1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
        abgedruckt.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12719
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
        Blumenthal, Antje CDU/CSU 11.11.2004
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung des Europarates
        Friedrich (Mettmann),
        Lilo
        SPD 11.11.2004
        Grasedieck, Dieter SPD 11.11.2004
        Griese, Kerstin SPD 11.11.2004
        Gröhe, Hermann CDU/CSU 11.11.2004
        Heil, Hubertus SPD 11.11.2004
        Hennrich, Michael CDU/CSU 11.11.2004
        Hörster, Joachim CDU/CSU 11.11.2004
        Kossendey, Thomas CDU/CSU 11.11.2004
        Lietz, Ursula CDU/CSU 11.11.2004
        Lintner, Eduard CDU/CSU 11.11.2004*
        Rübenkönig, Gerhard SPD 11.11.2004
        Rupprecht
        (Tuchenbach),
        Marlene
        SPD 11.11.2004
        Seib, Marion CDU/CSU 11.11.2004
        Dr. Skarpelis-Sperk,
        Sigrid
        SPD 11.11.2004
        Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        11.11.2004
        Dr. Wend, Rainer SPD 11.11.2004
        Dr. Wodarg,
        Wolfgang
        SPD 11.11.2004
        Nachtrag zum Plenarprotokoll 15/138
        Karin Kortmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
        Melanie Oßwald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
        Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU) . . . . . . . . .
        Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Rainer Funke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Kerstin Müller, Staatsministerin AA . . . . . . . .
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Antrags: Bildungsarmut in Deutschland
        feststellen und bekämpfen (Tagesordnungs-
        punkt 9)
        Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Eberhard Otto (Godern) (FDP) . . . . . . . . . . .
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
        Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
        Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze
        (Zusatztagesordnungspunkt 6)
        Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Antrags: Scheinvaterschaften wirksam
        bekämpfen (Tagesordnungspunkt 11)
        12722 A
        12723 A
        12724 B
        12725 A
        12725 D
        12726 D
        12727 B
        12737 C
        12738 A
        12738 C
        Deutscher B
        Nachtrag
        Stenografisch
        138. Sitz
        Berlin, Donnerstag, den
        I n h a l
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
        – Antrag: Humanitäre Verantwortung für
        Menschen in Not
        – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
        rung über die deutsche humanitäre Hilfe
        im Ausland 1994 bis 1997
        – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
        rung über die deutsche humanitäre Hilfe
        im Ausland 1998 bis 2001
        – Antrag: Humanitäre Soforthilfe zielge-
        richtet gestalten
        (Tagesordnungspunkt 8 a bis c, Zusatztages-
        ordnungspunkt 5)
        Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . .
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        G
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        G12721 A
        Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 12728 C
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        11. November 2004
        t :
        ernward Müller (Gera) (CDU/CSU) . . . . . .
        erner Lensing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
        rietje Bettin (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        lrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        nlage 4
        u Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        es Antrags: Stabilisierung und Weiterent-
        icklung des genossenschaftlichen Wohnens
        Tagesordnungspunkt 10)
        olfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
        laus Minkel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
        erhard Wächter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
        12730 A
        12731 A
        12732 B
        12733 A
        12733 D
        12735 D
        12736 C
        Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
        12739 D
        II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
        Roland Gewalt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .
        Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .
        Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        der Beschlussempfehlungen und Berichte zu
        den Anträgen:
        – Umsetzung des nationalen Radverkehrs-
        plans 2002–2012 forcieren
        – Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht
        vorlegen
        – Den Fahrradtourismus in Deutschland um-
        fassend fördern
        (Tagesordnungspunkt 12 a und b)
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
        Heidi Wright (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . .
        Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .
        Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) . . . . . . . . .
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Antrags: Pilotprojekt für die virtuelle Re-
        konstruktion von vorvernichteten Stasi-Unter-
        lagen beginnen (Tagesordnungspunkt 13)
        Barbara Wittig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Hartmut Büttner (Schönebeck)
        (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        der Anträge:
        – Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der In-
        ternationalen Arbeitsorganisation über
        Ausweise für Seeleute und zur vereinfach-
        ten Freistellung vom Visumserfordernis
        (Tagesordnungspunkt 14)
        D
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        12740 C
        12742 A
        12742 D
        12743 D
        12744 D
        12745 D
        12747 A
        12748 B
        12750 A
        12751 A
        12752 A
        12752 D
        12753 C
        12754 D
        12755 C
        12756 B
        r. Margrit Wetzel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
        olfgang Börnsen (Bönstrup)
        (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        r. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        ans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . .
        nlage 10
        u Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        es Antrags: Marketing für die Hauptstadt
        erlin (Tagesordnungspunkt 16)
        runhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        ranziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        nlage 11
        u Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        es Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
        er Akademie der Künste (AdKG) (Tagesord-
        ungspunkt 17)
        ckhardt Barthel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . .
        einrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU) . . . .
        rika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
        r. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        r. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . .
        nlage 12
        u Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
        Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkom-
        men vom 18. November 2002 zur Grün-
        dung einer Assoziation zwischen der
        Europäischen Gemeinschaft und ihren
        Mitgliedstaaten einerseits und der Repu-
        blik Chile andererseits
        Antrag: Für einen europäisch-kolumbiani-
        schen Dialog und einen erfolgreichen
        Friedensprozess in Kolumbien einsetzen
        Tagesordnungspunkt 18 a und b)
        othar Mark (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        rich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
        laus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU) . . . . . . . .
        ans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        arald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
        12757 A
        12758 C
        12760 C
        12761 B
        12761 D
        12763 A
        12763 D
        12764 D
        12765 C
        12766 C
        12767 B
        12768 A
        12770 B
        12771 C
        12772 D
        12774 A
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 III
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Entwurfs eines Gesetzes zum internatio-
        nalen Familienrecht (Zusatztagesordnungs-
        punkt 7)
        Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
        Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
        des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamens-
        rechts (Zusatztagesordnungspunkt 8)
        Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
        Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
        Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ
        12774 D
        12776 A
        12776 D
        12777 C
        12778 B
        12779 A
        12779 D
        12780 D
        12781 B
        12781 D
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12721
        (A) )
        (B) )
        flossen sind. Wenigen ist bewusst, dass humanitäre Hilfe leisten, und an die Spender. Die Medien möchte ich
        Zeitraum 1,4 Milliarden Euro in die humanitäre Hilfe ge- b
        ei Hilfsorganisationen arbeiten und humanitäre Hilfe
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Antrag: Humanitäre Verantwortung für
        Menschen in Not
        – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
        rung über die deutsche humanitäre Hilfe im
        Ausland 1994 bis 1997
        – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
        rung über die deutsche humanitäre Hilfe im
        Ausland 1998 bis 2001
        – Antrag: Humanitäre Soforthilfe zielgerich-
        tet gestalten
        (Tagesordnungspunkt 8 a bis c, Zusatztagesord-
        nungspunkt 5)
        Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die Liste der
        Projekte, die von Deutschland finanziert werden und un-
        ter die Rubrik „humanitäre Hilfe“ fallen, ist lang: Das
        geht vom humanitären Minenräumen in Afghanistan, wo
        die meisten Minen der Welt liegen über die Unterstüt-
        zung für Hochwasseropfer in Somalia bis zur Nothilfe
        für Erdbebenopfer in der Türkei. Die Länder, in die hu-
        manitäre Hilfe aus Deutschland fließt, befinden sich auf
        fast allen Kontinenten.
        Humanitäre Hilfe wird ohne Ansehen von Rasse,
        Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeu-
        gung oder sonstigen Unterscheidungsmerkmalen
        geleistet. Sie darf weder von politischen oder reli-
        giösen Einstellungen abhängig gemacht werden,
        noch darf sie diese fördern. Einziges Kriterium ist
        die Not der Menschen.
        So heißt es – nahezu wortgleich wie beim IKRK – in
        den zwölf Grundregeln der humanitären Hilfe, auf die
        sich Hilfsorganisationen und Bundesregierung im Jahr
        2000 verständigt haben.
        Humanitäre Hilfe folgt also dem humanitären Impera-
        tiv. Sie ist – und hier antworte ich auf einen Punkt des
        Antrags der Union – kein Instrument der Außenpolitik
        und dient nicht politischen, wirtschaftlichen oder sonsti-
        gen Zwecken, kann also keine „Strategie“ verfolgen. Ich
        zitiere unseren Antrag: „Reiche Nationen haben die ethi-
        sche Pflicht Menschen in Not zu helfen.“ Die Hilfe ge-
        schieht allerdings durchaus im eigenen Interesse, denn
        menschenunwürdige Lebensbedingungen tragen zur De-
        stabilisierung ganzer Regionen bei und bergen ein hohes
        sicherheitspolitisches Risiko, auch für uns.
        Grundlage der heutigen Debatte sind zwei Berichte der
        Bundesregierung über die zwischen 1994 bis 1997 und
        zwischen 1998 und 2001 geleistete humanitäre Hilfe und
        jeweils ein Antrag der CDU/CSU und der Regierungsko-
        alition zum gleichen Themenbereich. Aus dem Bericht
        über die Jahre 1998 bis 2001 geht hervor, dass in diesem
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        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        ine Querschnittsaufgabe ist. Die Mittel kommen vorwie-
        end aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes und des
        MZ, aber auch – Stichwort „Wiederaufbauhilfe für
        ückkehrer“ bzw. Projekte des THW – aus dem BMI und
        em BMVg.
        Alle Bundesregierungen folgten seit jeher der Strate-
        ie, schnelle, lebensrettende Hilfe im Rahmen der Mög-
        ichkeiten dort zu leisten, wo die Hilfe am nötigsten
        ebraucht wird. Dass wir uns im Ausschuss für Men-
        chenrechte und humanitäre Hilfe oft wünschen, mehr
        ittel zur Verfügung zu haben und nicht den Haushalts-
        wängen unterworfen zu sein, ist wohl kein Geheimnis.
        ndererseits haben wir noch immer Mittel lockerma-
        hen können, wenn wir bei Katastrophen Hilfe leisten
        ussten. Katastrophen haben es oft so an sich, unvorher-
        esehen einzutreten.
        Die Kolleginnen und Kollegen von der Union, die in
        hrem Antrag den geringen Mittelansatz bemängeln,
        eien deshalb daran erinnert, dass im Jahre 2002 erhebli-
        he Sondermittel für humanitäre Zwecke in Afghanistan
        obilisiert wurden und im Jahre 2003 bis zu 40 Millio-
        en Euro zusätzlich für die humanitäre Hilfe im Irak be-
        eitgestellt wurden. Im laufenden Haushaltsjahr haben
        ir für die Bewältigung der humanitären Krise in Darfur
        nsgesamt 32,5 Millionen Euro bereitgestellt. Diese Mit-
        el wurden zum Teil aus dem laufenden Budget, aber
        uch durch Einsparungen und Umschichtungen im AA
        nd im BMZ aufgebracht. Zehn Millionen Euro wurden
        ls überplanmäßige Ausgaben zulasten des Gesamthaus-
        alts zur Verfügung gestellt. Deutschland gehört – so-
        ohl was das IKRK als auch was den UNHCR betrifft –
        u den zehn größten Gebern. Aus unserem Antrag kann
        an entnehmen, dass über ECHO, den europäischen
        ond für humanitäre Hilfe, 30 Prozent der humanitären
        ilfe weltweit finanziert werden. Die Bundesrepublik
        eutschland steuert derzeit 23 Prozent zu diesen Bud-
        ets bei. Unter den Mitgliedsländern der OECD standen
        ir 2001 bei der Finanzierung des Entwicklungshilfe-
        omitees DAC nach den USA, der EU und Groß-
        ritannien mit 7 Prozent des Etats des DAC auf dem
        ierten Platz. Fazit: Es könnte sicher mehr sein, aber wir
        üssen uns wirklich nicht verstecken im internationalen
        ergleich, auch vor dem Hintergrund unserer Haushalts-
        age.
        Aber auch die Bundesländer haben sich in den letzten
        ahren an humanitären Hilfsprojekten beteiligt. So geht
        us dem besagten Bericht hervor, dass zum Beispiel
        ayern zwischen 1998 und 2001 allein für Projekte in
        azedonien über fünf Millionen Euro und Nordrhein-
        estfalen für Rumänien über 8 Millionen Euro gegeben
        at. Aus Hessen kamen fast 3 Millionen Euro für Bos-
        ien und Herzegowina. Da waren sicher auch viele
        pendengelder dabei.
        Deshalb möchte ich zum Schluss Danke sagen an die
        ielen Menschen, die unter schwierigen Bedingungen
        12722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
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        auffordern, nicht nur von Katastrophe zu Katastrophe
        weiter zu wandern, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit
        der Maßnahmen die Menschen in den betroffenen Län-
        dern im Fokus der Aufmerksamkeit zu behalten. Wir ha-
        ben – und das erwähne ich unter dem Eindruck eines Ge-
        spräches mit unserem ehemaligen Kollegen Dr. Christan
        Schwarz-Schilling, der diese Entwicklung im Hinblick
        auf den Balkan beklagte – zu viele vergessene Katastro-
        phen.
        Karin Kortmann (SPD): Wir können uns im Bun-
        destag einer Einigkeit aller Fraktionen sicher sein, die
        die Grundvoraussetzung des Einsatzes humanitärer Hilfe
        beschreibt und die die Bundesregierung in ihrem aktuel-
        len Bericht über die humanitäre Hilfe im Ausland dar-
        legt:
        Die Bundesregierung leistet ihre Hilfe gemäß dem
        humanitären Imperativ und unabhängig von politi-
        schen, ethnischen oder religiösen Erwägungen. Die
        humanitäre Hilfe der Bundesregierung ist Handeln
        aus ethischer Verantwortung und mit humanitärer
        Zielsetzung, sie orientiert sich ausschließlich an der
        Bedürftigkeit der von Krisen, Konflikten und Kata-
        strophen betroffenen Menschen. Es gibt für die hu-
        manitäre Hilfe keine guten oder schlechten Opfer,
        sondern nur Menschen, deren Gesundheit oder Le-
        ben in einer Notlage gefährdet ist.
        Wir haben es heute mit einer Vielzahl von Katastro-
        phen zu tun, auf die humanitäre Hilfe schnell, effektiv
        und umfassend reagieren soll. Die Katastrophen lassen
        sich in vier Kategorien gliedern:
        Erstens. Wir haben es mit den kurzfristigen, natür-
        lichen Katastrophen zu tun: mit Erdbeben, Vulkanaus-
        brüchen, Stürmen und Überschwemmungen.
        Zweitens. Wir haben es mit langfristigen, natürlichen
        Katastrophen zu tun: mit Epidemien, Dürren, Insekten-
        plagen.
        Drittens. Wir haben es mit kurzfristigen, menschlich
        verursachten Katastrophen zu tun: mit chemischen und
        nuklearen Unfällen, mit technischen Katastrophen.
        Viertens. Wir haben es mit langfristigen, menschlich
        verursachten Katastrophen zu tun: mit Hungersnöten,
        Bürgerkriegen, zwischenstaatlichen Kriegen.
        All diese Katastrophen können erhebliche Auswir-
        kungen haben: auf die Politik – innerstaatlich und inter-
        national –, auf die Gesellschaft, auf die Ökonomie – die
        Wirtschafts- und Finanzentwicklung–, auf das Leben des
        einzelnen Menschen. Die Fähigkeit, die Katastrophe zu
        meistern, hängt dabei entscheidend von der politischen
        und gesellschaftlichen Konstitution des Krisengebietes
        ab. Stabile Gesellschaften sind eher in der Lage, Kata-
        strophen zu bewältigen als instabile Gesellschaften. Es
        ist das Leid der Menschen, die Bilder aus Somalia, aus
        Bosnien, Ruanda, dem Kongo, aus Sierra Leone, Afgha-
        nistan oder dem Sudan, die uns die Aufgaben und die
        Bedeutung der humanitären Hilfe – leider schon zu häu-
        fig – immer wieder bewusst machen. Sie machen uns
        aber auch bewusst, wo die Grenzen humanitärer Hilfe
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        iegen. Sie kann die akute Not lindern, nicht aber die po-
        itische Konfliktlösung ersetzen, strukturelle Ursachen
        er Probleme beseitigen. Sie ersetzt auch keine langfris-
        ige Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es ist die vordringli-
        he Aufgabe der Staaten, das humanitäre Völkerrecht
        nzuerkennen und umzusetzen, ihnen obliegt es, Mecha-
        ismen zur friedlichen Konfliktaustragung bereitzustel-
        en.
        Darin liegt auch genau der Unterschied zum Ansatz
        er Union: Wir setzen schon vor der humanitären Hilfe
        n, indem wir geeignete Strategien suchen, die Konflikte
        m Vorfeld zu verhindern. Ich begrüße deshalb ausdrück-
        ich, dass die Bundesregierung einen Aktionsplan „Zi-
        ile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskon-
        olidierung“ verabschiedet hat. Er belegt die notwendige
        ohärenz der verschiedenen Politikbereiche, sodass zi-
        ile Krisenprävention in größerem Maße als bisher Ein-
        ang in die Wirtschaftspolitik, in die Finanzpolitik und
        ie Umweltpolitik finden muss. Ihre strategischen An-
        atzpunkte sind die Herstellung verlässlicher staatlicher
        trukturen – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Men-
        chenrechte, Sicherheit –, die Schaffung von Friedens-
        otenzialen – Zivilgesellschaft, Medien, Kultur,
        ildung – und die Sicherung der Lebenschancen der be-
        roffenen Menschen.
        Anfang 2001 wurde im Rat der Europäischen Union
        erstärkt auf ein anderes Problem der Hilfemöglichkei-
        en hingewiesen. Es wurde von der so genannten Grau-
        one zwischen humanitärer Hilfe, Rehabilitationsmaß-
        ahmen und Entwicklungszusammenarbeit gesprochen.
        ie humanitäre Hilfe soll den unmittelbaren Bedarf von
        risenopfern decken und wird vor allem über Nicht-
        egierungsorganisationen und internationale Organisa-
        ionen bereitgestellt. Die Entwicklungszusammenarbeit
        ielt dagegen auf die Förderung eigenständiger Entwick-
        ungspolitiken und Entwicklungsstrategien und erfolgt
        m Rahmen von Regierungsabsprachen, Kooperations-
        rogrammen, die mit dem betreffenden Partnerland ver-
        inbart wurden. Wir fordern die Bundesregierung auf,
        ntwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe als
        ichtiges Instrument zur Stärkung der Selbsthilfekräfte
        onsequent weiter zu entwickeln.
        Humanitäre Hilfe ist politisch neutral. Der Erfolg ih-
        es Einsatzes, ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
        ängt entscheidend davon ab, dass sie sich nicht poli-
        isch vereinnahmen lassen. Deshalb ist es für uns Sozial-
        emokratinnen und Sozialdemokraten grundlegend, dass
        s eine Trennung von militärischen und humanitären zi-
        ilen Einsätzen gibt. Wäre das nicht der Fall, würde sich
        ie humanitäre Hilfe Interessen und Ziele zu eigen ma-
        hen, die über die Opferversorgung hinausgehen und da-
        it gegen die Grundlagen humanitärer Hilfe verstoßen.
        uf diese Trennung sind wir in unserem Antrag ausführ-
        ich eingegangen. Wir erwarten, dass im Dialog mit hu-
        anitären Hilfsorganisationen, klare Kriterien für die
        bgrenzung zu den CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr
        estgelegt werden und ein gemeinsamer Code of Con-
        uct erarbeitet wird.
        Ich möchte zum Abschluss all denjenigen danken, die
        ft unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheits- und Lebens-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12723
        (A) )
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        risiken bereit sind, anderen Menschen weltweit zu hel-
        fen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat
        beschrieben, dass humanitäre Hilfe nur unter drei
        Grundvoraussetzungen stattfinden kann: unter ungehin-
        dertem Zugang zu den Konfliktopfern, durch den unge-
        störten Dialog mit den Behörden und durch die Unab-
        hängigkeit, die völlige Kontrolle in allen Stadien des
        Einsatzes über die benötigten Mittel. Vielleicht wäre es
        einmal lohnenswert, nicht immer nur über eine Erhö-
        hung der Haushaltsmittel zu streiten, sondern mit einer
        anderen sinnvollen Unterstützung zu beginnen, die sich
        diese Organisationen seit langem wünschen: Heben wir
        für die humanitären Hilfeorganisationen die Zweckge-
        bundenheit der Mittel, das so genannte earmarking auf!
        Die gegenüber anderen Organisationen praktizierte Un-
        terscheidung nach institutioneller Förderung und Pro-
        jektförderung ist in diesem Bereich nicht sinnvoll.
        Schwerpunktmäßige Projektförderung reduziert die Pla-
        nungssicherheit und Flexibilität und erhöht den bürokra-
        tischen Aufwand.
        Bei der effektiven Leistung unserer deutschen
        Hilfsorganisationen wollen wir sie auch weiterhin gerne
        unterstützen, um die zwölf Grundregeln für die deutsche
        humanitäre Hilfe im Ausland nachhaltig zu verankern.
        Ich bitten deshalb, unseren Antrag „Humanitäre Verant-
        wortung für Menschen in Not“ zu unterstützen.
        Holger Haibach (CDU/CSU): Die Hilfsorganisation
        „World Vision“ überschreibt ihr Engagement im Bereich
        „humanitäre Hilfe“ mit den Worten: „Wo kompetente
        Hilfe nicht warten kann!“ Prägnanter kann man, so
        meine ich, Sinn und Zweck humanitärer Hilfe nicht zu-
        sammenfassen, vor allem nicht, wie sie geleistet werden
        soll: schnell, kompetent, sachgerecht, treffsicher und
        zielgerichtet.
        Tatsächlich leidet aber humanitäre Hilfe immer unter
        Unzulänglichkeiten:
        Erstens. Es können meist nicht genügend finanzielle
        oder andere Mittel für alle Krisenherde dieser Welt zur
        Verfügung gestellt werden.
        Zweitens. Diese Mittel können häufig nicht so zeitnah
        wie gewünscht vor Ort eingesetzt werden.
        Drittens. Aus verschiedensten Gründen kommen die
        Mittel nicht immer dort an, wo sie ankommen sollen.
        Viertens. Die Verteilung der vorhandenen Mittel auf
        die verschiedenen Krisenfälle ist sehr stark von der öf-
        fentlichen Aufmerksamkeit abhängig, die diesen Krisen
        gewidmet wird.
        Trotz all dieser Unzulänglichkeiten und trotz der Tat-
        sache, dass humanitäre Hilfe von ihrem Charakter her
        stets situativ und damit oftmals schwer planbar ist, kann
        die Aufgabe „humanitäre Hilfe“ selbstverständlich gut
        oder weniger gut gelöst werden. Deshalb bieten die bei-
        den heute vorliegenden Berichte eine gute Gelegenheit,
        ein Resümee zu ziehen, wie sich die humanitäre Hilfe
        Deutschlands in den vergangenen Jahren entwickelt hat.
        Positiv ist hervorzuheben, dass es eine über Par-
        teigrenzen und Regierungsverantwortungen hinausgrei-
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        ende Kontinuität in der grundsätzlichen Bewertung
        ibt, wie humanitäre Hilfe durchgeführt werden soll,
        elche ethischen und rechtlichen Grundsätze ihr zu-
        runde liegen, dass sie nur in enger Kooperation und
        bstimmung mit NGOs geschehen kann und vieles
        ehr. Ebenfalls herrscht Übereinstimmung bei der Fest-
        tellung, dass die Zahl der Fälle humanitärer Hilfe in den
        etzten Jahren und Jahrzehnten dramatisch zugenommen
        at. Auch die Bundesregierung bestätigt das in ihrem
        ericht.
        Wendet man sich jedoch den so genannten nackten
        ahlen zu, so kommt man zu einem Befund, der so gar
        icht zu dieser Feststellung passt. Während im Berichts-
        eitraum von 1994 bis 1997, für den sich CDU/CSU und
        DP verantwortlich zeichnen, die Höhe der Ausgaben
        ür den Bereich „humanitäre Hilfe im Ausland“ 1,5 Mil-
        iarden DM betrug, ist dieser Betrag unter Rot-Grün für
        ie Jahre 1998 bis 2001 auf 1,4 Milliarden DM gesun-
        en. Das sind immerhin 100 Millionen DM oder circa
        1 Millionen Euro. Das ist interessant, beachtlich und
        erwunderlich für eine Bundesregierung, die doch mit
        roßen Worten Menschenrechtspolitik zur Querschnitts-
        ufgabe erklärt hat und die – wohlgemerkt auch mit un-
        erer vollen Zustimmung – bei Krisenprävention und
        risenbewältigung dafür sorgen will, dass Deutschland
        ine führende Rolle, wenn nicht gar eine Vorreiterrolle
        pielen soll.
        Nun will ich gar nicht den Eindruck erwecken, die
        undesregierung hätte in den letzten Jahren nicht auf
        iese Entwicklungen reagiert. So hat sie etwa im Jahr
        002 für den Bereich der humanitären Hilfe 65,7 Millio-
        en Euro ausgegeben, obwohl nur 37,7 Millionen Euro
        orgesehen waren. Trotzdem hat sich die rot-grüne
        ehrheit im Haushaltsausschuss im Jahr 2003 der von
        DU und CSU geforderten Erhöhung der Mittel für hu-
        anitäre Hilfe verweigert. Wenn die Regierungsfraktio-
        en doch schon von vornherein wissen oder absehen
        önnen, dass die Mittel nicht ausreichen werden – 2002
        nd 2003 waren nicht die einzigen Jahre, in denen dies
        eschehen ist – warum stellen sie dann nicht auch im
        inne von Haushaltswahrheit und -klarheit annähernd
        usreichende Mittel zur Verfügung? Ich freue mich, dass
        ie Regierungsfraktionen dies, wenn auch etwas ver-
        lausuliert, zum Thema ihres Antrags gemacht haben.
        Sollten die Regierungsfraktionen übrigens mit der fi-
        anziellen Situation argumentieren, in der wir uns der-
        eit befinden, so möchte ich Sie mit einer meines Erach-
        ens sehr zutreffenden Aussage konfrontieren:
        Wir können unserer internationalen Verantwortung
        nur dann gerecht werden, wenn der Bereich der hu-
        manitären Hilfe von den allgemeinen Sparzwängen
        ausgenommen wird. Nur dann werden wir auch in
        Zukunft rechtzeitig und mit adäquatem Mittelein-
        satz überall da, wo Menschenleben in Gefahr sind
        und es zu humanitären Hilfseinsätzen keine Alter-
        native gibt, das Erforderliche tun können.
        iese Worte stammen aus einem Aufsatz des ehemali-
        en Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger
        olmer, in der Frankfurter Rundschau. Ich würde mir
        12724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
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        wünschen, dass die Politik der Bundesregierung diesem
        Anspruch gerecht würde.
        Selbstverständlich kann man jetzt argumentieren, es
        komme nicht nur auf die absolute Summe, sondern auch
        oder eher vielmehr auf den durchdachten, konstruktiven
        und konzeptionellen Einsatz der Mittel an. Nicht selbst-
        verständlich und schon gar nicht verständlich ist die fol-
        gende Tatsache: In einer Zeit, in der wir uns doch alle
        darüber einig sind, dass humanitäre Hilfe erfolgreich nur
        im internationalen Kontext und in der internationalen
        Zusammenarbeit geleistet werden kann, hat diese Bun-
        desregierung zwischen 1998 und 2001 ihre Zuschüsse zu
        internationalen Organisationen reduziert. Dazu zwei
        Beispiele:
        Erstens. Der anteilige Beitrag Deutschlands zum
        Welternährungsprogramm ist von 6,5 Prozent unter
        CDU/CSU und FDP auf 3,2 Prozent unter Rot-Grün zu-
        rückgegangen. Zweitens. Die Förderung des Internatio-
        nalen Roten Kreuzes wurde unter Rot-Grün sowohl in
        Hinblick auf die institutionellen Förderung als auch in
        Hinblick auf die Reaktion auf Hilfeersuchen reduziert.
        Dabei erscheint eine intensive Zusammenarbeit umso
        wichtiger, da sich auch im Zuge der Veränderung von
        Konflikten und Krisenherden auf der Welt die Um-
        stände, unter denen humanitäre Hilfe geleistet werden
        muss, dramatisch verändert – um nicht zu sagen: ver-
        schlechtert – haben: Anschläge auf Mitarbeiter von
        Hilfsorganisationen, weil deren Unparteilichkeit ange-
        zweifelt wird, und Unklarheiten bei der Zusammenarbeit
        von NGOs und Militär führen häufig dazu, dass humani-
        täre Hilfe viel von ihrer Schlagkraft verliert. Hier bedarf
        es der Abgrenzung von Zuständigkeiten einerseits und
        der Verzahnung der Tätigkeiten andererseits.
        Das von der Bundesregierung vorgelegte Konzept zur
        zivilen Krisenprävention, das wir für notwendig erach-
        ten, stellt die Prävention auf eine konzeptionelle Basis.
        Leider ist im Bereich der humanitären Hilfe Ähnliches
        bis jetzt noch nicht in Sicht. Der Antrag der Koalition
        nennt einige Maßnahmen, die wir zum Teil auch für
        richtig halten. Ein Konzept ergibt sich daraus noch nicht.
        Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit unserem
        Antrag dazu auf, ein insgesamt stimmiges Konzept für
        den Bereich der humanitären Hilfe vorzulegen, das die
        sich stellenden Aufgaben, die handelnden Akteure und
        die dazugehörige Finanzausstattung miteinander in Ein-
        klang bringt.
        Melanie Oßwald (CDU/CSU): Die vorliegenden Be-
        richte zur humanitären Hilfe der letzten Jahre zeigen,
        dass wohl Einiges erreicht werden konnte, oft aber nicht
        genug, erst recht nicht, wenn man ihre Bedeutung und
        Rolle in einer sich ständig wandelnden Welt näher be-
        trachtet.
        Die Aufgabenstellung der humanitären Hilfe ist in
        den letzten Jahren deutlich komplexer geworden. Wäh-
        rend der 80er-Jahre dominierten Naturkatastrophen die
        humanitäre Hilfe. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt
        es jedoch zusätzlich immer mehr Bürgerkriege und
        andere von Menschen verursachte Katastrophen. Die
        Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage seit den
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        erroranschlägen vom 11. September 2001 stellen die
        umanitäre Hilfe vor neue Herausforderungen.
        Was aber ist humanitäre Hilfe? Humanitäre Hilfe be-
        eutet den unmittelbaren Einsatz zur Beseitigung oder
        inderung akuter Notlagen wie Naturkatastrophen oder
        riegerische Auseinandersetzungen. Sie darf nicht an
        edingungen geknüpft sein. Sie muss sich um alle küm-
        ern, die in eine existentielle Notlage geraten sind – un-
        bhängig von Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, poli-
        ischer Überzeugung oder sogar Mitschuld.
        Es geht auch um die grundlegenden Fragen: Was
        ann, was muss humanitäre Hilfe darüber hinaus leisten
        nd was kann, was muss sie nicht leisten?
        Während die Welt gebannt und hilflos auf die bedroh-
        iche Situation im Irak und in Afghanistan schaut, ster-
        en im Kongo, in Liberia, in Tschetschenien. Tausende
        on Menschen – unbemerkt und vergessen. Humanitäre
        ilfe muss aber gerade diese vergessenen Katastrophen
        s öffentliche Bewusstsein bringen und nicht allein dem
        NN-Effekt folgen. Sie darf nicht nur dort helfen, wo
        ie Kameras hingehalten werden.
        Am Beispiel Darfurs lässt sich zeigen, woran es hu-
        anitärer Hilfe derzeit mangelt: Nach Angaben der
        NO kommt nur etwa die Hälfte der benötigten Hilfe in
        ieser Krisenregion auch wirklich an. Das kann es doch
        icht sein! Erst durch die Hilfsorganisationen wurde die-
        es Gebiet ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
        Seit dem Ende des Kalten Krieges wird mit dem Be-
        riff „humanitär“ in geradezu verschwenderischer Art
        mgegangen. Es wurde von „humanitären Krisen“, „hu-
        anitären Einsätzen“ und sogar vom „humanitären
        rieg“ gesprochen. Aber immer öfter wird humanitäre
        ilfe als Feigenblatt genutzt, um die Unwilligkeit zu po-
        itischen – aber damit dauerhaften – Lösungen zu verde-
        ken. In letzter Zeit scheinen humanitäre Prinzipien zu-
        ehmend politischen Zielen zum Opfer zu fallen. Wenn
        oalitionstruppen in Afghanistan humanitäre Hilfe zum
        eil ihrer militärischen „hearts and minds“-Strategie ma-
        hen, können sie die Möglichkeiten und die Akzeptanz
        er Hilfsorganisationen untergraben. Beim Kampf gegen
        en Terror wird es den Hilfsorganisationen erschwert,
        eutral zu bleiben; aber eben diese Neutralität ist de
        acto deren Lebensversicherung.
        Übergriffe auf Helfer werden wahrscheinlicher, wenn
        an nicht mehr klar zwischen Militär und humanitären
        rganisationen trennen kann. Noch nie mussten die
        ilfsorganisationen so viele Opfer beklagen wie in den
        tzten Jahren. „Ärzte ohne Grenzen“ musste das bereits
        979 begonnene Afghanistan-Projekt vor kurzem abbre-
        hen, da fünf Mitarbeiter ermordet und weitere massiv
        edroht wurden. Dies ist sehr traurig. Noch trauriger ist
        ber, dass bisher kein Mitglied der Bundesregierung
        ierzu sein Bedauern geäußert hat!
        Bei allem Verständnis für vertrauensbildende Maß-
        ahmen und bei aller Freude über den Eifer und die An-
        trengungen unserer Soldaten, beim Aufbau eines Staa-
        es zu helfen: Dies alles ist nicht ihr eigentlicher
        irkungskreis. Die Hauptaufgabe des Militärs in der
        riedensmission ist nicht die humanitäre Hilfe, sondern
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12725
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        der Schutz der Zivilbevölkerung vor Übergriffen durch
        Milizen oder bewaffnete Banden.
        Absprache und klare Rollenverteilung von Militär
        und humanitärer Hilfe ist wichtiger denn je. Es ist er-
        schreckend, dass der Bundesverteidigungsminister die-
        sen Dialog mit den Hilfsorganisationen verweigert, sich
        der Diskussion nicht stellen will oder kann.
        Konfliktbewältigung bzw -verhinderung sind Aufga-
        ben der Politik, der Regierungen, Parlamente und Par-
        teien, nicht aber der Hilfsorganisationen.
        Deshalb muss eines klar gesagt werden: Humanitäre
        Hilfe ist kein Ersatz für politische Programmatik! Sie
        kann weder Kriege und Vertreibungen verhindern noch
        gesellschaftliche Systeme nachhaltig beeinflussen. Sie
        kann ebenso wenig eine Demokratie aufbauen oder lo-
        kale Warlords und deren Milizen entwaffnen. Dies ist
        und kann auch nicht ihre Aufgabe sein.
        Wir müssen Hilfsorganisationen intensiv unterstüt-
        zen. Die finanzielle Förderung nicht weiter zu reduzie-
        ren ist dabei nur eine wichtige Aufgabe. Zusätzlich müs-
        sen wir dafür Sorge tragen, dass die Arbeit der
        Hilfsorganisationen nicht durch politische Instrumentali-
        sierung erschwert, behindert oder gar unmöglich ge-
        macht wird.
        Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Humanitäre
        Hilfe zu leisten ist ein Gebot der Menschlichkeit und der
        Nächstenliebe. Diese Hilfe ruht auf jenem Fundament
        von Werten und Grundüberzeugungen, auf denen unsere
        Gesellschaft aufgebaut ist. Die Verpflichtung zu humani-
        tärer Hilfe gilt absolut. Sie macht keinen Unterschied
        zwischen politischen Systemen, unterschiedlichen
        Ethnien, Religionen oder dem Geschlecht.
        Daneben steht aber eine immer schmaler werdende
        Basis der finanziellen Mittel. Sie nötigt uns, humanitäre
        Hilfe zielgerichtet zu leisten. Die Arbeit der zuständigen
        Ministerien ist besser zu koordinieren. Ebenso ist die
        Zusammenarbeit mit den für humanitäre Hilfe unver-
        zichtbaren Nichtregierungsorganisationen noch besser
        abzusprechen und es sind gemeinsam Konzepte weiter-
        zuentwickeln. Die Konsequenz daraus, nämlich eine
        stärkere Konzeptionierung auf der Geber- wie auch auf
        der Empfängerseite ist von der Regierung noch nicht
        ausreichend geleistet worden. Das aber ist notwendig.
        Wir können leider nicht von einer Entspannung, sondern
        wir müssen von einer stetigen Verschärfung der humani-
        tären Notlagen weltweit ausgehen.
        Daher kann der vorliegende Antrag von Rot-Grün
        nicht befriedigen. Er ist wenig mehr als ein unkritisches
        und pauschales Lob des vorliegenden Berichtes der Bun-
        desregierung. Ich will das an einem wichtigen Thema
        kurz umreißen. Der Bericht für den Zeitraum bis 2001
        nennt wenigstens noch unter dem Titel „Querschnittsthe-
        men/Gender Mainstreaming“ die besondere Situation
        von Frauen. Auf dem Sektor der humanitären Hilfe weist
        er auf die daraus erwachsende Verpflichtung einer diffe-
        renzierten Geschlechterperspektive hin. In dem vorlie-
        genden Antrag von Rot-Grün ist diese Erkenntnis nicht
        einmal mehr in eine Worthülse gepackt. Offensichtlich
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        st das für Sie auch kein ernst zu nehmendes Thema. Das
        ber ist ein Irrtum.
        Eine Gruppe, die unter lebensbedrohenden Katastro-
        hen und Krisensituationen besonders zu leiden hat, sind
        n allen Bevölkerungen und auf allen Kontinenten die
        rauen. Daher entspricht es der Realität, die Problematik
        er Benachteiligung der Frauen auch hier in der Diskus-
        ion um eine notwendige Zielkonkretisierung unserer
        umanitären Hilfe als ein Querschnittsthema besonders
        ervorzuheben. Das Pilotprojekt des AA von 2001 führt
        u eben dieser Erkenntnis: Frauen sind bei humanitären
        otfällen einer vielfältigen und gesteigerten Gefährdung
        usgesetzt.
        Der Mangel an konsequentem Handeln der Regierung
        piegelt sich im gleichen Maße im vorliegenden Antrag
        ider. Im Bericht der Regierung über die Situation der
        rauen hieß es vollmundig, dass – ich zitiere –
        sie daher auch bei der Planung und Durchführung
        von humanitären Projekten eine besondere Berück-
        sichtigung verdienen.
        azu finde ich in Ihrem Papier keinerlei Entsprechung.
        hr Antrag nennt und umreißt kurz vor allem eine Zahl
        on Krisengebieten in Afrika.
        Circa 14 aktuelle Krisenregionen sind in Afrika zur-
        eit bekannt. Dabei gehört das Phänomen der Flücht-
        inge mit zu jenen Bereichen, die im besonderen Maße
        umanitäre Notsituationen auslösen.
        Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinen Nationen
        NHCR zählt derzeit circa 4,2 Millionen Flüchtlinge.
        twa eine halbe Million sind davon so genannte Binnen-
        ertriebene. Die ausreichende Versorgung der Flücht-
        inge mit Wasser und Nahrung, mit Kleidung und Unter-
        unft gehört ebenso zum vordringlichen Bedarf der
        umanitären Hilfe wie der Schutz der Flüchtenden und
        er Flüchtlingslager.
        Auch hier ist der Anteil der Frauen nicht nur der grö-
        ere, sondern auch derjenige, dessen Gefährdungslage
        eutlich stärker ist. Die humanitäre Hilfe, die Deutsch-
        and leistet, muss die besondere Not der Frauen als eine
        chwerpunktaufgabe wahrnehmen. Auch in diesem
        inne muss das Konzept unserer humanitären Hilfsleis-
        ungen zielgerichtet sein. Zum Wohle der bedrohten
        rauen darf das Handeln der Regierung sich nicht im
        roduzieren von Worthülsen verlieren.
        Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei
        iesem wichtigen Thema möchte ich bei den Gemein-
        amkeiten beginnen: Wir teilen die Grundwerte, die
        berzeugung, dass wir uns – sei aus christlicher oder hu-
        anistischer Prägung, sei es aus Respekt vor den Men-
        chenrechten – verpflichtet fühlen, Menschen in Not bei-
        ustehen. Nun können wir uns darüber streiten, ob
        amals die Regierung Kohl die Prioritäten richtig gesetzt
        at oder ob jetzt die rot-grüne Bundesregierung besser
        nd effektiver hilft. Wir können allerlei Zahlen gegen-
        berstellen, mal uns nur auf die Haushaltstitel des Aus-
        ärtigen Amtes beschränken, mal die im BMZ angesie-
        elte entwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe
        12726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
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        dazurechnen, wir können dabei Äpfel mit Birnen ver-
        gleichen und je nachdem, wie wir mit Zahlen umgehen,
        die eine oder die andere These untermauern. Ich halte
        das für sinnlos.
        Angesichts der Leistungsfähigkeit Deutschlands ei-
        nerseits und der Größe der Herausforderung andererseits
        – mehr als 45 Millionen Menschen befinden sich in einer
        extremen Notlage aufgrund von Kriegen und Naturka-
        tastrophen – sollten wir uns auf die einfache Formel eini-
        gen: Es war damals nicht genug und es ist auch heute
        nicht genug!
        Der Menschenrechtsausschuss hat angesichts des
        Haushaltsentwurfs 2005 gefordert, die Mittel für die hu-
        manitäre Hilfe aufzustocken. Ich hoffe sehr, bald die er-
        lösende Nachricht zu hören, dass der Haushaltsaus-
        schuss diesem Wunsch des Menschenrechtsausschusses
        entspricht. Aber selbst mit dieser gewünschten Aufsto-
        ckung wäre ich noch nicht wirklich zufrieden: Der Bun-
        destag sollte gemeinsam, fraktionsübergreifend, dafür
        werben, dafür streiten, dass sowohl die Mittel für die hu-
        manitäre Nothilfe als auch für die längerfristig angelegte
        Entwicklungszusammenarbeit der tatsächlichen Heraus-
        forderung angepasst werden und schon sehr bald
        0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens entspre-
        chen. So viel zur Quantität.
        Bei der Qualität verdienen zwei Aspekte Aufmerk-
        samkeit, die durchaus mit Konflikten verbunden sind:
        Erstens gilt auch für humanitäre Hilfe in oder nach Krie-
        gen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen, dass sie so
        weit wie irgend möglich Hilfe zur Selbsthilfe sein muss,
        dass sie Menschen möglichst aktivieren und nicht allein
        alimentieren sollte. Hungernde müssen mit Nahrungs-
        mitteln versorgt werden. Das ist klar. Ob man aber ver-
        sucht, diese Nahrungsmittel möglichst im betroffenen
        Land zu kaufen, um damit die dortige Landwirtschaft zu
        unterstützen und die Nahrungsmittelproduktion anzukur-
        beln oder ob man dort Überschussproduktion aus dem
        Geberland ablädt und die Märkte in den Empfängerlän-
        dern stört oder gar kaputtmacht, macht einen großen Un-
        terschied.
        Auch wenn ich das „World Food Program“ natürlich
        nicht insgesamt infrage stellen möchte, so muss Kritik
        an einzelnen Maßnahmen, zum Beispiel in Afghanistan,
        erlaubt sein. Ich möchte ausdrücklich – lobend – erwäh-
        nen, dass die Bundesregierung auch in ihrer Nothilfe die
        Auswirkungen ihres Handelns auf die Märkte, auf die
        Nahrungsmittelproduktion in den Empfängerländern,
        sehr genau beobachtet und sich möglichst so verhält,
        dass es einen fließenden Übergang von der Nahrungs-
        mittelsoforthilfe zur entwicklungsorientierten Unterstüt-
        zung, zur Förderung der ländlichen Regionalentwick-
        lung, gibt.
        Ein zweiter Reibungspunkt, der im Antrag der Koali-
        tionsfraktionen offen angesprochen wird, ist die Über-
        schneidung von humanitären und militärischen Einsät-
        zen. Die humanitäre Hilfe ziviler Organisationen muss
        gerade in Kriegssituationen unabhängig und überpartei-
        lich sein. Wenn sie es nicht ist, dann geraten die Helfe-
        rinnen und Helfer selber in die Gefahr, als Konfliktpartei
        angesehen zu werden und buchstäblich in die Schuss-
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        inie zu geraten. Der Irakkrieg lieferte und liefert immer
        och viel Anschauungsmaterial, wie es nicht sein sollte
        nd welche Gefahren dadurch heraufbeschworen wer-
        en. Die US-amerikanischen Streitkräfte kontrollieren
        nd instrumentalisieren die humanitäre Hilfe und brin-
        en dadurch viele Helferinnen und Helfer in äußerst ge-
        ährliche Situationen.
        Der Bundeswehr kann dagegen – zum Beispiel bei ih-
        em Afghanistan-Einsatz – in der zivil-militärischen Zu-
        ammenarbeit eine sehr viel größere Sensibilität beschei-
        igt werden als den Amerikanern. Dennoch ist das
        erhältnis zwischen der Bundeswehr und den zivilen
        ilfsorganisationen nicht ganz frei von Spannungen. Es
        ibt da durchaus auch Konkurrenzsituationen. Wir glau-
        en jedoch, dass diese Konflikte lösbar sind, wenn so-
        ohl die Bundeswehr als auch die humanitären Organi-
        ationen in beiderseitigem Respekt klare Kriterien für
        hre spezifischen Aufgabenfelder definieren und ge-
        einsam so etwas wie einen Verhaltenskodex für die Zu-
        ammenarbeit in Krisen- und Kriegsgebieten entwi-
        keln.
        Wir sind uns einig, dass wir uns bemühen müssen,
        ehr Mittel für die humanitäre Hilfe bereitzustellen und
        ie humanitäre Hilfe so effektiv und nachhaltig wie
        öglich zu gestalten. Aber auch hier gilt der alte Zahn-
        rztspruch: Vorbeugen ist besser als bohren. Deshalb
        öchte ich an dieser Stelle ausdrücklich begrüßen, dass
        ie Bundesregierung in diesem Jahr einen Aktionsplan
        Zivile Krisenprävention“ vorgelegt hat.
        Der Zivile Friedensdienst (ZFD) und das Zentrum für
        nternationale Friedenseinsätze (ZIF) sind neue Einrich-
        ungen, die vor fünf Jahren auf Initiative aus diesem Par-
        ament entstanden sind. Es wäre zu umfangreich, die se-
        ensreiche Arbeit dieser Einrichtungen hier gebührend
        arzustellen und zu würdigen. Ich will aber damit schlie-
        en, dass ich sowohl den von Idealismus beseelten Men-
        chen in der humanitäre Hilfe als auch den Friedensfach-
        räften, die in der Krisenprävention tätig sind, für ihren
        insatz von Herzen danken möchte. Sie sind Botschafte-
        innen und Botschafter des Friedens und der Mensch-
        ichkeit.
        Rainer Funke (FDP): Es ist gut, dass sich der Bun-
        estag mit der humanitären Hilfe beschäftigt. Der Aus-
        chuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zeigt
        it dieser Debatte, dass wir durchaus auch den zweiten
        eil unserer Aufgaben ernst nehmen. Auf den ersten
        lick ist die humanitäre Hilfe einer der einfacheren Be-
        eiche der Politik. Hier geht es nicht um politische Aus-
        inandersetzungen, sondern allein um Menschlichkeit.
        ieser unparteiische, oft sogar unpolitische Charakter
        ichert der humanitären Hilfe die Akzeptanz bei Kon-
        liktparteien und vor allem bei der Bevölkerung vor Ort.
        as ist die Grundvoraussetzung dafür, dass humanitäre
        ilfe schnell, effizient und unbürokratisch zu den
        pfern einer Katastrophe oder eines Konfliktes gelangen
        ann.
        Trotzdem ergeben sich bei der humanitären Hilfe
        eute komplexe und vielgestaltige Probleme. So besteht
        urzeit die Tendenz, den Begriff des „Humanitären“ in
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12727
        (A) )
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        der Öffentlichkeit und Politik inflationär zu gebrauchen.
        Es ist die Rede von „humanitärer Politik“, „humanitärer
        Intervention“ oder gar „humanitären Bomben“. Zudem
        wird die humanitäre Hilfe immer öfter als integraler Be-
        standteil einer allumfassenden politischen Strategie an-
        gesehen. All dies zeugt von mangelndem Respekt vor
        dem humanitären Raum, dessen Freiheit von Wertung
        und Politik unbedingt erhalten werden muss, wollte man
        nicht die humanitäre Hilfe in ihrem Wesen zerstören.
        Humanitäre Hilfe darf eben nicht politisch instrumentali-
        siert werden.
        In der zunehmenden Globalisierung und medialen
        Vernetzung der Welt liegen für die humanitäre Hilfe Se-
        gen und Unglück dicht beieinander. Die Massenmedien
        bringen uns menschliche Schicksale immer näher. Das
        macht uns unserer Verantwortung für humanitäre Kata-
        strophen auch in weiter entfernten Weltgegenden be-
        wusst. Allerdings steigt mit der zunehmenden Zahl von
        Katastrophen und Konflikten auf den Bildschirmen auch
        die Selektivität der Wahrnehmung. Dies führt zu einem
        Wettbewerb um das „größte Unglück“, das prestige-
        trächtigste Projekt und die bewegendsten Bilder. Wenn
        es aber einen Bereich gibt, in dem Wettbewerb und
        Kommerzialisierung keine Berechtigung haben, so ist
        dies die humanitäre Hilfe. Die Medien, die Nichtregie-
        rungsorganisationen, aber auch die Politik müssen sich
        hier ihrer Verantwortung stets bewusst sein.
        Es gibt im Bereich der humanitären Hilfe aber durch-
        aus auch strukturelle und institutionelle Probleme. Viel-
        fach wird kritisiert, dass es der humanitären Hilfe an
        Nachhaltigkeit mangelt und sie damit ihre Notwendig-
        keit selbst immer wieder reproduziert. Stellenweise wird
        sogar von Überversorgung ohne Rücksicht auf die Ver-
        sorgungsmöglichkeiten vor Ort berichtet. Andererseits
        entstehen oft gerade dort Versorgungslücken, wo kurz-
        fristige humanitäre Hilfe nicht nahtlos in langfristige
        Entwicklungshilfe übergeht. Das wird sich letztlich nur
        durch eine noch bessere Koordinierung und Verzahnung
        von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe lösen las-
        sen.
        Humanitäre Hilfe ist ein Bereich, wo das Wirken
        staatlicher deutscher Stellen und das Engagement und
        die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung dicht
        ineinander greifen. Es steht unserem Land gut an, dass
        Deutschland trotz knapper Kassenlage in privaten und
        öffentlichen Haushalten bei der Hilfe in weltweiten Not-
        situationen im internationalen Vergleich immer noch
        ganz vorn dabei ist. Deutsche humanitäre Helfer haben
        weltweit einen ausgezeichneten Ruf, unsere Hilfe
        kommt an und wird geschätzt und gewürdigt. Das weiß
        auch die liberale Opposition im Deutschen Bundestag
        durchaus zu würdigen.
        Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen
        Amt: 45 Millionen Menschen, so wird geschätzt, sind
        zurzeit weltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Sie
        sind Opfer von Kriegen, von Gewalt oder sie flüchten
        vor Dürre, Überschwemmungen und Wirbelstürmen. Oft
        sind sie durch schreckliche Ereignisse traumatisiert. Mit
        der humanitären Hilfe versuchen wir, die schwerste Not
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        ieser Menschen zu lindern, nicht mehr und nicht weni-
        er.
        Insgesamt stellte das Auswärtige Amt deutschen
        ilfsorganisationen, den Vereinten Nationen und dem
        nternationalen Komitee vom Roten Kreuz in diesem
        ahr allein rund 73 Millionen Euro für Hilfsprojekte zur
        erfügung. 14 Millionen Euro davon entfallen auf Pro-
        ekte des humanitären Minenräumens. Auch in den
        ächsten Jahren wollen wir humanitäre Hilfe dort ge-
        ähren, wo sie benötigt wird.
        Dass diese Hilfe aber auch bei den Menschen an-
        ommt, ist nur durch den Einsatz der vielen Hilfsorgani-
        ationen – NROs und kirchliche Hilfswerke – möglich.
        hne deren unermüdliches Engagement – oft unter Ein-
        atz des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit –
        äre diese Hilfe undenkbar. Daher möchte ich zunächst
        inmal den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnnen dieser
        ilfsorganisationen im Namen der Bundesregierung und
        es gesamten Deutschen Bundestages für ihren Einsatz
        anken.
        Ich verstehe gut, dass die Hilfsorganisationen eine In-
        trumentalisierung der humanitären Hilfe ablehnen. Ich
        ann ihnen versichern: Die Bundesregierung wird auch
        ünftig darauf achten, dass sich die Hilfe ausschließlich
        n den humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit und
        eutralität orientiert. Das ist auch unser Anliegen.
        Wir wissen aber auch: Humanitäre Hilfe kann nur die
        chlimmste Not lindern. Sie beseitigt nicht die Ursachen
        er Krisen. Dafür bedarf es nachhaltiger politischer Lö-
        ungen, die durch Verhandlungen zwischen den jeweili-
        en Konfliktparteien gefunden werden müssen.
        Besondere Anforderungen hat in diesem Jahr – und
        ch befürchte, das wird auch im nächsten Jahr so sein –
        ie Darfur-Krise an uns gestellt, nicht zuletzt auch in fi-
        anzieller Hinsicht. Nur unter großen Anstrengungen
        ar es letztlich möglich, die vorgesehenen Mittel zur
        inderung dieser humanitären Katastrophe in Höhe von
        ahezu 50 Millionen Euro, davon 32 Millionen Euro bi-
        ateral, aufzubringen und gleichzeitig in angemessener
        eise auf andere Krisen weltweit zu reagieren, von de-
        en einige ähnliche Dimensionen wie Darfur besitzen.
        70 000 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – sind
        ach Angaben der Weltgesundheitsorganisation im Dar-
        ur-Konflikt allein in den letzten acht Monaten ums Le-
        en gekommen. 1,8 Millionen Menschen sind auf der
        lucht, vielen von ihnen droht ebenfalls das Schicksal,
        pfer von Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigung, Hunger
        nd Krankheit zu werden. Nach Einschätzung der VN
        nd vieler Hilfsorganisationen haben wir es hier mit der
        erzeit schlimmsten menschenrechtlichen und humanitä-
        en Krise weltweit zu tun. Auch deshalb war und ist es
        nsere Pflicht, alles, was möglich ist, zu tun, um diesen
        enschen zu helfen.
        Der Bericht, den der Generalsekretär der Vereinten
        ationen letzte Woche dem Sicherheitsrat vorgelegt hat,
        st zutiefst beunruhigend: Immer noch werden offensicht-
        ich in Darfur in großem Umfang Kriegsverbrecher und
        erbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Nicht
        ur die von der sudanesischen Regierung bewaffneten
        12728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        Reitermilizen, die Janjaweed, sondern auch die Rebellen-
        bewegungen machen sich schwerster Menschenrechts-
        verletzungen gegen die Zivilbevölkerung schuldig. Die
        Bundesregierung, die Vereinten Nationen und Hilfsorga-
        nisationen haben jüngst schwere Vorwürfe gegen die su-
        danesische Regierung erhoben, nachdem sudanesisches
        Militär bei der Räumung eines Flüchtlingslagers brutale
        Gewalt gegen Lagerbewohner – hauptsächlich Frauen
        und Kinder – angewendet hatte. Das Lager wurde in
        Brand gesetzt und mit Planierraupen zerstört. Trotz der
        deutlichen internationalen Kritik sind die Sicherheits-
        kräfte gestern Morgen erneut brutal gegen Flüchtlinge
        vorgegangen. Dies ist auf das Schärfste zu verurteilen.
