1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll
abgedruckt.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12719
(A) (C)
(B) (D)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich
Blumenthal, Antje CDU/CSU 11.11.2004
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
Friedrich (Mettmann),
Lilo
SPD 11.11.2004
Grasedieck, Dieter SPD 11.11.2004
Griese, Kerstin SPD 11.11.2004
Gröhe, Hermann CDU/CSU 11.11.2004
Heil, Hubertus SPD 11.11.2004
Hennrich, Michael CDU/CSU 11.11.2004
Hörster, Joachim CDU/CSU 11.11.2004
Kossendey, Thomas CDU/CSU 11.11.2004
Lietz, Ursula CDU/CSU 11.11.2004
Lintner, Eduard CDU/CSU 11.11.2004*
Rübenkönig, Gerhard SPD 11.11.2004
Rupprecht
(Tuchenbach),
Marlene
SPD 11.11.2004
Seib, Marion CDU/CSU 11.11.2004
Dr. Skarpelis-Sperk,
Sigrid
SPD 11.11.2004
Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
11.11.2004
Dr. Wend, Rainer SPD 11.11.2004
Dr. Wodarg,
Wolfgang
SPD 11.11.2004
Nachtrag zum Plenarprotokoll 15/138
Karin Kortmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
Melanie Oßwald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU) . . . . . . . . .
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rainer Funke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kerstin Müller, Staatsministerin AA . . . . . . . .
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Bildungsarmut in Deutschland
feststellen und bekämpfen (Tagesordnungs-
punkt 9)
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eberhard Otto (Godern) (FDP) . . . . . . . . . . .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze
(Zusatztagesordnungspunkt 6)
Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Scheinvaterschaften wirksam
bekämpfen (Tagesordnungspunkt 11)
12722 A
12723 A
12724 B
12725 A
12725 D
12726 D
12727 B
12737 C
12738 A
12738 C
Deutscher B
Nachtrag
Stenografisch
138. Sitz
Berlin, Donnerstag, den
I n h a l
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
– Antrag: Humanitäre Verantwortung für
Menschen in Not
– Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über die deutsche humanitäre Hilfe
im Ausland 1994 bis 1997
– Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über die deutsche humanitäre Hilfe
im Ausland 1998 bis 2001
– Antrag: Humanitäre Soforthilfe zielge-
richtet gestalten
(Tagesordnungspunkt 8 a bis c, Zusatztages-
ordnungspunkt 5)
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . .
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G12721 A
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 12728 C
undestag
zum
en Bericht
ung
11. November 2004
t :
ernward Müller (Gera) (CDU/CSU) . . . . . .
erner Lensing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
rietje Bettin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
lrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
nlage 4
u Protokoll gegebene Reden zur Beratung
es Antrags: Stabilisierung und Weiterent-
icklung des genossenschaftlichen Wohnens
Tagesordnungspunkt 10)
olfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
laus Minkel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
erhard Wächter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .
12730 A
12731 A
12732 B
12733 A
12733 D
12735 D
12736 C
Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
12739 D
II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Roland Gewalt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Beschlussempfehlungen und Berichte zu
den Anträgen:
– Umsetzung des nationalen Radverkehrs-
plans 2002–2012 forcieren
– Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht
vorlegen
– Den Fahrradtourismus in Deutschland um-
fassend fördern
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Heidi Wright (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . .
Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) . . . . . . . . .
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Antrags: Pilotprojekt für die virtuelle Re-
konstruktion von vorvernichteten Stasi-Unter-
lagen beginnen (Tagesordnungspunkt 13)
Barbara Wittig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hartmut Büttner (Schönebeck)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
der Anträge:
– Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der In-
ternationalen Arbeitsorganisation über
Ausweise für Seeleute und zur vereinfach-
ten Freistellung vom Visumserfordernis
(Tagesordnungspunkt 14)
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12740 C
12742 A
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12750 A
12751 A
12752 A
12752 D
12753 C
12754 D
12755 C
12756 B
r. Margrit Wetzel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .
olfgang Börnsen (Bönstrup)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
r. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . .
nlage 10
u Protokoll gegebene Reden zur Beratung
es Antrags: Marketing für die Hauptstadt
erlin (Tagesordnungspunkt 16)
runhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ranziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
nlage 11
u Protokoll gegebene Reden zur Beratung
es Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
er Akademie der Künste (AdKG) (Tagesord-
ungspunkt 17)
ckhardt Barthel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . .
einrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU) . . . .
rika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .
r. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
r. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . .
nlage 12
u Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkom-
men vom 18. November 2002 zur Grün-
dung einer Assoziation zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Repu-
blik Chile andererseits
Antrag: Für einen europäisch-kolumbiani-
schen Dialog und einen erfolgreichen
Friedensprozess in Kolumbien einsetzen
Tagesordnungspunkt 18 a und b)
othar Mark (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
rich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
laus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU) . . . . . . . .
ans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
arald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
12757 A
12758 C
12760 C
12761 B
12761 D
12763 A
12763 D
12764 D
12765 C
12766 C
12767 B
12768 A
12770 B
12771 C
12772 D
12774 A
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 III
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zum internatio-
nalen Familienrecht (Zusatztagesordnungs-
punkt 7)
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamens-
rechts (Zusatztagesordnungspunkt 8)
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ
12774 D
12776 A
12776 D
12777 C
12778 B
12779 A
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12781 B
12781 D
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12721
(A) )
(B) )
flossen sind. Wenigen ist bewusst, dass humanitäre Hilfe leisten, und an die Spender. Die Medien möchte ich
Zeitraum 1,4 Milliarden Euro in die humanitäre Hilfe ge- b
ei Hilfsorganisationen arbeiten und humanitäre Hilfe
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Humanitäre Verantwortung für
Menschen in Not
– Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über die deutsche humanitäre Hilfe im
Ausland 1994 bis 1997
– Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über die deutsche humanitäre Hilfe im
Ausland 1998 bis 2001
– Antrag: Humanitäre Soforthilfe zielgerich-
tet gestalten
(Tagesordnungspunkt 8 a bis c, Zusatztagesord-
nungspunkt 5)
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Die Liste der
Projekte, die von Deutschland finanziert werden und un-
ter die Rubrik „humanitäre Hilfe“ fallen, ist lang: Das
geht vom humanitären Minenräumen in Afghanistan, wo
die meisten Minen der Welt liegen über die Unterstüt-
zung für Hochwasseropfer in Somalia bis zur Nothilfe
für Erdbebenopfer in der Türkei. Die Länder, in die hu-
manitäre Hilfe aus Deutschland fließt, befinden sich auf
fast allen Kontinenten.
Humanitäre Hilfe wird ohne Ansehen von Rasse,
Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeu-
gung oder sonstigen Unterscheidungsmerkmalen
geleistet. Sie darf weder von politischen oder reli-
giösen Einstellungen abhängig gemacht werden,
noch darf sie diese fördern. Einziges Kriterium ist
die Not der Menschen.
So heißt es – nahezu wortgleich wie beim IKRK – in
den zwölf Grundregeln der humanitären Hilfe, auf die
sich Hilfsorganisationen und Bundesregierung im Jahr
2000 verständigt haben.
Humanitäre Hilfe folgt also dem humanitären Impera-
tiv. Sie ist – und hier antworte ich auf einen Punkt des
Antrags der Union – kein Instrument der Außenpolitik
und dient nicht politischen, wirtschaftlichen oder sonsti-
gen Zwecken, kann also keine „Strategie“ verfolgen. Ich
zitiere unseren Antrag: „Reiche Nationen haben die ethi-
sche Pflicht Menschen in Not zu helfen.“ Die Hilfe ge-
schieht allerdings durchaus im eigenen Interesse, denn
menschenunwürdige Lebensbedingungen tragen zur De-
stabilisierung ganzer Regionen bei und bergen ein hohes
sicherheitspolitisches Risiko, auch für uns.
Grundlage der heutigen Debatte sind zwei Berichte der
Bundesregierung über die zwischen 1994 bis 1997 und
zwischen 1998 und 2001 geleistete humanitäre Hilfe und
jeweils ein Antrag der CDU/CSU und der Regierungsko-
alition zum gleichen Themenbereich. Aus dem Bericht
über die Jahre 1998 bis 2001 geht hervor, dass in diesem
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(C
(D
Anlagen zum Stenografischen Bericht
ine Querschnittsaufgabe ist. Die Mittel kommen vorwie-
end aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes und des
MZ, aber auch – Stichwort „Wiederaufbauhilfe für
ückkehrer“ bzw. Projekte des THW – aus dem BMI und
em BMVg.
