalten und ihr eine europäische und eine interna-
tionale Perspektive geben; denn die Mitbestimmung
schafft gerade in globalen Unternehmen die Vorausset-
zung für die demokratische Kontrolle wirtschaftlicher
Macht und schränkt ihren Missbrauch ein. Wir wollen in-
novative Unternehmen, in denen Manager und Arbeit-
nehmer den Unternehmen und den arbeitenden Men-
schen durch die Kontinuität der Entscheidungen
Zukunftsperspektiven, sichere Einkommen und Arbeits-
plätze bieten und in deren Aufsichtsräten soziale Verant-
wortung praktiziert wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513814600

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1513814700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wer gerade der Rede unseres Kollegen Uhl
zugehört hat, der hatte den Eindruck, diese Rede sei
schon einmal 1976 gehalten worden und der Kollege
hätte nicht mitbekommen, dass wir mittlerweile ein Eu-
roparecht, einen europäischen Binnenmarkt, viele wei-
tere internationale Verpflichtungen und große Unterneh-
mensverschmelzungen haben, was man sich damals
überhaupt nicht vorstellen konnte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Jürgen Uhl [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört!)







(A) (C)



(B) (D)


Karl-Josef Laumann

Das hörte sich gut an und ich hätte die Rede auch so

halten können,

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie sich keinen Zwang an!)

aber ob sie mit der Wirklichkeit, in der wir jetzt leben,
noch in Einklang zu bringen ist, weiß ich nicht.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was wollen Sie denn jetzt? – Doris Barnett [SPD]: Jetzt machen Sie aber mal halblang!)


Ich finde, es gibt einen klaren Grundsatz. In Deutsch-
land – dies ist hier so wie in allen anderen Ländern der
Erde auch – gibt es Interessengegensätze zwischen Ar-
beit und Kapital. Manchmal sind diese Interessengegen-
sätze in Unternehmen auch Konflikte. Das haben wir
alle zum Beispiel bei Opel mitverfolgen können. Es ist
doch völlig klar, dass ein Land und auch Unternehmen
Spielregeln brauchen, wie man diese Konflikte austrägt.

Wir haben uns in Deutschland für ein Partnerschafts-
modell ausgesprochen. Dies geschah im Grundsatz im
Übrigen schon in der Weimarer Republik und dann vor
allem während der Entwicklung nach dem Zweiten
Weltkrieg.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da war die SPD noch nicht so weit!)


Dieses Partnerschaftsmodell findet seinen Ausdruck in
der überbetrieblichen Mitbestimmung, über die wir
heute in erster Linie sprechen und die von den gestellten
Anträgen betroffen ist, und in der betrieblichen Mitbe-
stimmung, die für noch viel mehr Arbeitnehmer relevant
ist. Das ist unser Modell.

Ich sage Ihnen: Dieses Konsensmodell, dieses Part-
nerschaftsmodell, für das wir uns einmal entschieden ha-
ben,


(Klaus Brandner [SPD]: Das machen wir europatauglich!)


hat eher mit der christlich-sozialen Idee in der Ge-
schichte unseres Landes als mit der sozialistischen Idee
zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [FDP] – Lachen bei der SPD)


Deswegen braucht sich hier keiner großartig aufzuregen.
Mit der christlich-sozialen Bewegung in Deutschland ist
die deutsche Mitbestimmung, sowohl die überbetriebli-
che wie die betriebliche, eng verbunden.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das klären Sie erst einmal in den eigenen Reihen!)


Sie gehört für die christlich-soziale Bewegung in
Deutschland zu unserer Identität – ich gehöre ihr auch
durch andere Verbände außerhalb der CDU an – und
diese lassen wir uns auch nicht nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Weil das so ist, ist es völlig klar, dass Mitbestimmung

und Partnerschaftsmodell in der Christlich Demokrati-
schen Union verwurzelt sind. Ich will nicht bestreiten,
dass es in der Christlich Demokratischen Union auch
den einen oder anderen gibt, der nicht in dieser Tradition
steht und vielleicht zu einem anderen Entschluss kommt.
Ein Beispiel dafür ist die heutige Entscheidung des Wirt-
schaftsrates.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das gibt es auch bei den Grünen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da müssen Sie sich aber entscheiden!)


Ich glaube im Übrigen, dass sich dieses Modell be-
währt hat. Wir haben damit viele Konflikte gelöst. Wer
sich die mitbestimmten Betriebe anschaut, stellt fest,
dass es in einer Reihe von mitbestimmten Betrieben ge-
waltige Umstrukturierungen gegeben hat. Denken Sie an
die RAG, an Bayer, an Schering, an die BASF. Überall
dort sind die Umstrukturierungen in großem Frieden ver-
laufen,


(Doris Barnett [SPD]: Mit der paritätischen Mitbestimmung!)


und zwar mit der Parität.
Zur Wahrheit gehört auch, dass es in Deutschland an-

erkannte Arbeitgeberpersönlichkeiten gibt, die ganz klar
sagen, dass sich diese Idee der Partnerschaft und der
Mitbestimmung bewährt hat. Ich will nur einmal Herrn
Martin Kannegiesser anführen, der in der „Süddeutschen
Zeitung“ vom 26. Oktober 2004 mit den Worten zitiert
wird:

Mitbestimmung kann in Großkonzernen den Vorteil
haben, dass Entscheidungen hier und da langfristi-
ger angelegt werden – dass also nicht die kurzfris-
tige Auswirkung auf den Börsenkurs das Maß aller
Dinge ist.

Wer aber bei einem Mann wie Kannegiesser, den ich
sehr ernst nehme, genauer hinschaut, stößt auch auf
Sätze wie: Wir müssen, obwohl wir den Grundgedanken
richtig finden, zu einer Modernisierung dieser Mitbe-
stimmung kommen. Deswegen glaube ich, dass eine
Modernisierung der deutschen Mitbestimmung,
wenn wir die Auseinandersetzung und die Überlegungen
dazu klug führen, dem Ziel eines partnerschaftlichen
Modells, wie es auch in der Vergangenheit unser Grund-
anliegen war, nicht unbedingt widerspricht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es scheint mir sehr logisch zu sein, dass gerade die Ar-

beitnehmervertreter in den mitbestimmten Betrieben
– das gilt im Übrigen sowohl für die betriebliche wie für
die überbetriebliche Mitbestimmung – den Standort
Deutschland sehr genau im Auge haben. Denn wir Arbeit-
nehmer – ich sage das einmal so – sind natürlich auf Ar-
beitsplätze an diesem Standort angewiesen, wahrschein-
lich stärker als die Kapitalgeber; denn Kapital kann auch
außerhalb des Landes angelegt werden. Ein Arbeitneh-
mervertreter muss – erst recht, wenn er einem Aufsichts-
rat angehört – im Auge behalten, wie viele Arbeitsplätze
es in Deutschland gibt. Daher glaube ich, dass man auf
dieser Seite den Standort Deutschland stets im Blick be-
hält. Dass sie nicht irrational handeln – das sage ich noch
einmal –, beweisen die riesigen Umstrukturierungen, die






(A) (C)



(B) (D)


Karl-Josef Laumann

trotz der Mitbestimmung in Deutschland möglich waren.
Deswegen ist die Mitbestimmung eine bewährte und gute
Sache.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Mitbestim-
mungsgesetz aus dem Jahre 1976 von unseren Kollegen
im Bundestag zu einer Zeit durchgesetzt worden ist, als
die Wirtschaft noch sehr national ausgerichtet war. Für
diese Bereiche war die Mitbestimmung richtig und ist sie
auch heute noch unstreitbar. Nur stehen wir heute vor
dem Problem transnationaler Unternehmensver-
schmelzungen. Beschleunigt wird diese Entwicklung
vom europäischen Binnenmarkt. Hinzu kommt, dass Eu-
ropa über Richtlinien Recht schafft.

Natürlich hat die Bundesregierung als Vertreterin der
industriestärksten Nation dieser Gemeinschaft hier die
ganz große Verantwortung, unsere Art und Weise, Kon-
flikte in Betrieben zu lösen, in Europa durchzusetzen.


(Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: Sehr gut!)


Dabei wünsche ich der Bundesregierung viel Glück.
Herr Staatssekretär Staffelt, in Ihrer Rede haben Sie ge-
rade gesagt, dass sich die Bundesregierung dafür stark
machen wird. Sie hätten nur noch den Satz hinzufügen
müssen: Wir werden uns zwar heldenhaft einsetzen; aber
wenn wir am Ende überstimmt werden, werden wir
überstimmt. – Das wäre dann die Wahrheit gewesen.


(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Hinzu kommt – das muss man wissen –, dass der Vor-

schlag der Kommission, der bislang im Raum stand,
ohne Aussprache einstimmig zustande gekommen ist.
Ich frage mich dann schon: Wo war denn Herr
Verheugen von der SPD und wo war Frau Schreyer vom
Bündnis 90/Die Grünen, Herr Kollege Kuhn, wenn man
doch weiß, dass das auf europäischer Ebene so gelaufen
ist? Deswegen sind die Anträge, die Sie hier stellen,
schon ein bisschen doppelzüngig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Mir liegt Folgendes am Herzen: Wir werden die Mitbe-
stimmung in einigen Punkten modernisieren müssen.
Natürlich müssen die Aufsichtsräte effektiver werden.
Vielleicht werden sie kleiner werden müssen. Das ist
noch leicht zu machen, wenn man es will. Aber die
Frage, wie man ausländische Arbeitnehmer an Wahlen
beteiligt, wird schon schwerer zu beantworten sein.
Ich habe nachgelesen, dass Siemens circa 1 000 auslän-
dische Töchter – von Südostasien bis nach Südamerika –
hat. Angesichts dessen ein Wahlrecht praktisch zu orga-
nisieren, stelle ich mir schwer vor. Wir werden das Pro-
blem aber lösen müssen, denn das internationale Recht
und das europäische Recht werden verlangen, dass wir
ausländische Arbeitnehmer an den Entscheidungen be-
teiligen.

Was die Gewerkschaftsvertreter betrifft, so kann ich
mit der Situation gut leben. Ich finde allerdings, das Vor-
schlagsrecht sollte bei den Belegschaften liegen. Ich
würde es für richtig halten, dass die Belegschaften auch
Leute vorschlagen können, die nicht im Unternehmen
arbeiten. Wenn sie einen Gewerkschaftsfunktionär vor-
schlagen, dann soll das eben so sein. Gewerkschafts-
funktionäre sind nicht immer schlechter als Bankenver-
treter; die können in den Aufsichtsgremien genauso
bestimmte Interessen vertreten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde, da sollte man fair bleiben: Das Initiativrecht
sollte bei den Belegschaften liegen und nicht bei den Ge-
werkschaftszentralen. Wenn wir darin übereinstimmen,
können wir uns einigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Viel schwieriger aber ist die Frage zu beantworten, wie
wir es schaffen, dass Deutschland in Zukunft auch als
Sitz für transnational verschmolzene Unternehmen ein
attraktiver Standort bleibt. Daran müssen wir ein Inte-
resse haben. 30 Prozent der deutschen Unternehmen, die
der Mitbestimmung unterliegen, haben eine ausländi-
sche Mutter. Sie haben diese Mutter trotz unserer Mitbe-
stimmung bekommen. Bedenken Sie das, wenn geäußert
wird, keiner wolle diese Mitbestimmung. Das ist ein
Faktum, das man im Auge haben muss.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513814800

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit!


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1513814900

Ein Satz noch. – Deswegen finde ich es wichtig, dass

wir uns die Entwicklung des europäischen Rechts und
die Richtlinie anschauen. Wir müssen dann die Entschei-
dungen so treffen, dass die Holdings in Deutschland ent-
stehen können. Wenn wir vernünftig sind, sprechen wir
das mit den beiden Sozialpartnern ab. Daran wäre mir in
dieser Frage sehr gelegen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513815000

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-

schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/
4087 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine qua-
lifizierte Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Fu-
sionen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/3466 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist
mit Mehrheit angenommen.

Zum Tagesordnungspunkt 4 b wird interfraktionell
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4038 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-
kundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Norbert Lammert

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar

Wöhrl, Anita Schäfer (Saalstadt), Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Konversionsregionen stärken – Sechs-Punkte-
Plan zur Strukturpolitik
– Drucksache 15/4029 –
Überweisungsvorschlag:
Auschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Auschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Auschuss für Tourismus
Auschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga
Daub, Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich
Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung
und Schließung betroffenen Bundeswehr-
standorte ist unverzichtbar
– Drucksache 15/1022 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Auschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dagegen wehrt
sich offenkundig niemand. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Peter Harry Carstensen für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1513815100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Auch wenn man lange in diesem Parlament gewe-
sen ist, erlebt man immer wieder etwas Neues.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt!)


Wenn es um die Sparkassen geht und dazu eine Aktuelle
Stunde vereinbart wird, dann kommt ein leibhaftiger Mi-
nister aus Schleswig-Holstein, um noch einmal die Mög-
lichkeit zu haben, im Bundestag zu reden. Die Gelegen-
heit wird er wahrscheinlich nicht wieder bekommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warten Sie mal ab!)


Wenn es aber um die wichtigen Dinge für Schleswig-
Holstein geht, nämlich darum, die Folgen des Abzugs
der Bundeswehr zu debattieren, ist die Bank hier vorne
leer. Ich bin schon sehr erstaunt.

Ich glaube, es ist notwendig, einmal auf die Auswir-
kungen dieser Entscheidungen gerade in dem leider ja
immer noch strukturschwachen Schleswig-Holstein hin-
zuweisen. Wir sind am stärksten betroffen. Das Land
Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen Einwohnern wird
8 900 Dienstposten verlieren, während das Land Schles-
wig-Holstein, welches gerade einmal 2,8 Millionen Ein-
wohner hat – ein Sechstel von Nordrhein-Westfalen –,
8 600 Dienstposten verlieren wird.

Nun wird keiner die Notwendigkeit von Strukturver-
änderungen und Reformen bestreiten. Aber es gibt Zorn
und Unverständnis über Einzelentscheidungen, weil
nämlich nicht ausgewogen entschieden wurde und weil
die Folgen in einigen Gebieten Schleswig-Holsteins und
in anderen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland
nicht bedacht wurden.

Ich bestreite die Aussage des Bundesverteidigungs-
ministers, die Entscheidungen bei der Bundeswehr hät-
ten nichts mit Strukturpolitik zu tun. Wenn man die
Entscheidungen der Bundeswehr nur betriebswirtschaft-
lich beurteilt und die volkswirtschaftlichen Auswirkun-
gen nicht betrachtet, wird man feststellen, dass die Ent-
scheidungen zwar zu Einsparungen im Haushalt des
Bundesverteidigungsministers führen werden, dass es
aber in manchen strukturschwachen Gebieten zu extre-
men Belastungen kommen wird, die auf andere Haus-
halte verteilt werden müssen. Deshalb muss man einige
Entscheidungen noch einmal überdenken und über ei-
nige Auswirkungen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit
noch einmal sprechen.

Ich will Ihnen einmal schildern, welche Auswirkun-
gen diese Entscheidungen im Landesteil Schleswig, ei-
nem besonders strukturschwachen Bereich, haben. In
Schleswig wurde die Kaserne mit 1 400 militärischen
und zivilen Dienstposten geschlossen. Ende nächsten
Jahres wird der Flugplatz in Eggebek mit 1 800 militäri-
schen und zivilen Dienstposten geschlossen, genauso
wie jetzt der Marinehafen Olpenitz mit 2 000 militäri-
schen und zivilen Dienstposten. Wenn Sie dann noch die
Angehörigen des von der Bundeswehr lebenden Gewer-
bes, des zuliefernden Gewerbes und alle anderen, die aus
den Depots entlassen werden, hinzurechnen, summiert
sich der Verlust von Kaufkraft, wie ihn die IHK ausge-
rechnet hat, auf eine Höhe von ungefähr 200 Millio-
nen Euro im Jahr. Deshalb sind Veränderungen in der
Hilfe notwendig.

Herr Staatssekretär Kolbow, ich will Sie in diesem
Zusammenhang mit drei Forderungen konfrontieren. In
einem Papier heißt es:

Den Einsparungen im Verteidigungshaushalt müs-
sen regionale Sonderprogramme zur Schaffung von
neuen Arbeitsplätzen außerhalb des militärischen
Bereichs und zur Verbesserung der regionalen In-
frastruktur gegenübergestellt werden …
Die bisher militärisch genutzten Flächen müssen
nach dem Verursacherprinzip von den bisherigen
Nutzern bzw. vom Bund in seiner Gesamtverant-
wortung von Altlasten befreit und saniert werden …
Die bisher militärisch genutzten Flächen und Lie-
genschaften sollen zu günstigen Bedingungen für
eine zivile Verwendung den anderen Gebietskörper-
schaften zur Verfügung gestellt werden … Es ist
eine über die Bundeshaushaltsordnung hinausge-
hende Sonderregelung erforderlich, die eine stark






(A) (C)



(B) (D)


Peter H. Carstensen (Nordstrand)


verbilligte und in besonderen Fällen auch kosten-
lose Abgabe altlastenfreier Liegenschaften ermög-
licht …

Die Ministerpräsidentin des Landes hat einen Brief an
den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses geschrieben.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Können wir auch einmal über andere Bundesländer sprechen?)


– Sicherlich gibt es auch in anderen Bundesländern sol-
che Probleme, aber ich darf doch wohl die Möglichkeit
nutzen, exemplarisch an einigen Beispielen deutlich zu
machen,


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: An einigen?)


wie notwendig es ist, hier zu Hilfen zu kommen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da rührt sich nicht einmal bei der CDU/CSU eine Hand!)


Es ist notwendig, darüber zu sprechen, weil ich hier
nämlich nicht aus Anträgen zitiert habe, die von uns ge-
stellt worden sind.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch peinlich!)


sondern weil ich aus einem Antrag zitiert habe, der mit
den Unterschriften von Herrn Kolbow und Herrn
Dr. Peter Struck am 1. Juli 1991 hier in diesem Haus ge-
stellt worden ist. Das darf man doch wohl noch einmal
erwähnen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es muss doch erwähnt werden, dass es durch die Ent-
scheidungen an einigen Standorten – nicht nur in Schles-
wig-Holstein, sondern auch in anderen Bundesländern –
zu einer extremen Belastung kommt. Im Antrag der
CDU/CSU wird dezidiert begründet, warum wir zu einer
Verbesserung der Situation in diesen Regionen kommen
müssen: weil sie sonst ausbluten und weil der Abbau
von Bundeswehrstandorten gerade in strukturschwachen
Gebieten zu erheblichen negativen Strukturveränderun-
gen führen würde. Deshalb ist es hier dringend notwen-
dig, den betroffenen Bundesländern zu helfen und die
strukturschwachen Gebiete zu stärken.

Insofern bin ich gespannt, wie sich insbesondere die
Abgeordneten der Koalition – ob rot oder grün –, die in
diesen Gebieten wohnen und dort ihre Wahlkreise haben,
in der Abstimmung über die Anträge entscheiden wer-
den, ob sie für oder gegen ihre Region abstimmen wer-
den. Ich bin sehr gerne bereit, dieses Thema auch vor Ort
zu diskutieren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Noch eine peinliche Rede von Herrn Carstensen! Völlig am Thema vorbei!)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513815200

Das Wort hat nun für die Bundesregierung der Parla-

mentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist der Wahlkampf zu Ende! Jetzt kommt die Sachpolitik!)


D
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1513815300


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie werden verstehen, dass ich mich nicht auf
eine Debatte einlassen kann, die die militärischen Ent-
scheidungen betrifft. Ich gehe davon aus, dass alle diese
Entscheidungen aus militärisch-funktionaler und be-
triebswirtschaftlicher Sicht heraus verabschiedet worden
sind


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Genau das ist der Fehler!)


und dass in diesem Hause kein Zweifel daran besteht,
dass diese Entscheidungen notwendig gewesen sind,
weil eine tief greifende Reform unserer Streitkräfte und
ihrer Verwaltung vor dem Hintergrund einer völlig ver-
änderten Sicherheitslage in Deutschland und in der Welt
unvermeidlich ist.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Über die Probleme sind wir uns einig, über die Lösung nicht!)


Wir sind sehr wohl der Auffassung, dass Entscheidun-
gen zur künftigen Stationierung von Streitkräften und
territorialer Wehrverwaltung für die Angehörigen der
Bundeswehr und die betroffenen Standorte erhebliche
Veränderungen und harte Einschnitte mit sich bringt.
Das will niemand bezweifeln.

Lassen Sie mich deshalb etwas zu den Zuständigkei-
ten und möglichen Hilfen für diesen Strukturwandel bei
der Bundeswehr ausführen. Die strukturpolitische Ver-
antwortung für die Bewältigung der Konversionsfolgen
liegt nach der föderalen Aufgabenverteilung des Grund-
gesetzes zweifelsfrei vorrangig bei den betroffenen Län-
dern und Gemeinden. Der Bund wirkt daran mit. Des-
halb wurde im Rahmen des Steueränderungsgesetzes
1992 der Länderanteil am Umsatzsteueraufkommen ab
1993 von 35 auf 37 Prozent erhöht. Im Vermittlungsaus-
schuss einigte man sich damals auf eine Empfehlung,
wonach die Senkung des Bundesanteils am Umsatzsteu-
eraufkommen insbesondere zur finanziellen Flankie-
rung der Folgen des Truppenabbaus dienen sollte. Diese
Mittel stehen den Ländern seit 1993 dauerhaft zur Verfü-
gung.


(Beifall bei der SPD)

Wir bitten die Länder, die zusätzlichen Mittel, die ihnen
aus diesen 2 Prozentpunkten aus dem Steueraufkommen
zufließen, auch für die vorgesehenen Zwecke zur Verfü-
gung zu stellen.

Ich merke in diesem Zusammenhang an, dass bei-
spielsweise dem Land Bayern – dies haben die fleißigen
Haushälter in unserer Fraktion errechnet – aus den






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt

2 Prozentpunkten am Umsatzsteueraufkommen pro Jahr
eine Summe von 300 Millionen Euro zur Verfügung
steht.


(Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513815400

Herr Staatssekretär – –

D
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1513815500


Nein.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513815600

Sie wissen doch noch gar nicht, was ich fragen will.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Aber ich interpretiere Ihren Reflex so, dass Sie meine
mögliche Frage, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen
würden, negativ bescheiden wollen.

D
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1513815700


Ja, ich wollte schneller zum Ende kommen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513815800

Dann teile ich das hiermit dem Kollegen Heiderich

mit.
Dr
Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1513815900

Die Regionen können – auch das will ich klarstellen –

bei der Bewältigung der Konversionsfolgen zusätzlich
auf die zur Verfügung stehenden Förderinstrumente wie
die Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, der Verkehrs-
politik, der Städtebauförderung sowie der Mittelstands-
und Existenzförderung zurückgreifen.

Die regionalpolitischen Instrumente der Europäischen
Union, des Bundes und der Länder können in den betrof-
fenen strukturschwachen Gebieten, sofern die entspre-
chenden Konversionsstandorte von der Fördergebiets-
karte erfasst werden, zielgerecht eingesetzt werden.
Auch auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“ könnte grund-
sätzlich unter Berücksichtigung der GA-Förderregeln im
Rahmen des bis Ende 2006 beihilferechtlich genehmig-
ten Fördergebiets zurückgegriffen werden. Allerdings
bietet der derzeitige finanzielle Rahmen der GA nur ge-
ringen Spielraum zur Bewältigung der Konversionslas-
ten. Das ist uns sehr wohl klar.

Hinzu kommt, dass die von Schließung bzw. Trup-
penreduzierung betroffenen Standorte nur zu circa
54 Prozent im Fördergebiet der GA liegen. Soweit Kon-
versionsstandorte in den Fördergebieten der GA liegen,
können sowohl Investitionen der gewerblichen Wirt-
schaft als auch Investitionen in den Ausbau der wirt-
schaftsnahen Infrastruktur mit GA-Mitteln gefördert
werden. Alleinige Verantwortung der Länder ist – Herr
Carstensen, Sie sind im Moment in allererster Linie mit
Landesthemen befasst; Sie sollten sich das schon für die
Debatten merken, die Sie als Oppositionspolitiker im
Schleswig-Holsteinischen Landtag führen werden –, re-
gionale Schwerpunkte und Prioritäten beim Einsatz die-
ser Förderinstrumente zu setzen. Die Höhe der GA-Mit-
tel konnte bis 2008 verstetigt werden. An eine
Aufstockung ist allerdings aus haushaltspolitischer Sicht
– das sage ich hier sehr deutlich – nicht zu denken.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aus aktu-
ellem Anlass kurz etwas zu der anstehenden Entschei-
dung der Föderalismuskommission hinsichtlich der GA
sagen. Gerade die Bundesländer fordern die Abschaf-
fung der GA. Sie sollten sich aber im Klaren darüber
sein, dass in diesem Fall ein Einsatz dieses regionalpoli-
tischen Förderinstrumentariums zur teilweisen Bewälti-
gung des konversionsbedingten Strukturwandels nicht
mehr möglich sein wird. Andererseits ist ein eigenstän-
diges bundesfinanziertes Konversionsprogramm nicht
vorgesehen.

Die in den beiden Anträgen geforderte Verbilligung
der Veräußerung zukünftig nicht mehr militärisch ge-
nutzter Liegenschaften im Rahmen des neuen Standort-
konzeptes ist nicht geplant. Ein derartiges, früher beste-
hendes Verbilligungsprogramm ist bereits mit dem
Bundeshaushalt 2001 – von wenigen Ausnahmen abge-
sehen – ausgelaufen.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Fragen Sie doch einmal Frau Simonis, was sie dazu sagt!)


Im Übrigen sind Verbilligungen umso effizienter, je hö-
her der Bodenwert liegt. Dieser ist aber in struktur-
schwachen Regionen, von denen Sie sprechen, in der
Regel besonders gering, sodass gerade hier das Instru-
ment der Verbilligung eher wenig greifen würde.

Der Bund beteiligt sich aber nach wie vor an für zivile
Anschlussnutzungen notwendigen Kosten für die Sanie-
rung der von Boden- und Gewässerverunreinigungen be-
troffenen bundeseigenen Liegenschaften. Wie bisher
wird der Bund bei der zivilen Anschlussnutzung der
bundeseigenen Liegenschaften eng mit den Kommunen
zusammenarbeiten.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das ist doch wohl eine Selbstverständlichkeit! Das hat man bei jedem Handwerker!)


– Entschuldigung, Sie haben doch das Recht auf eine
vollständige Berichterstattung zu Ihrem Antrag. Hätte
ich es nicht gesagt, hätten Sie es mir vorgeworfen. Also
immer schön ruhig bleiben!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Und ich habe das Recht, Zwischenrufe zu machen! Nicht so arrogant, Herr Staffelt!)


Für einzelne Liegenschaften, insbesondere mit Ent-
wicklungspotenzial, hat das BMVg die Verwertungszu-
ständigkeiten der Gesellschaft für Entwicklung, Be-
schaffung und Betrieb übertragen. Einer in dem Antrag
der CDU/CSU-Fraktion geforderten Entbürokratisierung






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt

des Verfahrens bedarf es jedenfalls aus unserer Sicht
nicht.

Für die personelle Umsetzung der Strukturmaßnah-
men gilt weiterhin: Die notwendigen Maßnahmen wer-
den so sozialverträglich wie nur möglich und ohne be-
triebsbedingte Kündigungen umgesetzt. Ich denke, das
ist ein ganz wichtiger Sachverhalt.

Die Personalführung der Bundeswehr hat bereits vor-
beugend Initiativen ergriffen, um dies sicherzustellen.
Dabei hat die Prüfung struktursicherer Weiterbeschäfti-
gungsmöglichkeiten besondere Bedeutung. Außerdem
steht unter anderem der Tarifvertrag über sozialverträgli-
che Begleitmaßnahmen im Zusammenhang mit der Um-
gestaltung der Bundeswehr vom 18. Juli 2001 zur Verfü-
gung. Dieser enthält bereits vielfältige Möglichkeiten
zur sozialverträglichen Begleitung, zum Beispiel Alters-
teilzeit, Härtefallregelung, Abfindungen und die erwei-
terte Altersteilzeitregelung für Beamte.

Wir sehen sehr wohl, dass es gilt, Probleme in den be-
troffenen Bereichen gemeinsam anzupacken. Aber wir
wollen hier in aller Klarheit sagen: Jede Ebene hat ihre
Aufgaben wahrzunehmen. Der Bund wird die seinen
wahrnehmen. Aber die Länder sollen wissen: Sie müs-
sen vor dem Hintergrund der geschaffenen Strukturen
der letzten Jahre ihre Verantwortung in vollem Umfang
wahrnehmen. Dazu fordern wir sie auf.

Dies ist eine gemeinsame Aufgabe. Ich habe hier in
der Fragestunde schon erlebt, dass jeder Abgeordnete
um seinen Standort besorgt ist. Das Bundesverteidi-
gungsministerium befindet sich in einem intensiven Dia-
log mit den Abgeordneten. Dieser Dialog wird fortge-
setzt.

Ich füge noch eines hinzu: Auch wir aus dem Bundes-
wirtschaftsministerium sind selbstverständlich bereit,
wann immer erforderlich und wann immer wir es kön-
nen, Auskünfte zu erteilen und im Rahmen der Gegeben-
heiten, die ich Ihnen hier eben vorgetragen habe, mitzu-
helfen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513816000

Das Wort hat nun die Kollegin Helga Daub für die

FDP-Fraktion.


Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1513816100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Die Standortentscheidungen sind gefallen. Sie be-
treffen fast alle Bundesländer und eben nicht nur Schles-
wig-Holstein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die FDP-Fraktion hat immer deutlich gemacht, dass sie
eine vernünftige, militärisch und betriebswirtschaftlich
begründete Neustrukturierung der Bundeswehr mittra-
gen wird. Wir stehen zu unserem Wort.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut!)


Die neue Ausrichtung der Bundeswehr mit all ihren
Konsequenzen erfordert eine neue Struktur. Es war mehr
als an der Zeit, die lange bekannten Notwendigkeiten
umzusetzen. In letzter Konsequenz aber, nämlich in der
Wehrpflichtfrage, hat es die rot-grüne Regierung – das
muss hier angesprochen werden – dennoch nicht getan.


(Beifall des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP])


Leider muss die Bundeswehr noch immer mit einer zu
geringen finanziellen Ausstattung auskommen. Ich
spreche das hier ganz bewusst an; das Ganze ist schließ-
lich gemacht worden, um Betriebsmittel zugunsten von
Investitionen einzusparen. Wir alle kennen die Hiobsbot-
schaften: Der Verteidigungsetat wurde erneut um circa
250 Millionen Euro gekürzt. Das ging zulasten der Leis-
tungsfähigkeit der Bundeswehr und ihrer Soldatinnen
und Soldaten.


(Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU])


Für den Verteidigungshaushalt ist jetzt das Ende der
Fahnenstange erreicht. Die Bundeswehr ist ganz einfach
nicht das Sparschwein der Nation. Sie steht vor großen
Herausforderungen und muss wenigstens die mageren
Mittel erhalten, die angekündigt waren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mir kommt das Ganze vor wie die Geschichte von
Hase und Igel: Der Verteidigungsminister trifft Entschei-
dungen, um zu sparen, und der Finanzminister freut sich
und sagt: Ich bin schon da! Ich habe erwartet, dass der
Finanzminister und nicht nur ein Vertreter aus dem Wirt-
schaftsministerium hier anwesend ist.

Der Schock in den von Schließungen betroffenen
Standorten und Gemeinden ist verständlicherweise groß.
Die Bundeswehr war dort ein großer Wirtschaftsfaktor.
Dass den betroffenen Kommunen geholfen werden
muss, steht für die FDP außer Frage. Der Blick muss
jetzt aber nach vorne gerichtet werden. Ich lebe im Hier
und Heute und kenne die von der rot-grünen Bundesre-
gierung zu verantwortende desolate Haushaltslage. Des-
halb müssen Hilfen zielgerichtet sein. Nach dem Gieß-
kannenprinzip vorzugehen bringt hier natürlich nichts.

Wenn man sich die Schließungspläne anschaut – wir
alle haben die Pläne bekommen –, dann kann man
durchaus erkennen, dass es auch kommunale Filetstücke
gibt. Diese liegen mitten in der Stadt, sind infrastruktu-
rell günstig gelegen und werden meines Erachtens ohne
größere Probleme einer anderen Nutzung zuzuführen
sein. Hier liegt es vornehmlich in der Hand der Kommu-
nen, durch zielgerichtetes und kreatives Handeln eine
Lösung herbeizuführen. Dazu gehört natürlich auch, die
Liegenschaften gegebenenfalls in die Verfügungsgewalt
der Standortgemeinden zu überführen, damit diese zu-






(A) (C)



(B) (D)


Helga Daub

sammen mit den zuständigen Behörden – Bundesbehör-
den, Landesbehörden – Nachnutzungskonzepte entwi-
ckeln können.


(Beifall bei der FDP)

Es gibt aber auch andere Regionen; wir wissen das.

Es gibt Härtefälle, die einer Härtefallregelung bedürfen.
Olpenitz, Schneeberg und Wildeshausen seien jetzt nur
als Beispiele genannt. Es ist ganz klar ersichtlich, dass
die betroffenen Garnisonen und Regionen die Konver-
sion nicht ausschließlich aus eigener Kraft bewältigen
können. Hilfe seitens des Bundes, der die Standortschlie-
ßungen verfügt hat, sind – auch das steht für die FPD au-
ßer Frage – zwingend vonnöten. In unserem Antrag ha-
ben wir in Form von Forderungen konkret aufgelistet,
wie den betroffenen Kommunen geholfen werden kann.
Es bedarf einer genauen Prüfung und der Einbeziehung
aller bestehenden Förderprogramme.

Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Mit den
Standortschließungen wird ein weiteres Argument für
den Erhalt der Wehrpflicht – nach meiner Auffassung
und nach Auffassung meiner Fraktion ist es inzwischen
nur noch vorgeschoben – endgültig ad absurdum ge-
führt.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dazu sagt der Nachtwei gleich etwas!)


– Ja, mit Sicherheit. Er wird auch direkt nach mir
reden. – Ich spreche in diesem Zusammenhang von dem
immer wieder angeführten Argument der Integration der
Bundeswehr in die Gesellschaft durch die Wehrpflichti-
gen. Das war lange Zeit so richtig. Das war unter einem
anderen Konzept der Bundeswehr auch gut. Aber jeder
Standort weniger und damit jeder Wehrpflichtige weni-
ger bedeutet in dieser Logik auch ein Stück weniger In-
tegration. Das bestärkt uns einmal mehr in der Position,
dass die Wehrpflicht ausgesetzt werden muss.

Ich freue mich auf die nächste Wehrpflichtdebatte,
Herr Nachtwei, vor allem deshalb, weil sich die Grünen
in dieser Woche endlich öffentlich zu der Position der
FDP-Fraktion bekannt haben. Wenn ich das richtig ver-
standen habe und wenn Sie nicht wieder umfallen, sind
Sie offenbar gewillt, auch im Deutschen Bundestag noch
in dieser Legislaturperiode den SPD-treuen Pro-Wehr-
pflicht-Kurs zu verlassen. Wir haben zu dem Thema ges-
tern erneut einen Antrag in den Bundestag eingebracht.
Wir werden Sie beim Wort nehmen. Im Gegensatz zu Ih-
nen – Sie hätten ja sonst schon im September unserem
Antrag zustimmen können – wissen wir, was wir wollen.


(Beifall bei der FDP – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind wir hier im Kindergarten?)


Noch ein Wort an die beiden großen Fraktionen in
diesem Haus. Wir sind nicht hier im Deutschen Bundes-
tag – der Meinung sind wir jedenfalls –, um wichtige
Entscheidungen – die Entscheidung über die Wehr-
pflichtfrage ist eine solche – am Ende den Gerichten zu
überlassen. Wir sind gewählt worden, um selber zu ent-
scheiden. Das sollten wir dann auch tun.

(Beifall bei der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir haben doch eine Position! – Weitere Zurufe)


– Warten Sie es ab, wie es in Ihrer Fraktion sein wird!
Zurück zu den Standortschließungen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513816200

Darüber werden Sie sich, wenn überhaupt, nur noch

ganz kurz äußern können.

(Heiterkeit bei der FDP)



Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1513816300

Ja. – In den betroffenen Gemeinden haben sich in den

vielen Jahrzehnten der Bundeswehr spezielle Wirt-
schaftsstrukturen entwickelt. Ohne Hilfe des Bundes ste-
hen kleine und mittelständische Betriebe, die daran hän-
gen, vor dem wirtschaftlichen Aus. Die FDP-Fraktion
wird dagegen kämpfen. Diese Politik ist gegen die Men-
schen gerichtet. Nicht alle Standards dürfen unter die fi-
nanzpolitische Guillotine kommen.

Danke.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513816400

Nun erhält, wie angekündigt, der Kollege Winfried

Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen das Wort.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513816500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der vorigen Woche wurde so breit und lebendig wie seit
Jahren nicht über die Bundeswehr diskutiert. War end-
lich bewusst geworden, dass wir zurzeit in der radikals-
ten Bundeswehrreform seit der Gründung der Bundes-
wehr stehen, dass wir es mit einem historischen
Auftragswandel zu tun haben? Nein, es ging um die
Bundeswehr zu Hause am Standort. Das betrifft die
Menschen direkt und ist deshalb auch zu Recht Thema.
Aber es ist völlig falsch, dieses Thema ganz von seinem
sicherheits- und militärpolitischen Hintergrund zu tren-
nen, wie es in den Oppositionsanträgen geschieht und
wie es auch in der Eröffnungsrede des Kollegen
Carstensen eben sehr deutlich zum Ausdruck kam.

Hintergrund ist die Transformation der Bundes-
wehr und der Wandel ihres Auftrages. Die Bundes-
wehr ist selbstverständlich weiterhin für den äußeren
Schutz Deutschlands zuständig, das tut sie aber nicht
mehr durch traditionelle Landesverteidigung, sondern
dadurch, dass sie ihren Beitrag zur Bewältigung interna-
tionaler Krisen im Rahmen des Systems der Vereinten
Nationen leistet, Unterstützung beim Katastrophen-
schutz gibt usw. Dementsprechend werden die bisheri-
gen 123 Heeresbataillone um 45 auf 78, die bisherigen
17 Artilleriebataillone auf sechs und die 13 bisherigen
Panzerbataillone ebenfalls auf nur noch sechs Bataillone
reduziert. Da Bataillone standortbegründend sind, heißt
das im Klartext, dass viele Standorte sehr stark reduziert
oder gar geschlossen werden müssen.