        Nachdem sich zunächst in den letzten Monaten auf-
        grund des internationalen Drucks – die Bundesregierung
        hat ihn maßgeblich ausgeübt – der Zugang der Hilfsor-
        ganisationen verbessert hatte, wird nun die Arbeit der in-
        ternationalen Hilfsorganisationen offensichtlich erheblich
        behindert. Die Vereinten Nationen mussten letzte Woche
        vorübergehend ihre Arbeit in Darfur einstellen, unter an-
        derem weil die sudanesische Regierung Zwangsumsied-
        lungen vorgenommen hatte und die Sicherheitslage sich
        zunehmend verschlechtert. Das Welternährungsprogramm
        der Vereinten Nationen musste 85 internationale Mitar-
        beiter aus verschiedenen Orten evakuieren. Auch deut-
        sche Hilfsorganisationen haben in den letzten Tagen von
        erheblichen Einschränkungen ihrer Zugangsmöglichkei-
        ten berichtet, Mindestens 180 000 Flüchtlinge können
        zurzeit nicht von der humanitären Hilfe erreicht werden.
        Damit droht sich die Zahl der Todesopfer weiter zu erhö-
        hen. Das ist nicht akzeptabel. Ich fordere die sudanesi-
        sche Regierung und die Rebellenorganisationen auf, die
        Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu beenden und end-
        lich ihren internationalen Verpflichtungen nachzukom-
        men.
        Gerade die jüngsten Entwicklungen zeigen: Humani-
        täre Hilfe kann zwar dazu beitragen, die Not der betrof-
        fenen Menschen zu lindern; sie kann allerdings nicht die
        politischen Konflikte lösen. Daher wird die Bundesre-
        gierung weiterhin auf allen politischen Ebenen – auf der
        Ebene der EU, der VN in Zusammenarbeit mit der AU –
        versuchen, den internationalen Druck aufrechtzuerhalten
        und eine langfristige politische Lösung des Konfliktes zu
        finden.
        Gerade gestern haben sich die Konfliktparteien bei
        den Friedensgesprächen in Abuja auf ein Ende der Ge-
        walt und den freien Zugang der Hilfsorganisationen ver-
        ständigt. Das muss jetzt auch umgesetzt werden.
        Nächste Woche trifft sich der Sicherheitsrat der VN in
        Nairobi, um über die Lage im Sudan, insbesondere in
        Darfur, zu beraten. Voraussichtlich werde ich an dieser
        Sitzung teilnehmen. Wenn die Konfliktparteien nicht
        einlenken, sollte der Sicherheitsrat – wie beschlossen –
        weiter gehende Maßnahmen ergreifen. Darüber hinaus
        unterstützen wir finanziell und logistisch die Beobach-
        termission der AU, die den Waffenstillstand überwachen
        soll. Auf unsere Initiative hin wird nun eine Untersu-
        chungskommission der VN die Menschenrechtsverlet-
        zungen in Darfur untersuchen und hoffentlich die Ver-
        antwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
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        Nicht nur in Darfur, sondern auch in anderen Krisen-
        egionen der Weit leisten wir in großem Umfang huma-
        itäre Hilfe, wie in Uganda, im Kongo und in West-
        frika, auf dem Balkan und in Kolumbien, um nur einige
        eispiele zu nennen. Humanitäre Hilfe kann nur die
        chlimmste Not der Menschen lindern. Aber sie ist oft
        er Anfang für eine weiter gehende, umfassende Lösung
        on Konflikten. Daher möchte ich mich zum Schluss für
        ie Unterstützung bedanken, die es über alle Fraktions-
        renzen hinweg bei dieser schwierigen Aufgabe – nicht
        ur in der Krisenregion Darfur – gegeben hat. Ohne den
        ersönlichen Einsatz und die Unterstützung wäre unser
        ngagement nicht möglich. Ich hoffe, wir können auch
        n den nächsten Jahren mit der Unterstützung durch alle
        raktionen rechnen.
        nlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Bildungsarmut in
        Deutschland feststellen und bekämpfen (Tages-
        ordnungspunkt 9)
        Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit ihrem An-
        rag greift die FDP ein Anliegen auf, das von den Sozial-
        emokraten in der Opposition wie in der Regierung seit
        ahren mit besonderem Engagement verfolgt wird. Wir
        reuen uns, dass auch die FDP jetzt entdeckt, dass wir
        lle eine besondere Verantwortlichkeit haben gegenüber
        en Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus
        uwanderfamilien, aber auch aus deutschen Familien,
        ie keine lange und erfolgreiche Bildungstradition in ih-
        en Familien aufweisen.
        Die Kollegin Multhaupt hat schon dargelegt, wie die
        PD-geführte Bundesregierung seit 1998 an vielen Stel-
        en ihren Beitrag dazu geleistet hat, dass Bildungsarmut
        ein Schicksal werden muss, sondern Schritt für Schritt
        ekämpft werden kann und es für die Kinder, Jugendli-
        hen und Familien neue und sichere Wege gibt, mehr
        ildungschancen zu verwirklichen. In der direkten För-
        erung der Familien und Kinder nennen wir die Erhö-
        ung des Kindergeldes, das Erziehungsgeld, aktuell den
        inderzuschlag im Rahmen von Hartz IV als Stichwort.
        n der Infrastrukturverbesserung für Kinder und Jugend-
        iche und Familien sind Stichworte das Ganztagsschul-
        rogramm, die Aufwertung der Kindertagesstätten und
        ie Krippeninitiative, das Teilzeitfördergesetz und in der
        ildungsförderung schließlich das JUMP-Programm,
        it dem wir 1998 gestartet sind, JUMP-Plus, die beson-
        eren Förderprogramme für Jugendliche bei der Berufs-
        orbereitung, ausbildungsbegleitende Hilfen bis hin zur
        obilisierung zusätzlicher Lehrstellen und Einstiegs-
        raktika, wie sie im jüngsten Pakt für Ausbildung ver-
        inbart worden sind.
        Dabei muss klar sein: Bildungsarmut kann sich verfes-
        gen, wenn Familien aus realer Armut keinen Ausweg
        inden. Bildungsarmut nimmt zu, wenn zugewanderte
        amilien und ihre Kinder keine Wege zur Integration
        inden. Bildungsarmut dokumentiert schließlich unser
        olitisches Versagen, wenn wieder besserer Kenntnis
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12729
        (A) )
        (B) )
        falsche Strukturen und Qualitäten in unserem Bildungs-
        system gezielt dafür sorgen, dass die Bildungspotenziale
        aller Kinder und Jugendlichen sich nicht entfalten kön-
        nen, dass Kinder und Jugendlichen vor allen Dingen
        Misserfolgskarrieren in unserem Bildungssystem an sich
        erfahren und schließlich auch, dass Jugendlichen die
        Chance auf eine berufliche Qualifizierung gar nicht erst
        gegeben wird, bzw. ein erfolgreicher Abschluss nicht er-
        reicht werden kann.
        Hierzu nur zwei konkrete Sachverhalte, die uns zu
        denken geben müssen:
        Erstens. Die Rangreihe der nach der ersten PISA-Stu-
        die 2002 vorgeblich besonders erfolgreichen Bundeslän-
        der bildet genau die Rangfolge der Prozentteile der Be-
        völkerung ab, die in den jeweiligen Ländern in
        Sozialhilfe leben. Weist Bayern hier einen Prozentsatz
        von 3,4 Prozent auf, steigert sich dieser Prozentsatz bis
        zum Land Bremen auf 23,6 Prozent. Natürlich gibt es ei-
        nen Zusammenhang von realer Armut und Bildungsar-
        mut. Der Kampf gegen die Bildungsarmut muss deshalb
        auch immer unterfüttert werden mit dem Kampf gegen
        die reale Armut. Erfolge in der Bekämpfung der Bil-
        dungsarmut tragen umgekehrt dazu bei, dass auch die
        reale Armut schrittweise überwunden werden kann.
        Zweitens erleben wir aktuell m Deutschland, dass
        über 10 Prozent der Kinder bei der Einschulung zurück-
        gestellt werden, 3,5 Prozent der Kinder so genannte Son-
        derschulen besuchen, 10 Prozent der Kinder einen
        Schulabstieg an sich erfahren, indem sie von einer so ge-
        nannten „höheren Schule“ auf andere Schulformen ab-
        steigen und schließlich über 24 Prozent der Kinder, ein
        Spitzenwert m Europa und der Welt, eine Klassenwie-
        derholung durchmachen. Unter diesen Kindern ist ein
        besonders großer Teil aus Familien mit einem Migra-
        tionshintergrund. Von diesen Kindern sammeln sich
        dann besonders viele in den so genannten Hauptschulen,
        die schon längst nicht mehr das Fundament von Bildung
        in Deutschland bilden, sondern in eine sehr schwierige
        Rolle als ungeliebte „Restschule“ und Schule der Kinder
        und Jugendlichen aus Migrationsfamilien und bildungs-
        fernen Schichten gedrängt werden.
        Positiv am Antrag der FDP ist deshalb, dass wir zu-
        sammen in drei Fragen in Deutschland grundsätzlicher
        und ebenso ausdauernd wie konsequent in eine Überprü-
        fung bisheriger Positionen eintreten müssen und auch zu
        neuen Lösungen kommen müssen.
        Zum einen: In Bezug auf das endlich verabschiedete
        Zuwanderungsgesetz ist das jahrelang gehegte Tabu der
        konservativen Seite endlich gebrochen: Deutschland ist
        ein Zuwanderungsland und hat sich entsprechend an der
        Integration im Sinne von Fördern und Fordern der zuge-
        wanderten Menschen zu engagieren. Dieses muss jetzt
        zu einer Gesamtaufgabe von Bund, Ländern und Kom-
        munen, der Organisationen der Zivilgesellschaften und
        auch der Beteiligten selbst werden.
        Zum anderen: Wie lange wollen wir noch ein Bil-
        dungssystem als vorbildlich begreifen, das sich als hoch
        sozial selektiv, als nicht leistungsfähig in Bezug auf eine
        gute Grundförderung für alle Kinder und Jugendliche
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        erausgestellt hat? In der frühkindlichen Förderung, in
        er Stärkung der Grundschule, in der möglichst langen
        emeinsamen Unterrichtung der Kinder und in der Öff-
        ung von Schule nach außen haben wir strukturell wie
        ualitativ Reformbedarf. Hier muss das Tabu, das in
        eutschland über jede Diskussion der Schulstruktur ge-
        egt worden ist, erst noch gemeinschaftlich gebrochen
        erden. Die SPD ist hierzu bereit. Wir wünschen uns,
        ass auch andere politische Kräfte hier ihre dogmati-
        chen Scheuklappen ablegen.
        Und schließlich: Bildungsarmut ist bekämpft und ge-
        ört der Vergangenheit an, wenn Kinder und Jugendliche
        us zum Beispiel Migrationsfamilien ganz konkret er-
        ahren können, dass sie über Bildung einen Einstieg in
        en Aufstieg in dieser Gesellschaft erreichen können.
        er erste Aufstieg muss die konkrete Erfahrung werden,
        ass sie eine qualifizierende berufliche Ausbildung be-
        ommen. Hier gibt es noch Reserven bei den Firmen, die
        iel zu wenig ausbilden und neuen Betrieben, auch ge-
        ade von zugewanderten und ausländischen Betriebsin-
        abern, die das deutsche Berufsbildungssystem erst noch
        it annehmen sollten, die zu nutzen sind. Und natürlich
        raucht es auch mehr Durchlässigkeit aus dem berufli-
        hen Bildungssystem in das akademische Bildungssys-
        em.
        Dabei werden angesichts der Beharrlichkeit von Bil-
        ungsarmut keine schnellen Erfolge für alle zu erreichen
        ein. Nur wollen wir auch der Schwarzmalerei des An-
        rages der FDP nicht in allen Punkten folgen. Gerade
        enn man die OECD-Vergleiche heranzieht, ist die Ju-
        end- und Ausbildungslosigkeit in Deutschland eben
        eutlich unter dem Durchschnitt und liegt Deutschland
        ier ohne Zweifel in der Spitzengruppe, was die Versor-
        ung von Kindern und Jugendlichen mit Ausbildungsan-
        eboten angeht. Auch in der Unterstützung der Jugendli-
        hen von der Berufsvorbereitung über die Unterstützung
        n der Berufsausbildung bis hin zu speziell auf die Ziel-
        ruppen von bildungsfernen Jugendlichen wie zugewan-
        erten Jugendlichen gibt es besondere Anstrengungen in
        eutschland, die nicht zuletzt durch eine beträchtliche
        ffentliche Finanzierung belegt sind.
        Zu den Forderungen der FDP stellen wir deshalb in
        ürze fest:
        Erstens. Was die FDP zur Reform der beruflichen Bil-
        ung fordert, ist in differenzierter Form von der Regie-
        ung mit ihrem Vorschlag zur Reform des Berufsbil-
        ungsgesetzes bereits eingelöst.
        Zweitens. Vom Bund zu fordern, dass er die Sprach-
        örderung für Zuwanderungskinder vor der Einschulung
        eistet, widerspricht der Aufgabenverteilung zwischen
        und und Ländern, die auch noch einmal durch das Inte-
        rationsgesetz und die dortige Aufteilung der Sprachför-
        erung festgelegt worden ist. Wir bitten die FDP sehr
        erzlich, die SPD in den Länderparlamenten in diesem
        inne im Streit für mehr Bildungschancen zu unterstüt-
        en.
        Drittens. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht,
        er von der Bundesregierung im Jahr 2001 vorgelegt
        12730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        worden ist, spricht natürlich die Fragen von Bildungs-
        armut und Zuwanderung an. Die FDP muss gebeten wer-
        den, hier genauer nachzulesen. Wir sind ganz sicher,
        dass auch im Bericht des Jahres 2005 diese Fragen noch
        genauer und auch zielführender von der Analyse her be-
        leuchtet werden.
        Viertens. Dass die FDP jetzt darauf kommt, dass Bil-
        dungsforschung und Berichterstattung zu den Fragen
        von Bildungsarmut verstärkt werden müssen, mutet
        merkwürdig an. Hier hat die FDP die Wegmarken offen-
        sichtlich nicht mitbekommen, die wir schon vor einigen
        Jahren gesetzt haben. Der erste gemeinsame Bildungsbe-
        richt von Bund und Ländern, der im Jahr 2006 nach dem
        langjährigen Sträuben der Länderseite endlich durchge-
        setzt werden konnte, hat hierzu auch genau den richtigen
        Schwerpunkt gewählt. Er soll sich nämlich mit der Inte-
        gration von Kindern und Jugendlichen und Erwerbstäti-
        gen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem be-
        fassen. Dieses ist bereits so beschlossen und damit sind
        wir schon viel weiter als der Antrag der FDP an dieser
        Stelle uns nahe legen will.
        Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Ich freue
        mich, dass wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion
        der FDP zum Thema Bildungsarmut befassen. Der An-
        trag der Kolleginnen und Kollegen von der FDP spricht
        ein schwerwiegendes Problem an.
        Jedes Jahr verlassen viele junge Menschen die Schule
        ohne Abschluss. 2003 verließen circa 84 000 Jugend-
        liche die Schule ohne Hauptschulabschluss. Für sie ist
        das Risiko, arbeitslos zu bleiben, besonders hoch. Neben
        die negativen wirtschaftlichen Folgen treten gesell-
        schaftliche Ausgrenzungsprozesse.
        Ein Punkt im vorliegenden Antrag ist Bildungsarmut
        aufgrund mangelnder Sprachkompetenz, insbesondere
        bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Auch wir
        von der Union sind für eine intensive und frühzeitige
        Sprachförderung von Kindern und Jugendlichen. Beim
        Einstieg in die Schullaufbahn zeigt sich, dass die Schüle-
        rinnen und Schüler heute weitaus größere Unterschiede
        im Entwicklungsstand und in den Lernvoraussetzungen
        aufweisen als in früheren Jahren. Die Grundschule muss
        deshalb gezielt dafür Sorge tragen, dass unterschiedliche
        Bildungsvoraussetzungen durch individuelle Förderung
        ausgeglichen werden. Insbesondere im sprachlichen Be-
        reich muss eine leistungsfähige Grundschule auf Maß-
        nahmen der vorschulischen Förderung aufbauen können.
        Dies gilt vor allem für Kinder aus Migrantenfamilien
        mit nur geringen Kenntnissen der deutschen Sprache.
        Kindergärten und Kinderhorte müssen intensiver als bis-
        her darauf hinarbeiten, dass die von ihnen betreuten Kin-
        der grundschulfähig werden.
        Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Aspekt,
        der auch in unserer Fraktion immer wieder im Mittel-
        punkt von bildungspolitischen Anträgen steht: der Be-
        deutung einer möglichst früh ansetzenden Bildungspoli-
        tik. Eine der zentralen Forderungen der Union ist ja
        gerade die Stärkung frühkindlicher Bildung und Erzie-
        hung in Familie und Kindertagesstätte. Sie ist die Vo-
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        aussetzung für mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung
        on Bildungschancen, eine stärkere Entkoppelung von
        ozialer Herkunft und schulischer Leistung und eine Ent-
        altung der individuellen Begabungen.
        Wenn wir von frühkindlicher Bildung und Erziehung
        eden, dann verstehen wir dies jedoch keinesfalls als rein
        nstitutionelle Veranstaltung. Wir verstehen darunter die
        esondere Berücksichtigung der primären Erziehungs-
        ompetenz und der Erziehungsaufgabe der Eltern. Ich
        atte, bei der Diskussion um Ganztagsschule und Ganz-
        agsbetreuung – so wie sie in diesem Plenum in den letz-
        en Monaten geführt wurde – oft das Gefühl, es ginge
        m eine Versorgungsfrage. So als könnten wir die in den
        erschiedenen Studien wie PISA und dem OECD-Ver-
        leich aufgedeckten Defizite des deutschen Bildungssys-
        ems lösen, indem nur für ausreichend Tagesbetreuung
        esorgt würde. Überhaupt scheint die ganze Diskussion
        ich auf die Frage nach der Versorgung mit Ganztagsbe-
        reuungsangeboten zu verkürzen.
        Doch wir müssen den Fokus weiter fassen. Wollen
        ir wirklich etwas verbessern, so müssen wir über die,
        icherlich wichtige, Versorgungsfrage hinausgehend
        uch inhaltlich mehr leisten. Das vermisse ich häufig in
        en Vorschlägen der Regierungskoalition.
        Gerade die inhaltliche Verzahnung von Elternhaus,
        ildung und Betreuung – damit beziehe ich mich auf
        leichnahmigen Antrag der Unionsfraktion – verspricht
        angfristige Erfolge bei der Modernisierung unseres Bil-
        ungssystems. Es gibt viele Einzelaspekte, die bei dieser
        nhaltlichen Gestaltung berücksichtigt werden müssen,
        um Beispiel die in vielen Studien erwiesene Bedeutung
        er Ein-Person-Beziehung im frühen Kindesalter.
        Doch das wissen Sie alles längst selbst, daher zurück
        um vorliegenden Antrag.
        Richtig und wichtig ist auch die Forderung nach einer
        odernisierung der Berufsausbildung. Die CDU/CSU
        at im Frühjahr 2003 als erste Fraktion einen Vorstoß im
        arlament gemacht und im März diesen Jahres einen ent-
        prechenden Gesetzentwurf eingebracht. Die Bundesre-
        ierung hat dagegen ein halbes Jahr mit einer unsinnigen
        ebatte über eine Ausbildungsplatzabgabe vertan und
        rst im Oktober einen Gesetzentwurf zur Novellierung
        er Berufsausbildung vorgelegt. Die Leidtragenden sind
        ie derzeit 31 200 nicht versorgten Jugendlichen.
        Der heute vorliegende FDP-Antrag geht in die rich-
        ige Richtung: Mit der Abkehr von starren Ausbildungs-
        ystemen und der Einführung theoriegeminderter Be-
        ufsbilder erleichtern wir eher praktisch begabten
        ugendlichen den Einstieg in das Berufsleben. Aller-
        ings darf das Berufskonzept nicht durch eine beliebige
        odulation der Ausbildungsgänge in Teilqualifikationen
        ufgeweicht werden. Das von der Union in die Diskus-
        ion gebrachte Stufenmodell stellt einen gangbaren Weg
        wischen der bisherigen dreijährigen Ausbildung ohne
        wischenqualifikation und der Auflösung von Berufen
        n Einzelmodule dar.
        Wir sollten die Diskussion in diesem Sinne konstruk-
        iv weiterführen und bald zu der dringend notwendigen
        ovellierung des Berufsbildungsrechts kommen.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12731
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        Insofern empfehle ich den Antrag zur Überweisung in
        den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
        genabschätzung.
        Werner Lensing (CDU/CSU): Bildung ist das, was
        übrig bleibt, wenn wir all das vergessen haben, was wir
        zuvor lernten. Es heißt zwar: „Schüchterne Dummheit
        und verschämte Armut sind den Göttern heilig“ (Marie
        Freifrau von Eschenbach 1830 bis 1916), doch diese
        Sentenz sollte keinesfalls für die Bildungspolitik gelten!
        Umso mehr ist es mir wichtig und geradezu unab-
        dingbar, dass wir heute über das drückende Problem der
        Bildungsarmut in Deutschland debattieren. Einige der
        im FDP-Antrag angesprochenen Probleme haben bereits
        Niederschlag in dem Unionsantrag zur Novellierung des
        Berufsbildungsgesetzes gefunden. Hier sind wir also
        schon auf einem guten Weg. Andere Anregungen des
        Antrages möchte ich heute gerne mit eigenen Vorschlä-
        gen vorantreiben.
        Die derzeitige Situation in der Bildungspolitik will
        ich versuchen mit einem eindrucksvollen Bild aus der
        Natur wie folgt zu umschreiben: Um die vermeintlichen
        Früchte der eigenen Bildungspolitik zu ernten, versucht
        die rot-grüne Regierung seit Jahren, den knorrigen Baum
        der Erkenntnis zu schütteln, damit er seine Ernte preis-
        gibt und nahezu die Keimlinge der Bildung als reife
        Früchte herunterfallen lässt. Doch obwohl von Jahr zu
        Jahr wegen falscher Bewirtschaftung immer weniger
        Früchte an diesem Baum hängen, schüttelt und rüttelt
        Rot-Grün gleichwohl heftiger und heftiger an diesem –
        natürlich ohne sichtbaren Erfolg. Es wollen an ihm ein-
        fach nicht mehr Früchte wachsen.
        In dieser Situation fragt sich das rot-grüne „Ernte-
        Team“ ängstlich und händeringend: „Was haben wir hier
        nur wieder falsch gemacht?“ Meine Damen und Herren
        von der Regierungskoalition, ich will es Ihnen sagen:
        Die unbedarften Gärtner begannen zu spät, sich um die-
        sen Baum zu kümmern. Hätten sie diesem zu Beginn sei-
        nes Wachstums mehr Aufmerksamkeit geschenkt und
        ihn beispielsweise gedüngt – will sagen: unterstützt
        durch eine solide Finanzierung –, wäre er sicherlich hö-
        her und schöner gewachsen. Jetzt ist er bestenfalls ein
        Bonsai.
        Kurzum: Mir geht es im Konkreten um den frühen
        Ansatz bildungspolitischer Maßnahmen und um die an-
        gemessenen Mittel, die zu dem grundlegenden Erfolg
        führen, den wir alle wollen – weg von der Bildungsar-
        mut, hin zum Bildungsreichtum.
        Wir sollten daher alle gemeinsam Bildungspolitik
        völlig neu entwerfen. Dies allein schon aus dem Grund,
        weil Bildung unser ganzes Leben begleitet, aber auch,
        weil Bildung der Wesenszug ist, der uns Menschen am
        meisten miteinander verbindet. Insofern benötigen wir
        ein Konzept für eine Rundumreform des deutschen Bil-
        dungssystems, wie dies unter anderem der Verband der
        Bayerischen Wirtschaft und Herr Professor Dr. Lenzen,
        der Präsident der Freien Universität Berlin, jüngst ange-
        dacht haben. Gerne will ich Ihnen – allerdings ohne Ab-
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        timmung mit meiner Fraktion – hier einige dieser Anre-
        ungen darlegen.
        Doch eigentlich sind diese Visionen – das heißt, sie
        mschreiben mit einem Blick die Situation, wie sie sein
        önnte und sein müsste – keine Traumwelt, sondern
        ögliche zukünftige Realität:
        Wir sollten mit dem Lernen früher starten und Bil-
        dung in allen Lebensphasen bis ins Rentenalter indi-
        viduell fördern. Schließlich ist jeder Mensch einzigar-
        tig.
        Dabei könnten Kinder mit vier Jahren in eine sechs-
        jährige Primarschule eingeschult werden, die Vor-
        und Grundschule integriert, vor allem aber Schüler
        und Schülerinnen nach ihren speziellen Fähigkeiten
        fördert.
        Schließlich fällt die Entscheidung über die Schulkar-
        riere bereits zwischen dem vierten und siebenten Le-
        bensjahr.
        Wir sollten in die schulischen Anfangsjahre das
        meiste Geld investieren: Denn schon aufgrund der de-
        mographischen Entwicklung brauchen wir so viele
        hoch qualifizierte junge Menschen wie nur möglich.
        Hierfür muss natürlich die Bildungsfinanzierung ge-
        nerell neu entworfen werden:
        Milliarden von Euro, die in das spätere Ausmerzen
        von Bildungslücken gesteckt werden müssen, sind am
        Beginn der Bildungsentwicklung besser investiert.
        Die Vorschule sollte gebührenfrei und das Studium
        gebührenpflichtig angeboten werden. Denn es ist ein-
        fach nicht einzusehen, wieso Bildung dort, wo diese
        am wirksamsten ist, nämlich im Vorschulalter, auch
        gleichzeitig relativ teuer ist.
        Durch das Ausschöpfen von Effizienzreserven, Priva-
        tisierungen und vor allem durch einen flächendecken-
        den Subventionsabbau zugunsten der Bildung wäre
        hier viel zu erreichen.
        Bereits die Hälfte der 150 Milliarden Euro Subventio-
        nen, die der Staat jährlich an die Wirtschaft zahlt,
        könnten aus Deutschland ein Bildungsparadies ma-
        chen. Für Investitionen in die Zukunft, die nicht nur
        bitter nötig sind, sondern sich auch mehrfach auszah-
        len, bedürfte es denn nicht einmal der Streichung der
        Eigenheimzulage.
        Aber auch die Firmen und Betriebe müssten auf dem
        Gebiet der Weiterbildung einen größeren Teil zum
        Ganzen beisteuern. Schließlich funktioniert heute der
        Wettbewerb vorranging über unsere Köpfe.
        Um all diese Vorstellungen umsetzen zu können,
        uss ein Umdenken in der gesamten Bevölkerung statt-
        inden. Bildung sollte als unser bester und beständigster
        arktwert verstanden werden – als unser wahrer Reich-
        um. Dem entgegen rechnet man heutzutage Reichtum
        nd Gewinn in Bilanzen von Zahlen, also in Gewinn-
        nd Verlustrechnungen.
        Dabei setzt man fataler Weise den Faktor Bildung als
        tets gegeben voraus, so als führe dieser eine Eigenexis-
        enz und wäre – fast wie ein Naturgesetz – schon immer
        12732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        vorhanden gewesen. Ist er aber nicht. In Wirklichkeit be-
        ruhen die originären Erfolgspotenziale auf den nicht bi-
        lanzierbaren menschlichen Fähigkeiten und Kompeten-
        zen. Der Versuch, diese dennoch bilanzieren zu wollen,
        zeigt sich schon in der Begriffswahl: Man nennt sie be-
        zeichnender Weise „Human- und Beziehungskapital“.
        Bildung zahlt die besten Zinsen!
        Bliebe alles beim Alten, zementierten wir in unver-
        antwortlicher Weise die gegenwärtige schlechte Lage.
        Und die ist bekanntlich traurig genug:
        – 10 Prozent der Schulabgänger eines jeden Jahrgangs
        haben keinen Schulabschluss und sind näher an Ar-
        mut und Abhängigkeit als an einem persönlichen und
        eigenständigen Lebensentwurf angesiedelt. Dies be-
        trifft vor allem Kinder aus einem Migrationsumfeld –
        mit unabsehbaren Folgen.
        – 20 Prozent der Jugendlichen gelten als nicht ausbil-
        dungsfähig.
        – 30 Prozent der Studentinnen und Studenten brechen
        ihr Studium ab.
        Genau dadurch entstehen die Kosten, die Bildung
        heute so teuer machen.
        Was – frage ich Sie – spricht also gegen das Vorha-
        ben, möglichst früh und intensiv in Bildung zu investie-
        ren? Ich meine, nichts. Im Gegenteil: Alles spricht dafür.
        Nur so überwinden wir die Bildungsarmut in Deutsch-
        land.
        Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bil-
        dungschancen sind Lebenschancen. Bildung ist der
        Schlüssel zu Beschäftigungssicherheit und zu gesell-
        schaftlicher Teilhabe. Deshalb können wir die gegen-
        wärtige Situation nicht hinnehmen: Es ist eine riesige
        Ungerechtigkeit, wenn die familiäre Herkunft die Zu-
        kunft von Kindern und Jugendlichen weitgehend vorbe-
        stimmt, wie es in Deutschland der Fall ist.
        Ich stimme also der Überschrift des Antrags der FDP
        voll zu: Ja, wir müssen Bildungsarmut möglichst schnell
        und effizient bekämpfen. Ja, wir brauchen möglichst ge-
        naue Informationen und präzise Instrumente um effektiv
        handeln zu können.
        Bei der Wahl der Instrumente hören unsere Überein-
        stimmungen leider schon auf. Es kann nicht unser Ziel
        sein, wie es die FDP vorschlägt, „theoriegeminderte Be-
        rufsbilder“ für die Jugendlichen einzuführen, die an An-
        forderungen einer „normalen“ Berufsausbildung schei-
        tern. Es muss vielmehr unser Ziel sein, alle Jugendlichen
        effektiver und intensiver zu fördern, und zwar durch mo-
        dularisierte und flexible Ausbildungswege, die zu einem
        vollen Beruf führen. Wir dürfen sie nicht abschreiben
        und zu billigen Arbeitskräften machen. Genau das würde
        nämlich die Einführung so genannter „theoriegeminder-
        ter Berufsbilder“ letztendlich bedeuten.
        „Theoriegeminderte Berufsbilder“ – das heißt in der
        Praxis Berufsbilder zweiter Klasse. Das würde zu der
        Logik, an der unser Schulsystem krankt, passen: Nicht
        fördern, sondern selektieren ist allzu oft das Motto. Im
        dreigliedrigen, höchst selektiven Schulsystem werden
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        ie Kinder und Jugendlichen einfach aussortiert, die
        icht genau ins Anforderungsprofil einer Schule passen.
        erade Kinder mit Migrationshintergrund werden be-
        onders häufig ohne Rücksicht auf ihre Leistungsfähig-
        eit in Hauptschulen geschickt. Und selbst von dort wer-
        en sie oft noch in die nächste Instanz nach unten weiter
        ereicht. 1999 waren immerhin 15 Prozent der Sonder-
        chüler Jugendliche mit Migrationshintergrund, obwohl
        hr Anteil an Schulen nur 9,4 Prozent ausmachte.
        Wir brauchen also keine noch feinere Gliederung des
        usbildungssystems, das dann immer niedrigere An-
        prüche stellt. Was wir brauchen ist ein gründlicher Per-
        pektivwechsel: Das Problem sind nicht die Kinder und
        ugendlichen, es ist das sozial ausgrenzende Bildungs-
        ystem: Unser selektives Schulsystem ist nicht in der
        age, das maximale Potenzial in jedem einzelnen Kind
        u wecken. Fördermaßnahmen, die Jugendliche errei-
        hen, wenn sie erst mal auf dem Abstellgleis Haupt-
        der Sonderschule gelandet sind, greifen zu spät. „Theo-
        iegeminderte Berufsbilder“ zu schaffen, heißt deshalb,
        n den Symptomen herumdoktern und die Probleme
        icht angehen.
        Es ist also die alte Schulstrukturfrage, an die wir uns
        it neuen Argumenten heranwagen müssen: Das drei-
        liedrige Schulsystem hat versagt, sowohl unter Leis-
        ngs- als auch nach Gerechtigkeitsaspekten. Stattdessen
        rauchen wir eine leistungsstarke Schule für alle Kinder.
        ine Schule für alle – das ist heute allgemein bekannt –
        teht nicht für softe Kuschelpädagogik. Sie steht gerade
        ür mehr Leistungsfähigkeit und individuelle Förderung,
        ür mehr Chancengerechtigkeit und Leistungsorientie-
        ung gleichermaßen. Anders gesagt: Sie steht für die
        usschöpfung aller Begabungsreserven.
        Wesentlich für die Bekämpfung der Bildungsarmut ist
        atsächlich eine gezielte Sprachförderung, vor allem für
        inder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
        enn Sprache ist sowohl der Schlüssel zu schulischem
        rfolg als auch zu gesellschaftlicher Teilhabe. Soweit
        ind wir uns einig. Die FDP-Fraktion sollte nicht zu kurz
        pringen. Alle Kinder und Jugendlichen mit Migrations-
        intergrund und nicht nur die Vorschulkinder müssen
        on der Sprachförderung profitieren. Sonst riskieren wir
        ine lost generation von schlecht integrierten jugendli-
        hen Migrantinnen und Migranten, mit all den sozialen
        olgen, die aus mangelnder Teilhabe an der Gesellschaft
        rwachsen.
        Finanziell in der Verantwortung dafür stehen aller-
        ings die Länder und leider nicht der Bund, etwa im
        ahmen der Integrationsförderung, wie es im Antrag der
        DP angedeutet wird.
        Bildungsarmut in Deutschland bekämpfen und Bil-
        ungschancen gerechter zu verteilen – die von der FDP
        orgeschlagenen Instrumente greifen diesbezüglich
        chlicht zu kurz. Um die Bildungsarmut zu bekämpfen,
        üssen wir das Bildungssystem von seinen Wurzeln her
        eistungsfähiger und gerechter gestalten. In meinen Au-
        en soll auch weiterhin der Bund hierfür mit in der Ver-
        ntwortung stehen, insbesondere bei der beruflichen Bil-
        ung und auch beim lebenslangen Lernen. Deshalb
        rwarte ich, dass wir, Bund und Länder gemeinsam,
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12733
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        Wege finden und eben keine neuen, föderalen Blockaden
        aufbauen. So können schnell und konsequent die nötigen
        Veränderungen vorgenommen werden.
        Ulrike Flach (FDP): Die Gefahr, arbeitslos zu
        werden, ist für jemanden ohne einen Schulabschluss
        fast zehnmal höher als für jemanden mit einem aka-
        demischen Grad. Bildung ist nicht nur eine Investition in
        die Zukunft, sondern auch in die ökonomische Sicher-
        heit. Umgekehrt ist mangelnde Bildung ein Risiko für
        den ökonomischen Erfolg des Einzelnen.
        Seit Beginn der 80er-Jahre liegt der Anteil derjenigen,
        die eine allgemein bildende Schule ohne einen Haupt-
        schulabschluss verlassen, bei circa 10 Prozent. Im letz-
        ten Jahr waren das fast 90 000 Jugendliche, wobei der
        Anteil der männlichen Jugendlichen deutlich höher ist
        als der der Mädchen. Nach der OECD-Studie „Bildung
        auf einen Blick“ ist der Anteil der deutschen Jugendli-
        chen zwischen 15 und 19 Jahren, die weder eine Ausbil-
        dung machen noch eine Arbeit haben, sehr hoch. Wir lie-
        gen mit fünf Prozent bei männlichen und fünf Prozent
        bei weiblichen Jugendlichen schlechter als Frankreich,
        die Niederlande, Irland oder Norwegen. Der OECD-Be-
        richt stellt fest:
        Jugendliche mit geringen Qualifikationen laufen
        eine erhöhte Gefahr, langfristig arbeitslos zu wer-
        den, instabile oder unbefriedigende Beschäfti-
        gungsverhältnisse zu finden, was weitere negative
        Konsequenzen, wie soziale Ausgrenzung mit sich
        bringen kann.
        Die FDP hat immer die Auffassung vertreten, dass die
        Chancen am Start gleich sein müssen. Deshalb brauchen
        wir gerade für junge Menschen aus bildungsfernen Fa-
        milien und für Kinder aus Migrantenhaushalten eine bes-
        sere Förderung. Noch immer sind fast 40 Prozent, der ju-
        gendlichen Zuwanderer ohne jede Ausbildung.
        Wir wollen zunächst eine bessere Datenbasis. Dazu
        gehört die verstärkte Bildungsforschung, aber auch die
        Aufnahme von Daten über Bildungsarmut in den Zwei-
        ten Armutsbericht der Bundesregierung.
        Wir wollen eine modulare Berufsausbildung, die auch
        theorieschwachen Jugendlichen die Möglichkeit gibt,
        Teilqualifikationen zu erwerben. Die Aussagen von
        Herrn Brase gestern im Ausschuss geben mir Hoffnung,
        dass auch die SPD einer modularen Berufsausbildung et-
        was abgewinnen kann.
        Wir wollen eine verbindliche Sprachförderung für
        Migranten, die überprüfbar die deutsche Sprache als die
        Eintrittskarte in unsere Gesellschaft vermittelt. Wir
        brauchen neue Formen der Finanzierung von Bildung.
        Ich freue mich, dass die Vergabe von Bildungskrediten
        seit ihrer Einführung 2001 jährlich Zuwächse verzeich-
        net. 2001 waren es rund 5 000, 2003 schon 12 200 Kre-
        ditverträge zu rund 3 Prozent Zinsen.
        Von besonderer Bedeutung ist die Förderung der Wei-
        terbildung. Es sind leider gerade die gering Qualifizier-
        ten, die allein Erziehenden und die Migranten, die am
        wenigsten an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen.
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        as heißt, gerade die, die es am Arbeitsmarkt besonders
        chwer haben, tun zu wenig für ihre Fortbildung.
        Wir alle reden über Konzepte des lebenslangen Ler-
        ens. Ich finde die Anregungen im Konzept „Bildung
        eu denken!“, das Professor Lenzen für die Vereinigung
        er Bayerischen Wirtschaft erarbeitet hat, sehr span-
        end. Es bietet ein finanziell durchgerechnetes Gesamt-
        onzept der Bildungsförderung bis ins hohe Erwachse-
        enalter. Darin finden sich zwar auch Punkte, die nicht
        erade der Beschlusslage der FDP entsprechen, zum
        eispiel das soziale Pflichtjahr; aber das Konzept ist ein
        ichtiger Anstoß, endlich die Bildung des Menschen
        on der Wiege bis ins hohe Alter insgesamt in den Blick
        u nehmen.
        Deutschland gibt im OECD-Vergleich nach wie vor
        owohl für Bildungseinrichtungen als auch für die Schü-
        er pro Kopf weniger aus als der OECD-Durchschnitt.
        ir erreichen keine 6 Prozent des BIP, während die
        kandinavischen Länder, aber auch Frankreich, Mexiko,
        SA, Kanada, Österreich und Großbritannien zum Teil
        eit vor uns liegen.
        Bildungsarmut zu bekämpfen kostet Geld. Bildungs-
        rmut in Deutschland weiter anwachsen zu lassen, kostet
        ber noch viel mehr Geld, aufgrund der Folgekosten wie
        ozialhilfe, Arbeitslosengeld, Verlust von Kaufkraft und
        erringerung der Zahlungen in unsere sozialen Systeme.
        ir können uns Armut im Bildungsbereich nicht leisten!
        nser Antrag macht konkrete Vorschläge. Wir bitten um
        nterstützung.
        nlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Stabilisierung und
        Weiterentwicklung des genossenschaftlichen
        Wohnens (Tagesordnungspunkt 10)
        Wolfgang Spanier (SPD): Wir haben die Initiative
        rgriffen, um das genossenschaftliche Wohnen in
        eutschland zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
        ie SPD-Bundestagsfraktion unterstützt diese Initiative
        it Nachdruck.
        Lassen Sie mich zunächst einige grundsätzliche Be-
        erkungen machen. Vielen ist nicht bewusst, welche
        edeutung der genossenschaftliche Sektor insgesamt in
        nserer Wirtschaft hat. In Deutschland ist die Genossen-
        chaftsorganisation die mitgliederstärkste Wirtschafts-
        rganisation. Praktisch jeder Landwirt, 60 Prozent al-
        er Handwerker, bei Bäckern und Metzgern sind es
        0 Prozent, 75 Prozent aller Einzelhändler sind Mitglie-
        er in Genossenschaften. Im Bankensektor spielen die
        olksbanken und die Raiffeisenbanken eine wichtige
        olle. In den Genossenschaftsorganisationen arbeiten
        00 000 Menschen.
        Ähnliches gilt für den besonderen Bereich der Woh-
        ungsgenossenschaft. Die rund 2 000 Wohnungsgenos-
        enschaften in unserem Land haben mehr als 3 Millionen
        itglieder und verfügen über einen Bestand von
        12734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        2,2 Millionen Wohnungen, das heißt über 10 Prozent der
        Mietwohnungen in Deutschland. Sie sind ein wichtiger
        Partner der Politik für die Wohnraumversorgung, aber
        auch für die wichtigste Zukunftsaufgabe der Städtebau-
        und Wohnungspolitik: den Umbau unserer Städte ange-
        sichts der demographischen Entwicklung und Binnen-
        wanderung.
        Der frühere Bundesminister Kurt Bodewig hat im
        Juli 2002 eine Expertenkommission „Wohnungsgenos-
        senschaften“ mit dem Ziel einberufen, das selbstbe-
        stimmte genossenschaftliche Wohnen als dritte tragende
        Säule neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnei-
        gentum weiterzuentwickeln und die Zukunft der genos-
        senschaftlichen Idee zu sichern. Die Kommission wurde
        vom Minister Manfred Stolpe bestätigt, verbunden mit
        dem Auftrag, neben einer Analyse Vorschläge und
        Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die sich an den
        Gesetzgeber und an die Wohnungsgenossenschaften
        selbst richten.
        Im April dieses Jahres hat die Kommission unter dem
        Vorsitz von Jürgen Steinert, dem früheren Präsidenten
        des GdW, einen ausführlichen Bericht vorgelegt. Die
        Empfehlungen an den Bundesgesetzgeber wollen wir im
        Parlament aufgreifen, in den kommenden Monaten im
        Parlament und in der interessierten Öffentlichkeit bera-
        ten, um dann, so hoffe ich, zu Entscheidungen zu kom-
        men.
        Im Namen meiner Fraktion möchte ich der Kommis-
        sion ausdrücklich danken. Der Bericht gibt uns die Mög-
        lichkeit, uns über die Besonderheiten und Potenziale des
        genossenschaftlichen Wohnens umfassend zu informie-
        ren. Sehr präzise werden die Handlungsfelder aufge-
        zeigt, in denen das genossenschaftliche Wohnen gestärkt
        werden kann. Hilfreich für die Politik sind die konkreten
        Empfehlungen der Kommission.
        Wenn ich vorhin das genossenschaftliche Wohnen als
        dritte Säule bezeichnet habe, die es zu stärken gilt, so
        füge ich hinzu, dass es uns nicht um eine Bevorzugung
        geht, sondern dass wir das genossenschaftliche Wohnen
        als gleichberechtigte Wohnform neben dem Wohnen zur
        Miete und dem Wohnen im Eigentum verstehen. Es ist
        aber an der Zeit, unser Augenmerk auf diese zukunfts-
        weisende Wohnform zu richten.
        Wohnungsgenossenschaften haben in Deutschland
        eine mehr als hundertjährige Tradition. Sie folgen den
        Grundsätzen der Selbstverwaltung und Selbstverantwor-
        tung, der Selbsthilfe und gegenseitigen Hilfe. Es ist eine
        besondere Ausprägung des gemeinschaftlichen Woh-
        nens. Die Genossenschaften sind diesem Leitbild ver-
        pflichtet. Allerdings gibt es eine große Vielfalt und
        durchaus eine unterschiedliche Ausprägung, diese Prin-
        zipien umzusetzen.
        Die lange Geschichte der genossenschaftlichen Idee
        und der Wohnungsgenossenschaften verleitet möglicher-
        weise dazu, diese Idee und diese Wohnform für traditio-
        nell, gleichsam für „verstaubt“ und für „überholt“ zu
        halten.
        Ich bin davon überzeugt: Genau das Gegenteil ist
        richtig. Diese Prinzipien und diese Wohnform sind zu-
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        unftsweisend. Wir sind mittendrin im tief greifenden
        esellschaftlichen Veränderungsprozess. Die deutliche
        eränderung im Altersaufbau unserer Gesellschaft, die
        chon eingesetzt hat und sich verstärken wird, der mittel-
        ristig einsetzende Rückgang der Bevölkerung und die
        uswirkungen der Binnenwanderung, sind die zentrale
        erausförderung gerade auch in der Städtebau- und
        ohnungspolitik, keineswegs nur in der Sozialpolitik.
        Genossenschaften sind Ausdruck bürgerschaftlichen
        ngagements. Das Genossenschaftseigentum als dritter
        eg zwischen Wohneigentum und Miete verbindet pri-
        ates Kapital mit gemeinschaftlichen Projekten. Dies er-
        ffnet Chancen, insbesondere für Menschen, die sich in-
        ividuelles Wohneigentum nicht leisten können oder
        ollen. Als gemeinschaftliche Wohnform hat das genos-
        enschaftliche Wohnen auch besondere Potenziale, wenn
        s darum geht, Stadtquartiere zu entwickeln, unsere
        tädte als soziale Städte zu stabilisieren und zu entwi-
        keln.
        Beim Verkauf von Wohnungsbeständen ist die Grün-
        ung einer Bewohnergenossenschaft eine interessante
        öglichkeit der Mieterprivatisierung, für die es bereits
        rfolgreiche Beispiele gibt.
        Wohnungsgenossenschaften können nicht nur einen
        esonderen Beitrag zur sozialen Quartiersentwicklung
        eisten. Ich will ausdrücklich nicht damit sagen, dass
        icht auch Wohnungsgesellschaften und private Wohnei-
        entümer daran mitwirken können, aber von ihrem
        elbstverständnis her müsste es für Genossenschaften
        ine Selbstverständlichkeit sein.
        Die demographische Entwicklung zwingt die Kom-
        unen, auch den ländlichen Raum, und natürlich auch
        ie Städtebau- und Wohnungspolitik stärker noch als
        isher das Wohnen für junge Familien und das Wohnen
        m Alter stärker im Blickfeld zu haben. Es sei noch ein-
        al ausdrücklich versichert, dass die gleiche Zielsetzung
        uch für die anderen Wohnformen, dem Wohnen zur
        iete und dem Wohnen im privaten Eigentum gelten.
        Der besondere Charakter des gemeinschaftlichen
        ohnens und der geringe Anteil von privatem Eigenka-
        ital am Erwerb von Genossenschaftsanteilen bieten
        ine interessante Alternative für diese Zielgruppen. Eine
        eihe von Wohnungsgenossenschaften zeigen bereits
        eute erfolgreich, wie solche zukunftsweisenden Wohn-
        nd Nachbarschaftsformen aussehen können. Sie zeigen
        uch, wie attraktiv dies für viele Menschen ist. Ich nenne
        ur ein Beispiel aus meiner ostwestfälischen Heimatre-
        ion: die Wohnungsgenossenschaft „Freie Scholle“ in
        ielefeld.
        Natürlich stellt sich sofort die Frage nach der Förderung.
        ls wir 1991 gemeinsam mit der heutigen Opposition das
        igenheimzulagegesetz beschlossen haben, haben wir die
        örderung des Erwerbs von Genossenschaftsanteilen im
        17 a des Eigenheimzulagengesetzes vereinbart. Damit
        ar zum ersten Mal diese Förderung möglich, allerdings
        ab es in der Umsetzung von Anfang an Schwierigkei-
        en, weil eben das private Eigentum und das genossen-
        chaftliche Eigentum voneinander getrennt sind, sodass
        ier eine Art „Zwitter“ entstand. Mir ist es wichtig fest-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12735
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        zuhalten, dass mit der Streichung der Eigenheimzulage
        auch dieses zarte Pflänzchen der Genossenschaftsförde-
        rung, so problematisch es sein mag, wegfällt. Umso
        mehr halte ich es für geboten, dass wir uns mit den ent-
        sprechenden Empfehlungen der Expertenkommission
        auseinander setzen.
        Die Kommission richtet ihre Empfehlungen an die
        Wohnungsgenossenschaften selbst und an die Politik
        und damit auch an uns, den Bundesgesetzgeber. Die
        Wohnungsgenossenschaften haben dies bereits aufge-
        griffen, unter anderem der Gesamtverband der Woh-
        nungswirtschaft, GdW. Wir begrüßen dies ausdrücklich.
        Denn es ist ureigenes Interesse der Wohnungsgenossen-
        schaften, ihr genossenschaftliches Leitbild verstärkt in
        die Öffentlichkeit zu tragen, die genossenschaftliche
        Idee zu revitalisieren, ihre Potenziale durch zukunfts-
        weisende Projekte nachzuweisen. Selbsthilfe bzw. ge-
        genseitige Hilfe ist gerade auch für die kleinen Genos-
        senschaften besonders wichtig. Sie werden es bei einem
        sich verschärfenden Wettbewerb auf dem Wohnungs-
        markt in der Zukunft nicht leicht haben. Hier ist der Vor-
        schlag der Kommission, Dachgenossenschaften zu bil-
        den, ein hilfreicher Vorschlag. Die bestehenden
        Genossenschaften müssten auch an der Neugründung
        von Genossenschaften, vor allem von Bewohnergenos-
        senschaften, ein großes Interesse haben, weil neu
        gegründete Genossenschaften zur Stärkung der genos-
        senschaftlichen Idee beitragen und weil es in der Bevöl-
        kerung offensichtlich ein wachsendes Bedürfnis nach
        gemeinschaftlichen Wohnformen, besonders für das
        Wohnen im Alter, gibt.
        Aber auch der Deutsche Bundestag ist gefordert. Mit
        unserem Entschließungsantrag greifen wir Empfehlun-
        gen der Expertenkommission auf. Wir fordern die Bun-
        desregierung auf, eine breite gesellschaftliche Diskus-
        sion des individuellen und gesellschaftlichen Nutzens
        genossenschaftlichen Wohnens gemeinsam mit den
        Kommunen, Wohnungsgenossenschaften und Verbänden
        einzuleiten.
        Wir wollen, dass durch Modellvorhaben und Pilot-
        projekte neue Impulse gegeben werden, um in den Kom-
        munen bei der Stadt- und Quartiersentwicklung den
        Genossenschaftsgedanken zu stärken, Strukturen zur
        Unterstützung kleiner Wohnungsgenossenschaften und
        neuer genossenschaftlicher Wohnprojekte zu schaffen.
        In diesem Zusammenhang unterstreicht die Experten-
        kommission, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen
        allenfalls in wenigen kleineren Punkten verändert wer-
        den sollten. Die Expertenkommission stellt ausdrücklich
        fest, dass sich das deutsche Genossenschaftsgesetz be-
        währt hat. Das sehen wir auch so. Dennoch wollen wir,
        dass im Rahmen der Modernisierung des Genossen-
        schaftsgesetzes auf eine Flexibilisierung und Erleichte-
        rung der Gründung von Genossenschaften sowie eine
        Verbesserung der Rahmenbedingungen für kleinere Ge-
        nossenschaften hingewirkt wird.
        Interessant sind auch die Vorschlage der Kommission,
        wie das genossenschaftliche Wohnen die staatlich gefor-
        derte private Altersvorsorge ergänzen kann. Diese Vor-
        schläge gilt es zu prüfen, möglicherweise auch im Rah-
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        en der Modellvorhaben. Die Kommission geht davon
        us, dass Vorsorgeangebote von Wohnungsgenossen-
        chaften dazu beitragen können, die Wohnkostenbelas-
        ung im Alter zu reduzieren und kalkulierbar zu machen.
        ie Bundesregierung wird daher aufgefordert zu prüfen,
        elche Angebote zur privaten Altersvorsorge Woh-
        ungsgenossenschaften machen können, um die Wohn-
        ostenbelastung im Alter zu reduzieren. An dieser Stelle
        ei angemerkt, dass wir die gleiche Frage demnächst in
        iner Anhörung des Deutschen Bundestages auch für das
        elbst genutzte private Wohneigentum erörtern werden.
        Es ist uns gelungen, im Haushalt insgesamt 2,8 Mil-
        ionen Euro für diese Modellvorhaben und Pilotprojekte
        ereitzustellen.
        Mit diesem Entschließungsantrag der Koalition eröff-
        en wir die parlamentarische Beratung, die wir dann in
        en Ausschüssen intensivieren. Das sind wir nicht nur
        er Expertenkommission schuldig, das sind wir auch der
        ufgabe schuldig, das genossenschaftliche Wohnen zu
        tabilisieren und weiter zu entwickeln.
        Auf vielen Veranstaltungen in den letzten Wochen
        nd Monaten habe ich, erfahren, dass es ein großes Inte-
        esse an diesem Vorhaben gibt, nicht nur bei den Verbän-
        en und in der Fachwelt, auch bei vielen interessierten
        ürgerinnen und Bürgern. Es mag eine Minderheit sein,
        ber dennoch weiß ich von vielen Initiativen, die Vor-
        tellungen vom gemeinschaftlichen Wohnen im Alter
        aben und dabei an die Organisationsform der Genos-
        enschaft denken. Beklagt wird oft, dass es zu wenig Un-
        erstützung gibt. Ich weiß von einer Reihe von Initiati-
        en, die zum Verkauf gestellte Wohnungsbestände
        bernehmen wollen, aber nicht im Privateigentum, son-
        ern als Genossenschaft, um ganz bewusst den Zusam-
        enhalt in ihrem Quartier zu erhalten und zu stärken.
        uch dieses bürgerschaftliche Engagement wollen wir
        tützen.
        Wir freuen uns auf spannende Diskussionen, die hof-
        entlich auch zu konkreten Ergebnissen führen.
        Klaus Minkel (CDU/CSU): Über 20 Jahre habe ich
        em Aufsichtsrat einer Baugenossenschaft als Vorsitzen-
        er oder als stellvertretender Vorsitzender angehört. Da
        st es mir eine besondere Freude, heute eine Lanze zu-
        unsten der Baugenossenschaften brechen zu dürfen.
        Als Ertrag eines über hundertjährigen Wirkens sind
        eute 2,1 Millionen Genossenschaftswohnungen vorhan-
        en. Diese Zahl kennzeichnet die wahre Leistung der
        enossenschaften nur unvollkommen, da in der Vergan-
        enheit getreu dem obersten Ziel von Hermann Schulze-
        elitzsch auch zahlreiche Eigenheime und Eigentums-
        ohnungen entstanden sind. Mit 2,1 Millionen Bestands-
        ohnungen sind die Genossenschaften ein wichtiges
        oziales Korrektiv, da bei den Genossenschaften in der
        egel die soziale Bindung nicht mit dem Ablauf der Bin-
        ungsfrist endet.