Alle Bundesregierungen folgten seit jeher der Strate-
ie, schnelle, lebensrettende Hilfe im Rahmen der Mög-
ichkeiten dort zu leisten, wo die Hilfe am nötigsten
ebraucht wird. Dass wir uns im Ausschuss für Men-
chenrechte und humanitäre Hilfe oft wünschen, mehr
ittel zur Verfügung zu haben und nicht den Haushalts-
wängen unterworfen zu sein, ist wohl kein Geheimnis.
ndererseits haben wir noch immer Mittel lockerma-
hen können, wenn wir bei Katastrophen Hilfe leisten
ussten. Katastrophen haben es oft so an sich, unvorher-
esehen einzutreten.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Union, die in
hrem Antrag den geringen Mittelansatz bemängeln,
eien deshalb daran erinnert, dass im Jahre 2002 erhebli-
he Sondermittel für humanitäre Zwecke in Afghanistan
obilisiert wurden und im Jahre 2003 bis zu 40 Millio-
en Euro zusätzlich für die humanitäre Hilfe im Irak be-
eitgestellt wurden. Im laufenden Haushaltsjahr haben
ir für die Bewältigung der humanitären Krise in Darfur
nsgesamt 32,5 Millionen Euro bereitgestellt. Diese Mit-
el wurden zum Teil aus dem laufenden Budget, aber
uch durch Einsparungen und Umschichtungen im AA
nd im BMZ aufgebracht. Zehn Millionen Euro wurden
ls überplanmäßige Ausgaben zulasten des Gesamthaus-
alts zur Verfügung gestellt. Deutschland gehört – so-
ohl was das IKRK als auch was den UNHCR betrifft –
u den zehn größten Gebern. Aus unserem Antrag kann
an entnehmen, dass über ECHO, den europäischen
ond für humanitäre Hilfe, 30 Prozent der humanitären
ilfe weltweit finanziert werden. Die Bundesrepublik
eutschland steuert derzeit 23 Prozent zu diesen Bud-
ets bei. Unter den Mitgliedsländern der OECD standen
ir 2001 bei der Finanzierung des Entwicklungshilfe-
omitees DAC nach den USA, der EU und Groß-
ritannien mit 7 Prozent des Etats des DAC auf dem
ierten Platz. Fazit: Es könnte sicher mehr sein, aber wir
üssen uns wirklich nicht verstecken im internationalen
ergleich, auch vor dem Hintergrund unserer Haushalts-
age.
Aber auch die Bundesländer haben sich in den letzten
ahren an humanitären Hilfsprojekten beteiligt. So geht
us dem besagten Bericht hervor, dass zum Beispiel
ayern zwischen 1998 und 2001 allein für Projekte in
azedonien über fünf Millionen Euro und Nordrhein-
estfalen für Rumänien über 8 Millionen Euro gegeben
at. Aus Hessen kamen fast 3 Millionen Euro für Bos-
ien und Herzegowina. Da waren sicher auch viele
pendengelder dabei.
Deshalb möchte ich zum Schluss Danke sagen an die
ielen Menschen, die unter schwierigen Bedingungen
12722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
auffordern, nicht nur von Katastrophe zu Katastrophe
weiter zu wandern, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit
der Maßnahmen die Menschen in den betroffenen Län-
dern im Fokus der Aufmerksamkeit zu behalten. Wir ha-
ben – und das erwähne ich unter dem Eindruck eines Ge-
spräches mit unserem ehemaligen Kollegen Dr. Christan
Schwarz-Schilling, der diese Entwicklung im Hinblick
auf den Balkan beklagte – zu viele vergessene Katastro-
phen.
Karin Kortmann (SPD): Wir können uns im Bun-
destag einer Einigkeit aller Fraktionen sicher sein, die
die Grundvoraussetzung des Einsatzes humanitärer Hilfe
beschreibt und die die Bundesregierung in ihrem aktuel-
len Bericht über die humanitäre Hilfe im Ausland dar-
legt:
Die Bundesregierung leistet ihre Hilfe gemäß dem
humanitären Imperativ und unabhängig von politi-
schen, ethnischen oder religiösen Erwägungen. Die
humanitäre Hilfe der Bundesregierung ist Handeln
aus ethischer Verantwortung und mit humanitärer
Zielsetzung, sie orientiert sich ausschließlich an der
Bedürftigkeit der von Krisen, Konflikten und Kata-
strophen betroffenen Menschen. Es gibt für die hu-
manitäre Hilfe keine guten oder schlechten Opfer,
sondern nur Menschen, deren Gesundheit oder Le-
ben in einer Notlage gefährdet ist.