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei

Richtig ist, dass der Bundesminister der Verteidigung

nach militärisch-funktionalen und betriebswirtschaftli-
chen Kriterien entschieden hat. Richtig ist, dass er dabei
sehr wohl auch Rücksicht auf den Katastrophenschutz
genommen hat, dieser also in keiner Weise vernachläs-
sigt wird. Dieses Konzept ist durchdacht und – das muss
man heutzutage ausdrücklich sagen – es ist auch mutig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie, Herr Carstensen, haben dagegen in Ihrer Rede ein
Beispiel für politischen Opportunismus gebracht.


(Zuruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU])


Dieses Konzept entspricht auch den Empfehlungen der
Weizsäcker-Kommission aus dem Jahre 2000.

Bei aller Notwendigkeit starker Reduzierung bzw. des
Schließens von Standorten sind deren Folgen oft
schmerzhaft und auch bedrohlich für die entsprechenden
Kommunen,


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Nicht für die Kommunen, für die Menschen!)


durch Arbeitsplatz- und Kaufkraftverluste sowie sin-
kende Steuereinnahmen. Experten des Internationalen
Konversionszentrums Bonn, die bundesweit vielleicht
die beste und umfassendste Expertise in diesem Bereich
haben, haben aber in der letzten Woche vor Endzeitstim-
mung bzw. entsprechender Stimmungsmache gewarnt:

Bei allen Problemen sollten wir nicht vergessen,
dass die bis dato durchgeführten Konversionsvor-
gänge durchaus nicht nur zu einer Schwächung der
jeweiligen Kommunen und Regionen geführt ha-
ben.

Inzwischen gibt es einen reichen Erfahrungsschatz
gelungener Konversionen. Ich verweise nur auf den letz-
ten Konversionsbericht des Landes Nordrhein-Westfa-
len, in dem die in den letzten zehn Jahren in diesem Be-
reich gesammelten Erfahrungen dargestellt werden.
Dabei wird deutlich, dass es ganz entscheidend darauf
ankommt, und zwar als erstes, wie man die mit der Kon-
version verbundenen Herausforderungen angeht. Es
kommt also dabei nicht als erstes aufs Geld an, sondern
auf die Methode.

In den Anträgen der Opposition wird mittels der darin
erhobenen Forderungen der Bund zum Hauptverantwort-
lichen für die Konversion erklärt.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wer denn sonst?)


Das widerspricht der föderalen Ordnung des Grundge-
setzes, gemäß dem die Hauptverantwortung für Wirt-
schaftsförderung bei Ländern und Kommunen liegt. Der
Bund steht deshalb keineswegs außerhalb der Verant-
wortung. Streitkräfte können und dürfen zwar kein Mit-
tel der Strukturpolitik mehr sein, aber der Bund trägt
Mitverantwortung für die Folgen des eigenen Tuns. Des-
halb haben wir in der Koalitionsvereinbarung festge-
schrieben:

Die Bundesregierung wird auch in Zukunft gemein-
sam mit Kommunen und Ländern an der Konver-
sion militärisch genutzter Liegenschaften arbeiten.

Staatssekretär Staffelt hat gerade darauf hingewiesen,
in welchen Bereichen der Bund diese Mitverantwortung
wahrnimmt. Wer von der Opposition wusste denn in der
letzten Woche überhaupt, dass die Umsatzsteuer im Jahr
1993 um 2 Prozentpunkte angehoben wurde und welche
Einnahmen das noch jetzt Jahr für Jahr ausmacht?


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Zur Bewältigung der deutschen Einheit!)


Das darf man doch nicht einfach so beiseite wischen.
Die anderen Maßnahmen brauche ich jetzt nicht anzu-
sprechen. Sie sind vom Staatssekretär genannt worden.
Ein Problem ist, dass die entsprechenden Programme auf
EU-Ebene meines Wissens inzwischen ausgelaufen sind.
Da ist dann auf EU-Ebene zu diskutieren, ob eine Neu-
auflage bezogen auf die Beitrittsländer und auf struktur-
schwache Regionen in den übrigen EU-Ländern nötig
ist. Zu Zeiten weniger leerer Kassen haben auch wir die
Forderung nach einem Bundeskonversionsprogramm
unterstützt. Wir müssen aber nüchtern feststellen, dass
dies seit einigen Jahren leider nicht mehr machbar ist.
Auch der Vorschlag, Hilfen für Konversionen aus Ein-
sparungen des Verteidigungsetats zu nehmen, ist nicht
realisierbar. Es ist übrigens bemerkenswert, wer das
heute vorschlägt: Die CDU im Düsseldorfer Landtag
schlägt dies in einem Antrag vor. Die CDU hier im Bun-
destag lehnt dies übrigens kategorisch ab.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)


Von erfahrenen und erfolgreichen Konversionsbeauf-
tragten auf Länderebene hören wir in den letzten Wochen
wieder verstärkt, dass auf Bundesebene eine Anlaufstelle
fehlt und dass so etwas wie ein Konversionsbeauftrag-
ter als Informations- und Koordinationsstelle sowie als
Lotse in dieser schwierigen Materie sehr wohl dringend
notwendig wäre. Für Anfang nächsten Jahres lädt der Mi-
nister der Verteidigung betroffene Bürgermeister zu einer
großen Konversionskonferenz ein. Daran werden auch
das Finanzministerium, das Ministerium für Wirtschaft
und Arbeit sowie entsprechende Experten von Instituten
teilnehmen. Ich sage ausdrücklich, dass das ein sehr gu-
ter Schritt ist. Ich bin mir sicher, dass das nicht einfach
eine Show ist, mit der Konversionsmitverantwortung si-
muliert werden soll. Nein, dies wird ein Beitrag zur Kon-
version auch von der Bundesebene aus sein. Ich hoffe,
dass unser Vorschlag zur Schaffung eines Konversions-
beauftragten dabei entsprechende Unterstützung finden
wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513816600

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hofbauer für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Klaus Hofbauer (CSU):
Rede ID: ID1513816700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Die Reform der Bundeswehr
bedeutet tief greifende Einschnitte für die Bundesrepu-
blik Deutschland, und zwar in militärischer als auch in
strukturpolitischer Hinsicht. Man kann über diese Struk-
turreform diskutieren. Es bestehen auch einige Befürch-
tungen. Eine Befürchtung aus militärischer Sicht ist,
dass unsere Bundeswehr erhebliche Probleme bekom-
men wird, die Auslandseinsätze überhaupt noch bewälti-
gen zu können. Die Probleme bei der inneren Sicherheit
werden schwerwiegend sein. Wenn man die Ankündi-
gungen des Finanzministers hört, dass der Verteidi-
gungsetat wieder gekürzt werden soll, dann kommt man
zu dem Schluss, dass diese Reform von Haus aus zum
Scheitern verurteilt ist, bevor sie überhaupt begonnen
hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Uns muss bewusst sein, dass wir insgesamt – wenn man
auch das Umfeld einer Kaserne mit heranzieht – von
100 000 Arbeitsplätzen sprechen, die in der Bundesrepu-
blik Deutschland durch diese Entscheidung verloren ge-
hen. 100 000 Arbeitsplätze in der jetzigen, wirtschaftlich
schwierigen Zeit!

Die SPD macht ja Ankündigungen. Zum Beispiel hat
letzte Woche der stellvertretende Fraktionsvorsitzende
der SPD, Herr Stiegler, in Bayern Tag und Nacht über
Rundfunk bekannt geben lassen, dass der Bund in die
Konversion einsteigt. In der Praxis müssen wir feststel-
len, dass der Bund nur ein Ziel hat, nämlich die Pro-
bleme auf die Länder und die Kommunen abzuschieben
und selber keinen Beitrag zu leisten.

Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben einige Bei-
spiele aufgezeigt. Ich weiß, dass Sie diese Themen hier
behandeln. Eines möchte ich Ihnen aber sagen: Alle Ihre
Vorschläge sind stumpfe Schwerter, die in der jetzigen
Phase überhaupt nichts bringen. Sie wissen, dass zum
Beispiel die GA-West fast auf null gefahren wurde.


(Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: 100 Millionen!)


– Wenn ich sehe, Herr Staatssekretär, dass zum Beispiel
in Ostbayern 7,7 Millionen Euro von diesen 100 Millio-
nen Euro übrig geblieben sind, dann muss ich feststellen,
dass man davon keine Wirtschaftsförderung mehr betrei-
ben kann. Dieses stumpfe Schwert hilft uns in der jetzi-
gen schwierigen Phase nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Werner Bertl [SPD]: Was macht die Bayerische Staatsregierung mit den Umsatzsteuerpunkten? In welche Kasse laufen die?)


– Auf diesen Punkt komme ich noch zu sprechen. – Die
GA fällt also in Gänze aus.
Ein zweiter Punkt, den Sie ansprechen, ist die euro-
päische Strukturpolitik. Herr Staatssekretär, Sie wis-
sen, dass die jetzigen Richtlinien der europäischen
Strukturpolitik dieses Thema nicht beinhalten. In den
Grundsätzen der europäischen Strukturpolitik ist eine
Konversion von Bundeswehrstandorten nicht enthalten.
Ich frage Sie, Herr Staatssekretär: Haben Sie entspre-
chende Initiativen bei der EU eingereicht, sodass dieses
Problem behandelt wird? Wird die EU-Strukturpolitik ab
2006 völlig neu geschrieben? Haben Sie die Vorausset-
zungen dafür geschaffen, dass wir europäische Gelder
bekommen? Auch Sie wissen, dass viele Orte von der
EU-Strukturpolitik nicht mehr berücksichtigt werden.
Die Bundesrepublik West fällt in Zukunft fast ganz he-
raus.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf
noch einen Punkt herausgreifen: den Verkauf von Im-
m
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1513816800
Als einer Ihrer Beamten an den ehemali-
gen Bundeswehrstandort Kötzting, unmittelbar an der
Grenze, kam, erwähnte er die Preise, die in Pullach bei
München erzielt würden, und meinte, diese könne er
auch in Kötzting erreichen. Zu geringeren Preisen ver-
kaufe man nicht; man gebe die Immobilien nicht verbil-
ligt an die Kommune ab. – Wir fordern ganz konkret,
dass bei diesen Verhandlungen über Immobilien die
Schwerfälligkeit der Behörden abgeschafft wird. Die
Verhandlungen dürfen nicht so langwierig geführt wer-
den. Vor allem muss die Preisgestaltung praxisnah – an-
hand der örtlichen Verhältnisse – erfolgen.

Herr Kollege Nachtwei, Ihren Vorschlag, einen An-
sprechpartner entweder im Wirtschaftsministerium
oder im Verteidigungsministerium zu benennen, halte
ich für gut. Darüber sollte man diskutieren. Ein solcher
Ansatz kann helfen. Zur Lösung der Probleme vor Ort
benötigen die Kommunen beim Bund einen konkreten
Ansprechpartner.

Meine Damen und Herren, der Antrag der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion enthält ganz konkrete Vorschläge.
Ein solcher Antrag ist 1991 von der SPD gestellt wor-
den.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Und er ist verfolgt worden!)


Die gesamte heutige Spitze des Verteidigungsministeri-
ums hat diesen Antrag unterschrieben. Stellen Sie sich
doch hinter diese Forderungen und unterstützen Sie sie!

Die damalige Bundesregierung hat gehandelt. Sie hat
wirklich etwas für die Konversion der Bundeswehr-
standorte getan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung.

Dieser Antrag bedeutet keine Zustimmung der Opposi-
tion bzw. meiner Fraktion zu dieser Reform der Bundes-
wehr. Sie wirft noch ganz erhebliche Probleme auf. Aber
eines ist klar: Der Bund kann sich nicht aus der Verant-
wortung stehlen. Er muss handeln, und zwar sofort.

Danke fürs Zuhören.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Hofbauer


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513816900

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer für

die SPD-Fraktion.


Rolf Kramer (SPD):
Rede ID: ID1513817000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jetzige
Standortentscheidung des Verteidigungsministers mit
der angekündigten Schließung von 105 Standorten der
Bundeswehr bis zum Jahre 2010 ist ganz zweifellos ein
gravierender Einschnitt. Aber dieser Einschnitt ist vor
dem Hintergrund der sich verändernden sicherheitspoli-
tischen Rahmenbedingungen notwendig geworden. Die-
ser neuen Ausgangslage muss sich auch die Bundeswehr
anpassen, um das veränderte Aufgabenspektrum und die
gestiegenen internationalen Verpflichtungen abzude-
cken. Wir werden feststellen, dass dann, wenn die Re-
form beendet ist, die Bundeswehr mehr Fähigkeiten ha-
ben wird als bisher.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


War zu Zeiten des Kalten Krieges eine breit aufge-
stellte, in der Fläche dislozierte und hauptsächlich auf
die Panzerwaffe gestützte Bundeswehr zur Erfüllung der
ihr gestellten Aufgaben erforderlich, so hat sich dies spä-
testens seit dem Fall der Mauer vor nunmehr 15 Jahren
entscheidend geändert. Alle Verteidigungsminister seit
1990 haben in ihrer jeweiligen Amtszeit nicht nur einen
Umbau der Bundeswehrstrukturen eingeleitet, sondern
auch eine Reduzierung der Anzahl der Bundeswehrange-
hörigen sowie der Standorte vorgenommen. Ich darf nur
daran erinnern, dass von ehemals rund 670 000 deut-
schen Soldaten und mehr als 230 000 Zivilbeschäftigten
in Zukunft 250 000 Soldaten und 75 000 Zivilbeschäf-
tigte übrig bleiben.

Die Konfrontation der Blöcke ist beendet, die be-
fürchteten Panzerschlachten in der norddeutschen Tief-
ebene drohen nicht mehr.


(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann brauchen wir auch keine Wehrpflicht mehr!)


– Das sagen Sie, Herr Nolting; darüber werden wir dann
reden. – Ich denke, man sollte sich häufiger die gute
Nachricht vergegenwärtigen, dass wir in Deutschland in
einem sicherheitspolitisch guten Umfeld leben.

Herr Carstensen, Sie äußern, dass Schleswig-Hol-
stein von der Schließung der Standorte ganz besonders
stark betroffen sei. Ich sage Ihnen und allen, die das
noch nicht gelesen haben: Ja, die Schließung der Stand-
orte in Schleswig-Holstein ist beschlossen; zwei Stand-
orte mit über 1 000 Dienstposten, sechs Standorte mit elf
bis 100 Dienstposten usw. werden gestrichen. Sie haben
aber nicht gesagt, Herr Carstensen, dass Schleswig-Hol-
stein nach wie vor das Ranking der Stationierungsdichte
anführt.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Völlig korrekt! Aber es ist doch richtig, dass wir 8 600 Dienstposten verlieren!)


Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Dienstposten je
1 000 Einwohner, in Schleswig-Holstein sind es nach
wie vor 9,1 Dienstposten je 1 000 Einwohner. Damit
führen Sie die Hitliste in Deutschland an.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Sollen wir uns dafür bedanken, dass es nicht mehr geworden sind?)


– Ich finde schon, dass Sie sich dafür bedanken können,
dass Schleswig-Holstein im Bundesdurchschnitt nach
wie vor sehr gut dasteht.

An dieser Stelle darf auch gesagt werden: Die bisher
schon stattgefundene Reduzierung der Bundeswehr war
eine große Leistung. Wir haben im Augenblick etwa
280 000 Dienstposten militärischer Art und 110 000 zi-
vile Dienstposten. Diese große Leistung ist dem Engage-
ment der Beschäftigten der Bundeswehr zu verdanken.
In den letzten 15 Jahren hat sich die Struktur der Ver-
teidigung gewandelt, von der Heimatverteidigung hin
zu internationalen Verpflichtungen im Rahmen von
UNO und NATO, einschließlich der Auslandseinsätze.
Die Zahl der Auslandseinsätze nimmt zu und wird leider
auch in Zukunft weiter zunehmen. Seit dem 11. Septem-
ber 2001 hat diese Entwicklung eine neue Qualität be-
kommen, auf die der Bundesminister der Verteidigung
mit dem Erlass der Verteidigungspolitischen Richtlinien
im Mai letzten Jahres angemessen und auf die Zukunft
ausgerichtet reagiert hat.

Die von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, kritisierte Entscheidung zur Statio-
nierung der Bundeswehr setzt diesen 2003 eingeleiteten
Transformationsprozess konsequent fort. Die Maßstäbe
dieser Entscheidung waren allerdings erstmals rein mili-
tärisch und betriebswirtschaftlich begründet. Angesichts
der allgemeinen Lage der öffentlichen Haushalte, nicht
nur des Einzelplans 14, ist dies ein aus meiner Sicht un-
umgängliches und zugleich transparentes Verfahren.
Die Einsparungen im Bereich der Personalausgaben und
der Betriebskosten sind erforderlich, um die notwendi-
gen Beschaffungsinvestitionen im Bereich der Bundes-
wehr finanzieren zu können.

Wir sind uns doch alle einig, dass der investive Anteil
am Verteidigungshaushalt ansteigen muss, meine sehr
verehrten Damen und Herren. Eine wichtige Wegmarke
in Bezug auf dieses Ziel ist die Anpassung der Standorte
an die aufgeführten Notwendigkeiten. Mit der Auftei-
lung in 35 000 Eingreifkräfte, 70 000 Stabilisierungs-
kräfte und 106 000 Unterstützungskräfte sowie 75 000 zi-
vile Beschäftigte ist die Bundeswehr für die jetzt
bekannten Herausforderungen in Zukunft gut und ver-
nünftig aufgestellt. Diese Größe und die neuen Aufga-
ben sind die Grundlage für die Dislozierung in der Flä-
che.

Die am 2. November vom Minister vorgestellten
Standortschließungen wie auch die Reduzierungen sind
für die betroffenen Regionen teilweise hart und sicher-
lich in vielen Fällen nur schwer zu verkraften. Das steht






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Kramer

außer Frage. Im Zweifelsfall – das ist nur zu verständ-
lich – sind jede Reduzierung und vor allem jede Stand-
ortschließung für die Betroffenen von Nachteil.

Auch die Klagen der betroffenen Kommunen waren
in der Vergangenheit und sind auch heute aus ihrer je-
weiligen Sicht sicherlich begründet. Diese Kommunen
haben einen Anspruch darauf, nicht allein gelassen zu
werden.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Dann mal los!)


Die negativen Folgen müssen – hier sind alle Beteiligten
in der Pflicht – so weit wie möglich abgemildert werden.

Im Rahmen ihrer Möglichkeiten und einer guten Zu-
sammenarbeit mit den Kommunen wird die Bundeswehr
ihren Beitrag hierzu leisten, wie es auch schon in der
Vergangenheit geschehen ist. Die in einigen Bundeslän-
dern eingerichteten Konversionsarbeitsgruppen leisten
hier bereits eine gute Arbeit. Diese Verantwortung wird
aus unserer Sicht von den Ländern allerdings sehr unter-
schiedlich wahrgenommen.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle als niedersächsi-
scher Bundestagsabgeordneter einen Appell an die
CDU-geführte Landesregierung in Hannover: Stellen Sie
sich Ihrer Verantwortung gegenüber den betroffenen
Kommunen und nehmen Sie die Streichung der Konver-
sionsmittel zurück!


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt ruft ihr: Haltet den Dieb!)


Die Forderungen aus der CDU-Landtagsfraktion in Han-
nover nach einem vom Bund finanzierten Konversions-
programm sind angesichts dieser Streichung einfach nur
billige Polemik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Guckt bitte nach, was in anderen Ländern an Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe abgerufen wird!)


Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die
durch die Standortentscheidung betroffenen Angehöri-
gen der Bundeswehr eingehen. Ich – wie auch der Ver-
teidigungsminister – verkenne nicht, dass dieser Trans-
formationsprozess, verbunden mit einem Abbau der
Truppenstärke, oft persönliche Härten für die Soldatin-
nen und Soldaten, für die Zivilbeschäftigten und auch
deren Angehörige nach sich zieht. Das war allerdings bei
allen Standortentscheidungen seit 1990 der Fall. In all
diesen Fällen hat das Verteidigungsministerium die Fol-
gen der Veränderungen durch geeignete Personalmaß-
nahmen und durch entsprechende tarifvertragliche Ver-
einbarungen geregelt und aufgefangen.

Es hat bisher keine betriebsbedingten Kündigungen
gegeben. Das wird auch in Zukunft so sein. Die Zusage
des Ministers steht. Auch die insgesamt gesehen ver-
nünftige und attraktive Möglichkeit des frühen Aus-
scheidens aus dem Arbeitsleben wird ganz sicherlich
verlängert werden. Die Angehörigen der Bundeswehr
können den Aussagen ihres Ministers vertrauen. Einer
erneuten Aufforderung durch den Bundestag, die Be-
lange der Bundeswehrangehörigen zu berücksichtigen,
wie im CDU/CSU-Antrag populistisch gefordert, bedarf
es aus unserer Sicht nicht. Dies ist seit langem Wirklich-
keit.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513817100

Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1513817200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bundesverteidigungsminister Struck will 105 Standorte
der Bundeswehr schließen. Schon sein Vorgänger, Bun-
desminister Scharping, hatte 76 Filialen geschlossen.
Ginge es um systematische Abrüstung: Die PDS im
Bundestag würde diesen Schließungen sofort zustim-
men.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Aber das Gegenteil ist der Fall. Es geht um Umrüs-
tung. Die Bundeswehr wird zu einer Interventionsarmee
umgebaut. Die Landesverteidigung rückt ins dritte
Glied. Stattdessen soll die Bundeswehr weltweit agieren.
Insofern, Herr Kollege Nachtwei, haben Sie ein wahres
Wort gesprochen. Fürwahr, es ist eine ganz radikale Re-
form.

Das widerspricht allerdings dem Grundgesetz.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe gesagt: im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen!)


Aber es ist inzwischen Programm aller im Bundestag
vertretenen Parteien, ausgenommen die PDS. Wir blei-
ben bei unserem Nein. Wir wollen stattdessen eine wirk-
liche Abrüstung, wozu im Übrigen auch die Abschaf-
fung der Wehrpflicht gehört.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Nun befürchten viele Städte und Gemeinden, die von
einem Abzug der Bundeswehr betroffen werden, dro-
hende Bedeutungs-, Steuer- und Kaufkraftverluste. Da-
rauf komme ich gleich zurück.

Es gibt aber auch Regionen, in denen gegen den Wil-
len der Landesregierung, gegen den Willen der Land-
kreise und gegen den Willen der Bürgerinnen und Bür-
ger aufgerüstet wird. Ich nenne zum Beispiel die Kyritz-
Ruppiner Heide, wo das so genannte Bombodrom unbe-
irrt wieder in Betrieb genommen werden soll, diesmal
für die NATO. Ich warte insofern immer noch sehr ge-
spannt auf Ihren im Brandenburger Wahlkampf so voll-
mundig angekündigten Gruppenantrag, der das verhin-
dern soll, Kollege Nachtwei.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] – Winfried Nachtwei [BÜND Petra Pau NIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Bange! Ist unterwegs! Gut Ding will manchmal Weile haben!)





(A) (C)


(B) (D)


Als die Bürgerrechts- und Friedensbewegung der
DDR seinerzeit mit der Forderung „Schwerter zu Pflug-
scharen“ auftrat, war ihr der Beifall aus der alten Bun-
desrepublik gewiss. Nun wendet die neue Bundesrepu-
blik zum Beispiel in der Kyritz-Ruppiner Heide das
Friedenssymbol: Sie macht aus Pflugscharen Schwer-
ter – und das unter Federführung von SPD und Grünen.

Nun zu den Sorgen der betroffenen Standorte. Sie
sind berechtigt. Berechnungen besagen: Je sieben Solda-
ten, die abgezogen werden, kosten die heimische Wirt-
schaft einen Arbeitsplatz. Bundesweit geht es bei dieser
Strukturreform um Zigtausende zivile Arbeitsplätze. In
manchen Garnisonsorten geht es dann ans Eingemachte.

Nun höre ich vom Bundesverteidigungsminister, er
entscheide streng nach militärischen Gesichtspunkten
und nach Effektivitätskriterien der Bundeswehr, für die
regionale Entwicklung sei er nicht zuständig. Auf den
ersten Blick mag das einleuchten. Aber er ist auch Be-
standteil der Bundesregierung, die eine Gesamtverant-
wortung hat und nicht nur für den militärischen Teil zu-
ständig ist.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Die PDS erwartet, dass die betroffenen Regionen mit
den Umstrukturierungsproblemen nicht allein gelassen
werden. Insofern teilen wir das Anliegen des CDU/CSU-
Antrages; es kommt ja nicht oft vor, dass PDS und CDU/
CSU übereinstimmen.

Noch ein kleiner Tipp für den Staatssekretär. Die An-
frage des PDS-Abgeordneten André Brie an den zustän-
digen EU-Kommissar hat bestätigt, dass die Europäische
Union umfangreiche Fördermittel für Konversionspro-
gramme zur Verfügung stellt. Die sind aber an die Be-
dingung geknüpft, dass es auch entsprechende nationale
Programme gibt, die die betroffenen Städte und Kommu-
nen fördern. Sie können solche Programme nicht den
Kommunen und den Ländern aufbürden, die ohnehin
klamm sind.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513817300

Ich erteile das Wort der Kollegin Anita Schäfer, CDU/

CSU-Fraktion.


Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1513817400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre

nach ihrer Aufstellung steht die Bundeswehr vor ihrer
Neugründung. Anders kann man den Vorgang nicht be-
zeichnen, den die Bundesregierung Transformation
nennt. Sicher, die weltpolitische Situation hat sich
grundlegend geändert. Die Ausrichtung auf neue Be-
drohungsszenarien ist unumgänglich. Es steht also
nicht das Ob zur Debatte, sondern das Wie.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Aber dieses Wie wird immer fraglicher. Erst gestern ha-
ben wir erfahren, dass der Verteidigungsetat nochmals
vom Finanzminister gekürzt wird. Bei dieser Regierung
sind die Gläser nicht halb voll; sie sind leer.

Wir alle hier in diesem Hause haben zwei epochale
politische Zäsuren erlebt: den Zusammenbruch des War-
schauer Paktes und den terroristischen Angriff auf die
Vereinigten Staaten. Waren diese Ereignisse vorherseh-
bar? Nein. Heute kämpfen deutsche Spezialeinheiten am
Hindukusch, sichern Tausende Soldaten die Demokrati-
sierung Afghanistans, steht die Bundesmarine im Indi-
schen Ozean.

Daraus sollten wir die Lehre ziehen: Nichts ist vor-
hersehbar. Wer in unseren Tagen Heimatschutz und
Bündnisverteidigung als wichtige Pfeiler einer verant-
wortungsvollen Vorsorgepolitik abschafft, hat sicher-
heitspolitisch nichts gelernt. Er verstößt aber auch gegen
das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Die Attentate
in Madrid haben uns deutlich vor Augen geführt, dass
auch wir in Europa nicht vor Anschlägen sicher sein
können.

Sicherheit erfordert aber Investitionen. Als die Kol-
legen von der SPD noch in der Opposition waren, haben
sie ständig davor gewarnt, den Verteidigungshaushalt zu
einem Steinbruch zu machen. Die Genossen haben es als
Regierung heute sogar fertig gebracht, den Steinbruch
der Bundeswehr fast leer zu räumen. Ihr Konzept lebt
von der Hand in den Mund. Es ist ohne Weitblick. Es ist
– so wie Ihre ganze Bundeswehrplanung – nicht an den
möglichen Bedrohungsszenarien ausgerichtet.

Lassen Sie mich nur zwei Fragen stellen, die zeigen,
wie riskant Ihr Konzept ist: Die ABC-Abwehrtruppe
wird um zwei aktive Bataillone reduziert. Wie wollen
Sie mit den verbliebenen Kräften alle – zwar nicht wün-
schenswerten, aber möglichen – Szenarien bewältigen?
Wenn sich ein Einsatz wie der in Kuwait wiederholt,
dann stünde fast die Hälfte der deutschen ABC-Abwehr-
truppe im Ausland. Zu eventuell notwendigen Hilfeleis-
tungen im Inland wäre die Bundeswehr nicht mehr in der
Lage. Der derzeit für die Soldaten bestehende Rhythmus
eines Zweijahreseinsatzes wäre eine Utopie. Sieht so
eine umsichtige Planung aus?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei den Standortschließungen bleibt so manches im

Unklaren. Die Jägerbrigade 37 bleibt bestehen. Ihre bei-
den Jägerbataillone aber verschwinden. Mit 1 400 Sol-
daten liegt der moderne Standort Schneeberg weit über
der neuen Durchschnittsgröße von 900 Soldaten. Ge-
birgsjäger sind schon heute im Rahmen der Auslands-
einsätze besonders wichtig. Warum also wird dieser
Standort geschlossen? In Rheinland-Pfalz trifft es den
Heeresfliegerstandort Mendig. Kein Einsatz läuft ohne
Heeresflieger ab. Sie sind ein Stück Zukunft. Der Flie-
gerhorst Mendig wurde mit Millionensummen auf den
neuesten Stand gebracht. Der Minister soll den Soldatin-
nen und Soldaten in Mendig einmal erklären, warum
dieser Standort geschlossen wird.






(A) (C)



(B) (D)


Anita Schäfer (Saalstadt)



(Beifall bei der CDU/CSU)


Es gibt viele solcher Fragen, die zeigen, dass es die-
sem Konzept an weitsichtiger Planung fehlt. Dass der
Verteidigungsminister noch vier Stützpunkte für zivilmi-
litärische Zusammenarbeit erfunden hat, ist nur ein Fei-
genblatt, gewährleistet im Notfall aber nicht den Schutz
der Bevölkerung. Wir haben es also mit einem Streich-
konzert zu tun, bei dem längst nicht mehr der Verteidi-
gungsminister, sondern der bankrotte Finanzminister den
Taktstock schwingt,


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr wahr! Genauso ist es!)


einem Konzert, das schwere Auswirkungen auf die Bun-
deswehr und die betroffenen Gemeinden hat.

Die Gemeinden haben in der Vergangenheit Geld in
die Infrastruktur gesteckt, die von den Soldatinnen und
Soldaten gebraucht wurde. Mit dem Abzug der Soldaten
verlieren die Gemeinden Einwohner, also Kaufkraft.
Gleichzeitig gehen auch noch viele Arbeitsplätze verlo-
ren. Diese dramatischen Standortschließungen finden in
einer Zeit statt, in der sich Deutschland in der tiefsten
Strukturkrise der Nachkriegszeit befindet. Insbesondere
die strukturschwachen Regionen sind von einer mehrjäh-
rigen ökonomischen Talfahrt betroffen. Besonders
schmerzlich vermissen wir, dass die Standortschließun-
gen in Deutschland entgegen der Aussage des Bundes-
ministers der Verteidigung nicht mit den Amerikanern
abgestimmt wurden. Ich befürchte daher schon heute,
dass manch eine Gemeinde doppelt betroffen sein wird.

Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierung,
ich prophezeie Ihnen, dass Sie Ihre Verweigerung nicht
durchhalten werden und am Ende doch Konversions-
hilfe leisten werden. Im Jahre 1991 haben Sie von der
SPD in einer ähnlichen Situation vehement gefordert,
auf strukturschwache Regionen besonders Rücksicht zu
nehmen. Wir als Union haben uns schon damals unserer
Verantwortung als Regierung gestellt. Die Menschen in
Schneeberg, Mendig und anderswo können jetzt erken-
nen, wie treu die SPD zu ihren Forderungen von damals
steht.

Deshalb ist es besonders wichtig, dass den betroffe-
nen Soldaten und den zivilen Mitarbeitern so schnell wie
möglich verlässlich mitgeteilt wird, wann genau ein
Standort geschlossen wird. Herr Staatssekretär, Sie ha-
ben eine besondere Fürsorgepflicht für die Menschen in
der Bundeswehr. Werden Sie ihr gerecht und schaffen
Sie für die Ihnen anvertrauten Menschen eine verlässli-
che Perspektive.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Kollege Hofbauer hat die Notwendigkeit unseres An-

trags klar dargelegt. Daher möchte ich nur eines ergän-
zen: Der Verteidigungsminister sollte nicht die unmögli-
che GEBB beauftragen; denn sie kostet nur Geld,
verkauft aber fast keine Liegenschaft.

Zum Schluss meiner Rede möchte ich die Abgeordne-
ten der Regierungsfraktionen auffordern: Stehen Sie zu
Ihren früheren Forderungen, unterstützen Sie unseren
vorliegenden Antrag und helfen Sie den betroffenen Ge-
meinden!

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Letztere wollen wir auch!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513817500

Nächster Redner ist der Kollege Christian Müller,

SPD-Fraktion.


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1513817600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Bedeutung der Bundeswehrreform und ihre Fol-
gen sind zu Recht von allen Seiten diskutiert und be-
leuchtet worden. Insgesamt ist das ein sehr ernstes
Thema, über das auch ernsthaft diskutiert wird. Lassen
Sie mich deswegen unterstreichen, dass es für keine Re-
gion leicht ist, mit den Folgen eines tief greifenden
Strukturwandels gleich welcher Art fertig zu werden.
Hierzu liegen aus den letzten 14 Jahren – nicht nur, aber
vor allem auch aus den ostdeutschen Regionen – um-
fangreiche Erfahrungen vor. Das gilt insbesondere für
die Folgen der Schließung von Bundeswehrstandorten,
die jetzt ansteht.

Strukturpolitische Herausforderungen infolge Kon-
version stehen allerdings in einer Reihe mit den Folgen
der Globalisierung, dem überregionalen Wettbewerb der
Standorte, dem Standortwettbewerb innerhalb der Euro-
päischen Union und dem Strukturwandel im ländlichen
Raum und anderswo. Auch angesichts der noch nicht be-
hobenen wirtschaftlichen Defizite in Ostdeutschland
bleibt dies ein ernstes Thema. Allerdings tritt keines die-
ser Probleme für sich allein auf. Folglich ist ihnen auch
nicht mit der gelegentlichen Auflage einzelner Sonder-
programme zu begegnen. Mit anderen Worten: Wir müs-
sen die vorhandenen Instrumente und Programme – so
sie denn noch greifen – nutzen und vernünftig miteinan-
der kombinieren. Natürlich ist die Frage, ob eine schwa-
che Region den Strukturwandel aus eigener Kraft zu-
wege bringt, durchaus berechtigt, wenngleich dafür nach
dem Grundgesetz auch ihr Bundesland zuständig und
verantwortlich ist. Deswegen halte ich es für sehr sinn-
voll, dass Bund und Länder eine verstärkte Verantwor-
tung für Moderation, Koordinierung und Begleitung des
Strukturwandels in den Regionen übernehmen.

Ich will unterstreichen, was unser Kollege Staffelt
ausführlich dargestellt hat: dass wir zurzeit noch über ein
bewährtes strukturpolitisches Instrumentarium verfügen,
das wir zur Anwendung bringen können. Die Gemein-
schaftsaufgabe ist in ihrer Bedeutung bereits gewürdigt
worden. Sie wird, wie Sie wissen, seit 2001 von den Mi-
nisterpräsidenten offensiv infrage gestellt, was im Übri-
gen im Kontrast zu den Ansichten der Wirtschaftsminis-
ter der Bundesländer steht, die nach wie vor etwas von
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ halten.

Es ist schon auf die Verhandlungen zur Entflechtung
der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern






(A) (C)



(B) (D)


Christian Müller (Zittau)


hingewiesen worden. Das halte ich persönlich für ein
sehr sorgenvolles Thema und deswegen hielte ich etwas
davon, wenn wir alle gemeinsam darauf achten würden
– auch dort, wo man Einfluss auf ein jeweiliges Bundes-
land ausüben kann –, dass uns bewährte, bundesweit
gültige, vor allen Dingen regelgebundene Systeme wie
die Gemeinschaftsaufgaben nicht abhanden kommen.
Denn ich glaube nicht, dass wir ohne sie künftig besser
fahren würden oder besser fahren könnten, auch wenn
das einige in dieser Republik offenbar glauben.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513817700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Günther?

Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1513817800

Ja, bitte schön.

Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1513817900

Herr Kollege Müller, Sie sprachen gerade von Ein-

flussnahme und von Strukturwandel in den Regionen.
Welchen Einfluss haben Sie denn als Sachse darauf ge-
nommen, dass zum Beispiel in Schleswig-Holstein, wie
wir gehört haben, 9,1 Soldaten auf 1 000 Einwohner
kommen, in Sachsen nach dem Standortabbau in einer
der schwächsten Regionen aber nur noch 1 Soldat auf
1 000 Einwohner kommen wird?


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1513818000

Wissen Sie, wir führen hier nicht zum ersten Mal eine

Debatte, die zugleich Standortentscheidungen in der Ver-
teidigungspolitik und ihre strukturpolitischen Folgen
zum Gegenstand hat. Die letzte solcher Debatten war
eine intensive bayerische Debatte: Bayern glaubte da-
mals, besonders benachteiligt zu werden. Lieber Kol-
lege, ich finde, das führt am Ende zu nichts, weil sich so
präzise, dass überall in etwa die gleiche Zahl Soldaten
pro Einwohner herauskäme und die Folgen überall
gleich wären, wohl nicht planen lässt. Insofern geht
diese Diskussion eher an der Realität vorbei; es tut mir
Leid.


(Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Damit ist meine Frage nicht beantwortet!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513818100

Herr Kollege, nun möchte auch die CDU/CSU-Frak-

tion in Gestalt des Kollegen Schindler Ihre Redezeit ver-
längern.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1513818200

Ja, bitte schön, gerne.

Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1513818300

Die Gestalt ist ja in Ordnung, Herr Präsident. – Herr

Kollege Müller, es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie
die Föderalismusdiskussion, von deren Vorschlägen
noch keiner Gesetzeskraft hat, jetzt als Entschuldigung
hernehmen für etwas, wofür andere die Verantwortung
zu tragen haben. Nehme ich einen Standort wie Baum-
holder, der sozusagen übermorgen tot wäre – da sollen
die Lichter ausgehen; diese Entscheidung trifft der
Bund –, dann ist bei aller Freude über die Rückführung
der militärischen Gewaltpotenziale, die wir Gott sei
Dank nicht mehr brauchen, meine Frage an Sie: Was ge-
staltet der Bund als Ausgleich und als Fördermaßnahme
für solche Regionen? Diese Antwort sind Sie in der De-
batte bis heute schuldig geblieben. Haben Sie darauf
eine Antwort?


Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1513818400

Ich persönlich werde Ihnen diese umfängliche Ant-

wort so nicht geben können, weil sie eine gemeinsame
Antwort sein muss – vom Bund und den Ländern. Mit
meinem Hinweis auf die Föderalismusdiskussion wollte
ich auf die Gefahr aufmerksam machen, dass wir künftig
viel schlechter auf solche Dinge reagieren könnten.
Wenn der Bund nicht mehr in der strukturpolitischen
Verantwortung wäre, sondern nur noch die Länder, wie
wollten wir als Bundestagsabgeordnete dann in unseren
Regionen auftreten? Wir müssten sagen: Tut uns Leid,
das geht uns nichts mehr an. Darüber nachzudenken war
mein Plädoyer. Denn wir können immer wieder Struk-
turwandel bekommen, egal ob durch Konversion bedingt
oder aus anderen Gründen. Wir sollten die Instrumente,
die uns zur Verfügung stehen, in der Zukunft nicht ver-
lieren. Darum geht es mir; vielen Dank.