        Der Kommissionsbericht wäre ohne die aktuellen
        robleme der Genossenschaften sicher nicht entstanden.
        12736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Im Osten haben wir das Leerstands- und Abbruchpro-
        blem. Wenn aus dem Aufbau Ost Chefsache wird, kann
        daraus leicht Abbruch Ost werden. Im Westen gibt es
        auch schon Abbruchprobleme, aber noch mehr Sanie-
        rungsprobleme. Die Sozialwohnungen der 50er- und
        60er-Jahre sind in der Regel zu klein ausgefallen und
        heute nicht mehr marktgerecht.
        Soweit wegen der Bestandsgefährdung nach Staats-
        hilfe gerufen wird, wird es sicher ohne Staatshilfe nicht
        gehen. Es muss aber auch danach gefragt werden, wa-
        rum es in vielen guten Jahrzehnten nicht möglich gewe-
        sen ist, im Westen einen Solidarfonds aufzubauen. Das
        hätte dem genossenschaftlichen Prinzip entsprochen.
        Auch beim Bestandserwerb wird nach Staatshilfe ge-
        rufen. Es ist ein schwerer Verlust, wie zurzeit öffentli-
        ches Vermögen verschleudert wird. Die Wohnungen der
        Rentenversicherung sind für 25 000 Euro/Wohnung an
        das Ausland verramscht worden, damit die Renten noch
        einmal gezahlt werden konnten. Hätten die Genossen-
        schaften im Wege der Selbsthilfe eine leistungsfähige
        Dachgenossenschaft aufgebaut, hätte der Vermögens-
        wert für Deutschland erhalten werden können. Nun wird
        das Ausland extrem hohe Renditen erzielen. In Hessen
        achtet die Landesregierung immerhin darauf, dass Ge-
        nossenschaftswohnungen in Genossenschaftshand blei-
        ben.
        Im Bericht wird die Verknüpfung von Genossen-
        schaftsfinanzierung und Alterssicherung durch. Anteile
        oder stille Einlagen vorgeschlagen. Dagegen ist nichts
        zu sagen. Der Vorschlag bleibt aber Wunschdenken, so-
        lange es an der Dividendenfähigkeit und der Einlagensi-
        cherung fehlt. Nur 25 Prozent der Genossenschaften im
        Westen, 5 Prozent im Osten schütten Dividenden aus.
        Auch ist es nicht nachvollziehbar, dass die Genossen-
        schaftswohnungen als kleine, aber feine Nische bei der
        Alterssicherung begünstigt werden, nicht aber das Ei-
        genheim, die Eigentumswohnung. Hier darf es keine Un-
        gleichbehandlung geben.
        Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Bericht sehr po-
        sitiv zum Eigentum ausspricht. Es ist dann aber wider-
        sprüchlich, dass die Eigenheimzulage vollständig aufge-
        geben werden soll, damit die soziale Stabilisierung von
        Quartieren besser gefördert werden kann. Die beste so-
        ziale Stabilisierung erreicht man in Eigenheimquartie-
        ren. Auch ist es nicht richtig, selbst auf Kosten anderer
        genesen zu wollen nach dem Motto, wenn jeder nur an
        sich denkt, ist an alle gedacht. Man würde sich über
        80 Prozent der Bevölkerung hinwegsetzen, für die das
        Eigenheim das oberste materielle Ziel ist. Mieter sind
        mehrheitlich leider verhinderte Eigentümer.
        Die Union ist für eine umfassende Stärkung der Ge-
        nossenschaftsidee. Die Union ist für eine Stärkung durch
        Dachgenossenschaften. Es muss kritisch gefragt werden,
        warum es die nicht schon lange gibt. Die Union ist für
        die Grundsteuerbefreiung im Verkehr der Genossen-
        schaften untereinander, um Fusionen zu erleichtern.
        Die Union ist dagegen, dass § 17 Eigenheimzulagen-
        gesetz die Genossenschaftsförderung wieder unabhängig
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        om Wohnen gewährt. Dafür waren die schwerwiegen-
        en Missbräuche zu zahlreich.
        Die Union ist für den Förderzweck wirtschaftliche
        nd Wohnbelange. Die Union ist gegen ideelle und kul-
        urelle Förderzwecke. Die Erfahrungen der Vergangen-
        eit sprechen dagegen. Auch ist das Wohnen ein Rück-
        ugsbereich des Privaten, der eine Politisierung und
        deologisierung nicht verträgt. Wir sind für häuslichen
        rieden statt für kulturellen Häuserkampf.
        Der Bericht ergibt einen großen Beratungsbedarf. Die
        nion freut sich auf die Beratungen im Ausschuss.
        Gerhard Wächter (CDU/CSU): Aus den bisherigen
        eiträgen meiner Vorredner ist übereinstimmend deut-
        ich geworden, dass die Grundidee der Genossenschaf-
        en, speziell auch der Wohnungsgenossenschaften, heute
        enauso aktuell und modern ist, wie vor mehr als
        00 Jahren: das am Eigen- wie auch Gemeinwohl orien-
        ierte Prinzip der Selbstverantwortung, Selbsthilfe und
        elbstverwaltung.
        Gerade in wirtschaftlichen und sozialen Krisenzeiten
        üssen wir an unsere Bürgerinnen und Bürger appellie-
        en, mehr Selbstverantwortung für sich und andere zu
        bernehmen, Selbsthilfe zu mobilisieren, weil der Staat
        n die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Wohnungs-
        enossenschaften sind ein guter Partner der Politik,
        enn es darum geht, für unsere Bürger altersgerechten
        nd günstigen Wohnraum zu schaffen. Sie haben sich
        ewährt, sie sind eine wichtige Säule des Wohnungs-
        arktes.
        Wir müssen aber feststellen, dass die Mitgliederzah-
        en seit Ende der 90er-Jahre in den alten Bundesländern
        tagnieren, in den neuen Bundesländern sogar leicht
        inken. Die Frage nach der Zukunft des genossenschaft-
        ichen Wohnens ist deshalb wichtig und richtig.
        Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Bericht der
        xpertenkommission. Darin wird dem Modell des ge-
        ossenschaftlichen Wohnens grundsätzlich das Potenzial
        ingeräumt, auf dem zukünftigen Wohnungsmarkt auch
        eiterhin eine wichtige Rolle zu spielen.
        Der Bericht beinhaltet durchaus überlegenswerte An-
        ätze. Inwieweit die Politik nun dazu beitragen kann, auf
        iese Form des Wohnens positiv einzuwirken, wird noch
        ingehend zu erörtern sein. Vernünftigen Vorschlägen
        tehen wir offen gegenüber.
        Sie alle wissen, dass die demographische Entwick-
        ung uns in der Städtebau- und Wohnungspolitik vor
        roße Herausforderungen stellt. Die Zusammensetzung
        nserer Gesellschaft ändert sich, nicht nur in Bezug auf
        as Alter.
        Eine solche dramatische Veränderung erfordert einen
        odernen und facettenreichen Wohnungsmarkt und
        tädtebau. Das ist eine große Herausforderung, aber
        uch eine große Chance, nicht zuletzt für die Wohnungs-
        enossenschaften. Daher stehen wir dem Antrag der
        oalitionsfraktionen in den Punkten positiv gegenüber,
        n denen es um die Initiierung einer breiten gesellschaft-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12737
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        lichen Debatte und Entwürfe von Modellvorhaben und
        Projekten geht.
        Positiv bewerten wir auch, dass die Bundesregierung
        dazu aufgefordert wird, die Einbeziehung von Woh-
        nungsgenossenschaften in die Altersvorsorge zu prüfen.
        Doch wir mahnen an, diesen Aspekt nicht einseitig zu
        betrachten. Die Integration in die Altersvorsorge darf
        nicht auf das Modell der Wohnungsgenossenschaften be-
        schränkt sein, sondern das Thema Wohnimmobilie als
        Bestandteil der Altersvorsorge muss grundsätzlich ange-
        gangen werden.
        Vorsicht ist geboten, wenn es darum geht, neue För-
        derinstrumente ins Leben zu rufen. Ich sage dies im Hin-
        blick auf die Forderung, die Sie unter Punkt 5 Ihres An-
        trages formulieren, und zwar die Überprüfung der
        Empfehlungen der Kommission zu speziellen Förder-
        maßnahmen. Das Wort „prüfen“ ist gut, aber die Emp-
        fehlungen der Kommission dürfen nicht zu einem
        Selbstläufer werden. Deutschlands finanzielle Lage lässt
        keine großen Sprünge zu. Im Gegenteil, die Förder- und
        Subventionspolitik in Deutschland gehört generell auf
        den Prüfstand. Daher muss auch jede Überlegung, neue
        Fördermaßnahmen ins Leben zu rufen, auf Herz und
        Nieren geprüft werden.
        Wenn Förderpolitik unverzichtbar ist, dann muss sie
        nicht nur zielgerichtet, sondern auch verlässlich sein.
        Unberechenbares Taktieren – wie bei der Eigenheimzu-
        lage – zerstört Vertrauen. Umso wichtiger ist es, dass die
        staatlichen Rahmenbedingungen verlässlich sind. Und
        da habe ich angesichts der bisherigen Erfahrungen mit
        der Politik der jetzigen Bundesregierung erhebliche
        Zweifel.
        So ehrenwert Ihre Ansätze zur Stabilisierung und
        Weiterentwicklung von Wohnungsgenossenschaften sind,
        sie passen nicht zu Ihrem Verhalten.
        Zum einen ziehen Sie neue Fördertatbestände zuguns-
        ten der Wohnungsgenossenschaften in Betracht, auf der
        anderen Seite stellen Sie mit der immer wieder in Gang
        gesetzten Diskussion um die Aufhebung der Eigenheim-
        zulage ein erfolgerprobtes Förderinstrument zur Disposi-
        tion. Das passt nicht zusammen.
        Angesichts dieser Widersprüche kommt der Verdacht
        auf, dass Sie eine bestimmte Ziel- bzw. Wählergruppe
        bedienen wollen, oder, was noch schlimmer wäre, Sie
        haben schlichtweg kein ganzheitliches Konzept, was die
        Wohnraumversorgung unserer Bevölkerung in der Zu-
        kunft anbelangt.
        Ich stelle für meine Fraktion fest: Wohnungsgenos-
        senschaften sind sinnvoll, sie sind neben dem privat ge-
        nutzten Eigenheim und der Mietwohnung eine wichtige
        Säule. Unsere Aufgabe muss es sein, den Wohnungsge-
        nossenschaften gewissermaßen Hilfe zur Selbsthilfe zu
        geben. Dass heißt, wir müssen die entsprechenden Rah-
        menbedingungen schaffen. Rahmenbedingungen, die
        den Wohnungsgenossenschaften Freiräume eröffnen, die
        sie von zusätzlichen Belastungen befreien und ihnen die
        Chance geben, sich aus eigener Kraft, im Wettbewerb
        auf dem Wohnungsmarkt zu behaupten.
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        Maßvollen Vorschlägen – zum Beispiel zu Änderun-
        en im Steuerrecht oder auch Genossenschaftsrecht –
        ird sich die Union nicht verschließen. Wir freuen uns
        uf intensive und hoffentlich konstruktive Beratungen
        m Ausschuss.
        Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
        RÜNEN): Im April dieses Jahres hat die Expertenkom-
        ission „Wohnungsgenossenschaften“ ihren Bericht
        orgelegt. Mit unserem Antrag möchten wir, Bundes-
        agsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD,
        as genossenschaftliche Wohnen als dritte tragende
        äule, neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnen
        m Eigenheim, stärken. Wir setzen uns auf der Grund-
        age des Expertenberichts für eine Stabilisierung und
        eiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens
        in. Die Empfehlungen der Expertenkommission müs-
        en genauestens geprüft und erprobt werden. Das Poten-
        ial der Wohnungsgenossenschaften ist noch nicht aus-
        eschöpft!
        Die genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe,
        elbstverwaltung und Selbstverantwortung sind nicht
        ur Basis für eine moderne Zivilgesellschaft, sie sind
        uch wichtige Stabilisatoren für ein Quartier. Dieses Po-
        enzial muss erkannt und von den Kommunen genutzt
        erden. In den Wohnungsgenossenschaften wird priva-
        es Kapital für gemeinschaftliche Projekte genutzt. Auf-
        rund der schlechten Haushaltslage muss es zukünftig
        erstärkt zu privaten gemeinnützigen Aufgaben kom-
        en. Die Wohnungsgenossenschaften spielen dabei eine
        orreiterrolle.
        Neben dem gesellschaftlichen Nutzen der Wohnungs-
        enossenschaften profitieren auch bestimmte Personen-
        ruppen von der nachbarschaftlichen und gemeinschaft-
        ichen Wohnform, zu nennen sind vor allem ältere oder
        llein stehende Menschen, aber auch Alleinerziehende
        der Familien, die auf Hilfe angewiesen sind. Das ge-
        ossenschaftliche Wohnen ist sozial und integrativ.
        Durch das Dauernutzungsrecht ist das genossenschaft-
        che Wohnen eine langfristige und sichere Wohnform mit
        oher Qualität. Es vereint die Vorteile des Wohnens zur
        iete mit denen des Wohnens im Eigenheim. Als wirt-
        chaftliche Miteigentümer des genossenschaftlichen Ge-
        einschaftseigentums haben Genossenschaftsmitglieder
        itspracherechte und Dauernutzungsrechte. Dadurch be-
        teht Schutz vor Verdrängung und Kündigung. Zur Stabi-
        sierung und Weiterentwicklung des genossenschaftli-
        hen Wohnens fordern wir die Bundesregierung auf:
        Erstens. Eine breite gesellschaftliche Diskussion des
        ndividuellen und gesellschaftlichen Nutzens genossen-
        chaftlichen Wohnens zu initiieren. Dazu müssen Kom-
        unen, Wohnungsgenossenschaften und Verbände ins
        oot geholt werden.
        Zweitens. Durch Modellvorhaben und Pilotprojekte
        ollen neue Impulse für das genossenschaftliche Wohnen
        egeben werden. Der Genossenschaftsgedanke muss bei
        en Kommunen in der Stadt- und Quartiersentwicklung
        estärkt werden. Das genossenschaftliche Wohnen muss
        ür neue Bewohnergruppen attraktiv gemacht werden.
        12738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Ebenso sollen eine private Altersvorsorge, in und mit
        Genossenschaften entwickelt werden.
        Drittens. Best-Practice-Beispiele und Arbeitshinweise
        sollen den Ländern, Kommunen, Verbänden und der in-
        teressierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wer-
        den.
        Viertens. Das genossenschaftliche Wohnen muss mit
        den bisherigen Instrumenten der staatlich geförderten
        privaten Altersvorsorge verbunden werden.
        Fünftens. Die Modernisierung des Genossenschaftsge-
        setzes muss auf eine Flexibilisierung und Erleichterung
        der Gründung von Genossenschaften sowie Verbesserung
        der Rahmenbedingungen für kleine Genossenschaften
        zielen.
        Sechstens. Strukturen zur Unterstützung kleiner
        Wohngenossenschaften und Dachgenossenschaften müs-
        sen geschaffen werden.
        Wir hoffen auf breite Unterstützung unseres Antrages.
        Eberhard Otto (Godern) (FDP): Seit mehr als
        100 Jahren sind die deutschen Wohnungsgenossenschaf-
        ten ein wichtiger Anbieter von preiswertem Wohnraum.
        Sie bieten unter anderem Wohnsicherheit, günstige Nut-
        zungsentgelte und neben der reinen Wohnraumversor-
        gung verfolgen sie auch freiheitliche Prinzipien wie das
        Identitätsprinzip, die Selbsthilfe, die Selbstverwaltung
        und die Selbstverantwortung.
        Gerade in den neuen Bundesländern hat dieses eine
        besondere Bedeutung; Wohnungsgenossenschaften ver-
        hindern so unter anderem zumindest teilweise eine noch
        stärkere Abwanderung. Demnach ist die Stärkung der
        Wohnungsgenossenschaften als eine Säule der Woh-
        nungsversorgung grundsätzlich zu begrüßen.
        Die FDP vertritt ein liberales Leitbild zur Wohnungs-
        politik, das von dem Obersatz „Durch mehr Markt zu ei-
        ner besseren, effizienteren und differenzierteren Woh-
        nungsversorgung“ geprägt ist. Wir wollen deshalb, dass
        möglichst viele Menschen in den eigenen vier Wänden
        wohnen und der Rest durch den Markt versorgt wird, der
        aus einer Vielzahl von Unternehmen und aus wohnungs-
        politischer Vielfalt besteht.
        Die FDP steht für Eigentum. Dazu zählt für uns aus-
        drücklich auch genossenschaftliches Eigentum, wenn
        die Eigentumsmerkmale ausreichend gewahrt sind. Das
        heißt: Durch den Erwerb von Genossenschaftsanteilen
        muss echtes Eigentum entstehen. Eine Grundeigenschaft
        von echtem Eigentum ist es, dass es auch vererbt werden
        kann.
        In der genossenschaftlichen Wohnform kann über Ge-
        nerationen Vermögen akkumuliert werden. Jedoch ist
        nach § 77 Genossenschaftsgesetz die Mitgliedschaft
        nicht voll vererbbar.
        Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf, um
        die fortlaufende Vermögensbildung abzusichern.
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        Die Genossenschaften verfügen über einen umfang-
        eichen Bestand an Genossenschaftswohnungen. Dieser
        uss auf seine Attraktivität für die Nutzer und seine Ver-
        arktung hin untersucht werden, bevor weiter neu ge-
        aut wird. Das heißt, in rückläufigen Märkten – über
        0 Prozent der Wohnungsgenossenschaften in den neuen
        undesländern sind von Wohnungsleerstand betroffen –
        ind auch Bestandsverringerungen zur wirtschaftlichen
        tabilisierung notwendig.
        nlage 5
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weite-
        rer Gesetze (Zusatztagesordnungspunkt 6)
        Dr. Max Stadler (FDP): Es kommt sicher nicht alle
        age vor, dass ein Gesetz, das noch gar nicht in Kraft ge-
        reten ist, bereits wieder korrigiert werden muss. So ge-
        ehen ist es kein Ruhmesblatt für den Gesetzgeber, wenn
        enige Monate nach Verabschiedung des Zuwande-
        ungskompromisses schon wieder ein erstes Reparatur-
        esetz im Bundestag beraten und beschlossen werden
        uss. Allerdings muss zur Entschuldigung aller Betei-
        igten gesagt werden, dass die meisten Änderungen da-
        urch veranlasst worden sind, dass zwischenzeitlich zu
        nderen Materien Gesetzesbeschlüsse gefasst worden
        ind, an die das am 1. Januar 2005 in Kraft tretende Auf-
        nthaltsgesetz mit Nebenmaterien nunmehr angepasst
        erden muss.
        Demgemäß handelt es sich um eine ziemlich unüber-
        ichtliche Vielzahl von redaktionellen Änderungen und
        ngleichungen an andere Gesetze, die im Wesentlichen
        wischen den Fraktionen des Bundestages unstrittig
        ind. Gerade wegen der Kompliziertheit der Materie
        äre es aber angebracht gewesen, die Ausschussbera-
        ungen erst nach einem Berichterstattergespräch zwi-
        chen den Regierungs- und den Oppositionsfraktionen
        bzuschließen. Stattdessen hat die rot-grüne Koalition
        ieder einmal gezeigt, dass sie intern oft große Pro-
        leme hat, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
        och bis Dienstag dieser Woche, also in letzter Minute,
        ind von der rot-grünen Koalition Änderungsanträge
        orgelegt worden. Da der Zuwanderungskompromiss am
        nde einvernehmlich vereinbart worden war, wäre es
        uch anzustreben gewesen, über das erste Änderungsge-
        etz Konsens zwischen den Fraktionen zu erzielen. Auf-
        rund des Zeitdrucks, den die Koalition selbst zu verant-
        orten hat, hat sie dann aber den Oppositionsfraktionen
        ine Berichterstatterrunde zur intensiven Beratung ver-
        eigert.
        Dennoch stimmt die FDP-Bundestagsfraktion dem
        nderungsgesetz zu, weil die vorgelegten Regelungen
        urchaus sachgerecht sind. Dies gilt sowohl für die Er-
        ichtung einer Fundpapierdatenbank beim Bundesver-
        altungsamt, mit der der Missbrauch, dass Ausländer
        ich bewusst ihrer Ausweispapiere entledigen, um einer
        ückführung zu entgehen, bekämpft werden soll, als
        uch für die Neuregelung, traumatisierten Personen me-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12739
        (A) )
        (B) )
        dizinische Hilfe zukommen zu lassen. Es ist für die FDP
        nicht recht verständlich, warum die CDU/CSU-Fraktion
        im Innenausschuss diese letztere Maßnahme kritisiert
        hat. Denn für die Hilfeleistungen gegenüber Traumati-
        sierten existiert eine EU-Richtlinie, zu deren Umsetzung
        in nationales Recht die Bundesrepublik Deutschland ver-
        pflichtet ist. Es spricht daher nichts dagegen, diese ohne-
        hin notwendige Umsetzung der Richtlinie gleich im Än-
        derungsgesetz zum Aufenthaltsgesetz vorzunehmen.
        Die FDP kann sich auch der Kritik der CDU/CSU-
        Fraktion an einer Klarstellung im Bereich der Flücht-
        linge nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht an-
        schließen. Diese Flüchtlinge erhalten nach drei Jahren
        eine Niederlassungserlaubnis, wenn ihnen vom Bundes-
        amt für Migration und Flüchtlinge mitgeteilt wurde, dass
        die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rück-
        nahme der Anerkennung nicht vorliegen. Die Neurege-
        lung fingiert jetzt diese Mitteilung für diejenigen Aus-
        länder, die vor dem 1. Januar 2005 seit mehr als drei
        Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitzen. Damit wird
        unnötiger Verwaltungsaufwand vermieden. Denn ohne
        diese Klarstellung wäre das Bundesamt unter den zeitli-
        chen Druck geraten, in den verbleibenden Wochen des
        Jahres 2004 zahlreiche Einzelfälle zu prüfen und über
        die Mitteilung, dass keine Widerrufs- oder Rücknahme-
        gründe vorliegen, zu entscheiden.
        Eine ungerechtfertigte Bevorzugung ist mit der nun
        vorgesehenen gesetzlichen Fiktion nicht verbunden. So-
        bald nämlich im Einzelfall Anhaltspunkte dafür vorlie-
        gen, dass der Flüchtlingsstatus zu widerrufen oder zu-
        rückzunehmen sei, hat das Bundesamt nach wie vor das
        Recht, gemäß § 73 des Asylverfahrensgesetzes die Aner-
        kennung nach Ermessen wieder zu beseitigen. Also eig-
        net sich dieser Punkt nach Meinung der FDP ebenso we-
        nig für einen neuen politischen Streit in der
        Migrationsdebatte wie die vorgesehene Neuregelung,
        dass der Anspruch auf Teilnahme an Integrationskursen
        auch für die im Jahr 2004 anerkannten Asylbewerber
        gelten soll.
        Somit bleibt von denjenigen Punkten, die im Innen-
        ausschuss zu einer langen Debatte geführt haben, aus
        Sicht der FDP nur die Frage nach einer Altfallregelung
        übrig. Dass gerade darüber am längsten gesprochen
        wurde, ist etwas eigenartig, weil das heute zu beschlie-
        ßende Gesetz eine solche Bleiberechtsregelung für lange
        in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig lebende
        Ausländer gar nicht vorsieht Vielmehr handelt es sich
        um eine Frage, die im Rahmen des Zuwanderungskom-
        promisses nicht gelöst werden konnte, weil die CDU/
        CSU zu einer Altfallregelung nicht bereit war. Ohne Zu-
        stimmung der Union kann sie auch jetzt nicht eingeführt
        werden. Aus Sicht der FDP wäre sie aber dennoch
        zweckmäßig, so wie sie auch vom Ausschuss für Men-
        schenrechte gefordert worden ist. Die praktische Erfah-
        rung lehrt, dass die Gründe für einen schon längeren
        Aufenthalt ohne gesicherten rechtlichen Status vielfältig
        sind. Keineswegs liegt immer ein Verschulden der Asyl-
        bewerber oder eine bewusste Ausnutzung von Möglich-
        keiten zur Verfahrensgestaltung vor.
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        Immer dann, wenn die Betroffenen nicht selbst zu
        ertreten haben, dass nach langen Jahren über ihren wei-
        eren Verbleib keine endgültige Entscheidung getroffen
        orden ist, wäre es aber richtig, auf den erreichten Stand
        er Integration in Deutschland abzustellen. Jeder von
        ns hat immer wieder mit Petitionen zu tun, mit denen
        anze Dorfgemeinschaften, die Kirchen, Arbeitgeber
        nd Sportvereine uns mitteilen, dass gerade der seit zehn
        der zwölf Jahren in Deutschland aufhältliche Auslän-
        er, der jetzt doch noch abgeschoben werden soll, bes-
        ens sozial und gesellschaftlich integriert sei. Mit einer
        innvollen Altfallregelung, die nicht etwa Gesetzesver-
        töße belohnt, aber erreichte Integration anerkennt,
        önnte hier durch den Gesetzgeber geholfen werden.
        Solange diese Position, die von der FDP auch in den
        erhandlungen zum Zuwanderungsgesetz klar vertreten
        orden ist, mit der CDU/CSU nicht gemeinsam zu ver-
        inbaren ist, muss man sich mit der Regelung für Härte-
        älle aus dem Zuwanderungskompromiss behelfen. Wie
        ie Länder, in deren Ermessen es übrigens liegt, ob sie
        berhaupt Härtefallkommissionen einrichten, diese
        öglichkeit praktizieren werden, muss man erst noch
        bwarten. Manche Vorstellungen bei den Zuwande-
        ungsverhandlungen gingen ja dahin, Härtefälle ledig-
        ich bei schwerer Krankheit oder ähnlichen persönlichen
        chicksalen anzunehmen. Die FDP meint, dass eine pra-
        isgerechte Anwendung zumindest auch einen Teil der
        o genannten Altfälle einbeziehen müsste.
        Da aber dieser Streitpunkt gar nicht Inhalt des heute
        u beschließenden Gesetzes ist, besteht kein Anlass zu
        iner aufgeregten Diskussion. Die Migrationspolitik in
        eutschland hat mit dem Zuwanderungsgesetz eine neue
        ualität erreicht. Nach den heute zu beschließenden re-
        aktionellen Änderungen, Anpassungen und geringfügi-
        en Ergänzungen sollte jetzt die Praxis eine faire Chance
        rhalten, die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes
        innvoll anzuwenden.
        nlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Scheinvaterschaften
        wirksam bekämpfen (Tagesordnungspunkt 11)
        Gabriele Fograscher (SPD): Wir diskutieren heute
        ber einen Antrag der CDU/CSU, der ein Thema auf-
        reift, das auf den ersten Blick Unverständnis hervorruft.
        eder kennt den Begriff der Scheinehe zur Erlangung un-
        efristeter Aufenthaltstitel. Diese ist in Deutschland ver-
        oten und strafbewehrt. Doch was ist eine Scheinvater-
        chaft und welche Ziele werden verfolgt?
        Bei einer Scheinvaterschaft erkennt ein deutscher
        ann ein ausländisches Kind als leibliches Kind an, das
        amit die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, und des-
        en Mutter, die meist einen ungesicherten Aufenthalts-
        tatus hat, erlangt dann zur Ausübung der Personensorge
        inen unbefristeten Aufenthaltstitel. Oder aber: Ein aus-
        ändischer ausreisepflichtiger Mann erkennt die Vater-
        chaft eines deutschen Kindes an und bekommt dadurch
        12740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Mit dem unbefriste-
        ten Aufenthaltstitel steht in Deutschland auch der Zu-
        gang in die Sozialsysteme offen. In dem vorliegenden
        Antrag wird unterstellt, dass gezielt der Kontakt zwi-
        schen Mutter und möglichem Vater, der Sozialhilfeemp-
        fänger ist, hergestellt wird. Dem anerkennenden Vater
        würden aufgrund seiner Bedürftigkeit keine Unterhalts-
        kosten entstehen.
        Natürlich ist es völlig legal, wenn die Vaterschaft ei-
        nes leiblichen Kindes anerkannt wird und daraus für die
        Mutter oder den Vater ein unbefristetes Bleiberecht in
        Deutschland resultiert. Doch in den Fällen der Scheinva-
        terschaft ist der anerkennende Vater nicht der biologi-
        sche Vater und er hat kein Interesse an dem Kind und der
        Mutter; es wird kein Vater-Kind-Verhältnis angestrebt.
        Die Union erklärt nun in ihrem Antrag, es hätte in
        Deutschland von Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004
        1 694 Verdachtsfälle des Leistungsmissbrauchs und der
        Erschleichung von Aufenthaltstiteln durch Scheinvater-
        schaften gegeben. Damit wird ein Teil der Bevölkerung
        unter Generalverdacht genommen, denn es ist nicht gesi-
        chert, ob es sich bei diesen Zahlen wirklich um Schein-
        vaterschaften handelt oder die anerkennenden Väter
        nicht doch die biologischen Väter sind Väter bzw. Müt-
        ter mit ungesichertem Aufenthaltstitel sind nicht auto-
        matisch alles Fälle für Scheinvaterschaften, die Leis-
        tungsmissbrauch im Hinterkopf haben. Auf dieser
        ungesicherten Datenlage ist ein derart massiver Eingriff
        in das seit 1998 geltende neue Kindschaftsrecht, wie ihn
        die CDU/CSU fordert, nicht vertretbar.
        Es ist unstrittig: Das Kindeswohl und die Rechte des
        Kindes stehen im Vordergrund und müssen geschützt
        werden. Das Kind hat das Recht auf Abstammung und
        Umgang mit den leiblichen Eltern und auch dem rechtli-
        chen Vater. Das Kindschaftsrecht soll weder rückgängig
        gemacht noch ausgehebelt werden. Eine Rückkehr zur
        Amtspflegschaft, die automatisch alle alleinstehenden
        Mütter betraf, ist für uns ausgeschlossen. Für uns ist es
        allerdings auch nicht hinnehmbar, dass mit der Notlage
        von Müttern mit kleinen Kindern Geschäfte gemacht
        werden. Es ist kriminell, wenn Menschen sich darauf
        spezialisieren, schwangere Frauen oder junge Mütter an
        potenzielle Väter zu vermitteln. Hierbei handelt es sich
        um organisierte Kriminalität, die es zu bekämpfen gilt.
        Die Unionsfraktion schlägt vor, sich an dem Schwei-
        zer Modell, dem § 260 a des Zivilgesetzbuches, zu
        orientieren, sodass die Vaterschaft, die als Scheinvater-
        schaft vermutet wird, angefochten werden kann. Im
        Schweizer Recht heißt es – ich zitiere: „Die Anerken-
        nung kann von jedermann, der ein Interesse hat, bei Ge-
        richt angefochten werden, …“ Ich glaube, diese Rege-
        lung geht zu weit und greift auch zu weit in die
        Persönlichkeitsrechte der Mutter und gegebenenfalls
        auch des Vaters ein, insbesondere wenn nur ein vager
        Verdacht besteht.
        Sicherlich ist das Ziel, Scheinvaterschaften als krimi-
        nelle Handlung zu bekämpfen, richtig. Doch ein Schnell-
        schuss, wie die CDU/CSU ihn fordert, ist ganz bestimmt
        nicht die richtige Lösung dieses Problems.
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        Wir werden aber bei diesem Problem nicht untätig
        leiben und nur zuschauen. Bereits die Innenminister-
        onferenz hat sich in diesem Jahr schon mit diesem
        hema befasst und wird es bei ihrer nächsten Sitzung er-
        eut tun. Auch die Justizminister, Jugendminister, Ar-
        eits- und Sozialminister befassen sich mit diesem Sach-
        erhalt.
        Wichtigste Voraussetzung, um hier als Gesetzgeber
        ätig zu werden, ist eine gesicherte Datenlage. Die haben
        ir bisher nicht, es gibt nur Vermutungen. Das muss sich
        ndern. Deshalb müssen wir die Jugendämter, Sozial-
        mter und Ausländerbehörden für diesen Sachverhalt
        ensibilisieren. Auch müssen die Behörden die Instru-
        ente, die ihnen bereits heute zur Verfügung stehen, wie
        um Beispiel der teilweise Entzug der Vormundschaft
        on der Mutter bei Gefährdung des Kindeswohls, aus-
        chöpfen.
        Zunächst muss klar sein, in welchem Umfang durch
        cheinvaterschaften Sozialleistungen und Aufenthalts-
        itel erschlichen werden. Dann hat der Gesetzgeber zu
        rüfen, ob die vorhandenen rechtsstaatlichen Instru-
        ente ausreichen oder ob diese durch Neuregelungen er-
        änzt werden müssen.
        Christine Lambrecht (SPD): Der Antrag der CDU/
        SU mit dem Titel „Scheinvaterschaften wirksam be-
        ämpfen“ richtet sich gegen missbräuchliche Vater-
        chaftsanerkennung. Hintergrund ist folgender: Das
        ind einer ausländischen Mutter und eines deutschen
        aters erwirbt, abgeleitet vom Vater, die deutsche Staats-
        ngehörigkeit. Damit die Mutter mit ihrem deutschen
        ind in Deutschland leben kann, erhält sie, wenn sie die
        orge für das Kind ausübt, eine Aufenthaltserlaubnis.
        In dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion heißt es, dass
        ich bundesweit die Fälle häufen, in denen Vaterschaften
        ur mit dem Ziel anerkannt werden, der ausländischen
        utter eine solche Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen.
        enn diese Annahme zutreffend ist, müssen wir sie sehr
        rnst nehmen. Einer zunehmenden Praxis, in der „fal-
        che“ Vaterschaftsanerkenntnisse allein wegen des aus-
        änderrechtlichen Vorteils abgegeben werden, müssten
        ir entgegentreten. Dies wäre ausländerpolitisch nicht
        kzeptabel und auch die Interessen des Kindes würden
        ernachlässigt. Zwar kann es für das Kind in materieller
        insicht günstig sein, mit der Mutter in Deutschland
        erbleiben zu können. Die an sich wünschenswerte Va-
        er-Kind-Beziehung wird jedoch zu einem Mann, der
        eine Beziehung zu der Mutter und auch kein Interesse
        n dem Kind hat, in der Regel nicht aufgebaut werden
        önnen. Gleichwohl möchte ich davor warnen, jetzt so-
        leich nach einer Gesetzesänderung im Abstammungs-
        echt zu rufen. Ein „Schnellschuss“ kann hier mehr
        achteile als Vorteile bringen.
        Zunächst sind die Wertentscheidungen der Kind-
        chaftsrechtsreform von 1998 zu berücksichtigen, die
        amals in einem breiten fraktionsübergreifenden Kon-
        ens beschlossen wurde. Die Kindschaftsrechtsreform
        at ganz bewusst die Rechtsstellung und die Verantwor-
        ung der Mutter eines nicht ehelich geborenen Kindes
        estärkt. Die bisherige „Bevormundung“ der Mutter
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12741
        (A) )
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        durch die Amtspflegschaft wurde abgeschafft. Seitdem
        setzt eine wirksame Vaterschaftsanerkennung nicht mehr
        die Zustimmung des Amtspflegers, sondern die der Mut-
        ter voraus. Ebenso wie bei ehelichen Kindern, für die
        eine Vaterschaftsvermutung zugunsten des Ehemannes
        gilt, nimmt das Gesetz damit auch hier Scheinvater-
        schaften in Kauf. Auf diese Weise wird ermöglicht, dass
        derjenige, der die soziale Vaterschaft für ein Kind über-
        nimmt, in der Regel auch rechtlicher Vater des Kindes
        sein kann. Ein Recht zur Anfechtung der Vaterschaft
        steht nur dem rechtlichen Vater, der Mutter, dem Kind
        und unter begrenzten Voraussetzungen auch dem biolo-
        gischen Vater zu. Ein Anfechtungsrecht einer Behörde
        kennt das Gesetz bisher nicht. Führte man es ein, wäre
        dies ein Schritt zurück zur alten Amtspflegschaft und der
        damit verbundenen „Bevormundung“ der Mutter.
        Bei der Abfassung der Voraussetzungen eines behörd-
        lichen Anfechtungsrechts müsste man zudem äußerst
        sensibel vorgehen. Eine Regelung, die, wie von der
        CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, darauf abstellt, dass
        die Vaterschaft „ausschließlich zur Erlangung von Auf-
        enthaltstiteln und Sozialleistungen“ anerkannt wird,
        kann leicht als diskriminierend empfunden werden. Sie
        würde allein Ausländer bzw. Ausländerinnen treffen.
        Man könnte daher daran denken, die Missbrauchsrege-
        lung weiter, also nicht auf den ausländerrechtlichen
        Missbrauch beschränkt, zu fassen. Eine solche weit ge-
        fasste Regelung würde jedoch noch stärker mit den In-
        tentionen der Kindschaftsrechtsreform kollidieren.
        Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, ei-
        nen genauen Blick auf die Zahlen zu werfen, mit denen
        der gesetzgeberische Handlungsbedarf begründet wird.
        Die Zahl von 1 694 Verdachtsfällen von Frühjahr 2003
        bis Frühjahr 2004 entnimmt der CDU/CSU-Antrag,
        ohne die Quelle zu nennen, einem Bericht des Arbeits-
        kreises I der Innenministerkonferenz vom Oktober 2004.
        Es handelt sich um die Zahl der Fälle, in denen eine aus-
        ländische Mutter ausreisepflichtig war und ein deutscher
        Mann oder ein ausländischer Mann mit gesichertem
        Aufenthaltsstatus die Vaterschaft ihres nicht ehelichen
        Kindes anerkannt hat.
        Man hat damit nur erhoben, wie häufig eine zunächst
        ausreisepflichtige Frau durch eine Vaterschaftsanerken-
        nung ihres Kindes eine Aufenthaltsgenehmigung erhal-
        ten hat. Zu der Frage, ob diese Vaterschaftsanerkennt-
        nisse missbräuchlich waren, weil der Mann nicht der
        leibliche Vater des Kindes ist und auch kein soziales Va-
        ter-Kind-Verhältnis angestrebt wird, konnten die befrag-
        ten Ausländerbehörden keine Angaben machen.
        Der Bericht des Arbeitskreises der Innenministerkon-
        ferenz wertet die Zahl daher selbst nur als „Indiz“ dafür,
        dass es eine nicht unerhebliche Zahl von Missbrauchs-
        fällen gäbe. Auf einer derart unsicheren Tatsachengrund-
        lage kann man guten Gewissens keine Gesetze erlassen.
        Dies gilt insbesondere, wenn es – wie hier – um Rege-
        lungen geht, die speziell unsere ausländischen Mitbürge-
        rinnen und -bürger betreffen. Wer sich hier nicht des
        Vorwurfs der Diskriminierung aussetzen will, muss
        seine Gesetzesänderungen sorgfältig und mit belastbaren
        Zahlen begründen.
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        Wir sollten in der Folgezeit gemeinsam darüber
        achdenken, wie wir die Datenlage verbessern können.
        innvoll sein könnte hier etwa eine Befragung in Ju-
        endämtern, die im Rahmen ihrer Aufgabe zur Beratung
        nd Unterstützung von Müttern häufig mehr über deren
        amiliäre Situation erfahren als die Ausländerbehörden.
        Einen rechtlichen Ansatzpunkt, um den geschilderten
        issbräuchlichen Vaterschaftsanerkenntnissen entge-
        enzuwirken, könnte § 1629 Abs. 2 Satz 3 BGB bieten,
        onach das Familiengericht dem gesetzlichen Vertreter
        ines Kindes nach Maßgabe des § 1796 BGB die Vertre-
        ungsbefugnis entziehen kann. Nach § 1796 Abs. 1 BGB
        st die Entziehung der Vertretungsbefugnis für einzelne
        ngelegenheiten oder einen bestimmten Kreis von An-
        elegenheiten möglich. Dass der Entzug der Vertre-
        ungsmacht bezüglich der Feststellung der Vaterschaft
        usgeschlossen ist, steht einer Beschränkung der Vertre-
        ungsmacht zur Vaterschaftsanfechtung nicht entgegen.
        Zugleich mit der Beschränkung der Vertretungsmacht
        er Mutter muss dann das Familiengericht einen Ergän-
        ungspfleger gemäß § 1909 BGB bestellen, dem hinsicht-
        ch der Frage der Vaterschaftsanfechtung bzw. -feststel-
        ng die elterliche Sorge übertragen wird. Der
        rgänzungspfleger ist dann als insoweit für das Kind tä-
        ig werdender gesetzlicher Vertreter berechtigt, dessen
        igenes Vaterschaftsanfechtungsrecht – § 1600 BGB –
        uszuüben und die Vaterschaft anzufechten. Dieser Er-
        änzungspfleger kann somit dann in der zweiten Stufe
        in entsprechendes gerichtliches Verfahren einleiten.
        Eine Vaterschaftsanfechtung durch einen gesetzlichen
        ertreter des Kindes ist gemäß § 1600 a Abs. 4 BGB nur
        ulässig, wenn sie dem Wohl des Vertretenen, also des
        indes, dient. Hier muss das zuständige Gericht neben
        en allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Va-
        erschaftsanfechtungsverfahrens als weitere Sachent-
        cheidungsvoraussetzung eine Kindeswohlprüfung vor-
        ehmen.
        Ein familiengerichtliches Verfahren auf Beschrän-
        ung der Vertretungsmacht der Mutter setzt keinen förm-
        ichen Antrag voraus. Es handelt sich hier um ein nach
        aßgabe der §§ 621 Abs. 1 Nr. 1, 621 a Abs. 1 ZPO ge-
        egeltes Verfahren, für welches grundsätzlich die Vor-
        chriften des FGG Anwendung finden. Ein förmlicher
        ntrag ist nicht Verfahrensvoraussetzung. Es genügt da-
        er eine formlose Anregung, welche auch von einer Be-
        örde, zum Beispiel der Staatsangehörigkeits-, Auslän-
        er- oder auch Sozialhilfebehörde, gegeben werden
        ann. Schon aus praktischen Erwägungen erscheint al-
        erdings eine Koordination einer solchen Anregung mit
        em örtlich zuständigen Jugendamt sinnvoll.
        Es sollten daher zunächst die Möglichkeiten des gel-
        enden Rechts ausgelotet werden, um gegen Vater-
        chaftsanerkenntnisse, die nur das Ziel haben, der Mutter
        es Kindes einen gesicherten Aufenthaltsstatus und un-
        er Umständen verstärkte Ansprüche nach sozialen Leis-
        ungsgesetzen zu verschaffen, vorzugehen.
        Über die Möglichkeiten könnte durch entsprechende
        nformation der in Betracht kommenden Behörden
        Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Sozialbehörden
        12742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        sowie Jugendämtern – Zusammenarbeit mit den zustän-
        digen Stellen der Länder abgeholfen werden. Die sach-
        nahen örtlichen Behörden könnten dann in einschlägigen
        Fällen gerichtliche Verfahren anregen. Bevor Gesetzes-
        änderungen erwogen werden, sollte erst beobachtet wer-
        den, wie seitens der Gerichte auf solche Anregungen re-
        agiert wird.
        Roland Gewalt (CDU/CSU): Die Gesetzeslücke im
        deutschen Kindschaftsrecht, über die wir hier heute re-
        den, ist groß wie ein Scheunentor. Sie ermöglicht es in
        einer Vielzahl von Fällen, dass über die Anerkennung ei-
        ner nicht gegebenen Vaterschaft Mutter und Kind ein
        dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland und umfas-
        sende Sozialhilfeansprüche erlangen. Umgekehrt kön-
        nen auch ausländische Männer Aufenthaltsrecht und So-
        zialhilfeansprüche durch eine zum Schein erklärte
        Anerkennung der Vaterschaft bekommen.
        Das Problem ist keineswegs neu. Seit drei Jahren ha-
        ben Parlamentarier der Union auf Landes- und auf Bun-
        desebene immer wieder auf dieses Einfallstor hingewie-
        sen. Bis heute hat die Bundesregierung nicht einmal im
        Ansatz versucht, die Lücke zu schließen.
        Lassen Sie mich von Fällen erzählen, wie sie sich in
        Berlin zugetragen haben, von Fällen, die die Problematik
        in ihrem ganzen Ausmaß dokumentieren:
        Gut organisierte Banden vermitteln ausländischen
        Frauen, die zur Ausreise verpflichtet sind, einen deut-
        schen Staatsangehörigen, der die Vaterschaft für das
        Kind der Frau anerkennt. Dabei ist der Deutsche regel-
        mäßig Sozialhilfeempfänger und er ist weder der biolo-
        gische Vater noch hat er irgendeine soziale Beziehung zu
        dem Kind. Der wirkliche Vater lebt weiter mit Mutter
        und Kind ganz offen zusammen. Ändern tut sich nach
        der zum Schein erfolgten Anerkennung der Vaterschaft
        durch einen Dritten nur eines: Das Kind erhält die deut-
        sche Staatsangehörigkeit; die Mutter ein dauerhaftes
        Aufenthaltsrecht und die ganze Familie, also auch die
        Geschwister des von dem Deutschen anerkannten Kin-
        des, erlangt umfassende Sozialhilfeansprüche. Wie ge-
        sagt, es wird nichts verheimlicht. Die ausländische Fa-
        milie lebt mit dem wirklichen Vater weiter, als sei nichts
        geschehen, denn die Anerkennung der Vaterschaft durch
        einen Dritten zum Schein ist nach deutschem Recht völ-
        lig legal.
        Das Ganze wird mittlerweile perfekt organisiert. In
        Berlin sind den Behörden Fälle bekannt, bei denen ein
        deutscher Sozialhilfeempfänger bis zu sechs Kinder ver-
        schiedener ausreisepflichtiger Frauen anerkannt hat. Da-
        bei fällt es denjenigen, die die Vaterschaftsanerkennung
        organisieren, nicht besonders schwer, Männer zu finden,
        die sich dazu bereit erklären. Sie selbst sind ja Sozialhil-
        feempfänger und deshalb keinerlei Unterhaltsansprü-
        chen ausgesetzt. Im Gegenteil: Die Ausländerfamilie
        verschafft dem deutschen Scheinvater einen lukrativen
        Nebenverdienst. Es ist in Berlin mittlerweile kein Ge-
        heimnis, dass es hierfür regelrechte Tarife gibt. Um die
        5 000 Euro liegt der Lohn für den Scheinvater.
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        Die Innenministerien der Länder haben mittlerweile
        rmittelt, um welche Größenordnung es sich hier bei den
        issbrauchsfällen in Deutschland handelt. Die ermittel-
        en Zahlen sind auch der Bundesregierung seit langem
        ekannt. Zwischen Frühjahr 2003 und Frühjahr 2004 hat
        an l 694 konkrete Verdachtsfälle ermittelt. Besonders
        chwer betroffen sind Nordrhein-Westfalen mit 398 Fäl-
        en, Brandenburg mit 207, Niedersachsen mit 183 und
        ayern mit 112 Fällen.
        Weshalb die Bundesregierung dennoch bisher nichts
        nternommen, hat, ist für mich unbegreiflich. Bereits in
        er letzten Legislaturperiode hat mein Berliner Kollege
        elias eine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung
        erichtet. Die damalige Staatssekretärin im Bundesin-
        enministerium, die Kollegin Sonntag-Wolgast, hat da-
        als in ihrer Antwort vom 12. April 2001 die Situation
        n unverantwortlicher Art und Weise heruntergespielt. Es
        eien nur vereinzelt Missbrauchsfälle vorgekommen.
        ie einzige Konsequenz, die die damalige Staatssekretä-
        in zu ziehen bereit war: Man werde die Entwicklung
        orgfältig beobachten. Eine schöne Umschreibung dafür,
        ichts zu tun. Unmittelbar nach dieser Antwort der Bun-
        esregierung hat die Berliner Senatsverwaltung für Inne-
        es an das Bundesinnenministerium gemeldet, dass es
        ntgegen der Auffassung der Bundesregierung ein mas-
        ives Auftreten des Missbrauchs des Kindschaftsrechts
        ebe. Ein Alarmbrief des damaligen Staatssekretärs in
        er Senatsinnenverwaltung Diwel, heute Staatssekretär
        m Bundesinnenministerium, geriet damals über den
        Focus“ an die Öffentlichkeit. Die Bundesregierung war
        lso über den Umfang des Missbrauchs der Vater-
        chaftsanerkennung von Anfang an umfassend infor-
        iert. Geschehen ist nichts.
        Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute
        it einem Thema, das sensibel, aber auch brisant ist. Es
        st nicht ganz neu. Die Entwicklung zeigt aber mittler-
        eile, dass ein Handeln des Gesetzgebers geboten ist.
        Um Aufenthaltsrechte und auch staatliche Leistungen
        n Deutschland zu erlangen, ist offenbar inzwischen je-
        es Mittel Recht. Bislang wurden dazu in der Regel vor-
        ehmlich Scheinehen geschlossen. Die Eheschließung
        ines Ausländers oder einer Ausländerin mit einem oder
        iner Deutschen erfolgte lediglich auf dem Papier. Das
        ingehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft war nie
        eplant. Zweck war allein, durch die Eheschließung ei-
        en gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland zu er-
        angen.
        Der Gesetzgeber hat hierauf reagiert und Regelungen
        ber die Behandlung von Scheinehen in das Familien-
        echt aufgenommen. Darüber hinaus ist das Eingehen ei-
        er Scheinehe sowie die Vermittlung nach § 92 a AuslG
        trafbar.
        Schnell hat sich leider eine neue Gesetzeslücke aufge-
        an. Sie wird auch schamlos ausgenutzt: Ausländerinnen
        hne Bleibe- oder Aufenthaltsrecht betrügen den Staat
        amit, dass sie in der Regel von Sozialhilfeempfängern
        ie Vaterschaft ihres Kindes anerkennen lassen. In ande-
        en Fällen erkennen Ausländer ohne Bleibe- oder Auf-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12743
        (A) )
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        enthaltsrecht in Deutschland das Kind einer deutschen
        Frau an.
        In beiden Fällen besteht keinerlei Verbindung zwi-
        schen der Frau und dem Mann. Zwischen dem Vater und
        dem Kind ist weder eine biologische noch eine soziale
        Beziehung vorhanden. Trotzdem erwirbt das Kind mit
        der rechtlichen Anerkennung der Vaterschaft bei einer
        ausländischen Frau die deutsche Staatsangehörigkeit.
        Damit dürfen alle Angehörigen des Kindes ersten Gra-
        des, das heißt seine ausländische Mutter und weitere
        Kinder in Deutschland bleiben oder wieder nach
        Deutschland einreisen. Im anderen Fall erhält der aner-
        kennende ausländische Vater eines deutschen Kindes
        ebenfalls ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht. In der Regel
        werden dann in beträchtlicher Höhe durch den Staat So-
        zialleistungen für alle erbracht.
        Gezielt werden Sozialhilfeempfänger für die Vater-
        schaftsanerkennung gesucht: Denn sie sind finanziell
        nicht in der Lage, die mit der Anerkennung entstehenden
        Unterhaltsverpflichtungen für das Kind und auch die
        Mutter zu tragen. Der Staat zahlt. Eine Handhabe dage-
        gen gibt es nicht. Die rechtliche Anerkennung nicht leib-
        licher Kinder aus sachfremden ist bisher legal. Dies ist
        allerdings nicht länger hinnehmbar. Ungeachtet der Mil-
        lionen zu Unrecht gezahlten Sozialleistungen der öffent-
        lichen Hand zulasten der Allgemeinheit sind die Folgen
        für das betreffende Kind verheerend. Die Anerkennung
        durch den falschen Vater vereitelt sein Recht auf Kennt-
        nis der Abstammung und Umgang mit dem leiblichen
        Vater. Dies stellt einen erheblichen Eingriff in das grund-
        rechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht des Kindes
        – Art. 2 Abs. 1 und Artikel 6 GG – dar.
        Die Innenministerkonferenz der Länder hat sich Ende
        2002 mit der Thematik befasst, nachdem sich unter an-
        derem in Berlin und in Hamburg die Verdachtsfälle von
        Scheinvaterschaften beträchtlich häuften. Auf Initiative
        von Bremen untersuchte zwischenzeitlich eine Arbeits-
        gruppe im Rahmen der Innenministerkonferenz die Ent-
        wicklung von Scheinvaterschaften in allen Bundeslän-
        dern. Das Ergebnis liegt vor: Allein im Zeitraum
        Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 betrug die Zahl der Ver-
        dachtsfälle des Leistungsmissbrauches und der Erschlei-
        chung von Aufenthaltstiteln bundesweit 1 694. Nach
        vorliegenden Erkenntnissen hat sich das Geschäft mit
        zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennungen inzwischen
        zu einer lukrativen Einnahmequelle entwickelt, mit der
        bei nahezu keinem Risiko sehr hohe Profite erzielt wer-
        den. Dem muss jetzt ein Riegel vorgeschoben werden.
        Mangels finanzieller Leistungsfähigkeit der anerken-
        nenden Väter entstehen zu ihren Lasten keine materiel-
        len Nachteile, strafrechtliche Konsequenzen gibt es auch
        keine und als Belohnung für die Anerkennung werden
        Beiträge bis zu 10 000 Euro pro Fall gezahlt. Die Allge-
        meinheit muss oft für Sozialleistungen jahrelang auf-
        kommen. Das scheint inzwischen ebenso gut durch pro-
        fessionelle Schleuserbanden organisiert zu sein wie der
        Menschenhandel. Dort haben wir noch bestehende Ge-
        setzeslücken gerade geschlossen bzw. sind dabei. Bei
        den Scheinvaterschaften müssen wir es nun auch tun.
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        Derzeit kann bei uns die Vaterschaft durch Anerken-
        ung wirksam begründet werden, wenn sie bewusst
        ahrheitswidrig ist und allein den Zweck verfolgt, in
        eutschland ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht zu erwir-
        en. Vor der Kindschaftsrechtsreform 1998 war für die
        aterschaftsanerkennung noch die Zustimmung durch
        as Kind und dessen gesetzlich vorgeschriebene Vertre-
        ung vor dem Jugendamt erforderlich. Dieses Zustim-
        ungserfordernis ist weggefallen. Die Stellung der Mut-
        er wurde gestärkt und es wurde ihr überlassen, auch
        enjenigen als Vater zu akzeptieren, der es genetisch
        icht ist, es – im Hinblick auf gewachsene oder neu ent-
        tehende familiäre Strukturen – aber sein will. Dieser so
        enannte „soziale Vater“ darf jetzt auf keinen Fall in-
        rage gestellt werden.
        Der Gesetzgeber konnte bei der Reform nicht damit
        echnen, dass es hier einmal einen Missbrach zulasten
        es Staates und insbesondere auch der Kinder geben
        önnte. Dieses Problem hat aber nicht nur Deutschland.
        ährend man in Frankreich die Ausländergesetze zur
        ekämpfung illegaler Einwanderung reformiert und für
        lternteile eines französischen Kindes die Anspruchsvo-
        aussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis verschärft
        at, hat die Schweiz hier der öffentlichen Hand – der
        eimat – und Wohnsitzgemeinde ein Anfechtungsrecht
        ei Vaterschaftsanerkennungen eingeräumt.