Wir haben es heute mit einer Vielzahl von Katastro-
phen zu tun, auf die humanitäre Hilfe schnell, effektiv
und umfassend reagieren soll. Die Katastrophen lassen
sich in vier Kategorien gliedern:
Erstens. Wir haben es mit den kurzfristigen, natür-
lichen Katastrophen zu tun: mit Erdbeben, Vulkanaus-
brüchen, Stürmen und Überschwemmungen.
Zweitens. Wir haben es mit langfristigen, natürlichen
Katastrophen zu tun: mit Epidemien, Dürren, Insekten-
plagen.
Drittens. Wir haben es mit kurzfristigen, menschlich
verursachten Katastrophen zu tun: mit chemischen und
nuklearen Unfällen, mit technischen Katastrophen.
Viertens. Wir haben es mit langfristigen, menschlich
verursachten Katastrophen zu tun: mit Hungersnöten,
Bürgerkriegen, zwischenstaatlichen Kriegen.
All diese Katastrophen können erhebliche Auswir-
kungen haben: auf die Politik – innerstaatlich und inter-
national –, auf die Gesellschaft, auf die Ökonomie – die
Wirtschafts- und Finanzentwicklung–, auf das Leben des
einzelnen Menschen. Die Fähigkeit, die Katastrophe zu
meistern, hängt dabei entscheidend von der politischen
und gesellschaftlichen Konstitution des Krisengebietes
ab. Stabile Gesellschaften sind eher in der Lage, Kata-
strophen zu bewältigen als instabile Gesellschaften. Es
ist das Leid der Menschen, die Bilder aus Somalia, aus
Bosnien, Ruanda, dem Kongo, aus Sierra Leone, Afgha-
nistan oder dem Sudan, die uns die Aufgaben und die
Bedeutung der humanitären Hilfe – leider schon zu häu-
fig – immer wieder bewusst machen. Sie machen uns
aber auch bewusst, wo die Grenzen humanitärer Hilfe
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iegen. Sie kann die akute Not lindern, nicht aber die po-
itische Konfliktlösung ersetzen, strukturelle Ursachen
er Probleme beseitigen. Sie ersetzt auch keine langfris-
ige Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es ist die vordringli-
he Aufgabe der Staaten, das humanitäre Völkerrecht
nzuerkennen und umzusetzen, ihnen obliegt es, Mecha-
ismen zur friedlichen Konfliktaustragung bereitzustel-
en.
Darin liegt auch genau der Unterschied zum Ansatz
er Union: Wir setzen schon vor der humanitären Hilfe
n, indem wir geeignete Strategien suchen, die Konflikte
m Vorfeld zu verhindern. Ich begrüße deshalb ausdrück-
ich, dass die Bundesregierung einen Aktionsplan „Zi-
ile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskon-
olidierung“ verabschiedet hat. Er belegt die notwendige
ohärenz der verschiedenen Politikbereiche, sodass zi-
ile Krisenprävention in größerem Maße als bisher Ein-
ang in die Wirtschaftspolitik, in die Finanzpolitik und
ie Umweltpolitik finden muss. Ihre strategischen An-
atzpunkte sind die Herstellung verlässlicher staatlicher
trukturen – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Men-
chenrechte, Sicherheit –, die Schaffung von Friedens-
otenzialen – Zivilgesellschaft, Medien, Kultur,
ildung – und die Sicherung der Lebenschancen der be-
roffenen Menschen.