Daran anknüpfend dürfte es sehr wichtig sein, dass
wir uns in den nächsten Jahren alle zusammen etwas
mehr Gedanken darüber machen müssen, wie es zusam-
menpasst, dass es auf der einen Seite einen sich be-
schleunigenden Strukturwandel gibt und dass wir auf der
anderen Seite die entsprechenden regionalpolitischen
Handlungsmöglichkeiten und Instrumente nicht zuletzt
auch wegen der europäischen Entwicklung und des
Wirkens der Kommission in Brüssel vielleicht nicht
mehr in der Hand haben könnten. Das heißt also, künf-
tig, ab 2007, geht es darum, dass wir die regionalpoliti-
schen Instrumente beihilferechtlich absichern müssen.
Wenn wir dies nicht mehr können, verlieren wir an die-
ser Stelle natürlich Möglichkeiten. Deswegen unterstüt-
zen wir die Bundesregierung dabei, Spielräume für eige-
nes regionalpolitisches Handeln zu behalten.


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wird noch mehr abgebaut?)


– Wir können uns ja hinterher noch ein bisschen unter-
halten. Also bitte, ich rede jetzt doch nicht über den Ab-
bau der Bundeswehr. Ich rede über Regionalpolitik und
Strukturpolitik. Das sind ja wohl Facetten dieses The-
mas.


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das hörte sich anders an! Das war am Thema vorbei!)


Ich bin der Meinung, dass Erfolge bei der Regional-
entwicklung und natürlich auch bei der Konversion am
besten und am ehesten durch eine vernünftige regionale
Koordinierung auf Projektebene erreichbar sind, so-
dass erkennbaren Mängeln beim Zusammenführen der
raumwirksamen Politiken des Bundes und der Länder
begegnet werden kann. Dass wir die Instrumente leis-
tungsfähig erhalten müssen, ist heute schon angeklun-






(A) (C)



(B) (D)


Christian Müller (Zittau)


gen. Das ist ebenfalls kein einfaches Thema. Mit Blick
auf Ihre Anträge sage ich: Sie gehen damit natürlich an
der Wirklichkeit Ihrer eigenen haushalts- und finanzpoli-
tischen Vorstellungen vorbei, weil Sie in diesen Anträ-
gen überhaupt nicht erklären, wie Sie das mit Ihrer ge-
planten Politik der Steuersenkung und Ihrer Form von
Haushaltskonsolidierung verbinden wollen.

Insofern können wir diese bedauerlicherweise nur ab-
lehnen. Die Lösung sind also nicht neue Programme.
Nur die bessere Koordinierung der vorhandenen und be-
währten strukturpolitischen Instrumente kann es sein.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513818500

Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Günter

Baumann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1513818600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Antrag der CDU/CSU hat für die Kaser-
nenschließungen in den neuen Bundesländern eine ganz
besondere und existenzielle Bedeutung, weil die Lage
dort noch ein ganzes Stück komplizierter ist. Ich möchte
versuchen, dies an einem ganz konkreten Beispiel darzu-
stellen, nämlich an Schneeberg im Freistaat Sachsen.

In Schneeberg gibt es gegenwärtig über 1 500 Dienst-
posten. Diese fallen nach den Plänen des Ministers weg.
Dadurch ginge Kaufkraft verloren. Die heimische Wirt-
schaft verlöre ihren größten Auftraggeber im Ort. Circa
100 Betriebe wären betroffen und Kündigungen wären
die Folge. Es gibt ein Studie der TU Dresden, nach der
man 200 Millionen Euro investieren müsste, wenn man
diese Verluste kompensieren wollte. Das ist in dieser
Grenzregion in Sachsen illusorisch. Kurzum: Für die
Region Schneeberg mit bereits jetzt 20 Prozent Arbeits-
losigkeit wäre die Schließung der Kaserne ein wirt-
schaftliches Desaster. Es wäre aber zusätzlich ein demo-
graphisches Desaster, weil die Abwanderung der jungen
Menschen aus dieser Region bereits jetzt sehr stark ist
und sich noch weiter verstärken würde.

Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt, dass er
nicht für die Infrastruktur zuständig ist. Das mag richtig
sein. Das Problem ist aber, dass man nicht weiß, wer in
der Bundesregierung wirklich für die Infrastruktur zu-
ständig ist. Nicht einmal der Minister für den Aufbau
Ost hat hierauf eine Antwort gegeben. Von Herrn Stolpe
war auch nichts zu hören, als der Verteidigungsminister
am 2. November 2004 in einer Pressekonferenz meinte,
dass nicht der Bund, sondern allein die Wirtschaftsmi-
nister der Länder für entsprechende Kompensationen
sorgen sollten.

Herr Staatssekretär Staffelt, der Hinweis in Ihrer Rede
auf die GA-Mittel kann angesichts der Diskussion, die
wir gegenwärtig führen, nicht als ernste Alternative an-
gesehen werden.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


In einer Region, die nicht einmal in der Lage ist, Eigen-
anteile zu beschaffen – ich nenne als Beispiel die Stadt
Zeithain, die vor zwei Jahren vom Hochwasser fast zer-
stört wurde –, kann der Hinweis, mit GA-Mitteln etwas
aufzubauen, nicht ernst genommen werden. Woher sollte
eine Stadt wie Zeithain, die stark vom Hochwasser 2002
zerstört wurde, die Eigenanteile für eine GA-Förderung
nehmen?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihr zweiter Vorschlag, die Mittel aus der Erhöhung

der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte, die 1993 be-
schlossen worden ist, zu nutzen, kommt ebenfalls nicht
in Betracht, weil dieses Geld – ich glaube, das wissen
wir alle – zur Finanzierung der deutschen Einheit ge-
dacht war, nicht um in irgendeiner Form die Schließung
von Bundeswehrstandorten auszugleichen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist falsch! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch gewesen!)


– Darüber können wir diskutieren.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, darüber kann man nicht diskutieren!)


Das Stationierungskonzept, das gegenwärtig vorliegt,
ist auch militärisch sehr fragwürdig und haushaltspoli-
tisch ein Fall für den Bundesrechnungshof. Exakte Zah-
len zur Wirtschaftlichkeit – das ist heute auch schon ge-
sagt worden – und eine überzeugende militärpolitische
Begründung zu den Schließungsabsichten blieb auch
Herr Staatssekretär Wagner am Mittwoch in der Frage-
stunde schuldig. Er hat auf diese Fragen keine Antwor-
ten geben können.

Wie fragwürdig das Konzept ist, zeigt sich ebenfalls
bei dem Gebirgsjägerbataillon am Standort Schnee-
berg. Erstens. Die überwiegend aus Sachsen stammen-
den Soldaten dürfen sich spätestens seit ihrem Einsatz in
Afghanistan zur militärischen Elite in unserer Armee
zählen. Zweitens. Seit 1991 sind in diesen Standort – das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen –
über 60 Millionen Euro investiert worden. Im Jahr 2001
hat der Verteidigungsminister Scharping nach einer Prü-
fung festgelegt, Schneeberg bleibt erhalten und es wird
weiter investiert. Von 2001 bis heute, und zwar auch
noch in diesem Jahr, sind über 20 Millionen Euro inves-
tiert worden.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das muss die Jahrhundertreform von Herrn Scharping gewesen sein, die gerade einmal zwei Jahre gehalten hat!)


In Schneeberg steht eine der modernsten Kasernen der
Republik. Diese zu schließen ist auch vor dem Hinter-
grund der Finanzlage in Deutschland keinem Bürger
mehr zu vermitteln.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Günter Baumann

Die Kollegin Schäfer wies bereits darauf hin – ich

möchte es noch einmal unterstreichen –, dass die Auflö-
sung des Standortes Schneeberg auch die Ressourcen
des Heimatschutzes empfindlich treffen würde. Die
Schneeberger Soldaten haben sich bereits im zivilen Ka-
tastrophenschutz als starke Truppe bewährt. Ich erinnere
an das Hochwasser der Oder 1997 oder 2002 in Sachsen.
Der Einsatz war hier in einer sehr kurzen Reaktionszeit
möglich. Soldaten von Truppen aus anderen Bundeslän-
dern hätten nicht das erreichen können, was Schneeber-
ger Soldaten in Sachsen durch ihren schnellen Einsatz
ermöglicht haben.

Nicht nur die Auflösung des Standortes Schneeberg
würde das zeitnahe Heimatschutzkonzept der Bundeswehr
erheblich schwächen. Nach den Plänen des Verteidigungs-
ministers wird, wenn die Schließung umgesetzt wird,
Sachsen nur noch 1,1Dienstposten auf 1 000 Einwohner
haben. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Dienstpos-
ten. Von den zehn größten Schließungen in der Bundes-
republik sind drei in Sachsen vorgesehen: Schneeberg,
Zeithain und Leipzig.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Das ist ungeheuerlich! – Pfui!)


Nennen Sie uns eine einzige Begründung, warum diese
großen Schließungen in Sachsen stattfinden sollen und
Sachsen dann mit 1,1 Dienstposten weit unter dem Bun-
desdurchschnitt liegen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sachsen ist in den vergangenen Wochen als einziges

Land dafür gelobt worden, dass die Mittel aus dem Soli-
darpakt ausschließlich für Investitionen eingesetzt wor-
den sind. Ausgerechnet dafür wird Sachsen gegenwärtig
am härtesten getroffen. Seine Bürger empfinden dies
nach den Anstrengungen, die sie in den letzten 15 Jahren
vollbracht haben, als – ich sage das einmal so – Strafe.

Ich appelliere an den Bundesverteidigungsminister:
Wenn Sie schon die Gebirgsjäger nicht am Standort
Schneeberg lassen wollen – aus welchen Gründen auch
immer –, dann denken Sie bitte über eine militärische
Nutzung für andere Einheiten nach, um die
60 Millionen Euro Steuergelder nicht sinnlos investiert
zu haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513818700

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 15/4029 und 15/1022 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2004
– Drucksache 15/3796 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache eine Stunde dauern. – Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Manfred Stolpe.

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor zwei Tagen wurde in ganz Deutschland an
den Fall der Mauer erinnert. Für uns Potsdamer geschah
das Wunder genau heute vor 15 Jahren. Am 11. Novem-
ber 1989 wurde die Glienicker Brücke wieder für Deut-
sche freigegeben. Sie hatte 28 Jahre Ost und West
getrennt und war nur für Alliierte und ausländische Di-
plomaten passierbar. Heute ist sie wirklich Brücke der
Einheit, so wie sie in der Mauerzeit offiziell hieß.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer dort die Trennung erlebte und heute die Brücke
überquert, vergisst nicht das Wunder der Freiheit und
Einheit, gleich ob er vom Westen oder vom Osten
kommt. Vielleicht brauchen wir mehr Brücken der Erin-
nerung an das Geschenk vom Herbst 1989.

Einheit und Freiheit haben wir gewonnen. Zu berich-
ten ist, wie wir nun teilungsbedingte Belastungen Ost-
deutschlands abbauen. Die Bundesregierung hat im Sep-
tember den „Jahresbericht zum Stand der Deutschen
Einheit“ nach 15 Jahren Aufbau Ost vorgelegt. Wir be-
richten über Erfolge, Fortschritte und Leistungen, über
Probleme, Hemmnisse und verbleibende Aufgaben. Der
Aufbau Ost ist noch nicht beendet. Was fast ein halbes
Jahrhundert gewaltsam getrennt war und sich radikal
auseinander entwickelte, braucht Zeit und Geduld, um
wieder vergleichbar zu werden.

Bis 2019 haben wir den Solidarpakt II gemeinsam für
den Aufbau Ost beschlossen. Das sind dann 30 Jahre
nach dem Fall der Mauer. Jetzt haben wir Halbzeit. Des-
halb muss die Bundesregierung auch weiterhin jährlich
Bericht erstatten; denn es ist wichtig, dass die Fortset-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe

zung des Aufbaus Ost in der parlamentarischen Beratung
auch künftig die nötige Priorität hat. Die Zukunft Ost-
deutschlands ist die Zukunft ganz Deutschlands. Betrof-
fen sind alle Deutschen. Es geht um eine nationale Auf-
gabe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Weg ist ohne Alternative. Wir müssen den Aufbau
Ost konsequent fortsetzen.

Finanzielle Hilfen und eigene Anstrengungen der
Länder waren erfolgreich. Der Osten Deutschlands hat
seit 1990 einen Entwicklungssprung gemacht: die Mo-
dernisierung von Städten und Gemeinden, die Erneue-
rung und der Ausbau der Verkehrswege, die Infrastruk-
tur der Telekommunikation, der Produktivitätszuwachs,
die Etablierung neuer Dienstleistungen, die am Verbrau-
cher orientierte Qualitätssteigerung der Agrarbetriebe
und der Nahrungsmittelwirtschaft.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513818800

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kretschmer?
Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-

kehr, Bau- und Wohnungswesen:
Der Kollege Kretschmer wird erleben, dass ich alles

sage. Zum Schluss antworte ich gerne.
Im Osten ist ein unternehmerischer Mittelstand ent-

standen, eine halbe Million neuer Unternehmen. Der
Saldo von An- und Abmeldungen der Gewerbe ist posi-
tiv. Die erste Hälfte des Aufbaus Ost hat gute Ergebnisse
gebracht. In der zweiten Hälfte müssen wir uns auf die
Hauptaufgaben für einen erfolgreichen Abschluss des
Aufbaus Ost konzentrieren: Arbeit schaffen, Abwande-
rung stoppen und das Schlechtreden beenden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit dem Solidarpakt II sind die finanziellen Grund-
lagen für die zweite Hälfte des Aufbaus Ost gesichert.
156 Milliarden Euro stehen in den nächsten 15 Jahren
zur Verfügung. Die Sonderzuweisungen des Bundes an
die ostdeutschen Länder machen mit mehr als
100 Milliarden Euro den größten Teil aus. Über die Ver-
wendung legen die Empfänger jedes Jahr ihren Fort-
schrittsbericht vor.

Im Jahr 2003 haben die neuen Länder
10,5 Milliarden Euro Sonderhilfen des Bundes zum
Abbau des infrastrukturellen Nachholbedarfs und zum
Ausgleich der kommunalen Finanzkraft erhalten. Im Er-
gebnis sehen wir, dass wieder erhebliche Fortschritte
beim Infrastrukturausbau zu verzeichnen sind. Aber wir
müssen auch feststellen, dass ein großer Teil der Auf-
baumittel noch durch die allgemeinen Bedarfe der Län-
derhaushalte aufgezehrt wurde. Die Konjunktur stockte
und die Steuerausfälle kamen schockartig. Das waren
objektive Härten des vergangenen Jahres.

Doch wir alle haben die Pflicht, den ostdeutschen
Aufbauprozess durch Investitionen abzusichern. Des-
halb werden die ostdeutschen Länder ihre Struktur- und
Förderpolitik konsequent auf Modernisierung und
Wachstum ausrichten müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb muss auch der Bund weiterhin Mittel für arbeits-
platzschaffende Investitionen zur Verfügung stellen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die ostdeut-
schen Länder brauchen effektive Verwaltungsstrukturen.
Ostdeutschland hat in den eineinhalb Jahrzehnten des
rechtsstaatlichen Verwaltungsaufbaus aus der Not eine
Tugend entwickelt. Abläufe mussten nicht nur gelernt
werden, sondern ihre praktische Anwendung stand im
Vordergrund. So ist das Bewusstsein für die grundsätzli-
che Eilbedürftigkeit von Entscheidungen sehr hoch.

Ausländische Investoren erkennen die Standortvor-
teile Ostdeutschlands. So war zum Beispiel kürzlich in
der italienischen Presse zu lesen:

Ostdeutsche Gebiete befinden sich heute im Zen-
trum des europäischen Binnenmarktes und stellen
gleichzeitig einen natürlichen Zugang zum östli-
chen Teil des alten Kontinents dar sowie einen
Produktionsstandort, der in den letzten Jahren Ge-
genstand radikaler Erneuerungs- und Modernisie-
rungsmaßnahmen war.

Die Bundesregierung hat die besondere Situation in
Ostdeutschland durch Vereinfachung der Verwal-
tungsverfahren berücksichtigt. Gute Erfahrungen wer-
den auch bundesweit umgesetzt. Ein Beispiel ist das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich be-
grüße es, dass sich die Koalitionsfraktionen auf eine Ver-
längerung verständigt haben.


(Zurufe von der CDU/CSU: Um ein Jahr!)

Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz Deutschland
zur Planungsvereinfachung bei allen Verkehrsträgern zu
kommen. Eine erneute Verlängerung des Verkehrswege-
planungsbeschleunigungsgesetzes ermöglicht den direk-
ten Übergang in ein für ganz Deutschland verbessertes
Planungsrecht.

Wir wissen, dass die ostdeutschen Länder Stärken
entwickelt und Potenziale ausgebildet haben. Diese Stär-
ken und Potenziale wollen wir zielgenauer fördern. Des-
halb strebe ich mit den ostdeutschen Ländern und mit
den Förderministerien des Bundes eine Handlungs-
grundlage für den Solidarpakt II an. Bund und Länder
können durch einen gezielten Einsatz der Investitions-
und Innovationsförderung Unternehmensnetzwerke,
Branchenschwerpunkte und Kompetenzfelder stärken.
Kompetenzen stärken und Innovationen voranbringen,
das sind ganz wesentliche Herausforderungen in den vor
uns liegenden Jahren.

Wer Regionalpolitik macht, weiß, dass wir dafür auch
den Verkehrswegebau brauchen.


(Beifall bei der SPD)

Der Bundesverkehrswegeplan 2003 sieht für die neuen
Bundesländer im Zeitraum bis 2015 einen Anteil von






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe

rund 35 Prozent für alle Verkehrsträger am vordringli-
chen Bedarf vor. Damit geben wir ein Signal für den
Aufbau Ost an die ostdeutsche Wirtschaft und an Inves-
toren.


(Zustimmung bei der SPD)

Notwendig sind die Verlängerung der A 14 von Magde-
burg nach Schwerin und der Bau der A 72 von Chemnitz
nach Leipzig. So werden wirtschaftliche Entwicklungs-
kerne miteinander vernetzt.

Wir müssen immer auch die Wirtschaftsimpulse
durch die Osterweiterung der Europäischen Union im
Auge behalten. Deshalb ist der Bau der A 17 zwischen
Dresden und der tschechischen Grenze vorrangig von
uns vorangetrieben worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das gilt auch für den Ausbau der Eisenbahnstrecken von
Berlin über Frankfurt/Oder bis Poznan und von Dresden
über Görlitz nach Wroclaw.

Unsere Infrastrukturförderung erschließt die Po-
tenziale der ostdeutschen Länder. Fortschritt gibt es aber
nicht nur in Ballungsräumen. Stabile Produktion, mo-
derne Dienstleistungen und neue Technologien finden
sich auch in den dünner besiedelten Landesteilen. Es
gibt die Potenziale des ländlichen Raums. Neben der
klassischen Landwirtschaft zählen Nahrungsmittel,
Holzverarbeitung, aber auch Energietechnologie dazu.
Rohstoffanbau für und Produktion von Bioethanol sind
bedeutsam. Sonnenenergie, Windkraft und Biomassean-
lagen schaffen Arbeit und Einkommen. Das ist kein
Wunschtraum, sondern bereits Realität.

Im Feld der Dienstleistungen haben wir den Touris-
mus zu einer Erfolgsgeschichte des Ostens gemacht. Der
Osten hat seinen Anteil am gesamtdeutschen Tourismus
von 10 auf 20 Prozent verdoppelt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine gute Nachricht aus dem Osten ist das überpro-
portionale Wachstum des produzierenden Gewerbes.
Trotz der Konjunkturschwankungen wuchs die Produk-
tion der ostdeutschen Industrie in den vergangenen zehn
Jahren mit einer durchschnittlichen Jahresrate von
5,5 Prozent. Die Exportquote ist seit 1991 auf knapp
25 Prozent gestiegen; sie hat sich mehr als verdoppelt.
Diese Chance wollen wir in förderpolitischer Hinsicht in
eine Wachstumsstrategie umsetzen.

Die wirtschaftlichen Entwicklungskerne und Techno-
logieregionen sind unsere Joker; in diesen Bereichen
wird die Vergleichbarkeit mit westdeutschen Standorten
am schnellsten erreicht werden.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU)


– Sie lachen über sich selber. Das sind schließlich Regio-
nen, in denen auch Sie politisch tätig sind.

Absolut vordringlich ist die Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit. Arbeit, die Bestand hat, entsteht in einer
Wirtschaft, die wettbewerbsfähig ist. Der Arbeitsmarkt
im Osten reagiert flexibel auf die Bedürfnisse der Unter-
nehmen. Die Ostdeutschen arbeiten länger und sind be-
reit, betriebliche Bündnisse für Arbeit einzugehen. Die
Arbeitsmarktreformen mit der starken Betonung auf För-
dern und Fordern, auf Wiedereingliederung der Men-
schen in den Arbeitsmarkt werden dem Osten, aber auch
anderen schwierigen Regionen helfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn das gesamte arbeitsmarktpolitische Instrumenta-
rium steht jetzt allen erwerbsfähigen Arbeitslosen zur
Verfügung. Berufliche Weiterbildungs- und Trainings-
maßnahmen, Beschäftigung schaffende Infrastruktur-
maßnahmen, Mobilitätshilfen und kommunale Zusatz-
jobs können in Anspruch genommen werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie etwas zur Arbeitslosigkeit!)


Arbeitsmarktregionen mit vielen Langzeitarbeitslosen
und wenigen offenen Stellen werden besonders berück-
sichtigt. Die Eingliederungsmaßnahmen für Langzeitar-
beitslose werden aus Bundesmitteln bezahlt. 2005 sind
10 Milliarden Euro vorgesehen. Ein überproportionaler
Anteil von 42 Prozent fließt in die ostdeutschen Länder.

In der Monitoringgruppe achten wir gemeinsam mit
meinem Kollegen Clement und Vertretern der ostdeut-
schen Ländern auf Probleme im Reformprozess. Zusätz-
lich wurden Christine Bergmann, Kurt Biedenkopf und
Hermann Rappe als Mitglieder eines Ombudsrates zur
Begleitung der Arbeitsmarktreform berufen. Das ist ein
positives Signal. Diese Persönlichkeiten kennen sich in
den Bedingungen des Ostens aus. Sie werden dafür
Sorge tragen, dass Einzelschicksale ebenso berücksich-
tigt werden wie die grundsätzlichen Probleme in diesem
Prozess.

Der „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“
liefert Daten und Einschätzungen, die ein genaues und
differenziertes Bild bieten. Der Verlauf des Aufbaus Ost
zeigt an vielen Orten wichtige Erfolge. Wir sind nicht
gescheitert. Wir sind aber noch nicht am Ziel. Wir haben
im Osten Schlüsselbranchen angesiedelt, die auch als
Motoren der Entwicklung wirken – von der Chemie,
Pharmazie und Optoelektronik über die Automotive, die
Luftfahrt und die Halbleiterindustrie bis zur Avantgarde
der Biotechnologie und der Softwaresystematik.

Zu den Stärken des Ostens gehört aber auch die Lo-
gistik. Mit hervorragenden Standortbedingungen hat sich
der Flughafen Leipzig im europäischen Wettbewerb
durchgesetzt. Das neue zentrale Logistikzentrum der
DHL kommt nach Ostdeutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir erwarten dadurch einen Beschäftigungsschub von
mindestens 3 000 direkten und mehr als 6 000 indirekten
Arbeitsplätzen. Dieser Erfolg kann uns für die zweite
Halbzeit des Aufbaus Ost ermutigen. Ich bin sicher, dass
wir die große nationale Aufgabe des Aufbaus Ost ge-
meinsam – dies ist wirklich nur gemeinsam möglich –
bewältigen können.






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513818900

Der Kollege Kretschmer hat jetzt die Möglichkeit zu

einer Zwischenfrage oder besser gesagt: zu einer An-
schlussfrage; denn die Redezeit des Ministers ist vorbei.


Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1513819000

Ich wollte Sie fragen, ob Sie unserem Antrag zustim-

men werden und ob Sie dies auch Ihren Kollegen emp-
fehlen. Denn Sie haben zu Recht festgestellt – ich freue
mich, dass ich Ihnen einmal zustimmen kann –, dass ein
jährlicher Bericht zum Stand der deutschen Einheit not-
wendig ist. Wir brauchen in der Tat einen solchen Be-
richt. Es ist wichtig, dass das Thema immer wieder auf
die Tagesordnung kommt.

Wir haben gemeinsam mit der FDP einen exzellenten
und sehr sachlichen Entschließungsantrag eingebracht.
Ich bitte Sie, bei Ihrem Wort zu bleiben und ihn Ihren
Kolleginnen und Kollegen zur Beschlussfassung zu
empfehlen.

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Ich glaube, es gibt noch eine Zwischenfrage.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513819100

Ich kann nach dem Ende Ihrer Redezeit, Herr Minis-

ter Stolpe, nicht noch serienweise Zwischenfragen zulas-
sen.

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Herr Kretschmer, schönen Dank für Ihren Hinweis.
Ich halte es für zwingend notwendig und habe begrün-
dete Hoffnung, dass das nicht umsonst gewesen ist.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Das war doch schon vorher abgestimmt! Da brauchen Sie gar nicht mit einem Antrag zu kommen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513819200

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz

für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP])



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1513819300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-

desminister Stolpe, mit dieser Auskunft haben Sie uns
aus dem Herzen gesprochen. Ich bedanke mich. Ich
hoffe, dass die Koalitionsfraktionen tatsächlich Ihrem
Aufruf folgen und den gemeinsamen Entschließungsan-
trag von CDU/CSU und FDP annehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte mit dem Positiven beginnen. In den Flug-
hafen Leipzig/Halle werden 300 Millionen Euro für die
Errichtung des Logistikdrehkreuzes der Deutschen-
Post-Tochter DHL investiert. Ich halte das tatsächlich
für einen großen Erfolg, auf den wir alle gemeinsam
stolz sein können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Jetzt können Sie mal den Bundeskanzler und Wirtschaftsminister Clement loben!)


Ich möchte ausdrücklich sagen, dass das eine Ge-
meinschaftsleistung ist. Ich habe überhaupt nichts dage-
gen, wenn sich auch die Bundesregierung diesen Erfolg
an das Revers heftet.

Aber ich möchte Folgendes hinzufügen: Herr Stolpe
hat seine Ausführungen mit einem Rückblick begonnen.
Auch hier ist es notwendig, zurückzublicken, wenn man
die Voraussetzungen für den Zuschlag an den Flughafen
Leipzig/Halle erkennen will. Sie wissen genauso gut wie
ich, dass der Zuschlag erst durch die sehr schnellen Ge-
nehmigungsverfahren in Sachsen – innerhalb kürzester
Zeit wurde über die Verlängerung von Rollbahnen ent-
schieden – sowie durch die außerordentlich präzise Vor-
arbeit der sächsischen Staatskanzlei und insbesondere
durch das zähe Drängen des sächsischen Ministerpräsi-
denten, Georg Milbradt, möglich wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Und durch den Bund finanziert worden ist!)


Ohne dieses Drängen wäre der Zuschlag nicht erteilt und
demzufolge wäre die Finanzierungsnotwendigkeit wahr-
scheinlich nicht erkannt worden.

Eigentlich haben die Vorarbeiten noch sehr viel früher
begonnen, nämlich mit dem unverzüglichen Ausbau des
Flughafens Leipzig/Halle. Ich möchte daran erinnern,
was die anderen Bundesländer zu diesem Zeitpunkt ge-
macht haben. Die damalige Regierung Höppner hat sich
aus diesem Projekt langsam davongestohlen und hing ei-
nem Gedankengebilde von einem riesigen Luftdrehkreuz
in der Altmark nach. Davon will mittlerweile niemand
mehr etwas wissen. Herr Stolpe, Sie haben damals als
Ministerpräsident das Cargolifter-Geld im märkischen
Sand verscharrt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Berlin und Brandenburg standen 13 Jahre auf der Stelle,
als es um den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld
gegangen ist.


(Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Immer noch!)


Das sind die Unterschiede: Erfolge in Ostdeutschland
gibt es dort, wo wie im Fall des Flughafens Leipzig/
Halle – ich möchte hinzufügen: zum Teil gegen den er-
bitterten Widerstand der sozialdemokratischen Fraktio-
nen in den Landtagen – vernünftige Investitionsentschei-
dungen schnell durchgesetzt werden konnten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Jetzt sagen Sie mal etwas zum SPD-Oberbürgermeister!)


Sie machen der Öffentlichkeit ständig weis, auch die
CDU/CSU habe keine Konzepte für den Aufbau Ost.






(A) (C)



(B) (D)


Arnold Vaatz

Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Unsere Konzepte liegen
Ihnen vor und sind anhand der Unterschiede zwischen
den einzelnen Bundesländern sogar optisch sichtbar. Wir
stellen heute im Bundestag unseren gemeinsamen Ent-
schließungsantrag zur Abstimmung, in dem Sie aufge-
fordert werden – das tun wir schon seit längerer Zeit –,
mit dem Bürokratieabbau sowie der Verkürzung von
Planungs- und Genehmigungszeiten – das geht weit über
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hi-
naus – ernst zu machen und insbesondere den Bundes-
ländern mehr Gestaltungsspielräume zu geben, damit
solche positiven Leistungen wie beispielsweise der
schnelle Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle


(Zurufe von der SPD: Oh!)

keine Eintagsfliegen bleiben, sondern zur Regel werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Stolpe, Sie selbst haben gesagt, es gebe in Ost-
deutschland ein starkes Bewusstsein für die grundsätzli-
che Eilbedürftigkeit von Entscheidungen. Ich halte das
für eine hervorragende Formulierung. Jetzt machen Sie
bitte Nägel mit Köpfen und sorgen Sie dafür, dass in
Ostdeutschland nicht nur die Politiker daran arbeiten, die
Bürokratie ein Stück weit abzubauen. Sorgen Sie da-
rüber hinaus dafür, dass der Bürger, insbesondere derje-
nige, der investieren, ein Unternehmen gründen und Ar-
beitsplätze schaffen will, das Gefühl bekommt, dass
diese Regierung es mit Bürokratieabbau und mit Geneh-
migungsbeschleunigungen wirklich ernst meint. In Ih-
rem Bericht ist davon leider nichts zu erkennen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nun komme ich auf das Verkehrswegeplanungs-
beschleunigungsgesetz zu sprechen. Ich sage Ihnen zu-
nächst ausdrücklich: Ich begrüße, dass Sie sich mittler-
weile durchgerungen haben, die Gültigkeitsdauer dieses
Gesetzes um ein weiteres Jahr zu verlängern. Gleichzei-
tig sage ich: Das ist nicht das, was wir wollten. Dieses
eine Jahr ist eine kurze Atempause, die uns aber langfris-
tig keine Planungssicherheit gewährt. Ich fordere Sie
auf, dieses Gesetz nicht nur befristet bis 2005, sondern
unbefristet in Kraft zu setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin froh und erleichtert darüber, dass Sie die Gül-

tigkeitsdauer dieses Gesetzes endlich verlängern wer-
den. Dennoch frage ich Sie: War es eigentlich nötig, dass
wir erst so eine lange Diskussion, so eine lange Zeit der
Verunsicherung aller Beteiligten in Kauf nehmen muss-
ten, bis Sie sich jetzt, also anderthalb Monate vor dem
planmäßigen Ende der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes,
dazu durchringen konnten, endlich einmal Ja zu sagen?
So hätten Sie schon vor anderthalb Jahren, vor zwei Jah-
ren oder vor vier Jahren handeln können. Das ist die Re-
alität.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Von Ihnen ist doch gar keine Initiative gekommen! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Junger Mann, Sie sind auf dem falschen Gleis, Sie sind in die falsche Rille geraten!)


– Natürlich sind wir in dieser Frage mehrfach und nicht
nur einmal initiativ geworden.

Es genügt nicht, uns den Aufbau Ost statistisch aufzu-
bereiten, wie Sie das auch im diesjährigen Bericht getan
haben. Wäre die Lage nicht so ernst, müsste man fast
schmunzeln, wenn Sie in Ihrem Bericht ein Wachstum
von 0,2 Prozent im Jahr 2003 als hoffnungsvoll werten
und die Wirtschaft bei einer Arbeitslosenquote von
18 Prozent auf gutem Wege sehen. Meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, Sie beschönigen die
Situation, weil sich die Schere zwischen Ost und West,
was die Positionen Arbeitsplatzdichte, Wachstum, Kon-
sequenzen der demographischen Entwicklung, Kauf-
kraftentwicklung in Ostdeutschland angeht, in den letz-
ten Jahren eben nicht weiter geschlossen, sondern weiter
geöffnet hat. Es ist diese Tendenz, die uns in Ostdeutsch-
land beunruhigt. Die Bürger erwarten keine Veränderung
ihrer Lage von heute auf morgen, aber sie erwarten, dass
die Tendenz in Richtung Anstieg, Verbesserung, Norma-
lisierung geht. Leider ist immer noch genau das Gegen-
teil zu verzeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.

Man sucht in Ihrem Bericht vergeblich nach Rezepten
dafür, wie man neue Arbeitsplätze generieren und der
ostdeutschen Wirtschaft neue Impulse und neue Hoff-
nung geben kann. Im konkreten Handeln tun Sie das Ge-
genteil von dem, was Sie versprechen.

Wir haben eben eine große Diskussion über den Ab-
bau der Militärstandorte gehabt. Bundesminister
Struck hat zu Recht darauf hingewiesen, dass er nicht In-
frastrukturminister, sondern Verteidigungsminister ist.
Das ist allen klar. Er hat aber die Gelegenheit versäumt,
die Stationierungsdichte Ost an die Stationierungsdichte
West heranzuführen. Er hat die Stationierungsdichte Ost
gegenüber der Stationierungsdichte West prozentual so-
gar verringert. Das ist die Realität. Das kann nicht der
Geist des Aufbaus Ost sein.

Ich darf Sie an Folgendes erinnern: Wir hatten einmal
eine Föderalismuskommission, die beispielsweise fest-
gelegt hat, dass der Osten bei der Schaffung neuer Insti-
tutionen vorrangig berücksichtigt werden soll. Niemand
konnte sich damals vorstellen, dass der Osten auch beim
Abbau von bestehenden Strukturen vorrangig berück-
sichtigt werden würde. Eine solche Vorgehensweise ge-
neriert nicht Arbeit, sondern Arbeitslosigkeit. Das zeigt,
dass Ihr konkretes Handeln von Ihren konkreten Reden
oftmals weit entfernt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Da wird auch die überproportionale Zuwendung von

Eingliederungsmitteln nicht viel helfen. Eingliederungs-
mittel sind eine Notmaßnahme, nachdem das Kind in
den Brunnen gefallen ist. Das ist eher ein Eingeständnis
von tiefer Ratlosigkeit.






(A) (C)



(B) (D)


Arnold Vaatz

Zu den allgemeinen Rahmenbedingungen für den

Aufbau Ost, zu klaren Perspektiven und Zielen, aber vor
allem auch zur Zukunft der Strukturförderung bleibt Ihr
Bericht vage und unbestimmt. Sie wollen die Förderung
mehr auf Wachstumszentren konzentrieren, notfalls
auch so genannte Cluster schaffen. Dazu kann ich nur
sagen: Erstens. Willkommen im Klub! Zweitens. In Ih-
rem Bericht sucht man vergeblich nach Formulierungen,
die dies konkretisieren. Wir wollen endlich wissen, was
mit Wachstumszentren und Clustern konkret gemeint ist.

Herr Bundesminister Stolpe, Sie haben eben die Bio-
technik als Ihren Joker vorgestellt. Ich weiß nicht, ob
Sie wissen, dass im Englischen der Komparativ von
„joke“ nicht „joker“ heißt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Alles das kann nur dann wirklich in die Zukunft weisen,
wenn sich die Biotechnik auch entfalten kann. Da ist die
technikfeindliche Philosophie, die wir beispielsweise
von den Grünen oft hören, Gift für den Standort.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Biotechnik ja, aber eine befreite Biotechnik, die sich hier
genauso entfalten kann wie in Amerika und wie in ande-
ren Staaten Westeuropas, in denen das Wort Wachstum
noch kein Fremdwort ist!

Sie haben auch keine Klarheit darüber geschaffen,
wie Sie sich nun den Einsatz der 51 Milliarden Euro aus
dem Korb II des Solidarpakts II vorstellen. Das wüssten
wir schon gern. Solange diese Klarheit nicht vorhanden
ist, ist keine reale Kalkulationsgrundlage für die ostdeut-
schen Länder gegeben.

Wir brauchen außerdem Klarheit darüber, wie wir ei-
gentlich die meisten ostdeutschen Landeshaushalte aus
ihrer bedrückenden Lage befreien können. Die Landes-
haushalte sind durch Entscheidungen des Bundes-
verfassungsgerichts so mit Kosten überfrachtet worden,
insbesondere was die Bedienung der Sonderversor-
gungssysteme aus der DDR-Zeit betrifft, dass etliche
neue Länder überhaupt nicht mehr die Möglichkeit ha-
ben, die für Investitionen gedachten Mittel auch tatsäch-
lich investiv einzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist die Lösung?)


Die Bundesregierung ist unter anderem auch dazu da,
solche Situationen zu erkennen und Wege dafür aufzu-
zeigen, wie man aus dieser beklemmenden Lage wieder
herauskommt; sie darf nicht alles auf die Länder abwäl-
zen.

Ich freue mich darüber, dass Sie für die nächsten
Jahre die Berichtspflicht wieder einführen wollen. Des-
halb werde ich dazu nichts weiter sagen.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Trotzdem stelle ich noch genug Zeichen dafür fest,
dass Ihre Beziehung zu dem Prozess der deutschen Ein-
heit noch eine sehr kühle ist. Erst letzte Woche haben die
Herren Schröder, Eichel, Clement und Stolpe versucht,
wegen der klammen Steuerkassen den Tag der Deut-
schen Einheit als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen.
Meine Damen und Herren von der Regierung, das war
einfach unwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das hat uns international bloßgestellt.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513819400

Herr Kollege Vaatz, Ihre Redezeit ist zu Ende.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1513819500

Ja; mein letzter Satz. – Das hat zudem gezeigt, dass

Sie diesen Feiertag für den entbehrlichsten von allen hal-
ten. Das wiederum zeigt, Herr Stolpe: Aufbau Ost ist für
Sie alles andere, aber nicht Herzenssache.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513819600

Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/

Die Grünen.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513819700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Vaatz,
nachdem ich den Entschließungsantrag Ihrer Fraktion
und der Fraktion der FDP gelesen habe, habe ich ge-
dacht: Na ja, die Wahlen in Sachsen, Brandenburg und
Thüringen sind vorbei und jetzt kommen wir wieder zu
ein bisschen mehr Sachlichkeit zurück. Aber Ihre Rede
war eigentlich ein deutliches Beispiel dafür, dass sich die
Lage offensichtlich nicht verändert hat. Wenn diese Ver-
satzstücke Ihr Programm für den Aufbau Ost darstellen,
dann ist das wirklich ein Armutszeugnis für Ihre Frak-
tion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wir haben über den Bericht gesprochen!)