        Nach Prüfung der Rechtslage in Deutschland er-
        cheint weder eine Änderung des Staatsangehörigkeits-
        echts noch des Ausländergesetzes, wohl aber eine
        esetzesänderung des Kindschaftsrechts durch Erweite-
        ung der Anfechtungsberechtigten um eine staatliche
        telle geeignet, dem Problem der zweckwidrigen Vater-
        chaftsanerkennung adäquat zu begegnen. Zum Schutz
        eutsch-ausländischer Paare und dort vollzogener Vater-
        chaftsanerkennungen müssen – um sie nicht unter Ge-
        eralverdacht zu stellen – die Hürden für ein Anfech-
        ungsrecht eines öffentlichen Trägers ausreichend hoch
        ngesetzt werden. Wir wollen das Schützenswerte schüt-
        en und den Missbrauch ausschließen. In den jetzt anste-
        enden weiteren Beratungen werden wir geeignete Lö-
        ungswege aufzeigen.
        Josef Philip Winkler (BÜNDNIS/90 DIE GRÜ-
        EN): Nach dem vorliegenden Antrag sollen die zustän-
        igen Länderbehörden ein Anfechtungsrecht bezüglich
        er Vaterschaft erhalten, wenn es Hinweise gibt, dass die
        aterschaft ausschließlich zur Erlangung von Aufent-
        altstiteln oder Sozialleistungen anerkannt wird. Be-
        ründung der Unions-Fraktion: Es gebe immer mehr
        issbrauchsfälle, in denen weder eine biologische noch
        ine soziale Vater-Kind-Beziehung bestehe und die Va-
        erschaft nur anerkannt werde, um der Mutter einen Auf-
        nthaltstitel bzw. dem Kind die deutsche Staatsbürger-
        chaft zu verschaffen. Auch würden professionelle
        chleuserbanden dies immer mehr als Geschäftsfeld ent-
        ecken.
        Zum Hintergrund: Insbesondere im Land Berlin, aber
        uch in NRW soll es Missbrauchsfälle gegeben haben, in
        enen sich ausreisepflichtige Mütter oder Väter wie be-
        chrieben, einen Aufenthalt „erschlichen“ haben. Diese
        12744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Zahlen liegen uns leider noch nicht vor. Die Thematik
        hat einen zweijährigen Vorlauf bei der Innenminister-
        konferenz; bisher gab es kein empirisch gesichertes Zah-
        lenmaterial. Auch das jetzt von den Ausländerbehörden
        gelieferte Material ist nach unserer Ansicht nicht hinrei-
        chend aussagekräftig. Lassen Sie mich auf die Schwä-
        chen im vorliegenden Unionsantrag zu sprechen kom-
        men:
        Er bezieht sich nur auf Frauen ohne Aufenthaltsrecht,
        die über einen deutschen Mann oder einen ausländischen
        Mann und damit über einen sicheren Aufenthalt ihres
        Kindes selbst ein Aufenthaltsrecht erhalten können. Die
        umgekehrte Richtung wäre aus Sicht der Union also
        nicht möglich.
        Nach Angaben der Union nimmt seit 2001 die Zahl
        der Missbrauchsfälle stetig zu. Wie sie zu einer solchen
        Einschätzung kommt, ist unklar, da in der von der IMK
        beschlossenen Erhebung bei den Ausländerbehörden al-
        lein der Zeitraum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 er-
        fasst ist.
        Außerdem – und das sagt die Union auch selbst –
        handelt es sich allenfalls um Verdachts- und nicht um
        Missbrauchsfälle. In der Erhebung der Ausländerbehör-
        den wurde nämlich allein die Zahl der Vaterschaftsaner-
        kennungen erfasst, woraus noch lange nicht die Miss-
        brauchsfälle abzulesen sind. Genausogut könnten sie
        sagen, dass, wenn im Jahr 2003 30 Millionen Steuerer-
        klärungen abgegeben wurden, es möglicherweise bis zu
        30-millionenfachen Steuerbetrug gibt.
        Ein anderer wichtiger Punkt des Unionsantrages ist
        neben der angeblichen Erschleichung von Aufenthaltsti-
        teln der Verdacht des Leistungsmissbrauchs: Durch die
        Vaterschaftsanerkennung „erlangen alle Beteiligten ei-
        nen Anspruch auf Sozialhilfe“. Die Erhebung der Aus-
        länderbehörden umfasste jedoch – naturgemäß – über-
        haupt nicht die Bedürftigkeit der Betroffenen. Es ist
        daher klar, dass es sich bei dieser Behauptung um reine
        Spekulation handelt.
        Gleiches gilt für die Annahme, dass Schleuserbanden
        als „Vaterschaftsvermittler“ in großem Maße tätig wer-
        den. Hierzu gibt es unseres Wissens keinerlei empirisch
        gesichertes Material.
        Die Union sieht besonders verheerende Folgen für die
        betroffenen Kinder. Die Anerkennung durch den „fal-
        schen“ Vater vereitele ihre Rechte auf Kenntnis der Ab-
        stammung und Umgang mit dem leiblichen Vater. Dies
        ist jedoch ein allgemeines – wenn man so will – „Pro-
        blem“ des neuen Kindschaftsrechts. Das neue Kind-
        schaftsrecht akzeptiert nicht nur den biologischen, son-
        dern auch den sozialen Vater. Will man hier also
        Änderungen vornehmen, sind Grundsätze des 1999 re-
        formierten Kindschaftsrechtes betroffen.
        Es ist aber fraglich, ob das Kindeswohl tatsächlich für
        eine Aufhebung der so genannten „falschen“ Vaterschaft
        mit dem daraus resultierenden Verlust des Aufenthalts-
        rechtes spricht, so auch der Zwischenbericht der IMK.
        Dass es eine Anfechtungsbefugnis öffentlicher Stellen
        im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnun-
        gen „noch nicht“ gibt – als Beispiel wird § 260 a des
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        chweizer Zivilgesetzbuches genannt –, liegt unter an-
        erem auch am reformierten Kindschaftsrecht. Vor der
        eform des Kindschaftsrechtes musste auch das nicht-
        heliche Kind der Vaterschaftsanerkennung zustimmen,
        as durch das Jugendamt in Amtspflegschaft erfolgte.
        iese Bevormundung der Mutter durch den Staat wollte
        an jedoch gerade abschaffen.
        Die Union will zumindest Hürden für ein Anfech-
        ungsrecht der Ausländerbehörden aufbauen. Kriterien
        ie die fehlende soziale Beziehung zwischen Vater und
        ind oder die fehlende Bereitschaft des Vaters, für das
        ind zu sorgen, sind jedoch abzulehnen. Die Feststel-
        ung der sozialen Beziehung kann nicht wie bei einer
        cheinehe an einer familiären Lebensgemeinschaft fest-
        emacht werden. Väter kümmern sich heutzutage häufig
        uch viel um ihre Kinder, ohne mit ihnen zusammen zu
        ohnen. Hier stellt sich weiterhin die Beweisfrage. Ein
        bstellen auf die fehlende Bereitschaft des Vaters, für
        as Kind zu sorgen, würde zu einer Diskriminierung und
        u einem Generalverdacht gegen Sozialhilfeempfänger
        ühren.
        Ein Zurückdrehen der Kindschaftsrechtsreform ist
        it Rot-Grün nicht zu machen. Der Gesetzgeber hat bei
        ieser Reform bewusst auf eine behördliche Beteiligung
        ei der Vaterschaftsfeststellung unehelicher Kinder ver-
        ichtet und damit die Rechte der Mütter gestärkt. Staatli-
        he Stellen haben weder bei ehelichen noch bei uneheli-
        hen Kindern von Deutschen das Recht, die Vaterschaft
        es biologischen oder auch des sozialen Vaters in Zwei-
        el zu ziehen. Gleiches muss auch für die Kinder von
        usländischen Vätern oder Müttern und für binationale
        aare gelten. Ein behördliches Anfechtungsrecht öffnet
        ür und Tor für einen Generalverdacht gegen alle Fami-
        ien mit einem ausländischen Elternteil mit unsicherem
        ufenthalt. Soll der Staat herumschnüffeln, was die Mo-
        ive einer Vaterschaftsanerkennung waren? Ich verweise
        ier noch mal auf die Ihnen bekannte Stellungnahme der
        rbeitsgruppe der IMK, die festgestellt hat, dass die
        ugendämter bundesweit – bis auf einige Ausnahmen
        keinen nennenswerten Missbrauch von Vaterschafts-
        nerkennungen zum Zwecke der Aufenthaltserlangung
        estgestellt“ haben.
        Und zu den Fällen, in denen es doch einmal zum
        issbrauch gekommen ist: Gerade in der Vorweih-
        achtszeit sollten Sie sich mal an die Weihnachtsge-
        chichte – in der ja die Frage der Vaterschaftsanerken-
        ung eine wesentliche Rolle spielt – erinnern. In was für
        iner verzweifelten Lage muss eine ausländische Mutter
        igentlich sein, wenn sie die Abstammung ihres Kindes
        egen einer Aufenthaltserlaubnis verleugnet?
        Aber, wie gesagt, ich halte das für eine seltene Aus-
        ahme und daher lehnen wir Ihren Antrag ab.
        Sibylle Laurischk (FDP): Vor neun Monaten stand
        ch hier schon einmal, um über die Anfechtung der Va-
        erschaft zu sprechen, allerdings zum Wohle des Kindes.
        as heute in Rede stehende Phänomen war damals
        chon hinreichend bekannt, sodass es verwundert, dass
        s nicht schon im Februar von der antragstellenden
        nion thematisiert wurde.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12745
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        Viel lieber als über Vaterschaftsanfechtung würde ich
        in diesem Hause über die Übernahme von Vaterverant-
        wortung sprechen, das vorneweg und nebenbei.
        Die Sache selbst ist durchaus ernst, die Zahl der Ver-
        dachtsfälle so genannter Imbissväter allein für den Zeit-
        raum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 wird auf
        1 700 bundesweit geschätzt, wobei die erhobenen Daten
        wegen der mangelnden Aufklärung der tatsächlichen
        biologischen oder sozial-familiär vermittelten Vater-
        schaft kaum belastbar erscheinen, was der Bericht des
        Arbeitskreises 1 der Ständigen Konferenz der Innen-
        minister und -senatoren vom 7./8. Oktober 2004 selbst
        einräumt. Eine über diese Verdachtsfälle hinausgehende
        Dunkelziffer gibt es nicht, da die Innenminister alle
        Fälle der Aufenthaltsrechtserteilung nach Vaterschaftsa-
        nerkennung statistisch erfasst haben. Davon ausgehend,
        dass mit der zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennung
        nicht nur Aufentshaltstitel für einen Elternteil und
        Staatsbürgerschaft für das Kind, sondern auch daran an-
        knüpfende Sozialleistungen erschlichen werden, können
        wir das fiskalische Interesse nicht leugnen: Plünderung
        unserer überstrapazierten Sozialkassen darf es nicht ge-
        ben. Insofern verwundert die bevorstehende Initiative
        der IMK zu diesem Thema, dem der vorliegende Antrag
        vorgreift, nicht.
        Allerdings befremdet mich der Anknüpfungspunkt
        für eine Missbrauchsverhinderung, die beabsichtigte Än-
        derung des Kindschaftsrechts. Mit gutem Grund ist mit
        der Reform des Kindschaftsrechts 1998, übrigens noch
        zu Zeiten der Koalition von Union und FDP, die Zustim-
        mungspflicht des Jugendamtes zur Vaterschaftsanerken-
        nung abgeschafft worden, um diesen Kernbereich fami-
        liärer und personeller Selbstbestimmung vor staatlichem
        Zugriff und Gestaltung zu bewahren. Wie sollte denn ein
        Anfechtungsrecht der „zuständigen Behörden“ der Län-
        der aussehen, wer sollte das sein, Sozialamt, Jugendamt,
        Staatsanwaltschaft? Oder kommt die Ausländerbehörde?
        Immerhin geht es hier um minderjährige, möglicher-
        weise neugeborene Kinder. Wie sollen die „Hinweise“
        aussehen, die ein solches Anfechtungsrecht auslösen
        soll? Wie sollen wir uns die Ermittlung der wahren Va-
        terschaft vorstellen. Einfacher, genetischer Vaterschafts-
        test mit Speichelprobe oder qualifizierter Vaterschafts-
        test durch Feststellung einer sozial-familiären Beziehung
        zwischen Vater und Kind? Einen solchen Vaterschafts-
        test der höheren Art würde übrigens eine Vielzahl von
        biologischen Vätern auch nicht bestehen, eine Hürde für
        das Anfechtungsrecht, wie im Antrag beschrieben,
        stellte dies auch nicht dar. – Kurz, wir halten das Bürger-
        liche Gesetzbuch nicht für den systematisch richtigen
        Ort, missbräuchliche Vaterschaftserklärungen zu be-
        kämpfen.
        Wir sollten die vorhandenen Mittel des Rechtsstaats
        nutzen, weshalb ich die Länder dazu auffordere, die
        Möglichkeiten de lege lata auszuschöpfen. Die wahr-
        heitswidrige Vaterschaftsanerkennung ist auch unter
        dem Aspekt des Persönlichkeitsrechts des Kindes nicht
        hinzunehmen und erst recht nicht der damit oft einherge-
        hende Betrug zum Nachteil der Sozialkassen. Benennen
        wir doch das Problem, wie es ist, und verfolgen es auch
        als ein solches: Wenn einem deutschen Mann sach-
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        remde Vorteile dafür versprochen oder gewährt werden,
        ass er die Vaterschaft wahrheitswidrig für ein ausländi-
        ches Kind anerkennt, ist dies allein schon zum Schutz
        es Kindes missbilligenswert, ebenso die Vorteilsgewäh-
        ung gegenüber einer deutschen Mutter, die einen aus-
        ändischen Vater wahrheitswidrig die Vaterschaft für ihr
        ind anerkennen lässt, um diesem Scheinvater einen
        ufenthaltstitel zu verschaffen. Hier ist die Überprüfung
        usländerrechtlicher und sozialrechtlicher Vorschriften
        efragt. Einer Änderung des Kindschaftsrechts können
        ir nicht zustimmen. Ein sozial- und innenpolitisches
        roblem sollte nicht in den Regelungskreis des BGB
        erlagert werden. Versuchen wir nicht, binationale Be-
        iehungen generell unter einen Verdacht zu stellen, wenn
        uch die Mutter und das Kind oder der ausländische Va-
        er Vorteile aus einer solchen Bindung an einen Deut-
        chen ziehen mögen.
        Mir scheint der Antrag der Union zu sehr vom
        unsch nach tagespolitischen Effekten geprägt zu sein.
        eider trifft dies die Falschen, nämlich die Kinder, wes-
        alb wir den Antrag ablehnen.
        nlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlungen und
        Berichte zu den Anträgen:
        – Umsetzung des nationalen Radverkehrs-
        plans 2002–2012 forcieren
        – Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht
        vorlegen
        – Den Fahrradtourismus in Deutschland um-
        fassend fördern
        (Tagesordnungspunkt 12 a und b)
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ich freue mich, als neu
        ewählte Berichterstatterin für das Thema Fahrradtouris-
        us im Tourismusausschuss zu sprechen! Denn: Der
        ahrradtourismus in Deutschland ist ein wichtiges – lei-
        er häufig unterschätztes – Thema, wie nicht zuletzt die
        päte Debattenzeit zeigt.
        Warum setzt sich die SPD-Fraktion für die Förderung
        es Fahrradtourismus ein? Dafür gibt es mehrere gute
        ründe, aus denen ich fünf herausgreifen möchte:
        Erstens. Der Fahrradtourismus boomt: Über 2 Millio-
        en Deutsche verbrachten 2003 ihren Urlaub überwie-
        end im Fahrradsattel. Das entspricht einer Zunahme
        on 12,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und der Boom
        eim Radurlaub hält an: Rund 6,5 Millionen Deutsche
        lanen für die nächsten drei Jahre mindestens eine
        adreise.
        Zweitens. Das Fahrrad ist ein Wirtschaftsfaktor: Im
        ahrradtourismus werden jährlich rund 5 Milliarden
        uro umgesetzt. Namhafte Veranstalter von Radpau-
        chalen verzeichneten 2003 zweistellige Zuwächse. Der
        bsatz von Karten und Radwanderführern konnte 2003
        iederum gesteigert werden. Erfolgreichstes Produkt ist
        12746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
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        die ADFC-Radtourenkarte, die – seit ihrem Ersterschei-
        nen 1990 – im Jahr 2003 einen Gesamtabsatz von über
        2 Millionen Exemplaren erreichte. Damit gilt sie als die
        erfolgreichste Radlerkarte der Welt.
        Drittens. Radfahren kann jeder: Für uns Sozialdemo-
        kratinnen und Sozialdemokraten hat die Förderung von
        Urlaubsformen, die für möglichst viele Menschen nutz-
        bar sind, Priorität, und Fahrradurlaub ist eine Form des
        Reisens, die für viele Zielgruppen geeignet ist. Ob Fami-
        lie oder Single, ob jung oder alt – fast jeder kann sich in
        den Sattel schwingen. Die Kosten, insbesondere bei ei-
        nem Inlandsurlaub, sind vergleichsweise gering, sodass
        diese Form des Reisens auch für Menschen mit kleinem
        Portemonnaie geeignet ist.
        Viertens. Radreisen schützen die Natur: Uns Sozial-
        demokratinnen und Sozialdemokraten liegt das Thema
        Umwelt- und Naturschutz am Herzen. Auch aus diesem
        Grund halten wir den Fahrradtourismus für besonders
        förderungswürdig, denn er ermöglicht Erholung in und
        mit der Natur, ohne Luftverschmutzung und mit gerin-
        gem Flächenverbrauch.
        Fünftens. Mit dem Radtourismus werben wir für
        Deutschland: Der Boom beim Fahrradurlaub nützt vor
        allem dem Deutschlandtourismus, denn ein großer Teil
        der Fahrradurlauber bleibt im Land, und es kommen zu-
        nehmend Gäste aus dem Ausland hierher, um Deutsch-
        land vom Sattel aus zu erkunden. Diese Zuwächse sind
        kein Zufall, denn kaum ein anderes Land wirbt so inten-
        siv um die Zielgruppe der Radfahrer. Laut Länderver-
        gleich des ADFC halten Deutschland und Österreich das
        nutzerfreundlichste Angebot für Urlauber bereit, wäh-
        rend beliebte Urlaubsländer wie Spanien, Italien oder die
        USA schlechtes oder gar kein Informationsmaterial bie-
        ten. Deutschland weist mit seiner serviceorientierten
        Broschüre „Deutschland per Rad entdecken“, die mehr
        als 50 Routen und Regionen vorstellt, und dem dazuge-
        hörigen Internetauftritt ein schlüssiges Konzept vor.
        Wir müssen viel vernetzter denken. Warum sage ich
        das? Seit dem vergangenen Jahr stellen wir jährlich
        10 Millionen Euro für den Ausbau von Betriebswegen
        an Bundeswasserstraßen zur Verfügung: Da diese Wege
        landschaftlich besonders reizvoll, meist frei von Autos
        und oft historisch interessant sind, etwa im Bereich des
        Elbe-Lübeck-Kanals mit der Alten Salzstraße, werden
        sie von Radlern gut angenommen. Leider sind viele die-
        ser Wege in einem Zustand, der ein zügiges oder auch
        nur sicheres Fortkommen für Radfahrer nicht erlaubt.
        Deshalb haben wir uns entschlossen, für den fahrradge-
        rechten Ausbau der Uferwege zu sorgen.
        Der Radwegebau an Flüssen und Kanälen bietet die
        Chance, das landseitige Angebot für Radfahrer, Wande-
        rer und Spaziergänger mit wasserseitigen Aktivitäten zu
        verbinden. Hier ist vernetztes Denken gefragt: Wir dür-
        fen nicht länger jede Sportart oder Tourismussparte für
        sich betrachten, sondern sollten die Voraussetzungen da-
        für schaffen, dass attraktive Kombinationsangebote ent-
        wickelt werden können. In Niedersachen gibt es bereits
        das erfolgreiche Angebot „Paddel & Pedal“, das Fahr-
        rad- und Kanuurlaub miteinander verbindet. Solche
        Kombinationen sind ausbaufähig, wenn wir gemeinsam
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        it den Ländern und Kommunen dafür sorgen, dass die
        enötigte Infrastruktur zu Lande und zu Wasser zur Ver-
        ügung steht.
        Was mir allerdings Sorgen macht: So richtig und
        ichtig der Ausbau von Betriebswegen also ist, so hat es
        och, und das möchte ich nicht verschweigen, bei der
        onkreten Umsetzung Schwierigkeiten gegeben. Die
        onstruktion, dass Mittel nur beantragt werden können,
        enn das zuständige Wasser- und Schifffahrtsamt einen
        igenen Bedarf für den Ausbau sieht, hat sich als proble-
        atisch erwiesen. Vielfach, so auch in meinem Wahl-
        reis, sind die Ämter nicht gewillt, Gelder zu beantra-
        en, weil der Zustand der Wege für die Befahrung mit
        hren Maschinen noch ausreicht. Die Folge: Von den be-
        eitgestellten 10 Millionen Euro wurden bislang in 2004
        ur knapp 500 000 abgerufen. Wir als SPD-Bundestags-
        raktion fordern die Bundesregierung deshalb auf, für ei-
        en besseren und zügigen Abfluss der Mittel Sorge zu
        ragen. So steht es auch in unserem Antrag. Das Ver-
        ehrsministerium hat das Problem ebenfalls erkannt und
        rbeitet mit Hochdruck an einer Lösung.
        Ich habe bereits die Notwendigkeit angesprochen,
        eim Tourismus stärker vernetzt zu denken. Ein erfolg-
        eiches Beispiel für eine solche Vernetzung, in diesem
        all zwischen Radfahrern und Übernachtungsbetrieben,
        t das Label „Bett & Bike“. Die Zahl der fahrradfreund-
        chen Beherbergungsbetriebe mit dem ADFC-Gütesie-
        el ist von 216 im Jahr 1995 auf über 3 500 im Jahr 2004
        estiegen. Damit ist „Bett & Bike“ die erfolgreichste
        ielgruppenbezogene Marketingkooperation von Gast-
        etrieben in Deutschland. In meinem Heimatland
        chleswig-Holstein ist es in diesem Jahr erstmals gelun-
        en, einen regionalen „Bett & Bike“-Führer herauszuge-
        en. Der ADFC hat hier hervorragende Arbeit geleistet
        nd viele Betriebe überzeugt, künftig fahrradfreundli-
        hen Service anzubieten. Ich selbst habe die Werbung
        ür „Bett & Bike“ in meinem Wahlkreis tatkräftig unter-
        tützt. Im ersten Verzeichnis sind 175 Hotels, Pensionen,
        ugendherbergen, Campingplätze, Heu-Herbergen und
        aturfreundehäuser aufgeführt, die auf die besonderen
        edürfnisse von radelnden Gästen eingehen und signali-
        ieren: „Radfahrer willkommen“. Für das nächste Ver-
        eichnis ist mit einem weiteren Anstieg der beteiligten
        etriebe zu rechnen.
        Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, auch
        ie bewegt das Thema Fahrradtourismus, das stellen Sie
        dem vorliegenden Antrag dar. Zu Ihren Feststellungen
        nd den Schlüssen, die Sie daraus ziehen, ist in der ers-
        n Debatte von meinen Kolleginnen bereits alles Wich-
        ge gesagt worden. Wir stimmen ja grundsätzlich über-
        in: Natürlich ist es wünschenswert, möglichst genaue
        tatistiken über den Fahrradtourismus zu haben. Man
        arf hier aber auch nicht übertriebene Erwartungen ha-
        en, einiges gibt es schon und letztlich hängt die Attrak-
        vität des Fahrradtourismus wirklich nicht an der Daten-
        ge.
        Auch wir wollen gute Transportmöglichkeiten für
        ahrräder in der Bahn. Wir fordern deshalb in unserem
        eute debattierten Antrag die Bahn auf, ein Konzept für
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12747
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        die Fahrradmitnahme unter Berücksichtigung des ICE
        vorzulegen.
        Natürlich wollen auch wir mehr Abstellplätze für
        Fahrräder und bessere Sicherheit vor Diebstahl. Wir sind
        hier in Bund-Länder-Gesprächen und erwarten gute Er-
        gebnisse. Ihr Antrag wiederholt Bekanntes und fordert
        Dinge, die überflüssig sind oder die wir bereits machen –
        deswegen lehnen wir ihn ab!
        Deutschland, das hatte ich bereits erwähnt, ist ein
        fahrradfreundliches Land. Wir haben hier vielen Staaten
        etwas voraus – diesen Vorteil müssen wir nutzen. Wir
        wissen allerdings auch um die Chancen zu weiteren Ver-
        besserungen und sind bereit, sie gemeinsam mit der
        Bundesregierung anzugehen.
        Heidi Wright (SPD): Weder die Tageszeit noch das
        Jahreswetter eignet sich wirklich gut zum Fahrradfahren,
        umso besser eignet es sich, die Umsetzung des Natio-
        nalen Radverkehrsplanes voranzubringen. Dies tun wir
        natürlich nicht nur mit dieser Debatte, sondern mit den
        wichtigen Umsetzungsschritten der vergangenen Monate
        und den notwendigen weiteren Umsetzungsschritten in
        Zukunft.
        Ich darf uns alle zu dieser Umsetzung weiter auffor-
        dern und nicht nur in unserer Arbeit im Deutschen Bun-
        destag, sondern in unseren oft vielfältigen Funktionen
        und Einflussmöglichkeiten auf kommunaler Ebene.
        Keine Frage, alle haben es erkannt – Fahrradpolitik ist
        ein Gewinnerthema und alle – oder zumindest viele –
        stricken mit an dem Muster der Fahrradpolitik. Diese
        wurde von dieser Bundesregierung mit der Aufstellung
        des Nationalen Radverkehrsplanes aus dem Schattenda-
        sein herausgeholt und mit einer eigenen Planstelle im
        Ministerium, mit eigenen Haushaltstiteln – mehreren –,
        mit dem Aufbau eines Internetportals als Kommunika-
        tionsplattform für Bund, Länder, Verbände und Fach-
        kreise versehen.
        Das Gewinnerthema Radpolitik hat viele Aspekte. Es
        trägt bei zu einer besseren, flexibleren Mobilität. Es trägt
        bei zur Umweltentlastung. Es reduziert die Mobilitäts-
        kosten der Verbraucher: Mineralölpreis. Es entlastet das
        Verkehrschaos in den Städten. Es trägt zu mehr Wohlbe-
        finden und Gesundheit durch Bewegung bei.
        Nur leider sind wir in Deutschland noch recht am An-
        fang der Entwicklung, diese Aspekte auch wirklich zu
        realisieren.
        Also, so ganz das Fahrradland sind wir in Deutsch-
        land noch nicht – aber wir haben mehr als den guten
        Willen. Wir haben den politischen Willen. Wir haben die
        Erkenntnis in die Notwendigkeit. Wir haben höchst ak-
        tive Partner, Akteure und Unterstützer. Wir haben in
        Deutschland inzwischen ein sehr positives öffentliches
        Bewusstsein für das Fahrradfahren in der Freizeit und
        zum Sport, aber auch für tägliche Besorgungen, zur Ar-
        beit, zur Schule.
        Bewusstseinsbildung fängt ja nicht hier im Bundestag
        an – wir können das nur unterstützen.
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        Bewusstseinsbildung findet draußen, in den Familien,
        n den Kindergärten, in den Schulen und in den Cliquen
        tatt. Es muss einfach cool sein, Fahrrad zu fahren: mit
        em Fahrrad zur Schule, mit dem Fahrrad zur Arbeit, mit
        em Fahrrad auch über den Führerschein hinaus. Das
        uto ab 18 bzw. die ab 18 auftretende Fußkrankheit ist
        icht cool.
        Mit dem politischen Hintergrund des Radverkehrspla-
        es und insbesondere den neuen finanziellen Möglich-
        eiten konnte bereits einiges bewirkt werden. Wir sorgen
        trotz schwieriger Haushaltssituation – für Geld für den
        adwegebau an Bundesstraßen. Wir sorgen für die Ver-
        tetigung der Mittel im Haushaltsplan. Wir konnten die
        nvestitionen in 2002 und 2003 auch etwas steigern.
        anz zufrieden stellend ist das für mich jedoch noch
        icht.
        Ganz besonders gilt das für Radwege an Bundes-
        asserstraßen. Hier werden die vorgesehenen Mittel
        icht ausgeschöpft: veranschlagte Ausgaben rund
        80 000 Euro. Deshalb haben wir in Auftrag gegeben,
        orschläge zur besseren Umsetzung zu erarbeiten.
        Als wichtig haben wir auch erkannt, dass die Investi-
        ionsmittel das eine wichtige, die nicht investiven Mittel
        edoch ebenso wichtig sind. Ich bin ganz fest davon
        berzeugt, dass es richtig war, hier einen eigenen Titel
        u schaffen, und danke unseren Haushältern – liebe
        nnette Faße, ich weiß, Du hast Dich da sehr eingesetzt.
        Mit den nicht investiven Mitteln konnten unterstützt
        erden: der bundesweite Wettbewerb Best-of-Bike, die
        uflage des NRVP in englischer und russischer Sprache,
        iverse Fachveranstaltungen, unter anderem die Impuls-
        eranstaltung „Kinder in Bewegung“, aber auch Aktio-
        en des ADFC, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-
        lubs, der in diesem Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert
        nd echt ein tolles Rad dreht, also Aktion des ADFC mit
        er AOK „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“, Projekt des
        DFC zur Zweiten aktualisierten Fernradwegekarte so-
        ie das ADFC-Projekt „Radreiseanalyse 2005“.
        Wir können uns freuen, dass wir diese Projekte mit
        icht unerheblichen finanziellen Mitteln unterstützen
        önnen. Diese sind jedoch wirklich nur eine Unterstüt-
        ung, denn Deutschland ist groß und es liegt enorm viel
        rbeit an. Diese wird mit unglaublichem Engagement
        on vielen Ehrenamtlichen geleistet. Hier geht mein aus-
        rücklicher Dank an alle, die sich einsetzen und an der
        ktualisierung der Fernradwegekarte arbeiten.
        Ich bin sicher, hier wird etwas Bleibendes geschaffen
        nd etwas wirklich Sinnvolles vorangebracht. Herzli-
        hen Dank!
        Zum Abschluss der Aufzählung der guten Taten: In
        er nächsten Woche werden wir einen Fahrradkongress
        n Berlin haben, bei dem die Aktivitäten in den Regionen
        nd best practice dargestellt werden und aus dem weitere
        mpulse gewonnen werden müssen.
        Abstimmungsarbeit steht an. So liegt aktuell die Ver-
        rdnung der Änderung straßenverkehrsrechtlichen Vor-
        chriften zur StVO vor.
        12748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Und das ruft mir in Erinnerung die Regelung für mehr
        Sicherheit für Fahrradfahrer, die wir mit dem verbesser-
        ten Sichtfeld für LKW-Fahrer – Ausschaltung des toten
        Winkels – gemacht haben. Wie sieht hier die Praxis aus?
        Von der Vorsitzenden des Arbeitskreises Sicht und
        Bediensicherheit des Verbandes der Automobilindus-
        trie, VDA, Frau Elisabeth Frank, wurde auf meine An-
        frage nochmals bestätigt, dass die deutsche Automobil-
        industrie nach wie vor zu ihrer Zusage steht, so schnell
        wie möglich die Neufahrzeuge über 7,5 Tonnen mit dem
        neuen Spiegelsystem auszurüsten sowie diese Spiegel
        auch für die Nachrüstung anzubieten.
        Ein Aspekt beschwert unsere doch recht positive Ar-
        beit für den Fahrradverkehr – die Mitnahme des Fahr-
        rads auch im ICE.
        Also ich muss das hier nicht lang und breit ausführen.
        Der ADFC und seine Mitglieder fordern das. Ich will das
        und fordere das. Die Opposition will das und fordert das.
        Die Bahn will nicht und erklärt hinlänglich umständlich
        und nicht nachvollziehbar, dass sie das nicht will.
        Liebe Bahn, die Forderung – Fahrrad im ICE – steht
        in unserem Antrag drin, also werden wir da dranbleiben.
        Ich kann die Opposition nur aufordern, sich an der Über-
        zeugungsarbeit an der Bahn mit zu beteiligen – wir fei-
        ern dann auch gemeinsam.
        Zum Schluss, trotz Wetter, Winter und sonstige Wi-
        drigkeit: Das Fahrrad ist ein Verkehrsmittel der Zukunft.
        Das Fahrrad gehört zu einer zukunftsfähigen Verkehrs-
        politik wie die Sonnenenergie zu einer zukunftsfähigen
        Energiepolitik.
        So wie es uns mit einer vernünftigen Politik gelungen
        ist, so richtig die Sonne anzuzapfen, müssen wir mit ei-
        ner vernünftigen Politik dafür sorgen, dass sich die Rä-
        der im Fahrradverkehr immer mehr und besser drehen.
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die
        von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mitte der 90er-
        Jahre eingebrachte Initiative zur Schaffung eines Natio-
        nalen Radverkehrsplanes ist von der Bundesregierung in
        der Zwischenzeit umgesetzt worden. Das begrüßen und
        anerkennen wir. Doch wir beklagen, dass zwischen An-
        spruch und Wirklichkeit der Berliner Politik für das Ver-
        kehrsmittel „Fahrrad“ ein zunehmender Widerspruch
        deutlich wird.
        Doch zunächst zu den kleinen Kuriositäten unseres
        parlamentarischen Systems: Diesem haben wir es zu ver-
        danken, dass wir die zwei – zu Sommeranfang gestellten –
        Anträge zum Fahrradverkehr genau dann debattieren,
        wenn es draußen nass und kalt wird und so mancher sein
        Fahrrad winterfest im Keller parkt. Allerdings: Einen
        echten Radfahrer hält schlechtes Wetter ja auch nicht
        vom Radfahren ab, somit sollte auch nichts gegen eine
        politische Debatte zum Thema „Förderung des Radver-
        kehrs“ mitten im November sprechen.
        Bei der Fahrradpolitik scheint die Bundesregierung
        aufs Einrad umgestiegen zu sein: Mehr blumiger Rad-
        korso als klares „Radfahr-Förderkonzept“, mehr „Kreis-
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        erkehr“ als Strecke, mehr „Steher-“ als „Tempo-Strate-
        ie“!
        Der Antrag der Regierungskoalition zum Nationalen
        adverkehrsplan erstaunt. Er ist auch nur vor dem Hin-
        ergrund einer vernichtenden Kritik des ADFC zu verste-
        en. Dessen Repräsentanten, die kompetent und kon-
        truktiv sind, ist beim letzten parlamentarischen Abend
        er Kragen geplatzt; den andauernden Stillstand in der
        adverkebispolitik haben sie kritisiert. Nach über zwei
        ahren Winterschlaf meldet sich die Regierungskoalition
        ndlich zurück aufs fahrradpolitische Parkett. CDU/CSU
        nd FDP haben sich im gleichen Zeitraum mit einer
        ielzahl von Initiativen fördernd für eine aktive Radver-
        ehrspolitik eingesetzt; doch stets haben Rot-Grün mit
        hrer Mehrheit jeglichen Fortschritt verhindert.
        Erfreulich ist, dass die heute hier vorliegenden zwei
        nträge sich im Ziel kaum unterscheiden. Beide fordern
        auch in einzelnen Punkten erstaunlich übereinstim-
        end – eine konsequentere Förderung des Radverkehrs,
        eziehungsweise eine forcierte Umsetzung des NRVP.
        s herrscht Einigkeit über das Grundsätzliche:
        Die Förderung des Radverkehrs ist aus gesundheitli-
        hen, verkehrspolitischen und ökologischen Gründen
        ichtig. Und wer die Erfolge der Fahrradpolitik in Dä-
        emark, den Niederlanden und in der Schweiz verfolgt,
        er weiß: Wir alle müssen noch mehr in die Pedale tre-
        en.
        Bei aller Freude über Gemeinsamkeiten muss aller-
        ings festgestellt werden: Es überwiegt Verunsicherung,
        enn man den Koalitionsantrag genau in Augenschein
        immt. Welchen Zweck hat der Antrag der Koalition
        irklich? Geht es im Antrag wirklich um die dargestell-
        en Ziele, oder sollen der Bundesregierung die Waden
        estärkt und die Pedale geputzt werden? Sicher ist:
        unsch und Wirklichkeit stimmen nicht überein. Nur so
        assen sich die drei Seiten Lobeshymnen und langwieri-
        en Darstellungen vor den eigentlichen Forderungen im
        oalitionsantrag erklären. Nur so lässt sich erklären, wa-
        um anstelle der seit langem von uns geforderten Vorlage
        es Fortschrittberichtes zum NRVP mit einem Propa-
        anda-Antrag reagiert wird.
        Statt neue Wege zu suchen und Mögliches möglich zu
        achen, ist man meist damit beschäftigt, Gründe zu su-
        hen, irgendetwas nicht zu tun – oder besser: nicht tun
        u können. Statt kraftvoll Ideen, die sowohl im NRW als
        uch im Bundestagsbeschluss aber natürlich auch vom
        DFC und anderen Verbänden vorgeschlagen wurden
        mzusetzen, beschreitet man den Weg der „idealen“ Ver-
        altung: Ideen sammeln, Listen erstellen, prüfen, for-
        chen, verwerfen, neue Ideen anfordern, ablehnen.
        Trotzdem ist anzuerkennen, dass die Bundesregierung
        icht ganz untätig gewesen ist: Die Mittel für den Aus-
        au der Radwege gehören dazu, wobei aber unterschla-
        en wird, dass mit Beginn der 90er die entscheidenden
        oraussetzungen für die Auslegung und Finanzierung
        er Radwegenetze geschaffen wurden. Aus Gründen der
        edlichkeit auch gegenüber den fast 60 Millionen Rad-
        ahrern in Deutschland ist jedoch festzustellen, dass in
        er konkreten Umsetzung des NRVP, nämlich der da-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12749
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        mals festgelegten aktiven Förderung des Radverkehrs
        durch die Bundesregierung, in vielen Bereichen zu we-
        nig getan wurde und wird.
        In Bezug auf die Umsetzung des NRVP müsste man
        sogar Shakespeare widersprechen, der einmal sagte:
        „Wo Geld vorangeht, sind alle Wege offen“. Denn um
        das Ziel des NRVP, den Anteil des Radverkehrs bis 2012
        deutlich zu erhöhen, reicht der Bau von Radwegen bei
        weitem nicht aus.
        Die Umsetzung – so das Konzept – erfolgt im Klei-
        nen: auf Länder- und kommunaler Ebene. Die zahlrei-
        chen Pro-Rad-Organisationen und freiwilligen Initiati-
        ven brauchen jedoch Unterstützung in der Umsetzung
        vor Ort. Denn sonst haben wir im Jahr 2012 mehr Rad-
        wegekilometer als Radfahrer.
        Durch das Aufschieben der Vorlage des Fortschrittbe-
        richtes zum NRVP und des „zweiten Berichts über die
        Situation des Fahrradverkehrs in Deutschland“ bis zum
        Frühjahr 2006 entzieht sich die Bundesregierung der
        Kontrolle und der Verantwortung auch in diesem Be-
        reich der Verkehrspolitik. So bleibt zu vermuten, dass
        die Bundesregierung mit dem Hinweis, dass eine Be-
        standsanalyse über die Umsetzung des NRVP drei Jahre
        nach dessen Umsetzung im Frühjahr 2006 sinnvoller ist,
        bereits jetzt das nächste Wahljahr im Auge hat. Sachge-
        recht wäre eine Vorlage im Frühjahr 2004 gewesen. Inte-
        ressant und amüsant ist in diesem Zusammenhang auch
        die Rechenmethode der Regierung: Die Zeit zwischen
        Auflage des NRVP im Frühjahr 2002 und der beabsich-
        tigten Veröffentlichung des Fortschrittsberichtes im
        Frühjahr 2006 errechnet sie mit drei Jahren. Das nenne
        ich kreativ.
        Wäre die Regierang genauso dynamisch wie sie bei
        Zeitfragen kreativ ist, dann wäre nicht erst im Juni dieses
        Jahres die seit langem von der Union und vom ADFC
        geforderte eigenständige „Arbeitseinheit Fahrradver-
        kehr“ einberufen worden. Ohne sie ist eine effiziente
        Umsetzung des NRVP gar nicht möglich! Sie hätte be-
        reits viel früher geschaffen werden müssen! Hier liegt
        ein unnötiges Versäumnis der rot-grünen Bundesregie-
        rung vor.
        Für die Öffentlichkeit sind die Handlungsmaximen in
        der Fahrradpolitik der Bundesregierung nur schwer er-
        kennbar. Zwar versucht das Verkehrsministerium mit der
        Durchführung von Veranstaltungen zur Förderang des
        Radverkehrs und zur Umsetzung des NRVP den Schein
        der Aktivität zu wahren; trotzdem gilt – frei nach Shake-
        speare: „Die Kappe macht den Mönch nicht aus“.
        Zurück zum Antrag: Die im Antrag als „Feststellun-
        gen des Deutschen Bundestages“ getarnten „Schönwet-
        ter-Worte“ halten einer genaueren Prüfung meist nicht
        stand: So heißt es unter 1.: „Viele Maßnahmen zur För-
        derung des Radverkehrs liegen aufgrund unserer födera-
        tiven Verfassung in der Verantwortung von Ländern und
        Kommunen.“
        So weit ist gegen diese Feststellung nichts einzuwen-
        den. Weiter heißt es: „Dem Bund kommt die Koordinie-
        rungsfunktion für die Umsetzung des NRVP zu. Mit Vor-
        lage des NRVP bekennt sich die Bundesregierung zu
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        hrer aktiven Rolle als Katalysator und Moderator bei
        er Förderung des Radverkehrs.“
        Interessanterweise wird vom Bund-Länder-Arbeits-
        reis genau diese Rolle der Bundesregierung bei der
        msetzung nicht bestätigt. Hier hat man deutlich die zö-
        erliche Zusammenarbeit mit dem BMVBW kritisiert.
        Von einer Moderatorenrolle kann keine Rede sein;
        ehr von einer Hinterradbremse. Aber seit Shakespeare
        st ja bekannt: „Menschen deuten oft nach ihrer Weise
        ie Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn“. Zu hoffen
        leibt, dass mit der Schaffung einer eigenständigen Ar-
        eitseinheit im BMVB auch die Zusammenarbeit mit
        em Bund-Länder-Arbeitskreis verbessert wird. Aber
        uch wenn es um die Vernetzung von Radwegen geht,
        elegiert die Bundesregierung die Verantwortung immer
        ieder an die Länder, Kommunen und Verbände. Dabei
        äre es ihre Aufgabe als „Moderator und Motor des
        RVP“ eine Zusammenarbeit sicherzustellen. Sie hat
        ier die Pflicht, für die Abstimmung der Interessen zu
        orgen. Sie hat die Verantwortung, dass das seit langem
        estehende Konzept für eine fahrradtouristische Koordi-
        ierungsstelle endlich umgesetzt wird.
        Anders sieht die Sache bei der Diskussion um die
        ahrradmitnahme im Bahnfernverkehr aus. Hier gefällt
        ich die Bundesregierung ausnahmsweise in der Mode-
        atorenrolle. Sie erweist sich jedoch als „Schaf im
        olfspelz“! Anstatt zu prüfen, ob die im Allgemeinen
        isenbahngesetz und in der Eisenbahn-Verkehrsverord-
        ung geregelte Beförderungspflicht von Personen und
        eisegepäck auf Fahrräder ausgedehnt werden kann,
        erden seit Jahren sporadische Verhandlungen mit der
        eutschen Bahn geführt, die bisher nicht wirklich ziel-
        ringend sind. Auch hier wieder: viel Aktionismus, ohne
        innvolle Konsequenzen. Was wir brauchen, sind neue
        nitiativen, um die Erreichbarkeit deutscher Ferienregio-
        en im Fernverkehr für Radtouristen deutlich zu verbes-
        ern.
        Trotz aller Kritik bleiben Lichtblicke. Konfuzius
        usste schon: „Wenn über das Grundsätzliche keine Ei-
        igkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu ma-
        hen.“ Das ist hier glücklicherweise nicht der Fall. Im
        rundsatz sind wir uns über alle Fraktionen beim Rad-
        erkehr einig und wir sollten auch weiter gemeinsam für
        en Erfolg des Radverkehrsplans arbeiten. Die bereits
        ngesprochene Verbesserung bei den Mitteln für den
        adwegeausbau ist als Lichtblick zu nennen. Jetzt gilt
        s, diese Mittel auch zu verstetigen und jährlich in dieser
        rößenordnung bereit zu stellen, das gilt auch für For-
        chungs- und Projektvorhaben. Aber auch die Schaffung
        er eigenständigen Einheit „Radverkehr“ im BMVBW
        erspricht Besserung.
        Auch sind inzwischen die haushaltsrechtlichen Vo-
        aussetzungen für eine vereinfachte Vergabe der Mittel
        ur Umsetzung des NRVP und zur konkreten Förderung
        inzelner Projekte geschaffen worden. Dies erleichtert
        ie unermüdlichen Anstrengungen der Verbände. Denn
        ür die sachkundige und wirkungsvolle verkehrspoliti-
        che. Arbeit zur Umsetzung des NRVP müssen der
        DFC und andere Umsetzungsträger mit berechenbaren
        nd angemessenen finanziellen Mitteln ausgestattet sein.
        12750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        Unabhängig davon muss die Verkehrssicherheit
        – auch beim Radverkehr – wieder mehr in den Fokus ge-
        nommen werden. Die dafür vorgesehenen Mittel von
        jährlich 11 Millionen Euro bedeuten pro Bundesbürger
        einen Betrag von nur 14 Cent. Das ist nicht ausreichend.
        Immerhin beklagen wir pro Jahr um die 600 Todesopfer
        im Radverkehr. Die Zahl der Fahrradunfälle mit Perso-
        nenschaden ist im Jahr 2003 sogar um 7,7 Prozent auf
        über 76 000 angestiegen. Alarmierend!
        Wer für mehr Radverkehr in Deutschland sorgt, wer
        in diesem Verkehrsbereich Defizite und Barrieren ab-
        baut, wer bei einer bundesweiten Kampagne für das Rad
        mitmacht, der findet unsere Anerkennung und unsere
        Unterstützung. Mit einem Dank an alle radfahrenden
        MdB-Kollegen möchte ich schließen. Immer mehr par-
        ken ihr Zweirad im Regierungsviertel und sogar von den
        Bündnisgrünen-Kollegen haben einige ihre Autophase
        beendet und sind wieder auf das Rad umgestiegen. Es
        lebe die Einsicht!
        Klaus Brähming CDU/CSU: Das Ziel des Antrags
        der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel „Den
        Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern“
        war es, Deutschland noch fahrradfreundlicher zu gestal-
        ten und das Potenzial des Fahrradtourismus für die deut-
        sche Wirtschaft besser auszuschöpfen. Dies gilt sowohl
        für die deutschen Fahrradhersteller, wie beispielsweise
        Biria in Neukirch in Sachsen, als auch für den weiteren
        Auf- und Ausbau einer hochwertigen Infrastruktur rund
        um die regionalen und überregionalen Radwanderwege.
        Radfahren dient nicht nur der Gesundheit und ist eine
        Fortbewegung mit dem umweltfreundlichsten Verkehrs-
        mittel überhaupt, sondern in Verbindung mit dem Fahr-
        radtourismus ist Radfahren auch ein wichtiger, wachsen-
        der Wirtschaftsbereich in Deutschland. Die neuesten
        Zahlen bestätigen die wachsende Bedeutung des Fahr-
        radtourismus für die deutsche Tourismuswirtschaft. Im
        Jahr 2003 haben 2,25 Millionen Deutsche einen mehrtä-
        gigen Urlaub auf dem Sattel verbracht. Dies stellt eine
        12,5-prozentige Steigerung gegenüber dem Vorjahr dar.
        Die Zunahmen gehen dabei fast vollständig auf die Zu-
        nahmen im Deutschlandtourismus zurück.
        Nach einer Umfrage der Forschungsgemeinschaft Ur-
        laub und Reise – FUR – nimmt der Fahrradurlaub auch
        zukünftig zu: 10,1 Prozent der Deutschen, das sind fast
        6,5 Millionen Menschen, planen für die nächsten drei
        Jahre „ziemlich sicher“ oder „wahrscheinlich“ mindes-
        tens eine Radreise. Wie wichtig Radurlauber mittler-
        weile als Wirtschaftsfaktor sind, zeigt folgende Zahl:
        Die Gesamtausgaben von knapp 70 000 Radtouristen
        und Tagesausflüglern im sächsischen Teil des Elberad-
        weges betrugen von April bis Oktober 2003 27,93 Mil-
        lionen Euro. Aus diesen Gründen haben wir den heute zu
        debattierenden Antrag in den Deutschen Bundestag ein-
        gebracht.
        In dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        wird die rot-grüne Bundesregierung beispielsweise dazu
        aufgefordert, den Ausbau überregionaler Radwege und
        die WegbeschiIderung der überregionalen Routen voran-
        zutreiben und sich bei der Deutschen Bahn AG für eine
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        undenfreundlichere Fahrradmitnahme vor allem in
        ochgeschwindigkeitszügen einzusetzen. In den Aus-
        chusssitzungen bezeichneten die Koalitionsfraktionen
        on SPD und Bündnis 90/Die Grünen zahlreiche unserer
        orderungen als überholt oder nicht sinnvoll bzw. außer-
        alb der Zuständigkeit des Bundes und verwiesen statt-
        essen auf den Nationalen Radverkehrsplan der Bundes-
        egierung als dem richtigen Instrument zur Förderung
        es Fahrradverkehrs.
        Die Regierungskoalition will daher heute gegen den
        ntrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen und
        as stimmt mich persönlich traurig, denn es gibt durch-
        us gemeinsame Ziele. Beispielsweise haben SPD und
        ündnis 90/Die Grünen selbst einen Antrag mit dem
        itel „Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans
        002–2012 forcieren“ in den Deutschen Bundestag ein-
        ebracht. Schon aufgrund des Titels dieses Antrags wird
        lso deutlich, dass die Regierungskoalition Fehleinschät-
        ungen und Umsetzungsprobleme bei ihrem eigenen
        adverkehrsplan einräumt. Gleichzeitig wird der heute
        ebattierte Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Be-
        ründung abgelehnt, der Radverkehrsplan der Bundesre-
        ierung aus dem Jahre 2002 sei das allein glücklich ma-
        hende Instrument zur Förderung des Radtourismus.
        as gilt denn nun?
        Bei einer tiefer gehenden Beschäftigung mit dem An-
        rag der Regierungskoalition zum Thema Radverkehrs-
        lan werden weitere Widersprüche deutlich. In diesem
        ntrag wird die rot-grüne Bundesregierung von den sie
        ragenden Fraktionen ermahnt, „die Deutsche Bahn AG
        ufzufordern, ein Konzept für die Fahrradmitnahme im
        ernverkehr unter Berücksichtung des ICE vorzulegen,
        as geeignet ist, verlorene Marktanteile bei der Beförde-
        ung von Fahrradtouristen von und zu ihren Urlaubszie-
        en zurückzugewinnen“. Recht hat die Regierungskoali-
        ion, denn Radler nutzen die Bahn erheblich stärker als
        ndere Touristen. Nach Angaben des Allgemeinen Deut-
        chen Fahrradclubs – ADFC – wählten im Jahr 2003
        1,8 Prozent der Radtouristen die Bahn für die Rück-
        eise von ihrer Radtour. Bei der Anreise stieg der Bahn-
        nteil auf 36,3 Prozent. Insofern ist es mir ein völliges
        ätsel, wie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere
        orderung nach einer Fahrradmitnahme im ICE mit der
        egründung ablehnt, man wolle nicht in die unterneh-
        erische Freiheit der Deutschen Bahn AG eingreifen.
        ie Initiative der Regierungskoalition ist dann also kein
        ingriff in die unternehmerische Freiheit?
        Weiterhin heißt es in dem eben erwähnten Antrag der
        egierungskoalition, man wolle die Bundesregierung
        uffordern, „das Radfernwegenetz – D-Netz – weiter
        uszubauen und durch die Einrichtung einer Koordinie-
        ungsstelle gemeinsam mit den Ländern für die Umset-
        ung eines hohen Ausbau- und Beschilderungsstandards
        u sorgen, da es an einer länderübergreifenden Koordi-
        ierung mangelt“. Genau die gleiche Forderung erheben
        uch wir mit unserem Antrag. Unser Antrag wird aller-
        ings mit der Begründung abgelehnt, diese Themen wür-
        en in den Zuständigkeitsbereich der Länder und der
        ommunen fallen.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12751
        (A) )
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        Angesichts dieser Tatsachen wird deutlich, dass die
        Ablehnung unseres Antrages weniger auf inhaltlichen,
        als vielmehr auf ideologischen Gründen basiert. Seit
        Jahren hinken Sie als Regierungskoalition unseren Ini-
        tiativen zur Förderung des Radverkehrs und des Fahrrad-
        tourismus hinterher. Mein Kollege Wolfgang Börnsen
        und ich freuen uns zwar, dass Sie unsere Forderungen
        mit etwas Zeitverzögerung übernehmen, bedauern aber
        den fehlenden Hinweis auf die Ideengeber. Diese un-
        ideologischen Probleme hätte man auch gemeinsam an-
        gehen können. Dafür braucht man wahrscheinlich aber
        Diskussionspartner auf gleicher Höhe und keine Beifah-
        rer im Windschatten.
        Wir werden auch weiterhin die Finger in die offenen
        Wunden legen und sind gespannt auf die nächste Fahr-
        raddebatte im Plenum zur Beantwortung der Großen An-
        frage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel
        „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“.
        Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Als wir vor zwei Jahren den Nationalen Radverkehrs-
        plan verabschiedet haben, geschah dies über alle Frak-
        tionen hinweg einstimmig. Das war ein gutes Signal und
        ein Aufbruch für eine neue Verantwortung des Bundes in
        Sachen Radverkehr.
        Auch wenn wir heute mehrere Anträge debattieren
        und wohl auch unterschiedlich abstimmen, so bleibt der
        Konsens im Kern doch erhalten. Alle Fraktionen wollen,
        dass mehr für die Förderung des Radverkehrs getan wird
        und dass die Bundesregierung die Umsetzung des Natio-
        nalen Radverkehrswegeplans engagiert vorantreibt.
        Unser Antrag ist aktueller, enthält übrigens viele
        Punkte, die auch die Union fördert. Sie können also
        durchaus zustimmen, denn der Antrag zieht eine durch-
        aus kritische Bilanz der Tätigkeit des Bundesverkehrs-
        ministeriums und fordert zahlreiche Maßnahmen ein, um
        das Thema Radverkehr auf einen vorderen Platz der ver-
        kehrspolitischen Agenda zu holen.
        Ein erster Erfolg des Antrags ist es, dass im Bundes-
        verkehrsministerium endlich eine Arbeitsgruppe Rad-
        verkehr eingerichtet worden ist, die sich voll und ganz
        dem Thema „Umsetzung des Nationalen Radverkehrs-
        plans“ widmen kann. Diese Arbeitsgruppe wird in den
        kommenden Wochen noch zusätzlich personell verstärkt
        werden. Mittelfristig sehen wir dennoch Bedarf für ein
        eigenes Referat für den Radverkehr. Es kann nicht sein,
        dass ein Verkehrsträger wie das Fahrrad ohne institutio-
        nellen Ansprechpartner ist, während sich alleine acht
        Referate mit dem Thema Wasserstraßen in Deutschland
        befassen.