Anfang 2001 wurde im Rat der Europäischen Union
erstärkt auf ein anderes Problem der Hilfemöglichkei-
en hingewiesen. Es wurde von der so genannten Grau-
one zwischen humanitärer Hilfe, Rehabilitationsmaß-
ahmen und Entwicklungszusammenarbeit gesprochen.
ie humanitäre Hilfe soll den unmittelbaren Bedarf von
risenopfern decken und wird vor allem über Nicht-
egierungsorganisationen und internationale Organisa-
ionen bereitgestellt. Die Entwicklungszusammenarbeit
ielt dagegen auf die Förderung eigenständiger Entwick-
ungspolitiken und Entwicklungsstrategien und erfolgt
m Rahmen von Regierungsabsprachen, Kooperations-
rogrammen, die mit dem betreffenden Partnerland ver-
inbart wurden. Wir fordern die Bundesregierung auf,
ntwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe als
ichtiges Instrument zur Stärkung der Selbsthilfekräfte
onsequent weiter zu entwickeln.
Humanitäre Hilfe ist politisch neutral. Der Erfolg ih-
es Einsatzes, ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
ängt entscheidend davon ab, dass sie sich nicht poli-
isch vereinnahmen lassen. Deshalb ist es für uns Sozial-
emokratinnen und Sozialdemokraten grundlegend, dass
s eine Trennung von militärischen und humanitären zi-
ilen Einsätzen gibt. Wäre das nicht der Fall, würde sich
ie humanitäre Hilfe Interessen und Ziele zu eigen ma-
hen, die über die Opferversorgung hinausgehen und da-
it gegen die Grundlagen humanitärer Hilfe verstoßen.
uf diese Trennung sind wir in unserem Antrag ausführ-
ich eingegangen. Wir erwarten, dass im Dialog mit hu-
anitären Hilfsorganisationen, klare Kriterien für die
bgrenzung zu den CIMIC-Aktivitäten der Bundeswehr
estgelegt werden und ein gemeinsamer Code of Con-
uct erarbeitet wird.
Ich möchte zum Abschluss all denjenigen danken, die
ft unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheits- und Lebens-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12723
(A) )
(B) )
risiken bereit sind, anderen Menschen weltweit zu hel-
fen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat
beschrieben, dass humanitäre Hilfe nur unter drei
Grundvoraussetzungen stattfinden kann: unter ungehin-
dertem Zugang zu den Konfliktopfern, durch den unge-
störten Dialog mit den Behörden und durch die Unab-
hängigkeit, die völlige Kontrolle in allen Stadien des
Einsatzes über die benötigten Mittel. Vielleicht wäre es
einmal lohnenswert, nicht immer nur über eine Erhö-
hung der Haushaltsmittel zu streiten, sondern mit einer
anderen sinnvollen Unterstützung zu beginnen, die sich
diese Organisationen seit langem wünschen: Heben wir
für die humanitären Hilfeorganisationen die Zweckge-
bundenheit der Mittel, das so genannte earmarking auf!
Die gegenüber anderen Organisationen praktizierte Un-
terscheidung nach institutioneller Förderung und Pro-
jektförderung ist in diesem Bereich nicht sinnvoll.
Schwerpunktmäßige Projektförderung reduziert die Pla-
nungssicherheit und Flexibilität und erhöht den bürokra-
tischen Aufwand.
Bei der effektiven Leistung unserer deutschen
Hilfsorganisationen wollen wir sie auch weiterhin gerne
unterstützen, um die zwölf Grundregeln für die deutsche
humanitäre Hilfe im Ausland nachhaltig zu verankern.
Ich bitten deshalb, unseren Antrag „Humanitäre Verant-
wortung für Menschen in Not“ zu unterstützen.
Holger Haibach (CDU/CSU): Die Hilfsorganisation
„World Vision“ überschreibt ihr Engagement im Bereich
„humanitäre Hilfe“ mit den Worten: „Wo kompetente
Hilfe nicht warten kann!“ Prägnanter kann man, so
meine ich, Sinn und Zweck humanitärer Hilfe nicht zu-
sammenfassen, vor allem nicht, wie sie geleistet werden
soll: schnell, kompetent, sachgerecht, treffsicher und
zielgerichtet.
Tatsächlich leidet aber humanitäre Hilfe immer unter
Unzulänglichkeiten:
Erstens. Es können meist nicht genügend finanzielle
oder andere Mittel für alle Krisenherde dieser Welt zur
Verfügung gestellt werden.
Zweitens. Diese Mittel können häufig nicht so zeitnah
wie gewünscht vor Ort eingesetzt werden.
Drittens. Aus verschiedensten Gründen kommen die
Mittel nicht immer dort an, wo sie ankommen sollen.