Es tut mir wirklich Leid, dass ich das so feststellen muss.
Ich beschäftige mich lange genug mit dem Thema und
ich muss sagen: Das war wirklich traurig.

Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Rede
noch einmal meine Rede vom letzten Jahr zu diesem
Thema angeschaut und dabei ist mir aufgefallen, dass
ich damals gesagt habe: Ich glaube, dass Ost und West in
den letzten Jahren stärker zusammengewachsen sind und
dass die Mauer in unseren Köpfen ein Stück niedriger
geworden ist.


(Günter Baumann [CDU/CSU]: Schön wär’s!)

Wenn ich mir die Situation im Jahre 2004 anschaue,

dann muss ich feststellen, dass diese Hoffnung ein biss-
chen enttäuscht worden ist. Dazu haben sicherlich auch
die unselige und noch immer nicht beendete Debatte über
die angeblich zu hohen Transferleistungen an den Osten
oder die Demonstrationen gegen Hartz IV beigetragen,






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hettlich

die manches längst vergessene Vorurteil über die Ost-
deutschen wieder hervorgebracht haben.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Mir ist bewusst, dass der Weg zur Einheit in den

Köpfen noch lang und steinig ist und wir ihn nur bewäl-
tigen können, wenn wir ihn gemeinsam gehen. Von da-
her kann ich immer wieder nur dafür werben – das sage
ich insbesondere an die Adresse der Westdeutschen –:
Kommen Sie in die neuen Bundesländer, schauen Sie
sich an, was die Menschen in Ostdeutschland in den ver-
gangenen 15 Jahren auch mit Ihrer Unterstützung geleis-
tet haben, und lassen Sie sich bitte von Ihren Vorurteilen
heilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Als gebürtiger Wessi darf ich noch einmal zuspitzend sa-
gen: Es ist für mich eine Schande, dass 15 Jahre nach
dem Mauerfall viele Westdeutsche, nämlich circa
50 Prozent, von sich aus sagen, dass sie noch nie in Ost-
deutschland gewesen sind.

Ich will nicht verhehlen, dass die Debatte über die
Transferleistungen von West nach Ost den Fokus auch
darauf gelenkt hat, dass wir in Ostdeutschland unsere
Hausaufgaben nicht immer zufriedenstellend erledigt ha-
ben. Die Kritik an der Fehlverwendung der Solidar-
paktmittel ist nicht neu. Wir wissen schon seit länge-
rem, dass die ostdeutschen Bundesländer Probleme
haben, die Mittel tatsächlich investiv einzusetzen. Ich
habe immer wieder davor gewarnt, dieses Thema auf die
leichte Schulter zu nehmen oder es zu ignorieren. Außer-
dem registriere ich in letzter Zeit eine steigende Zahl von
Veranstaltungen zu diesem Thema, die dann in der Frage
gipfeln: Muss der Solidarpakt II reformiert werden? Am
25. November wird hierzu eine Veranstaltung in Halle
stattfinden, erst neulich gab es eine Veranstaltung vom
BDI dazu.

Ich warne an dieser Stelle, dass uns hier möglicher-
weise eine Diskussion droht, die wir nicht mehr kontrol-
lieren können. Da nutzen keine Hinweise seitens der
Länder, die Fehlverwendung wäre nur dem Berechungs-
verfahren geschuldet oder man könne sich halt aufgrund
der Haushaltssituation nicht anders verhalten. Dann
müssen sich eben alle Beteiligten zusammensetzen und
versuchen, eine Klärung im Sinne des Gesetzgebers her-
beizuführen, Herr Vaatz. Augen zu und durch ist dabei
die falsche Taktik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja also! Das ist ein Vorschlag!)


– Na also, das ist ein Angebot; das können wir dann ja
machen. Wunderbar.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ich bedanke mich für die Bestätigung! Entschuldigen Sie sich dann auch für die Ausfälle!)

– Stellen Sie eine Zwischenfrage oder lassen Sie mich
ausreden.

Wir sollten uns von daher überlegen, ob der Solidar-
pakt II nicht eventuell dahin gehend ergänzt werden
sollte, dass wir den Ländern eine bessere Planung für die
Mittelverwendung abverlangen, möglicherweise eine
stärkere Kontrolle einführen und gegebenenfalls
auch – das tut mir Leid – Sanktionen vereinbaren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Blank [CDU/CSU]: Steht alles in unserem Antrag!)


Darüber hinaus sollten wir uns auch die Frage stellen,
was eigentlich investive Verwendung bedeutet. Ich er-
innere mich noch an den Perspektivenkongress zum
Thema Ostdeutschland, auf dem sowohl Bundesminister
Stolpe als auch Ministerpräsident Platzeck sagten: Infra-
struktur ist mehr als Beton.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513819800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Vaatz?

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513819900

Gerne.

Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1513820000

Herr Kollege Hettlich, Sie haben jetzt eine Reihe von

Forderungen vorgetragen,

(Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Vorschläge!)

die ich vorhin in meiner Rede auch genannt habe. Nach-
dem Sie denselben Mangel festgestellt haben, möchte
ich Sie Folgendes fragen: Können Sie mir erklären, wa-
rum der Bericht zur deutschen Einheit, über den wir ja
bei diesem Tagesordnungspunkt debattieren, auf diese
Fragen keine Antworten enthält?


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513820100

Ich kann Ihnen das nicht beantworten, weil ich den

Bericht nicht geschrieben habe. Ich nehme in dieser De-
batte die sich viel zu selten bietende Gelegenheit wahr,
allgemeine Themen zu behandeln, die uns als ostdeut-
sche Fachpolitiker umtreiben. Deshalb arbeite ich hier
nicht den Bericht zum Stand der deutschen Einheit ab,
sondern setze von meiner Seite aus Akzente und spreche
die mir wichtigen Punkte an. Sie müssten also im Prinzip
den Verfasser dieses Berichtes fragen, warum das nicht
in ihm steht. Ich spreche an dieser Stelle nicht für die
Bundesregierung, sondern über das, was mir aufgefallen
ist; tut mir Leid.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513820200

Gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Vaatz?

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513820300

Er kann ruhig noch eine Frage stellen.






(A) (C)



(B) (D)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1513820400

Herr Hettlich, ich kann aber davon ausgehen, dass Sie

den Bericht gelesen haben?

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da kennen Sie den Peter Hettlich schlecht! So eine Frage! – Zurufe von der SPD: Oh!)



Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1513820500

Natürlich habe ich ihn gelesen. Wir haben ihn sogar

umfangreich durchgearbeitet. Da kennen Sie mich wirk-
lich schlecht. So eine Frage ist wirklich schwach.

Ich will noch einmal auf den Punkt investive Verwen-
dung zurückkommen. Hier scheint mir möglicherweise
ein Problem zu liegen, deshalb hatte ich eben ja noch
einmal auf die Aussage verwiesen, Infrastruktur ist mehr
als Beton. Das heißt, wir sollten uns zumindest einmal
Gedanken darüber machen, ob investive Mittel nur in
die Infrastruktur gesteckt werden dürfen oder ob wir sie
nicht auch in andere Bereiche wie zum Beispiel Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, ja sogar in
die Unternehmensförderung umschichten können. Ich
verweise nur darauf, dass einige Leute aus der Wissen-
schaft, beispielsweise Vertreter des IWH, diese Vor-
schläge schon unterbreitet haben.

Ich weiß, dass das ein heikles Thema ist und es kei-
nem den Vorwand bieten sollte, sich aus der Verantwor-
tung für einen verfassungsmäßigen Haushalt zu stehlen.
Aber angesichts der demographischen Entwicklung
müssen wir uns schon die Frage gefallen lassen, wer
denn in 20 oder 30 Jahren die Infrastruktur in Ost-
deutschland nutzen und unterhalten soll, in deren Auf-
bau wir in den kommenden Jahren nochmals sehr viel
Geld investieren wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei muss uns bewusst sein: Die für den weiteren Kon-
vergenzprozess zur Verfügung stehenden Mittel sind be-
grenzt und vor allen Dingen in ihrem Mittelfluss – insbe-
sondere was den Solidarpakt II angeht – degressiv
gestaltet. Das heißt, ab spätestens 2010 werden wir dies
auch praktisch zu spüren bekommen. Die Antwort wird
dann nicht mehr lauten können: Wir brauchen noch mehr
Geld. Vielmehr muss die Antwort dann lauten: Wir müs-
sen aus dem Geld, das wir bekommen, mehr machen.

Nach der Währungsunion und der Wiedervereinigung
setzte ab 1990 in den neuen Bundesländern eine beispiel-
lose Gründungswelle ein. Viele Unternehmensgründun-
gen waren der puren Not geschuldet, die notwendigen
Voraussetzungen – ausreichendes Eigenkapital, betriebs-
wirtschaftliches Know-how, eine tragende Geschäfts-
idee – waren oft nicht vorhanden. Das ist kein Vorwurf
an die damalige Gründergeneration, sondern eine
schlichte Tatsache. Insofern ist es auch eine bittere Er-
kenntnis, dass sich erst seit Mitte der 90er-Jahre – da
waren wir noch nicht an der Regierung – der Saldo zwi-
schen den Gründungen und den Insolvenzen in Ost-
deutschland nur ganz leicht im Positiven bewegt. Daran
hat sich erst im letzten Jahr etwas geändert.
Wir müssen eingestehen, dass wir quasi eine Unter-
nehmensgeneration in Ostdeutschland schon verloren
haben; denn – das ist eine weitere bittere Erkenntnis –
wer in Deutschland einmal als Unternehmer gescheitert
ist, der kommt nicht mehr auf die Beine, von einer zwei-
ten Chance zu einer Unternehmensgründung ganz zu
schweigen. Uns fehlt die Unternehmenskultur; da sind
die USA ausnahmsweise einmal Vorbild.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte dafür werben, dass wir den weiteren Auf-
bau Ost auch von unten her denken und gestalten. Von
unten her heißt für mich: Wir brauchen mehr Unterneh-
mensgründer, wir brauchen mehr Unternehmen, die
expandieren, und wir brauchen dafür viele langfristig
tragfähige und innovative Unternehmenskonzepte und
-ideen. Ich glaube, da sind wir gar nicht so weit von-
einander entfernt. Das gilt für Ostdeutschland, dürfte
aber zunehmend auch für Westdeutschland gelten.

Wenn wir also die wirtschaftliche Entwicklung und
damit die Entstehung von Arbeitsplätzen in Ostdeutsch-
land fördern wollen, dann müssen wir genau hier anset-
zen. Das können wir zum einen in den Bereichen
Bildungs-, Wissenschafts-, Forschungs- und Entwick-
lungsförderung und zum anderen im Bereich Wirt-
schaftsförderung.

Erst einmal müssen wir junge Wissenschaftler und
Forscher dazu bringen, sich überhaupt in die Selbststän-
digkeit zu trauen. Dazu gehören Mut, eine gute Ge-
schäftsidee und das betriebswirtschaftliche Know-how.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und einen langen Atem bei Genehmigungsverfahren!)


Hier ganz praktische Unterstützung zu leisten, zum Bei-
spiel bei der Bewertung von Geschäftsideen oder beim
Zusammenbringen von potenziellen Geschäftspartnern,
wäre schon ein erster Schritt. Hier ist auch ein stärkeres
interdisziplinäres Handeln schon an den Hochschulen
wünschenswert, wenn nicht sogar Voraussetzung.

Dann gilt es, dafür zu sorgen, dass diese Start-ups
dabei unterstützt werden, das notwendige Kapital für
eine Unternehmensgründung zusammenzubekommen.
Es fehlt insbesondere am Eigenkapital – ein spezielles
Problem in Ostdeutschland.

Weiterhin müssen wir uns dringend Gedanken ma-
chen – das sollten wir gemeinsam tun –, wie wir die Brü-
cke zwischen der Mittelstandsbank und den Hausbanken
schlagen. Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir an-
gesichts sinkender Immobilienwerte in Ostdeutschland
eine Besicherung von Krediten in Zukunft vornehmen
wollen.

Das sind eine ganze Menge Fragen, auf die es im Au-
genblick kaum Antworten gibt. Erst dann, wenn diese
Fragen beantwortet sind, kämen für mich die verschiede-
nen Möglichkeiten einer Wirtschaftsförderung hinzu;
denn Voraussetzung dafür ist, dass vorher die Grundla-
gen aus eigenem Antrieb oder gegebenenfalls mit ent-
sprechender gezielter Unterstützung geschaffen worden
sind. Nur da, wo etwas ist, kann auch etwas gefördert






(A) (C)



(B) (D)


Peter Hettlich

werden. Das gilt im Kleinen wie auch im Großen, also
dann, wenn wir von einer stärkeren Förderung von
Wachstumsregionen und -branchen sprechen.

Lassen Sie mich zum Schluss – auch angesichts der
aktuellen Föderalismusdebatte – nochmals eine Lanze
für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur“ brechen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie ist sicherlich nicht das Allheilmittel, aber sie hat sich
als eines der erfolgreichsten Förderinstrumente bewährt.
Wenn ich an die letzte Debatte in diesem Hause zu die-
sem Thema zurückdenke, dann kann ich feststellen, dass
es damals keinen glühenderen Verfechter für die GA gab
als Herrn Milbradt. Jetzt müssen wir hören, dass sich die
ostdeutschen Bundesländer – Sachsen vorneweg – einer
Abschaffung der GA offensichtlich nicht mehr verwei-
gern wollen. Hier kann ich nur sagen: Nicht mit uns. Es
ärgert mich, dass wir über den Bundeshaushalt die Mittel
zur Verfügung stellen, manche Bundesländer sich bezüg-
lich ihrer Mitverantwortung aber einen schlanken Fuß
machen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wer bezahlt, muss auch mitbestimmen, welche Musik
gespielt wird; denn als bloßer Abnickaugust bin ich mir
zu schade.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir schlagen daher vor, dass die GA zumindest bis
2019 erhalten bleibt und die Investitionszulage – sollte
dies finanziell möglich sein – nach 2006 mit ihr zusam-
mengeführt wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513820600

Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDP-

Fraktion.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1513820700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister Stolpe, Ihr Eingangszitat hat mir ausge-
zeichnet gefallen, da Sie heute die Gelegenheit genutzt
haben, an den Mauerfall zu erinnern, der vor zwei Tagen
seinen fünfzehnten Jahrestag hatte. Umso verwunderter
bin ich, dass Mitglieder Ihres Kabinetts vor fünf Tagen
den Tag der Deutschen Einheit abschaffen wollten. So
etwas passt aus meiner Sicht nun wirklich nicht zusam-
men.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Den will überhaupt keiner abschaffen!)


15 Jahre nach dem Mauerfall sollte die deutsche Einheit
keine Selbstverständlichkeit sein. Wir müssen vernünftig
damit umgehen, dass der Weg zur Angleichung der Le-
bensverhältnisse in Ost und West länger als erwartet und
schwieriger als erhofft ist. Wir müssen für Antworten
sorgen.

Deshalb ist es besonders wichtig, in diesem Land we-
niger Zwietracht zu streuen. Damit meine ich nicht uns
hier, sondern die allgemeine Diskussion. Vielmehr soll-
ten wir auf den gemeinsamen Erfahrungen von Ost und
West aufbauen. Mit diesen Erfahrungen wird es uns ge-
lingen – davon bin ich überzeugt –, die Aufgaben, die
vor uns stehen, mit großer Sensibilität anzugehen und
ihre Lösung voranzubringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Doch dazu brauchen wir einen klaren politischen
Kompass, den ich im Moment bei der Regierungskoali-
tion vermisse. 1998 hat der Herr Bundeskanzler die
Chefsache Ost ausgerufen. Ein merklicher Fortschritt
ist nach wie vor nicht erkennbar.


(Zuruf von der SPD: Na, na, na!)

Herr Bundesminister, bei der Vorstellung Ihres Jah-

resberichtes sprechen Sie von der konsequenten Fortset-
zung des Aufbaus Ost. Hier muss ich fragen: Was wird
konsequent fortgesetzt? Hätte die Bundesregierung in
den letzten Jahren ein Gesamtkonzept erstellt und um-
zusetzen versucht und hätten Sie als neuer Minister für
den Aufbau Ost die Umsetzung dieses Gesamtkonzepts
in Ihrem Hause zusammengeführt und besser struktu-
riert, würden wir vielleicht über eine niedrigere Arbeits-
losenquote sprechen.

Sie haben ebenfalls verkündet, dass der Bund die Mit-
tel für ausgewählte Programme verstetige und bündele.
So steht es im Bericht. Im vorgelegten Bericht fehlt es
aber an Konzepten, Rahmenbedingungen, Perspektiven
und strategischen Zielsetzungen. Ich zumindest kann sie
nicht finden. Sie sind vage, besonders im Hinblick auf
die Infrastruktur.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach wie vor fehlen auch klare Aussagen zu wichti-
gen Dingen, die die Bundesregierung vorantreiben
wollte. Ich nenne die von der EU-Osterweiterung betrof-
fenen grenznahen Regionen. In einer Synopse der
SPD-Fraktion werden Äußerungen der Herren Dohnanyi
und Stolpe und anderer hierzu gegenübergestellt.

Antworten sind vorhanden. Auch in Ihrer Fraktion
wird von einer Sonderwirtschaftszone Ost gesprochen.
Wo aber bleiben Ergebnisse? Wo bleiben Ansätze? Man
kann in dieser Richtung nichts wahrnehmen.

Wir fordern, dass im Osten, aber auch in struktur-
schwachen Gebieten des Westens Modellregionen ge-
schaffen werden. Wir sollten Öffnungsklauseln erpro-
ben, die den Ländern etwa im Arbeits- und im Baurecht
Sonderregelungen ermöglichen. Ich glaube, so würden
wir schnell einen Schritt vorankommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Joachim Günther (Plauen)


Handlungsbedarf besteht auch im Bereich der Infra-

struktur. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert,
die Fördermittel aus den Strukturfonds vordringlich zum
Ausbau grenzüberschreitender, transeuropäischer Ver-
kehrsnetze in Ostdeutschland, aber auch in Ostbayern
einzusetzen. Diese Grenzregionen haben im Moment mit
zum Teil unerträglichen Verkehrsbelastungen zu kämp-
fen.

Herr Minister, Sie nennen hier den Ausbau der A 17
Dresden–Prag als Beispiel. Ich möchte vorsichtig daran
erinnern, dass die SPD bis 1998, als sie in der Opposi-
tion war, diese Strecke am entschiedensten bekämpft hat.
Erst heute ist das anders geworden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir brauchen diese leistungsfähigen Verkehrswege.

Sie sind für ganz Deutschland wichtig. Ich befürchte,
dass die Kürzungen bei den Verkehrsinfrastrukturmaß-
nahmen, die für 2004 bis 2008 vorgesehen sind, auch
zahlreiche Projekte im Osten gefährden werden.

Die Standortschließungen haben wir bereits vorhin
hier diskutiert. Auch hier ein Auszug aus Ihrer Synopse
Ost: Es sollten maßgeschneiderte Ansiedlungen entste-
hen, habe ich gelesen. Ich bin gespannt, wann wir das
erste Erfolgserlebnis haben. Ich wäre Ihnen sehr dank-
bar, wenn Sie es mir vorstellen könnten.

In diese Schiene passt auch die von Ihnen jetzt ge-
machte Aussage, dass mit den Ländern weiter über die
Förderkonzeption verhandelt werden müsse. Diese An-
kündigung haben wir schon oft gehört. Ich fordere Sie
deshalb auf, hier wirklich zu handeln. Aus den vorgeleg-
ten – freiwilligen – Fortschrittsberichten der neuen Bun-
desländer geht hervor, dass lediglich Sachsen die Mittel
des Solidarpaktes II für Investitionen eingesetzt hat.
Andere haben damit weiterhin Haushaltslöcher gestopft.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Hört! Hört!)


Das müssen wir ändern; wir müssen die Investitionen er-
höhen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte noch kurz ein anderes Thema ansprechen,

das eine große Rolle spielt: die Abwanderungsproble-
matik. Es reicht nicht, festzustellen, dass das ein wichti-
ges Thema ist. Wir müssen Wege finden, die Abwande-
rung zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, denn
sonst wird die Situation noch komplizierter. Wir haben
dazu im Juni dieses Jahres eine Große Anfrage einge-
bracht. Herr Minister, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn
Sie jetzt zeigten, dass der Aufbau Ost Chefsache ist, in-
dem Sie diese Anfrage möglichst schnell beantworten.
Das ist auch im Interesse der ostdeutschen Länder. Viel-
leicht können wir hieraus die eine oder andere Konse-
quenz ziehen.

Die bedrückend hohe Abwanderung von Ost nach
West hat fatale Folgen. Ich nenne nur einige: Die Kom-
munen in Ostdeutschland ziehen weniger Steuern ein,
die Kosten für die städtische Infrastruktur verteilen sich
auf immer weniger Personen, wodurch zum Beispiel die
Mietnebenkosten erheblich ansteigen. Das ist ein großes
Feld und wir müssen schnell reagieren.

Deshalb bin ich sehr optimistisch, dass Sie heute un-
serem Vorschlag zustimmen, dass wir auch in den nächs-
ten Jahren über den Bericht der deutschen Einheit disku-
tieren. Denn es ist dringend erforderlich, in weitere
Details einzusteigen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513820800

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler,

SPD-Fraktion.

Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513820900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr verehrte Damen und Herren! Meckern und
Klagen gehört fast schon zum guten Ton beim Thema
Aufbau Ost in diesem Hohen Hause. Wir werden nach-
her mit der Rede vom Kollegen Kuhn von der Opposi-
tion den Höhepunkt erleben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber ich sage ganz deutlich: Damit tut man den Men-
schen im Osten Unrecht, die täglich ihre Frau oder ihren
Mann stehen, und damit tut man auch der Bundesregie-
rung Unrecht, die einiges geleistet hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: Die Grünen haben das aber anders gesehen!)


Ich sage das jedes Mal: Wenn wir nicht blind sind, müs-
sen wir feststellen, dass wir zwischen Ostsee und Erzge-
birge sehr viel erreicht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU)


– Ich sage das, weil es stimmt, aber Sie wollen das nicht
wahrhaben.

Der Jahresbericht der Bundesregierung blickt nicht
nur zurück, sondern gibt auch einen Ausblick, wie die
Neujustierung des Aufbaus Ost vorangebracht werden
kann. Hauptanliegen ist die Weiterentwicklung der
Förderkonzeption. Das hätten Sie sich einmal genauer
ansehen können. Ich werde mich im Wesentlichen darauf
konzentrieren.

Zuvor möchte ich aber meiner Freude darüber Aus-
druck verleihen, dass gestern die Entscheidung gefallen
ist, dass die Deutsche Post den Flughafen Leipzig/Halle
als Drehkreuz für den Frachtflugverkehr ausbauen will.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber neben dem Erfreulichen gibt es auch Negatives.
Negativ sind die auch von Ihnen, liebe Kollegen von der
Opposition, immer wieder genannten Horrorzahlen über
den West-Ost-Transfer. Ich will die gewaltigen, auch
heute noch stattfindenden Transfers in keiner Weise
schmälern; aber man sollte angesichts der Zahlen redlich






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Scheffler

bleiben. Sie sollten vor allem – Sie haben ja vor Jahren
selbst jemandem vorgeworfen, dass er das nicht könne –
brutto und netto unterscheiden können. Von den genann-
ten vierstelligen Milliardensummen sind nach den Be-
rechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle
rund 300 Milliarden Euro direkt in die Staatskassen ge-
flossen. Diese Summe wäre also schon einmal in Abzug
zu bringen. Von dem noch immer großen Rest entfällt
der weit überwiegende Teil auf gesetzlich für ganz
Deutschland – ich betone: für ganz Deutschland – fest-
gelegte Leistungen wie zum Beispiel die Renten. An die-
sem Teil ließe sich nur dann etwas ändern, wenn die Ein-
heit als solche auf den Prüfstand gestellt würde. Aber ich
glaube, das wollen wir alle hier nicht.

Wirklich beeinflussbar ist nur der Bereich der investi-
ven Mittel. Hier sollten wir uns mit Recht für einen ef-
fektiven und sparsamen Einsatz stark machen. Sie haben
das ein bisschen verklausuliert schon angesprochen. Ins-
besondere Sachsen-Anhalt ist Spitzenreiter im negativen
Sinne unter den Ländern, die Mittel aus der GA für kon-
sumtive Ausgaben heranziehen und ihre Haushaltslöcher
damit stopfen. Aber das betrifft auch die anderen neuen
Bundesländer, insbesondere – das sage ich als Berliner
an die Adresse des Berliner Senats – die Berliner Senats-
verwaltung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513821000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Bergner?


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513821100

Bitte schön.


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1513821200

Herr Kollege Scheffler, als Berliner bewundere ich

ein wenig Ihren Mut, in Sachen Mittelverwendung auf
Sachsen-Anhalt zu zeigen. Sind Sie sich eigentlich der
Tatsache bewusst, dass die Art der Mittelverwendung
mit dem sehr viel höheren Schuldendienst zusammen-
hängt, den Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Freistaat
Sachsen zu leisten hat?

In Bezug auf die Ursachen dieses hohen Schulden-
dienstes möchte ich Sie fragen: Wissen Sie, dass es in
der Zeit des so genannten Magdeburger Modells unter
dem Ministerpräsidenten Höppner von der SPD gang
und gäbe war, dass Sachsen-Anhalt bei der Nettoneuver-
schuldung Spitzenreiter in Deutschland war? Auf wen
wollen Sie eigentlich zeigen, wenn Sie solche Behaup-
tungen aufstellen?


(Beifall bei der CDU/CSU)



Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513821300

Da ich an der Veranstaltung mit Ihrem Ministerpräsi-

denten und dem Minister Manfred Stolpe in der sachsen-
anhaltinischen Landesvertretung teilgenommen habe,
auf der mir Ihr Ministerpräsident auf meine Frage aus-
drücklich bestätigt hat, dass dies nicht nur unter der Re-
gierung Höppner so war – proportional gesehen haben
sich die Zahlen unter seiner Verantwortung sogar noch
erhöht –, muss ich diesen Vorwurf zurückweisen. Der
Weg, den Sie in Sachsen-Anhalt eingeschlagen haben,
ist nicht nur nicht besser. Er hat sogar noch zu einer hö-
heren Verschuldung geführt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das war nichts, Siggi! – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist eine Informationslücke, Herr Scheffler!)


Lassen Sie mich auf die investiven Mittel zurück-
kommen. Wir sollten uns zukünftig für einen effektiven
Einsatz dieser Mittel stark machen, insbesondere was die
im Rahmen des Solidarpakts II vorgesehenen Leistungen
des Bundes angeht. Hier werden wir in einen Dialog mit
den Ländern treten müssen. Die Schlussfolgerung muss
lauten, alles dafür zu tun, dass im Osten ein möglichst
großer Teil dessen, was verbraucht wird, auch selber er-
arbeitet wird. Das ist meines Erachtens ganz wichtig.
Das geht nur über Investitionen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ob investiert wird, darf nicht die Frage sein. Aber wo
und wie investiert werden soll, sollte der Deutsche Bun-
destag bestimmen. Wir als Mitglieder der Arbeitsgruppe
„Aufbau Ost“ haben uns vorgenommen, uns die Investi-
tionen zukünftig genauer anzusehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang bin ich froh, dass es uns
gelungen ist, ein besonders wirkungsvolles Instrument
der Wirtschaftsförderung in strukturschwachen Regio-
nen, nämlich die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, finanziell
besser auszustatten. Die bisherige Kappungsgrenze von
35 Millionen Euro bei den rückfließenden Mitteln ent-
fällt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das hätten Sie ruhig einmal lobend erwähnen können.
Ich denke, dieses hervorragende Instrument wurde von
den Ländern positiv aufgenommen.

Es gehört zu jeder Diskussion, über den schleppenden
Bürokratieabbau zu reden. Wir müssen sagen, dass die
in 40 Jahren zivilen Wachstums in der alten Bundesrepu-
blik gewachsenen Regelungen für eine Pioniersituation,
wie sie der Aufbau Ost darstellt – da stimme ich Ihnen
ausdrücklich zu –, nicht immer geeignet sind. Die Bun-
desregierung hat sehr viele Instrumente zum Bürokratie-
abbau eingeführt. Sie hat die Novellierung der Hand-
werksordnung auf den Weg gebracht. Da haben Sie
leider nicht mitgespielt. Ihre Entscheidung im Bundesrat
hat sich nicht gerade positiv ausgewirkt. Da könnten wir
ein bisschen weiter sein.


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Das hat nichts mit Bürokratieabbau zu tun! – Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Scheffler

– Lieber Kollege, ich habe meinen Handwerksmeister in
den 60er-Jahren gemacht. Die Zeit ist seitdem vorange-
schritten; sie ist nicht stehen geblieben. Wenn es nur
Stillstand geben würde, dann könnte kein Land vorange-
bracht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir müssen das Übermaß an Regelungen im Steuer-,
Bau- und Umweltrecht zurückfahren, damit die Investi-
tionsfreudigkeit gefördert wird. Der Hinweis auf das po-
sitive Beispiel des Planungsbeschleunigungsgesetzes ist
allein nicht ausreichend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Unter Bundesminister Clement wurden drei Pilotregio-
nen festgelegt. Die entsprechenden Ergebnisse müssen
wir abwarten. Wir können nämlich nicht über Projekte
diskutieren, wenn die Ergebnisse noch nicht bekannt
sind. Wir werden die entsprechenden politischen Konse-
quenzen daraus ziehen. Insofern, Herr Minister Stolpe,
kann ich Sie nur ermuntern, in Ihren Bemühungen nicht
nachzulassen.

Im Übrigen vertraue ich auf die Kraft des Faktischen.
Die Haushaltslage in den neuen Ländern, die sich durch
die demographische Entwicklung nicht wesentlich ver-
bessern wird, ist so, dass kein Weg daran vorbei führt,
Verwaltungen zu verkleinern.

Da Sie Berlin angesprochen haben, lieber Kollege:

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, das interessiert uns!)

Das, was Berlin hinsichtlich der Verkleinerung der Se-
natsverwaltung und im Rahmen der Bezirksreform ge-
leistet hat, sollten andere neue Bundesländer nachholen.
Ich sage es ausdrücklich: Auch ich bin nicht über die
Entscheidung glücklich, dass die Länder Berlin und
Brandenburg zumindest kurzfristig nicht zu einem Bun-
desland zusammenwachsen. Hier hätten wir für die
neuen Bundesländer eine Pilotfunktion übernehmen
können.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Die Brandenburger waren dagegen!)


Nun zu Ihren Anträgen. Herr Vaatz und Herr Kuhn,
warum Sie Ihren Antrag, der ebenso wie der der FDP un-
serem Ausschuss vorliegt – es sind meines Erachtens in
einigen Teilen doch recht vernünftige Anträge –, jetzt
durch einen neuen ersetzen, ist mir schleierhaft. Wir hat-
ten uns ja darauf verständigt, dass über die Anträge ge-
meinsam mit dem heute zu debattierenden Bericht abge-
stimmt wird. Ich muss schon die Frage stellen: Halten
Sie von Ihrem ursprünglichen Antrag so wenig, dass Sie
ihn durch einen neuen ersetzen müssen? Das sollten Sie
uns einmal erklären.

Was Sie heute vorgelegt haben, ist meines Erachtens
wirklich nicht das Gelbe vom Ei.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ihre Analyse ist nicht ehrlich. Zum einen sehen Sie posi-
tive Ansätze, auf die Sie in Ihrem Antrag hinweisen, und
zum anderen bemängeln Sie das Tempo. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich Ihren Altkanzler Helmut
Kohl zitieren, der gestern laut „Tagesspiegel“ gesagt hat
– ich zitiere, Frau Präsidentin –:

Es dauerte viel länger, als ich geglaubt habe, und
mir sind dabei … Fehler unterlaufen.

Zudem zeigt sich Kohl davon überzeugt, dass sich die
Lebensverhältnisse in den neuen Ländern bessern wür-
den:

Schon bald werden wir in den neuen Ländern wei-
tere erhebliche Fortschritte erreicht haben.


(Ute Kumpf [SPD]: Aha!)

Recht hat der Mann.

Da wir, wenn man als Bezugspunkt das Auslaufen des
Solidarpaktes II im Jahre 2019 nimmt, erst die Hälfte des
Weges zurückgelegt haben, werden wir am Ende das er-
reicht haben, von dem Ihr Altkanzler in der Zeitung
spricht. Wir brauchen dafür Steigerungsraten von mehr
als 5 Prozent. Die gibt es im verarbeitenden Gewerbe;
der Minister hat es angesprochen. Die derzeit negative
Entwicklung wird natürlich erheblich durch die Bauin-
dustrie beeinflusst.

Es ist übrigens schade, dass heute zur gleichen Zeit
der Zentralverband des ostdeutschen Baugewerbes einen
parlamentarischen Abend veranstaltet und wir aus der
zuständigen Arbeitsgruppe bzw. dem zuständigen Aus-
schuss nicht teilnehmen können. Dort hätten Sie die Bot-
schaft mitbringen können, dass es Ihre Politik Anfang
der 90er-Jahre war, die zu einer großen Spekulations-
blase in der Bauindustrie geführt hat. Sie hätten dem
Zentralverband auch sagen müssen, dass es Ihr Minister-
präsident Milbradt war, der mit einem Kabinettsbe-
schluss die Investitionszulage für den Mietwohnungsbau
gestoppt hat. Sie sollten auf die neue Regierung diesbe-
züglich Einfluss nehmen, um die Arbeitslosigkeit unter
den Bauarbeitern und in der Bauindustrie zu verringern.

Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit – das wurde schon
angesprochen – natürlich das große Problem. Mit der Si-
tuation sind wir – ob in den alten oder in den neuen Bun-
desländern ist völlig gleich – überhaupt nicht zufrieden.
Deshalb ist der Reformprozess, der mit der Agenda 2010
und mit Hartz I bis IV eingeleitet wurde, der richtige
Weg. Denn nur wenn wir insgesamt eine starke Bundes-
republik Deutschland haben, wird es auch in den neuen
Bundesländern weiter aufwärts gehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mir geht es natürlich wie Ihnen viel zu langsam. Aber
ich habe weder von Ihnen, Herr Kollege Vaatz, in den
Ausschussberatungen noch von den Wirtschaftsweisen
und den so genannten Experten den Königsweg genannt
bekommen.






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513821400

Herr Kollege, gestatten Sie trotzdem eine Zwischen-

frage des Kollegen Vaatz?

(Ute Kumpf [SPD]: Herr Vaatz, Sie haben wohl ein großes Redebedürfnis?)



Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513821500

Ja, bitte schön.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1513821600

Herr Kollege Scheffler, können Sie mir erklären, wel-

che positiven Effekte von einer weiteren Unterstützung
des Mietwohnungsbaus beispielsweise in Sachsen ange-
sichts dessen zu erwarten sind, dass wir dort im Augen-
blick einen Leerstand von circa 100 000 Mietwohnun-
gen aufzuweisen haben?


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513821700

Das kann ich Ihnen sagen: Diese Mittel könnten, ob in

Sachsen oder in Sachsen-Anhalt, für den Stadtumbau
Ost und ähnliche Projekte verwendet werden. Insbeson-
dere beim Stadtumbau Ost in Sachsen könnten sie für
den Abriss bzw. Umbau der Platte eingesetzt werden. In-
sofern war Ihre Frage sehr gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was Deutschland braucht, was insbesondere die
neuen Länder brauchen, sind – das wurde angespro-
chen – qualitativ hochwertige, innovative Produkte und
Produktionen mit hoher Wertschöpfung. Das werden Sie
aber nicht durch die Einführung von Billiglöhnen errei-
chen. Die Investoren in diesen Regionen stellen keine
Vergleiche mit Löhnen an, die in Tschechien, Polen oder
anderen vergleichbaren Ländern gezahlt werden. Natür-
lich brauchen die qualifizierten Facharbeiter, Ingenieure
und Meister zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ein
bestimmtes Lohnniveau; das muss man einmal sagen.
Sie aber wollen praktisch über den Umweg Ostdeutsch-
land die soziale Landschaft in Deutschland verändern.
Das wird mit uns nicht geschehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deut-
schen Einheit werden die zur Neujustierung notwendi-
gen Schritte vorgestellt, die in der neuen Legislaturpe-
rio-de, insbesondere im Jahr 2007, mit den Einnahmen
aus dem Solidarpakt II und dem Korb II des Steuerver-
günstigungsabbaugesetzes eingeleitet werden. Mit dem
Soli-darpakt II haben wir eine solide Finanzierungs-
grundlage geschaffen; auch das hätten Sie loben können.
Aber angesichts der gegenwärtigen Haushaltslage – ich
möchte das nicht näher erläutern und nenne als Stich-
worte nur „Globalisierung“ und „fehlende Steuereinnah-
men“ –


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


ist es ein Gebot der Ehrlichkeit –

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513821800

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513821900

– Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss –, zu sa-

gen, dass wir keine Mittel aus dem Haushalt zur Verfü-
gung stellen können. Ihre Entscheidung, gegen die Ab-
schaffung der Eigenheimzulage zu votieren


(Zuruf von der FDP: Sie müssen zum Schluss kommen!)


und so zu verhindern, dass wir mehr Geld für Bildung
und Forschung haben, war falsch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513822000

Herr Kollege Scheffler!


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513822100

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Was wir gemeinsam für den Aufbau Ost tun könnten,

ist, den Standort nicht schlecht zu reden, wie Sie es land-
auf, landab tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch von dieser Debatte sollten positive Signale ausge-
hen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wir haben nichts schlecht geredet!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513822200

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1513822300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

Abgeordnete der PDS.
Ich bin mir sicher, dass kaum jemand den Jahresbe-

richt zum Stand der deutschen Einheit vollständig gele-
sen hat;


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Herr Hettlich hat ihn gelesen!)


denn dann wäre Ihnen aufgefallen, dass auf mehreren
Seiten, so zum Beispiel auf Seite 49, ein ganzer Absatz
doppelt abgedruckt wurde. Ich habe mir überlegt: Viel-
leicht hat der Herr Bundesminister diesen Fehler extra
eingebaut, um zu sehen, ob überhaupt jemand seinen Be-
richt gelesen hat.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Um es kurz zu machen: Es ist jedes Jahr das Gleiche. Es
werden Erfolgsberichte vorgelegt, die mit der Realität
nicht übereinstimmen. Viele fragen sich: Warum soll
man diese geschönten Berichte eigentlich lesen?