        Positiv ist, dass die zwei Millionen Euro für nicht in-
        vestive Maßnahmen zur Umsetzung des NRVP, die die
        rot-grünen Fraktionen seit diesem Jahr erstritten haben,
        beginnen Wirkung zu zeigen.
        Wir freuen uns sehr, dass das erfolgreiche Programm
        von ADFC und AOK „Mit dem Rad zur Arbeit“ dieses
        Jahr mit rund 250 000 Euro aus diesen Mitteln gefördert
        werden konnte. Das Fahrradportal im Internet wird dem-
        nächst online gehen. Nachdem eine Projektträgerschaft
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        nstalliert wurde, sind nun Ausschreibungen für Projekte
        estartet worden, die zum Beispiel die Hemmnisse im
        rdnungsrecht systematisch analysieren und Verbesse-
        ungsvorschläge machen sollen, die die Übertragbarkeit
        iner Stiftung FahrRad, wie sie in der Schweiz existiert,
        rüft und die eine Förderfibel erstellt, in der für Kommu-
        alpolitiker und -verwaltung eine leicht verständliche
        bersicht über die Vielzahl an schon existierenden För-
        ermöglichkeiten zur Förderung des Radverkehrs ge-
        chaffen wird.
        Wir halten es im Übrigen für sinnvoll, bei der Vergabe
        er nicht investiven Mittel in Zukunft einem Beirat mit-
        irken zu lassen, dem Vertreter des Bundes, der Länder,
        er Verbände, der Wissenschaft und der Zweiradindus-
        rie angehören. So würde gewährleistet, dass die Aus-
        ahl der Projekte praxisnah und mit Expertise erfolgt.
        leichzeitig kann der Beirat genutzt werden, um die
        rojekte und ihre Ergebnisse in der Öffentlichkeit be-
        annter zu machen.
        Der Antrag der Koalition fordert zudem ein Konzept
        on der Deutschen Bahn AG, wie sie sich die Zukunft
        er Fahrradmitnahme im Fernverkehr vorstellt. Die Zah-
        en sind, wie der Antrag ausführt, dramatisch: In den
        etzten fünf Jahren hat sich die Zahl der transportierten
        adreisenden fast halbiert. Die Position der Bahn, in Zu-
        unft weiter nur das IC/EC-Netz für den Radtransport zu
        ffnen, ist für uns nicht hinnehmbar. Das IC/EC-Netz
        oll noch weiter ausgedünnt und durch ICE ersetzt wer-
        en. Von Berlin nach München oder von Köln nach
        resden käme man bei Fahrradmitnahme dann nur noch
        it vier- bis fünfmaligem Umsteigen mit Nahverkehrs-
        ügen. Auch die Umbaukosten, die von der Bahn bei je-
        er passenden und unpassenden Gelegenheit genannt
        erden, sind für uns nicht nachvollziehbar. Der ICE-T
        st schon heute für die Fahrradmitnahme vorgerüstet.
        er Umbau des ICE 1 könnte fahrradgerecht ohne Mehr-
        osten erfolgen. Wenn die Bahn an dieser Stelle nicht
        insicht zeigt, werden wir zu prüfen haben, ob eine Be-
        örderungspflicht nicht Gegenstand des Allgemeinen Ei-
        enbahn-Gesetzes werden muss.
        Sorge bereitet uns auch nach wie vor, dass das Geld
        ür den Bau von Radwegen an Bundeswasserstraßen
        icht abfließt. Hier wird intensiv über Lösungsmöglich-
        eiten nachgedacht, zum Beispiel über eine Verschie-
        ung dieser Mittel in das Gemeindeverkehrsfinan-
        ierungsgesetz, GVFG. Der Antrag fordert die
        undesregierung zudem auf, mit den Ländern in Ver-
        andlungen über eine Zweckbindung von mindestens
        ünf Prozent der Mittel für die Förderung des Radver-
        ehrs zu verhandeln. Hier wird zunächst das Ergebnis
        er Föderalismuskommission abzuwarten sein, wo es,
        ie man hört, Bestrebungen gibt, das GVFG als Misch-
        inanzierung abzuschaffen. Unabhängig vom Ausgang
        ieser Verhandlungen müssen wir in Zukunft dafür sor-
        en, dass mehr Geld in die kommunale Radverkehrsin-
        rastruktur investiert wird. Nur so holen wir die Men-
        chen aus den Autos auf die Räder. In Zeiten knapper
        ittel sei nochmals daran erinnert: Die Förderung von
        adverkehr ist die preiswerteste Verkehrspolitik und zu-
        leich ein Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz. Und
        12752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        zu guter Letzt: auch ein Beitrag zur Gesundheitspräven-
        tion.
        Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es ist doch
        schon interessant, was diese Bundesregierung unter
        „Mobilität“ versteht. Anscheinend gibt es eine neue so-
        zialdemokratische Definition: Stillstand. Das sind wir ja
        aus anderen verkehrspolitischen Bereichen schon ge-
        wohnt. Aber dass es bei der Umsetzung des Ziels, mehr
        Radverkehr in Deutschland zu fördern, derartige Verzö-
        gerungsspielchen gibt ist wirklich unglaublich. Was tun
        denn eigentlich die nachhaltig durch die Liebe zur Mut-
        ter Natur durchdrungenen Gutmenschen in dieser fulmi-
        nanten Bundesregierung für den Radverkehr in Deutsch-
        land? Erst ablehnen und dann nachdenken. Das tun sie.
        Im Verkehrsausschuss wurde von den Mitgliedern
        beider Koalitionsfraktionen der Antrag auf unverzüg-
        liche Vorlage eines Fortschrittsberichts – dieser Begriff
        ist ja schon der reinste Euphemismus – zum Radver-
        kehrsplan abgelehnt mit der Begründung, dass ja der
        sehr ambitionierte Radverkehrsplan vorliege, der aber zu
        langsam umgesetzt worden sei und man diese Umset-
        zung nun beschleunigen müsse. Für diese Erkenntnis
        haben die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen zwei Jahre gebraucht.
        Same procedure as every year! Denn wir haben vor
        einem Jahr bereits abgefragt, was denn überhaupt schon
        von dem „Masterplan für den Radverkehr“ umgesetzt
        wurde. Natürlich nicht sehr viel. Mittlerweile haben dies
        also auch die Kollegen der Mehrheitsfraktionen mitbe-
        kommen.
        Aber vielleicht wollte man vonseiten der Bundesre-
        gierung auch das erreichen, was im Laufe des letzten
        Jahres eingetreten ist: Der Anteil der Rad Fahrenden in
        Deutschland ist nach jüngsten Zahlen gesunken. Wenn
        Sie glaubwürdige Politik für den Radverkehr machen
        wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitions-
        fraktionen, muss mehr geschehen als das Beantragen ei-
        ner Forcierung einer Umsetzung eines Plans.
        Was könnte man also für den Radverkehr tun? Viel-
        leicht sollte man das Wort „Handlungsempfehlungen“
        im Nationalen Radverkehrsplan wörtlich nehmen und
        pragmatisch vorgehen. Einen Haushaltstitel eigens für
        Fahrradverkehrsinfrastruktur einführen und das Gemein-
        deverkehrsfinanzierungsgesetz ändern ist ja ein schöner
        Ansatz. Aber die Vorschläge der Kommunen und Flä-
        chengemeinden sowie Fahrradverbände zu prüfen wäre
        weitaus effizienter. Gerade in strukturschwachen Re-
        gionen ist der Fahrradtourismus wichtig. In Zeiten von
        leeren Gemeindekassen ist dieser Wirtschaftzweig eine
        wichtige Einnahmequelle geworden. Um regulierungs-
        wütige Aktionen zu verhindern und sinnvolle umzuset-
        zen, sollte die Steuerungsgruppe Fahrradverkehr im
        Ministerium mit entsprechenden Kompetenzen ausge-
        stattet werden und endlich handeln. Eine gute Maß-
        nahme wäre die Erneuerung der Schilder für Rad Fah-
        rende an Wegen und Straßen. Notwendig sind neue
        Beschilderungen für Fahrradtouristen. Aber bevor man
        sich ein zusätzliches System ausdenkt, sollte man eher
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        ber die „Lichtung“ des allgemein vorhandenen Schil-
        erwaldes diskutieren.
        Vorbildlich für eine gut funktionierende Kooperation
        wischen Politik und Verbänden ist das Projekt des
        DFC und des baden-württembergischen Wirtschafts-
        inisteriums mit dem Titel „Bett & Bike – Fahrrad-
        reundliche Beherbergungsbetriebe in Baden-Württem-
        erg.“ 1995 gab es 216 Einträge – zehn Jahre später sind
        s 3 500. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali-
        ionsfraktionen, ich will Sie nicht überfordern, daher er-
        ähne ich nur noch zum Schluss, dass es neben der Um-
        etzung des Nationalen Radverkehrsplans noch einige
        ndere Problemfelder gibt, die zum Thema Fahrradver-
        ehr in Deutschland dazu gehören. Die Verkehrssicher-
        eit der Rad Fahrenden ist zu bedenken, allerdings ist
        nterdessen bei dem Zustand der Straßen in Deutschland
        ast jeder Verkehrsteilnehmer gefährdet. Zum Thema
        adverkehr und damit auch Straßenverkehr gehört aber
        uch die Reform der Verkehrserziehung und der Fahrleh-
        erausbildung. Das Vorhalten von Verkehrsinfrastruktur
        eicht nicht aus, das Verhalten der Verkehrsteilnehmer
        ntereinander ist mindestens genauso wichtig. Die Voll-
        ugsdefizite bei Verkehrskontrollen wie auch die techni-
        che Ausrüstung von LKW und PKW sind ebenfalls
        tändig in der Diskussion.
        Zu guter Letzt komme ich zu meinem Lieb-
        ingsthema, der DB AG. Sie „aufzufordern, ein Konzept
        ür die Fahrradmitnahme im Fernverkehr unter Berück-
        ichtigung des ICE vorzulegen“, wie die Kolleginnen
        nd Kollegen der Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag
        agen, mag ja noch realistisch sein. Es im Sinne der mit
        ahrrad Reisenden zu realisieren leider nicht. Aber das
        roblem würde gar nicht existieren, gäbe es einen Wett-
        ewerb im Personenfernverkehr auf der Schiene.
        Also: Die Voraussetzung für einen erfolgreichen Rad-
        ourismus und damit mehr Fahrrad Fahrenden in
        eutschland sind ordentliche Radwege, eine einfache
        nd gut verständliche Beschilderung sowie eine gute
        ernetzung der verschiedenen Verkehrsträger. Entschei-
        end dafür ist die enge Zusammenarbeit zwischen Bund,
        ändern und Verbänden.
        Einen Nationalen Radverkehrsplan, der unbeachtet in
        rgendeiner Schublade des Bundesverkehrsministeriums
        or sich hin modert, braucht keiner.
        nlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Pilotprojekt für die
        virtuelle Rekonstruktion von vorvernichteten
        Stasi-Unterlagen beginnen (Tagesordnungs-
        punkt 13)
        Barbara Wittig (SPD): In den letzten Wochen des
        estehens der DDR hat das Ministerium für Staats-
        icherheit in großem Umfang Akten vernichtet – auf un-
        erschiedliche Weise. Circa 16 000 Säcke mit zerrisse-
        em Material konnten sichergestellt werden – es waren
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12753
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        circa 600 Millionen Schnipsel. Sie stammen überwie-
        gend aus der Zeit von 1980 bis 1989.
        Gerade diese Unterlagen aus den letzten Jahren der
        Existenz der Stasi sind aber von besonderem Interesse.
        Zwar hatte die Leitung der Stasi mit ihrer Weisung vom
        22. November 1989 versucht, die aus ihrer Sicht schutz-
        würdigen Quellen hastig zu vernichten, doch das gelang
        zum Glück nur teilweise. Die mehr als 16 000 Säcke mit
        zerrissenem Material sind der Beweis dafür.
        Wir alle wissen es zu schätzen, dass fleißige Mitarbei-
        ter in mühevoller Kleinarbeit per Hand seit 1995 insge-
        samt mehr als 500 000 Seiten wiederhergestellt haben.
        Das rekonstruierte Material ist nicht nur interessant –
        nein, es ist von unschätzbarem historischen Wert. Des-
        halb ist es auch der politische Wille aller Fraktionen des
        Bundestages, diese Unterlagen wiederherzustellen, und
        zwar IT-gestützt. Dass das möglich ist, davon haben wir
        uns im Fraunhofer-Institut überzeugt.
        Der Haken ist nur der: Das ganze Projekt mit
        16 000 Säcken würde 60 Millionen Euro kosten. Ein Pi-
        lotprojekt mit nur 400 Säcken würde 6,3 Millionen Euro
        kosten. Um dieses Pilotprojekt mit nur 400 Säcken geht
        es der CDU/CSU in ihrem Antrag.
        Ein solches Pilotprojekt müsste in zwei Phasen ablau-
        fen:
        2005 müsste der Bund 2,2 Millionen Euro für die
        Weiterentwicklung der Software zur virtuellen Rekons-
        truktion bis zur Produktionsreife bereitstellen.
        2006 wären für die Test- und Evaluierungsphase, in
        der Unterlagen aus 400 Säcken im industriellen Maßstab
        rekonstruiert werden sollen, weitere 4,1 Millionen Euro
        nötig.
        Diese Mittel haben wir zurzeit nicht – weder für das
        Pilotprojekt noch für das Gesamtprojekt. Die Bericht-
        erstatter aller Fraktionen im Haushaltsausschuss haben
        dies übrigens auch so gesehen.
        Wenn die CDU/CSU heute in der so genannten Berei-
        nigungssitzung des Haushaltsausschusses einen Antrag
        stellt, 2,2 Millionen Euro bereitzustellen, ohne zu sagen,
        wo dieses Geld hergenommen werden soll, dann ist das
        unredlich und verantwortungslos.
        Unsere Position ist folgende:
        Am Ziel der Rekonstruktion der vorvernichteten
        Unterlagen halten wir fest. Das Projekt – und zwar das
        Gesamtprojekt – müssen wir aus finanziellen Gründen
        zurückstellen. Deshalb muss das Material sicher unterge-
        bracht bleiben.
        Abschließend möchte ich deshalb meine besondere
        Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass der Haus-
        haltsausschuss heute knapp 3 Millionen Euro für 2005
        bereitstellen wird, um mit den notwendigen Struktur-
        maßnahmen in der Behörde der Bundesbeauftragten für
        die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema-
        ligen DDR beginnen zu können.
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        Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Bereits
        m Jahr 2000 hat der Deutsche Bundestag beschlossen,
        lektronische Bildauswertungssysteme zur Rekonstruk-
        ion von zerrissenen Stasi-Unterlagen einzusetzen. Die-
        er Beschluss wurde von allen Fraktionen dieses Hauses
        etragen. Begründet wurde er vor allem damit, dass die
        orvernichteten Stasi-Unterlagen hochaktuell sind, weil
        ie vorwiegend aus den letzten DDR-Jahren stammen.
        ie sind hierdurch besonders wertvoll und authentisch.
        Aus einem sehr sorgfältigen Ausschreibungsverfah-
        en, an dem sich 15 Anbieter beteiligt hatten, ging der
        uschlag schließlich an ein Konsortium aus dem
        raunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Kon-
        truktionstechnik und der Lufthansa-Tochter GbD. Der
        usschreibungssieger erstellte zunächst einmal eine
        achbarkeitsstudie. Diese Studie formulierte die techni-
        chen Möglichkeiten, die Kosten und auch die politi-
        che, historische und menschliche Bedeutung der bereits
        usammengesetzten Unterlagen.
        In zehnjähriger Puzzletätigkeit sind Papierschnipsel
        us 250 Säcken zusammengesetzt worden. Das sind
        war gerade einmal 1,5 Prozent der Gesamtmenge; aus
        ieser relativ geringen Zahl sind allerdings äußerst be-
        eutsame personen- und sachbezogene Unterlagen her-
        orgegangen. Immerhin 970 registrierte Vorgänge über
        pfer und Täter haben sich hieraus ergeben. Aus der Li-
        eratur waren es Günter Wallraff, Sascha Anderson,
        tefan Heym oder Jürgen Fuchs. Es fand sich Material
        ber die Dopingmediziner Wendler und Krämer, die
        AF-Terroristen Baader/Ensslin, Maier-Witt oder
        lbrecht; aber auch wichtige Unterlagen über Oppositio-
        elle wie Robert Havemann, Bärbel Bohley, Ulrike und
        erd Poppe, Rainer Eppelmann oder Wolf Biermann wur-
        en zusammengesetzt. Von den Sachvorgängen nenne ich
        ur Berichte und Maßnahmen zu Parteiengründungen und
        rotestbewegungen des Herbst 1989, über Verhandlungen
        um Grundlagenvertrag oder über Rechtsextremismus
        nd jugendliche Randgruppen in der DDR.
        Damit sind in den insgesamt noch nicht bearbeiteten
        6 250 Säcken noch zahlreiche interessante Unterlagen
        u erwarten. Das Pilotprojekt hätte den Charme, nicht
        ur die praktische Wirksamkeit des elektronischen Ver-
        ahrens in der Alltagspraxis auf den Prüfstand zu stellen.
        s würde vielmehr auch ohne eine mögliche Fortsetzung
        ach einem Jahr Sinn machen. Mit Blick auf die bisheri-
        en wertvollen Erkenntnisse der zusammengepuzzelten
        eiten sind auch aus den 400 zusätzlichen Säcken wei-
        ere interessante Inhalte zu erwarten. Wir wissen jetzt
        uch, dass das Puzzeln von Hand sogar bedeutend teurer
        ar als die elektronische Anwendung; denn auch das
        anuelle Verfahren war nicht umsonst. Wenn man die
        leichen Maßstäbe anwendet, welche das Innenministe-
        ium für das elektronische Verfahren gesetzt hat, dann ist
        as Handpuzzeln dreimal so teuer wie die neuen techni-
        chen Möglichkeiten.
        Bisher sind in zehn Jahren immerhin 11,385 Millio-
        en Euro für 250 Säcke aufgewandt worden. Elektro-
        isch rekonstruiert kosten 400 Säcke jetzt 6,3 Millionen
        uro. Leider scheinen Sie von Rot-Grün die Maxime
        Hinhalten der Opposition und der Wissenschaft durch
        12754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Beschäftigung“ ausgegeben zu haben. Eine ganze Reihe
        von Terminen mit der Birthler-Behörde, mit dem Fraun-
        hofer-Institut und mit den Haushaltsberichterstattern
        sollte der Öffentlichkeit vorspielen, sei Rot-Grün es mit
        dem Suchen nach einer Lösung wirklich ernst. Vollmun-
        dig wird immer wieder die Wichtigkeit der weiteren
        Aufarbeitung der Stasi-Akten betont. Noch am 22.Okto-
        ber 2003 wollte Herr Wiefelspütz „das Projekt energisch
        vorantreiben“. Er sagte wörtlich: „Es dauert mir zu
        lange.“
        Wenn es allerdings konkret wurde, dann wurden sie
        ganz kleinlaut. Ihr ganzer Aktionismus war also reine
        Nebelwerferei. Seit dem Juli 2000 haben sie mehrmals
        Anträge der Union abgelehnt, zumindest erste kleinere
        Summen in die jeweiligen Haushalte einzustellen. Herr
        Wiefelspütz und Frau Stokar haben uns immer wieder
        versichert, dass die Regierung ihren Worten auch glaub-
        hafte Taten folgen lassen würde. Bei den Haushaltsbera-
        tungen im Innenausschuss mussten sie kapitulieren. Sie
        stellten keinen einzigen Cent für das Projekt ein. Herr
        Wiefelspütz selbst bezeichnete diesen Vorgang als
        „Stunde der Wahrheit“.
        Gerade in diesen Tagen fällt auf, dass diese Bundesre-
        gierung nach wie vor ein gebrochenes Verhältnis zur
        Überwindung der deutschen Teilung hat. Sie will die
        Häftlingshilfestiftung für SED-Opfer im nächsten Jahr
        abwickeln. Sie stattet die Stiftung zur Aufarbeitung der
        SED-Diktatur nicht mit den notwendigen Mitteln aus.
        Engagierte Koalitionsvertreter wie Markus Meckel oder
        Werner Schulz beklagen sich zu recht darüber. Sie wollte
        sogar allen Ernstes den Tag der Deutschen Einheit als
        gesetzlichen Feiertag streichen. Die Aufarbeitung und
        Bewältigung der SED-Diktatur hat bei dieser Regierung
        keine Lobby.
        Die Regierung hat sich auch geweigert, die neu ent-
        standene Gerechtigkeitslücke in Deutschland zu schlie-
        ßen. Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach
        verbesserten Rentenregelungen für ehemals staatsnahe
        Personen bis hin zu Stasi-Mitarbeitern wurde von ihr er-
        füllt. Gleichzeitig stimmte sie aber gegen unseren Antrag
        nach einer Besserstellung der SED-Opfer. Herr Schily
        lehnte zudem ab, gemeinsam mit Frau Birthler in der
        Sendung vom 19. September bei Sabine Christiansen
        vor die Kamera zu treten. Dabei ist die Stasi-Unterlagen-
        behörde zu einem Exportschlager für viele Staaten ge-
        worden, die gerade eine linke oder rechte Diktatur über-
        wunden haben.
        Die Birthler-Behörde ist ein moralischer TÜV, der für
        die Ausbildung einer verfeinerten politischen Kultur in
        Deutschland von immenser Wichtigkeit ist. Immer weni-
        ger Menschen kennen die DDR aus eigenem Erleben. So
        kommt Einrichtungen wie der Stasi-Unterlagenbehörde
        oder der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
        eine immer größere Bedeutung zu.
        Wenn die Regierung schon für die Deutsche Einheit
        und für die Opfer der SED-Diktatur nur wenig übrig hat,
        dann sollte sie doch wenigstens der Anwendung einer
        neuen technischen Innovation eine Chance geben.
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        Angeblich will die Regierung auch deshalb keine
        ittel in die Vergangenheitsbewältigung stecken, weil
        ie einen Schwerpunkt ihrer Politik in der Förderung von
        orschung und Technologie sieht. Unter dem Eindruck
        ines Transrapid, der im Alltagsbetrieb nicht zwischen
        amburg, Schwerin und Berlin, sondern in China fährt,
        ällt es allerdings schwer, ihr dies zu glauben.
        Wenn die Bundesregierung diese Maxime trotzdem
        ür sich beansprucht, dann verstehe ich überhaupt nicht,
        arum sie die Chancen nicht nutzen will, die sich aus
        eiteren Anwendungsmöglichkeiten des elektronischen
        erfahrens ergeben. Wie wir wissen, bestehen aus dem
        usland bereits Anfragen für so unterschiedliche Fach-
        ebiete wie Archäologie, Kunst, Medienwirtschaft, Kri-
        inal- und Polizeitechnik. Seit Monaten fordere ich die
        undesregierung auf, einen Vertragsentwurf zu erarbei-
        en, der dem Deutschen Bundestag die Rechte an dem
        echnischen Verfahren sichert. Bereits im Mai hat das
        raunhofer-lnstitut in einem Schreiben an das Innenmi-
        isterium und an Berichterstatter darauf hingewiesen,
        ass die Umsetzung dieser Pläne nur gelingen wird,
        enn es schnell geht.
        Wörtlich heißt es:
        Wie der internationale Forschungs- und Industrie-
        markt zeigt, hängen Innovationen insbesondere da-
        von ab, wie schnell man Ideen umsetzen kann. Wir
        müssen leider bereits registrieren, dass in mehreren
        Ländern Forschungszentren bzw. Industrieunter-
        nehmen unsere Ideen im Zusammenhang mit der
        virtuellen Rekonstruktion aufgegriffen haben, man
        von staatlicher und privater Seite investiert und in
        diese Richtung Produkte plant. Es wäre schade,
        wenn der wissenschaftliche und technische Vor-
        sprung verspielt wird und hoch qualifizierte Ar-
        beitsplätze in unserem Land nicht entstehen wür-
        den.
        Ich kann die Regierung nur bitten, nach vier Jahren
        iskussion endlich ein Zeichen zu setzen. Nutzen wir
        ie sich bietenden Möglichkeiten zur praktischen Aufar-
        eitung der SED-Diktatur! Geben wir dem neuen techni-
        chen Verfahren eine praktische Anwendungschance in
        eutschland!
        Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
        RÜNEN): Im Berliner Ministerium für Staatssicherheit
        nd seinen Bezirksverwaltungen lief während der
        ende zwischen Herbst 1989 und Januar 1990 eine bei-
        piellose Aktion zur Spurenverwischung. MfS-Offiziere
        ollten die Spuren ihrer Tätigkeit verwischen. Sie zer-
        issen Unterlagen und bereiteten sie für die Vernichtung
        or. Das Ergebnis: 16 000 Säcke voll mit Papierschnip-
        eln, die erhalten geblieben sind. Nun sollen die Frag-
        ente mit Computerhilfe automatisiert wieder zusam-
        engesetzt werden.
        Nach der Besetzung von Kreis- und Bezirksstellen
        es MfS im Dezember 1989 konnten Bürgerkomitees
        usammen mit der Militärstaatsanwaltschaft und der
        olkspolizei einen großen Teil dieses nicht endgültig,
        ondern eben nur vorvernichteten Materials sichern.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12755
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        Nach Gründung der Behörde des BStU wurden circa
        16 000 Säcke gezählt, die circa 600 Millionen Papier-
        schnipsel enthalten. Die Erschließungsergebnisse bestä-
        tigten die Annahme, dass die Stasi-Offiziere 1989 vor al-
        lem aktuelle und brisante Unterlagen aus den letzten
        20 Jahren der DDR zu vernichten suchten.
        Im Jahr 1995 wurde in Zirndorf bei Nürnberg damit
        begonnen, besonders relevante Unterlagen per Hand zu-
        sammenzusetzen. Die so genannte Projektgruppe Re-
        konstruktion besteht gegenwärtig aus zwölf Beschäftig-
        ten des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer
        Flüchtlinge. In mühevoller Arbeit haben die Beschäftig-
        ten über 500 000 Blatt wieder zusammengefügt. Das ent-
        spricht circa zehn Blatt pro Tag und Mitarbeiter. Mate-
        rialien aus 250 Säcken konnten rekonstruiert werden.
        Der Bundestag hat allen Anlass, den Mitarbeiterinnen
        und Mitarbeitern für diese wichtige und verdienstvolle
        Arbeit zu danken.
        Mithilfe der manuellen Rekonstruktion konnten be-
        reits über 1 000 Vorgänge rekonstruiert werden. Das wa-
        ren keineswegs unwichtige Begebenheiten, sondern An-
        gelegenheiten von erheblicher öffentlicher Bedeutung.
        Die Birthler-Behörde macht hier darauf aufmerksam,
        dass es sich beispielsweise bei IM-Unterlagen wie Ver-
        pflichtungserklärungen um Unikate handelt.
        Wiederhergestellt wurden auch Opferakten, mit deren
        Hilfe Menschen, die von der Stasi verfolgt wurden, ihre
        Rehabilitierung betreiben können. In den Säcken befin-
        den sich auch Spionageunterlagen der Abteilung XV, die
        nicht allzu häufig vorhanden sind.
        Die Befunde der Zirndorfer Arbeit veranlassten dann
        den Bundestag in einem fraktionsübergreifenden Be-
        schluss vom Dezember 2000, die Bundesregierung auf-
        zufordern, die Birthler-Behörde bei ihren Bemühungen
        zu unterstützen, das zeit- und kostenintensive manuelle
        Verfahren durch ein geeignetes IT-gestütztes Verfahren
        zu ersetzen. Dies war Veranlassung für die BStU, schnel-
        lere und effektivere Alternativen zur händischen Er-
        schließung der Unterlagen aus den Papiersäcken zu
        suchen, nachdem sich erste Überlegungen als zu kost-
        spielig erwiesen hatten. Den Zuschlag bekam das Fraun-
        hofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruk-
        tionstechnik.
        Uns liegt der Vorschlag für ein Pilotprojekt vor. Für
        die Entwicklung der Software bis zur Produktionsreife
        würden im Haushalt 2005 2,2 Millionen Euro benötigt.
        Die Test- und Evaluierungsphase würde später beginnen,
        aber 2006 würden Haushaltsmittel von 4,1 Millionen
        Euro benötigt. Alles in allem beläuft sich die Kalkula-
        tion auf circa 57,5 Millionen Euro, wenn man die För-
        dergelder einrechnet.
        Angesichts der Haushaltslage hat diese Zahl dazu ge-
        führt, dass wir noch nicht so weit sind, im Bundeshaus-
        halt verbindliche Zusagen machen zu können. Für mich
        persönlich und für meine Fraktion heißt das aber nicht,
        dass wir dieses wichtige Projekt beerdigen. Zwei Über-
        legungen veranlassen mich, die Zuversicht nicht aufzu-
        geben: Zunächst einmal bezieht sich die zitierte Gesamt-
        kalkulation auf alle Kosten im Zusammenhang mit dem
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        rojekt. Wir müssen aber auch die Kosten der manuellen
        usammensetzung der Akten mit einberechnen. Allein
        ür die Jahre 1995 bis 2004 beliefen sich die Personal-
        osten der Behörde auf über 10 Millionen Euro. Eine
        eitere Million kommt durch die rechnerischen Miet-
        osten beim BAFL hinzu.
        Ich denke auch, dass wir die Varianten näher unter die
        upe nehmen müssen, die eine Rekonstruktion von we-
        iger Säcken vorsehen. Möglicherweise lässt sich durch
        tichproben eine bessere Vorsortierung nach dem Grad
        er Wichtigkeit vornehmen.
        Lassen Sie mich zusammenfassend festhalten, dass
        ir fraktionsübergreifend weiter versuchen müssen, hier
        ine Lösung zu finden, die der zeitgeschichtlichen He-
        ausforderung, aber auch der Haushaltslage Rechnung
        rägt.
        Gisela Piltz (FDP): In Zeiten, in denen sich nach
        üngsten Umfragen fast jeder fünfte Deutsche die Mauer
        urückwünscht und der Bundesfinanzminister als erste
        lternative den Tag der Deutschen Einheit am 3. Okto-
        er streichen würde, wird deutlich, dass die Aufarbei-
        ung der DDR-Diktatur nach wie vor aktuell ist und auch
        ktuell sein muss.
        Natürlich müssen wir uns in der wirtschaftlich ange-
        pannten Lage in Deutschland die Frage gefallen lassen,
        as wir uns leisten können und was nicht. Das gilt auch
        ür diesen Bereich. Fakt ist: Die Wiederherstellung der
        errissenen Stasi-Unterlagen ist ein wichtiger Mosaik-
        tein der Aufarbeitung. In den Zeiten der Wende wurden
        on den Stasi-Mitarbeitern systematisch wichtige Unter-
        agen zerrissen. Das, was in dieser Zeit zerrissen wurde,
        ar mit Sicherheit wichtig. Das Ergebnis sind über
        6 000 Säcke voll mit Papierschnipseln. In den Jahren
        eit 1995 haben sich zuletzt 13 Mitarbeiter der Birthler-
        ehörde mit dem Zusammenfügen der Puzzlestücke be-
        chäftigt. In fast zehn Jahren sind so 250 Säcke fertig ge-
        tellt, 250 von 16 000.
        Bei diesem Tempo müssten sich die letzten Betroffe-
        en bis zur Aufklärung einer Bespitzelung noch über
        00 Jahre gedulden. Das darf nicht sein.
        Wie wir alle wissen, könnte mittels eines computerge-
        tützten technischen Verfahrens eine Rekonstruktion we-
        entlich schneller und kostengünstiger vorgenommen
        erden.
        Die schlichte Frage ist doch: Wollen wir die zerris-
        enen Akten jetzt wiederherstellen oder packen wir die
        äcke in den Keller, bis irgendwann dafür wieder Geld
        ereitsteht? Ich bin der Überzeugung, wir müssen es
        etzt anpacken.
        Mit einem ersten Schritt, dem Pilotprojekt, könnten
        nterlagen aus insgesamt 400 Säcken im industriellen
        aßstab rekonstruiert werden, deutlich mehr als in den
        etzten zehn Jahren per Hand.
        Die FDP hat immer die Auffassung vertreten, dass bei
        iner konsequenteren Umsetzung der neuen Regional-
        truktur der BStU das hierfür notwendige Geld zur Ver-
        ügung stehen könnte; denn uns war immer klar, dass
        12756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        zwei neue Großprojekte in diesem Bereich kaum zu
        finanzieren sind. Dies ist von Rot-Grün im Innenaus-
        schuss bis vor kurzem immer bestritten worden. Aber es
        ist eben einfach, erst alle mit einzubinden; aber wenn es
        um die konkrete Finanzierung geht, kneifen Sie.
        Sie haben sich nicht wirklich mit unseren Vorschlägen
        auseinander gesetzt, auch nicht mit denen der Haushäl-
        ter. Ihnen ist eine halbgare Regionalstruktur lieber als
        ein Anfang bei der Rekonstruktion. Mit unseren Vor-
        schlägen müssten keine Mitarbeiter entlassen werden
        und sie könnten zu den Rekonstruktionsarbeiten heran-
        gezogen werden. 400 Säcke zerrissener Akten wären da-
        mit innerhalb kurzer Zeit zusammengefügt und auswert-
        bar. Im Vergleich zur manuellen Rekonstruktion mit
        über zehn Jahren Bearbeitungszeit für weniger Säcke
        und Kosten von über 10 Millionen Euro ist das ein ganz
        erheblicher Vorteil.
        Ich bin gespannt, wie Sie den Betroffenen erklären
        wollen, dass sie zwar problemlos ihre Akten einsehen
        könnten, aber sie nicht wissen, ob es vielleicht noch
        mehr Unterlagen gibt, weil die noch nicht zusammenge-
        setzt sind. Aufgabe der BStU ist die Lagerung und die
        Wiederherstellung. Das sollten wir immer bedenken.
        Auch 15 Jahre nach dem Fall der Mauer sollten wir
        der Aufarbeitung der DDR-Diktatur einen hohen Stel-
        lenwert einräumen. Die Rekonstruktion ist dazu ein
        wichtiger Beitrag.
        Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Das Pilotprojekt für die Rekon-
        struktion vorvernichteter Unterlagen ist ein ehrgeiziges
        Projekt. Ehrgeizig nicht nur hinsichtlich der technischen
        Herausforderung, in mehr als 16 000 Säcken aufbe-
        wahrte Aktenschnipsel einzuscannen und elektronisch
        zusammenzusetzen, sondern leider auch hinsichtlich der
        hierfür erforderlichen Kosten.
        Ich will hier nicht missverstanden werden: Diese Ein-
        leitung soll nicht den Versuch darstellen, ein unliebsa-
        mes Projekt über die Kostenfrage zu beerdigen. Die
        Bundesregierung teilt das mit dem Projekt verfolgte
        Ziel, neue Erkenntnisse über die Arbeit des Ministe-
        riums für Staatssicherheit sowie über Täter und Opfer zu
        gewinnen. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihres
        Macht- und Repressionsapparates ist eine Aufgabe, der
        die Bundesregierung unverändert einen hohen Stellen-
        wert einräumt.
        Hierzu gehört selbstverständlich auch der finanzielle
        Einsatz. Ich darf daran erinnern: In den Jahren 1999 bis
        2003 sind jährlich weit über 100 Millionen Euro allein in
        die Behörde der Bundesbeauftragten geflossen. Trotz der
        angespannten Haushaltslage sieht der Regierungsent-
        wurf für die Behörde der Bundesbeauftragten – wie
        2004 – auch im Jahr 2005 beachtliche 99 Millionen Euro
        vor. An der Bewältigung der historischen Aufgabe der
        Aufarbeitung der SED-Diktatur arbeiten dort mehr als
        2 300 Mitarbeiter. Insgesamt flossen seit 1991 dafür aus
        dem Bundeshaushalt rund 1,5 Milliarden Euro.
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        Es ist aber leider eine unumstößliche Tatsache, dass
        arüber hinaus im Haushalt 2005 kein Spielraum für
        eue, kostenintensive Projekte vorhanden ist. Die Kos-
        en für die Rekonstruktion der vorvernichteten Unterla-
        en beschränken sich leider nicht auf die in Ihrem An-
        rag erwähnten 6,5 Millionen Euro. Die Gesamtkosten
        ür das Projekt betragen vielmehr rund 65 Millionen
        uro. Hinzu kommen jährliche Folgekosten von circa
        00 000 Euro, die im Kapitel der Behörde zu veranschla-
        en wären. Wer diesen Zusammenhang nicht nennt – Ihr
        ntrag verschweigt diese Tatsache –, rechnet den Betrag
        on 6,5 Millionen Euro für das Pilotprojekt letztlich
        das muss man ehrlicherweise sagen – schön.
        Ob die Durchführung einer Pilotstudie Sinn macht,
        enn nicht zumindest Aussichten bestehen, die zu erpro-
        ende Technik dann auch wie geplant einzusetzen und
        as Gesamtprojekt durchzuführen, erscheint mir zwei-
        elhaft. Ich bestreite nicht die fachkundige Analyse der
        undesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, die darauf
        ingewiesen hat, dass aus den bereits rekonstruierten
        nterlagen vor allem historisch und archivarisch wert-
        olle Erkenntnisse gewonnen wurden. Dennoch: Der
        ergleich der mutmaßlichen Ergebnisse der Pilotstudie
        it den Aufwendungen und Ergebnissen der bisher er-
        olgten manuellen Rekonstruktion ist unredlich. Dies
        eiß jeder, der die personalwirtschaftlichen Hinter-
        ründe kennt.
        Hinzu kommt, dass – auch dies gehört zu einer voll-
        tändigen Abwägung – die Pilotstudie – so sagt schon
        ie Bezeichnung – nicht ohne technisches Risiko ist. Ob
        ieses Risiko sowie die übrigen Einschränkungen hin-
        ehmbar sind, ist letztlich eine Abwägungsfrage, die al-
        erdings nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichti-
        ung auch der Haushaltslage beantwortet werden kann.
        Wie sind hier die Gegebenheiten? Der Haushalt des
        undesministeriums des Innern für das kommende Jahr,
        st durch Personalausgaben sowie von Mehrausgaben für
        en Sicherheitsbereich gekennzeichnet. Gleichwohl leis-
        et das Bundesinnenministerium auch seinen solidari-
        chen Beitrag für die Konsolidierung des Bundeshaus-
        alts. So sind unter anderem 100 Millionen Euro globale
        inderausgabe im Haushaltsjahr 2005 im Einzelplan
        es Bundesinnenministeriums zu erwirtschaften.
        Bei der vorhandenen Haushaltslage muss der Ge-
        ährleistung und Weiterentwicklung der inneren Sicher-
        eit Priorität vor anderen, durchaus bedeutenden und
        ünschenswerten Aufgaben eingeräumt werden. Für Si-
        herheitsüberprüfungen der Beschäftigten im öffentli-
        hen Dienst und anderer Personengruppen wird das Pro-
        ekt ohnehin, und zwar weder das Gesamtprojekt noch
        ie Pilotstudie, keine nutzbaren Erkenntnis mehr bringen
        önnen, denn wie Ihnen bekannt ist, werden die Fristen
        nsoweit Ende 2006 auslaufen.
        Bei einer Verbesserung der Haushaltslage – darin sind
        ich wohl die Fachpolitiker aller Fachrichtungen einig –
        erden wir das Projekt der IT-gestützten Rekonstruktion
        orvernichteter Unterlagen erneut auf die politische Ta-
        esordnung setzen.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12757
        (A) )
        (B) )
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter-
        nationalen Arbeitsorganisation über Aus-
        weise für Seeleute und zur vereinfachten
        Freistellung vom Visumserfordernis
        (Tagesordnungspunkt 14)
        Dr. Margit Wetzel (SPD): Im Juni 2003, unmittelbar
        nachdem 129 Mitgliedsländer der ILO mit allen Stim-
        men der deutschen sowie der amerikanischen Delegation
        das neue Übereinkommen über Identitätsausweise für
        Seeleute angenommen hatten, appellierte der Verband
        Deutscher Reeder an die Bundesregierung und die Ge-
        setzgebungsorgane, die innerstaatliche Gesetzeslage
        rasch an das neue Übereinkommen anzupassen und des-
        sen Ratifizierung unverzüglich in die Wege zu leiten, da-
        mit es zu einer schnellen internationalen Anwendung des
        Übereinkommens kommt, um bereits eingeleitete regio-
        nale Eigenentwicklungen künftig zu verhindern, die
        nicht im Interesse der weltweiten und nationalen See-
        schifffahrt liegen. Eigentlich ganz im Sinne der Regie-
        rung, denn schon die G-8-Gipfeltreffen 2002 in Kanada
        und im Juni 2003 in Frankreich hatten diese Forderung
        aufgestellt.
        Diese hochrangigen Bemühungen und der Appell der
        Reeder hatten und haben einen sehr realen Hintergrund:
        Die Internationale Konvention der IMO zum Schutz von
        Schiffen und Häfen vor terroristischen Anschlägen, der
        so genannte ISPS-Code, der auf Drängen Amerikas
        Ende 2002 beschlossen und über die SOLAS-Vereinba-
        rung schnellstmöglich, nämlich zum 1. Juli 2004, inter-
        national in Kraft gesetzt wurde, hatte die Fragen der
        Identitätskontrolle von Schiffsbesatzungen ausgespart.
        Hier musste also dringend nachgearbeitet werden. Wieso
        dringend? Weil nach den Anschlägen vom 11. Septem-
        ber das internationale Bemühen um „security“ eine über-
        ragende Bedeutung gewann, sich aber niemand Gedan-
        ken darum machte, dass die 90 Prozent des Welthandels,
        die über Schiffe abgewickelt werden, Arbeitskräfte brau-
        chen, die an Bord dieser Schiffe arbeiten, die ihren Ar-
        beitsplatz „Schiff“ in Häfen erreichen müssen. Besatzun-
        gen – will man sie nicht wie Gefangene am Arbeitsplatz
        behandeln, sondern ihnen ihre ganz normalen Men-
        schenrechte zugestehen – müssen in Häfen zum Land-
        gang von Bord dürfen. Reeder haben ein absolut ver-
        ständliches Interesse daran, den Crewwechsel so
        reibungslos wie möglich vollziehen zu können: Die
        Identität von Seeleuten muss auf verlässlicher, moderns-
        ter und international einheitlicher Grundlage, kosten-
        günstig und schnell feststellbar sein, damit eine ausge-
        wogene Balance geschaffen wird zwischen den
        Sicherheitsbedürfnissen der Staaten, den individuellen
        Menschenrechten der Seeleute und den Handelsinteres-
        sen der Wirtschaft.
        Dies alles wurde mit der ILO Konvention 185 er-
        reicht. Unsere französischen Nachbarn haben zum Bei-
        spiel sehr schnell ratifiziert: Die ILO 185 wird zum
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        . Februar 2005 in Kraft treten. Jeder Seemann soll ei-
        en international gleichen Identitätsausweis erhalten, ein
        okument, das ihm die aktive Berufsausübung beschei-
        igt, das später gegebenenfalls ein biometrisches Merk-
        al enthält, ein Dokument, dessen Daten für Kontrollen
        n einer international stets zugänglichen nationalen Da-
        enbank gespeichert sind: das Dokument, das ihm nach
        nternationalem Übereinkommen ohne weitere Bürokra-
        ie den Landgang und zusammen mit seinem Pass mög-
        ichst auch die visumsfreie Durchreise zum Schiffswech-
        el oder zum Heimaturlaub ermöglichen soll.
        icherheitsbegründete Ausnahmeregelungen sind selbst-
        erständlich möglich.
        Deutschland aber hat die Konvention wider Erwarten
        isher nicht ratifiziert, sondern ist immer noch mit der
        rüfung befasst. Und genau hier setzt der eigentlich ein-
        ütige Wille des Parlaments – quer über alle Fraktionen
        es Bundestages – ein: Wir wollen, dass die Prüfung
        chnellstmöglich zu Ende gebracht, die Ratifizierung
        orgenommen, in nationales Recht umgesetzt und vor
        llem so schnell wie möglich zur Realität gebracht wird.
        ie Unterschiede bezüglich des möglichen Verzichts auf
        in Visum in den Anträgen der Fraktionen dürfen wir bei
        ieser Debatte getrost vernachlässigen: Sie kommen,
        enn überhaupt, erst zum Tragen, wenn es die nationale
        esetzliche Implementierung der Prüfungsergebnisse
        ibt. Gerade bei der Visumsfrage sollten wir einen er-
        änzenden Blick auf die vom Europäischen Rat geplante
        atenbank des Visa-Informationssystems VIS werfen,
        as inklusive der biometrischen Daten bis Ende 2007
        erwirklicht sein soll.
        Warum haben wir Parlamentarier es denn so eilig?
        arum drängen wir in Form von Anträgen und einer
        lenardebatte die Ministerien zur Eile, wenn doch schon
        eit mehr als einem Jahr geprüft wird? Werfen Sie mit
        ir einen Blick auf die derzeitige Praxis in vielen Häfen
        er Welt: Landgang ist für Seeleute aufgrund der kurzen
        iegezeiten ihrer Schiffe inzwischen auch ohne Sicher-
        eitshintergrund schon schwierig geworden. Für viele
        on ihnen ist er inzwischen unmöglich. Zahlreiche wich-
        ige Welthäfen haben seit dem 1. Juli 2004 derart kom-
        lizierte, bürokratische Sicherheitsvorschriften, dass die
        eit nicht reicht, all die bürokratischen Anforderungen
        u erfüllen. So wird Verzicht auf Landgang erzwungen.
        n vielen Häfen dürfen Seeleute aus islamischen Ländern
        berhaupt nicht mehr von Bord. In manchen Häfen darf
        ie ganze Besatzung nicht von Bord, wenn die Angaben
        ines einzelnen Seemanns meist islamischer Herkunft
        ngezweifelt werden. Selbst schwer kranke Seeleute
        urften in amerikanischen Häfen nicht von Bord zur Be-
        andlung gebracht werden. Das erinnert fatal an Rassen-
        iskriminierung.
        Oder stellen Sie sich vor, was mir aus dem Hafen
        amburg berichtet wurde: Ein Seemann darf sein Schiff
        um Landgang verlassen und soll, weil sein Schiff in-
        wischen zum Laden oder Löschen an einen anderen Kai
        erholt, dort nach drei Stunden wieder seine Arbeit an-
        reten. Er kann aber nicht an Bord, weil an dem anderen
        erminal andere Sicherheitsvorschriften gelten, die er
        orher nicht kannte. Was dann? Pakistanische Besat-
        ungsmitglieder durften in Brunsbüttel nicht einmal zum
        12758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Landgang von Bord, um mit ihren Familienangehörigen
        zu telefonieren. Oder denken Sie an all die Reedereien,
        die ihre Crew wie üblich in irgendeinem Hafen der Welt
        auswechseln wollen: Die alte Besatzung darf nicht von
        Bord, darf nicht zum Flughafen, um zum nächsten Schiff
        zu kommen oder den verdienten Heimaturlaub anzutre-
        ten. Auch das ist übrigens in unserem Welthafen Ham-
        burg geschehen. Wie viele Besatzungen mussten deshalb
        schon weiterarbeiten und an Bord bleiben, obwohl der
        Heuervertrag zu Ende war. Wie viel Leid bei Seeleuten,
        wie viele unnötige Kosten bei Reedereien sind daraus
        bereits entstanden. Seeleute werden wirklich zu Gefan-
        genen auf ihren Schiffen – das kann so nicht bleiben, das
        muss schnellstens geändert werden.
        Landgang ist für den Seemann ein ebenso grundle-
        gendes Menschenrecht wie das Recht darauf, seinen Ar-
        beitsplatz erreichen und verlassen zu dürfen. Was wür-
        den wir sagen, wenn man uns in unseren Häusern
        einsperrte, Besucher nicht durchlässt und uns das Verlas-
        sen des Hauses aus Sicherheitsgründen untersagt? Das
        ist nicht vergleichbar? Oh doch! Denn auch Besuch darf
        der Seemann in vielen Häfen nicht mehr empfangen. Da
        ist zum Beispiel die Kapitänsfrau, die nach langer An-
        reise zu ihrem Ehemann in der Schleuse Kiel-Holtenau
        nicht an Bord durfte. Selbst den Diakonen der See-
        mannsmission und den Vertretern der Gewerkschaft wird
        das Betreten der Schiffe unendlich schwer gemacht: Sie
        sind es, die wenigstens noch Kontakt zur Außenwelt
        schaffen können, die Medikamente, Briefe von Angehö-
        rigen oder die dringend benötigten Telefonkarten brin-
        gen könnten – wenn man sie ließe. Aber auch da sieht es
        schlimm aus: Seemannsdiakone berichten davon, dass
        sie sich beim Zugang zum Hafen ausweisen müssen, am
        Terminal noch einmal und an Bord des Schiffes ein drit-
        tes Mal. In vielen Fällen müssen sie ihren Identitätsnach-
        weis abgeben, was nach Verbrauch von Personalausweis
        und Führerschein dann letztlich schwierig wird.
        Da können wir nicht tatenlos zusehen. In jedem Ha-
        fen, an jedem Kai, auf jedem Schiff andere Sicherheits-
        bestimmungen – so kann kein Seemann arbeiten. Und
        genau deshalb, aus dieser Verantwortung den Arbeitge-
        ber für ihre Besatzungen heraus, kam auch der eingangs
        erwähnte Appell der Reeder, dass wir für eine schnellst-
        mögliche Umsetzung der Konvention 185 sorgen sollen.
        Deshalb nun die einmütige Aufforderung der Fraktionen
        an die Mitarbeiter in den Ministerien, die dort ihrer Prüf-
        arbeit nachgehen: Bitte denken Sie daran, dass auf den
        Schiffen Menschen arbeiten, Menschen mit dem Bedürf-
        nis nach unbürokratischem Landgang, mit dem Bedürf-
        nis, ihren Arbeitsplatz zu erreichen und verlassen zu
        können, mit dem Bedürfnis, zurück in die Heimat zu ih-
        rer Familie zu fahren. Um mehr geht es nicht, aber auch
        nicht um weniger. Was unsere französischen Nachbarn
        können, wollen wir auch, nämlich schnellstmöglich die
        ILO Konvention 185 ratifizieren. Seeleute dürfen nicht
        de facto über ihren Beruf als potenzielle Terroristen dis-
        kriminiert werden. 129 Länderdelegationen haben im
        Wissen um den ISPS-Code im Juni 2003 ihr Bestes ge-
        tan, um die Menschenwürde der Seeleute, die Handelsin-
        teressen der Reeder und die Sicherheitsbedürfnisse der
        Staaten in Einklang zu bringen. Die Ausweise für See-
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        eute, den damit visumsfreien Landgang und die erleich-
        erte Durchreise – wo immer vertretbar – ohne Visum,
        ber mit internationalem Seemannsausweis und nationa-
        em Pass, hätte es – als Gebot der Menschenwürde – be-
        eits zum 1. Juli 2004 geben müssen.
        Ich danke Ihnen für die – trotz kleiner Differenzen –
        och im Kern breite überfraktionelle Unterstützung zur
        atifizierung der ILO-Konvention 185.
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Seit
        en Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 haben
        ragen von Sicherheit und Schutz einen neuen herausra-
        enden Stellenwert erhalten. Jeder bekommt das fast
        agtäglich am eigenen Leib zu spüren: am Flughafen,
        eim Grenzübertritt, bei der Abschirmung öffentlicher
        ebäude. Überall haben die Sicherheitsvorkehrungen
        ugenommen. Handel und Tourismus sind in Mitleiden-
        chaft gezogen, besonders beim Warenverkehr mit den
        SA. Die Folgen sind bekannt und wirken weltweit.
        Auch und ganz besonders ist die Seeschifffahrt davon
        etroffen. Jedoch wird dieses Mehr an Auflagen und
        ürokratie, an Zeitaufwand und Kosten von der Öffent-
        ichkeit nur wenig wahrgenommen, weil sich die Han-
        elsmarine derzeit in einem Boom, in einem Aufwind
        efindet wie seit Jahren nicht mehr. Unsere Reeder,
        nsere deutschen Schifffahrtsgesellschaften sind derzeit
        rfolgreich wie nie zuvor! Sie bereedern nahezu
        500 Handelsschiffe mit einer Bruttoraumzahl von
        7,5 Millionen, das heißt eine Vervierfachung der Flotte
        eit 1991. In der Welthandelsflotte nimmt die deutsche
        esamtflotte nach Eigentumsverhältnissen und BRZ-
        onnage hinter Griechenland, Japan und Norwegen in-
        wischen den vierten Platz ein. China und sogar die
        SA sind längst überholt. Zu diesem Erfolg sollten wir
        ratulieren und die Tüchtigkeit aller Beteiligten anerken-
        en.
        Die beispielhafte Entwicklung der deutschen See-
        chifffahrt, aber auch der Boom in der Weltschifffahrt
        ecken jedoch Defizite auf: Die Nachfrage nach qualifi-
        iertem Seepersonal steigt ständig, das Angebot leider
        icht. Im Gegenteil: Immer weniger junge Menschen
        ollen zur See fahren. Mangel an deutschem Seefach-
        ersonal ist die Folge, der Arbeitsmarkt für Seeleute ist
        ie leer gefegt. Auch deshalb, weil wir in den letzten
        ahren versäumt haben, auf den Nachwuchs zu setzen.
        ie Reeder greifen zunehmend auf ausländische Crews
        urück. Schiffspersonal kommt heutzutage aus Indien,
        roatien, Russland und vielen anderen Ländern und das,
        bwohl die deutschen Fachkräfte als die Zuverlässigsten
        elten, so die Einschätzung des Vorstandes der Flensbur-
        er Reedereien Tom Jakob.
        Die momentane gespannte Lage auf dem Arbeits-
        arkt für Seeleute hat allerdings viele Väter: So zwingt
        er wachsende Kostendruck die deutschen Reeder dazu,
        ich ausländisches Personal ins Boot zu holen. Beson-
        ers nach der Osterweiterung ist es einfacher denn je, ei-
        en kroatischen oder polnischen Seemann einzustellen.
        ber auch Mitarbeiter aus anderen Kontinenten sind zu-
        ehmend verfügbar. Der große Unterschied besteht nicht
        n der Ausbildung, sondern in den Kosten: So schlägt ein
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12759
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        indischer Kapitän lediglich mit 5 000 Dollar im Monat,
        ein deutscher mit 12 000 bis 15 000 Dollar zu Buche.
        Junge deutsche Anwärter für den Dienst auf See wissen
        um ihre Konkurrenz und bewerben sich erst gar nicht.
        Aber auch die Lotsen werben massiv um hoch qualifi-
        zierte Seeleute und verschärfen den Nachfrageüberhang
        auf dem Markt, weil sie selber Nachwuchsmangel ha-
        ben. Sie locken mit hoher Bezahlung und attraktiven Ar-
        beitszeiten an Land. Auch der relativ hohe Verdienst
        trägt zum Abgang von Bord bei. Kostendruck und inter-
        nationaler Wettbewerb dürfen jedoch nicht über das ei-
        gentliche Problem bei der Nachwuchsförderung von
        Seepersonal hinwegtäuschen: Über 20 Jahre lang wurde
        dieser Beruf in seiner Bedeutung, seinen Herausforde-
        rungen und seiner Attraktivität unter Wert diskutiert.