Viertens. Die Verteilung der vorhandenen Mittel auf
die verschiedenen Krisenfälle ist sehr stark von der öf-
fentlichen Aufmerksamkeit abhängig, die diesen Krisen
gewidmet wird.
Trotz all dieser Unzulänglichkeiten und trotz der Tat-
sache, dass humanitäre Hilfe von ihrem Charakter her
stets situativ und damit oftmals schwer planbar ist, kann
die Aufgabe „humanitäre Hilfe“ selbstverständlich gut
oder weniger gut gelöst werden. Deshalb bieten die bei-
den heute vorliegenden Berichte eine gute Gelegenheit,
ein Resümee zu ziehen, wie sich die humanitäre Hilfe
Deutschlands in den vergangenen Jahren entwickelt hat.
Positiv ist hervorzuheben, dass es eine über Par-
teigrenzen und Regierungsverantwortungen hinausgrei-
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ende Kontinuität in der grundsätzlichen Bewertung
ibt, wie humanitäre Hilfe durchgeführt werden soll,
elche ethischen und rechtlichen Grundsätze ihr zu-
runde liegen, dass sie nur in enger Kooperation und
bstimmung mit NGOs geschehen kann und vieles
ehr. Ebenfalls herrscht Übereinstimmung bei der Fest-
tellung, dass die Zahl der Fälle humanitärer Hilfe in den
etzten Jahren und Jahrzehnten dramatisch zugenommen
at. Auch die Bundesregierung bestätigt das in ihrem
ericht.
Wendet man sich jedoch den so genannten nackten
ahlen zu, so kommt man zu einem Befund, der so gar
icht zu dieser Feststellung passt. Während im Berichts-
eitraum von 1994 bis 1997, für den sich CDU/CSU und
DP verantwortlich zeichnen, die Höhe der Ausgaben
ür den Bereich „humanitäre Hilfe im Ausland“ 1,5 Mil-
iarden DM betrug, ist dieser Betrag unter Rot-Grün für
ie Jahre 1998 bis 2001 auf 1,4 Milliarden DM gesun-
en. Das sind immerhin 100 Millionen DM oder circa
1 Millionen Euro. Das ist interessant, beachtlich und
erwunderlich für eine Bundesregierung, die doch mit
roßen Worten Menschenrechtspolitik zur Querschnitts-
ufgabe erklärt hat und die – wohlgemerkt auch mit un-
erer vollen Zustimmung – bei Krisenprävention und
risenbewältigung dafür sorgen will, dass Deutschland
ine führende Rolle, wenn nicht gar eine Vorreiterrolle
pielen soll.
Nun will ich gar nicht den Eindruck erwecken, die
undesregierung hätte in den letzten Jahren nicht auf
iese Entwicklungen reagiert. So hat sie etwa im Jahr
002 für den Bereich der humanitären Hilfe 65,7 Millio-
en Euro ausgegeben, obwohl nur 37,7 Millionen Euro
orgesehen waren. Trotzdem hat sich die rot-grüne
ehrheit im Haushaltsausschuss im Jahr 2003 der von
DU und CSU geforderten Erhöhung der Mittel für hu-
anitäre Hilfe verweigert. Wenn die Regierungsfraktio-
en doch schon von vornherein wissen oder absehen
önnen, dass die Mittel nicht ausreichen werden – 2002
nd 2003 waren nicht die einzigen Jahre, in denen dies
eschehen ist – warum stellen sie dann nicht auch im
inne von Haushaltswahrheit und -klarheit annähernd
usreichende Mittel zur Verfügung? Ich freue mich, dass
ie Regierungsfraktionen dies, wenn auch etwas ver-
lausuliert, zum Thema ihres Antrags gemacht haben.
Sollten die Regierungsfraktionen übrigens mit der fi-
anziellen Situation argumentieren, in der wir uns der-
eit befinden, so möchte ich Sie mit einer meines Erach-
ens sehr zutreffenden Aussage konfrontieren:
Wir können unserer internationalen Verantwortung
nur dann gerecht werden, wenn der Bereich der hu-
manitären Hilfe von den allgemeinen Sparzwängen
ausgenommen wird. Nur dann werden wir auch in
Zukunft rechtzeitig und mit adäquatem Mittelein-
satz überall da, wo Menschenleben in Gefahr sind
und es zu humanitären Hilfseinsätzen keine Alter-
native gibt, das Erforderliche tun können.
iese Worte stammen aus einem Aufsatz des ehemali-
en Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger
olmer, in der Frankfurter Rundschau. Ich würde mir
12724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
wünschen, dass die Politik der Bundesregierung diesem
Anspruch gerecht würde.