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch

Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck,

dass der Bundesregierung, aber auch einigen Minister-
präsidenten der Osten einfach lästig geworden ist. Die
Diskussion über die Abschaffung des 3. Oktober als
Feiertag ist dafür nur ein Beispiel. Ich kann mir gut vor-
stellen, was dem Kanzler, als er dies vorgeschlagen hat,
durch den Kopf gegangen sein muss: Am
15. Hochzeitstag will er nicht mehr an die Hochzeit und
die Braut erinnert werden. Es ist schon schlimm genug,
dass er so viel Geld zahlen muss.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513822400

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Scheffler?


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1513822500

Ja, bitte schön.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1513822600

Frau Kollegin Lötzsch, Ihnen ist offensichtlich ent-

gangen, dass der zuständige PDS-Minister in Mecklen-
burg-Vorpommern insbesondere die dortige wirtschaftli-
che Entwicklung der letzten Jahre in sehr blumiger
Sprache hervorgehoben hat. Er hat betont, wie viele Ar-
beitsplätze in Mecklenburg-Vorpommern entstanden
sind und wie positiv sich unter dieser Regierung der
Tourismus und die Schiffbauindustrie entwickelt haben.
Das ist das Gegenteil dessen, was Sie uns hier vortragen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1513822700

Herr Kollege Scheffler, Sie haben keine Frage ge-

stellt, sondern eine Bemerkung gemacht. Trotzdem will
ich gern darauf eingehen.

Selbstverständlich sind unter der Regierung in Meck-
lenburg-Vorpommern, an der die PDS beteiligt ist, we-
sentliche Fortschritte erreicht worden.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: In Berlin ist es anders!)


Aber Sie können doch nicht leugnen, dass die Arbeitslo-
sigkeit im Osten ungeheuer hoch ist.

Wenn Sie sich hier nur einmal im Saal umschauen,
dann werden Sie feststellen: Die Kollegen aus dem Wes-
ten, die jetzt angereist sind, sind für den nächsten Tages-
ordnungspunkt da, nämlich für den Verkehrswegeplan.
Schauen wir auf die Regierungsbank. Wer sitzt dort? Da
sitzen der hochverehrte Kollege Stolpe, der Kollege
Schwanitz und noch zwei Staatssekretäre, die mir per-
sönlich sympathisch sind, aber da sitzt kein weiteres
Mitglied der Bundesregierung. Ich frage mich natürlich
auch: Warum spricht der Bundeskanzler niemals zum
Stand der deutschen Einheit?


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Er hat es zur Chefsache erklärt, aber er spricht nicht
dazu.


(Beifall des Abg. Jürgen Türk [FDP])

Mit dieser Antwort können Sie nach Hause gehen und
dort in Ruhe darüber nachdenken.

Meine Damen und Herren, es ist doch deutlich gewor-
den: Der Osten ist vielen lästig geworden. Ohne Frage:
Die Transferzahlungen in den Osten sind beträchtlich.
Für viele Menschen in Ost und West ist der Solidarbei-
trag eine zusätzliche Last. Aber nehmen wir einmal an,
Sie würden die Transferleistungen nach Ostdeutschland
noch heute einstellen und die Ossis würden dazu
nichts sagen. Was würde passieren? Als Erster würde
Herr Rogowski vom Bundesverband der Deutschen In-
dustrie, als Zweiter Herr Hundt von der Bundesvereini-
gung der Deutschen Arbeitgeberverbände und vielleicht
als Dritter Herr Stoiber aufjaulen. Warum? Der Solidar-
pakt ist doch kein Geschenk des Westens an den Osten.
Er ist das größte steuerfinanzierte Konjunkturprogramm
der Bundesrepublik Deutschland. Damit werden Ar-
beitsplätze und Aufträge gesichert – in Ost und West.
Wer am Solidarpakt rüttelt, der rüttelt an der schwä-
chelnden Konjunktur.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Da rüttelt doch gar keiner! So ein Quatsch!)


Da die Konjunkturdiagramme von der Regierung und
der konservativen Opposition wie Götzenbilder angebe-
tet werden, habe ich keine ernsthaften Sorgen um das
Fortbestehen des Solidarpaktes. Diejenigen aber, die den
Solidarpakt infrage stellen, sind zahnlose Tiger, die glau-
ben, die Ostdeutschen auf diese Weise gefügig machen
zu können.

Natürlich verstehe ich Herrn Eichel. Er braucht Geld
für einen ausgeglichenen Haushalt; darum macht er auch
absurde Vorschläge. Wir als PDS haben da einen solide-
ren Vorschlag – er sichert den 3. Oktober als Feiertag
und bringt zusätzlich 5 Milliarden Euro in die Kasse –:
Verzichten Sie auf die Absenkung des Höchststeuer-
satzes von 45 auf 42 Prozent ab dem 1. Januar 2005 und
Sie haben im nächsten Jahr rund 5 oder 6 Milliarden
Euro mehr in der Kasse! Damit könnte man sogar fünf
weitere Feiertage finanzieren. Aber das wollen wir gar
nicht. Besser wäre es, zum Beispiel das Kindergeld zu
erhöhen. Das kurbelt die Binnennachfrage an und bringt
mehr Steuereinnahmen in die Kasse.


(Jörg van Essen [FDP]: Das muss aber bezahlt werden!)


Ich denke, der Zeitpunkt und auch der Verlauf dieser
Debatte haben gezeigt, dass die Behauptung des Bundes-
kanzlers, der Osten sei Chefsache, nicht zutreffend ist.
Ich schlage vor, Sie alle unterstützen meinen Vorschlag,
dass der Bundeskanzler den Bericht zur Deutschen Ein-
heit im nächsten Jahr persönlich hier vorträgt.

Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] und des Abg. Jürgen Türk [FDP])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513822800

Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)



Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1513822900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wer sich heute
Abend in der Debatte alles aufschwingt, Stararchitekt
der deutschen Einheit zu sein. Damals war die linke
Seite des Parlaments Zaungast. Sie standen draußen an
der Schaufensterscheibe und haben gekrittelt gegen all
das, was CDU und CSU zusammen mit der FDP zu-
stande gebracht haben. Ich bin schon überrascht, wie Sie
jetzt reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich freue mich aber, dass Herr Minister Stolpe diese

Debatte genutzt hat, um ein Stück Würde einzubauen.
Mit Mut und Besonnenheit, aber auch mit einem unbän-
digen Willen zur Freiheit haben die Menschen in der
ehemaligen DDR den Eisernen Vorhang, der Europa ge-
teilt hat, zerstört und die menschenverachtende Mauer,
die unser Vaterland geteilt hat – mitten durch Berlin –,
niedergerissen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben den 15. Jahrestag dieses epochalen Ereig-

nisses vor zwei Tagen würdig gefeiert. Ich hoffe, dass
Sie sich in diesen Reigen einbringen können; ich habe
nicht sonderlich viel davon gehört.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich kann nur sagen: Unsere Fraktion, die CDU/CSU, ist
stolz darauf, was unsere Landsleute vor 15 Jahren für
Demokratie und Freiheit in Deutschland vollbracht ha-
ben. Wir sind auch stolz darauf, welche Aufbauleistun-
gen in Ostdeutschland in einer Generation, binnen
15 Jahren, realisiert worden sind. Aber es kann einen
manchmal ärgern und es können sich einem die Nacken-
haare aufstellen, wenn man im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen in Talkshows mit ansehen muss, wie die Ar-
beit derer, die in dieser Zeit politisch verantwortlich wa-
ren, klein geredet wird und wie die Entscheidungen, die
von der Dynamik der Straße geprägt waren, mit einem
Male kritisiert und die damals handelnden Akteure desa-
vouiert werden.

Unser Altbundeskanzler Helmut Kohl ist wahrlich
der Stararchitekt der deutschen Einheit. Er hat es einfach
nicht verdient, in der Öffentlichkeit so behandelt zu wer-
den, wie es am letzten Sonntag in der uns allen bekann-
ten Talkshow im ersten Programm des öffentlich-rechtli-
chen Fernsehens geschehen ist. Wir müssen ihn einfach
in Schutz nehmen. Das, was da abgelaufen ist, war schä-
big.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ohne eine solche europäische Führungspersönlichkeit
wäre die politische Einigung mit den Siegermächten nie
so souverän zustande gekommen.

Ich möchte noch eines sagen: Die Dynamik der Straße
war ein ganz entscheidender Punkt. Es wird gesagt,
dass die Wirtschafts- und Währungsunion am
30. Juni 1990 viel zu früh kam und dass der Umtausch-
kurs – er betrug übrigens eins zu zwei – viel zu schwach
angelegt war. Ich glaube, dass es notwendig war, zu han-
deln, und diese Regierung hat gehandelt nach dem
Motto: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie
nicht, gehen wir zu ihr. Die Flüchtlingslager in den alten
Bundesländern, in Westdeutschland, waren völlig über-
laden. Wie hätte man denn 17 Millionen Ostdeutsche in
diesem Land integrieren können? Das war genau die
richtige Entscheidung. Dadurch wurden das Vertrauen,
die Kaufkraft und die Binnenkonjunktur gestärkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dass Ihnen auf der linken Seite dieses Hauses das

nicht passt, kann ich mir schon vorstellen. Der Traum
der Zweistaatlichkeit, die Anerkennung der DDR-Staats-
bürgerschaft und der Traum von der sozialistischen
Alternative auf deutschem Boden sind wie eine Seifen-
blase zerplatzt.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Sag doch mal etwas zu eurem Antrag!)


Frau Präsidentin, mit Verlaub: Das geschah mit dem Se-
gen des Himmels und das ist auch gut so.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Wie sieht es nun 14 Jahre nach der Wiedervereini-

gung im Jahre sechs von Rot-Grün mit der Entwicklung
in den neuen Bundesländern aus? Wir haben gehört,
dass der Osten aufholt. Ich denke, in vielen Bereichen ist
das richtig. Diese Tendenz ist aber nur im verarbeitenden
Gewerbe zu verzeichnen. Allerdings ist das nicht unbe-
dingt das Verdienst von Herrn Minister Stolpe. Wir ha-
ben damals schon gesagt, dass Schwerpunkte geschaffen
werden müssen und dass sich Cluster bilden müssen, wo
sich Universitäten befinden. Wo es außeruniversitäre
Forschung gibt und wo Industrieunternehmen angesie-
delt sind, die Know-how besitzen, muss etwas entwi-
ckelt werden; das ist völlig klar. Die Produktentwicklung
darf aber nicht erfolgen, um einen Verdrängungswettbe-
werb durchzuführen, sondern, um neue Märkte zu er-
schließen. Nur so kann man Devisen generieren, nur so
kann man Wertschöpfung in den neuen Bundesländern
schaffen und nur so können wir die Wirtschaft dort wie-
der ankurbeln. Das muss aber in die Realität umgesetzt
werden und darf nicht nur auf dem Papier stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: Sag mal etwas zu eurem Antrag! Ihr habt ja einen Antrag!)


Wer sich mit einer Wachstumsrate von 0,2 Prozent
begnügt, der muss seine Ansprüche bei einer Arbeitslo-
senquote von immerhin noch 18,5 Prozent schon relativ
weit herunterschrauben. Das ist kein guter Weg. Der
Kollege Vaatz hat das vorhin in seiner Rede zum Aus-
druck gebracht. Wer für schlappe 0,1 Prozent Wirt-
schaftswachstum den Tag der Deutschen Einheit wieder
in einen stinknormalen Arbeitstag umwandeln will, der
braucht sich nicht zu wundern, wenn die Menschen in
Ostdeutschland die Hoffnung verlieren, dass der Aufbau
Ost wirklich noch Chefsache ist. Die Bundesregierung
hat dies möglicherweise schon längst aufgegeben. Des-
halb brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass






(A) (C)



(B) (D)


Werner Kuhn (Zingst)


nach Umfragen 20 Prozent der Menschen sagen, die
Mauer müsse eigentlich wieder aufgebaut werden. Das
ist ein schlechtes Ergebnis Ihrer Regierungsarbeit. Das
muss sich verbessern. Es muss auch mental, also in den
Köpfen, klar werden, dass wir ein Volk sind, dass wir die
Wiedervereinigung wollen und dass wir diese schwere
Aufgabe gemeinsam schultern werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gab große Wanderbewegungen; das ist völlig klar.
Wir hören immer nur, dass jedes Jahr 118 Milliarden
Euro an Transferleistungen von West nach Ost fließen
müssen, während der Osten aufgrund seiner eigenen
Steuerkraft gerade einmal 33 Milliarden Euro erwirt-
schaftet.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Nun überlegen Sie doch einmal, wohin nach 1992, als
die Sozialpläne in den von der Treuhand verwalteten
VEBs in Kraft getreten sind, die gut ausgebildeten, rela-
tiv jungen Leute, denen gemäß dem Sozialplan zuerst
gekündigt werden musste, und die Älteren, die schlecht
auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln waren, gegangen
sind. Sie haben natürlich eine Alternative gesucht. Sie
sind jetzt im Maschinenbaubereich als gute Facharbeiter,
im Elektrobereich als Ingenieure und in der Hotellerie
und im Gaststättenwesen tätig. Sie sind in der Bundesre-
publik geblieben, aber nicht in den neuen Bundeslän-
dern, sondern in den alten. Dort verdienen sie gut und
zahlen ihren Beitrag zur Rentenversicherung und zur
Krankenversicherung und alle anderen Solidarbeiträge.
Davon steht kein Wort in Ihrem Bericht. Auch diese
Leistungen sind letztendlich von den Ostdeutschen voll-
bracht worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Da stimmt der Generationenvertrag noch. Ihre Altvor-
dern sind zu Hause und zahlen einen Solidarbeitrag, da-
mit sie ihre Rente bekommen.

In Talkshows oder Zeitungsüberschriften zum Thema
deutsche Einheit wird das oft anders dargestellt. Herr
Eichel sagt, an unserem Desaster in Deutschland seien
die Kosten der deutschen Einheit schuld; sie hätten zu
der hohen Neuverschuldung geführt. Deshalb kämen wir
auf keinen grünen Zweig. Ich sage Ihnen: Nicht die Kos-
ten für die deutsche Einheit sind der Grund, sondern die
Kosten von 40 Jahren real existierender sozialistischer
Misswirtschaft. Diese Hypothek wollen wir aber tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Dahinten sitzen sie!)


Herr Stolpe, ich will noch einmal auf Folgendes hin-
weisen – das mache ich in den Debatten öfter –: Sie
müssen darauf achten, nicht nur die Innovationen von
Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-
Anhalt oder Sachsen hervorzuheben. Sie müssen auch
die existierenden Betriebe im Blick haben. Die Be-
standspflege ist sehr wichtig. Die Auftragslage im Bin-
nenmarkt muss sich unbedingt verbessern. Die potenzi-
ellen Auftraggeber müssen finanziell wieder in die Lage
versetzt werden, Aufträge auslösen zu können. Dabei
spielt die öffentliche Hand eine sehr große Rolle. In den
Kommunen sind diesbezüglich noch genügend Aufga-
ben zu erledigen, egal ob es Straßen, Schulen oder Kran-
kenhäuser sind, die hergerichtet werden müssen. Hier
müssen ganz gezielt Investitionsprogramme aufgelegt
werden. Ich sage Ihnen auch, wie.

Wir haben Ihnen gesagt, dass die Hartz-IV-Reformen
in Ostdeutschland einen riesigen Kaufkraftverlust mit
sich bringen werden. Von der Bundesregierung soll jedes
Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden, um
diesen Kaufkraftverlust auszugleichen. Wollen Sie den
Leuten dieses Geld direkt auszahlen? Ich bin dafür, ein
Investitionsprogramm aufzulegen. Für die Kosten sol-
len zu 50 Prozent der Bund und zu 50 Prozent die Kom-
munen aufkommen. Auf diese Weise würde Bewegung
in die Gesamtwirtschaft kommen. In Ihrem Vortrag, Herr
Stolpe, haben mir einfach die Visionen gefehlt. Wir müs-
sen raus aus dem Teufelskreis


(Lachen bei der SPD)

von Abwanderung, negativer demographischer Entwick-
lung und Überschuldung unserer Haushalte.

Sie haben erklärt, dass die Reform der Gemeindefi-
nanzen die Lage der Kommunen verbessern wird und
wieder investiert wird. Bitte schön, probieren Sie es aus.
Ich habe einen Vorschlag gemacht. Aber ich bin dage-
gen, dass durch die Abwanderung eine immer stärkere
Zentralisierung der weichen Standortfaktoren stattfindet,
das heißt, Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten nur
noch in Mittel- oder Oberzentren angesiedelt werden.
Wir müssen aufpassen, dass das flache Land nicht an At-
traktivität verliert und unsere kleineren Städte und Ge-
meinden, wo sich viele Menschen zu Hause fühlen, bei
diesem Prozess nicht hinten herunterfallen. Die Men-
schen fühlen sich aber von dieser Bundesregierung ver-
lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Alles in allem ist die Situation keineswegs so befrie-
digend, wie Sie es vorhin dargestellt haben. Ich halte es
für ein Riesenproblem, dass es bezüglich der Wirt-
schaftsförderung ein Wirrwarr an Fördermaßnahmen
gibt. Auch von der Bundesregierung offerierte Unterstüt-
zungsleistungen wie Existenzgründungsprogramme der
Mittelstandsbank, Förderung von Gründer-Service-
Agenturen oder Gründer-Coaching brachten bis dato
nicht den gewünschten Erfolg.

Unser Ausschuss hat gemeinsam mit der Kreditanstalt
für Wiederaufbau eine interessante Sitzung durchge-
führt. Das Grundproblem ist, dass die ostdeutschen Un-
ternehmen nach wie vor zu wenig Eigenkapital haben.
Hier müssen die Fördermaßnahmen der Bundesregie-
rung ansetzen. Herr Stolpe, die Programme zur Gewäh-
rung von Mezzanin-Krediten mit Haftungsfreistellung
für die Hausbanken müssen endlich Anwendung finden.
Es reicht nicht, wenn dies nur auf dem Papier steht. Die
Binnennachfrage ist tot. Die Menschen geben kein Geld






(A) (C)



(B) (D)


Werner Kuhn (Zingst)


aus, weil sie auf Ihre Reformen warten. Das ist ein struk-
turelles Problem. Keiner weiß, was er in Zukunft für
seine Rente oder im Gesundheitsbereich privat leisten
muss.

Die Unternehmen warten auf die Belebung des Bin-
nenmarktes. Nur wenn Nachfrage vorhanden ist, können
sie Investitionen in Angriff nehmen. Erst dann können
Arbeitsplätze, die dringend notwendig sind, entstehen.
Hier müssen Aktivitäten entwickelt werden. In den
neuen Bundesländern fehlen 3 000 kleine und mittel-
ständische Unternehmen. Wir haben 1,6 Millionen Ar-
beitslose und 48 000 offene Stellen. Was Hartz IV zu
leisten hat, ist schon enorm. Da muss eine Unterstützung
erfolgen.

Herr Minister, mich würde schon interessieren, wel-
che Zielvorstellung die Bundesregierung für das
Jahr 2010 hat. Im Bericht zum Stand der deutschen Ein-
heit finde ich keine. Wie viele Arbeitsplätze werden wir
im Jahr 2010 haben? Wie hoch wird unser Bruttoin-
landsprodukt sein? Wie hoch werden die Wertschöpfung
und die Kaufkraft sein? All diese Angaben fehlen. In der
gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Situation ap-
pelliert der Bundeskanzler an den Patriotismus seiner
Landsleute. Die deutschen Konzerne sollen am Standort
Deutschland produzieren und Arbeitsplätze nicht in Bil-
liglohnländer verlagern. Die Menschen in Ost und West
sollen enger zusammenrücken und die nationale Auf-
gabe der Reformen schultern.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513823000

Herr Kollege, ich unterbreche ungern Ihre tempera-

mentvolle Rede, aber Ihre Redezeit ist bereits überschrit-
ten.


Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1513823100

Ich halte das nicht nur für völlig verfehlt, unangemes-

sen und untragbar, sondern für ein geniales Ablenkungs-
manöver.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513823200

Herr Kollege, ich erinnere Sie noch einmal, auch

wenn Sie ignorant sind: Ihre Redezeit ist zu Ende.


Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1513823300

Frau Präsidentin, ich bin sofort am Ende. – Das ist nur

hilfloser Aktivismus, ohne eine Vision für ganz Deutsch-
land und unsere Zukunft.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513823400

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/3796 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 15/4163 soll an dieselben Ausschüsse über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
7 a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetzes
– Drucksache 15/777 –

(Erste Beratung 46. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Arnold Vaatz, Dirk Fischer (Hamburg),
Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset-
zes
– Drucksache 15/461 –

(Erste Beratung 28. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim
Günther (Plauen), Daniel Bahr (Münster), weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes
– Drucksache 15/221 –

(Erste Beratung 28. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(14. Ausschuss)

– Drucksache 15/3843 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Danckert
Werner Kuhn (Zingst)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
– Drucksachen 15/2311, 15/2630 Nr. 1.4,
15/3843 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Danckert
Werner Kuhn (Zingst)


ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes
– Drucksache 15/4133 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Auschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Auschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auschuss für Tourismus

Zu dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Iris Gleicke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


I
Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1513823500


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung stehen
heute eine ganze Reihe von alten Gesetzentwürfen und
ein neuer Entwurf der Koalitionsfraktionen, die sich alle
mit der Verlängerung der Geltungsdauer des Verkehrs-
wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes befassen. Sie rei-
chen von einer Verlängerung um ein Jahr – das ist der
Vorschlag der Koalitionsfraktionen – bis zu einer Verlän-
gerung bis zum Jahr 2010 bzw. 2019, zum Teil auch ver-
bunden mit der Forderung nach einer Übertragung auf das
gesamte Bundesgebiet. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir
alle in diesem Haus dieses Thema sehr ernst nehmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das bringt Planungssicherheit!)


Ich will die Historie dieses Gesetzes hier nicht im
Einzelnen darstellen, aber doch einige Aspekte betonen.
Mit dem Gesetz ist nach der Wiedervereinigung eine
ganz wesentliche Entscheidung für den zügigen Aufbau
einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Bundesländern getroffen worden. Mit strengen
Fristen für Behörden, vereinfachten Verfahren der Ent-
eignung bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen und der
Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung von Plan-
feststellungsbeschlüssen auf eine Instanz, nämlich das
Bundesverwaltungsgericht, wurden die Voraussetzungen
für zügige Planungsverfahren geschaffen.

Es war konsequent, diese positiven Erfahrungen mit
dem Gesetz auch für die alten Bundesländer nutzbar zu
machen. Mit dem Planungsvereinfachungsgesetz von
1993 wurden nahezu alle wesentlichen Inhalte des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes in bun-
desweit geltendes Planungsrecht aufgenommen. Daher
geht übrigens die Forderung nach einer Übertragung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf das
gesamte Bundesgebiet an den Tatsachen weit vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zu den wenigen nur für die neuen Bundesländer noch

geltenden Sonderregelungen gehört insbesondere die
Beschränkung des Rechtsweges für Anfechtungsklagen
gegen Planfeststellungsbeschlüsse oder Plangenehmi-
gungen auf das Bundesverwaltungsgericht.
Das ist auch der wesentliche Grund dafür, dass jetzt
über die anstehende dritte Verlängerung des Gesetzes
diskutiert wird.

Natürlich steht außer Frage, dass ein verkürzter
Rechtsweg beschleunigende Wirkung haben kann, näm-
lich dann, wenn es zu Anfechtungsklagen kommt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie bestätigen im Bericht selbst, dass er es hat!)


Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hat aller-
dings deutlich gemacht, dass die Vorhabenträger mit den
Einwendungen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
in der Regel sehr sorgfältig umgegangen sind,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!)


sodass es im Berichtszeitraum kaum zu Verfahren kam,
die durch Urteil beendet werden mussten.

Ich will auch noch einmal an den eigentlichen Grund
für die seinerzeitige Einführung dieser Regelung erin-
nern. Die neuen Bundesländer verfügten damals nicht
über funktionierende Oberverwaltungsgerichte. Daher
war es konsequent, das Bundesverwaltungsgericht aus-
nahmsweise auch als Tatsacheninstanz zu bestimmen.
Sie werden ja wohl mit mir konform gehen, dass eine
nicht funktionierende Gerichtsbarkeit heute überhaupt
nicht mehr in Rede steht. Es hat sich einiges verändert.

Daher kann ich die Forderung nach einer Verlänge-
rung bis zum Jahr 2010 oder gar bis zum Jahr 2019 nicht
wirklich ernst nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hieße nämlich in der Tat, die enormen Fortschritte
und Entwicklungen in den neuen Bundesländern zu ne-
gieren, die es dank des Gesetzes beim Aufbau der Infra-
struktur, aber eben auch beim Aufbau der öffentlichen
Verwaltung gegeben hat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verständnis habe
ich allerdings für den Wunsch der neuen Länder nach ei-
nem pragmatischen Übergang vom Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetz zum bereits im gesamten
Bundesgebiet geltenden Planungsrecht. Deshalb haben
wir uns zu einer nochmaligen Verlängerung des Gesetzes
um ein Jahr entschlossen. Ich will diese Entscheidung
und insbesondere auch die Frist von einem Jahr begrün-
den:

Erstens. Planungsverfahren, für die der Antrag auf
Linienbestimmung noch innerhalb der Gültigkeit des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes gestellt
wird, werden auch nach dem Gesetz zu Ende geführt.
Das wissen Sie. Es macht aber keinen Sinn, dass für
wichtige Projekte, für die dieser Antrag in Kürze ansteht,
jetzt übereilt Unterlagen eingereicht werden, um die
Frist zu wahren, die Unterlagen dann aber unvollständig
oder unzureichend sind. Damit ist nichts gewonnen, das
können wir also auch nicht wollen. Hier wollen wir noch
einmal die Gelegenheit zu sorgfältiger Planungsvorbe-
reitung geben.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz

Deutschland weitere Maßnahmen zur Planungsverein-
fachung bei allen Verkehrsträgern zu ergreifen. Diese
Maßnahmen werden natürlich nicht mehr bis zum Aus-
laufen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset-
zes greifen, sondern können erst im Jahr 2005 in Kraft
treten.

Eine erneute Verlängerung des Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetzes ermöglicht also den glei-
tenden Übergang in ein für ganz Deutschland verbesser-
tes Planungsrecht. Eine Verlängerung bis zum
31. Dezember 2005 halten wir deshalb für angemessen
und ich bitte Sie ganz herzlich, dem Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen zuzustimmen.

Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513823600

Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1513823700

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen!
Wir haben in den letzten Jahren in Ostdeutschland
gute Erfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungs-
beschleunigungsgesetz gemacht. Ein langer Name
für kurze Planungszeiten! Wir haben uns vorge-
nommen, dass Bauen schneller und einfacher wer-
den soll. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir die-
ses Gesetz angesichts der Erfahrung, dass es keine
Minderung an Demokratie gab, nicht 2004 enden
lassen, sondern dass wir gemeinsam Möglichkeiten
für dessen Fortbestand erarbeiten. Lassen Sie mich
etwas ketzerisch in den Raum stellen: Warum sol-
len gute Erfahrungen, die wir im Osten gemacht ha-
ben, nicht auch für das ganze Land interessant sein?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])

So könnte ich meine Rede heute beginnen, aber ich

muss Sie enttäuschen: Ich habe nur unseren Bundesver-
kehrsminister Dr. Stolpe zitiert, dessen Anwesenheit in
dieser wichtigen verkehrspolitischen Debatte wir eigent-
lich erwartet haben. Er hat uns aber keinen plausiblen
Grund mitgeteilt, warum er diese Sitzung des Bundesta-
ges verlassen musste.


(Zuruf von der SPD: Das ist unanständig!)

Ich kritisiere das für die Opposition ausdrücklich.

Herr Stolpe hat die zitierten Äußerungen in der Haus-
haltsdebatte am 5. Dezember 2002 vorgetragen. So wie
er sich im Parlament geäußert hat, hätte ich eigentlich er-
wartet, dass er seit 2002 an dem Fortbestand des Geset-
zes arbeitet. Es ist aber nichts geschehen. Das Verkehrs-
wegeplanungsbeschleunigungsgesetz würde nach der
gegenwärtigen Rechtslage in etwas mehr als sieben Wo-
chen auslaufen. Es besteht aber weiterhin ein besonderer
Nachholbedarf der neuen Länder am Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur. Die Anforderungen an das Verkehrs-
system nach der deutschen Wiedervereinigung und der
EU-Osterweiterung sind noch nicht erfüllt. Wie auch in
Ihrem Bericht aufgeführt ist, sind Beschleunigungsef-
fekte um ein bis eineinhalb Jahre durch die Verkürzung
gerichtlicher Verfahren bei erst- und letztinstanzlicher
Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach wie
vor gegeben. Angesichts der gestiegenen Transitfunktion
Deutschlands halte ich es sogar für klug, Lehren aus die-
ser Strukturveränderung zu ziehen und bei großen Ver-
kehrsprojekten über eininstanzliche Gerichtsverfahren in
ganz Deutschland nachzudenken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])


Begonnene Planungen in den neuen Bundesländern
können zwar nach dem Verkehrswegeplanbeschleuni-
gungsgesetz zu Ende geführt werden, viele wichtige
Großvorhaben der Verkehrsplanung können aber zu-
künftig nicht mehr davon profitieren. Anträge auf Li-
nienbestimmung für überregionale Verkehrsverbindun-
gen, die erst mit dem In-Kraft-Treten des neuen
Bedarfsplans zum Fernstraßenausbaugesetz am 16. Ok-
tober 2004 in den vordringlichen Bedarf aufgenommen
wurden, können aufgrund des planungstechnischen Vor-
laufs nicht mehr rechtzeitig gestellt werden. Es reicht
nicht aus, einen Brief zu schreiben, in dem die Linienbe-
stimmung beantragt wird; es müssen die notwendigen
Planungsunterlagen beigefügt sein.

Viele wichtige Infrastrukturvorhaben sind wegen
der unzureichenden Infrastrukturfinanzierung sogar nur
im weiteren Bedarf vorgesehen, sodass die Planungen
nicht vor 2015 aufgenommen werden können. Investitio-
nen sind für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der
neuen Bundesländer als Wirtschaftsstandorte von he-
rausragender Bedeutung. Es besteht also dringender
Handlungsbedarf.

CDU und CSU haben den Ernst der Lage frühzeitig
erkannt. Unsere Vorschläge liegen bereits seit über an-
derthalb Jahren vor. Ich meine mich zu erinnern, Kollege
Horst Friedrich, dass die der FDP sogar noch länger vor-
liegen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja!)

Nach den Ausführungen Stolpes und den von uns ge-

lieferten Entwürfen stellt sich die Frage, warum es bis
heute keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur
Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsver-
fahren in ganz Deutschland gibt. Wo bleibt die Initiative
aus dem Hause Stolpe, die das Außer-Kraft-Treten des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes verhin-
dert bzw. kompensiert? Die Vertreterin der Bundesregie-
rung hat sich so geäußert, als hätte die Bundesregierung
etwas vorgelegt. Von der Bundesregierung ist aber nichts
vorgelegt worden. Es gibt etwas vonseiten der Fraktio-
nen, aber nicht von der Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dirk Fischer (Hamburg)


Wann folgen den auf der Verkehrsministerkonferenz
am 12. und 13. Oktober 2004 in Bad Neuenahr-Ahrwei-
ler geäußerten Worten Taten? Ich zitiere:

Minister Stolpe hat für die nahe Zukunft ein Gesetz
angekündigt, das die Beschleunigung von Planungs-
und Genehmigungsverfahren unter Berücksichtigung
der Ergebnisse des Länderfachausschusses „Straßen-
baurecht“ vom August 2003 bundesweit vorsieht.

Daraufhin haben die Verkehrsminister der Länder fast
einstimmig einen Entschließungsantrag angenommen
und Minister Stolpe aufgefordert, die Geltungsdauer des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum
In-Kraft-Treten des von ihm angekündigten Gesetzes zu
verlängern. Wir haben dies in unserem vorliegenden
Entschließungsantrag textgleich gefordert. Es wird sich
zeigen, welche Werthaltigkeit solche Ankündigungen
haben oder ob sie nur Schall und Rauch sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])


Das Problembewusstsein ist bei Stolpe seit Ende 2002
– ich habe ihn zitiert – vorhanden. Auch positive Erfah-
rungen hat er als Ministerpräsident über viele Jahre
gewonnen. Warum verzögern Sie unabdingbare Infra-
strukturvorhaben und damit die Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an die in West-
deutschland? Warum dulden Sie zusätzlichen Verwal-
tungsaufwand und höhere Kosten?

Auch der mit heißer Nadel gestrickte Gesetzentwurf
der Koalitionsfraktionen bringt die neuen Bundesländer
nicht weiter.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Mit heißer Nadel?)

Herr Kollege Dr. Danckert, während der Beratungen im
Verkehrsausschuss hielten SPD und Grüne die Verlänge-
rung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset-
zes für unnötig. Ich frage mich deshalb, warum Sie jetzt
eine Verlängerung von einem Jahr vorsehen. Die Bun-
desregierung sollte doch – so stand das einmal in Ihrem
Entschließungsantrag – „Vorschläge für eine gesetzgebe-
rische Umsetzung“ vorlegen. Da aber nichts Belastbares
herausgekommen ist, blieb Ihnen vorgestern nur noch
Zeit für ein Plagiat, das aber leider schlecht ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es handelt sich um eine fehlerhafte Kopie, in der die
Formulierung „bis 2019“, also eine Verlängerung bis
zum Auslaufen des Solidarpaktes II, wie von Bundesrat
und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt, in
„bis 2005“ umgefälscht wurde. In einem Ihrer anderen
Entwürfe war noch von 2006 die Rede. Sie haben also
den Zeitraum für die Verlängerung noch einmal um ein
Jahr verkürzt.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wir sind flexibel, Herr Fischer!)


Eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2005 reicht
nicht aus; denn kaum ist dieses „Magerprogramm“ be-
schlossen, herrscht schon wieder Zeitdruck. So können
die neuen Bundesländer nicht sinnvoll planen. Wir brau-
chen unverzüglich ein Gesetz, das eine Verlängerung der
Geltungsdauer für die neuen Bundesländer – wie der
Bundesrat und die Bundesländer das fordern – wenigs-
tens bis zum Wirksamwerden eines bundeseinheitlichen
Gesetzes vorsieht. Eine solche Gesetzesinitiative zur Be-
schleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfah-
ren ist von der Bundesregierung unverzüglich zu erarbei-
ten. Auch dies gehört zum Fitnessprogramm für den
Standort Deutschland. Nur so können wir unsere Aufga-
ben im Herzen Europas erfüllen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Abschließend: Noch ist es nicht so weit – das hätte
ich dem anwesenden Minister gerne zugerufen –, dass
wir ihn, salopp gesagt, in Ruhe lassen können, was er
sich – nach seinen Äußerungen in einem Interview in der
„Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom
31. Oktober 2004 – am allermeisten wünscht. Wir müs-
sen vielmehr verlangen, dass alle Möglichkeiten ergeb-
nisoffen geprüft werden, auch eine Ausdehnung der erst-
und letztinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwal-
tungsgerichts auf die alten Bundesländer, was für diese
neu wäre. Um im Gegensatz die Werthaltigkeit Ihrer
heutigen Ankündigungen zu überprüfen, bleibt dem Ple-
num des Deutschen Bundestages nur die Möglichkeit,
dem Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag von
CDU und CSU zuzustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513823800

Herr Kollege Fischer, mir wurde soeben mitgeteilt,

dass der Minister zu einer Sitzung des Haushaltsaus-
schusses musste.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ich finde das Plenum wichtiger als den Haushaltsausschuss, mit Verlaub!)


Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Fischer, Ihre Aufregung über die Wert-
schätzung, die der Bundesverkehrsminister in der letzten
Phase der entscheidenden Haushaltssitzung den Haus-
hältern sowie dem Bundeshaushalt und insbesondere
dem Verkehrshaushalt entgegenbringt, können Sie sich
schenken, genauso wie Ihre künstliche Aufregung über
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich
werde Ihnen erklären, warum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann muss der Haushaltsausschuss eine Dreiviertelstunde warten!)


– Da Herr Fischer sich nicht abregt, warte ich noch ein
bisschen, bis ich meine Rede fortsetze.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Wir sind nicht in der Schule, Herr Kollege Schmidt!)







(A) (C)



(B) (D)


Albert Schmidt (Ingolstadt)


Wir debattieren, und zwar in aller Ruhe und ohne

Schaum vor dem Mund, heute über ein Gesetz, dessen
Name wie die Rede des Kollegen Fischer im Grunde
eine Suggestion ausdrückt: das Verkehrswegeplanungs-
beschleunigungsgesetz. Lassen Sie uns einen Moment
darüber nachdenken, was dieses Gesetz eigentlich noch
beschleunigt. In Wahrheit geht es – das hat die Frau
Staatssekretärin völlig richtig ausgeführt – allein um die
Verkürzung des Instanzenweges für beklagte Verkehrs-
planungen auf die erste und letzte Instanz Bundesver-
waltungsgericht; denn alle anderen Beschleunigungs-
maßnahmen, die dieses Gesetz vorsieht, sind schon 1993
umgesetzt – das müssten Sie doch eigentlich wissen; da-
mit hatten Sie doch etwas zu tun – und in das allgemeine
Planungsrecht, das für das ganze Land gilt, übernommen
worden. Das kann man also gar nicht mehr anders in
Kraft setzen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ihr habt das damals abgelehnt!)


Herr Kollege Fischer, durch dieses Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetz wird keine einzige Planung
auch nur um einen einzigen Tag beschleunigt – im Ge-
genteil.

Jetzt wollen wir einmal darüber reden, was Planungen
wirklich verlängert und verzögert.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Die Grünen! Eure Verhinderung!)


Da fallen mir ganz andere Dinge ein: Das sind nicht nur
Möglichkeiten, sondern auch Erfahrungen. Zum Beispiel
fällt auf, dass die Mittel nicht auf realistische Projekte
konzentriert werden, sondern dass nach dem Gießkan-
nenprinzip – überall ein bisschen – finanziert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es fällt auch auf, dass die Planungen in den Ländern
nicht sorgfältig genug durchgeführt werden. Darüber hi-
naus fällt auf, dass Verkehrsinvestitionen gekürzt wer-
den, weil wieder Geld für die Rente oder für einen allge-
meinen Sparbeitrag eingesammelt werden muss. Das
und nicht das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs-
gesetz sind die wahren Gründe für Verzögerungen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Als bayerische Politiker müssen wir solche Angriffe zurückweisen!)