        Motive wie viel Geld und viele Abenteuer stehen bei
        vielen Berufsanfängern nicht mehr so hoch im Kurs wie
        früher. Freizeit und Familie kommen heutzutage an ers-
        ter Stelle. Monatelanges Vagabundieren auf den Ozea-
        nen ist nicht mehr angesagt. Das Bild des fliegenden
        Holländers ist bei vielen noch im Kopf, wenn es ums
        Anheuern auf einem Schiff geht, und das, obwohl sich
        die Zeit auf See wesentlich verkürzt hat: Wurde früher
        im Schnitt noch 9 Monate zur See gefahren, so sind es
        heute noch 3 bis 4 Monate. Genügend Zeit für Frau und
        Kind. Hoffentlich.
        Mangelnde Attraktivität des Berufstandes scheint ein
        Hauptproblem zu sein, auch wenn jetzt nach Angaben
        des aktiven Verbandes Deutscher Reeder 540 Ausbil-
        dungsplätze – 200 mehr als in den vergangenen Jahren –
        besetzt sind. Die Bundesregierung hat zwar das Problem
        erkannt, handelt aber höchst ambivalent. Auf der einen
        Seite fördert sie die Ausbildung junger Seemänner drei
        Jahre lang mit 25 500 Euro pro Platz, auf der anderen
        Seite fährt sie teilweise nationale Alleingänge bei der
        Gefahrenabwehr, was zu unzumutbaren Beeinträchti-
        gungen für das Seepersonal führt.
        Auch die Anschläge vom 11. September und ihre Fol-
        gen haben der Attraktivität des Berufstandes nachhaltig
        geschadet. Mit den Terrorangriffen auf die USA hat das
        Thema Gefahrenabwehr eine ganz neue und globale Di-
        mension erhalten. Für die Schifffahrt und die Betreiber
        von Hafenanlagen gipfelte es in der Einführung des
        ISPS-Code am 1. Juli dieses Jahres und den damit ver-
        bundenen neuen Sicherheitsmaßnahmen. Seitdem ist
        nichts wie vorher bei Reedern und Häfen: Hafenanlagen
        mussten mit Zäunen abgesichert, Sicherheitsoffiziere an
        Bord der Schiffe, in den Unternehmen und in den Hafen-
        anlagen ernannt und ausgebildet sowie Trainingseinhei-
        ten mit der Besatzung durchgeführt werden. Allein die
        Anfangskosten für die deutschen Reeder belaufen sich
        auf mehr als 55 Millionen Euro. In den Folgejahren wer-
        den jährlich weitere 50 Millionen Euro veranschlagt.
        Für die erhöhten Sicherheitsanforderungen haben wir
        Verständnis. Das hohe Sicherheitsbedürfnis insbeson-
        dere der USA darf aber nicht dazu führen, dass die welt-
        weit 1,25 Millionen Seeleute auch in den Häfen sozusa-
        gen an Bord eingeschlossen sind und kaserniert werden,
        weil ihnen der Landgang nicht gestattet oder über die
        Maßen erschwert wird. An amerikanischen Häfen wird
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        hnen sogar jeglicher Landgang untersagt, wenn die Auf-
        agen nicht bis zum I-Tüpfelchen erfüllt werden. Be-
        affnete Wächter, die von den Reedern bezahlt werden
        üssen, hindern die Seeleute beim Verlassen der
        chiffe. Es gibt Fälle, so Berichte von Reedern aus Lü-
        eck, Hamburg und Flensburg, in denen Seeleute in eng-
        ischen und amerikanischen Häfen keinen Landgang er-
        ielten oder bei Rückkehr von Sicherheitskräften sofort
        ie Schwerverbrecher zu stundenlangen Vernehmungen
        bgeführt worden sind, mit der Konsequenz, dass sie ihr
        chiff vor der Abreise nicht mehr erreichen konnten.
        ies steht in eklatantem Widerspruch zu dem Prinzip,
        ass Seeleute für den Landgang keine Visa benötigen.
        ur Lösung dieses Problems hat die ILO eine Konven-
        ion über die Sicherheit der Ausweise für Seeleute erar-
        eitet, die den Landgang weiterhin ungehindert ermögli-
        hen soll. Die uns vorliegenden Anträge fordern
        emeinsam die schnelle Umsetzung dieser Konvention.
        Die Sicherheit darf nicht noch weiter zulasten unserer
        eeleute gehen. Sie haben schwer genug an den bisheri-
        en Auswirkungen des ISPS-Codes zu tragen: Es gibt
        ahlreiche Beispiele von Behinderungen und zum Teil
        uch Diskriminierungen von Seeleuten nach Einführung
        er Maßnahmen. Es wurde über Fälle von „Sippenhaft“
        ür das gesamte Schiff berichtet, nur weil einzelne Anga-
        en für ein Besatzungsmitglied von den Sicherheitsbe-
        örden angezweifelt wurden. Aber auch die sozialen
        ontakte vieler Seeleute sind durch den ISPS-Code ein-
        eschränkt und werden ad absurdum geführt: So er-
        chweren die unübersichtlichen bürokratischen Handha-
        ungen der Sicherheitsvorschriften in einigen – auch
        eutschen Häfen – den Kontakt der Familie mit den See-
        euten. So wurde beispielsweise pakistanischen Besat-
        ungsmitgliedern an einer Hamburger Schleuse der
        andgang für Telefonate mit Familienangehörigen vom
        GS verboten. Auch durften drei Seeleute ihre Reise
        icht wie geplant beenden, um den Heimflug von Ham-
        urg aus anzutreten. In Kiel durfte die Ehefrau eines Ka-
        itäns diesen an Bord nicht besuchen und musste unver-
        ichteter Dinge wieder abreisen. Diese Fälle, wenn auch
        inzelfälle, gefährden zunehmend die Attraktivität für
        autische Berufe und behindern extremst die Nach-
        uchsförderung.
        Einem jungen Berufsanfänger ist es nur schwer zu
        ermitteln, um es zugespitzt zu formulieren, dass er in
        einem zukünftigen Beruf als potenzieller Terrorist ein-
        estuft wird. Die soziale Situation vieler Seeleute an
        ord, insbesondere die Arbeitsbedingungen, hat mit Ein-
        ührung des ISPS-Codes die Grenzen der Zumutbarkeit
        berschritten. In vielen Fällen liegen die Beeinträchti-
        ungen nicht am ISPS-Code selbst, sondern an der Um-
        etzung dieser Vorschriften und an einer zu rigiden und
        uch oft uneinheitlichen Anwendung. Gerade Deutsch-
        and nimmt es mit der Umsetzung besonders, wenn nicht
        ogar zu genau. Fast alle Schiffe und Hafenanlagen sind
        ach den Vorschriften des ISPS-Codes zertifiziert. Vor-
        ildlich! Deutsche Schiffe sind aber nicht nur zertifi-
        iert! Deutschland ist Musterschüler, was die Umsetzung
        er IMO-Maßnahmen angeht. Selbstverständlich nicht
        hne Folgen für unsere Wirtschaft; denn die Kosten für
        12760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        übertriebene Maßnahmen tragen hierzulande die Unter-
        nehmen.
        Ein passendes Beispiel für die Umsetzung des ISPS-
        Codes auf deutschen Schiffen gibt der drei Seiten umfas-
        sende Bericht über die Jahresinspektion der US Coast
        Guard auf einem deutschen Container-Frachter im Hafen
        von New York. Nach Beendigung der über vier Stunden
        dauernden Inspektion stellten die Inspektoren beein-
        druckt fest, dass es nichts, aber rein gar nichts zu bemän-
        geln gab. So etwas hatten sogar die amerikanischen Be-
        hörden bis dato nicht erlebt.
        Probleme gibt es dennoch genug. Es sind vor allem
        Behördenvertreter, die die Vorschriften ungerechtfertigt
        auslegen oder sich selbst nicht an die Regularien halten.
        Viele „designated authorities“ – das sind die Behörden
        eines jeweiligen Bundeslandes, die für die Gefahrenab-
        wehr zuständig sind – stellen im Rahmen der Umsetzung
        des ISPS-Codes zum Teil zu hohe Anforderungen. So
        sollten im Rahmen einer Insellösung Mindeststandards
        ausschließlich für Kreuzfahrtterminals in Deutschland
        eingeführt werden. Der ISPS-Code sieht aber weder für
        Schiffe noch für Hafenanlagen Mindeststandards vor.
        Die von den Küstenländern erarbeiteten Standards stell-
        ten eher Höchst- als Mindeststandards dar. Sie hätten zur
        Folge gehabt, dass das Kreuzfahrtgeschäft in deutschen
        Häfen zum Teil nicht mehr durchführbar gewesen wäre,
        weil die Kosten für die Betreiber ins Unermessliche ge-
        stiegen wären. So einen Behördenaufwand darf es nicht
        geben.
        Auch in anderen Fällen kommt es immer wieder zu
        überzogenen Anforderungen von Behördenvertretern,
        aber verantwortlich bleibt der Gesetzgeber. Erst wenn
        klar wird, dass im Vergleich zu europäischen Wettbewer-
        bern deutlich zu hohe Ansprüche gefordert wurden,
        rudern die Behörden nach Aussagen der Reeder wieder
        zurück.
        Die dringend erforderliche Planungssicherheit für die
        Unternehmen fehlt. Investitionen werden verschoben
        oder sogar aufgehoben. Das muss und darf nicht sein.
        Die Bundesregierung sollte daher nicht nur darauf ach-
        ten, dass in Deutschland alle Hausaufgaben gemacht
        werden. Sie hat auch dafür Sorge zu tragen, dass unsere
        Nachbarn und andere Länder den ISPS-Code ordnungs-
        gemäß umsetzen. Ansonsten kommt es zu Wettbewerbs-
        verzerrungen. So war es deutschen Technikern nicht ge-
        stattet, ein in einem spanischen Hafen liegendes
        deutsches Schiff nach einem Schadensfall zu reparieren.
        Die Spanier ließen die Deutschen unter Verweis auf den
        ISPS-Code nicht an Bord und forderten den Kapitän auf,
        einen spanischen Techniker an Bord zu nehmen. Ein
        nach ISPS-Code eindeutig unzulässiges Verhalten. Nach
        diesem Muster gibt es zahlreiche Beispiele. Einige Län-
        der legen den ISPS-Code zum eignen Vorteil aus. Hier
        muss die Bundesregierung einschreiten, denn die Mus-
        terschülerrolle in Sachen Auflagenerfüllung bringt in ei-
        ner globalisierten Welt bekanntermaßen oft nationale
        Nachteile.
        Die Problematik beim nationalen Alleingang bzw. bei
        staatlicher Ungleichbehandlung haben wir von der
        Union schon bei der Verabschiedung des Ausführungs-
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        esetztes zum ISPS-Code angesprochen. Damals hatten
        ir uns hier im Deutschen Bundestag für eine gerechtere
        erteilung der Kosten eingesetzt und einen Entschlie-
        ungsantrag eingebracht, der von der Regierungskoali-
        ion leider abgelehnt wurde. Es war und ist aus unserer
        icht nicht akzeptabel, für staatliche Verpflichtungen
        ach dem ISPS-Code Gebühren zu erheben.
        In anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel
        änemark, Polen, Spanien und Frankreich, werden Ge-
        ühren für die staatlichen Verpflichtungen nicht erho-
        en. Auch die Holländer – unsere schärfsten Konkurren-
        en – sind da geschickter als Manfred Stolpe: Dort
        bernimmt der Staat die Kosten für die geforderte Risi-
        obewertung und die Erstellung der Pläne zur Gefahren-
        bwehr. Geringere Kosten und Hafengebühren machen
        o den Seeverkehrsstandort Niederlande noch attrakti-
        er. Eine von vielen Konsequenzen: Rotterdam gewinnt,
        remen und Hamburg verlieren. Diese Einschätzung tei-
        en viele Kolleginnen und Kollegen quer Beet durch alle
        raktionen im Verkehrsauschuss. Doch die Regierung
        ewegt sich immer noch nicht. Sie will ein Exempel sta-
        uieren und die Wirtschaft zum Mitträger ihrer Finanznot
        achen.
        Zurzeit bemühen sich zahlreiche Verbände und Orga-
        isationen um eine ordnungsgemäße Umsetzung der
        MO-Maßnahmen. Dabei brauchen sie Unterstützung.
        Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        um Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen
        rbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur
        ereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis lie-
        en heute drei unterschiedliche Anträge zur Abstim-
        ung vor, die im Kern eigentlich identisch sind. Jeder
        ieser Anträge fordert die Bundesregierung auf, das
        AO-Abkommen Nr. 185 zügig zu ratifizieren und inner-
        taatliche Vorschriften gegebenenfalls anzupassen. Nie-
        and kann ein Interesse daran haben, den Aufenthalt
        nd den Austausch von Seeleuten in Deutschland unnö-
        ig zu erschweren. Regelmäßig werden in Deutschland
        ie Besatzungen der dort liegenden Schiffe ausgetauscht.
        ine Erschwerung des Austauschs der Besatzungen
        ürde auch den Güterverkehr nur unnötig behindern.
        Die internationale Arbeitskonferenz hat am 19. Juni
        003 ohne Gegenstimmen das Übereinkommen Nr. 185
        ngenommen, mit dem die Ausstattung der Seemanns-
        usweise mit zusätzlichen Identitätsmerkmalen festge-
        chrieben wurde. Mit dem Übereinkommen wird die
        in- und Durchreise von Seeleuten erleichtert. Für den
        andgang wird immer von der Visumspflicht abgesehen.
        ei der Durchreise von Seeleuten kann hingegen die Be-
        ntragung und Erteilung von Visa vor der Einreise fakul-
        ativ durch die Unterzeichnerstaaten verlangt werden.
        Die Regierungskoalitionen haben nun einen Antrag
        orgelegt, nach dem die Auswechselungen der Mann-
        chaften möglichst kostengünstig und ohne vermeidba-
        en Verwaltungsaufwand durchgeführt werden können.
        ieses Ziel kann dadurch erreicht werden, dass auf die
        isumspflicht verzichtet werden kann. Diese Feststel-
        ung ist an und für sich unkompliziert und unstrittig. Wir
        aben es hier nicht mit einem politisch umkämpften Vor-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12761
        (A) )
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        haben zu tun, an dem sich die Gegensätze zwischen Re-
        gierung und Opposition entzünden müssten. Es hätte
        dem Parlament gut zu Gesicht gestanden, sich an diesem
        Punkt einheitlich zu äußern. Dies hätte den gemeinsa-
        men Wunsch unterstrichen, den wirtschaftlichen Interes-
        sen des Reedereigewerbes keine unnötigen Steine in den
        Weg zu legen. Diesem Ziel wird hier im Bundestag nie-
        mand offensiv widersprechen.
        Union und FDP haben jedoch den Weg gewählt, sich
        dennoch ausländerpolitisch in dieser Frage zu profilie-
        ren. Während die Koalitionsfraktionen die oben ge-
        nannte Feststellung, dass von der Visumspflicht abgese-
        hen werden kann, ohne weitere Einschränkungen in der
        Begründung treffen, nehmen Union und FDP hier zu-
        sätzliche ausländerpolitische Hinweise auf, die mit dem
        Anliegen an sich gar nichts zu tun haben. So schlägt die
        Union im Begründungstext vor, dass die Bundesregie-
        rung vom Erfordernis der Einholung eines Visums bei
        der Durchreise verzichten kann, sofern dies mit dem
        Ausländerrecht in Einklang steht und Sicherheitsbelan-
        gen Rechnung getragen wird. Die FDP lässt im Begrün-
        dungstext ihres Antragstextes verlauten, dass die Bun-
        desregierung vom Erfordernis der Einholung eines
        Visums, bei der Durchreise verzichten kann, da die
        neuen Seemannsausweise biometrische Daten enthalten
        und deshalb hohen Sicherheitsstandards genügen.
        Der einzige Dissenz in der Sache besteht anscheinend
        darin, Selbstverständlichkeiten zusätzlich betonen zu
        müssen. Natürlich handelt die Bundesregierung stets im
        Einklang mit dem Ausländerrecht. Ebenso natürlich
        wird bereits im ILO-Abkommen Nr. 185 darauf hinge-
        wiesen, dass die zusätzlichen biometrischen Daten in
        den Seemannsausweisen eine visumsfreie Durchreise er-
        leichtern. Auch die Regierungsfraktionen weisen in
        ihrem Antrag darauf hin, dass ein Zusammenhang zwi-
        schen dieser Regelung und den gegebenen Sicherheits-
        fragen besteht.
        Union und FDP reicht dies nicht. Sie müssen noch
        einmal zusätzlich auf das Ausländerrecht verweisen. Mit
        Wirtschaftspolitik oder Schifffahrtsfragen hat dies nichts
        zu tun. Ich kann das Bedürfnis weiterer Anträge nur so
        verstehen, dass die Oppositionsfraktionen hiermit ein
        Zeichen der Marke „Das Boot ist voll“ setzen wollen.
        Das zeugt von wenig wirtschaftspolitischem Sachver-
        stand und einem hohen Bedürfnis, auch eine solche
        Sachfrage populistisch nutzen zu wollen. Ein solches
        Vorgehen ist dieser Frage nicht angemessen und ich
        kann diesen Politikstil daher nur bedauern.
        Hans-Michael Goldmann (FDP): Vor eineinhalb
        Jahren hat die FDP-Fraktion einen Antrag eingebracht,
        der die Bundesregierung aufforderte, das ILO-Überein-
        kommen 185 zügig zu ratifizieren. Wir zogen diesen An-
        trag zurück, um einen interfraktionellen Brief an die zu-
        ständigen Minister zu ermöglichen, leider ohne
        entsprechende Reaktion der Regierung.
        Anfang dieses Jahres versuchten wir dann fraktions-
        übergreifend, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg
        zu bringen, um der Regierung noch einmal Dampf zu
        machen. Erfreulich ist, dass es uns in den Ausschussbe-
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        atungen gelungen ist, beim Forderungsteil an die Regie-
        ung auf einen Nenner zu kommen. Damit sind wir uns
        lle hier im Hause im Ziel einig, dass die Bundesregie-
        ung das Übereinkommen schnellstmöglich umsetzen
        oll.
        Ziel des ILO-Übereinkommens 185 ist es, die Le-
        ens- und Arbeitsbedingungen für die Seeleute zu ver-
        essern und den Arbeitgebern den Personalwechsel auf
        hren Schiffen zu erleichtern. Arbeitnehmer und Reeder
        aren sich von Anfang an einig, dass dieses Überein-
        ommen ein richtiger und wichtiger Schritt ist, um die
        esteckten Ziele zu erreichen. Leider scheint die Bun-
        esregierung immer noch Probleme zu sehen, obwohl
        nzwischen auch die EU eine Ratifizierung empfohlen
        at.
        Die soziale Situation der Seeleute hat sich im letzten
        ahr deutlich verschlechtert. Durch das gestiegene Si-
        herheitsbedürfnis in den Häfen, ist die Absicherung der
        echtlichen Position der Seeleute dringender denn je.
        Ich gestehe offen, dass ich nicht vorausgesehen habe,
        ass der ISPS-Code solch gravierende Auswirkungen
        uf die soziale Situation der Seeleute nach sich ziehen
        ürde. Wie ich von der Seemannsmission erfahren habe,
        tehen Seeleute offensichtlich vielerorten unter einem
        error-Generalverdacht. Es kann nicht angehen, dass
        eeleute in englischen und amerikanischen Häfen keinen
        andgang erhalten oder stundenlang wie Schwerverbre-
        her zu Vernehmungen abgeführt werden. Dabei haben
        uch die USA dem ILO-Übereinkommen in Genf zuge-
        timmt. Das ILO-Übereinkommen sollte doch gerade zu
        rleichterungen beim Landgang der Seeleute führen.
        Die Erfahrungen der letzten Monate zeigen, wie drin-
        end die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens ist.
        ie Bundesregierung sollte sich hier nicht länger bitten
        assen und endlich zur Tat schreiten. Auf internationaler
        bene sollte die Regierung das Problem der sozialen,
        ituation der Seeleute auch bei der IMO zur Sprache
        ringen. Die Sicherheitsvorschriften im Rahmen des
        OLAS-Übereinkommens und des ILO-Übereinkom-
        ens sollten doch für Sicherheit sorgen. Es ist nicht hin-
        ehmbar, wenn einzelne Besatzungsmitglieder arabi-
        cher Herkunft nur wegen ihrer Herkunft unter Verdacht
        tehen. Das ist Rassismus und dagegen müssen wir vor-
        ehen. Der geplante neue Seeleuteausweis, der durch das
        LO-Übereinkommen 185 eingeführt werden soll, wird
        offentlich helfen, dieses Problem zu beseitigen. Also,
        och einmal zum Schluss mein Appell an die Regierung:
        atifizieren Sie endlich das ILO-Übereinkommen!
        nlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Marketing für die
        Hauptstadt Berlin (Tagesordnungspunkt 16)
        Brunhilde Irber (SPD): Lassen sie uns den Titel des
        ntrages der CSU/CSU zu Beginn genau anschauen:
        Marketing für die Hauptstadt Berlin“. Da die Federfüh-
        ung im Bereich Tourismus liegt, soll es sich wohl im
        eitesten Sinne um das touristische Marketing handeln.
        12762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        Nun zu den Fakten: Im Jahr 2003 gab es in Berlin
        11,4 Millionen Übernachtungen, im Vergleich zum Vor-
        jahr eine Steigerung um 2,6 Prozent. Mit diesen Werten
        verfestigt Berlin die Position des beliebtesten Städte-
        reiseziels in ganz Deutschland. Um es für sie noch deut-
        licher zu betonen: Die deutsche Hauptstadt zählt, neben
        London, Paris und Rom, zu den meistbesuchten Metro-
        polen Europas. Die Erfolgsgeschichte steigert sich
        enorm, wenn man sich die aktuellen Zahlen vor Augen
        führt:
        In den ersten acht Monaten besuchten insgesamt
        3,8 Millionen Hotelgäste die deutsche Hauptstadt, das
        sind rund 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die
        Zahl der registrierten Übernachtungen stieg im gleichen
        Zeitraum um 17 Prozent auf 8,7 Millionen an.
        Da in Ihrem Antrag deutlich differenziert wird zwi-
        schen deutschen und ausländischen Gästen, hier noch
        weitere Fakten: Die Anzahl der Ankünfte ausländischer
        Berlinbesucher stieg von Januar bis August diesen Jah-
        res um 27,9 Prozent auf 1,07 Millionen an. Bei den
        Übernachtungen wurde ein Wachstum von 24,5 Prozent
        auf 2,79 Millionen verzeichnet. Auch die Zahlen von
        Berlingästen aus dem Inland geben Anlass zu großer Zu-
        friedenheit: ein Plus an Gästen von 17,1 Prozent von Ja-
        nuar bis August, ein Übernachtungsplus von 13,7 Pro-
        zent auf rund 5,9 Millionen!
        Und zum Schluss dieser im höchstem Maße erfreuli-
        chen und positiven Zahlen noch ein paar Bemerkungen
        zu der Bettenauslastung und somit zum wirtschaftlichen
        Zustand der Beherbergungsbetriebe: Die 558 Berliner
        Betriebe hielten im August 2004 75 934 Betten für Gäste
        bereit. Dies sind rund 7 300 mehr als im Vorjahresmo-
        nat. Trotz dieser erhöhten Kapazität stieg die durch-
        schnittliche Bettenauslastung von 50,9 Prozent um
        knapp 6 Prozentpunkte auf 56,5 Prozent. So weit zum
        Hintergrund.
        Nun wollen sie also mit Ihrem Antrag dafür sorgen,
        dass das Marketing für Berlin mithilfe der Regierung
        weiter gestärkt und ergänzt wird. Ja sagen sie denn mal
        warum? Herr Nerger, Chef der Berlin Tourismus Marke-
        ting, und sein Team leisten hervorragende Arbeit und
        sind auf alle Fälle zu beglückwünschen. Warum soll
        denn die Bundesregierung hier noch zusätzlich aktiv
        werden und sich somit auch noch in eine Länderangele-
        genheit mischen?
        Ich brauche Ihnen doch Wohl hoffentlich nicht zu er-
        klären, dass Tourismus bei uns in der Bundesrepublik
        eine föderale Aufgabe ist. Außerdem dachte ich, müsste
        ich Ihnen auch nicht erklären, dass für das Auslandsmar-
        keting bei uns im Lande die Deutsche Zentrale für Tou-
        rismus zuständig ist. Diese fördern wir finanziell übri-
        gens seit der Regierungsübernahme mit über 30 Prozent
        mehr, als sie es zu ihrer Zeit getan haben. Wir setzten da-
        mit die richtigen Schwerpunkte, Sie nicht. Für das Mar-
        keting der Länder, und sie fordern eine finanzielle Unter-
        stützung für das Marketing eines Bundeslandes, ist allein
        das betreffende Bundesland zuständig. Und allein schon
        wegen der Missachtung dieser Strukturen in Ihrem An-
        trag haben sie sich mal wieder ins Abseits begeben. Wie-
        der mal nichts Neues von ihnen.
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        Doch begeben wir uns nun in diesem Werk, auf die
        uche nach einer Antwort auf die eingangs gestellte
        rage, warum sie denn eine Marketingförderung für Ber-
        in für nötig halten, und dies trotz dieser traumhaften Zu-
        achsraten. Nur nebenbei: Die BTM – und ich zitiere
        örtlich – sagte vergangene Woche zu „Spiegel-
        nline“: „Das wird das beste Jahr, das wir je hatten.“
        ei dieser Suche nach einer Antwort stolpert man über
        ie Kernaussage, die da lautet, dass eine nicht ausrei-
        hend positive Wahrnehmung Berlins als Hauptstadt ge-
        eben sei. Aus ihrer eigenen Behauptung folgt nun für
        ie CDU/CSU – ich zitiere und hören sie bitte ganz ge-
        au zu –: „Über Berlin muss daher eine Bewusstseins-
        nderung bei den Menschen hin zur ‚Hauptstadt der
        eutschen’, national wie international, herbeigeführt
        erden“.
        Ich habe an Forderungen und Wünschen Ihrerseits,
        nsbesondere seitdem sie zum Glück in der Rolle der Op-
        osition sind, in diesem Hause und in den Ausschüssen
        a schon einiges von Ihnen erlebt, aber dies hier setzt ja
        un allem Vergangenen im absurdesten Sinne die Krone
        uf!
        Die Bundesregierung soll, ich betone nochmals, eine
        ewusstseinsänderung herbeiführen und dies alleine
        eicht noch nicht, denn dies soll auch noch bei allen
        enschen auf der Welt geschehen – ich wiederhole
        ochmals wörtlich – „bei den Menschen, national und
        nternational“. Warum nur formulieren sie solche, man
        st ja fast geneigt zu sagen, Dummheiten. Ich stelle fest:
        s gehört sicherlich nicht zu den Aufgaben der Bundes-
        egierung, eine Bewusstseinsänderung bei den Men-
        chen in aller Welt in Bezug auf die Funktion Berlins
        erbeizuführen.
        Sie begründen leider auch überhaupt nicht, warum
        ies alles geschehen soll. Was haben sie denn nur gegen
        as derzeitige Bewusstsein der Menschen gegenüber
        ieser schönen und abwechslungsreichen Stadt. Touris-
        en aus aller Welt strömen in diese Stadt, die Zahl der
        bernachtungen steigt in enormen Maße an. Berlin hat
        ine kulturelle Vielfalt wie kaum eine andere Stadt in
        eutschland, Berlin ist das Mekka für eine Vielzahl von
        enschen aus den unterschiedlichsten kulturellen Berei-
        hen. Berlin ist ein wunderbares Schaufenster der ver-
        angenen und gegenwärtigen deutschen Architektur.
        erlin ist eine nahezu komplette Bühne, um die deutsche
        eschichte nachzuvollziehen. Nehmen wir die Anzahl
        er Besucher auf dem Dach dieses Gebäudes, in dem wir
        ns befinden. Meinen sie denn wirklich, die Millionen
        on jährlichen Besuchern hier im Reichstag wissen
        icht, dass sie sich in der Hauptstadt der Bundesrepublik
        eutschland befinden? Das kann nicht ihr Ernst sein.
        Im Übrigen: Haben sie überhaupt Zahlen von der
        ahrnehmung Berlins als Hauptstadt? Worauf begrün-
        en sich denn überhaupt ihre Annahmen, die sie hier äu-
        ern? Sie geben keinerlei Zahlen, geschweige denn Hin-
        eise an. Es scheint so, als gehe es hier wieder nur um
        ichtigtuerei und wieder mal werden nur Luftgespinste
        on ihrer Seite aufgebaut.
        Ich frage sie weiter, ob sie denn wirklich die Schaf-
        ung eines „Hauptstadtbezirkes Berlin“ nach dem Vor-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12763
        (A) )
        (B) )
        bild Washington D. C. anstreben. Abgesehen von allen
        damit verbundenen Schwierigkeiten und Gesetzesände-
        rungen möchte ich mich hierzu jetzt in diesem Moment
        nicht äußern. Eine Projektgruppe der Föderalismuskom-
        mission beschäftigt sich zurzeit mit diesem Thema: Sie
        werden sicherlich verstehen, dass wir uns hier nicht im
        vorhinein auf Richtungen festlegen lassen, ohne das end-
        gültige Ergebnis der Föderalismuskommission abzuwar-
        ten.
        Über die übrigen Forderungen ihres Antrages möchte
        ich mich nicht mehr auslassen. Diese sind natürlich mit
        Kosten verbunden, welche die Bundesregierung mal
        eben wieder aus dem Ärmel schütteln soll. Sie fordern
        doch immer nur mehr Geld, verweigern sich den Spar-
        vorschlägen und verklagen dann unseren Finanzminister
        in Karlsruhe. Ein trauriges Verhalten Ihrerseits.
        Ich betone nochmals, dass Berlin nicht nur eine Reise
        Wert ist, sondern dass sich aufgrund der Vielfältigkeit
        gleich mehrere Reisen nach Berlin lohnen. Berlin ist aus
        unserer Sicht ein tolles, interessantes und abwechslungs-
        reiches Reiseziel für nationale und internationale Gäste.
        Das, was sie hier abliefern, ist erschreckend, geht an
        den Kompetenzen und Aufgaben der Regierung vorbei,
        dient nichts anderem, als einmal mehr eine überaus posi-
        tive Entwicklung schlechtzureden.
        Sie benötigen dringend eine Bewusstseinsänderung,
        nicht die Touristen, die Berlin besuchen.
        Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Mit dem Antrag fordert die CDU/CSU die
        Bundesregierung auf, zusammen mit der Berlin Touris-
        mus Marketing, BTM, für drei Jahre eine Projektgruppe
        „Hauptstadt Berlin“ einzurichten. Der Bund soll diese
        Projektgruppe aus Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit för-
        dern. Die Federführung soll bei der Tourismus Marke-
        ting GmbH liegen. Inhaltlich soll die Hauptaufgabe die-
        ser Projektgruppe in der nationalen und internationalen
        Darstellung von Leistungen der Hauptstadt liegen, ins-
        besondere: Berlin als Spiegel der (gesamt-)deutschen
        Geschichte, Berlin – kultureller Schmelztiegel, Berlin –
        Tor zum Osten, Berlin – Architekturspiegel Deutsch-
        lands.
        Die Projektgruppe bzw. die in dem Antrag zur Feder-
        führung bestimmte Berlin Tourismus Marketing soll mit
        Botschaften, Außenhandelskammern, Goethe-Instituten,
        der Deutschen Welle, der Deutschen Zentrale für Touris-
        mus und anderen Institutionen zusammenarbeiten. Zu
        diesem Konzept möchte ich Folgendes anmerken:
        Erstens. Von der rot-grünen Bundesregierung wird
        eine engagierte und qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit
        gemacht. Die Opposition kritisiert das immer wieder als
        zu aufwendig und teuer. Darum ist es sehr erstaunlich,
        dass die CDU/CSU jetzt eine extra Marketing-Projekt-
        gruppe einrichten will. Deren Arbeit ist ja nicht zum
        Nulltarif zu haben.
        Zweitens. Die Aufgaben der Bundesregierung werden
        durch das Bundespresseamt und durch die einzelnen
        Ressorts, öffentlich dargestellt. Im Ausland repräsentie-
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        en die Botschaften, die Außenhandelskammern, das
        oethe-Institut, die Deutsche Welle und andere Institu-
        ionen die deutsche Politik. Es kann nicht Aufgabe einer
        euen Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“ sein, unter der
        ederführung der Berlin Tourismus Marketing GmbH
        ll diese bundespolitischen Institutionen unter dem Kri-
        erium „Hauptstadt“ zu koordinieren. Tourismuswer-
        ung ist im Übrigen eine Angelegenheit der Länder.
        Drittens. Die Hauptstadtfunktion stärkt Berlin – und
        as ist auch gut so. Es ist aber nicht Aufgabe des Bun-
        es, Mittel bereitzustellen, mit denen eine Institution des
        andes Berlin Werbung für die Bundespolitik macht. Ich
        alte es für wichtig, dass eine klare Trennung zwischen
        ufgaben des Landes Berlin und den Aufgaben des Bun-
        es bestehen bleibt.
        Viertens. Eine Prüfung der Schaffung eines „Haupt-
        tadtbezirks Berlin“ nach dem Vorbild der US-amerika-
        ischen Hauptstadt Washington, D.C. halte ich nicht für
        otwendig. Ich meine, dass es weder mit dem deutschen
        öderalen System noch mit dem Prinzip der kommunalen
        elbstverwaltung vereinbar ist, Berlin unter bundespoli-
        ische Verwaltung zu stellen. Ich werbe nach wie vor für
        ine Länderneugliederung mit einem Zusammengehen
        on Berlin und Brandenburg, sodass Berlin den Status
        iner Kommune bekommt.
        Kurzum: Unsere Fraktion lehnt den CDU/CSU-An-
        rag in allen Punkten ab. Die vorhandenen Bundesinsti-
        utionen machen gute Öffentlichkeitsarbeit und Werbung
        ür unsere Hauptstadt Berlin, sodass es keiner Unterstüt-
        ung durch eine Marketing-Projektgruppe bedarf.
        nlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Errichtung der Akademie der Künste (AdKG)
        (Tagesordnungspunkt 17)
        Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Um den wichtigs-
        en Punkt gleich vorneweg zu nennen: Was der Akade-
        ie der Künste, um die es in dieser Debatte geht, am
        enigsten nützt, ist ein kleinteiliger Streit um Kompe-
        enzen und Zuständigkeiten. Deshalb bin ich sehr froh,
        ass wir im Ausschuss für Kultur und Medien einen par-
        eiübergreifenden Weg zur Übernahme der Akademie
        er Künste in die Verantwortung des Bundes gefunden
        aben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, diesen Weg
        och einmal zu rekapitulieren.
        Es wird ja der Bundesregierung und insbesondere der
        taatsministerin für Kultur und Medien gelegentlich von
        nteressierter Seite der Vorwurf gemacht, die Kulturför-
        erung des Bundes sei unsystematisch oder gar ein
        lickenteppich, wie zuletzt Herr Nooke vernehmen ließ.
        un ist aber gerade die aktuelle Entscheidung zur Aka-
        emie der Künste ein Beispiel dafür, dass dieser Vorwurf
        anz und gar unberechtigt ist.
        Man muss nur einen Blick auf die Kriterien werfen,
        ach denen sinnvollerweise entschieden wird, wofür der
        12764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        Bund kulturpolitisch zuständig ist, um dies zu erkennen.
        Diese Kriterien sind nämlich sehr einfach nachvollzieh-
        bar. Neben der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
        steht die kulturelle Repräsentation des Gesamtstaates im
        Fokus der Bundesverantwortung. Daraus folgt, dass Kul-
        tureinrichtungen von übergeordneter nationaler Bedeut-
        samkeit bezüglich ihrer Förderung selbstverständlich Sa-
        che des Bundes sind. Diese nüchterne Feststellung
        ändert nichts daran, dass solche Einrichtungen – die
        Akademie der Künste gehört zweifellos zu ihnen – be-
        züglich ihres Nutzens gleichwohl eine Sache der Länder
        und des Gesamtstaates sind und bleiben. Nie ist daran
        gedacht worden, die Übernahme der Akademie der
        Künste in Bundesverantwortung als einen ersten Schritt
        zur Beschneidung der Kulturkompetenz der Länder zu
        sehen.
        Es ist also schon sehr kleinteilig gedacht, wenn – wie
        seitens des Bundesrates geschehen – argumentiert wird,
        zwar begrüße man die Absicht, im Rahmen des Haupt-
        stadtkulturvertrags vom 9. Dezember 2003 die finan-
        zielle Existenz der Akademie der Künste zu sichern,
        könne jedoch einer institutionellen Übernahme der Aka-
        demie durch den Bund in Form einer Körperschaft öf-
        fentlichen Rechts nicht zustimmen, da der Bund hier
        keine Kompetenzen besitze. Ich habe diese Argumenta-
        tion nie verstanden. Sie ist beliebig und widersprüchlich.
        An ihre Stelle muss die Frage treten, ob die Akademie
        der Künste eine kulturelle Einrichtung von übergeordne-
        ter nationaler Bedeutsamkeit zur kulturellen Repräsenta-
        tion des Gesamtstaates ist oder nicht. An dieser – und
        nur an dieser – Frage entscheidet sich, ob der Bund hier
        zuständig ist.
        Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Akademie so-
        wie auf die heute von ihr behandelten Themen und ihre
        heutigen Mitglieder liefert, so meine ich, eine eindeutige
        Antwort auf diese entscheidende Frage. Die Akademie
        der Künste entwickelte sich schon sehr früh von einer
        Ausbildungs- und Unterrichtsstätte für zunächst bil-
        dende Kunst und Architektur zu einem öffentlichen Fo-
        rum für Kunst- und Kulturdebatten. Spätestens seit der
        Präsidentschaft Max Liebermanns war die Akademie als
        eine nationale Institution der Kunstproduktion und -dis-
        kussion mit internationaler Bedeutung etabliert. Stets
        waren ihre Mitglieder Wegbereiter und Vorreiter. Dass
        die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur eine der
        Lebensadern moderner Gesellschaften ist, diese Einsicht
        wird durch Existenz und Arbeit der Akademie der
        Künste sehr markant.
        Die heutige Programmgestaltung unter der Präsident-
        schaft Adolf Muschgs zeigt diese Mittlerfunktion ganz
        deutlich. Diese Funktion und damit auch die Akademie
        als solcher ist zweifelsohne von gesamtstaatlicher Be-
        deutung, sowohl was die Repräsentation Deutschlands in
        der Welt betrifft als auch bezüglich der ästhetisch-politi-
        schen Selbstbestimmung der deutschen Gesellschaft
        nach innen. Die Vielfalt des Programms ist im Rahmen
        einer kurzen Rede gar nicht darstellbar. Sie reicht von
        Kunstdebatten in den Sparten Literatur, Film, Architek-
        tur, Bildende und Darstellende Kunst, Medienkunst und
        Musik über Preisverleihungen bis zu Debatten über Per-
        spektiven der internationalen Politik. Sie ist verbrieft
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        urch die internationale Besetzung der Akademie der
        ünste. Die bis zu 500 Mitglieder – unter ihnen Namen
        ie Rebecca Horn, Daniel Libeskind, Pierre Boulez,
        olfgang Hilbig, Pina Bausch und George Tabori – wer-
        en unabhängig von Staatsangehörigkeit, Wohnort und
        prache ausgewählt und sind lebende und lebhafte Illus-
        ationen der Rede vom internationalen Kulturstaat
        eutschland.
        Wenn man das alles zusammennimmt, kann es keinen
        weifel mehr daran geben, dass die Akademie der
        ünste eine kulturelle Einrichtung von übergeordneter
        ationaler Bedeutsamkeit zur kulturellen Repräsentation
        es Gesamtstaates ist und als solche ein für das ganze
        and bedeutsamer Impulsgeber. Wir können also die
        rage nach der Zuständigkeit des Bundes eindeutig und
        hne Zögern mit Ja beantworten. Die finanzielle Träger-
        chaft des Bundes inklusive Einrichtung einer Körper-
        chaft des öffentlichen Rechts durch den Bund ist die
        onsequente Folgerung daraus. Im Übrigens – das muss
        ier auch noch einmal festgehalten werden – ist das in-
        rnational renommierte Archiv der Akademie der
        ünste in Form einer Stiftung bereits in die Bundesver-
        ntwortung gegangen, ein Vorgang, bei dem niemand
        rotestiert hat, was die aktuelle Debatte um die Bundes-
        ompetenz erst recht unverständlich macht.
        Lassen Sie mich abschließend noch einmal bekräfti-
        en, dass ich mich freue, dass das Akademiegesetz nun-
        ehr – nach einigen kleinen Änderungen, über die wir
        mer gesprächsbereit waren – eine allgemeine Zustim-
        ung finden wird. Der Vision einer Akademie der
        ünste als einer nationalen Geistesinstanz, in der sich
        ulturelle und gesellschaftliche Debatten begegnen und
        reuzen, wird durch das vorliegende Gesetz eine gute
        rundlage gegeben. Lassen Sie uns gemeinsam daran
        eiterarbeiten.
        Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Jede
        ünze hat zwei Seiten. Auch auf die Übernahme der
        kademie der Künste Berlin/Brandenburg durch den
        und trifft diese Binsenweisheit zu. Die eine Seite, die
        ositive nämlich, ist, dass mit der Zustimmung zu dem
        esetz die Finanzierung einer Kulturinstitution von in-
        ernationalem Rang künftig gesichert ist. Als Kulturpoli-
        iker, der ich immer wieder für eine ausfinanzierte Kul-
        ur kämpfe, begrüße ich das ausdrücklich. Denn der
        und übernimmt nicht nur die Akademie der Künste.
        usätzlich werden die Deutsche Kinemathek und der
        erliner Anteil am Hamburger Bahnhof übernommen.
        Ganze 22 Millionen Euro lässt sich die Kulturstaats-
        inisterin das kosten. 16 Millionen fließen davon in die
        kademie. Dass da auch die Freude aufseiten der Künst-
        er groß ist, versteht sich. Der Geschäftsführer des Deut-
        chen Kulturrates, Olaf Zimmermann, zieht sogar den
        ut vor Frau Weiß: Denn dem Finanzminister
        2 Millionen Euro zusätzlich für die Kulturförderung
        bzuknöpfen, sei eine beachtenswerte Leistung.
        Das „Abknöpfen“ der Mittel an sich mag bei der der-
        eitigen Haushaltslage schon eine beachtenswerte Leis-
        ung sein. Dies möchte ich gern zugeben. Doch das Ver-
        ahren der Umsetzung des Gesetzes ist weniger
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12765
        (A) )
        (B) )
        beachtlich. Damit sind wir, Sie merken es meine Damen
        und Herren, bei der anderen, der negativen Seite der Me-
        daille. Denn die Kulturstaatsministerin ist mit ihrem Ge-
        setzesvorschlag in der Länderkammer am 14. Mai Knall
        auf Fall durchgerasselt. Die Erklärung dafür war ganz
        simpel: Was fehlte, war die Begründung, warum der
        Bund die Zuständigkeit für eine sich in Länderhoheit be-
        findlichen Kulturinstitution übernehmen wollte. Dass
        sich die Länder dabei in ihren föderalen Rechten verletzt
        sehen und auf den Schlips getreten fühlen würden, hätte
        die Kulturstaatsministerin voraussehen können und müs-
        sen. Hier wäre sauberes Arbeiten gefragt gewesen.
        Warum musste es unbedingt ein Gesetz sein? Frau
        Weiß hätte das ganze Hickhack mit den Ländern vermei-
        den können, wenn sie die Übernahmen im Rahmen des
        Hauptstadtkulturvertrages geregelt hätte, wie in der Ver-
        gangenheit ja auch.
        Außerdem hätte so vermieden werden können, dass
        die Kulturstaatsministerin einem Beschluss des Parla-
        ments vorausgreifen muss. Denn bereits seit dem 1. Ja-
        nuar erbringt der Bund seine Leistung und finanziert die
        Akademie der Künste. Auf welcher Basis, frage ich Sie,
        wenn wir erst jetzt, elf Monate später, ein Gesetz be-
        schließen? Hier ist über die Köpfe der Abgeordneten
        hinweg entschieden worden. Da kann ich Ihnen, Frau
        Weiß, nur dramatische handwerkliche Fehler attestieren!
        Meine Damen und Herren, noch etwas ist mehr als
        unglücklich: Ich meine die Knüpfung der Übernahme
        der Akademie der Künste an den Einsatz der frei wer-
        denden Mittel im Berliner Kulturetat für eine funktionie-
        rende Opernstiftung. Wohlgemerkt: funktionierend.
        Doch bisher funktioniert hier gar nichts. Nach einem
        Jahr der Suche kann Kultursenator Flierl immer noch
        keinen adäquaten Intendanten präsentieren. Warum
        wohl? Liegt es vielleicht doch am Konzept der Stiftung?
        Und ist die Opernstiftung vielleicht doch kein – ich
        zitiere die Kulturstaatsministerin aus einem „Focus“-
        Interview vom 17. November vergangen Jahres –
        „Exempel für modernes Kulturmanagement“?
        Was kann Berlin bislang vorweisen? „Big Brother in
        der Oper“, wie vorgestern die „Berliner Morgenpost“
        titelte. Sehen Sie, deshalb haben wir auch die Verknüp-
        fung von Opernstiftung und der Akademie der Künste
        immer kritisiert. Denn was die Akademie dringend be-
        nötigt, ist Planungssicherheit. Was sie durch das unsou-
        veräne Agieren von Frau Weiß bekommen hat, ist genau
        das Gegenteil.
        Sicherheit für die Akademie der Künste, das ist der
        Grund, warum wir dem Gesetz zustimmen. Ansonsten
        kann ich dem Gesetz nichts Positives abgewinnen. Denn
        es zeigt nur einmal mehr die Konzeptlosigkeit, mit der
        die Kulturstaatsministerin die Hauptstadtkultur betreibt.
        Oder würden Sie die „Entlastung des Berliner Kultur-
        haushaltes“ als Konzept bezeichnen?
        Ich nenne es eher Armutszeugnis und Flickschusterei.
        Sie hangeln sich von einer Notlösung zur anderen. Heute
        übernimmt der Bund die Akademie der Künste, den
        Hamburger Bahnhof und die Kinemathek. Morgen ist es
        vielleicht das Naturkundemuseum. Auf welcher Grund-
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        age? Erklären Sie mir doch einmal, warum es die Aka-
        emie der Künste Berlin/Brandenburg ist und nicht die
        kademie der Bildenden Künste in Nürnberg? Und wa-
        um der Hamburger Bahnhof?
        Ja, der Bund hat die Aufgabe, sich um die Hauptstadt-
        ultur zu kümmern. Daran gibt es nichts zu deuten. Ich
        inde es hervorragend, wenn sich der Bund nicht nur
        azu bekennt, sondern den Bekenntnissen Taten folgen
        ässt.
        Aber Kultur ist nun einmal auch Ländersache. Umso
        ichtiger ist es, dass wir alle – die Parlamentarier im
        undestag, aber auch die Länder – wissen, wohin die
        eise geht! Welche Kulturinstitutionen in der Hauptstadt
        lanen Sie, Frau Kulturstaatsministerin, noch vom Bund
        bernehmen zu lassen und auf welcher Basis? Was wir
        ringend benötigen, ist endlich eine klare Aussage da-
        über, für welche Kulturinstitutionen in der Hauptstadt
        er Bund und für welche das Land Berlin zuständig ist.
        ie Zeit des Förderns auf Zuruf muss endlich ein Ende
        aben!
        Frau Weiß, der November neigt sich seinem Ende ent-
        egen. Langsam beginnt die Zeit des Wünschens und
        es Schenkens. Ich wünsche mir von Ihnen, dass Sie
        ndlich ein in sich stimmiges und langfristiges Konzept
        ür das Engagement des Bundes in der Frage der Haupt-
        tadtkultur vorlegen. Und ich hoffe sehr, dass Sie uns al-
        en dieses Geschenk machen werden.
        Erika Steinbach (CDU/CSU): Hans Scharoun, der
        rste Präsident der neugegründeten Akademie der
        ünste in West-Berlin, sprach bei der Eröffnung im
        ahre 1954 von Freiheit und Wahrheit als den Sternen,
        ie über der Kunst und dem neuen Haus leuchten mö-
        en. Die Bundesregierung greift mit dem vorliegenden
        esetzentwurf nach diesen Sternen und möchte sie über
        ich selber leuchten sehen. Bei viel Verständnis für das
        rundanliegen der Bundesregierung, die Existenz der
        kademie der Künste zu sichern, lehnen CDU und CSU
        ie Vorgehensweise ab.
        Die Akademie der Künste ist seit ihrer Gründung im
        ahr 1696 Beratungsorgan ihrer Träger in künstlerischen
        ragen. Kaum eine heute noch aktive Institution in
        eutschland hat eine so ehrwürdige Tradition wie die
        kademie. Ihre Idee war maßstabsetzend für die „Hohe
        chule“.
        Gegründet wurde sie von Kurfürst Friedrich III. von
        randenburg mit dem hohen Anspruch, die Provinz
        randenburg kulturell den anderen deutschen Ländern
        nzugleichen. Unter Friedrich Wilhelm II. wurde die
        kademie der Künste gar zum Symbol der Modernisie-
        ung Preußens. Mit ihren liberalen und demokratischen
        rinzipien erwarb sie sich internationales Renommee. In
        er Weimarer Republik war sie der Anlaufpunkt der
        ünstlerischen Elite Deutschlands und Europas. Nach
        em vorläufigen Untergang der Akademie der Künste
        urch die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialis-
        en wuchs sie nach dem Krieg und insbesondere nach der
        ereinigung der Akademie der Künste West mit der
        kademie der Künste Ost im Zuge der deutschen Einheit
        12766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        wieder zu dem bedeutendsten Treffpunkt internationaler
        Künstler in Deutschland heran und knüpfte damit an ihre
        alte und herausragende Tradition an.
        Die Geschichte der Akademie der Künste verpflichtet
        uns heute, sie nicht als politischen Spielball zu benutzen.
        Sie verdient unser aller Unterstützung. Deshalb möchte
        ich auch heute keine Diskussion über die Gesetzge-
        bungskompetenz des Bundes zu dem uns vorliegenden
        Gesetz führen. Genauso lasse ich heute das Für und Wi-
        der der föderalen Vielfalt unserer Kulturpolitik aus dem
        Spiel, auch wenn mir die Bundesregierung die Bedenken
        des Bundesrates zu leichtfertig vom Tisch gewischt hat.
        Wir unterstützen das Bemühen der Bundesregierung,
        die finanzielle Existenz der Akademie der Künste zu si-
        chern. Wir schließen uns auch ihrer Auffassung an, dass
        die Akademie aus ihrer über 300-jährigen Tradition he-
        raus wie kaum eine andere nationale Institution im Aus-
        land als herausragende Repräsentanz deutscher Kultur
        wahrgenommen wird. Ebenso verschließen wir uns nicht
        dem von den Mitgliedern der Akademie geäußerten Wil-
        len einer Überführung in Bundeszuständigkeit.
        Wir kritisieren aber scharf die Vorgehensweise und
        Motive der Bundesregierung, die hinter diesem Gesetz-
        entwurf stehen. Bereits seit dem l. Januar 2004 finanziert
        der Bund die Akademie der Künste. Wir fragen uns, auf-
        welcher Grundlage dies geschieht, wenn wir erst heute
        über eine Übernahme der Trägerschaft debattieren.
        Die Übernahme der Trägerschaft wiederum ist ein
        zweifelhaftes Koppelgeschäft mit der Gründung der
        Opernstiftung. Dies weckt schlimmste Befürchtungen,
        da die Gründung der Opernstiftung mit schriller Begleit-
        musik einhergeht. Von „politischem Krieg“ und „Berli-
        ner Kulturkampf“ ist heute in den Medien die Rede. Wie
        kann man die Akademie der Künste zu diesem Zeitpunkt
        in derart stürmisches Fahrwasser werfen? Warum über-
        haupt lässt sich die Bundesregierung, wenn sie der Aka-
        demie eine herausragende und besonders förderwürdige
        Bedeutung zuspricht, auf dieses Kompensationsgeschäft
        ein? In anderen Fällen – ich erinnere an das Jüdische
        Museum – war das auch nicht der Fall.
        Dieses Gesetz wird immer den faden Beigeschmack
        behalten, dass Berlin die Akademie der Künste an den
        Bund abschiebt, um die neue Opernstiftung zu errichten.
        Dieses Vorgehen ist der Akademie der Künste unwürdig.
        Mit diesem Gesetzentwurf beteiligt sich die Bundes-
        regierung an einem abschreckenden Geschacher.
        CDU und CSU werden, um den Mitgliedern der Aka-
        demie der Künste und dem kulturellen Leben im In- und
        Ausland kein falsches Signal zuzusenden, heute dem
        Gesetzentwurf trotzdem zustimmen. Für uns steht die
        Existenz der Akademie der Künste im Mittelpunkt unse-
        rer Überlegungen. Dafür stellen wir erhebliche genannte
        Bedenken hinten an.
        Wir bedauern sehr, dass kein würdigeres Verfahren
        und Vorgehen gewählt wurde. Der Wechsel der Träger-
        schaft der Akademie der Künste bleibt ein weiteres un-
        rühmliches Kapitel dieser Bundesregierung. Die ein-
        gangs angesprochenen Sterne von Freiheit und Wahrheit
        leuchten heute leider nicht heller, weder über der Kunst,
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        och über der Akademie, und schon gar nicht über die-
        em Gesetzentwurf.
        Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        rinnern wir uns kurz: Die Entscheidung des Bundes,
        ie Akademie der Künste als Körperschaft des öffentli-
        hen Rechts zu übernehmen, wurde Ende 2003 im neuen
        auptstadtkulturvertrag festgeschrieben. Durch die ent-
        prechende Entlastung des Berliner Kulturhaushalts
        16 der insgesamt 22 Millionen Euro Entlastung sind
        er Übernahme der Akademie der Künste zu verdan-
        en – sollte der Berliner Senat in die Lage versetzt
        erden, die Berliner Opernreform durchzuführen. Tat-
        ächlich kann die Berliner Opernreform als Modell für
        ünftige Reformen im Kulturbereich betrachtet werden.
        ngesichts der derzeitigen Querelen und skandalösen
        andwerklichen Fehler bei der Suche nach einem Gene-
        aldirektor der Berliner Opernstiftung fragt man sich al-
        erdings, ob der Berliner Kultursenator selbst die Bedeu-
        ung dieser Reform überhaupt begriffen hat.
        Dieser Hintergrund und das derzeitige personelle
        ickhack dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,
        ass es sich bei der Entscheidung des Bundes, die Aka-
        emie der Künste als rechtsfähige Körperschaft des öf-
        entlichen Rechts in Trägerschaft des Bundes zu errich-
        en, um eine kulturpolitische Grundsatzentscheidung
        andelt. Denn dass die Akademie der Künste eine ehr-
        ürdige Institution mit nationaler und internationaler
        trahlkraft war und ist – darüber besteht kein Zweifel.
        eit ihrer Gründung 1669 ist sie ein Ort des internationa-
        en Austauschs von Künstlern; sie ist ein Hort der Demo-
        ratie, in dem das kulturelle Erbe Deutschlands gepflegt
        nd weiterentwickelt wird. Große Namen wie Felix
        endelssohn-Bartholdy, Thomas Mann, Heinrich Mann,
        ermann Hesse, Ricarda Huch, Alfred Döblin, Heiner
        üller – alle waren sie Mitglieder der Akademie – ste-
        en für den humanistischen Ansatz dieser internationa-
        en „Gelehrtenrepublik“. Was haben wir der Akademie
        er Künste nicht alles zu verdanken? Ohne sie wäre zum
        eispiel das Brandenburger Tor in seiner klassizisti-
        chen Form niemals gebaut worden. Stets, auch unter
        rößter Repression, bildete die Akademie der Künste
        ine Gegenkraft zu nationaler Engstirnigkeit. Dass ihr
        erzeitiger Präsident Adolf Muschg ein Schweizer ist,
        ein Vorgänger György Konrad ein Ungar, zeigt, dass
        ich die Akademie der Künste dieser Tradition bewusst
        t.
        Ich freue mich deshalb über das Engagement des
        undes und darüber, dass nun eine kompakte Lösung für
        iese Institution gefunden wurde. So kann die Rolle der
        kademie im kulturellen Austausch, bei der Vermittlung
        er Künste und der Pflege unseres kulturellen Erbes ge-
        ichert werden. In der Übernahme der Akademie der
        ünste zeigt sich eine doppelte Zuständigkeit des Bun-
        es: erstens seine besondere Verantwortung für die kul-
        urelle Entwicklung der Bundeshauptstadt, zweitens
        eine Zuständigkeit für Institutionen, die in besonderer
        eise der Repräsentation des Gesamtstaats dienen. Bei-
        es trifft im Falle der Akademie der Künste zu. Die Bun-
        eskompetenz, die von einigen Bundesländern ange-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12767
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        zweifelt wurde, ist damit eindeutig gegeben. Die
        Entscheidung ist verfassungskonform und sie liegt zu-
        dem im ureigenen Interesse des Gesamtstaats. Die neue
        Satzung der Akademie der Künste präzisiert diese be-
        sondere Kompetenz des Bundes; im Verwaltungsbeirat
        ist der Bund als Zuschussgeber mit der Mehrheit der
        Stimmen vertreten. An der künstlerischen Autonomie
        der Akademie wird dies selbstverständlich nichts än-
        dern.
        Von ihrem neuen Sitz am Pariser Platz im Zentrum
        Berlins wird die Akademie der Künste ihre Wirkung
        weiter entfalten, kulturelle Debatten anstoßen und so
        Kultur zu einem zentralen Bestandteil der – politischen –
        Identitätsfindung der so genannten „Berliner Republik“
        machen. Vergessen wir außerdem nicht: Die Zuwendun-
        gen und Preise der Akademie zur Unterstützung von
        Künstlern gewährleisten auch unter schwierigen ökono-
        mischen Bedingungen ein Klima, in dem sich Künstler
        in diesem Land willkommen fühlen dürfen.
        Nach Osteuropa pflegt die Akademie stets fruchtbare
        Kontakte, sodass sie zur kulturellen Vertiefung des euro-
        päischen Einigungsprozesses Wichtiges beiträgt. Über-
        haupt sollten wir uns über die immense Bedeutung die-
        ser Institution in einem zunehmend unübersichtlichen,
        von ökonomischen Sachzwängen geprägten Globalisie-
        rungsprozess im Klaren sein. Nur wenn das kulturelle
        und geistige Erbe Europas und Deutschland weiter le-
        bendig gehalten wird, kann die Globalisierung als ein
        humaner Prozess gestaltet werden. Für diesen Willen
        steht die Akademie der Künste.
        Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes-
        kanzler: Wir debattieren heute über das geistige Institut
        unserer Nation. Die Akademie der Künste blickt auf eine
        stolze, über 300 Jahre alte Tradition zurück. Als unab-
        hängige Künstlersozietät ist sie die älteste ihrer Art in
        Europa. Wie kaum eine zweite Institution bildet die Aka-
        demie die Entwicklung der Künste und den geistigen Zu-
        stand einer Gesellschaft ab. Sie ist damit nicht nur ein
        Kernelement der Kulturlandschaft in der Hauptstadt,
        sondern auch eine Einrichtung von internationaler Repu-
        tation.
        Mit der Übernahme in die finanzielle und rechtliche
        Obhut des Bundes soll die Akademie auch künftig für
        die Künste streiten. Wir wollen aber keine Staatsakade-
        mie, vielmehr sehen wir uns in der schönen Tradition der
        Akademiebewegung, einen freien Ort des freien Gedan-
        kens und des freien Urteils zu unterstützen. Vom Pariser
        Platz sollen künftig kulturpolitische Diskussionen ausge-
        hen, die ganz Deutschland bewegen, vielleicht sogar ver-
        ändern können. Die Akademie bleibt also inhaltlich au-
        tonom. Die von ihr ausgehenden Impulse entfalten sie
        coram publico; sie wirkt öffentlich. Durch ihre Veran-
        staltungen vermittelt sie wesentliche künstlerische Strö-
        mungen der Gegenwart. Durch ihr interdisziplinäres
        Archiv, ihre umfangreiche Bibliothek und die zwei Ge-
        denkstätten in ihrer Obhut trägt sie erheblich zur Pflege
        des kulturellen Erbes bei.
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        Mit seinem Engagement für die Akademie der Künste
        ertieft der Bund sein kulturpolitisches Engagement in
        erlin. Dieses Institut – ich kann es nur wiederholen –
        st von herausragender Bedeutung für die Kulturnation
        eutschland und es ist eben keine Regionalakademie.
        m ihre Strahlkraft zu erhalten, hat sich die Bundesre-
        ierung entschlossen – übrigens im völligen Einverneh-
        en mit dem Senat von Berlin und der Landesregierung
        randenburg – in die alleinige Verantwortung für die
        kademie einzutreten.
        In einem juristischen Sinne technisch gesprochen
        ielt das Ihnen vorliegende Gesetz auf die Errichtung ei-
        er rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts
        n Trägerschaft des Bundes. Sie soll an die Stelle der
        leichnamigen Körperschaft treten, die von Berlin und
        randenburg errichtet wurde. Mit der Übernahme der
        kademie kommt der Bund einer Verpflichtung nach,
        ie im Hauptstadtkulturvertrag vom 9. Dezember 2003
        nthalten ist. Er entlastet damit die Kulturhaushalte Ber-
        ins und Brandenburgs und sichert zugleich das finan-
        ielle Fundament der Akademie. Dieses Engagement des
        undes fügt sich ein in sein Gesamtkonzept für die Kul-
        ur in der Hauptstadt Berlin. Es schafft, wie Sie wissen,
        ie Voraussetzung für den Erhalt der drei Berliner
        pernhäuser, den ja alle Fraktionen dieses Hauses mit
        achdruck gefordert haben.
        Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
        4. Mai dieses Jahres das Ansinnen grundsätzlich be-
        rüßt, „im Rahmen des Hauptstadtlkulturvertrages die
        eitere finanzielle Existenz der Akademie der Künste,
        ie von den Ländern Berlin und Brandenburg getragen
        ird, zu sichern“. Gleichwohl hat eine Mehrheit im Bun-
        esrat die Auffassung vertreten, dass der Bund nicht
        erechtigt sei, die Akademie als Körperschaft des öffent-
        ichen Rechts zu errichten, da die Gesetzgebungskompe-
        enz für kulturelle Angelegenheiten in der alleinigen Zu-
        tändigkeit der Länder liege.
        Die Bundesregierung hat diese Auffassung zurückge-
        iesen: Die Länder begrüßen in ihrer Stellungnahme
        rundsätzlich die Übernahme der Akademie und akzep-
        ieren sie damit als hauptstädtische Einrichtung, die – wie
        er im Ausschuss für Kultur und Medien angenommene
        nderungsantrag zum Gesetz noch einmal klar heraus-
        tellt – der nationalen wie internationalen Repräsentation
        es Gesamtstaates dient. Wenn dem so ist, dann sieht der
        und auch für die Umwandlung in eine Körperschaft
        ach Bundesrecht „eine evidente Handlungskompetenz“.
        Der Bundesregierung liegt es fern, die Kulturhoheit
        er Länder zu untergraben. Der Bund hat jedoch für die
        ulturnation Deutschland auch ungeschriebene Zustän-
        igkeiten: Befugnisse und Verpflichtungen, die ihrem
        esen nach im bundesstaatlichen Gesamtverband wahr-
        enommen werden müssen, stehen ihm aus der Natur
        er Sache zu. Die Bundesregierung sieht sich daher ver-
        assungsrechtlich befugt, die Akademie in eine Körper-
        chaft nach Bundesrecht umzuwandeln.
        12768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
        vom 18. November 2002 zur Gründung ei-
        ner Assoziation zwischen der Europäischen
        Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ei-
        nerseits und der Republik Chile andererseits
        – Antrag: Für einen europäischen-kolumbia-
        nischen Dialog und einen erfolgreichen Frie-
        densprozess in Kolumbien einsetzen
        (Tagesordnungspunkt 18 a und b)
        Lothar Mark (SPD): Das Assoziationsabkommen
        zwischen der EU und Chile ist das umfangreichste, das
        die EU jemals mit einem Drittstaat geschlossen hat, und
        es stellt damit einen Meilenstein für die Beziehungen
        zwischen der EU und Lateinamerika insgesamt dar.
        Nach Mexiko ist Chile das zweite Land, mit dem ein sol-
        ches Abkommen vereinbart wurde.
        Dieser Vertrag umfasst weit mehr als ein reines Han-
        delsabkommen. Der scheidende EU-Handelskommissar
        Pascal Lamy, beschreibt dies wie folgt: Mit der Unter-
        schrift unter dieses Dokument haben Chile und die EU
        vor dem Rest der Region die Verantwortung zur Bildung
        einer strategischen Beziehung zwischen Europa und La-
        teinamerika übernommen. – Es geht folglich um mehr
        als die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen, es
        geht auch um das gemeinsame Bekenntnis zu unseren
        Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte.
        Entsprechend den Vereinbarungen im politischen Pro-
        tokoll, das neben dem Wirtschafts- und Handelskapitel
        den zweiten Pfeiler bildet, sollen die EU und Chile ihre
        Positionen in Fragen der internationalen Politik künftig
        noch besser koordinieren und in internationalen Gremien
        gemeinsame Initiativen einbringen. Wir sind vom Nut-
        zen einer solchen Politik der internationalen Koopera-
        tion überzeugt, die auf Alleingänge bewusst verzichtet
        und unbedingt dem Konzept des Multilateralismus ver-
        pflichtet ist. Hinzu kommt als dritter Pfeiler ein Koope-
        rationsabkommen, das eine verstärkte Zusammenarbeit
        im kulturellen sowie im Bildungsbereich vorsieht und
        Chile einen privilegierten Zugang zu den Rahmenpro-
        grammen der EU gewährt.
        Die Handelsvereinbarungen des Abkommens bieten
        Chile Zugang zu einem Markt von über 450 Millionen
        Verbrauchern. Dem Land eröffnen sich damit Chancen,
        die von der Einführung neuer Qualitätsstandards und
        dem damit verbundenen Gewinn des Vertrauens der eu-
        ropäischen Verbraucher bis hin zur Diversifizierung der
        Absatzgebiete und der eigenen Produkte reichen.
        Selbstverständlich ist das Abkommen auch für Eu-
        ropa von allergrößtem Interesse. Im Weltbankbericht
        „Doing Business 2004“ wird Chile als bester Geschäfts-
        standort Lateinamerikas bezeichnet; unter den „Emer-
        ging Markets“ rangiert es an zweiter Stelle. Im vergan-
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        enen Jahr hat Chile zudem Antrag auf Aufnahme in die
        ECD gestellt.
        Bekanntlich finden bestimmte Abkommensteile – ins-
        esondere Bestimmungen zum Warenverkehr und über
        nstitutionelle Fragen – bereits seit dem 1. Februar 2003
        nwendung. Somit kann eine erste, vorläufige Bilanz
        ezogen werden, die durchaus positiv ausfällt: Das Han-
        elsvolumen der EU mit Chile hat sich in den ersten Mo-
        aten dieses Jahres sprunghaft entwickelt. Die chileni-
        chen Exporte nach Europa sind um 52 Prozent, die
        xporte nach Deutschland sind um 56 Prozent gewach-
        en. Die deutschen Ausfuhren nach Chile legten immer-
        in um 11 Prozent zu.
        Das Assoziierungsabkommen hat also schon jetzt den
        raditionell guten und intensiven Wirtschaftsbeziehun-
        en zwischen Deutschland und Chile einen wesentlichen
        mpuls verleihen können. Deutschland hat seinen Rang
        ls wichtigster Lieferant Chiles innerhalb der Europäi-
        chen Union behauptet, wenngleich angemerkt werden
        uss, dass Deutschland wie auch die EU insgesamt
        icht so stark wie andere Regionen vom chilenischen
        andelswachstum profitieren. An dieser Stelle geht da-
        er mein Appell an die deutsche Wirtschaft, den Blick
        uch wieder verstärkt über den Südatlantik zu richten.
        Diese Entwicklungen lassen hoffen, dass die fort-
        chreitende Liberalisierung des Warenverkehrs auf bei-
        en Seiten dazu beitragen wird, das Wirtschaftswachs-
        um zu steigern, die Arbeitslosigkeit zu senken und der
        esellschaftlichen Entwicklung neue Impulse zu verlei-
        en. Der Vertrag leistet somit einen wesentlichen Beitrag
        ur Sicherung des Friedens, der Sicherheit und der wirt-
        chaftlichen Stabilität in der Region. Chiles Funktion als
        tabilitätsanker in der Region wird durch die Ratifizie-
        ung des Assoziierungsabkommens unterstrichen.
        Nicht zuletzt möchte ich noch auf die Signalwirkung
        es Abschlusses auf die Verhandlungen mit dem Merco-
        ur über ein vergleichbares Abkommen hinweisen. Wir
        lle hoffen, dass die Erfolgsbilanzen aus den Abkommen
        it Mexiko und Chile auch dazu führen werden, dass
        ach dem Verfehlen des selbst gesteckten Abschlussda-
        ums Ende Oktober nunmehr unter der neuen EU-Kom-
        ission in nicht allzu ferner Zukunft der Abschluss mit
        em Mercosur zustande kommt.
        Angesichts der dargelegten Argumente stimmt die
        PD-Bundestagsfraktion dem vorliegenden Gesetzent-
        urf der Bundesregierung ohne Änderungen zu. Die
        DU/CSU-Fraktion ist mit dem vorliegenden Antrag zu
        olumbien in wesentlichen Punkten auf unsere Linie
        ingeschwenkt. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen; ich
        ehe gleich im Einzelnen darauf ein. Dennoch zeigt sich
        us unserer Sicht ganz deutlich, dass diese richtigen An-
        ätze nicht in letzter Konsequenz zu Ende gedacht wer-
        en. Verschiedene Punkte lassen eine Befürwortung der
        u beratenden Drucksache nicht zu.
        Der Antrag benennt die bisherigen Erfolge der Regie-
        ung Uribe und verweist richtigerweise darauf, dass
        iese zunächst vorläufig sind und der Weg zu einer dau-
        rhaften Befriedung der kolumbianischen Gesellschaft
        och lang und äußerst beschwerlich sein wird. Umso
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12769
        (A) )
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        wichtiger ist auch aus unserer Sicht die Unterstützung
        der Regierung Uribe auf diesem Weg.
        Vor diesem Hintergrund ist es unbestritten notwendig,
        von europäischer Seite neue Impulse für den festgefahre-
        nen Friedensprozess zu geben. Diese Auffassung, vertre-
        ten wir seit langem. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in
        einer Entschließung vom April letzten Jahres – aber auch
        schon im Juli 2000 – auf die Wichtigkeit eines entschie-
        deneren Engagements der Europäischen Union hinge-
        wiesen. In diesem Zusammenhang haben wir die Ernen-
        nung und Entsendung eines Hohen Beauftragten der
        Europäischen Union für den Konflikt in Kolumbien vor-
        geschlagen. Seine Aufgabe bestünde darin, den vorhan-
        denen europäischen Ansatz für eine friedliche Konflikt-
        lösung auf dem Verhandlungswege mit Nachdruck zur
        Geltung zu bringen und damit dazu beizutragen, in enger
        Abstimmung mit der kolumbianischen Regierung, dem
        Sondergesandten der Vereinten Nationen und der OAS
        den Friedensprozess wieder neu zu beleben und zu dyna-
        misieren. Von kolumbianischer Seite ist dieser Vorschlag
        bisher sehr positiv aufgenommen worden, so auch jüngst
        während meiner letzten Reise nach Bogota im vergange-
        nen Oktober.
        Die Einschätzung der CDU/CSU zu den Hauptpro-
        blemfeldern teilen wir, wenn auch mit etwas anderer Ge-
        wichtung: Die Menschenrechtssituation in Kolumbien
        ist nach wie vor kritisch. Es gilt weiterhin, die kolumbia-
        nische Regierung auf die Umsetzung der Empfehlungen
        des VN-Hochkommissars für Menschenrechte vom ver-
        gangenen Februar zu verpflichten und dabei zu unter-
        stützen.
        Unserer festen Überzeugung nach kann es letztend-
        lich nachhaltigen Frieden in Kolumbien nur auf dem
        Verhandlungswege geben. Deshalb begrüßen wir die
        Forderung, die kolumbianische Regierung bei der An-
        bahnung konstruktiver Friedensverhandlungen mit allen
        illegalen Gruppen zu unterstützen.
        In diesem Zusammenhang verfolgen wir aufmerksam
        den Demobilisierungsprozess mit den Paramilitärs, den
        wir grundsätzlich befürworten. Viele Stimmen in Ko-
        lumbien sprechen sich allerdings kritisch gegenüber ei-
        ner Quasilegalisierung der paramilitärischen Verbände
        im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung aus, zumal
        das diesbezügliche Konzept der Regierung nicht kohä-
        rent erscheint und auch noch kein Gesetzesrahmen exis-
        tiert. Trotz aller Schwierigkeiten im Prozess der Demo-
        bilisierung und Wiedereingliederung der Paramilitärs
        sehen wir dazu keine Alternative. Gleichwohl gilt es aus
        unserer Sicht, darauf zu achten, dass die Verhandlungen
        transparent gestaltet werden und die Balance zugunsten
        der Rechte der Opfer gewahrt bleibt. Der Vorschlag zur
        Einrichtung einer Wahrheitskommission kann in diesem
        Prozess ein wichtiges Instrument sein, setzt allerdings
        den politischen Willen und ein funktionierendes Rechts-
        system voraus.
        Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt insbesondere,
        dass die CDU/CSU in diesem Kontext auch die Notwen-
        digkeit von umfassenden gesellschaftlichen Reformen in
        Kolumbien betont.
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        Zu Recht fordert sie in diesem Zusammenhang die
        ündelung der friedenspolitischen Anstrengungen sei-
        ens der USA und Europa. Zumindest die Zeichen für
        ine geschlossenere Haltung der Europäer gegenüber
        olumbien stehen nach dem Regierungswechsel in Spa-
        ien gut. Damit verbessern sich zwar grundsätzlich die
        hancen von multilateralen Initiativen; inwiefern diese
        ber in einen ausgewogeneren neu aufgelegten „Plan
        olombia“ münden, bleibt abzuwarten. Im Ergebnis
        ollte ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ziviler
        nd militärischer Konfliktbewältigung hergestellt sein.
        ch freue mich, dass die CDU/CSU-Fraktion in diesem
        unkt von der einseitigen Unterstützung eines vornehm-
        ich militärisch ausgelegten „Plan Colombia“ abgerückt
        t.
        Ich möchte nun aber zu meiner eingangs geäußerten
        ritik am vorliegenden Antrag kommen. Es ist schon er-
        taunlich: Einerseits betont die CDU/CSU richtigerweise
        ie regionale Dimension des Konflikts. Nur zusammen
        it den Anrainerstaaten können die friedenspolitischen
        nstrengungen zu einer konstruktiven Lösung führen.
        ndererseits aber muss in ihrer Situationsanalyse fast
        ebetsmühlenartig die Verunglimpfung des Nachbarn
        enezuela folgen. Sie stützt sich dabei – wie so oft – auf
        ngesicherte Erkenntnisse, Verdächtigungen und Unter-
        tellungen. Es ist mir unverständlich, wie versucht wird,
        inen bedeutenden Partner von diesem gemeinsamen
        orgehen auszugrenzen, wenn man doch einen regiona-
        en Ansatz in dieser Frage fördern will. Bedauerlicher-
        eise disqualifiziert sich die CDU/CSU mit ihren guten
        nsätzen in dieser Frage.
        Ein weiterer Punkt ist die Einschätzung der Drogen-
        roblematik. Natürlich geht es um unsere Sicherheit,
        ber es geht auch um unsere Verantwortung als Konsu-
        entenländer, zu der sich die CDU/CSU im vorliegen-
        en Antrag nicht hinreichend bekennt. Es muss aus un-
        erer Sicht eine langfristige Perspektive für den
        lternativen Anbau eröffnet werden. Insofern ist von al-
        ergrößter Wichtigkeit, dass vonseiten der EU ein attrak-
        ives Nachfolgerregime für das APS „Drogen“ angebo-
        en wird. Wir sehen bisher, dass Maßnahmen im Rahmen
        es „Plan Colombia“ zur Bekämpfung von Drogenanbau
        nd -kriminalität zum Teil nicht in dem Maße erfolg-
        eich waren wie erwartet, oft nur kurzfristig eingetreten
        ind oder lediglich zu einer Verlagerung in Nachbarlän-
        er geführt haben.
        Die CDU/CSU spricht sich schließlich in ihrem An-
        rag für die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten
        us. Über eine Verfassungsänderung in Kolumbien mag
        an in der Tat denken, wie man will. In jedem Fall steht
        s dem Deutschen Bundestag aber nicht an, sich in der
        inen oder anderen Weise dazu zu erklären und sich da-
        it in diese innerkolumbianische Diskussion einzumi-
        chen. Ich bin überzeugt, dass der kolumbianische Kon-
        ress unter Abwägung des Für und Wider die richtige
        ntscheidung in dieser wichtigen Frage treffen wird.
        Insgesamt ist dem Antrag sehr deutlich die Hand-
        chrift des zugrunde liegenden SWP-Papiers von
        r. Günther Maihold anzumerken. Es wäre schön, wenn
        ie darin zum Ausdruck kommenden Intentionen auch
        12770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
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        tatsächlich Eingang ins Bewusstsein der CDU/CSU-
        Fraktionsmitglieder gefunden hätten.
        Die Zukunft wird zeigen, ob meine diesbezügliche
        Skepsis berechtigt ist. Ich möchte abschließend einige
        Bemerkungen zum internationalen Kontext machen, der
        meines Erachtens die Bemühungen um den Frieden in
        Kolumbien nicht gerade erleichtert. Allzu vorschnell
        werden derzeit unter den Kampf gegen den Terrorismus
        weltweit Entwicklungen subsumiert, die vielleicht einer
        differenzierteren Betrachtung bedürften. Bei diesen
        Konflikten in der Welt gerät Ursachenforschung stellen-
        weise völlig in den Hintergrund und nachvollziehbare
        Lösungsansätze für eine nachhaltige Sozial- und Frie-
        denspolitik werden weitestgehend ignoriert und tabui-
        siert. Chancen und Möglichkeiten, Friedenspolitik prä-
        ventiv durch umsichtige und gerechte Sozialpolitik
        anzugehen, werden in der globalisierten Welt oft aus Ide-
        ologiegründen nicht gesehen, negiert, zumindest aber
        nicht offensiv propagiert und verfolgt. Monokausale Er-
        klärungs- und Lösungsansätze können aber nur in eine
        Sackgasse führen, wie uns an den Beispielen der Eskala-
        tion im Irak, im Nahen Osten und anderen Regionen
        schmerzlich, inzwischen fast täglich vorgeführt wird.
        Dies sollten wir auch in Bezug auf Kolumbien im Hin-
        terkopf behalten.
        Da es, wie oben erläutert, in verschiedenen Punkten
        Übereinstimmung zwischen unseren Fraktionen gibt,
        finden wir es bedauerlich, dass nicht im Vorfeld der Ein-
        bringung ins Plenum der Versuch unternommen wurde,
        zu einer Verständigung zu kommen. In der vorliegenden
        Form kann die SPD-Bundestagfraktion trotz aller begrü-
        ßenswerten Ansätze nicht zustimmen.
        Erich G. Fritz (CDU/CSU): „Nur ein Land ist der
        lateinamerikanische Malaise entronnen – Chile“, heißt
        es in einem „Welt“-Artikel vom 21. Oktober 2004. Das
        sind gute und ermutigende Nachrichten, die uns den
        Nutzen des von der Bundesregierung erst jetzt vorgeleg-
        ten Gesetzentwurfs zur Ratifizierung des Abkommens
        vom 18. November 2002 über eine Assoziation zwi-
        schen der EU und Chile verdeutlichen. Das Abkommen
        ist in seinen wesentlichen handelspolitischen Bestim-
        mungen von der EU-Kommission im Rahmen ihrer
        Kompetenzen im Februar 2003 in Kraft gesetzt worden.
        Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und un-
        terstützt die vorgesehene Ratifizierung, nicht zuletzt weil
        Deutschland Chiles wichtigster Handelspartner inner-
        halb der Europäischen Union ist. Nach Mexiko ist Chile
        das zweite Land Lateinamerikas, mit dem auf der Basis
        des Assoziationsabkommens die wirtschaftlichen und
        politischen Beziehungen intensiviert und die wirtschaft-
        liche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes un-
        terstützt werden soll.
        Dass es Chile im Gegensatz zu anderen Staaten La-
        teinamerikas gelungen ist, sich für die EU als ernst zu
        nehmender Partner darzustellen, hat erst jüngst die neue
        Studie des World Economic Forums gezeigt. Danach
        zählt Chile zu den Aufsteigern im Growth Competitive-
        ness Index, GCI, da es sich vom 28. auf den 22. Platz
        verbessert hat. Nicht nur das: Auch der Abstand zum
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        ächstbesten südamerikanischen Staat, Mexiko, ist auf
        6 Plätze angewachsen.
        Aber nicht nur die wirtschaftlichen Erfolge Chiles
        prechen für die Ratifizierung des Assoziationsabkom-
        ens. Chile hat seit seiner Rückkehr zur Demokratie im
        ahre 1990 seinen demokratischen Weg kontinuierlich
        eschritten. Mithilfe des in dem Abkommen enthaltenen
        ekenntnisses zur Wahrung der demokratischen und
        enschenrechtlichen Grundsätze soll Chile auf diesem
        rfolgreichen Weg weiter unterstützt werden.
        Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ferner die
        orgesehene finanzielle Zusammenarbeit, die sich vor
        llem auf die Förderung von Reformen zur Wirtschafts-
        odernisierung und zur Verbesserung der wirtschaft-
        ichen Infrastruktur Chiles erstrecken soll, und fordert
        ie EU und Chile auf, die bislang noch nicht genau ver-
        inbarte finanzielle Zusammenarbeit umgehend nach In-
        raft-Treten des Abkommens festzulegen.
        Besonders erfreulich sind die weit gehenden Liberali-
        ierungsmaßnahmen im Handelsbereich: zum Beispiel
        er vollständige Abbau der Zölle für gewerbliche Er-
        eugnisse bis zum 1. Januar 2010 und die schrittweise
        iberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen
        rodukten durch Aufhebung bzw. Senkung von Zöllen.
        ie wirtschaftlichen Vorteile eines solchen Zollabbaus
        iegen für beide Seiten auf der Hand: Der Abbau von
        chranken führt zu einer besseren Arbeitsteilung und da-
        it zu einem wirtschaftlichen Gewinn für alle Beteilig-
        en. Die Reformen machen Chile attraktiver für Investo-
        en, weil wirtschaftspolitische Reformen glaubhaft
        erankert werden. Außerdem können Erfahrungen mit
        em Abbau von Handelsbarrieren gesammelt werden,
        ie dem WTO-Ziel eines weltweiten Abbaus von Han-
        elsbarrieren nützen können. In diesem Zusammenhang
        öchte ich allerdings hervorheben, dass bilaterale und
        egionale Handelsabkommen keine Alternative zu multi-
        ateralen Vereinbarungen sein dürfen. Dies würde zu ei-
        er Schwächung des multilateralen Handelssystems füh-
        en und vor allem Entwicklungsländern schaden.
        rfreulicherweise ist auch für die EU und die Bundesre-
        ierung der multilaterale Rahmen der bevorzugte Weg
        ür die Gestaltung der weltweiten Handelsbeziehungen.
        Mir ist bewusst, dass die Realität seit Beginn der
        0er-Jahre anders aussieht. Seither erleben regionale
        andelsabkommen einen unvergleichlichen Boom.
        uch und gerade die USA machen davon regen Ge-
        rauch. Ein Freihandelsabkommen mit Chile ist bereits
        bgeschlossen. Auch vor diesem Hintergrund halten wir
        ine rasche Ratifizierung des EU-Chile-Assoziationsab-
        ommens für wünschenswert und notwendig, wohl wis-
        end, dass das vorliegende Assoziationsabkommen über
        as Freihandelsabkommen zwischen Chile und den USA
        inausgeht, weil es auch den sozialen, kulturellen, tech-
        ischen und politischen Dialog umfasst.
        Bedauerlicherweise hat außer Chile keines der latein-
        merikanischen Länder eine wirkliche Entwicklung zu
        erzeichnen – weder in makroökonomischer Sicht noch
        insichtlich der Verminderung der Armut, in der die
        eisten Menschen leben. Korruption und Drogenhandel
        tehen auf der Tagesordnung. Hinzu kommt eine unzu-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12771
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        reichende Gewaltenteilung, fehlende Rechtsstaatlichkeit
        und die mangelnde Transparenz politischer Prozesse.
        Zwar genießt Lateinamerika in der Handelspolitik der
        EU seit Ende der 90er-Jahre eine Sonderrolle, weil euro-
        päische Großunternehmer im Zuge der lateinamerikani-
        schen Privatisierungswelle massive Investitionen vorge-
        nommen haben, eine Annäherung zwischen Europa und
        den Staaten Lateinamerikas mit Ausnahme Mexikos und
        Chiles verläuft dagegen nur schleppend. EU-Handels-
        kommissar Lamy machte daher auf dem EU-Lateiname-
        rika-Gipfel vom Mai 2004 eine stärkere regionale und
        wirtschaftliche Integration zur Vorbedingung für ein
        Freihandelsabkommen, über das die Staaten Lateiname-
        rikas schon ab Anfang 2005 verhandeln möchten.
        Von einem solchen Abkommen würde natürlich auch
        Europa stark profitieren, da eine Einigung etwa mit dem
        Mercosur den Europäern den Zugang zu einem Markt
        mit 265 Millionen Menschen öffnen würde. Wie Sie alle
        wissen, konnte die für Oktober 2004 vorgesehene Eini-
        gung über ein EU-Mercosur-Abkommen nicht erzielt
        werden. Wünschenswert wäre es, wenn Chile als assozi-
        iertes Mitglied des Mercosur wie auch als Vertragspart-
        ner des EU-Chile-Assoziationsabkommen als Vermittler
        auftreten und auf einen raschen Konsens zwischen dem
        Mercosur und der EU hinwirken würde.
        Vor dem Hintergrund vieler noch ungelöster Fragen
        und Defizite ist es für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
        unverständlich, warum die Bundesregierung ein lateina-
        merikanisches Land nach dem anderen aus der bilatera-
        len Zusammenarbeit mit Deutschland ausschließt. Ende
        2004 soll die Zusammenarbeit mit Argentinien und Uru-
        guay aufhören. Darüber hinaus plant die Bundesregie-
        rung als Nächstes, Chile oder auch Paraguay von der
        Liste der Kooperationsländer zu streichen. Ich hoffe
        nicht, dass das im Falle Chiles eine Reaktion auf die be-
        vorstehende Ratifizierung des EU-Chile-Assoziationsab-
        kommens ist. Wenn ja, wäre das ein falsches Signal.
        Die erzielten Reformerfolge der chilenischen Regie-
        rung dürfen nicht gefährdet werden. Trotz aller Erfolge
        darf es auch auf bilateraler Ebene kein Nachlassen in den
        Reformbemühungen geben. Auch Chile steht noch vor
        großen Herausforderungen. Es zählt zu den Ländern mit
        der ungünstigsten Einkommensverteilung. Ein Großteil
        der Bevölkerung bleibt vom Konsum ausgeschlossen,
        was negative Konsequenzen für die für den Inlandsbe-
        darf produzierenden Mittelstandsbetriebe hat. Zudem hat
        die radikale Privatisierung des Ausbildungssystems dazu
        geführt, dass Chile bei Studien über die Effizienz der
        Bildungssysteme im internationalen Vergleich regelmä-
        ßig auf den hintersten Plätzen landet.
        Ein Überbleibsel des Pinochet-Regimes – das binomi-
        nale Wahlrecht – macht Chiles Demokraten das Leben
        schwer. Es zwingt seit der Rückkehr zur Demokratie
        1990 Sozialisten, Sozialdemokraten und Christliche De-
        mokraten in der aus vier Parteien bestehenden Concerta-
        tión zusammen. Gleichzeitig bevorzugt es die rechte Op-
        position dadurch, dass jeder der beiden Blöcke – Linke
        wie Rechte – pro Wahlkreis nur je zwei Kandidaten auf-
        stellen darf und damit die rechte Opposition – Allianz
        aus den Parteien „Demokratisch-Unabhängige Union“,
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        DI, und „Nationale Erneuerung“, RN – mit lediglich
        inem Drittel der Stimmen die Hälfte aller Parlaments-
        itze bekommen kann. Die Concertatión wird trotz der
        rfüllung ihrer Aufgabe als Bündnis sämtlicher der De-
        okratie verpflichteter Parteien gegenüber der Diktatur
        och so lange bestehen, bis das binominale Wahlsystem
        ugunsten eines demokratischeren Verfahrens abge-
        chafft ist. Noch aber wird eine Reform des Wahlrechts
        on der Opposition aus Eigeninteressen weitgehend
        lokkiert.
        Es bleibt also noch viel zu tun in Chile wie auf dem
        ateinamerikanischen Kontinent insgesamt. Deshalb for-
        ern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, die von
        hr aufgekündigte bzw. zurückgefahrene Zusammenar-
        eit mit vielen Ländern Lateinamerikas wieder aufzu-
        ehmen und auch auf EU-Ebene auf enge Beziehungen
        ber das uns hier vorliegende EU-Chile-Assoziationsab-
        ommen hinaus hinzuwirken. Es muss ganz entschieden
        arum gehen, Lateinamerika bei seiner politischen, so-
        ialen und wirtschaftlichen Stabilisierung zu unterstüt-
        en. Überlassen wir Lateinamerika der wirtschaftlichen
        nd politischen Einflusssphäre der USA, schadet das
        uropäischen wie deutschen Interessen im weltweiten
        ettbewerb.
        Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Präsident
        lvaro Uribe Vélez genießt in Kolumbien eine ungebro-
        hen hohe Popularität: Unter seiner Regierung erscheint
        um ersten Mal eine dauerhafte Lösung des über 40-jäh-
        igen blutigen inneren Konfliktes möglich. Doch auch
        ie internationale Gemeinschaft ist gefragt, den Frie-
        ensprozess durch geeignete Maßnahmen zu unterstüt-
        en.
        Bei den verschiedenen Bemühungen um eine Beile-
        ung des Konfliktes in Kolumbien hat sich letztlich ge-
        eigt, dass ein Erfolg versprechender Weg nur in der
        ombination der beiden Elemente „militärischer Druck“
        nd „Verhandlungen“ liegt. Präsident Uribe hat mit sei-
        em Programm „Demokratische Sicherheit“ diesen Weg
        ingeschlagen. Seine bisherige Erfolgsbilanz liest sich
        ositiv: Die Anzahl der Entführungen und der Binnen-
        lüchtlinge ist um die Hälfte gesunken, Massaker und
        berfalle auf ländliche Gemeinden haben stark nachge-
        assen, zudem konnte die Koka-Anbaufläche insgesamt
        erringert werden. 6 000 bis 7 000 Paramilitärs haben
        ich nach Regierungsangaben freiwillig demobilisiert
        nd nehmen an Wiedereingliederungsprogrammen teil.
        Trotzdem bleibt der Friedensprozess äußerst fragil, ist
        ie prinzipielle Schwäche der staatlichen Institutionen
        vident und sind Rückschläge sowohl hinsichtlich der
        erhandlungen mit den Paramilitärs, AUC, als auch hin-
        ichtlich der zaghaften Friedensgespräche mit der Gue-
        illa nicht ausgeschlossen. Die Bemühungen der Regie-
        ung, im ganzen Land Staatlichkeit wiederherzustellen,
        as Recht durchzusetzen und der ländlichen Bevölke-
        ung eine Perspektive jenseits des Drogenanbaus zu ge-
        en, werden von dieser positiv bewertet. Als Folge wird
        ine Verfassungsänderung erwogen, die Präsident Uribe
        ine direkte Wiederwahl ermöglichen und die Fortset-
        ung seiner Politik der demokratischen Sicherheit garan-
        ieren soll. Ohne die innenpolitischen Balancen und his-
        orischen Traditionen, die mit der Frage der direkten
        12772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        Wiederwahl in Kolumbien verknüpft sind, verkennen zu
        wollen, würden wir die generelle Möglichkeit der Wie-
        derwahl des Staatspräsidenten begrüßen. Die Einschrän-
        kung der direkten Wiederwahl zu Staatsämtern, wie sie
        zahlreiche lateinamerikanische Länder vorsehen, weist
        auch klare Nachteile in puncto Kontinuität und Verläss-
        lichkeit auf.
        Waffenstillstand, Demobilisierung und Reintegration
        werden jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn sie von
        der Gesellschaft als Ganzer getragen werden. Die Re-
        form der kolumbianischen Gesellschaft und die Über-
        windung der sozialen Ungleichheit sind eine wichtige
        Voraussetzung dafür, dass Frieden überhaupt möglich
        wird und langfristig Bestand hat. Insbesondere gilt es,
        der wirtschaftlichen Elite des Landes zu verdeutlichen,
        dass sie ihrer gesellschaftspolitischen und sozialen Ver-
        antwortung zum Beispiel durch Reinvestition ihrer er-
        zielten Gewinne in höherem Maße gerecht werden muss.
        Die Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und die
        deutschen politischen Stiftungen und ihre Partner müs-
        sen verstärkt in die Lage versetzt werden, diesen Prozess
        zu begleiten.
        Die Beziehungen Kolumbiens zu Europa sind schwie-
        rig. Die EU hat trotz ihres Engagements in Kolumbien,
        zum Beispiel für Friedenslaboratorien, bisher keinen
        konstruktiven Dialog mit der Regierung Uribe etablieren
        können. Angesichts der strategischen Bedeutung eines
        möglichst stabilen, demokratischen Lateinamerika auch
        für Europa und der negativen Auswirkungen des Dro-
        genhandels und der Geldwäsche auf Europa müssen die
        EU und ihre Mitgliedstaaten aber ein gewichtiges Inte-
        resse daran haben, im internationalen Rahmen eine stär-
        kere, gestaltende Rolle im kolumbianischen Konflikt zu
        übernehmen.
        Dies ist in ureigenem europäischen Interesse. Kolum-
        bien als prominentestes Beispiel steht für die gesamte
        Region, die geplagt ist von Terrorismus, Drogenproduk-
        tion und -handel, Kriminalität sowie Konflikten, die
        Umweltschäden und Ressourcenknappheit ausgelöst ha-
        ben. Protagonisten sind unter anderem Guerillas, Para-
        militärs, organisiertes Verbrechen, transnationale Terro-
        risten, Drogen- und Waffenhändler, die immer häufiger
        grenzüberschreitend zusammenwirken. Die Verbindun-
        gen der kolumbianischen Narkoguerilla mit IRA und
        ETA sind Anzeichen für ein globales Zusammenwirken.
        Dabei nutzen und schaffen sich die Protagonisten rechts-
        freie Räume und destabilisieren damit und über ihr
        regionales Zusammenwirken sowie über die Geldwäsche
        ihr Ursprungsland, die Region und die Zielländer des
        illegalen Handels. In diesem Zusammenhang muss
        deutlich ausgesprochen werden, dass in Venezuela unter
        seinem Präsidenten Hugo Chávez – der, dies sei hier am
        Rande erwähnt, die Demokratie in Venezuela schritt-
        weise ab- und ihm ergebene Parallelstrukturen aufbaut –
        keine ausreichenden Grenzkontrollen vorgenommen
        werden und auch keine hinreichend klare ideologische
        und faktische Abgrenzung zur kolumbianischen Gue-
        rilla, insbesondere zur FARC, erfolgt. Diese Gefahren
        fordern also nicht nur die Staaten Lateinamerikas, son-
        dern auch andere Regionen einschließlich Europas he-
        raus.
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        Beide Regionen, Europa und Lateinamerika, teilen
        rinzipielle Vorstellungen zur Gestaltung der Globalisie-
        ung, zur weltweiten Förderung von Demokratie, Men-
        chenrechten, Marktwirtschaft sowie zur Stärkung der
        ereinten Nationen. Darin sind sie einander natürliche
        artner. Stabile demokratische, rechtsstaatliche und
        arktwirtschaftliche Verhältnisse sind erste Vorausset-
        ungen dafür, dass Menschenrechte eingehalten, Armut
        berwunden und Bildungsgerechtigkeit hergestellt sowie
        ie Wirtschaftsbeziehungen ausgebaut werden können;
        ies gilt nicht nur für Kolumbien, sondern auch für an-
        ere Demokratien in Lateinamerika.
        Deshalb sind Deutschland und die EU aufgefordert,
        en kolumbianischen Staat bei den Friedensverhandlun-
        en mit den illegalen bewaffneten Gruppen zu unterstüt-
        en, auf die Zusammenführung der bisher parallel ge-
        ührten Zusammenarbeit Kolumbiens mit den USA
        überwiegend militärisch – und mit Europa – überwie-
        end Entwicklungszusammenarbeit – zu drängen und
        ich für die Wiederherstellung eines konstruktiven euro-
        äisch-kolumbianischen Dialoges einzusetzen. Auch bei
        er Stärkung eines unabhängigen Rechtssystems muss
        olumbien Unterstützung erfahren.
        Die Drogenproduktion und der Drogenhandel, deren
        erquickung mit Terrorismus, das Zusammengehen von
        errorismus und internationaler Kriminalität – wie er-
        ähnt besonders evident bei der kolumbianischen Nar-
        oguerilla – müssen entschieden bekämpft werden.
        benso muss den erwähnten Verbindungen zwischen
        arkoguerilla und transnationalem Terrorismus vorge-
        eugt werden. Nur so können die Integrität der latein-
        merikanischen Staaten und die regionale Stabilität ge-
        ahrt und Gefahren für die internationale Sicherheit
        bgewendet werden. Wenn die EU ihrer globalen Ver-
        ntwortung gerecht werden will, wie es die europäische
        icherheitsstrategie vorgibt, muss sie sich gerade in der
        egion auch sicherheitspolitisch viel stärker engagie-
        en, mit der sie die größten Gemeinsamkeiten hat. Er-
        änzend müssen die Anstrengungen verstärkt werden, in
        rogenanbaugebieten Perspektiven für alternative legale
        inkommensquellen zu schaffen. In diesem Zusam-
        enhang muss auch die internationale Handelspolitik
        nsbesondere im Hinblick auf Agrarprodukte stärker
        icherheits- und entwicklungspolitische Überlegungen
        erücksichtigen, um letztlich eine einheitliche Politik
        egenüber den Ländern Lateinamerikas zu gewährleis-
        en.
        Schließlich muss die innerkolumbianische Debatte
        ber innere Reformen wie Zugang zu Ressourcen, Öff-
        ung des Parteiensystems und Partizipation der Zivil-
        esellschaft sowie die Landreform angestoßen und inter-
        ational angemessen flankiert werden.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        EN): Ich bedauere, dass die Entwicklungen in Latein-
        merika, die heute mit dem Gesetzesentwurf zu einem
        ssoziationsabkommen mit Chile und mit dem Antrag
        er Unionsfraktion zu Kolumbien auf der Tagesordnung
        tehen, hier erst zu so später Stunde zur Debatte gelan-
        en.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12773
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        Der von der CDU/CSU vorgelegte Antrag zur Kolum-
        bienpolitik enthält einiges Richtiges, nämlich genau das,
        was zum Teil wörtlich übernommen worden ist aus dem
        Antrag der Koalitionsfraktionen vom vergangenen
        Herbst. Diese Punkte brauchen wir allerdings nicht zu
        beschliessen; der Deutsche Bundestag hat sie bereits am
        25. September 2003 beschlossen.
        Der Antrag verfolgt aber in der Hauptsache das Ziel,
        die Bundesregierung und die EU zu verpflichten auf die
        Politik eines neuen Planes Columbia. Dazu sucht er die
        schweren Konflikte in der kolumbianischen Gesellschaft
        zu verengen auf eine „der politischen Inhalte weitgehend
        entleerte Auseinandersetzung mit in den Drogenhandel
        eingebundenen Kriminellen und Terroristen, die eine
        Demokratie bedrohen“. Ich glaube, nicht einmal die Re-
        gierung Uribe selbst, mit der wir ja eine – wie der Antrag
        feststellt – „schwierige“ Kommunikation haben, würde
        die Situation so apolitisch beschreiben.
        Ein Blick auf die aktuelle Situation in Kolumbien
        zeigt dies; während des vergangen Monats Oktober gab
        es beinahe täglich Streiks und Protestaktionen in den
        verschiedenen Teilen des Landes. So wurde zum Bei-
        spiel am 5. Oktober dieses Jahres ein studentischer
        Streik gegen Mittelkürzungen von über 1 000 Polizisten
        mit harter Gewalt beendet; sogar Panzer fuhren auf dem
        Universitätsgelände auf.
        Am 11. Oktober protestierten Gewerkschafter des Ge-
        sundheitssektors. Ihre Forderungen sind aufschlussreich:
        ein Stopp der selektiven Morde und Massaker sowie der
        Verfolgung von Mitgliedern der afrokolumbianischen,
        indigenen und Bauerngemeinden, ein Stopp der willkür-
        lichen Verhaftungen und Strafverfolgungen, eine Entmi-
        litarisierung der Schulen und Universitäten des Landes.
        Am 12. Oktober hatten die kolumbianischen Gewerk-
        schaftszentralen zu einem 24-stündigen Ausstand aufge-
        rufen. Es gab Demonstrationen in vielen Städten. Lehrer
        und Erziehungsgewerkschaften protestieren; im De-
        partement Arauca an der Grenze zu Venezuela fordern
        die Lehrer derzeit ein Ende des Missbrauchs der Schulen
        durch Militärs und Paramilitärs als Unterkünfte und zur
        Lagerstätten von Kriegsgerät.
        Dies zeigt, dass die innere Situation Kolumbiens nicht
        auf ein einfaches Terrorismusschema zu reduzieren ist
        und dass sehr viele Menschen in die Konflikte einbezo-
        gen sind. 50 Prozent des Gebietes werden nicht vom
        Staat kontrolliert. Soll ein tragfähiger Frieden und keine
        Friedhofsruhe geschaffen werden, dann führt der Weg
        nur über Verhandlungen.
        Selbst der scheidende General James Hill, Komman-
        deur des Kommando Süd der US-Armee, das Latein-
        amerika und die Karibik umfasst, erklärte in einem Inter-
        view mit der ecuadorianischen Tageszeitung „El
        Comercio“ noch vor einem Monat, am 13. Oktober
        2004, es werde „niemals eine militärische Lösung für
        das interne kolumbianische Problem geben“. Dies ist vor
        dem Hintergrund zu sehen, dass der US-Kongress am
        9. Oktober eine Verdoppelung des in Kolumbien tätigen
        US-Militärpersonales genehmigte.
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        Aber auch der Antrag selbst widerspricht der genann-
        en Einschätzung an vielen Stellen, wenn in ihm zum
        eispiel „innere Reformen wie Landreform, Zugang zu
        essourcen, Öffnung des Parteiensystems sowie Partizi-
        ation der Zivilgesellschaft“ – Punkt 13 – gefordert wer-
        en.
        Deshalb muss es weiterhin Linie der Bundesregierung
        nd der EU bleiben, zivile Programme, die auf die wirk-
        ichen Ursachen der Gewalt zielen, zu unterstützen. Eine
        uf militärische Lösungen setzende Politik des Plan
        olombia bzw. eines neuen Planes Colombia lehnen wir
        ntschieden ab.
        Dass die Ergebnisse der bisherigen militärischen Op-
        ion überhaupt nicht positiv sind, spricht wiederum der
        orliegende Antrag selbst an: Warum muss denn Punkt 9
        ordern, dass die Bundesregierung an die kolumbiani-
        che Regierung appellieren soll, den Empfehlungen des
        N-Hochkommissars für Menschenrechte nachzukom-
        en? Weil die menschenrechtliche Situation nur verbes-
        ert werden kann, wenn die nach wie vor bestehenden
        erbindungen zwischen paramilitärischen Gruppen und
        ilitärs abgebrochen, die Verletzungen der Menschen-
        echte und des humanitären Völkerrechts durch parami-
        itärische und andere bewaffnete Akteure strafrechtlich
        erfolgt und willkürliche Handlungen der Sicherheits-
        räfte gegenüber Indigenen und Bauern eingedämmt
        erden.
        Dazu steht aber im krassen Gegensatz, wenn Präsi-
        ent Uribe gegenüber seinen Militärs über die vielen zi-
        ilgesellschaftlichen Verteidiger der Menschenrechte,
        ie am 8. September 2003 geschehen, als „Menschen-
        echtshändler“ spricht, von denen man sich nicht aufhal-
        en lassen solle.
        Die Problematik des Vorgehens gegen Koka-Anbau
        urch Besprühungen mit Pestiziden als Teil des Planes
        olombia wird im Antrag vollkommen ausgeblendet. Je-
        ermann kennt die Folgen, selbst wenn er sich nicht für
        olumbien interessiert – aus Vietnam. Die Besprühun-
        en treffen nicht die Profiteure des Drogenhandels, son-
        ern die Bauern, zerstören ihre Lebensgrundlagen – im
        egativen Sinne – nachhaltig. Die Zerstörung der öko-
        ozialen Grundlagen, das Ausweichen in den Naturwald,
        as Übergreifen des Konfliktes und der Verseuchungen
        n Nachbarländer sind die schrecklichen Folgen dieses
        orgehens.
        Die Erfolge, die der Antrag beschreibt, finden ihren
        öhepunkt in der These, dass 6 bis 7 000 von geschätz-
        en insgesamt 15 000 Paramilitärs sich selbst freiwillig
        demobilisiert“ hätten. Um aber für solche Behauptun-
        en, die dem Bundestag zum Beschluss anempfohlen
        erden, nicht geradestehen zu müssen, wird ein „nach
        egierungsangaben“ zugefügt.
        Und noch ein Letztes zu dem Antrag. Etwas daneben
        st sein Votum für eine Verfassungsänderung zugunsten
        ines starken Mannes Uribe:
        Die kolumbianische Bevölkerung hat diese Maß-
        nahmen und auch die Arbeit der Sicherheitsorgane
        positiv bewertet. Als Folge wird eine Verfassungs-
        änderung erwogen, die Präsident Alvaro Uribe
        12774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        Velez eine direkte Wiederwahl ermöglicht und die
        Fortsetzung seiner Politik der „demokratischen
        Sicherheit“ garantieren soll.
        Wir sind gut beraten, wenn wir uns in die Verfas-
        sungslage des Landes Kolumbien als Deutscher Bundes-
        tag nicht einmischen zugunsten eines amtierenden Präsi-
        denten.
        Den von der Union vorgeschlagen politischen Kurs-
        wechsel und damit den Antrag der Unionsfraktionen leh-
        nen wir ab.
        Die Verbesserung und Vertiefung der Beziehungen zu
        Lateinamerika sind nach wie vor notwendig. In diesem
        Sinne ist es wichtig, dass auch die wirtschaftlichen Be-
        ziehungen zum Mercosur in einer Weise ausgebaut wer-
        den, die den Menschen Lateinamerikas zugute kommt.
        Es ist daher richtig, in den Verhandlungen zum biregio-
        nalen EU-Mercosur-Assoziationsabkommen mit Blick
        auf die Interessen der Menschen Lateinamerikas vorzu-
        gehen. In diesem Sinne stimmen wir dem Gesetzentwurf
        der Bundesregierung zum Assoziationsabkommen mit
        Chile zu.
        Harald Leibrecht (FDP): Vor gut einem Jahr debat-
        tierten wir im Deutschen Bundestag über den Friedens-
        prozess in Kolumbien. Inzwischen ist dieser Friedens-
        prozess, wenn auch nur wenig, vorangeschritten. Die
        ultrarechten Paramilitärs haben vergangene Woche mit
        ihrer Demobilisierung begonnen. Wenn alles nach Plan
        läuft, werden bis Jahresende 3 000 Kämpfer ihre Waffen
        niederlegen. Des Weiteren sollen bis Ende 2005 die
        Kämpfer der so genannten Vereinigten Selbstverteidi-
        gungsgruppen von Kolumbien, der AUC, ihre Waffen
        abgeben. Es muss uns jedoch bewusst sein, dass es sich
        bei diesen Maßnahmen nur um einen Etappensieg han-
        delt und nicht um einen Durchbruch des Friedensprozes-
        ses in Kolumbien.
        Ganz wichtig wird jetzt sein, den demobilisierten
        Kämpfern ein klares Konzept vorzulegen, das ihnen eine
        akzeptable Zukunft und somit Lebensperspektive auf-
        zeigt. Diese Menschen sind Teil des kolumbianischen
        Volkes und müssen im eigenen Land wieder voll inte-
        griert werden. Wenn diese Integration nicht gelingt, wer-
        den sich die ehemaligen Kämpfer in ihrer Frustration
        und Enttäuschung wieder vom Staat abwenden und der
        alte Konflikt wird neu aufflammen. Die Integration muss
        gelingen; denn nur so kann die Drogenmafia geschwächt
        und letztlich erfolgreich bekämpft werden. Es wäre für
        die Zukunft Kolumbiens fatal, wenn die Waffen an der
        Vordertür abgegeben werden und diese mangels erfolg-
        reicher Integration wieder an der Hintertür abgeholt wer-
        den. Dies wäre das Scheitern des Fiedensprozesses dort.
        Die Annäherung zwischen der Regierung und der Pa-
        ramilitärgruppe AUC gibt Anlass zur Hoffnung. Nun
        macht sich vielleicht bezahlt, dass die Regierung und die
        AUC schon länger in Verbindung stehen. Die Demobili-
        sierung der AUC gestaltet sich dadurch etwas leichter,
        wenn auch langwierig. Der Friedensprozess mit der
        linksgerichteten Guerillagruppe FARC wird wesentlich
        mühsamer sein. An deren Bereitschaft, einen aktiven
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        eitrag zum Frieden in Kolumbien zu leisten, besteht
        egründeter Zweifel. Es ist bedauerlich, dass Präsident
        ribe keine Friedensverhandlungen mit der FARC in
        etracht zieht, sondern ausschließlich auf seinen „Plan
        atriota“ setzt. Seine militärische Offensive gegen die
        ebellen zeigt bisher kaum Erfolg.