Herr Kollege, es gibt einen Erfahrungsbericht der
Bundesregierung vom Dezember 2003, der uns allen
vorliegt. Darin steht wörtlich:

Die von den einzelnen Vorhabenträgern übermittel-
ten Daten zu den Planfeststellungs- und Plangeneh-
migungsverfahren zeigen für den Berichtszeitraum
1. Januar 2000 – 31. Juli 2003 durchschnittliche
Verfahrensdauern. … Die Daten lassen nach Aussa-
gen der Vorhabenträger keine Unterschiede zu Ver-
fahren erkennen, bei denen die Regelungen des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes nicht
zur Anwendung kamen.

Das heißt, in den letzten drei Jahren gab es in Bezug auf
die Planungsdauer keine signifikanten Unterschiede.
Weiterhin wird in diesem Bericht daran erinnert – das
hat die Staatssekretärin zu Recht ausgeführt –, dass der
Grund für die Beschränkung auf die eine Instanz im
Bundesverwaltungsgericht zum Zeitpunkt der Verab-
schiedung des Gesetzes 1991 darin bestand, dass sich die
Verwaltungsgerichtsbarkeit im Osten Deutschlands
noch im Aufbau befand. Dieser Grund sei – so steht es
ebenfalls im Bericht – heute entfallen. Genau so ist es.
Dort gibt es heute eine flächendeckende Oberverwal-
tungsgerichtsbarkeit.

Auch im Eckpunktepapier des Bundesverkehrsminis-
teriums „Bauen einfacher machen“ vom 7. Oktober 2004
heißt es, dass die wahren Verzögerungen andere Gründe
haben, zum Beispiel die verspätete Anmeldung von
FFH-Gebieten, also von Schutzgebieten nach der
Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, durch die Länder. Bei
diesen Verspätungen ist übrigens Bayern Spitzenreiter.
In diesem Eckpunktepapier heißt es wörtlich:

Die noch verbliebenen Regelungen des Verkehrs-
wegeplanungsbeschleunigungsgesetze werden die-
ser Entwicklung gerade nicht entgegenwirken kön-
nen.

Wenn die Länder ihren Pflichten der Anmeldung von
FFH-Gebieten nicht nachkommen, dann kann nicht zu
Ende geplant werden. Da helfen auch zehn Beschleuni-
gungsgesetze nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Präsident des – nach Ihrem Willen bis 2019 für
ganz Deutschland allein zuständigen – Bundesverwal-
tungsgerichts in Leipzig, Eckart Hien, zog bei einem
Expertengespräch der SPD-Bundestagsfraktion zu dem
Thema, das uns heute beschäftigt, folgendes Fazit:

Die Verlängerung der Zuständigkeit
– gemeint ist die Alleinzuständigkeit –

des Bundesverwaltungsgerichts nach dem Ver-
kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ist sach-
lich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlich
bedenklich.
Eine Ausdehnung dieser Zuständigkeit auf das ge-
samte Bundesgebiet dürfte eindeutig verfassungs-
rechtlich unzulässig sein;
sie wäre auch rechtspolitisch verfehlt, weil die Ver-
waltungsgerichtsbarkeit der Länder ohne tragfähi-
gen Grund geschwächt würde und weil in einem so
wichtigen Rechtsgebiet eine rechtliche Kontrollin-
stanz (Rechtsmittelinstanz) sowohl zur Fortent-
wicklung des Rechts als auch zur Gewährung eines
ausreichenden Rechtsschutzes notwendig erscheint.

Damit ist klar: Verfassungs- und verwaltungsrechtlich ist
das alles hochproblematisch.

Uns liegen verschiedene Anträge zur Verlängerung
der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes vor. Die FDP will
die Gültigkeitsdauer bis 2010 verlängern und die Union
sogar – nach dem Motto „Wer bietet mehr?“ – bis 2019.
Die Union möchte, dass es bis 2019 ein Sonderrechtsge-
biet Ost und damit ein zwischen West und Ost gespalte-






(A) (C)



(B) (D)


Albert Schmidt (Ingolstadt)


nes Recht gibt. Das ist die Rechtsauffassung der Retter
des Nationalfeiertages.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dazu kann ich nur sagen: Das ist alles Unfug.
Wir gewährleisten hier – das ist vernünftig –, dass

kein Dezemberfieber ausbricht und dass vor dem Ablau-
fen der Gültigkeitsdauer des Gesetzes schnell noch
schlampige, also nicht ausreichend sorgfältig ausgear-
beitete Planungen eingereicht werden, um noch davon
zu profitieren, dass der Instanzenweg auf das Bundes-
verwaltungsgericht beschränkt ist. Das muss verhindert
werden. Deswegen ist die Verlängerung um ein Jahr
sinnvoll. Sie ist zielführend, weil damit ein übertriebener
Zeitmangel, aber auch eine übertriebene Verlängerung
einer Ausnahmerechtssituation bis auf den Sankt-Nim-
merleins-Tag vermieden wird.

Wir brauchen letztlich keine Verkürzung von Rechts-
wegen, um Verkehrswege in Deutschland schneller pla-
nen und bauen zu können. Wir brauchen in erster Linie
eine verantwortliche Bürgerbeteiligung einschließlich
aller Instanzen.

Die Erfahrung zeigt – das sagt auch Herr Hien vom
Bundesverwaltungsgericht Leipzig –: In 95 Prozent aller
Fälle, die überhaupt beklagt werden, reicht eine Instanz;
nur 5 Prozent gehen überhaupt in die nächste Instanz,
zum Bundesverwaltungsgericht.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513823900

Herr Kollege, auch Sie darf ich an die Redezeit erin-

nern.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ich komme zum letzten Satz. – Von daher ist die Ar-
beit eines Oberverwaltungsgerichts, das ortsnah ist, das
Ortstermine schnell und mit größerer Sachkenntnis orga-
nisieren kann, der richtige Weg. Das ist die Erfahrung,
die wir gemacht haben und die auch in verschiedenen
Berichten niedergelegt ist. Danach haben wir gehandelt.
Alles andere ist ideologische Schaumschlägerei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513824000

Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)



Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1513824100

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Dass nun ausgerechnet die Partei, die
beim Gesetzgebungsverfahren zum Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetz mit Schaum vor dem Mund
die Bedenken durch das Land getragen hat und von Be-
schneidung der Bürgerrechte sowie katastrophaler Ver-
kehrswegeplanung gesprochen hat, bei der Verteidigung
dieses Gesetzes uns Ideologie vorwirft, ist schon er-
staunlich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn am 9. November 2004 ein Gesetzentwurf vor-
gelegt wird, der der Zustimmung des Bundesrates bedarf
– dazu muss man wissen, dass die letzte Sitzung des
Bundesrates in diesem Jahr am 17. Dezember stattfin-
det –, dann kann das nur wieder ein Gesetzgebungsver-
fahren im Schweinsgalopp werden – mit allen offenen
Fragen – oder von vornherein das Eingeständnis sein:
Wir haben irgendwo die Notbremse gezogen; wir wuss-
ten uns nicht mehr anders zu helfen. Das zeigt, dass man
eben nicht ein geordnetes Gesetzgebungsverfahren zur
Lösung all dieser Fragen auf den Weg bringen möchte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Renate Blank [CDU/CSU]: Die Notbremse gezogen!)


Der Kollege Dirk Fischer hat schon darauf hingewie-
sen: Unser Vorschlag, Herr Kollege Beckmeyer, ist vom
18. Dezember 2002. Die Kollegen der Union haben im
Februar 2003 einen Gesetzentwurf vorgelegt, fast gleich
lautend mit einem Gesetzentwurf des Bundesrates. Sie
haben dagegen bis vorgestern gebraucht, um wenigstens
einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vorzule-
gen; wahrscheinlich wollten Sie sich nicht auch noch die
Zeit für die Stellungnahme des Bundesrates aufbürden
lassen.

Ihr Gesetzentwurf bleibt allerdings die Antworten auf
die wesentlichen Punkte des Erfahrungsberichts schul-
dig. Was muss ich denn daraus entnehmen, wenn es im
Einleitungsteil heißt: „Die Bundesregierung beabsich-
tigt, für ganz Deutschland weitere Maßnahmen zur Pla-
nungsbeschleunigung und -vereinfachung und Verbesse-
rung des Verfahrensmanagements zu ergreifen“? Wo
sind denn Ihre konkreten Vorschläge dazu? Seit 2003
versprechen Sie den Länderverkehrsministern Vor-
schläge dazu. Nichts davon steht im Gesetzentwurf,
nichts.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das eigentlich Entscheidende in Ihrem eigenen Erfah-
rungsbericht ist – das widerlegt all Ihre Bedenken vom
Beginn der Debatte 1991/92 –, dass selbstverständlich
sorgfältig damit umgegangen wird, aber jetzt zu erken-
nen ist, dass durch Umweltvorschriften, überwiegend
solche der EU, das, was man durch Verfahrensverkür-
zungen an Zeitersparnis erreicht hat, mittlerweile aufge-
fressen zu werden droht.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja kein Beschleunigungsgesetz! Wollen Sie das EU-Recht abschaffen? Oder was?)


Herr Kollege Schmidt, aus dem Punkt 3.2 „Beschrän-
kung des Rechtsweges auf eine Instanz“ in der Zusam-
menfassung in der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung ist die Aussage zu zitieren, dass eine Verkürzung
des Rechtswegs auf eine Instanz eine Beschleunigung






(A) (C)



(B) (D)


Horst Friedrich (Bayreuth)


des gerichtlichen Verfahrens um circa ein bis einein-
halb Jahre bringen wird.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Des gerichtlichen Verfahrens, wenn es überhaupt eines gibt! In 95 Prozent der Fälle gibt es keines!)


Das ist genau die Zeit, um die es geht und um die das
Verfahrensbeschleunigungsgesetz dem Planungsverein-
fachungsgesetz immer noch überlegen ist. Über diese
Zeit müssen wir reden.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie können nicht lesen!)


– Natürlich. Ich habe es Ihnen gerade vorgelesen. Oder
leugnen Sie, dass das in dem Erfahrungsbericht steht?


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber wo keine Planung stattfindet, kann sie nicht beschleunigt werden!)


– Aber hundertprozentig steht das darin.
Im Übrigen steht darin – auch das widerlegt Ihre Aus-

sagen zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens –, dass
man ordentlich damit umgeht. Sie bestätigen selbst, dass
95 Prozent der Fälle nicht zum Gericht gehen. Warum
wehrt man sich dann dagegen, dass die Regelung mit
dem einen Instanzenzug auf das ganze Bundesgebiet
ausgedehnt wird?


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil das unpraktikabel ist!)


Unser Gesetzentwurf vom 2. Dezember 2002 sieht
vor, Herr Kollege Schmidt, dass die Geltungsdauer nicht
einfach bis 2010 verlängert wird, sondern dass die Rege-
lung auch auf beide Teile Deutschlands ausgedehnt wird
und dann untersucht wird, ob das verfassungsrechtlich,
planungsrechtlich und von der Abwicklung der Verfah-
ren her funktioniert. Genau das steht in unserem Ent-
wurf. Damit haben Sie sich bisher offenbar nicht befasst.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513824200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schmidt?


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1513824300

Natürlich, immer.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Kollege Friedrich, wollen Sie hier allen Ernstes
vorschlagen, dass ein einziges Gericht, nämlich das
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, in diesen Fra-
gen die Verwaltungsgerichtsbarkeit für das gesamte
Bundesgebiet übernehmen soll, dass es also die Allein-
zuständigkeit eines einzigen Gerichts für sämtliche Ver-
fahren in der ganzen Republik geben soll? Ist Ihnen be-
wusst, dass gerade dazu der Präsident des von Ihnen
beglückten Bundesverwaltungsgerichtes ausgeführt hat,
er müsse dann mehrere zusätzliche Senate einrichten,
weil sonst die Arbeit gar nicht zu bewältigen wäre?


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ist doch nicht jede Dorfstraße gemeint! – Ute Kumpf [SPD]: So sind sie halt, die FDPler!)



Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1513824400

Herr Kollege Schmidt, offensichtlich machen Sie das,

was Sie anderen vorwerfen, selbst auch. Sie regen sich
nämlich auf, bevor Sie alles gehört haben. Ich habe wört-
lich aus dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung
Punkt 3.2 zitiert:

Im Vergleich mit Verfahren, die in den alten Län-
dern geführt werden, dürfte die Verkürzung des
Rechtsweges auf eine Instanz

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dürfte!)

eine Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens
um ca. 1 bis 1½ Jahre bringen.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Des gerichtlichen Verfahrens, nicht des Planungsprozesses!)


– Er hört noch nicht einmal zu, wenn man antwortet.
Warum sollte ich Ihnen überhaupt noch antworten, Herr
Kollege Schmidt, wenn Sie sowieso alles besser wissen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich habe in all meinen Begründungen zu unseren Ge-

setzentwürfen gesagt, dass ich es in Kauf nehmen würde,
wenn das dazu führte, dass ein zweiter Senat beim Bun-
desverwaltungsgericht etabliert werden müsste. Dafür
fielen bei sämtlichen Oberverwaltungsgerichten die Ver-
kehrssenate weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wo gäbe es da eine Mehrung von Bürokratie – um auch
den anderen Zwischenruf noch zu beantworten? Man
kann sich gerne darüber streiten, ob es Sinn macht. Nur
wenn von den planfeststellenden Behörden mit den
Rechten der Bürger bei diesen Fragen so verantwor-
tungsbewusst, wie es die Bundesregierung in ihrem eige-
nen Erfahrungsbericht dokumentiert hat, umgegangen
wird, dann sollte man meiner Meinung nach die Chance
nutzen und in einem Versuch bis 2010 testen, ob eine
solche Verkürzung des Instanzenweges funktioniert. Da-
für könnte man auch die Einrichtung eines zweiten Sena-
tes beim Bundesverwaltungsgericht in Kauf nehmen.
Darüber können wir uns gerne streiten; dazu mögen un-
terschiedliche Auffassungen bestehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!)


Das Problem, vor dem ich stehe, ist, dass Sie offen-
sichtlich die Situation nicht ernst nehmen. Ich fürchte,
dass Sie über den Umweg des EU-Umweltrechtes ver-
suchen werden, die Vereinfachungen, die wir mit dem
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Pla-
nungsrecht umgesetzt haben, rückgängig zu machen,






(A) (C)



(B) (D)


Horst Friedrich (Bayreuth)



(Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig! – Jürgen Türk [FDP]: Richtige Vermutung!)

nämlich zügigere Verkehrsplanungen zum Wohle aller.
Es muss doch zu denken geben, Herr Kollege Schmidt,
dass Sie hier gerade Bayern als Beispiel zitiert haben.
Sie sollten doch eigentlich wissen, dass das Verkehrswe-
geplanungsbeschleunigungsgesetz in Bayern, abgese-
hen von drei Ausnahmen, nicht gilt. Bei den drei Aus-
nahmen handelt es sich um die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ A 9, A 71 und A 73. Sie sind im We-
sentlichen bereits abgeschlossen. Was soll also der ent-
sprechende Vorhalt hier? Warum vergießen Sie darüber
Krokodilstränen? Wer auf andere zeigt, sollte sich zu-
nächst einmal überlegen, welche Gesetzgebungsarbeit er
selber zu leisten hat.

Ich bleibe dabei: Ich freue mich, dass mittlerweile
auch die Kollegen von der Union bereit sind, darüber
nachzudenken,


(Lachen bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Wir sind Vordenker! – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist der Schlussapplaus verdorben!)


die Rechtssituation mit dem Bundesverwaltungsgericht
auf die alten Länder auszudehnen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Zwangsbeglückung des Bundesverwaltungsgerichts!)


Ich stimme Ihnen zu, dass wir kein zweigeteiltes Pla-
nungsrecht in Deutschland bis zum Jahr 2019 benötigen.
Da sind wir uns völlig einig.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Den Blödsinn auf ganz Deutschland ausdehnen!)


Ich bin allerdings ebenso der Meinung, dass eine Verlän-
gerung der geltenden Regelung bis zum Jahre 2005 das
Problem in keiner Weise löst.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513824500

Das Wort hat der Kollege Peter Danckert, SPD-Frak-

tion.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1513824600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Aufregung, die hier vonseiten der CDU/CSU und
auch von Herrn Friedrich von der FDP verbreitet wurde,
verstehe ich ehrlich gesagt nicht.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich war nicht aufgeregt! Das war der Kollege Schmidt!)


Angesichts der Geschichte dieses Gesetzes mit dem
monströsen Namen hat wohl keiner hier im Raum
Grund, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Natürlich!)

Dieses Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
wurde 1991 unter Ihrer Regierung beschlossen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Gott sei Dank!)


Wissen Sie, mit welcher Geltungsdauer? Bis 1995, also
für vier Jahre. Diese Zeit hatten Sie sozusagen im Blick.
Sie waren der Meinung, dass dieses Gesetz nur vier
Jahre gelten sollte.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir haben es aber rechtzeitig verlängert!)


Heute bringen Sie einen Gesetzentwurf ein, der die Gel-
tungsdauer bis zum Jahre 2019 ausdehnt. Wie kann man
mit dem Finger auf andere zeigen, wenn man selbst ein
so widersprüchliches Verhalten an den Tag legt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Geltungsdauer des Gesetzes ist dann 1995 – das
sage ich, damit wir die historische Wahrheit nicht ver-
drängen; ich habe ja Verständnis dafür, dass man das
will, aber das sollte man nicht tun – bis 1999 verlängert
worden.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wieder nur für vier Jahre! Warum nur für vier Jahre?)


Daran haben Sie auch mitgewirkt. Nach meiner Erinne-
rung waren Sie damals an der Regierung. Dann hat sich
herausgestellt, dass weiterer Bedarf bestand. Deshalb ha-
ben wir das 1999 zunächst einmal bis zum 31. Dezember
2004 verlängert. Das ist die Situation.

Zwischenzeitlich haben viele Erfahrungen aus diesen
planungsrechtlichen Vorgängen dazu geführt, dass man
ein Planungsvereinfachungsgesetz erarbeitet hat. Daran
haben auch Sie mitgewirkt; Sie haben ja gerade dem
Kollegen Schmidt vorgeworfen, dass er damals vehe-
ment dagegen gestimmt hat.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da war ich noch gar nicht im Bundestag! Ich bin erst 1994 Mitglied des Hohen Hauses geworden!)


Aus meiner heutigen Sicht – ich war damals nicht im
Parlament – war es sicherlich eine sinnvolle Maßnahme,
dieses Gesetz zu verabschieden. Planungsvereinfa-
chung ist doch das Gebot der Stunde. Wir wollen unsere
Bürgerinnen und Bürger an den Planungen beteiligen.
Das heißt ja nicht, dass Planungszeiträume von 20 bis
30 Jahren angemessen sind; das kann wirklich nicht die
Lösung sein.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist aber die Realität!)


Von daher war es die richtige Entscheidung, das Pla-
nungsvereinfachungsgesetz zu erarbeiten und das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu verlän-
gern. Wir haben die Fristen verkürzt und die Behörden
haben effektiver zusammengearbeitet. Dadurch hat sich
wirklich eine Straffung ergeben, die insbesondere in den
neuen Ländern viel bewirkt hat, weil gerade dort sehr






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert

viele Maßnahmen im Straßenbau, im Wasserstraßenbau
und im Schienenbau erforderlich waren.

Ein weiterer Grund für die damalige Entscheidung
war, dass die Oberverwaltungsgerichte noch nicht einge-
richtet waren. Wie ich glaube – vielleicht bin ich da mit
unserem grünen Koalitionspartner nicht unbedingt einer
Meinung –, war es eine weise Entscheidung, die gericht-
liche Überprüfung auf eine Instanz zu beschränken. Da-
mit ist der Rechtsstaatsgarantie Genüge getan worden.
Das hat in der Tat zu einheitlichen Entscheidungen ge-
führt. Auch das muss man einmal sehen. Wenn wir das
wieder ändern – das scheint ja in der Debatte zu sein –
und die Oberverwaltungsgerichte erstinstanzlich ent-
scheiden lassen, dann muss als weitere Stufe das
Bundesverwaltungsgericht die Vereinheitlichung der
Rechtsprechung wiederherstellen. Das ist ein kompli-
zierter Vorgang. Deshalb spricht, glaube ich, viel dafür,
es bei einer Entscheidungsinstanz zu belassen. Ich weiß
nicht, ob nun beim Bundesverwaltungsgericht ein weite-
rer Senat eingerichtet werden muss oder nicht.


(Beifall bei der FDP)

Die Tatsache, dass es nur eine Instanz gab, hat in den

letzten 15 Jahren dazu geführt, dass wir in diesen Fra-
gen, die insbesondere die neuen Länder betreffen, eine
einheitliche, zügige Rechtsprechung hatten. Lieber ge-
schätzter Kollege Schmidt, wenn wir die Zeiteinsparung
von eineinhalb bis zwei Jahren, die sich durch diese zü-
gige Rechtsprechung ergeben hat, verlieren – das wäre
nämlich der Fall, wenn wir den Instanzenzug von Ober-
verwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht wie-
derherstellen würden –, dann ist das eine Planungsverzö-
gerung, die nicht zu akzeptieren ist und die man
niemandem erklären kann. Es geht dann nur noch um die
rechtliche Überprüfung. Wenn die Oberverwaltungsge-
richte uneinheitlich entscheiden, dann haben wir an die-
ser Stelle ein Problem. Von daher sollten wir darüber in
aller Ruhe noch einmal miteinander reden.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da ist der Präsident anderer Meinung!)


Der Gesetzentwurf, den die FDP eingebracht hat, geht
in eine ganz andere Richtung. Er sieht vor, dass das Pla-
nungsrecht gesamtdeutsch angelegt sein soll. Das ist na-
türlich im Augenblick ein zusätzliches Problem, weil wir
an dieser Stelle verfassungsrechtliche Gesichtspunkte
beachten müssen. Wir wissen ja, was der Präsident des
Bundesverwaltungsgerichtes – er ist eben schon zitiert
worden – dazu gesagt hat. Er hatte – ich will es einmal
vorsichtig ausdrücken – ganz erhebliche Bauchschmer-
zen, was diesen Vorgang angeht. Nun kann man mit dem
Kopf schütteln und das für bedenklich halten; das ist je-
denfalls die Situation.

Wenn wir das resümieren, dann stellen wir fest, dass
wir ganz unterschiedliche Denkansätze gehabt haben.
Deshalb sollten wir in aller Ruhe prüfen, was eigentlich
notwendig ist. Auch wir waren anfangs im Zweifel, ob
eine weitere Verlängerung wirklich erforderlich ist. Wir
haben dann auf die neuen Länder gehört, nicht nur auf
das, was die Verkehrsminister gesagt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was haben uns die neuen Länder empfohlen? Wir haben
an dieser Stelle nachgefragt. Dabei hat sich herausge-
stellt, dass sehr viele Projekte unter dem Gesichtspunkt
der Linienführung noch nicht so weit sind, dass sie unter
dem jetzt geltenden Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetz abgewickelt werden können. Viele wichtige
Projekte in den neuen Ländern, die eine wirtschaftliche
Entwicklung in den neuen Ländern in Gang setzen
würden, wenn sie umgesetzt werden könnten, ließen
sich nach jetzigem Rechtszustand, der ein Auslaufen
des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
zum 31. Dezember dieses Jahres vorsieht, nicht realisie-
ren.

Die Fülle der Projekte, die wir uns sehr genau angese-
hen haben, hat uns dazu gebracht, unseren geschätzten
Koalitionspartner, der nicht allzu große Bereitschaft ge-
zeigt hat – wenn ich das einmal so vornehm sagen
darf –,


(Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


zu überzeugen und mit ihm einen Kompromiss zu fin-
den. Ich finde das gar nicht besonders problematisch. Zu
anderen Zeiten konnten Sie von der CDU/CSU die FDP
nicht immer überzeugen und umgekehrt.

Wir haben hier einen Kompromiss gefunden, der ak-
zeptabel ist


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ein Kompromiss ist Ausdruck von Demokratie!)


und der Ausdruck von Demokratie und von einem guten
Verhältnis zueinander ist. Wir haben uns auf den
31. Dezember nächsten Jahres verständigt. Ich hoffe
– das ist meine Bitte an die Bundesregierung –, dass wir
bis dahin ein gesamtdeutsches Planungsvereinfachungs-
gesetz realisieren können. Das wird nicht ganz einfach
sein. Ich vermute, dass es viele Diskussionspunkte auch
aus Ihren Kreisen geben wird und dass wir Anhörungen
stattfinden lassen werden. Aber ein einheitliches Pla-
nungsrecht ist das eigentliche Ziel, hinter das auch Sie
sich eigentlich stellen könnten.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da sind wir uns einig!)


– Ein Planungsrecht für Gesamtdeutschland ist auch Ihre
Absicht. Insofern müsste es unser gemeinsames Ziel
sein, so schnell wie möglich ein effektives Planungsver-
einfachungsgesetz zustande zu bringen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Für alle Bauprojekte!)


Ursprünglich wollten wir bis 2006 abwarten. Ich bin
ganz froh, dass jetzt auch für das Ministerium ein gewis-
ser Zeitdruck entsteht. Das kann gar nicht schädlich sein.
Ich hoffe, dass Anfang des Jahres ein passabler Gesetz-
entwurf vorliegt, an dem wir uns dann abarbeiten kön-
nen, den wir in den Arbeitsgruppen und in den Aus-
schüssen diskutieren können und den wir dann hier im






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Danckert

Plenum verabschieden können. Ich glaube, das ist der
richtige Weg.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie sich der Verlän-
gerung um ein Jahr, verbunden mit der Erwartung, dass
dann ein einheitliches Planungsvereinfachungsgesetz zu-
stande kommt, anschließen könnten. Das entspricht der
Intention der Verkehrsminister, die natürlich etwas mehr
erwartet haben. Aber wenn wir ein für ganz Deutschland
einheitliches Planungsvereinfachungsgesetz im Fokus
haben, dann müssen wir als Parlament jetzt Druck ma-
chen. Das können wir nicht tun, indem wir das Gesetz
bis 2010, 2015 oder 2019 verlängern.

Das ist der richtige Weg. Schließen Sie sich unserem
Vorschlag an! Wir haben ein gemeinsames Ziel. Seien
wir an dieser Stelle einmal ehrlich: Die Materie ist so
neutral, dass sie sich für eine parteipolitische Auseinan-
dersetzung wahrlich nicht eignet.


(Beifall bei der SPD)

Wir wollen im Interesse der Bürger deren Beteiligung

und im Interesse der Wirtschaft, die sich darauf verlas-
sen muss, eine schnelle Änderung. Damit ist uns allen
gedient. Das dient der Entwicklung der Verkehrsinfra-
struktur in den neuen Ländern und der zügigen Abwick-
lung dessen, was wir im neuen Fernstraßenausbaugesetz
beschlossen haben. Es ist der entscheidende Punkt, dass
wir an dieser Stelle zu einem positiven Ergebnis kom-
men.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513824700

Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Zeit erinnern?


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1513824800

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen

für Ihre Erkältung alles Gute.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513824900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Blank,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1513825000

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!

Kollege Danckert, in einem Punkt gebe ich Ihnen Recht:
Der Gültigkeitszeitraum des Gesetzes war von Anfang
an etwas zu knapp bemessen. Aber im Unterschied zu
Ihnen haben wir das rechtzeitig gemerkt und ihn verlän-
gert, während Sie unter Schmerzen und erst am
9. November endlich mit dem grünen Koalitionspartner
eine Gesetzesvorlage gemacht haben.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Sie haben zunächst bis 1995 beschlossen und dann bis 1999 verlängert!)


Dass sich die Bundesregierung und Rot-Grün mit die-
sem Gesetz sehr schwer tun, lässt sich leicht mit Äuße-
rungen aus den vergangenen Jahren belegen. Ich zitiere
aus dem stenografischen Protokoll vom 7. November
1991 eine SPD-Kollegin:

Zu einem raschen Wirtschaftsaufschwung in den
neuen Bundesländern trägt das Gesetz nicht bei. Im
Gegenteil, es behindert die eigenständige regionale
Entwicklung auf Jahre hinaus. Statt den Bestand der
Verkehrswege zu sichern, erhält der Verkehrsminis-
ter ein Ermächtigungsgesetz und damit einen Blan-
koscheck auf die verkehrspolitische Zukunft und
dieser Blankoscheck ist auch noch ungedeckt.
Hier wird nämlich ein Sonderrecht nicht zugunsten,
sondern zulasten der Bürger und Bürgerinnen in
den neuen Bundesländern geschaffen. Weder die
technische Qualität der Planungen noch die wirk-
same Umweltvorsorge noch die Rechtssicherheit
und der Rechtsschutz der Bürger werden gewähr-
leistet.

So viel zu den Äußerungen von damals und Ihrer ne-
gativen Haltung.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer war das? Wir raten mit!)


Angesichts des Erfolges dieses Gesetzes ist das nahezu
peinlich, meine Damen und Herren von Rot-Grün.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wer war das denn? Wenn das ein Zitat ist, müssen Sie das schon belegen!)


Tatsache ist auch, dass der heftigste Widersacher da-
mals die niedersächsische Landesregierung mit Minis-
terpräsident Schröder und Landesminister Trittin war.
Man merkt, dass Sie lange brauchen, bis Sie in die Pu-
schen kommen. Auch die SPD und die Bündnisgrünen
haben gegen das Gesetz gestimmt. Man muss Ihnen die
Geschichte schon einmal vorhalten, Kollege Beckmeyer,
damit Sie sie mit dem vergleichen können, was Sie heute
sagen. Da sind manche Dinge peinlich.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ich war nicht dabei!)


1999 war es ein großer Kraftakt, mit einem Bundes-
kanzler Schröder und einem Bundesminister Trittin die
Gültigkeit des Gesetzes zu verlängern. Nur durch eine
Paketlösung ist das damals gelungen.

So versucht Rot-Grün bis heute mit allerlei faden-
scheinigen Argumenten, den Erfolg des Gesetzes klein
zu reden, den Bedarf für erledigt zu erklären und somit
eine fehlende Notwendigkeit für eine Verlängerung der
Geltungsdauer des Gesetzes zu konstruieren, obwohl
doch auch in einer Anhörung von Experten durch die
SPD-Fraktion im März 2003 festgestellt wurde – Frau
Präsidentin, ich zitiere wieder –:

Das VerkPBG habe unter Wahrung der Bürger-
rechte eine schnelle und kompetente Durchführung
von Klageverfahren ermöglicht, die sonst nicht
möglich gewesen wäre. Es habe nach der Wieder-
vereinigung ein großes Maß an Akzeptanz auf allen
Seiten bestanden, möglichst rasch den Zustand der
Verkehrsinfrastruktur zu verbessern. Die Bevölke-






(A) (C)



(B) (D)


Renate Blank

rung habe dieses Anliegen des VerkPBG unterstützt
und so eine friedliche und sehr schnelle Abwick-
lung der Verfahren ermöglicht.

Vergleichen Sie jetzt einmal Ihre Worte von 1991 mit
den Worten der Experten in dieser Anhörung! Dann
müssten Sie sich doch eigentlich Ihrer Bemerkungen aus
dem Jahr 1991 schämen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Da war nur eine falsche Regierung! – Dr. Peter Danckert [SPD]: Frau Blank, jetzt doch nicht mehr! Das ist doch verjährt! Sie müssen nicht so viel in der Vergangenheit leben!)


Das Fazit aus all den Jahren: Die Wahrnehmung und
Argumentation von Rot-Grün und die Wirklichkeit der
Menschen sind weiter denn je voneinander entfernt.

Um dies zu ändern, sollten Sie unserem Gesetzent-
wurf zustimmen, denn das Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetz hat zu einer erheblichen Verkür-
zung der Genehmigungsverfahren geführt, ohne dass
der Rechtsschutz von Betroffenen eingeschränkt worden
ist.

Für den Aufbau Ost – wir hatten ja vorhin eine Dis-
kussion darüber – war und ist eine Überregulierung, wie
wir sie im Westen teilweise haben, ein regelrechter Klotz
am Bein.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Darum machen wir Planungsvereinfachung!)


Wir brauchen einen Aufschub des Verfalls des Geset-
zes. Die rot-grüne Verweigerung läuft darauf hinaus,
dass demnächst beispielsweise wieder der Instanzenzug
in verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten eröffnet wird.
Was das bedeutet, ist aus der Vergangenheit und aus den
alten Bundesländern hinlänglich bekannt: Es ist mit zeit-
aufwendigen Klageverfahren zu rechnen. Es gibt Pro-
jekte, die seit über 30 Jahren beklagt werden.

Im Bundesrat, meine Damen und Herren, wird dies,
unabhängig von der Parteizugehörigkeit, genauso gese-
hen. Die Verkehrsministerkonferenz hat einstimmig eine
Verlängerung der Geltungsdauer des gegenwärtig noch
gültigen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset-
zes bis 2019 beschlossen; denn diese ist für ein zügiges
Umsetzen der noch vor uns stehenden Verkehrsplanun-
gen unabdingbar. Also stimmen Sie unserem Gesetzent-
wurf im Ausschuss am besten zu!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513825100

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Volkmar Vogel, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1513825200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Bei einem ist die rot-grüne Bundesregierung ge-
schickt, nämlich wenn es darum geht, Namen für Ge-
setze zu finden.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was?)


Zum Beispiel heißt eine Ihrer Gesetzesänderungen, die
einen 17-seitigen Antrag nach sich zieht, schlicht
„Hartz IV“.

Die Union verabschiedete im Dezember 1991 das
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mit der FDP! So viel Zeit muss sein!)


Das ist zugegebenermaßen ein schwieriger Name für ein
Gesetz, das Bürokratie verhindert, Entscheidungen be-
schleunigt und durch das wichtige Infrastrukturprojekte
schneller verwirklicht werden können. Dieses Gesetz hat
wesentlich zu den Erfolgen des Aufbaus Ost beigetra-
gen. Daher sollte es nach meiner Meinung besser Auf-
baugesetz heißen.

Autobahnprojekte wie die A 71, die A 73 oder auch
die Ostseeautobahn A 20 würden heute vielleicht nur
über die Flure der Verwaltungsgerichte verlaufen, gäbe
es dieses Gesetz nicht.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Sei doch froh, dass es anders ist!)


Auch Länder wie Bayern, Niedersachsen, Hessen und
Schleswig-Holstein konnten von der Verfahrensbe-
schleunigung profitieren, wenn es sich um länderüber-
greifende Projekte handelte. Die Realisierung der Ver-
kehrsprojekte ist für die neuen Länder von zentraler
Bedeutung. Darum will die Unionsfraktion, dass dieses
Aufbaugesetz weiterhin Bestand hat. Es hat sich in der
Praxis bewährt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist daher völlig unverständlich, dass die Bundes-

ratsinitiative des Freistaates Thüringen und der Gesetz-
entwurf der CDU/CSU-Fraktion, dieses Gesetz bis zum
Jahre 2019 zu verlängern, im Verkehrsausschuss keine
Mehrheit gefunden haben. Das daraufhin von der Bun-
desregierung für den Sommer 2004 angekündigte Gesetz
zur Planungsbeschleunigung für Gesamtdeutschland
liegt leider immer noch nicht vor. Ich bin der Meinung,
das Herz dieser Bundesregierung schlägt eben nicht für
Ostdeutschland.


(Peter Dreßen [SPD]: Das wird durch Wiederholen nicht wahrer!)


Die Diskussion über die Abschaffung des 3. Oktobers
als unseren Nationalfeiertag hat dies in aller Deutlichkeit
gezeigt.

Was wir brauchen, ist mindestens die Verlängerung
der Gültigkeitsdauer des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes über den 31. Dezember dieses
Jahres hinaus, bis eine neue Regelung in Kraft tritt.


(Zuruf von der SPD: Das machen wir doch!)

Nur so bleibt Planungssicherheit für notwendige und an-
stehende Verkehrsprojekte erhalten.






(A) (C)



(B) (D)


Volkmar Uwe Vogel


(Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Das wird doch gemacht! Das ist lang und breit erörtert worden!)


Sinnvoll ist aus unserer Sicht eine bundeseinheitliche
Regelung.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Auch das wird gemacht!)


Was sich beim Aufbau Ost bewährt hat, wird auch dem
Aufschwung ganz Deutschlands helfen. Diese Regelung
wird aber leider aufgrund der Untätigkeit der Bundes-
regierung am 1. Januar 2005 nicht in Kraft sein. Nur
durch unsere Initiative und durch den Druck der Länder
hat Rot-Grün doch noch einen eigenen Gesetzentwurf im
Hauruckverfahren ins Parlament gebracht und will die-
sen wohl bis zum 17. Dezember durchpeitschen. Dessen
Halbherzigkeit zeigt sich nach unserer Auffassung vor
allen Dingen darin, dass die Gültigkeitsdauer nur um ein
Jahr verlängert werden soll.

Doch mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Damit
es überhaupt vorwärts geht, werden wir uns dem rot-grü-
nen Gesetzentwurf nicht verschließen, wenngleich auch
hier deutlich zu erkennen ist, dass diese Entscheidungen
der rot-grünen Bundesregierung den Menschen keinerlei
Planungssicherheit geben. Denn – auch das muss gesagt
werden – noch im September vertraten Sie im Verkehrs-
ausschuss die Ansicht, dass eine Verlängerung dieses
Gesetzes nicht notwendig ist.

Bitte führen Sie sich noch einmal vor Augen, was wir
in 15 Jahren nach dem Fall der Mauer erreicht haben.
Wichtige Projekte wie die Neu- und Ausbaustrecken der
Autobahnen, der Bau neuer Schienenwege und neuer
Wasserstraßen und zum Beispiel auch der Aufbau der
gesamten Infrastruktur um den Flughafen Leipzig sind
so schnell zustande gekommen, weil es dieses Aufbau-
gesetz gab. Wir müssen uns die Frage stellen: Wohin
würde die DHL wohl mit ihrem europäischen Logistik-
zentrum und den über 6 000 Arbeitsplätzen gehen, wenn
der Ausbau dieser Infrastruktur um Leipzig immer noch
bei Gericht anhängig wäre?

Viele Fernstraßenprojekte sind realisiert oder im Bau.
In den nächsten Jahren brauchen wir eine Planungsbe-
schleunigung für die schnellen Anbindungen der Regio-
nen an das Fernstraßennetz. Dazu gehören auch Umge-
hungsstraßen als Entlastung für Mensch und Umwelt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheiden Sie
sich für den Aufbau Ost und für den Aufschwung
Deutschlands!


(Peter Dreßen [SPD]: Haben wir doch immer gemacht!)


Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Alles andere wäre
halbherzig und planlos.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1513825300

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Änderung des Verkehrswege-
planungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/
777. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzuleh-
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/461:
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/
CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/221: Der
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen emp-
fiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP
und der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 7 b: Unter Nr. 4 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/3843 empfiehlt
der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
in Kenntnis des Erfahrungsberichtes der Bundesregie-
rung zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/4164. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.