        Für uns, für die FDP-Bundestagsfraktion, ist nach wie
        or der rein militärische Einsatz, den die kolumbianische
        egierung als ausschließliches Mittel gegen die Parami-
        itärs fährt, nicht der richtige Ansatz. Darum sind wir mit
        en Antragstellern nicht einer Meinung. Sicherlich, es
        urden einige Erfolge im Kampf gegen die Rebellen er-
        ielt. Doch der Preis für diese Erfolge ist viel zu hoch,
        ie die Opferzahlen auf beiden Seiten zeigen. Eine zu-
        rieden stellende Lösung des kolumbianischen Konflik-
        es kann nur in einem Prozess entstehen, der sowohl die
        aramilitärs als auch die Guerilla umfasst. Dies scheint
        nzwischen auch Präsident Uribe zu verstehen; denn er
        erhandelt, entgegen seiner bisherigen Vorgehensweise,
        un mit den Rebellen über einen Austausch von Gefan-
        enen.
        Jetzt ist der Ball bei den Rebellen. Sie sind gefordert,
        uf die kolumbianische Regierung zuzugehen. Nur dann
        ibt es eine echte Chance für einen dauerhaften Frieden
        n Kolumbien.
        Aus eigener Kraft wird es Kolumbien nicht schaffen,
        en Friedensprozess voranzutreiben. Hier sind die Bun-
        esregierung und die Europäische Union gefordert, auf
        ie notwendigen Reformen in Kolumbien zu dringen.
        ur wenn die notwendigen Reformen greifen, kann Ko-
        umbien langfristig einen vergleichbaren Weg wie Chile
        inschlagen. Wer hätte gedacht, dass sich Chile, gebeu-
        elt von der Diktatur und nach schwierigem Neuanfang,
        irtschaftlich und gesellschaftspolitisch so positiv ent-
        ickelt. Heute steht Chile im Vergleich zu den anderen
        ändern Lateinamerikas gut und durchaus stabil da. We-
        en dieser positiven Entwicklung und Stabilität unter-
        tützen wir, die FDP-Bundestagsfraktion, auch das As-
        oziationsabkommen der Europäischen Union mit Chile.
        hile muss ein positives Beispiel für Kolumbien sein.
        nlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
        internationalen Familienrecht (Zusatztagesord-
        nungspunkt 7)
        Christine Lambrecht (SPD): Der Regierungsent-
        urf des internationalen Familienrechtsverfahrensgeset-
        es ordnet die innerstaatlichen Vorschriften zur Ausfüh-
        ung von bestimmten Übereinkommen auf dem Gebiet
        es internationalen Familienrechts neu und enthält zu-leich die notwendigen Durchführungsvorschriften zur
        euen „Brüssel-II-a-Verordnung“.
        Die neue Verordnung über die internationale Zustän-
        igkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
        ntscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betref-
        end die elterliche Verantwortung gilt ab dem 1. März
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12775
        (A) )
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        2005 in allen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Däne-
        mark, unmittelbar. Sie ersetzt damit die bisher geltende
        „Brüssel-II-Verordnung“, deren Anwendungsbereich
        sich im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität in den
        EU-Staaten als zu eng erwiesen hat.
        Die neue „Brüssel-II-a-Verordnung“ erfasst nunmehr
        im Gegensatz zur bisherigen „Brüssel-II-Verordnung“
        auch diejenigen Verfahren zur elterlichen Verantwor-
        tung, die nicht im Zusammenhang mit einer Ehesache
        stehen. Sie gilt zudem nicht nur für die gemeinsamen
        Kinder von Ehegatten, sondern für alle Kinder.
        Eine weitere grundlegende und praktisch wichtige
        Neuerung stellt die Möglichkeit der Vollstreckung von
        Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die
        Anordnung der Rückgabe eines Kindes in anderen Mit-
        gliedstaaten ohne vorherige Vollstreckbarkeitserklärung
        dar, im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Euro-
        päischen Rates von Tampere. Dafür sind verfahrens-
        rechtliche Mindeststandards vorgesehen durch die Aus-
        stellung bestimmter Bescheinigungen durch die Gerichte
        der Ursprungsmitgliedstaaten. Für die Fälle grenzüber-
        schreitender Kindesentführungen enthält die Verordnung
        außerdem Regelungen zur schnelleren und effektiveren
        Ausgestaltung des Verfahrens nach dem Haager Kindes-
        entführungsübereinkommen.
        Der Regierungsentwurf zum internationalen Fami-
        lienrecht ermöglicht die nahtlose Einfügung in das in-
        nerstaatliche Prozessrecht, soweit die Verordnung den
        Mitgliedstaaten Spielraum zur Anpassung lässt. Mit An-
        lehnung an die Grundkonzeption des Anerkennungs-
        und Vollstreckungsausführungsgesetzes in Zivil- und
        Handelssachen – AVAG, Gesetz zur Ausführung zwi-
        schenstaatlicher Verträge und zur Durchführung von
        Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft auf dem
        Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und
        Handelssachen – stellt der Regierungsentwurf der fami-
        lienrechtlichen Praxis ein eigenständiges, umfassendes
        und vereinfachtes Aus- und Durchführungsgesetz zur
        Verfügung. Die Ausführungsvorschriften zum interna-
        tionalen Familienrecht werden damit in einem einzigen
        Gesetz zusammengefasst und insgesamt neu strukturiert.
        Diese Entscheidung ist zu begrüßen. Die zunehmende
        Zahl familienrechtlicher Besonderheiten und die Integra-
        tionstiefe der neuen Regelungen spricht eindeutig gegen
        die Aufnahme der Durchführungsvorschriften in das
        AVAG, wo bislang im Besonderen Teil die Durchfüh-
        rungsvorschriften der „Brüssel-II-Verordnung“ geregelt
        sind, die nunmehr aufzuheben sind. Zudem wäre auch
        eine Einstellung in das neue Buch Elf der Zivilprozess-
        ordnung über die justizielle Zusammenarbeit in der EU
        nicht zweckmäßig, da die vorgesehenen Regelungen auf
        dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit hier schlecht
        hineinpassen und der Entwurf im Einklang mit der ge-
        setzgeberischen Tendenz steht, farnilienrechtliche Vor-
        schriften aus der Zivilprozessordnung herauszuhalten.
        Durch den Regierungsentwurf wird zudem eine
        Rechtszersplitterung vermieden: Aufgrund des Sachzu-
        sammenhangs übernimmt der Entwurf die bisherigen
        Ausführungsvorschriften des Haager Kindesentfüh-
        rungsübereinkommens unverändert. Ebenso nimmt der
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        ntwurf die Ausführungsvorschriften des Europäischen
        orgerechtsübereinkommens auf und gleicht sie mit der
        instellung dem Anerkennungs- und Vollstreckungsver-
        ahren der neuen EG-Verordnung „Brüssel II a“ so weit
        ie möglich an, wohingegen das bisherige Sorgerechts-
        bereinkommens-Ausführungsgesetz zugleich aufgeho-
        en wird.
        Die Neuregelung der Ausführungsvorschriften auf
        em Gebiet des internationalen Familienrechts in einem
        inheitlichen Gesetz ermöglicht auch die zukünftige In-
        egration weiterer Vorschriften zur Ausführung interna-
        ionaler Regelungen des Familienrechts, was einen wei-
        eren wichtigen Vorteil bietet.
        Darüber hinaus stellt der Regierungsentwurf die prak-
        ische Wirksamkeit der „Brüssel-II-a-Verordnung“, des
        aager Kindesentführungsübereinkommens und des
        uropäischen Sorgerechtsübereinkommens sicher durch
        erbesserung der grenzüberschreitenden Durchsetzbar-
        eit familiengerichtlicher Entscheidungen.
        Insbesondere hinsichtlich des Haager Kindesentfüh-
        ungsübereinkommens hat sich die in diesem Zusam-
        enhang einschlägige Regelung des § 33 FGG als nicht
        usreichend erwiesen, die insgesamt auch als ein
        stumpfes Schwert“ bezeichnet wird in der Kommentar-
        iteratur zum Familienrecht. Die nun mit dem Entwurf
        orgesehene Einführung von Ordnungsmitteln ermög-
        icht im Gegensatz zur jetzigen Praxis auch dann deren
        erhängung, wenn im Einzelfall der konkrete Erfolg
        icht mehr zu erreichen ist, zum Beispiel, wenn durch
        as Ferienende – wegen Zeitablaufs – der gerichtlich an-
        eordnete Umgang nicht mehr realisiert werden kann
        it Zwangsmitteln.
        Da erst recht in vielen grenzüberschreitenden Fällen
        en gerichtlich angeordneten Umgangs- und Herausga-
        eentscheidungen nicht Folge geleistet wird, erscheint
        in Wechsel zu repressiven Zwangsvollstreckungs-
        echanismen geboten, auch im Hinblick auf mögliche
        ukünftige Zuwiderhandlungen. Insbesondere enthält
        er Entwurf eine Regelung, nach der die Androhung des
        rdnungsmittels auch nicht isoliert anfechtbar ist. Die
        egelung stärkt damit insgesamt die Autorität der Ge-
        ichte bei der Durchsetzung familiengerichtlicher Ent-
        cheidungen in grenzüberschreitenden Fällen.
        Der Entwurf weist zudem die Aufgaben der Zentralen
        ehörde nach der Verordnung dem Generalbundesan-
        alt beim Bundesgerichtshof zu.
        Die Zentralen Behörden stellen zum einen unter Inan-
        pruchnahme des Europäischen Justiziellen Netzes für
        ivil- und Handelssachen Informationen über innerstaat-
        iche Rechtsvorschriften und Verfahren zur Verfügung.
        um anderen arbeiten sie in bestimmten Fällen der elter-
        ichen Verantwortung zusammen. Sie fördern die grenz-
        berschreitende Zusammenarbeit der Gerichte und Ver-
        altungsbehörden und informieren und unterstützen die
        räger elterlicher Verantwortung, die die Anerkennung
        nd Vollstreckung von Entscheidungen erwirken wollen.
        Der Generalbundesanwalt verfügt bereits über lang-
        ährige Erfahrung als zentrale Behörde nach dem Sorge-
        echtsübereinkommens-Ausführungsgesetz. Bestehende
        12776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
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        Strukturen, Erfahrungen und Kontakte beim General-
        bundesanwalt können somit genutzt werden.
        Ute Granold (CDU/CSU): Der Rat der Europäischen
        Union hat im November 2003 die Verordnung zur Zu-
        ständigkeit sowie zur Anerkennung und Vollstreckung
        von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren be-
        treffend die elterliche Verantwortung verabschiedet, die
        ab dem 1. März 2005 in den Mitgliedstaaten der Euro-
        päischen Union, mit Ausnahme Dänemarks, gelten wird.
        Wir befassen uns heute mit dem Gesetzentwurf der
        Bundesregierung, der der Durchführung dieser Verord-
        nung, der so genannten „Brüssel-II-a-Verordnung“, dient
        und darüber hinaus der familienrechtlichen Praxis ein ei-
        genständiges und umfassendes Ausführungsgesetz zu
        den bestehenden europäischen und internationalen,
        Rechtsgrundlagen zur Verfügung stellt.
        Während die bisherige „Brüssel-II-Verordnung“, die
        durch die neue „Brüssel-II-a-Verordnung“ außer Kraft
        gesetzt wird, lediglich für Sorgerechtsstreitigkeiten an-
        wendbar war, in denen die Eltern des Kindes miteinan-
        der verheiratet sind, gilt die neue Verordnung fortan
        auch für Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheira-
        tet oder bereits geschieden sind.
        Die steigende Zahl von Scheidungen und aller damit
        zusammenhängenden Probleme machen vor nationalen
        Grenzen nicht halt. Elterliche Konflikte zum Sorge- und
        Umgangsrecht bis hin zu teilweise dramatischen Fällen
        von grenzüberschreitenden Kindesentführungen zeigten
        in der Vergangenheit bereits Handlungsbedarf für eine
        europäische Rechtsvereinheitlichung.
        Der vorliegende Entwurf behandelt im Detail um-
        fänglich praktische Fragen des familiengerichtlichen
        Verfahrens, fasst diese klar strukturiert zusammen und
        stellt nun in einem Gesetz alle Regelungen in einer ein-
        heitlichen und vereinfachten Form zur Verfügung. Einer
        Rechtszersplitterung wird damit entgegengewirkt.
        Zu begrüßen sind die besondere Beachtung des
        Rechts zum persönlichen Umgang und auch die Be-
        schleunigung der Verfahren und die verbesserte Durch-
        setzung gerichtlicher Anordnungen bei grenzüberschrei-
        tenden Familienkonflikten. Bei der Berücksichtigung
        und notfalls auch Durchsetzung des Rechts zum persön-
        lichen Umgang muss das Wohl des Kindes im Mittel-
        punkt stehen.
        Jedes Kind hat ein Recht auf seinen Vater und seine
        Mutter, die es beide braucht. Dies wurde bereits bei der
        Kindschaftsrechtsreform 1998 in unser Gesetz geschrie-
        ben. Damit wurde deutlich gemacht, dass der Umgang
        nicht ausschließlich ein Recht – und eine Pflicht – der
        Eltern ist, sondern ein Recht des Kindes auf Wahrung
        und Förderung seiner Entwicklungschancen darstellt.
        So ist auch die mit Blick auf das Wohl des Kindes nun
        festgeschriebene Verfahrensbeschleunigung zu begrü-
        ßen. Künftig darf das vollstreckende Gericht nicht mehr
        prüfen, ob die Entscheidungen ausländischer Stellen im
        eigenen Land Bestand haben sollen. Die Zwangsvoll-
        streckung ist vielmehr sofort einzuleiten. Damit fallen
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        eitraubende und kostenpflichtige Zwischenschritte bei
        er Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidun-
        en weg. Mit dieser Verfahrensstraffung wird die Zeit
        er Ungewissheit und ungeklärten Verhältnisse in den
        amilien erheblich verkürzt, was letztendlich auch dem
        ohl der Kinder zugute kommt.
        Im Rahmen der Vollstreckung können Geldbußen und
        rdnungshaft verhängt werden, auch dann noch, wenn
        um Beispiel der Zeitraum für die Gewährung des Um-
        angsrechts bereits abgelaufen ist. Es ist für die Praxis
        ichtig, über effektive Sanktionsmechanismen zu verfü-
        en, wenn – was leider nicht selten ist – ein Elternteil die
        nordnungen des Gerichts missachtet.
        Zuständig für die Verfahren nach dieser Verordnung ist
        ie Zentrale Behörde, das heißt für Deutschland der Ge-
        eralbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der inzwi-
        chen eine langjährige Erfahrung als Zentrale Behörde
        ach dem Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsge-
        etz hat. Die Zentrale Behörde verkehrt unmittelbar mit
        llen zuständigen Stellen im In- und Ausland und fertigt
        ei Bedarf auch notwendige Übersetzungen. Nimmt die
        entrale Behörde einen Antrag nicht an oder lehnt sie es
        b, tätig zu werden, so kann die unanfechtbare Entschei-
        ung des Oberlandesgerichts im Bezirk der Zentralen Be-
        örde beantragt werden.
        Das heutige Gesetz, das der Durchführung der „Brüs-
        el-II-a-Verordnung“ dient, ist ein weiterer Schritt für
        ie Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten der
        uropäischen Union hin zur Schaffung echten gemeinsa-
        en europäischen Rechtsraums. Weitere Schritte müs-
        en folgen. Sie stehen auch schon zur weiteren Beratung
        n. Zu nennen ist hier die internationale Abwicklung der
        indesunterstützung und anderer Formen des Familien-
        nterhalts.
        Die Europäische Kommission hat in Erfüllung ihrer
        ufgabe aus dem Europavertrag unabhängig von ihren
        utoritären Mitgliedstaaten das Grünbuch „Unterhalts-
        flichten“ endgültig verordnet, das den Inhalt der neuen
        aager Konvention für das internationale Privatrecht ab-
        eckt. Es bleibt zu hoffen, dass auch die weiteren Bera-
        ungen hin zu einem vereinten Europa im Interesse der
        ürgerinnen und Bürger konstruktiv vonstatten gehen
        erden.
        Irmgard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        EN): Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt aller
        amilienrechtlichen Entscheidungen, bei denen Kinder
        u berücksichtigen sind. Es ist zentraler Anker grüner
        olitik. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum
        nternationalen Familienrecht sind sowohl anwender-
        reundliche als auch die Belange von Eltern und Kindern
        erücksichtigende Regelungen in grenzüberschreitenden
        useinandersetzungen geschaffen worden.
        Es gibt immer mehr Kinder, deren Eltern nicht die
        leiche Staatsangehörigkeit haben. Diese Kinder leiden
        esonders unter möglicherweise eintretenden Sorge-
        echts- und Umgangstreitigkeiten, weil Verfahren hier
        och länger dauern. Auch in der Bundesrepublik
        eutschland werden in Zukunft immer mehr Fälle von
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12777
        (A) )
        (B) )
        den zuständigen Familiengerichten zu bearbeiten sein, in
        denen es zum Beispiel um die Anerkennung ausländi-
        scher Entscheidungen zu Sorge und Umgangsrechts oder
        darum geht, durch Entführung der Kinder unterbrochene
        Sorgerechtsverhältnisse wiederherzustellen.
        Es hat sich gezeigt, dass die bestehenden Instrumenta-
        rien nicht ausreichen, um grenzüberschreitend eine
        effektive Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen zu
        gewährleisten. Deutschland war aus diesem Grunde im-
        mer wieder internationaler Kritik ausgesetzt. Die Bun-
        desregierung hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
        auf diese Kritik und die veränderte Lebenswirklichkeit
        von Familien reagiert. Es kann kein Zweifel daran beste-
        hen, dass die insoweit vorhandenen Erkenntnisse und
        Erfahrungen im internationalen Kontext gerade im Inte-
        resse der betroffenen Kinder genutzt werden müssen. Der
        Gesetzentwurf führt mit seinem § 44 das Instrument des
        Ordnungsmittels und damit die Möglichkeit der Verhän-
        gung der Ordnungshaft ein. Bisher war dies im Rahmen
        der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht möglich. Ein Pro-
        blem liegt darin, dass das deutsche Recht bisher nur das
        durch einen Beugecharakter gekennzeichnete Zwangs-
        vollstreckungssystem anbietet, um mit der Situation um-
        zugehen, dass sich die verpflichtete Person der angeord-
        neten Rückgabe des Kindes oder der Gewährung des
        Umgangs verweigert.
        Der Sanktionscharakter wird durch dieses Instrument
        gegenüber dem Erzwingungscharakter in den Vorder-
        grund gestellt. Maßnahmen mit Sanktionscharakter wir-
        ken in höherem Maße präventiv, zum Vorteil für die be-
        teiligten Kinder. Ich begrüße diese für das deutsche
        Recht insoweit neuen Regelungen ausdrücklich. Selbst-
        verständlich ist bei der Anwendung aller Regelungen das
        Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen.
        Zudem begrüße ich die Benennung des Generalbun-
        desanwalts beim Bundesgerichtshof als zentrale Behörde
        im Sinne der genannten Übereinkommen. Dieser war be-
        reits bisher in entsprechender Funktion im Bereich des
        Sorgerechtsübereinkommens sowie nach dem Adop-
        tionsübereinkommens-Ausführungsgesetz und dem Aus-
        landsunterhaltsgesetz tätig.
        Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Ge-
        setzentwurf im Wesentlichen der Umsetzung verbindli-
        chen EU-Rechts dient und im Übrigen vornehmlich be-
        reits vorhandene gesetzliche Regelungen zusammenfasst
        und übersichtlicher gestaltet. Die darüber hinausgehen-
        den Anliegen der Verfahrensbeschleunigung und Effek-
        tivierung sind unbedingt unterstützenswert. Mit den
        Änderungen werden einheitliche innerstaatliche Verfah-
        rensvorschriften zur Ausführung von verschiedenen
        Übereinkommen auf dem Gebiet des internationalen Fa-
        milienrechts geschaffen. Dies erleichtert die Rechtsan-
        wendung. Ein umfassendes Durchführungsgesetz wird
        die Bearbeitung grenzüberschreitender familienrechtli-
        cher Sachen für die Praxis aufgrund einer höheren Über-
        sichtlichkeit der Rechtsgrundlagen erleichtern. Den zu-
        ständigen Gerichten wird ermöglicht, auf grundlegende
        innerstaatlich geltende Verfahrensbestimmungen zurück-
        zugreifen, soweit die Verfahren auf den genannten inter-
        nationalen Abkommen beruhen.
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        Jenseits der bereits beschlossenen Neuregelungen
        uss auch klar sein, dass das internationale gemeinsame
        usammenwirken von Gerichten, Jugendämtern sowie
        em internationalen Sozialdienst als helfendem Instru-
        ent der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit intensi-
        iert und ausgebaut werden muss.
        Sibylle Laurischk (FDP): Es ist bemerkenswert,
        ass das Familienrecht hier im Hause eine solche Auf-
        erksamkeit genießt, dass selbst unumstrittene Gesetz-
        ntwürfe, mit denen EU-Recht innerstaatlich umgesetzt
        erden soll, einer Beratung zugänglich gemacht werden.
        s ist nicht die Einmütigkeit, die den zu regelnden Le-
        enssachverhalten eigen ist; diese sind an Konfliktträch-
        igkeit und menschlichem Drama kaum zu überbieten.
        reidekreisentscheidungen sind heutzutage selten anzu-
        reffen. Es wird mit allen Finessen um Kinder gekämpft,
        obei oft vergessen wird, dass es gerade dieser Kampf
        st, der die Kinder so kränkt, verunsichert und verstört
        nd eine unbeschwerte Kindheit vereitelt, oft mit gravie-
        enden Folgen für ihr ganzes Leben.
        Die Fälle der Auseinandersetzungen über Sorge- und
        mgangsrecht aus binationalen Beziehungen nehmen
        u, da mit Wachstum der EU häufiger über Grenzen hin-
        eg Verbindungen entstehen und mit wachsender Mobi-
        ität der EU-Bürger ein Zuwachs an Fällen zu erwarten
        st. Die Ablehnung eines Kommissionsmitgliedes wegen
        eines unzeitgemäßen Familien- und Menschenbildes
        urch das EU-Parlament zeigt, dass die EU in diesem
        esellschaftspolitisch zentralen Bereich einen wachen
        urs steuert.
        Mit dem vorliegenden Gesetz kann dem in der Ver-
        angenheit oft erhobenen Vorwurf begegnet werden,
        eutschland halte sich in Kindschaftssachen nicht an in-
        ernationale Vereinbarungen, es herrsche hier „das Ge-
        etz des Dschungels“ – so der französische Staatspräsi-
        ent Chirac, zitiert nach einem Bericht des „Spiegels“
        m Jahr 2000. Begrüßenswert ist die handliche Über-
        ahme der Vorschriften des Sorgerechtsübereinkom-
        ensrechtes unter dem Dach des vorliegenden Entwur-
        es, die dem sachlichen Zusammenhang entspricht.
        Zu begrüßen ist auch die vorgesehene Beschleu-
        igung der Verfahren; denn Zeit ist in der Entwicklung
        ines Kindes der Faktor, der Fakten schafft. Ein Kind,
        as rechtswidrig über Monate von einem Elternteil fest-
        ehalten wird, hat sich dann womöglich eingelebt und
        ann bei richtig verstandenem Kindeswohl kaum mehr
        urückgegeben werden. Die Konzentration der Zustän-
        igkeit auf wenige, sachlich kompetente Gerichte und
        ie Einrichtung der Zentralen Behörde beim General-
        undesanwalt in Karlsruhe wird zu einer weiteren Be-
        chleunigung führen.
        Am umstrittensten erschien auch aufgrund der Stel-
        ungnahmen der Verbände die Einführung von Ord-
        ungsgeld und Ordnungshaft als Ultima Ratio der
        wangsvollstreckung. Eine Kriminalisierung der Betrof-
        enen ist damit keineswegs gewollt, vielmehr geht es al-
        ein um die Durchsetzung gerichtlicher Maßnahmen und
        nordnungen zum Wohle der Kinder. Auch im
        12778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) )
        (B) )
        nationalen Bereich ist die Vollstreckung gerichtlicher
        Entscheidungen der konfliktträchtigste Teil des elterli-
        chen Sorgerechts. Aus der Sicht eines Kindes wird es
        allerdings sehr befremdlich sein, zu erleben, dass ein El-
        ternteil in Haft genommen wird, weil es sich beispiels-
        weise einer gerichtlichen Anordnung nicht beugt und ein
        in seiner Obhut befindliches Kind nicht herausgibt. Die
        damit verbundene Verschärfung der Betreuungssituation
        des Kindes ist ein weiteres Problem. Ordnungsgeld und
        insbesondere Ordnungshaft müssen deswegen Ultima
        Ratio bleiben, wobei in vereinzelten Fällen mit grenz-
        überschreitender intensiver Auseinandersetzung um
        Kinder Eltern nur durch ebendiese Ordnungsmittel da-
        von abzuhalten sind, das Kindeswohl durch ihr Verhal-
        ten zu gefährden bzw. ihm zuwiderzuhandeln.
        Wir setzen auf die generalpräventive Wirkung dieser
        Vorschrift. Der Sanktionscharakter soll hier auch hin-
        sichtlich der Durchsetzung von zukünftigen Anordnun-
        gen gleichsam erzieherisch wirken. Der Grund für die-
        sen Wechsel zu repressiven Zwangsmaßnahmen ist in
        der Erfahrung der bisherigen Durchsetzungsschwäche
        von gerichtlichen Entscheidungen über Umgang oder
        Aufenthaltsrechten von Kindern zu sehen. Natürlich
        hängt die Praktikabilität des Gesetzes nicht zuletzt auch
        von den flankierenden Maßnahmen der Jugendämter,
        Sozialdienste und Erziehungsberatungsstellen ab. Das
        absolute Gewaltanwendungsverbot gegen Kinder zur
        Durchsetzung des Umgangsrechts ist selbstverständlich.
        Dies muss auch bei einer Regelung im internationalen
        Rahmen Maßstab für uns alle bleiben.
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
        Bundesministerin der Justiz: Die Bundesregierung hat
        im Sommer dieses Jahres einen Gesetzentwurf in das
        Gesetzgebungsverfahren eingebracht, der der innerstaat-
        lichen Durchführung der sogenannten Brüssel-II-a-Ver-
        ordnung dient. Die Brüssel-II-a-Verordnung wird in ih-
        ren wesentlichen Teilen ab dem 1. März 2005 in den
        Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme
        Dänemarks gelten. Zur Erörterung des Gesetzentwurfs
        ist es daher erforderlich, die Brüssel-II-a-Verordnung
        kurz zu skizzieren.
        Die neue EG-Verordnung enthält verfahrensrechtliche
        Regelungen in grenzüberschreitenden Ehesachen und in-
        ternationalen Streitigkeiten über das Sorge- und Um-
        gangsrecht. Sie ersetzt die geltende so genannte Brüssel-
        II-Verordnung und erweitert ihren Anwendungsbereich.
        Während die bislang geltende Brüssel-II-Verordnung le-
        diglich auf Sorgerechtsstreitigkeiten in solchen Fällen
        anwendbar ist, in denen die Eltern des Kindes miteinan-
        der verheiratet sind, gilt die neue Verordnung fortan für
        Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind,
        und in Fällen, in denen die Ehe der Eltern bereits ge-
        schieden ist. Im Einzelnen regelt die Verordnung, welche
        Gerichte für Ehesachen und Verfahren betreffend das
        Sorge- und Umgangsrecht international zuständig sind.
        Darüber hinaus schreibt die Verordnung vor, unter
        welchen Vorrausetzungen Entscheidungen aus einem
        Mitgliedstaat der Verordnung in den anderen Mitglied-
        staaten gültig sind und dort vollstreckt werden können.
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        n diesem Zusammenhang beschleunigt die neue EG-
        erordnung die Durchsetzung bestimmter Entscheidun-
        en über das Umgangsrecht sowie über die Rückgabe
        es Kindes. Das Gericht im Vollstreckungsstaat darf in-
        oweit zukünftig nicht mehr prüfen, ob die getroffene
        ntscheidung auch wirklich im eigenen Land Bestand
        aben soll. Stattdessen kann dort gleich die Zwangsvoll-
        treckung eingeleitet werden. Der Wegfall dieses zeit-
        aubenden und kostenpflichtigen Zwischenschrittes
        chafft bislang bestehende Hürden bei der grenzüber-
        chreitenden Anerkennung und Vollstreckung von Ent-
        cheidungen ab. Wer eine Entscheidung erstritten hat,
        ommt damit zukünftig nicht nur schneller, sondern
        uch kostengünstiger zu seinem Recht.
        Der Entwurf eines Gesetzes zum internationalen Fa-
        ilienrecht enthält die zur Umsetzung der neuen EG-
        erordnung in Deutschland notwendigen Durchfüh-
        ungsvorschriften, damit diese für die Bürgerinnen und
        ürger optimale Wirkung entfaltet. Durch die unbüro-
        ratische Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher
        ntscheidungen mit grenzüberschreitender Bedeutung in
        llen Mitgliedstaaten der Europäischen Union außer Dä-
        emark werden die Vorteile eines gemeinsamen europäi-
        chen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
        ür die Bürgerinnen und Bürger spürbar.
        Gleichzeitig nimmt der Gesetzentwurf die geltenden
        orschriften zur Ausführung des Haager Kindesentfüh-
        ungübereinkommens und des Europäischen Sorge-
        echtsübereinkommens auf und passt sie den heutigen
        rfordernissen an. Damit wird der Praxis ein kompaktes
        nd übersichtliches Gesetz zur Verfügung gestellt, das
        lle ergänzenden nationalen Vorschriften zu den interna-
        ionalen Rechtsinstrumenten insbesondere im Bereich
        es Sorge- und Umgansrechts enthält. Richter und
        echtanwälte können die notwendigen Informationen
        unmehr einem einzigen anwenderfreundlichen Gesetz
        ntnehmen.
        Darüber hinaus werden im Anwendungsbereich der
        enannten internationalen Rechtsinstrumente die Voll-
        treckungsregelungen effektiver ausgestaltet. Ordnungs-
        ittel in Form von Ordnungsgeld und Ordnungshaft tre-
        en an die Stelle von Zwangsgeld und Zwangshaft. So
        ann anders als bisher eine Geldbuße wegen Nichtgewäh-
        ung eines Umgangsrechts auch dann noch festgesetzt
        erden, wenn der Zeitraum für die Gewährung des Um-
        angsrechts – zum Beispiel die Osterferien 2005 – bereits
        bgelaufen ist. Die Gerichte haben damit – selbstver-
        tändlich unter Berücksichtigung des Verhältnismäßig-
        eitsgrundsatzes – effektivere Sanktionsmöglichkeiten,
        enn ein Elternteil die Anordnungen des Gesichts miss-
        chtet. Dies ist dringend erforderlich, da nicht nur ein
        erstoß gegen die Rechte des Elternteils vorliegt, dem
        aut Beschluss des Gerichts ein Umgangsrecht zusteht,
        ondern auch gegen das Recht des Kindes auf Umgang
        it seinem ihn nicht betreuenden Elternteil. Gerade der
        öglicherweise endgültige Abbruch der Beziehung des
        indes zum anderen Elternteil aufgrund der Umgangs-
        erweigerung durch den betreuenden Elternteil kann für
        as Kind extrem schädlich sein. Hinzu tritt, dass eine Fol-
        enlosigkeit der Nichtbeachtung richterlicher Anordnun-
        en anderen Personen in ähnlichen Konflikten noch ver-
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12779
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        (B) )
        borgen bleibt und zur Nachahmung verleitet. Schließlich
        ist Rechtsdurchsetzung eine wesentliche Voraussetzung
        dafür, dass Kinder und Eltern darauf vertrauen können,
        dass die Gerichte im Streitfall den Umgang zwischen
        Kind und nicht betreuendem Elternteil garantieren, und
        es nicht zu Selbsthilfemaßnahmen von Eltern kommt, die
        trotz Gerichtsurteil ihre Kinder nicht sehen können.
        Die Brüssel-II-a-Verordnung gilt in ihren wesentli-
        chen Teilen ab dem 1. März 2005. Es ist daher zu hoffen,
        dass die weiteren Beratungen des Gesetzentwurfs kon-
        struktiv und zügig geführt werden, damit das Gesetz
        zum internationalen Familienrecht ebenfalls zu diesem
        Datum in Kraft treten kann. Der federführende Rechts-
        ausschuss und der Ausschuss für Familie, Senioren,
        Frauen und Jugend haben in ihren gestrigen Sitzungen
        dem Gesetzentwurf einstimmig zugestimmt.
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschafts-
        namensrechts (Zusatztagesordnungspunkt 8)
        Christine Lambrecht (SPD): Nach § 1355 Abs. 2
        BGB kann ein durch frühere Eheschließung erworbener
        Familienname nicht zum Ehenamen bestimmt werden.
        Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung
        mit Urteil vom 18. Februar 2004 für verfassungswidrig
        erklärt.
        Die dem Urteil vom 18. Februar zugrunde liegende
        Verfassungsbeschwerde betraf die Frage, ob es verfas-
        sungsrechtlich zulässig ist, dass als Ehename nur der Ge-
        burtsname der Frau oder des Mannes, nicht jedoch ein
        durch frühere Eheschließung erworbener Familien-
        name, den einer der Ehegatten zum Zeitpunkt der
        Eheschließung führt, gewählt werden kann. Die Be-
        schwerdeführerin berief sich vor allem auf ihr Persön-
        lichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 6 und
        Art. 3 Abs. 1 GG.
        Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
        § 1355 Abs. 2 BGB mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
        Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist, soweit er aus-
        schließt, dass Ehegatten zum Ehenamen einen durch frü-
        here Eheschließung erworbenen und geführten Namen
        bestimmen können. Auch der durch Eheschließung er-
        worbene Familienname erfährt den vollen Schutz aus
        Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Dieses
        schützt auch den gewählten Ehenamen als Ausdruck der
        Identität und Individualität des Namensträgers über die
        Ehezeit hinaus. An dem erheirateten Namen erwerbe ein
        Ehegatte nicht nur ein Nutzungsrecht für die Dauer der
        Ehe. Dieser Name stehe ihm vielmehr als eigenes Recht
        zu und sei durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ge-
        schützt, das verletzt werde, wenn der Name nicht zum
        Ehenamen bestimmt werden dürfe. Die Beschränkung
        der Ehenamenswahl sei auch unvereinbar mit dem be-
        sonderen Schutz für Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1
        GG, der den Ehegatten die Freiheit gebe, ihren Ehena-
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        en selbst zu bestimmen. Das Gleichbehandlungsgebot
        ei zudem verletzt, da der erheiratete Name zwar an Kin-
        er weitergegeben werden könne, die nicht aus der Ehe
        it dem Namensgeber stammten, nicht dagegen an den
        euen Ehegatten. Außerdem dürfe nicht zwischen Ehen
        nter Deutschen und solchen mit ausländischer Beteili-
        ung differenziert werden. Art. 10 Abs. 2 Satz 1 EGBGB
        evorzugt insofern bei der Ehenamenswahl Deutsche,
        ie einen ausländischen Staatsangehörigen heiraten, ge-
        enüber Ehen allein deutscher Nationalität.
        Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
        ufgegeben, bis zum 31. März 2005 auch für Alt- und
        bergangsfälle Abhilfe zu schaffen. Der Gesetzentwurf
        ient der Umsetzung der Aufforderung unter Einbezie-
        ung von Regelungen zur Wahl des Lebenspartner-
        chaftsnamens. Er sieht als Kernpunkt Änderungen der
        eanstandeten Norm des § 1355 BGB vor. Die Regelung
        oll entsprechend den Vorgaben des Gerichts im Sinne
        er Erweiterung der Wahlmöglichkeiten für den Ehena-
        en ergänzt werden, einen aus Ehenamen und Begleit-
        amen zusammengesetzten Namen eines Ehegatten als
        henamen zu bestimmen.
        Eine befristete Übergangsregelung ermöglicht die
        achträgliche Änderung des bereits bestimmten Ehena-
        ens, der nicht Geburtsname eines der Ehegatten ist.
        innen eines Jahres nach In-Kraft-Treten der Neurege-
        ung kann die bislang nicht mögliche Bestimmung des
        rheirateten Namens zum Ehenamen nachgeholt werden.
        Für eingetragene Partnerschaften gilt Entsprechendes
        emäß § 3 LPartG ohne Begründung der Zuständigkeit
        es Standesbeamten.
        Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute
        it dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ehe-
        nd Lebenspartnerschaftsnamensrechts, mit dem ein Ur-
        eil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar
        004 umgesetzt werden soll.
        Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Verfas-
        ungsbeschwerde eines Ehepaares zu entscheiden, das
        en von der Ehefrau geführten früheren Ehenamen in der
        euen Ehe als Ehenamen beibehalten wollte. Dies hatte
        er Standesbeamte unter dem Hinweis, nur der Geburts-
        ame dürfe zum Ehenamen bestimmt werden, abgelehnt.
        Das Bundesverfassungsgericht sah den hier einschlä-
        igen § 1355 Abs. 2 BGB als mit Art. 2 Abs. l GG in
        erbindung mit Art. l Abs. l GG nicht vereinbar, die den
        amensschutz eines Menschen als Ausdruck seiner
        dentität und Individualität ohne zeitliche Befristung auf
        ie Ehe gewährleisten.
        § 1355 Abs. 2 BGB greift in das verfassungsrechtlich
        eschützte Namensrecht des Trägers dieses erworbenen
        amens ein und behandelt damit den erworbenen Na-
        en gegenüber dem Geburtsnamen als geführten Namen
        inderer Qualität; denn der Träger des erworbenen Na-
        ens wird gezwungen, bei gemeinsamer Ehenamens-
        ahl erneut seinen geführten Namen aufzugeben und ei-
        en neuen anzunehmen. Dem steht ein Entzug des
        amensrechts gleich, was angesichts des hohen Wertes
        es Namensrechts nicht ohne gewichtige Gründe
        12780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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        geschehen und nur unter Wahrung des Grundsatzes der
        Verhältnismäßigkeit erfolgen darf. Allerdings rechtfer-
        tigt weder die Rücksicht auf die Gefühle des Ehegatten
        aus dem früheren Familienverband, der es als belastend
        und kränkend empfinden könnte, wenn sein Name zum
        Ehenamen einer neuen Ehe seines geschiedenen Ehegat-
        ten bestimmt und so an den neuen Ehepartner weiterge-
        geben wird, noch die drohende Missbrauchsgefahr, die
        mit der Möglichkeit, den in früherer Ehe erworbenen
        Namen zum neuen Ehenamen zu wählen, verbunden ist,
        den Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Na-
        mensrecht.
        Aufgrund der Verfassungswidrigkeit von § 1355 Abs. 2
        BGB hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzge-
        ber aufgegeben, die Rechtslage bis zum 31. März 2005
        mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen und auch
        eine Übergangsregelung zu schaffen.
        Der Regelungsgehalt dieser Vorschrift – so zeigt es
        uns die Geschichte des bürgerlichen Ehenamensrechts –
        unterlag stets einem Wandel, der immer Ausdruck sich
        verändernder gesellschaftspolitischer Bedingungen war
        und leider zu oft erst nach Aufforderung durch das Bun-
        desverfassungsgericht vom Gesetzgeber vollzogen
        wurde.
        In seiner ursprünglichen Fassung von 1896 bestimmte
        § 1355 BGB, dass die Frau mit der Eheschließung den
        Familiennamen des Ehemannes annehmen musste. Erst
        60 Jahre später erhielt sie als Folge des Gleichberechti-
        gungsgesetzes die Möglichkeit, ihren Geburtsnamen
        hinzuzufügen. Mit dem ersten Gesetz zur Reform des
        Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 wurde
        § 1355 BGB dahin gehend geändert, dass die Ehegatten
        nunmehr als gemeinsamen Ehenamen auch den Geburts-
        namen der Frau wählen konnten, wobei bei Nichteini-
        gung der Geburtsname des Mannes Vorrang genießen
        sollte. Dabei beschränkte der Gesetzgeber die Namens-
        wahl bewusst auf den Geburtsnamen, da er Namensüber-
        tragungen ausschließen wollte. Zugleich sollte es dem
        Ehemann untersagt sein, seiner geschiedenen Ehefrau
        die Fortführung des durch die Eheschließung erworbe-
        nen Namens zu untersagen. 1991 machte das Bundesver-
        fassungsgericht eine weitere Reform des Ehenamens-
        rechts erforderlich. Mit Beschluss vom 5. März erklärte
        es § 1355 BGB insofern für verfassungswidrig, als
        Abs. 2 Satz 2 den Vorrang des Mannesnamens bei Nicht-
        einigung vorschrieb. In dem folgenden Gesetzgebungs-
        verfahren sah der ursprüngliche Regierungsentwurf
        zunächst vor, dass die Ehegatten neben ihrem Geburts-
        namen auch ihren zum Zeitpunkt der Eheschließung
        geführten Namen zum Ehenamen bestimmen können
        sollten. Dieser Vorschlag stieß jedoch in der sich an-
        schließenden parlamentarischen Beratung auf Wider-
        spruch. Insbesondere die Adelsverbände protestierten
        unter Verweis auf die von ihnen befürchtete „Titelinfla-
        tion“ gegen die erweiterte Wahlmöglichkeit. In der Folge
        erhielt § 1355 Abs. 2 BGB die jetzt geltende Beschrän-
        kung der Namenswahl auf den Geburtsnamen.
        Der heute zur Beratung stehende Gesetzentwurf sieht
        als Kernpunkt eine Modifizierung der vom Bundesver-
        fassungsgericht beanstandeten Vorschrift vor. § 1355
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        bs. 2 BGB soll hinsichtlich seiner Wahlmöglichkeiten
        rweitert werden. Künftig können Ehegatten neben dem
        eburtsnamen auch den von einem Ehegatten zur Zeit
        er Erklärung über die Bestimmung des Ehenamens ge-
        ührten, in einer früheren Ehe erworbenen Namen be-
        timmen. Ehegatten, die vor In-Kraft-Treten der Neure-
        elung die Ehe geschlossen und bereits einen Ehenamen
        estimmt haben, können binnen eines Jahres nach In-
        raft-Treten dieses Gesetzes einen vom Geburtsnamen
        bweichenden Namen als Ehenamen bestimmen. Weiter-
        in muss diese Neuregelung konsequenterweise auf ein-
        etragene Lebenspartnerschaften entsprechend übertra-
        en werden.
        Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme eine Er-
        änzung vorgeschlagen, mit der klargestellt werden soll,
        ass es Ehepaaren auch erlaubt ist, nur einen Namen des
        urzeit der Eheschließung geführten Doppelnamens zum
        emeinsamen Ehenamen zu bestimmen, auch wenn die-
        er nicht Geburtsname ist.
        Der Bundesregierung ist allerdings zuzustimmen,
        ass eine dahin gehende Ergänzung nicht erforderlich
        st, da auch das geltende Recht bereits ausreichende
        öglichkeiten bereithält, um den mit der Empfehlung
        erfolgten Zweck zu erreichen.
        Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass uns als
        esetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht die
        ntscheidung weitestgehend vorgegeben ist. Der vorlie-
        ende Gesetzentwurf stellt den einzigen Weg dar, die
        echtslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen.
        ch denke daher, dass wir dem vorliegenden Gesetzent-
        urf zustimmen sollten.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        RÜNEN): Heute steht ein Gesetzentwurf auf der Ta-
        esordnung, bei dem wenig Unstimmigkeiten auftau-
        hen sollten, da es sich um die Umsetzung eines eindeu-
        igen Bundesverfassungsgerichtsurteils handelt.
        Inhaltlich geht es um Folgendes: Das Bundesverfas-
        ungsgericht hat in seinem Urteil am 18. Februar 2004
        indeutig festgestellt, dass das Recht zur Wahl des Ehe-
        amens mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar ist,
        a bisher ausgeschlossen ist, einen durch frühere Ehe-
        chließung erworbenen Familiennamen zum Ehenamen
        u bestimmen. Mit einer kurzen Frist bis zum 31. März
        005 ist der Gesetzgeber aufgefordert, dies Urteil umzu-
        etzen und ebenso eine Regelung für die Alt- und Über-
        angsfälle zu schaffen.
        Genau dieser Pflicht kommt die Bundesregierung mit
        em vorliegenden Gesetzentwurf nach. Zukünftig gilt
        un auch für einen in einer früheren Ehe erworbenen
        henamen in vollem Umfang der grundgesetzlich veran-
        erte Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dies
        mfasst auch das Recht, bei einer erneuten Eheschlie-
        ung einen Doppelnamen festlegen zu können. Gleiches
        ilt – und das ist für die weitere Gleichstellung in diesem
        and ebenso wichtig – selbstverständlich auch für die
        ahl des Lebenspartnerschaftsnamens. Denn die
        ründe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts be-
        reffen Lebenspartnerschaften in gleicher Weise.
        Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12781
        (A) )
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        Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
        dung klar festgestellt, dass sowohl Vor- als auch Familien-
        name Ausdruck der Identität und Individualität eines
        Menschen sind, die durch die Art. 1 und 2 unserer Ver-
        fassung geschützt werden. Dies gilt unabhängig davon,
        ob der Familienname Geburtsname ist oder durch Ehe-
        namenswahl erworben wurde.
        Im geltenden Recht wird bisher, so hat das Bundes-
        verfassungsgericht festgestellt, der erworbene Ehename
        im Vergleich zum Geburtsnamen als Name „zweiter
        Klasse“ behandelt. Da dies nicht mit dem Grundgesetz
        vereinbar ist, wird das von nun an aufgehoben sein.
        Wenn wir uns anschauen, wer von der bisherigen Re-
        gelung profitiert, wird deutlich warum wir diese gesetz-
        liche Anpassung benötigen. Mit der bisherigen Regelung
        wurde vor allem das Recht desjenigen Ehegatten ge-
        schützt, der seinen Geburtsnamen auch als Ehenamen
        behalten konnte. Das sind nach wie vor zu über 95 Pro-
        zent die Ehemänner. Erst durch die Reformen des Na-
        mensrechts 1976 und schlussendlich 1991 gilt das mit
        dem Gleichberechtigungsgrundsatz unvereinbare Vor-
        recht des Mannesnamens nicht mehr.
        Wir wissen, dass gesellschaftlich die traditionelle Re-
        gelung immer noch fortwirkt. Auch heute noch sind es in
        der überwiegenden Mehrzahl Frauen, die auf ihren Ge-
        burtsnamen bei der Festlegung des Familiennamens ver-
        zichten. Sie waren nach dem geltenden Recht gezwun-
        gen, gegebenenfalls ihren Namen ein zweites Mal
        abgeben zu müssen.
        So verständlich der Wunsch des geschiedenen Ehe-
        gatten ist, dass der „eigene“ Name nicht auch der Name
        des neuen Partners wird, so hat das Bundesverfassungs-
        gericht doch in seinem Urteil klargestellt, dass dieses
        Recht zum grundgesetzlich verankerten Namensschutz
        nachrangig ist.
        Ein Festhalten an einer Regelung – so die Auffassung
        des Bundesverfassungsgerichts –, die denjenigen schützt,
        der seinen Geburtsnamen als Ehenamen behält, würde
        eine traditionelle Vorstellung verfestigen, die mit einem
        an den Gleichheitsgrundsätzen orientierten Namensrecht
        nicht zu vereinbaren ist.
        Eigentlich – so sollte man meinen – ist doch bei ei-
        nem so eindeutigen Urteil und einer so konkreten Um-
        setzung alles klar. Dem war aber nicht ganz so. Denn im
        Bundesrat haben die sehr geehrten Damen und Herren
        von der Opposition doch noch einmal die Zustimmungs-
        pflicht angemahnt. Das hat die Bundesregierung bereits
        zurückgewiesen.
        Sibylle Laurischk (FDP): Dieses Gesetz ist durch
        die beharrliche Initiative einer Privatperson entstanden,
        derjenigen nämlich, die sich bis zum Bundesverfas-
        sungsgericht durchgeklagt hat, um ihr Recht durchzuset-
        zen, den angenommenen Ehenamen nach Scheidung der
        Ehe als eigenen Namen auch als Familiennamen einem
        neuen Ehegatten weitergeben zu können. Die Bundesre-
        gierung vollzieht hier nur eine Entscheidung des Bun-
        desverfassungsgerichts, vertrat auch in dem Verfahren
        vor dem Bundesverfassungsgericht noch eine andere
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        uffassung und musste sich eines Besseren belehren las-
        en.
        Das Namensrecht ist von hoher, auch emotionaler Be-
        eutung für jeden Einzelnen. Aus der Vielfalt der Zu-
        chriften mit den unterschiedlichsten Personenstands-
        onstellationen und Lebensläufen ist abzulesen, welche
        dentitätsstiftende Funktion der Name für den Einzelnen
        nd auch für einen Familienverband hat. Das Namens-
        echt verfolgt mehrere, zum Teil einander widerspre-
        hende Zwecke. Die vorrangige Funktion ist die der
        ndividualisierung des Namensträgers. Diese Identifika-
        ionskraft des Namens ist abhängig auch von der Na-
        enskontinuität, die auch nach der bisherigen Rechts-
        age durch die Namenswahl von Eltern für ihre Kinder
        urchbrochen ist. Allerdings macht die Vielfalt der Na-
        enswahlmöglichkeiten das praktische Leben gerade im
        mgang mit Familien, unübersichtlich und verlangt den
        ußenstehenden eine größere Merkfähigkeit und Unter-
        cheidungsfähigkeit ab.
        Da das Gesetz verschiedene Wahlmöglichkeiten bei
        er Änderung des Personenstandes vorsieht, machen im-
        er mehr Menschen von der Möglichkeit, eine privat-
        utonome Entscheidung über ihren Namen und damit
        uch über die Dokumentation ihrer Vergangenheit bzw.
        ukunft zu treffen, Gebrauch. Dabei tritt die Ordnungs-
        unktion des Namensrechts, die auch nach außen die Ab-
        tammung und familiäre Zuordnung sichtbar machen
        ollte, in den Hintergrund. Insofern bildet auch schon
        eute das Namensrecht die sich ändernden und wech-
        elnden Lebens- und Familienformen ab. Der Fall, der
        it dem vorliegenden Entwurf geregelt werden soll,
        olgt hinsichtlich des Individuums der Namenskontinui-
        ät, die hier aber durchaus im Spannungsverhältnis zu
        er Ordnungsfunktion steht. Es zeigt, dass ein Ehename
        ben kein Leihname ist, sondern Bestandteil der ihn tra-
        enden Person wird, auch über den Bestand der Ehe hi-
        aus.
        Ein Familienname muss heute einen Menschen nicht
        otwendig sein Leben lang begleiten, und umgekehrt
        uss auch eine Personenstandsänderung nicht unbedingt
        iederschlag im Namen finden, wovon zunehmend
        rauen bei einer Eheschließung Gebrauch machen, be-
        onders dann, wenn sie unter ihrem eigenen Namen be-
        uflich Geltung erlangt haben.
        Die Vielzahl von Zuschriften, die sicher nicht nur un-
        ere Fraktion erreicht hat mit der Schilderung jeweils ei-
        ener, höchst nachvollziehbarer Konstellationen, in de-
        en nach dem Dafürhalten der Petenten der Name nicht
        it dem übereinstimmt, was er nach außen hin doku-
        entiert und dargestellt wissen möchte, deutet darauf
        in, dass dies nicht der letzte Gesetzentwurf zu diesem
        hema sein wird. Namen sind eben nicht Schall und
        auch, sondern stellen die Verbindung des Einzelnen
        it seiner Umwelt, die Geltung des Menschen in der
        elt dar.
        Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
        undesministerin der Justiz: Mit seinem Urteil vom
        8. Februar 2004 hat das Bundesverfassungsgesetz fest-
        estellt, dass das geltende Ehenamensrecht nicht mit
        12782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        (A) (C)
        (B) (D)
        dem Grundgesetz vereinbar ist. Das geltende Recht ver-
        bietet Eheleuten, einen Namen zum gemeinsamen Ehe-
        namen zu wählen, wenn dieser Name nicht der Geburts-
        name eines Ehegatten, sondern ein aus einer Vorehe
        erworbener, also „erheirateter“ Name ist. Das Bundes-
        verfassungsgericht hat ausgeführt, der Gesetzgeber sei
        gehalten, die derzeitige Rechtslage bis zum 31. März
        2005 mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen.
        Der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf
        setzt diese Aufforderung des Bundesverfassungsge-
        richts um. Nach der vorgeschlagenen Neufassung kön-
        nen die Ehegatten den Geburtsnamen oder den geführten
        Namen der Frau oder des Mannes zum Ehenamen be-
        stimmen. Damit wird dem Anliegen des Bundesverfas-
        sungsgerichts Rechnung getragen: Ein zur Zeit der Na-
        mensbestimmung von einem Ehegatten geführter Name
        darf zum gemeinsamen Namen bestimmt werden. Dabei
        unterscheidet der Entwurf nicht zwischen einem ein-
        gliedrigen Namen und einem Ehenamen mit Begleitna-
        men. Auch ein solcher Doppelname kann neuer Ehe-
        name werden. Ein Ehegatte, der möglicherweise
        Jahrzehnte mit seinem Ehenamen mit Begleitnamen ge-
        lebt hat, kann diesen zusammengesetzten Namen als
        Ganzes in die Ehe einbringen.
        Weiterhin enthält der Entwurf die vom Bundesverfas-
        sungsgericht gleichfalls angemahnten Übergangsrege-
        lungen. Waren Eheleute wegen der bisherigen grundge-
        setzwidrigen Gesetzeslage gehindert, den von ihnen
        gewünschten Ehenamen zu wählen, so können sie dies
        binnen Jahresfrist nachholen. Diese Frist erscheint völlig
        ausreichend, um den Interessierten die Namensänderung
        zu ermöglichen.
        Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil
        keine Veranlassung, sich zu den Namenswahlbeschrän-
        kungen bei eingetragenen Lebenspartnern im Sinne des
        Lebenspartnerschaftsgesetzes zu äußern. Bei diesen stel-
        len sich jedoch genau die gleichen Probleme. Deshalb ist
        es unerlässlich, dass der Gesetzentwurf zur Regelung
        des Ehenamens entsprechende Regelungen für den Le-
        benspartnerschaftsnamen vorsieht.
        Das Gesetz ist entgegen der Auffassung der Mehrheit
        des Bundesrates nicht zustimmungsbedürftig. Es enthält
        insbesondere keine Änderung einer verfahrensrechtli-
        chen Regelung im Sinne des Art. 84 Abs. 1 des Grund-
        gesetzes. Änderungen des Personenstandsgesetzes sind
        nicht erforderlich. Die dort bereits vorhandenen Verfah-
        rensregelungen ermöglichen es den zuständigen Stan-
        desbeamtinnen und Standesbeamten, die neuen Vor-
        schriften ohne Änderung anzuwenden. Der Entwurf
        erweitert lediglich die materiellen Rechte des Bürgers
        und ist deshalb zustimmungsfrei.
        Es freut mich, dass der Entwurf in den Ausschüssen
        des Bundestages einstimmig angenommen wurde. Ich
        bitte deshalb um breite Zustimmung auch hier.
        138. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Nachtrag zum Stenografischen Bericht
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14