Zusatzpunkt 4: Interfraktionell wird Überweisung des
Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/4133 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie

Zusatzpunkt 5 auf:
8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf

Bindig, Lilo Friedrich (Mettmann), Angelika
Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Thilo
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Humanitäre Verantwortung für Menschen in
Not
– Drucksache 15/4149 –

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über die deut-
sche humanitäre Hilfe im Ausland 1994 bis
1997
– Drucksache 14/3891 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über die deut-
sche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis
2001
– Drucksache 15/2019 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Haibach, Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten
– Drucksache 15/4130 –

Die Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Karin
Kortmann, Melanie Oßwald, Holger Haibach, Anke
Eymer (Lübeck), Thilo Hoppe und Rainer Funke sowie
die Staatsministerin Kerstin Müller haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)

Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll

abgedruckt.
nen auf Drucksache 15/4149 mit dem Titel „Humanitäre
Verantwortung für Menschen in Not“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP
angenommen.

Tagesordnungspunkte 8 b und 8 c: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 15/3891 und 15/2019 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Zusatzpunkt 5: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4130 mit
dem Titel „Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestal-
ten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und
Enthaltung der FDP abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia
Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bildungsarmut in Deutschland feststellen und
bekämpfen
– Drucksache 15/3356 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Bernward Müller (Gera), Werner Lensing,
Grietje Bettin und Ulrike Flach haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.2) Die Kollegin Gesine Multhaupt will
ihre Rede halten. Das ist verständlich, weil es ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag ist.


(Beifall)

Das Wort hat die Kollegin Gesine Multhaupt. Bitte
schön.


Gesine Multhaupt (SPD):
Rede ID: ID1513825400

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Chancengleichheit verwirklichen, eine solide
Grundbildung für alle unabhängig von der sozialen Her-
kunft oder der kulturellen Zugehörigkeit, verlässliche
berufliche und akademische Aus- und Weiterbildung,
das sind für uns Sozialdemokraten die wichtigsten Leit-
gedanken unserer Bildungspolitik.


(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund unterstützen und begrüßen

wir grundsätzlich die im vorliegenden Antrag aufge-
stellte Forderung, Bildungsarmut in Deutschland zu be-
2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll

abgedruckt.






(A) (C)



(B) (D)


Gesine Multhaupt

kämpfen. Aufgrund unserer Tradition, also historisch be-
gründet, und vor dem Hintergrund der großen Aufgaben,
die vor uns liegen, ist es für uns Sozialdemokraten ent-
scheidend, in dieser Debatte auf den Zusammenhang
von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit im
Bildungswesen hinzuweisen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen das Bildungswesen auf Integration und
Motivation ausrichten und Selektion und Sanktionen
entgegenwirken. Gut ausgebildete Menschen aus allen
Bereichen unserer Gesellschaft sind das Fundament un-
serer wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Für die Förderung aller jungen Menschen in unserer Ge-
sellschaft unabhängig von ihrem sozialen oder kulturel-
len Milieu darf es nie zu früh, aber auch nie zu spät sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Frak-
tion, diesen Grundsatz in der Arbeitsmarkt- und Bil-
dungspolitik von morgen, diesen umfassenden Anspruch
vermisse ich in der Rhetorik des von Ihnen vorgelegten
Antrags ein wenig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im vorliegenden Antrag wird beispielsweise die Forde-
rung nach theoriegeminderten Berufsbildern aufgestellt.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen zunächst mit der
OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ antworten.
Dort heißt es:

Es muss mehr in weiterführende Ausbildungsgänge
gesteckt werden, in denen die Menschen fit für die
beruflichen und sozialen Anforderungen der Zu-
kunft gemacht werden. Das ist sehr viel wichtiger
als einzelne Qualifikationen, die heute vielleicht
nachgefragt werden, langfristig aber keine Zu-
kunftsperspektive haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese Erkenntnis aus der OECD-Studie beschreibt für

uns Sozialdemokraten treffend die große Aufgabe, die
vor uns liegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auf dem Arbeitsmarkt von morgen werden immer stär-
ker Beschäftigte nachgefragt, die in der Lage sind, sich
als Person weiterzuentwickeln und Innovationsfähigkei-
ten für sich zu nutzen. In diesem Sinne gilt es, Bildungs-
armut zu bekämpfen und alle jungen Menschen gleich-
berechtigt an unserem Bildungsgeschehen teilhaben zu
lassen.

Wir lassen unseren Worten Taten folgen. Mit dem
Ganztagsschulprogramm „Zukunft Bildung und Be-
treuung“ hat die Bundesregierung als Reaktion auf die
gravierenden sozialen Disparitäten in unserem Bildungs-
system das größte Schulentwicklungsprogramm auf den
Weg gebracht, das es in Deutschland je gab.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Und die da drüben haben nur gemotzt!)


Jeder Schüler kann durch eine ganztägige Betreuung
unabhängig von seiner sozialen Herkunft gefördert wer-
den. So gelingt es uns, gerade sozial schwächere Fami-
lien stärker als bisher in das Schulleben zu integrieren.
Ganztagsschulen leisten so einen Beitrag dazu, das Bil-
dungsgefälle zwischen lernstarken und lernschwachen
Schülerinnen und Schülern abzubauen.


(Jörg van Essen [FDP]: So viel zur Theorie!)

Ganztagsbetreuung darf nicht nur einseitig an sozialen
Brennpunkten oder aber nur in gutbürgerlichen Vororten
angeboten werden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sie soll und muss für Kinder unterschiedlichster sozialer
Herkunft offen sein. Das verstehen wir unter sozialer
Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Bildungsbe-
reich.

Bis 2010 werden wir außerdem schrittweise ein be-
darfsgerechtes Betreuungsangebot für Kinder unter drei
Jahren schaffen. Damit ermöglichen wir eine frühzeitige
individuelle Förderung unserer Kleinsten. In den letzten
Jahren hat die Forschung klar bewiesen, dass gerade die
frühkindliche Lernphase entscheidend die weiteren Bil-
dungs- und Lebenschancen prägt.

Die in Ihrem Antrag treffend beschriebene Gruppe
der großen Verlierer in unserer Gesellschaft sind nicht
selten Kinder, die vor Eintritt in die Grundschule nicht
ausreichend gefördert oder sogar vernachlässigt wurden.
Gleichzeitig unterstützen wir mit dem Tagesbetreuungs-
ausbaugesetz Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. Das
Armutsrisiko von Familien wird verringert und die ei-
genständige Lebensführung, insbesondere von Müttern
und Alleinerziehenden, wird ermöglicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die knappe Debat-
tenzeit erlaubt es mir nicht, alle von der Bundesregie-
rung bereits auf den Weg gebrachten Maßnahmen darzu-
stellen.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)

Lassen Sie mich deswegen nur kurz, Herr Lensing, zu
der von Ihnen geforderten sprachlichen Förderung von
Migrantinnen und Migranten sagen, dass Rot-Grün auch
hier bereits vieles auf den Weg gebracht hat:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Mittel für die Sprachförderung werden bis zum
Jahre 2005 auf insgesamt 141 Millionen Euro aufge-






(A) (C)



(B) (D)


Gesine Multhaupt

stockt; das ist eine Steigerung von rund 40 Millionen
Euro. Ohne Frage zeigt nicht zuletzt auch der Bericht der
Bund/Länder-Kommission, dass in allen Bundesländern
bei der Bekämpfung der Bildungsarmut eine Menge dis-
kutiert und auch angepackt worden ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Frak-
tion, im zweiten Absatz Ihres Antrags formulieren Sie
völlig zu Recht, dass Anstrengungen zur Verbesserung
der Lebenschancen von Migrantinnen und Migranten
nur im Zusammenwirken mit den Ländern entwickelt
werden können.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!)

An dieser Stelle würde mich besonders interessieren, ob
das auch Ihre Parteifreunde in den Länderparlamenten
wissen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Natürlich!)


insbesondere in den Bundesländern, in denen Sie in ei-
ner Regierungskoalition Verantwortung tragen.

Gestatten Sie mir darum an dieser Stelle einen Blick
auf die Bildungspolitik einiger von Ihrer Partei mitre-
gierter Bundesländer. Für die vorschulische Sprachför-
derung ausländischer Kinder steht in Niedersachsen
kein zusätzlicher Cent zur Verfügung.


(Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!)


Die schulbegleitende Sprachförderung für ausländische
Schülerinnen und Schüler wurde gestrichen, der mutter-
sprachliche Unterricht um 13 Prozent gekürzt.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So sind Sie!)


Die Lernmittelfreiheit wurde ganz abgeschafft, die
Hausaufgabenhilfe für alle Kinder gestrichen und die
kostenlose Schülerbeförderung stark eingeschränkt.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Bekämpfung der Bildungsarmut à la FDP! – Gegenruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das wird auch durch dumme Zwischenrufe von Herrn Tauss nicht besser! Dass ich mir das um 21 Uhr noch antue!)


In Hessen, so habe ich nachgelesen, fehlen 2 020 Leh-
rerstellen. Diese strukturelle Mangelversorgung hat zur
Folge, dass die Lehrerzimmer in Hessen immer leerer,
die Klassenzimmer aber immer voller werden.


(Jörg van Essen [FDP]: In Hessen trägt die FDP keine Regierungsverantwortung; das wollte ich nur einmal feststellen!)


Zeitgleich wird in Hessen die Chance vertan, veränder-
tes Lernen und eine intensive Förderkultur in neuen
Ganztagsschulen umzusetzen. Schulen, die Ganztags-
schulen werden wollen, werden hingehalten und abge-
blockt.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513825500

Frau Kollegin – –


Gesine Multhaupt (SPD):
Rede ID: ID1513825600

Zusätzlich wird durch eine Reihe von Maßnahmen

die frühe Auslese verschärft und die Durchlässigkeit
zwischen den Schulformen reduziert.

Natürlich will ich auch die Regierungskoalition in
Rheinland-Pfalz nicht unerwähnt lassen.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Und die in Nordrhein-Westfalen?)


Unter den Bundesländern spielt Rheinland-Pfalz beim
Ausbau der Ganztagsschulen eine führende Rolle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So doll ist es auch wieder nicht!)


Mit einem erheblichen finanziellen Kraftakt stellt die
Landesregierung in Rheinland-Pfalz zusätzliche Lehrer-
stunden für die pädagogische Arbeit zur Verfügung.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die SPD gegen die FDP durchgesetzt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1513825700

Frau Kollegin Multhaupt, kommen Sie bitte zum

Schluss.


Gesine Multhaupt (SPD):
Rede ID: ID1513825800

Mit einem von der Landesregierung finanzierten Bud-

get können die Schulen zusätzliches Personal einstellen,
beispielsweise für die Förderung unterschiedlich begab-
ter Schülerinnen und Schüler.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513825900

Liebe Kollegin Multhaupt, Sie haben Ihre Redezeit

mittlerweile um 50 Prozent überzogen. Auch bei der ers-
ten Rede hier im Deutschen Bundestag gibt es irgendwo
eine Grenze.


(Jörg Tauss [SPD]: Darf ich eine Zwischenfrage stellen? – Heiterkeit bei der SPD)



Gesine Multhaupt (SPD):
Rede ID: ID1513826000

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es große Ge-

rechtigkeitsdefizite hinsichtlich der Bildungschancen in
unserem Land gibt, ist keine neue Tatsache. Ich glaube,
ich habe deutlich gemacht, dass die rot-grüne Bundesre-
gierung auf einem guten Weg ist, diesen Disparitäten im
sozialen Bereich entgegenzuwirken.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Idee der
Chancengleichheit im Bildungsbereich in Ihren FDP-
Antrag aufnehmen und dieser Verantwortung auch in
den von Ihnen geführten Bundesländern nachkommen
würden.

Herzlichen Dank.






(A) (C)



(B) (D)


Gesine Multhaupt


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Damit haben wir ja schon angefangen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513826100

Frau Kollegin Multhaupt, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer

ersten Rede im Deutschen Bundestag.

(Beifall – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das nächste Mal wird die Redezeit verlängert!)

Ich muss allerdings dazusagen, dass Sie sich bei Ihrer
zweiten Rede an die Redezeit halten müssen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3356 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stabilisierung und Weiterentwicklung des ge-
nossenschaftlichen Wohnens
– Drucksache 15/4043 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Bei diesem Tagesordnungspunkt sollen die Reden zu
Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden
der Kollegen Wolfgang Spanier, SPD, Klaus Minkel und
Gerhard Wächter, CDU/CSU, Franziska Eichstädt-
Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, und Eberhard Otto,
FDP.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4043 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und
weiterer Gesetze
– Drucksachen 15/3784, 15/3984 –

(Erste Beratung 129. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 15/4173 –

1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Rüdiger Veit
Reinhard Grindel
Josef Philip Winkler
Dr. Max Stadler

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper für die Bundesregierung das Wort.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1513826200


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir können stolz darauf sein, dass wir die Zu-
wanderungsgesetzgebung in diesem Jahr gemeinsam er-
folgreich über die Bühne gebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze dient in erster
Linie dazu, dringende redaktionelle und gesetzestechni-
sche Anpassungen vorzunehmen, um eine reibungslose
Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes ab dem
1. Januar 2005 sicherzustellen. Dieses Ziel sollten wir
insbesondere im Interesse der Länder, die das neue Auf-
enthaltsrecht auszuführen haben, nicht aus den Augen
verlieren. Mit dem Änderungsgesetz soll und wird der
Kompromiss zum Zuwanderungsgesetz nicht infrage ge-
stellt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich appelliere auch an die Vertreter der Opposition,
dies nicht zu versuchen.

Die Mehrzahl der Änderungsvorschläge des Bun-
desrates, nämlich acht von 14, die auch von der CDU/
CSU-Fraktion eingebracht wurden, haben die Bundesre-
gierung und die Koalitionsfraktionen positiv aufgegrif-
fen. Sie sind jetzt Bestandteil des heute zur Abstimmung
stehenden Gesetzes. Das ist ein gutes Beispiel für das
konstruktive Umgehen mit diesen Vorschlägen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das sind aber keine wesentlichen Änderungen gewesen!)


Darüber hinaus wird mit der Schaffung einer Fundpa-
pierdatenbank ein Anliegen insbesondere der Innenmi-
nisterkonferenz aufgegriffen. Die Forderung wird auch
in dem hier zur Debatte stehenden Antrag der CDU/CSU
zur Beseitigung von Abschiebungshindernissen erhoben.
Mit der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ein-
richtung einer zentralen Passabgleichsstelle wird die Zu-
ordnung aufgefundener ausländischer Ausweispapiere






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper

zu passlosen ausreisepflichtigen Ausländern und damit
deren Rückführung erheblich erleichtert werden.

Die von der CDU/CSU-Fraktion darüber hinaus vor-
geschlagene Delegation der Regelungen auf den Verord-
nungsgeber begegnet hingegen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Mit den betroffenen Regelungen zu Inhalt
und Verfahren der Fundpapierdatenbank sind Eingriffe
in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ver-
bunden. Wesentliche Regelungen wie die Frage der Nut-
zer der Fundpapierdatenbank, der Dauer der Datenauf-
bewahrung, der Verpflichtung zu Maßnahmen der
Datensicherheit und des Datenschutzes muss der parla-
mentarische Gesetzgeber daher selbst treffen. Der Vor-
schlag der CDU/CSU-Fraktion kommt daher insoweit
nicht in Betracht.

Darüber hinaus lehnt die Bundesregierung Ände-
rungswünsche ab, die entweder sachlich nicht vertretbar
sind oder vonseiten der Opposition den Zuwanderungs-
kompromiss infrage stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies betrifft zum Beispiel den Antrag zur Verschärfung
des Tatbestandes der Ermessensausweisung. Die Er-
messensausweisung zu eröffnen, sobald ein Ausländer
Arbeitslosengeld II erhält, widerspricht der neuen sozial-
gesetzlichen Systematik, die auch mit den Stimmen der
Union zu den Hartz-IV-Reformen eingeführt worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der von der CDU/CSU-Fraktion geforderte Aus-

schluss der Widerspruchsmöglichkeit gegen die Versa-
gung einer Duldung berührt auch den Kompromiss zum
Zuwanderungsgesetz.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Kollege Tauss weiß doch gar nicht, worum es geht!)


Die Diskussion sollte bei diesem Gesetz nicht noch ein-
mal geführt werden. Wir haben darüber ausführlich ge-
nug debattiert. Sofern die CDU/CSU-Fraktion ihrerseits
den Vorwurf erhebt, verschiedene Änderungsanträge der
Koalition würden den Zuwanderungskompromiss unter-
höhlen, weise ich diesen mit aller Klarheit zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das musste einmal gesagt werden!)


Mit der unter anderem kritisierten Änderung des
§ 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes wird lediglich
die europäische Richtlinie über die Gewährung von vo-
rübergehendem Schutz in nationales Recht umgesetzt.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Es geht darum, Ausländern, die aufgrund der Richtlinie
über die Gewährung von vorübergehendem Schutz eine
Aufenthaltserlaubnis erhalten, die erforderliche medizi-
nische und sonstige Hilfe auch in den Fällen posttrauma-
tischer Belastungsstörungen zu gewähren. Dies ent-
spricht übrigens weitgehend der bisherigen Praxis. Auch
die Kosten halten sich in einem überschaubaren Rah-
men, da es sich um einen relativ kleinen Personenkreis
handelt.

Der Zuwanderungskompromiss wird auch mit der
Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes nicht infrage gestellt. Sie ist vielmehr eine
weitere Folge aus der Verabschiedung der Hartz-IV-Ge-
setzgebung. Vom Asylbewerberleistungsgesetz sollen
danach nur diejenigen erfasst werden, die über keine
Bleibeperspektive verfügen. Dieser Rechtszustand, der
im Übrigen der geltenden Rechtslage entspricht, wird
mit der Änderung hergestellt.

Die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der
Opposition dazu zeigt deutlich, dass der vorliegende Ge-
setzentwurf eine vernünftige Ergänzung zu unserer Zu-
wanderungsgesetzgebung darstellt. Ich bitte um Zustim-
mung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513826300

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege

Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1513826400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Parlamentarische Staatssekretär verdient für seine Rede
mildernde Umstände. Es ist der 11. 11. Das hat weite
Teile Ihrer Rede geprägt. Sie hatte mit der Realität nicht
so schrecklich viel zu tun.

Was allerdings fast auch als Narretei betrachtet wer-
den kann, ist der Umstand, dass wir uns über Änderun-
gen des Zuwanderungsgesetzes unterhalten, das erst am
1. Januar 2005 in Kraft treten wird. Das, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, ist ein starkes Stück. Ohne
die Erfahrungen mit dem Zuwanderungsgesetz abzuwar-
ten, ohne überhaupt das In-Kraft-Treten abzuwarten,
wird dieses Zuwanderungsgesetz in einer Vielzahl von
Fällen sehr materiell verändert. Ich halte das für eine
sehr schlechte Vorgehensweise.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wir sind flexibel!)


Es ist in der Tat eben nicht so, Herr Staatssekretär,
dass nur einige Anpassungen zu zeitgleich verabschiede-
ten Gesetzen, wie dem Kommunalen Optionsgesetz oder
dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz, vorgenommen
werden,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er auch nicht gesagt!)


sondern diese Änderungen betreffen grundsätzliche Fra-
gen des Aufenthaltsrechts.

Flüchtlinge, denen kleines Asyl gewährt wurde, er-
halten jetzt nach drei Jahren sofort eine Niederlassungs-
erlaubnis. Die Pflicht des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge, vor einer Verfestigung des Aufenthaltes






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Grindel

solcher Personen zu prüfen, ob die Situation im Her-
kunftsland überhaupt noch einen Schutz erfordert, soll
wegfallen und damit auch die Prüfung, ob das kleine
Asyl zurückzunehmen oder zu widerrufen ist.

Es war sehr verräterisch, was Herr Beck im Innenaus-
schuss dazu gesagt hat. Er hat gesagt, er habe die Sorge,
dass wegen der zurückgehenden Asylbewerberzahlen im
Bundesamt in Nürnberg viele Mitarbeiter sitzen, die
nicht mehr mit der Bearbeitung von Asylanträgen be-
fasst sind, sondern sich damit beschäftigen könnten, zu
prüfen, ob diejenigen, die sich auf das kleine Asyl beru-
fen, diesen Schutz immer noch verdienen. Das, was die
Mitarbeiter in Nürnberg machen, ist ihre Pflicht. Sie
wollen das abschaffen. Ich sage Ihnen: Es geht Ihnen um
einen Rutschbahneffekt in Richtung auf ein Dauerauf-
enthaltsrecht. Das verstößt gegen den Zuwanderungs-
kompromiss, den wir gemeinsam verabredet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Nein, das entspricht seiner Systematik!)


– Herr Kollege Veit, es geht nicht um Systematik, son-
dern es geht darum, dass Sie – Herr Wiefelspütz und
Herr Beck – gerade in diesen Tagen eine Diskussion
über Bleiberegelungen begonnen haben,


(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist ein anderes Thema!)


obwohl wir diese bei den Zuwanderungsverhandlungen
nach langen und schwierigen Diskussionen ausgeschlos-
sen haben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben die Kirchen begonnen!)


SPD und Grüne haben im Menschenrechtsausschuss ei-
nen Entschließungsantrag eingebracht, allen rund
200 000 ausreisepflichtigen Ausländern, die geduldet
werden, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht einzuräumen.
Dieses ist eine Aufkündigung des Zuwanderungskom-
promisses. Das müssen wir mit aller Deutlichkeit fest-
stellen.

Ich sage mit Bedacht: Wir als CDU/CSU haben uns,
gerade unter dem Eindruck der Gespräche, die wir mit
den Kirchen geführt haben, beim Aufenthaltsrecht er-
heblich bewegt. Wenn Sie fair wären, würden Sie das
zugestehen: bei der Härtefallregelung, bei der weit ge-
henden Abschaffung der Kettenduldungen. Ohne Aus-
wirkungen des Zuwanderungsgesetzes abzuwarten, wol-
len Sie jetzt eine Bleiberechtsregelung einführen. Die
Änderungen des Aufenthaltsgesetzes sind die Ouvertüre
dazu. Ich sage Ihnen: Mit uns ist so etwas wie eine Blei-
beregelung nicht zu machen. Personen, die durch Tricks
und Täuschungen, durch die Verschleierung ihres Reise-
weges und die Vernichtung ihrer Ausweispapiere ihren
Aufenthalt in Deutschland künstlich verlängern, jetzt mit
einem Bleiberecht zu versehen,


(Rüdiger Veit [SPD]: Das will kein Mensch! Das wissen Sie!)

ist falsch und verstößt gegen den Zuwanderungskompro-
miss.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Meine Herren! Hängen Sie das mal tiefer!)


– Lieber Herr Kollege Tauss, Sie sind im Kehlkopf stark,

(Jörg Tauss [SPD]: Im Hirn auch! Das unter scheidet uns!)

im Kopf nicht ganz so. Denn hätten Sie heute in die
„Frankfurter Rundschau“ geschaut – ein Blatt, das bei
Ihnen morgens wahrscheinlich immer ganz oben liegt –,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was liegt denn bei Ihnen oben?)


hätten Sie lesen können, dass der Bundesinnenminister
diesen Vorschlägen von Herrn Wiefelspütz und Herrn
Beck eine klare Absage erteilt hat. Sie fahren eine Dop-
pelstrategie: Sie beruhigen Pro Asyl und andere am lin-
ken Rand, indem Sie solche Interviews geben, und um
diejenigen SPD-Wähler, die in der Ausländerpolitik so
denken wie wir, kümmert sich der Bundesinnenminister.
In Wirklichkeit aber nehmen Sie eine diesem diametral
entgegenstehende Position ein.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist heuchlerisch!)


Das ist keine saubere Linie. Diese Doppelstrategie wer-
den wir deutlich enttarnen. Das alles ist mit uns nicht zu
machen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir gehen wenigstens offen damit um!)


– Der Kollege Winkler hat gesagt – dies für das Proto-
koll –: Wir gehen wenigstens offen mit diesen Wider-
ständen um. Das ist eine Zustimmung, lieber Herr Kol-
lege Winkler, für die ich sehr dankbar bin.

SPD und Grüne sagen mit dem Aufenthaltsände-
rungsgesetz, über das wir diskutieren, die Niederlas-
sungserlaubnis für GFK-Flüchtlinge sei aus Gründen
der Integration notwendig. Wir haben es hier mit Perso-
nen zu tun, die höchstens drei Jahre in Deutschland sind.


(Zuruf von der SPD: Menschen!)

Integration ist da nicht maßgeblich, sondern das Schutz-
bedürfnis dieser Menschen, dieser Flüchtlinge. Wir
brauchen mehr Integration und nicht mehr Zuwande-
rung. Wir lehnen jede Maßnahme ab, bei der mehr Zu-
wanderung durch die Hintertür organisiert werden soll,
wie Sie es vorhaben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, kündigt an

einer anderen Stelle in der Tat den Zuwanderungskom-
promiss auf. Sie will künftig Personen, die aufgrund
einer Bleiberegelung der obersten Landesbehörden eine
Aufenthaltserlaubnis besitzen, sowie Personen, deren
Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen verlän-
gert wird, nicht mehr Leistungen nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz gewähren, sondern diese sollen ent-
weder Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten.






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Grindel

Auch da sagt die Bundesregierung, dieses sei aus Inte-
grationsgründen notwendig. Ich sage Ihnen: Diese Rege-
lung behindert gerade die Integration, weil sie wegen der
höheren Sozialleistungen, die die Flüchtlinge erhalten,
jeden Antrieb erlahmen lassen, dass diese Menschen
sich um Arbeit bemühen und sich dadurch in Deutsch-
land integrieren.


(Zuruf von der SPD: Unfug!)

Bisher hatten diese Personen eine Duldung. Durch das
Zuwanderungsgesetz bekommen sie, und zwar mit unse-
rer ausdrücklichen Zustimmung, einen Aufenthaltstitel
und eine Arbeitsmöglichkeit. Nur wollen wir damit
keine Besserstellung im Falle des Bezugs von Sozialleis-
tungen. Wir sagen: Wir wollen die Arbeitsmöglichkeiten
nach einer Wartefrist von einem Jahr, um Schwarzarbeit
und Kriminalität entgegenzuwirken. Das soll jedoch
nicht dazu führen, dass sich diese Menschen auf ein
umfassendes Unterstützungspaket nach dem
Arbeitslosengeld II berufen können und dieses für sie
gilt.

Völlig widersprüchlich ist es, wenn SPD und Grüne
im Bundestag auf der anderen Seite den dauerhaften Be-
zug von Arbeitslosengeld II nicht zum Ausweisungstat-
bestand machen wollen. Ich muss Ihnen klar entgegen-
h
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1513826500
Eine Reihe von A-Ländern haben im Bundesrat da-
für votiert – Sie nicken zustimmend –, dass der Bezug
von Arbeitslosengeld II Ausweisungstatbestand wird.

Bisher ist Sozialhilfebezug ein Ausweisungstatbe-
stand. Der Kollege Veit hat im Innenausschuss gesagt, da
es nun ja viel mehr Bezieher von Arbeitslosengeld II als
Sozialhilfeempfänger gebe, wollten Sie diese Regelung
nicht. Auf der anderen Seite haben wir eben auch des-
halb deutlich weniger Sozialhilfeempfänger im Sinne
des jetzigen Ausweisungstatbestandes, weil über
1 Million Personen in Zukunft in das Arbeitslosengeld II
wechselt.

Deshalb muss man fragen: Was ist der Sinn dieser
Vorschrift zu den Ausweisungstatbeständen? Es ist nicht
im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass Aus-
länder hier in Deutschland anwesend sind, die auf Dauer
auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das ist der Sinn
der Vorschrift. Das Arbeitslosengeld II ist eine staatliche
Sozialleistung; es ist keine Versicherungsleistung. Des-
wegen haben wir als Bundestagsabgeordnete in erster
Linie die Interessen unseres Landes und nicht die Inte-
ressen der möglicherweise von Abschiebung bedrohten
Ausländer zu wahren.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen Sie so! Wir sehen das anders! Das kann man doch nicht gegeneinander aufwiegen!)


Deshalb muss der Bezug von Arbeitslosengeld II ein
Ausweisungsgrund sein, wie es unter anderem auch
SPD-regierte Bundesländer wollen. Wir machen uns da-
für jedenfalls deutlich stark.


(Jörg Tauss [SPD]: Tapfer! Tapfer!)

Ich möchte gern noch einen letzten Punkt ansprechen.
Der Kollege Beck hat gestern nach den Beratungen im
Innenausschuss eine Pressemitteilung veröffentlicht, in
der es heißt:

Wir haben letzte Unstimmigkeiten im Zuwande-
rungsgesetz beseitigt. So haben wir dafür gesorgt,
dass vorübergehend geschützte Personen, die zum
Beispiel Folter, Vergewaltigung erlitten haben, ei-
nen Anspruch auf die erforderliche medizinische
Behandlung erhalten.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

– Sie sagen: Richtig.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig zitiert, meine ich!)


Das heißt im Umkehrschluss, dass diese Menschen, die
zum Teil seit vielen Jahren bei uns sind, bisher keine
ausreichende medizinische Versorgung erhalten haben.
Eine solche Behauptung ist unerträglich. Wir weisen das
mit allem Nachdruck zurück. Auch an dieser Stelle ist
die Änderung, die Sie im Aufenthaltsgesetz durchsetzen
wollen, nicht notwendig.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erkläre ich Ihnen gleich!)


Ich will gern nach dem Motto „Wo bleibt das Posi-
tive?“ ein Positives deutlich hervorheben: Richtig ist die
Einführung der dateigestützten Passabgleichstelle. In
der Tat gibt es 20 000 herrenlose Pässe, die wir dringend
ausreisepflichtigen Ausländern zuordnen sollten, um de-
ren Rückführung ins Heimatland zu ermöglichen.

Wir brauchen aber, Herr Staatssekretär, natürlich noch
viel mehr Anstrengungen, um Abschiebehindernisse zu
beseitigen. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben dazu ei-
nen Antrag vorgelegt. Wir wissen zum Beispiel, dass die
Pässe ausreisepflichtiger Ausländer plötzlich wieder auf-
tauchen und bei unseren Botschaften und Konsulaten im
Ausland vorgelegt werden, wenn Verwandte und Be-
kannte dieser Personen nach Deutschland kommen wol-
len, um diese ausreisepflichtigen Ausländer in Deutsch-
land zu besuchen. Ich verstehe nicht, weshalb man in
diesen Fällen nicht Kopien dieser Pässe zieht und sie mit
den ausreisepflichtigen Personen abgleicht. Das wäre
eine sehr praktikable Lösung, um Pässe, die wir drin-
gend brauchen, um ausreisepflichtige Personen in ihr
Heimatland zurückführen zu können, wieder ans Tages-
licht zu befördern. Eines allerdings muss man dazusa-
gen: Wenn man Visa im Minutentakt vergibt, hat man
natürlich keine Zeit für diese notwendige Maßnahme.
Darüber werden wir morgen diskutieren – ich hoffe, bei
noch vollerem Haus; denn auch dieses Thema verdient
es.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513826600

Als nächster Redner hat der Kollege Josef Winkler

von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(Jörg Tauss [SPD]: Er antwortet jetzt auf die sen Staatsmann!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Grindel, da Sie in Ihrer zwölfminütigen Redezeit


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich habe aber nur zehn Minuten genutzt!)


mindestens einmal pro Minute etwas falsch dargestellt
haben, kann ich nur auf wenige Aspekte eingehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte aber im Gegensatz zu Ihnen sachlich bleiben.
Mit dem vorliegenden ersten Änderungsgesetz zum

Aufenthaltsgesetz – das ist das in der Öffentlichkeit als
Zuwanderungsgesetz bekannte Gesetzespaket –


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Einwanderungsgesetz!)


hat die rot-grüne Koalition rechtliche Hürden für das
In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Ja-
nuar 2005 aus dem Weg geräumt.


(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Wie der Herr Staatssekretär völlig korrekt angemerkt

hat, waren diese Änderungen unter anderem durch die
zwischenzeitlich in Kraft getretene Hartz-IV-Gesetzge-
bung sowie die Strafvorschriften zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit notwendig geworden, Herr Grindel. Des
Weiteren haben wir noch einige Unstimmigkeiten im
Zuwanderungsgesetz beseitigt. Sie haben von dramati-
schen Änderungen gesprochen; ich nenne Ihre Dramatik
gekünstelt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Mit Hartz IV hat das nichts zu tun!)


Die Anpassungen sind notwendig, weil es in einem so
großen Vermittlungsverfahren vorkommen kann, dass
eine bestimmte Gruppe übersehen werden kann. Wenn
wir schon rechtzeitig merken, dass ein kleiner Fehler
aufgetreten ist, dann müssen wir das vor dem In-Kraft-
Treten des Gesetzes ändern. Sollen wir stattdessen war-
ten, bis das Gesetz in Kraft getreten ist, nur damit Sie
uns das nicht vorwerfen können? Darauf verzichten wir,
Herr Grindel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben die erforderliche medizinische Behand-
lung erwähnt, von der in der Pressemitteilung des Kolle-
gen Beck die Rede war. Sie wehren sich mit Vehemenz
gegen den Begriff „erforderlich“, weil sonst nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz nur minimale Therapien
möglich sind. Das heißt, dass statt notwendiger umfang-
reicher psychotherapeutischer Maßnahmen nur eine Kri-
senintervention stattfinden kann, was der abgestuften
Leistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ent-
spräche. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass Men-
schen, die vorübergehend geschützt sind – Sie nennen
das „kleines Asyl“ –, die unter Folter oder Vergewalti-
gung gelitten haben oder Opfer von Menschenhandel ge-
worden sind, einen Anspruch auf die erforderliche medi-
zinische Behandlung erhalten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Kriegen sie doch jetzt schon!)


– Sie als Christlich Demokratische Union können gerne
auch weiterhin dagegen sein. Wir als Koalition wollen
das aber ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Nun wird es aber unsachlich!)


Wie der Staatssekretär ausgeführt hat, müssen wir oh-
nehin eine EU-Richtlinie umsetzen. Insofern werden
auch andere EU-Mitgliedstaaten folgen. Wir führen also
in Deutschland nicht etwa ein Luxusverfahren ein; viel-
mehr kommen wir einer Rechtsverpflichtung nach.

Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen. Sie
haben zum Beispiel die Niederlassungserlaubnis scharf
kritisiert, die den Flüchtlingen nach der Genfer Flücht-
lingskonvention unmittelbar erteilt wird. Das ist unserer
Meinung nach auch aus integrationspolitischer Sicht
sinnvoll. Im Übrigen handeln wir als Koalition nicht al-
leine; auch etliche Bundesländer halten das für sinnvoll.
Es ist schwer zu vermitteln, dass Menschen, die seit Jah-
ren in Deutschland leben – zum Beispiel afghanische
Flüchtlinge –, die integriert sind und in Deutschland
bleiben wollen und müssen,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Darum geht es doch nicht! Es geht um ein Schutzbedürfnis und nicht darum, was sie wollen!)


dann, wenn sie einen Antrag auf Einbürgerung oder Fa-
milienzusammenführung stellen, mit einer automati-
schen Widerrufung ihres Asylstatus rechnen müssen


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein! Mit einer Überprüfung, wie es das Gesetz bisher vorsieht!)


und damit unter Umständen die Einbürgerung vergessen
können. Das geht unserer Meinung nach nicht an. Die
von Ihnen angesprochene Überprüfung bleibt auch nach
der Änderung notwendig.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Eine pflichtgemäße Überprüfung schaffen Sie ab!)


Es geht nicht darum, eine Rutschbahn zu schaffen.
Wir wollen aber nicht, dass Beamte nur aus Lust am Ak-
tenbewegen die Aktendeckel aufklappen. Wir wollen
keine Überprüfungspflicht; gegebenenfalls kann aber
auch weiterhin jeder Fall geprüft werden und können be-
reits gewährte Leistungen und sogar der Aufenthaltssta-
tus widerrufen werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei-
sen, dass wir dem Bundesrat weitgehend entgegenge-
kommen sind. Die Fundpapierdatei wurde bereits er-
wähnt. Wir haben acht von 14 Änderungsanträgen des






(A) (C)



(B) (D)


Josef Philip Winkler

Bundesrats übernommen, die sich zum Teil auf wesentli-
che Änderungen bezogen. Insofern ist das eine ausgewo-
gene Sache.

Im Übrigen haben wir mit der gesamten Opposition
verhandelt. Die FDP hat in einer Pressemitteilung deut-
lich gemacht, dass sie sich Ihrer Aufregung nicht an-
schließen könne und dass sie nicht davon ausgehe, dass
der Zuwanderungskompromiss aufgekündigt sei. Inso-
fern können Sie das Ihrerseits nicht einseitig feststellen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stellen wir zur Not auch für die FDP fest!)


Abschließend möchte ich – auch diesen Punkt haben
Sie bereits angesprochen – auf die Bleiberechtsrege-
lung zu sprechen kommen. Meine Fraktion würde sich
sehr freuen, wenn wir für die Menschen, die bisher kei-
nen entsprechenden Status haben, obwohl sie schon
lange in Deutschland leben – nach dem neuen Zuwande-
rungsgesetz bekämen sie einen solchen Status –, eben-
falls eine Regelung finden könnten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt lässt er die Katze aus dem Sack!)


Da dies aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über-
haupt nichts zu tun hat, wird es darum im jetzigen Ge-
setzgebungsverfahren nicht gehen. Wir werden vielmehr
gemeinsam mit den christlichen Kirchen, die ebenfalls
seit vielen Jahren eine Lösung für diese Menschen for-
dern, eine entsprechende Initiative starten. Auch Kolle-
gen von der SPD-Fraktion haben bereits angekündigt,
dass sie sich damit ernsthaft beschäftigen wollen. Ich
hoffe, dass sich von den beiden Oppositionsfraktionen
nicht nur die FDP, sondern auch die CDU/CSU damit
auseinander setzen wird.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513826700

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Bürsch

von der SPD-Fraktion.


Dr. Michael Bürsch (SPD):
Rede ID: ID1513826800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politik

zeigt offensichtlich immer wieder, welche selektiven
Wahrnehmungen und welche unterschiedlichen Ausle-
gungen von eigentlich klaren Gesetzesvorlagen möglich
sind. Ich wiederhole in aller Ruhe und Besonnenheit
– das richtet sich besonders an die Adresse meines Vor-
vorredners, Herrn Grindel – folgende drei Punkte:

Punkt eins. Materielle Änderungen des beschlossenen
Zuwanderungsrechts finden nicht statt.

Punkt zwei. Eine Bleiberechtsregelung steht heute
nicht auf der Tagesordnung und ist auch nicht Gegen-
stand der Entscheidung, die wir zu treffen haben.

Punkt drei. Die heute zu beschließenden Ergänzungen
des Aufenthaltsrechts sind sinnvoll, maßvoll und erfor-
derlich.

(Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Schlecht recherchiert, Herr Grindel!)


Ich rufe in Erinnerung, was wir nach langer Mühe tat-
sächlich – für manche unerwartet – geschafft haben. Mit
dem Zuwanderungskompromiss im Sommer dieses
Jahres haben wir in Deutschland parteiübergreifend die
Grundlage für ein modernes, in die Zukunft gerichtetes
Zuwanderungsrecht geschaffen, mit dem wir Migration
nach Deutschland steuern können. Es hat lange genug
gedauert, bis wir in Deutschland ein solches Zuwande-
rungsrecht auf den Tisch legen konnten. Lieber Herr
Grindel, das gerät bei allem Klein-Klein allzu schnell in
Vergessenheit. Es wird versucht, das klein zu reden so-
wie mit Polemik und Populismus aus der Welt zu schaf-
fen. Sie müssen sich einfach an den beschlossenen Kom-
promiss gewöhnen. Es gibt genügend Mitglieder Ihrer
Fraktion sowie CDU- und CSU-Mitglieder aus den Bun-
desländern, die diesen Kompromiss gewollt und begrüßt
haben. Wir wissen aus der Entstehungsgeschichte, dass
es gerade in Ihrer Fraktion Widerstand gab. Ich plädiere
aber dafür, nun keine Nachhutgefechte anhand solcher
notwendigen Ergänzungen zu führen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das machen Sie doch mit der Bleiberechtsregelung!)


Das neue Zuwanderungsrecht liegt durchaus in deut-
schem Interesse. Der Wirtschaftsstandort Deutschland
benötigt hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte. Mit
dem neuen Aufenthaltsgesetz haben wir den richtigen
Weg beschritten, um die Bedürfnisse der deutschen
Wirtschaft zu befriedigen. Ebenso sind wir im eigenen
Land darauf angewiesen, dass deutsche und ausländi-
sche Mitbürger gedeihlich zusammenleben. Dabei
kommt es auch darauf an, dass die hier lebenden Auslän-
der ihren eigenen Beitrag zur Eingliederung in die deut-
sche Gesellschaft leisten. Deutschland wird im Rahmen
des neuen Aufenthaltsgesetzes diesen Beitrag unterstüt-
zen und Maßnahmen zur Integration fördern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit dem heute von uns vorgelegten Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ergänzen
wir den Zuwanderungskompromiss um das am 1. Januar
2005 in Kraft tretende Gesetz in einigen wenigen not-
wendigen Punkten. Wir passen ihn an die inzwischen ver-
änderte Rechtslage an und machen ihn praktikabel. Um
es klar zu sagen: Der Zuwanderungskompromiss steht
inhaltlich nicht zur Disposition. Er wird durch das heute
zu beratende Gesetz weder geschmälert noch ausgewei-
tet. Der Kompromiss wird in der Sache nicht angetastet.
Er bleibt so bestehen, wie er im Sommer dieses Jahres
beschlossen worden ist. Ich sähe es gern, wenn in diesem
Haus darüber Konsens bestünde. Vielleicht können wir
in den kommenden Monaten auch noch die letzten
Zweifler von unserem Kurs überzeugen.

Ich komme zum Schluss. Die momentanen Ereignisse
in Holland zeigen, mit welcher Sensibilität man das
Thema „Migration und Integration“ behandeln muss.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da müssen Sie sich doch an die eigene Nase fassen!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Bürsch

Ich sage in Richtung aller Fraktionen, insbesondere an
die Adresse derjenigen Fraktion, die dieses ganze Gesetz
und manche Ergänzung, die wir zuletzt vorgenommen
haben, kritisiert: Wir müssen alle Fragen der Zuwande-
rungspolitik jetzt und in Zukunft mit allergrößter Sorg-
falt, mit großer Sensibilität und mit einer konstruktiven
Grundhaltung beantworten. Was schadet, sind Polemik,
Populismus und Dramatisierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Einzige, was uns nützt, ist die Gemeinsamkeit al-
ler Fraktionen in diesem Hause. Sie müssen daran inte-
ressiert sein, dass wir friedlich miteinander umgehen


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Integration brauchen wir und nicht Zuwanderung!)


und dass wir die Probleme der Zuwanderung in einer
friedlichen, demokratischen Weise lösen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513826900

Die Rede des Kollegen Dr. Max Stadler von der FDP

nehmen wir zu Protokoll.1)

(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hätten wir gerne noch gehört!)

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze,
Drucksache 15/3784 und 15/3984. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/4173, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Frak-
tion angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Granold, Roland Gewalt, Wolfgang Bosbach,

1) Der Redebeitrag wird in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abge-
druckt.
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Scheinvaterschaften wirksam bekämpfen
– Drucksache 15/4028 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung

Alle Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
den der Kolleginnen Gabriele Fograscher und Christine
Lambrecht von der SPD-Fraktion, der Kollegin Ute
Granold und des Kollegen Roland Gewalt von der CDU/
CSU-Fraktion, des Kollegen Philip Josef Winkler von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/4028 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen (14. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright,
Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Winfried Hermann, Albert
Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Umsetzung des nationalen Radverkehrs-
plans 2002 – 2012 forcieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht
vorlegen

– Drucksachen 15/3467, 15/3708, 15/4103 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(19. Ausschuss)


2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den Fahrradtourismus in Deutschland umfas-
send fördern
– Drucksachen 15/2155, 15/4093 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
Gabriele Hiller-Ohm und Heidi Wright von der SPD-
Fraktion, der Kollegen Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

und Klaus Brähmig von der CDU/CSU-Fraktion, des
Kollegen Winfried Hermann von der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und des Kollegen Horst Friedrich
von der FDP-Fraktion.1)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Woh-
nungswesen auf Drucksache 15/4103. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 15/3467 mit
dem Titel „Umsetzung des nationalen Radverkehrsplans
2002–2012 forcieren“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimme der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/3708 mit dem Titel „Radverkehr för-
dern – Fortschrittsbericht vorlegen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus
auf Drucksache 15/4093 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Den Fahrradtourismus in
Deutschland umfassend fördern“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2155 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Pilotprojekt für die virtuelle Rekonstruktion
von vorvernichteten Stasi-Unterlagen begin-
nen
– Drucksache 15/3718 –

1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Haushaltsausschuss

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden von Barbara Wittig, SPD-Fraktion, Hartmut
Büttner (Schönebeck), CDU/CSU-Fraktion, Silke Stokar
von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, Gisela Piltz,
FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen Staatssekre-
tärs Fritz Rudolf Körper.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3718 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Die Überweisung ist so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit

(9. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation über Aus-
weise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis

– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation über Aus-
weise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-

(Bayreuth)

ordneter und der Fraktion der FDP
Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation über Aus-
weise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis

– Drucksachen 15/3053, 15/3043, 15/3057,
15/4089 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen
ebenfalls zu Protokoll genommen werden. Es handelt
sich um die Reden der Kollegen Dr. Margrit Wetzel,
SPD-Fraktion, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), CDU/
CSU-Fraktion, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen, und Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.3)
2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll

abgedruckt.
3) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll

abgedruckt.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-

schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck-
sache 15/4089 zu den Anträgen der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der FDP mit dem gleich
lautenden Titel „Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der
Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für
Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Vi-
sumserfordernis“.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 15/3053 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/3043 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion an-
genommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3057 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Marketing für die Hauptstadt Berlin
– Drucksache 15/3491 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1513827000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anleh-

nung an den großen Berliner Bürgermeister Ernst
Reuter, der gesagt hat: „Deutsche, schaut auf diese
Stadt!“,

(Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: „Völker“ hat er gesagt!)


füge ich als Abgeordneter, der nicht aus Berlin kommt,
hinzu: Denn sie gehört uns, meine Damen und Herren,
sie geht uns an. Wir alle tragen Verantwortung für Ber-
lin. Im Ausland wird Berlin geliebt. Wir als Deutsche
sollten der Welt nacheifern und unsere Hauptstadt von
ganzem Herzen lieben und alle Berliner werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Fangen Sie heute damit an, indem Sie unserem Antrag
zustimmen.

Seit 14 Jahren ist Berlin die Hauptstadt des wieder-
vereinigten Deutschlands. Durch die Erweiterung der
Europäischen Union nimmt unsere Hauptstadt im jetzt
vereinten Europa eine immer stärkere zentrale Rolle
ein. Die wachsende Zahl an Staatsbesuchen, Messen,
Kongressen und Ausstellungen demonstriert die natio-
nale und internationale Beachtung Berlins. Wir wissen
aber auch, Berlin ist nicht London, nicht Paris, nicht
Warschau, nicht Moskau und nicht Madrid. Während
diese Hauptstädte in ihren Ländern mit Stolz ganz selbst-
verständlich als die Zentrale, als die Hauptstadt betrach-
tet werden, ist das bei Berlin leider noch etwas anders.
Die Stadt wird als Ort mit einer teilweise belasteten Ge-
schichte wahrgenommen, in der zugleich aber auch ein-
malige historische Chancen für das Zusammenwachsen
Europas ergriffen wurden. Die Erinnerung an die preußi-
sche Hauptstadt ist hier ebenso lebendig wie das Berlin
der Nationalsozialisten oder auch die Wunden der Tei-
lung, die hier, ganz wenige Schritte vom Reichstag ent-
fernt, zu sehen sind.

Dann gibt es noch das Problem mit der „Umzugs-
schere“ in den Köpfen. Viele Westdeutsche sind trotz des
Umzuges immer noch nicht in Berlin angekommen. Sie
haben noch Bonn als Regierungssitz der alten Bundesre-
publik im Kopf.


(Horst Kubatschka [SPD]: So ein Schmarren!)

Zudem erleben wir immer noch die Nachwehen der Ber-
lin-Bonn-Debatte, die die Öffentlichkeit geteilt hat und
von hitzigen Diskussionen und eben auch durch ein
knappes parlamentarisches Bekenntnis für Berlin ge-
prägt war.

Meine Damen und Herren, was ist die Konsequenz
aus dieser Analyse? Manche mögen diese Analyse als
Quatsch bezeichnen, manche mögen sie dementieren,
aber sie ist jedenfalls aus westdeutscher Sicht richtig.
Was ist also die Konsequenz daraus? Wir müssen Berlin
stärker in den Köpfen und in den Herzen der Deutschen
verankern,


(Beifall des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD])


aber nicht nur in den Herzen der Deutschen, sondern
auch in den Herzen internationaler Besucher. Hierfür ist
jetzt ein guter Zeitpunkt, denn die Popularität Berlins als
Reiseziel ist ungebrochen. Die Besucherzahlen steigen
stetig. Berlin zieht aber nicht nur Touristen an, sondern






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Klimke

auch Studenten, Schriftsteller und Künstler können sich
dem Sog der Hauptstadt nicht entziehen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513827100

Herr Kollege Klimke, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollege Brähmig?


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1513827200

Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513827300

Bitte, Herr Brähmig.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1513827400

Lieber Herr Kollege Klimke, ich will jetzt nicht über

die Frage Bonn-Berlin sprechen, sondern Sie über das
Verhältnis zwischen Hamburg und Berlin befragen. Die
Deutsche Bahn beabsichtigt ja, im Dezember eine Fern-
verbindung mit einer Rekordreisezeit von 90 Minuten
zwischen diesen beiden großen deutschen Metropolen
einzurichten. Sind Sie mit mir der Meinung, dass dieses
den Wirtschafts- und Tourismusstandort Berlin letztend-
lich stärken wird und wir solche Schnellverbindungen
nicht nur zwischen Berlin und Hamburg brauchten, son-
dern durchaus auch – das sage ich jetzt im Hinblick auf
die EU-Osterweiterung – in Richtung Osteuropa?


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1513827500

Herzlichen Dank, Herr Kollege Brähmig, für diesen

Hinweis. Natürlich finde ich es ganz einzigartig, dass die
Fahrt zwischen Hamburg und Berlin bzw. umgekehrt
nicht mehr 2:30 Stunden dauert, was ja 150 Minuten ent-
spricht, sondern nur noch 90 Minuten. Wir sparen also
eine Stunde. Die Städte können damit zusammenwach-
sen. Ich hoffe im Übrigen, dass beide Städte davon unter
touristischen und unter Marketinggesichtspunkten profi-
tieren werden. Man kann als Hamburger, der in Berlin
gewesen ist, oder als Berliner, der in Hamburg war,
abends nach dem Theater noch nach Hause fahren.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Fährt ja kein Zug mehr!)


Das zeigt, wie wichtig solche Schnellverbindungen zwi-
schen den großen Städten sind. Ich könnte mir so etwas
beispielsweise auch zwischen Berlin und Prag mit Zwi-
schenstopp in Dresden vorstellen.

Wir müssen das große Interesse, das im Moment an
Berlin besteht, nutzen. Unsere Hauptstadt muss als Ge-
sicht des föderalen Deutschlands und als Identifikations-
punkt für das föderale parlamentarische System noch
stärker wahrgenommen werden. Ich glaube, es ist not-
wendig, dass wir die Bundesorgane und die deutsche
Geschichte in ihrer Gesamtheit, aber auch das architek-
tonische Erbe hier in Berlin würdig darstellen. Wir müs-
sen die kulturellen Ereignisse und Einrichtungen mit
Hauptstadtbedeutung fördern. Wir müssen auch den vor
wenigen Monaten hier beschlossenen Wiederaufbau des
Berliner Stadtschlosses umsetzen. Im Übrigen, Herr
Kollege Brähmig, könnten wir dabei auch die Erfahrun-
gen vom Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden
nutzen. Diese Maßnahmen würden dazu beitragen, dass
Berlin als nationales Projekt von allen Deutschen und
dass Berlin auch vom Ausland verstanden wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, vor allem liebe Kollegin-

nen und Kollegen von der SPD, ich kann Sie nur auffor-
dern: Unterstützen Sie unseren Antrag! Wir bieten Ihnen
eine einzigartige Gelegenheit, die peinliche Diskussion
um den 3. Oktober wenigstens etwas vergessen zu ma-
chen. Nutzen Sie die Chance und stimmen Sie unserem
Antrag zu.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Antrag hat folgende Schwerpunkte. Wir wollen

die Etablierung einer Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“
unter der Leitung von Berlin Tourismus-Marketing
GmbH, in der Vertreter des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Arbeit und Vertreter des Landes Berlin
zusammenarbeiten sollen. Wir wollen vor allen Dingen
auch die Ressourcen von staatlichen und nicht staatli-
chen Einrichtungen im In- und Ausland nutzen, ob das
Botschaften sind, ob das Außenhandelskammern sind,
ob das die Deutsche Zentrale für Tourismus ist oder ob
das die Goethe-Institute oder die Deutsche Welle sind.
Sie alle sollen Berlin als Hauptstadt national und interna-
tional vermarkten.

Noch etwas ist aus unserer Sicht ganz besonders
wichtig. Es gab zum Beispiel zu meiner Schulzeit die
Verpflichtung jeder deutschen Abschlussklasse einer
Volks- und Realschule – der neunten Klasse –, für eine
Woche nach Berlin zu fahren. Wir sollten diese Ver-
pflichtung, auch wenn wir sie subventionieren müssen,
wieder aufleben lassen. Meine Tochter fährt mit ihrer
Klasse mit Ryanair nach Pisa. Pisa ist wunderschön, aber
ich finde, sie sollte lieber nach Berlin fahren. Das gilt im
Übrigen für alle.

Wir haben hier in Berlin Bertelsmann, wir haben
Springer, wir haben öffentliche und private Medienein-
richtungen. Die Verantwortlichen dieser Häuser sollten
wir direkt ansprechen und sie auffordern, eine Medien-
kampagne „Berlin – Hauptstadt der Deutschen“ durch-
zuführen. Berlin ist mehr als nur ein Zweitwohnsitz.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die Zweitwohnsitzsteuer muss weg! – Gegenruf von der SPD: Das kann ich bestätigen!)


– Richtig, auch ich kann das bestätigen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513827600

Herr Kollege Klimke, kommen Sie bitte zum Schluss.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1513827700

Mit einem Zitat habe ich begonnen und mit einem Zi-

tat komme ich zum Schluss. John F. Kennedy hat gesagt:
„Ich bin ein Berliner.“ Meine Damen und Herren, wir
alle, die wir hier sind, aber auch diejenigen, die nicht
hier sind, sollten das als Anspruch und als Ansporn nut-
zen.






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Klimke

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Aber Ernst Reuter hat trotzdem gesagt: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“, nicht: „Deutsche, schaut auf diese Stadt“! Lesen Sie das noch einmal nach!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513827800

Jetzt hätte eigentlich die Kollegin Brunhilde Irber von

der SPD das Wort, aber sie gibt ihre Rede zu Protokoll.
Das Gleiche gilt für die Kollegin Franziska Eichstädt-
Bohlig1).

Deswegen hat jetzt der Kollege Markus Löning von
der FDP das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1513827900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Klimke, es
gibt in Ihrem Antrag einen Absatz, der mir sehr gut ge-
fällt, und zwar der Absatz über den beschlossenen Wie-
deraufbau des Stadtschlosses. In diesem Punkt stimme
ich Ihnen in der Tat aus vollem Herzen und aus voller
Überzeugung zu. Auch die Idee, sich an dem Wiederauf-
bau der Frauenkirche in Dresden zu orientieren, halte ich
für eine gute Idee.

Ansonsten, muss ich sagen, finde ich Ihren Antrag au-
ßerordentlich enttäuschend. Es ist richtig, die Völker der
Welt schauen auf diese Stadt. Diese Stadt braucht eine
Menge, sie hat eine Menge nötig. Wenn Sie sich den der-
zeitigen Senat anschauen, dann wissen Sie auch, warum:
Das ist ein Senat, der wenig kann und noch weniger
macht. Sie müssen zugeben: Auch Herr Diepgen war als
Regierender Bürgermeister nicht jemand, der die Stadt
Berlin besonders prickelnd dargestellt und der Welt be-
sonders viel Geschmack auf Berlin gemacht hat.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist jetzt geschmacklos! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das holt Wowereit jetzt nach!)


Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Solch ein Antrag,
der versucht, das Marketing dieser Stadt dermaßen zu
bürokratisieren, wie Sie sich das hier vorstellen, geht
doch völlig daneben. Das, was Sie hier vorschlagen,
muss doch in die Hose gehen – entschuldigen Sie den
Ausdruck an dieser Stelle.

Ich kann – bei allem Respekt für das Wirtschaftsmi-
nisterium – auch nicht verstehen, wie Sie auf die Idee
kommen, dass das Bundeswirtschaftsministerium diese
Stadt besonders gut vermarkten könnte. Dafür gibt es
eine gewählte Landesregierung. Die gewählte Landesre-
gierung soll sich darum kümmern. Der gewählten Lan-
desregierung sollte man das ins Stammbuch schreiben.


(Beifall bei der FDP und der SPD – Jürgen Klimke [CDU/CSU]: Sie haben es nicht ver 1)

abgedruckt.
standen, Herr Kollege! Es geht um die Haupt-
stadt, nicht um die Berliner Kommune!)

Die Essenz Ihrer Rede – dass die Deutschen stolz auf
ihre Hauptstadt sein sollen – können Sie mit einem An-
trag im Deutschen Bundestag beim besten Willen nie-
mals erreichen. Das erreicht Berlin aus eigener Kraft und
eigener Stärke.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Sehr gut!)

Dazu bedarf es keiner Anträge in diesem Haus. Vielmehr
sind es die Lebendigkeit der Stadt Berlin, ihr Kulturle-
ben, die Menschen, die nach der Wende zugezogen sind,
und die Berliner, die hier schon immer leben, die die
Stadt lebenswert und liebenswert machen und die zu ih-
rer Geschichte mit all ihren Brüchen – mit dem Schlech-
ten der Vergangenheit ebenso wie mit dem Guten der
Vergangenheit – stehen, die einen Teil der Faszination
dieser Stadt ausmachen. Wir brauchen keine bürokrati-
schen Marketingmaßnahmen, um zu erreichen, dass die
Stadt geliebt wird.


(Beifall bei der FDP und der SPD – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie müssen den Antrag einmal lesen! Da geht es doch nicht um Bürokratie!)


Insofern finde ich es sehr schade, dass wir zu einem
so wichtigen Thema wie der Hauptstadt anhand eines so
bürokratischen Antrages sprechen. Es tut mir wirklich
Leid.

Es gibt einiges zu Details zu sagen, die Sie hier ange-
sprochen haben. Eine Klassenfahrt nach Berlin als
Pflicht – entschuldigen Sie, wo leben wir denn heute?
Wo leben wir denn, dass wir unseren Kindern verordnen
sollen, nach Berlin an die Mauer zu fahren? Das sind
doch Vorstellungen von vorgestern. Die Kinder kommen
von alleine hierher. Das brauchen wir ihnen nicht zu ver-
ordnen. Das ist uns doch viel lieber.


(Beifall bei der FDP und der SPD)

In diesem Sinne, lieber Herr Kollege, fürchte ich, dass

wir diesen Antrag ablehnen werden.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513828000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Edeltraut Töpfer von

der CDU/CSU-Fraktion.


Edeltraut Töpfer (CDU):
Rede ID: ID1513828100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich muss doch sagen, dass mich die Rede mei-
nes FDP-Kollegen sehr enttäuscht hat. Denn es macht ei-
nen Riesenunterschied, ob es um Berlin als solches oder
um Berlin als Hauptstadt geht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Seit nunmehr 14 Jahren ist Berlin die Hauptstadt des

wiedervereinigten Deutschlands. Im Bewusstsein der
Bundesbürger besitzt Berlin als Hauptstadt, wie mein
Kollege Klimke bereits gesagt hat, aber nur selten den
Stellenwert, den andere Hauptstädte wie zum Beispiel






(A) (C)



(D)


Edeltraut Töpfer

Rom, Paris, London, Moskau oder Tokio für ihre Staats-
bürger, aber auch für Ausländer haben.

Durch diesen Antrag möchten wir erreichen, dass
Berlin in seiner Funktion als Bundeshauptstadt positiv
im Bewusstsein der Menschen aus der Bundesrepublik
und der ganzen Welt verankert wird. Die Hauptstadt
unseres Landes muss deshalb mehr als bisher als
Identifikationspunkt des föderalen, parlamentarischen
Systems der Bundesrepublik wahrgenommen werden.

Über 50 Jahre freiheitliche Demokratie auf deut-
schem Boden sind auch eine Chance für Berlin, für seine
Rolle im durch die Osterweiterung der Europäischen
Union friedlich wiedervereinigten Europa.

Notwendige Voraussetzung für die positive Weiter-
entwicklung Berlins als weltoffener Stadt ist eine gute
touristische Vermarktung auch als Hauptstadt. Schon
heute liegt Berlin mit circa 11 Millionen Übernachtun-
gen im Jahr hinter Paris und London auf Platz drei in
Europa. Berlin ist ein interessanter Treffpunkt nicht nur
für Touristen, sondern auch für Studenten, Schriftsteller,
Künstler und die Medienbranche geworden. Bereits
heute erwirtschaftet die Tourismuswirtschaft in unserer
Stadt einen Bruttoumsatz von rund 5,2 Milliarden Euro.
Sie sichert direkt und indirekt 66 000 Arbeitsplätze,
meine Herrschaften, und verschafft damit dem Land
Berlin Steuereinnahmen in Höhe von circa 590 Mil-
lionen Euro jährlich. Da frage ich Sie, liebe Kollegen: Ist
Berlin es nicht wert, es als Hauptstadt weiter zu ver-
markten? Wir brauchen Steuereinnahmen; Sie alle ken-
nen das Loch im Berliner Staatshaushalt.

Berlin kann die Hauptstadtaufgaben nicht allein aus
eigener Kraft wahrnehmen. Das kann vom Land Berlin
auch niemand guten Gewissens fordern; denn es handelt
sich hier um Aufgaben der gesamten Nation. Insbeson-
dere der Bund ist hier gefordert, sich für seine Haupt-
stadt nachhaltiger als bisher zu engagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das unterstützen wir ausdrücklich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513828200

Frau Kollegin Töpfer, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Löning?


Edeltraut Töpfer (CDU):
Rede ID: ID1513828300

Ja, bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513828400

Bitte schön.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Der hat doch alles schon gesagt!)



Markus Löning (FDP):
Rede ID: ID1513828500

Sehr geehrte Frau Kollegin Töpfer, sind Sie nicht mit

mir der Meinung, dass ein Event wie die MoMA-Aus-
stellung, ein rein privat finanziertes Event, wesentlich
mehr für das Image und die Attraktivität unserer Stadt
getan hat, als das jegliche bürokratische Regelung, wie
Sie sie hier vorschlagen, jemals erreichen könnte?


(Beifall bei der FDP)



Edeltraut Töpfer (CDU):
Rede ID: ID1513828600

Lieber Herr Kollege Löning, beides ist gefordert. Wir

brauchen zunächst eine gemeinsame Projektgruppe der
Bundesregierung und der Berlin Tourismus Marketing
GmbH. Dann finden wir auch weitere private Förderer
und können so Berlin als Hauptstadt besser vermarkten.
Es gibt gute Beispiele für private Förderung; aber das hat
nichts mit der Förderung Berlins als Hauptstadt zu tun.
Da muss man differenzieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Einrichtung einer Projektgruppe hat mein Kol-

lege schon erwähnt. Innerhalb eines Zeitraums von drei
Jahren soll die Projektgruppe die Planung und Durchfüh-
rung von Maßnahmen zur nationalen und internationalen
Darstellung Berlins als Hauptstadt koordinieren. Dabei
sollen auch die Ressourcen von deutschen Einrichtungen
im Ausland – wie deutsche Botschaften, Goethe-Insti-
tute und Deutsche Welle – genutzt werden.

Berlin sollte sich dabei unter anderem als kultureller
Schmelztiegel, als das Tor zum Osten und als Spiegel
der gesamtdeutschen Geschichte präsentieren. Zur Rolle
Berlins als weltoffene und gastfreundliche Metropole im
Herzen Europas gehört unter anderem eine verständliche
und würdige Darstellung der in Berlin vertretenen Bun-
desorgane, insbesondere des Bundesrates und des Bun-
destages, der wechselvollen und zum Teil dramatischen
Geschichte dieser Stadt und seines eindrucksvollen ar-
chitektonischen Erbes aus verschiedenen, unser ganzes
Land prägenden Epochen.

Die Projektgruppe muss selbstverständlich finanziell
solide ausgestattet sein, damit sie ihre Ziele auch errei-
chen kann. Die benötigten finanziellen Mittel könnten
aus dem Budget der Bundesregierung für Öffentlich-
keitsarbeit umgeschichtet werden. Ich bin mir sicher,
dass für eine bessere Vermarktung dann auch private
Sponsoren gefunden werden würden.

Meine Damen und Herren, eine weitere sehr sinnvolle
Maßnahme könnte meines Erachtens die – nicht zwangs-
weise, sondern freiwillige – Förderung von Abschluss-
fahrten von Schülern aus dem gesamten Bundesgebiet
sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In Berlin kann und sollte den jungen Menschen ein tiefer
Einblick in die wechselhafte deutsche Geschichte er-
möglicht werden. Zahlreiche geschichtsträchtige Orte,
Gedenkstätten und Museen bieten einen hervorragenden
Querschnitt der Geschichte unseres Landes der letzten
200 Jahre.

Neben den großen Erfolgen auf dem Weg zur äußeren
und inneren Einheit unseres Landes können die Schüle-
rinnen und Schüler in der Bundeshauptstadt auch den
Werkstattcharakter der Stadt auf dem Weg zur deutschen
Einheit – quasi wie auf einer Bau- und Schaustelle – er-

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Edeltraut Töpfer

leben. Klassenreisen nach Berlin steigern die Anzie-
hungskraft der Stadt für junge Menschen. Ein Teil von
ihnen kehrt, wie wir in der Vergangenheit gesehen ha-
ben, möglicherweise zum Studium, zur Ausbildung oder
zur Berufstätigkeit in die Stadt zurück und stärkt das Po-
tenzial der Hauptstadt. Ich bin mir sicher, dass man mit
einem solchen Programm auch etwas gegen die häufig
erwähnte Politikverdrossenheit der Jugend erreichen
kann.

Die Durchführung einer Medienkampagne hat mein
Kollege Klimke schon erwähnt.

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch ei-
nige Sätze zu einer sehr hilfreichen Unterstützung unse-
rer Marketingoffensive für Berlin sagen. Es freut mich in
diesem Zusammenhang besonders, dass auch die CDU-
Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus einen eigenen
Antrag mit dem Titel „Mehr als eine schöne Stadt – Tou-
rismusinitiative für Berlin unterstützend begleiten!“ ein-
gebracht hat, der das Anliegen meiner Fraktion aufgreift
und nachdrücklich unterstützt. So wird in diesem Antrag
zu Recht die aktive Teilnahme des Regierenden Bürger-
meisters an der geplanten Projektgruppe „Hauptstadt
Berlin“ gefordert.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513828700

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/3491 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung der Akademie der Künste

(AdKG)

– Drucksache 15/3350 –

(Erste Beratung 118. Sitzung)

a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-


(21. Ausschuss)

– Drucksache 15/4124 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin)

Günter Nooke
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)



(8. Ausschuss)

– Drucksache 15/4127 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Lothar Mark
Anja Hajduk
Jürgen Koppelin

Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Eckhardt
Barthel, Erika Steinbach, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr,
Dr. Antje Vollmer und Dr. Christine Weiss für die
Bundesregierung werden zu Protokoll gegeben.1) Es ver-
bleibt die Rede des Kollegen Otto von der FDP-Frak-
tion.


(Beifall bei der FDP)



Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1513828800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nutze

die wenigen Minuten meiner Redezeit, um Ihnen zu be-
gründen, warum die FDP-Fraktion diesem Gesetzent-
wurf nicht ihre Zustimmung erteilen kann.

Die Akademie der Künste hat es nicht verdient, in ei-
ner Art Verschiebebahnhof von der Verantwortung des
Landes Berlin in die Verantwortung des Bundes über-
führt zu werden. Dies soll nicht etwa deswegen gesche-
hen, weil dafür sachliche Gründe vorliegen, sondern
weil wieder einmal Geld im Berliner Kulturhaushalt
fehlt.

Es waren genau 22 Millionen Euro,

(Günter Nooke [CDU/CSU]: 22,5 Millionen!)


die für die Berliner Opernstiftung benötigt wurden. Frau
Weiss und auch Herr Flierl sind deswegen auf die Idee
gekommen, dass drei Berliner Institutionen in die Ver-
antwortung des Bundes verschoben werden müssen.
Darunter befindet sich auch die Akademie der Künste.

Als in diesem Hause – übrigens ohne Aussprache – in
erster Lesung dieser Gesetzentwurf beraten wurde, hat
der Bundesrat Einspruch erhoben, weil er der Meinung
war, dass der Bundestag aufgrund fehlender Gesetzge-
bungskompetenz nicht darüber entscheiden kann. Da-
raufhin haben die Fraktionen von SPD und Grünen dem
Gesetzentwurf hinzugefügt – das ist eine wunderbare
Wortklauberei –, dass die Akademie der Künste eine na-
tional bedeutsame Einrichtung sei und der Repräsenta-
tion des Gesamtstaates diene. So kann man mit angese-
henen Institutionen nicht umgehen. Man kann nicht
einfach schreiben, diese Maßnahme sei wichtig für den
Gesamtstaat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Was wir von Frau Weiss und von der Regierungsko-

alition erwarten, ist, dass in die Hauptstadtkulturförde-
rung, deren Mittel rund zwei Drittel der gesamten För-
dermittel des Bundes ausmachen, eine Systematik
hineinkommt und dass begründet wird, warum be-
stimmte Institutionen in die Verantwortung des Bundes
kommen und bestimmte Institutionen in der Verantwor-
tung des Landes Berlin verbleiben. Dies hätten wir
schon im Falle der Akademie der Künste erwartet.
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll

abgedruckt.






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Joachim Otto (Frankfurt)


Es ist ein problematischer Vorgang, dass eine Institu-

tion in den Verantwortungsbereich des Bundes verscho-
ben wird – die Zusatzkosten dafür belaufen sich auf
16,2 Millionen Euro im Jahr –, weil Löcher im Haushalt
des Landes Berlin aufgetreten sind. Wir bekennen uns
zur Verantwortung des Bundes für die Hauptstadtkultur.
Aber wir akzeptieren es nicht länger, dass irgendwelche
Institutionen hin und her geschoben werden und die Ver-
antwortung immer mehr auf den Bund abgeladen wird,
wenn sich im Haushalt des Landes Berlin ein Haushalts-
loch auftut. Wir verlangen von Ihnen, dass Systematik,
Transparenz und Rationalität in die Hauptstadtkultur
eingeführt werden. Deswegen können wir diesem Gesetz
unsere Zustimmung nicht erteilen.

Ich möchte klarstellen, dass sich die Ablehnung der
FDP-Fraktion nicht gegen die Akademie der Künste
richtet. Sie leistet eine hervorragende Arbeit. Aber uns
hat niemand klar machen können, warum diese Akade-
mie und auch andere Institutionen in die Verantwortung
des Bundes überführt werden sollen. Wir müssen in die-
sem Feld zu einer Systematik kommen. Deswegen sehen
wir uns außerstande, diesem Gesetzentwurf die Zustim-
mung zu erteilen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513828900

Eigentlich war das der letzte Redner des heutigen Ta-

ges. Aber der Kollege Günter Nooke hat das Bedürfnis,
eine Kurzintervention zu machen. Diese wollen wir dann
doch noch anhören. – Bitte schön.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1513829000

Herr Präsident, das klingt ja so, als ob wir jetzt nicht

mehr reden dürfen, weil die Zeit schon so weit fortge-
schritten ist. Ich denke, es lohnt sich schon, noch kurz
auf Herrn Otto zu reagieren, da ich ihn aus Sicht der
CDU/CSU-Fraktion in allem, was er zu den verfahrens-
technischen Aspekten gesagt hat, nur unterstützen kann.

Es ist in der Tat ein Gesetz gemacht worden, das viel-
leicht gar nicht nötig gewesen wäre, das im Bundesrat
abgelehnt und dann verändert wurde. Im Zugriffsverfah-
ren wurde ohne jede Systematik eine Berliner Institution
ausgewählt, die vom Bund übernommen werden sollte.
Das geht so nicht; das ist völlig richtig.

Ich will noch einmal für unsere Fraktion feststellen:
Wir kommen zu einem anderen Ergebnis als die FDP.
Wei
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1513829100
Dieses Vorgehen sollte die ehrwürdige Akademie
der Künste nicht gefährden. Wir stimmen diesem Ge-
setzentwurf zu, obwohl ich die Verfahrenskritik, die Kol-
lege Otto vorgetragen hat, teile. Insofern ist es, glaube
ich, wichtig, deutlich zu machen, dass es uns nicht da-
rum geht, die kleinlichen Verfahren in den Vordergrund
zu stellen, sondern eine wichtige Einrichtung in Berlin
finanziell gut auszustatten und mit der Unterstützung ei-
ner möglichst breiten Mehrheit des Parlamentes zu ver-
sehen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513829200

Zur Erwiderung Herr Otto.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1513829300

Lieber Herr Kollege Nooke, wir betrachten es nicht

als die Krönung der Anerkennung, wenn eine Institution
in die Verantwortung des Bundes gerät. Wir stehen zur
Arbeit der Akademie der Künste. Wir sind allerdings der
Meinung, dass sie dort, wo sie bisher ist, nämlich in der
Verantwortung des Landes Berlin, bleiben kann. Jeden-
falls darf die Akademie der Künste nicht zu einem Ver-
schiebebahnhof werden.

Wir erwarten, dass bei künftigen Verantwortungs-
verschiebungen zwischen dem Land Berlin und dem
Bund eine Systematik hergestellt wird, indem erklärt
wird, warum bestimmte Institutionen vom Bund zu über-
nehmen sind und andere nicht. Was hier in den letzten
Jahren passiert ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen.

Ich will es noch einmal deutlich sagen: Unser Vorge-
hen richtet sich nicht gegen die Akademie der Künste.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das haben wir verstanden, Herr Otto! Es richtet sich nicht gegen die Akademie der Künste! – Gegenruf des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Gegen wen richtet es sich dann?)


Es richtet sich gegen die unterlassene Rationalität und
die unterlassene Transparenz aufseiten der Regierungs-
koalition. Wir wollen dies nicht auf dem Rücken der
Akademie der Künste austragen.

Danke.

(Beifall bei der FDP – Günter Nooke [CDU/ CSU]: Einverstanden!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1513829400

Wir kommen zur Abstimmung über den von der

Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Errichtung der Akademie der Künste auf
Drucksache 15/3350. Der Ausschuss für Kultur und
Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/4124, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/
CSU angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des

von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. No-
vember 2002 zur Gründung einer Assoziation
zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Repu-
blik Chile andererseits
– Drucksache 15/3881 (neu)

(Erste Beratung 132. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)

– Drucksache 15/4171 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Klaus-Jürgen Hedrich
Dr. Ludger Volmer
Dr. Werner Hoyer

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Jürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger,
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Für einen europäisch-kolumbianischen Dialog
und einen erfolgreichen Friedensprozess in
Kolumbien einsetzen
– Drucksache 15/3959 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen wer-
den. Es handelt sich um die Reden von Lothar Mark,
SPD-Fraktion, Klaus-Jürgen Hedrich, Erika Steinbach
und Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU-
Fraktion, Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die
Grünen und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwi-
schen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und der Republik Chile anderer-
seits, Drucksache 15/3881 (neu). Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4171, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/3959 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll

abgedruckt.
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum internationalen Familienrecht
– Drucksache 15/3981 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4168 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Bätzing
Christine Lambrecht
Ute Granold
Irmingard Schewe-Gerigk
Sibylle Laurischk

Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion, Ute
Granold, CDU/CSU-Fraktion, Irmingard Schewe-
Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen Staatssekre-
tärs Alfred Hartenbach.2)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum interna-
tionalen Familienrecht, Drucksache 15/3981. Der
Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4168, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. – Die Frage nach Gegenstimmen und Ent-
haltungen erübrigt sich. Der Gesetzentwurf ist einstim-
mig angenommen.

Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Ehe- und Lebenspartner-
schaftsnamensrechts
– Drucksache 15/3979 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 15/4167 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Daniela Raab

2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Irmingard Schewe-Gerigk
Sibylle Laurischk

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol-
len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen Christine Lambrecht, SPD-
Fraktion, Ute Granold, CDU/CSU-Fraktion, Irmingard
Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, Sibylle
Laurischk, FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts,
Drucksache 15/3979. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/4167, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das

Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Die Frage nach Ge-
genstimmen und Enthaltungen erübrigt sich. Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.

Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 12. November 2004,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.