Selbstverständlich kann man jetzt argumentieren, es
komme nicht nur auf die absolute Summe, sondern auch
oder eher vielmehr auf den durchdachten, konstruktiven
und konzeptionellen Einsatz der Mittel an. Nicht selbst-
verständlich und schon gar nicht verständlich ist die fol-
gende Tatsache: In einer Zeit, in der wir uns doch alle
darüber einig sind, dass humanitäre Hilfe erfolgreich nur
im internationalen Kontext und in der internationalen
Zusammenarbeit geleistet werden kann, hat diese Bun-
desregierung zwischen 1998 und 2001 ihre Zuschüsse zu
internationalen Organisationen reduziert. Dazu zwei
Beispiele:
Erstens. Der anteilige Beitrag Deutschlands zum
Welternährungsprogramm ist von 6,5 Prozent unter
CDU/CSU und FDP auf 3,2 Prozent unter Rot-Grün zu-
rückgegangen. Zweitens. Die Förderung des Internatio-
nalen Roten Kreuzes wurde unter Rot-Grün sowohl in
Hinblick auf die institutionellen Förderung als auch in
Hinblick auf die Reaktion auf Hilfeersuchen reduziert.
Dabei erscheint eine intensive Zusammenarbeit umso
wichtiger, da sich auch im Zuge der Veränderung von
Konflikten und Krisenherden auf der Welt die Um-
stände, unter denen humanitäre Hilfe geleistet werden
muss, dramatisch verändert – um nicht zu sagen: ver-
schlechtert – haben: Anschläge auf Mitarbeiter von
Hilfsorganisationen, weil deren Unparteilichkeit ange-
zweifelt wird, und Unklarheiten bei der Zusammenarbeit
von NGOs und Militär führen häufig dazu, dass humani-
täre Hilfe viel von ihrer Schlagkraft verliert. Hier bedarf
es der Abgrenzung von Zuständigkeiten einerseits und
der Verzahnung der Tätigkeiten andererseits.
Das von der Bundesregierung vorgelegte Konzept zur
zivilen Krisenprävention, das wir für notwendig erach-
ten, stellt die Prävention auf eine konzeptionelle Basis.
Leider ist im Bereich der humanitären Hilfe Ähnliches
bis jetzt noch nicht in Sicht. Der Antrag der Koalition
nennt einige Maßnahmen, die wir zum Teil auch für
richtig halten. Ein Konzept ergibt sich daraus noch nicht.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit unserem
Antrag dazu auf, ein insgesamt stimmiges Konzept für
den Bereich der humanitären Hilfe vorzulegen, das die
sich stellenden Aufgaben, die handelnden Akteure und
die dazugehörige Finanzausstattung miteinander in Ein-
klang bringt.
Melanie Oßwald (CDU/CSU): Die vorliegenden Be-
richte zur humanitären Hilfe der letzten Jahre zeigen,
dass wohl Einiges erreicht werden konnte, oft aber nicht
genug, erst recht nicht, wenn man ihre Bedeutung und
Rolle in einer sich ständig wandelnden Welt näher be-
trachtet.
Die Aufgabenstellung der humanitären Hilfe ist in
den letzten Jahren deutlich komplexer geworden. Wäh-
rend der 80er-Jahre dominierten Naturkatastrophen die
humanitäre Hilfe. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt
es jedoch zusätzlich immer mehr Bürgerkriege und
andere von Menschen verursachte Katastrophen. Die
Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage seit den
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erroranschlägen vom 11. September 2001 stellen die
umanitäre Hilfe vor neue Herausforderungen.
Was aber ist humanitäre Hilfe? Humanitäre Hilfe be-
eutet den unmittelbaren Einsatz zur Beseitigung oder
inderung akuter Notlagen wie Naturkatastrophen oder
riegerische Auseinandersetzungen. Sie darf nicht an
edingungen geknüpft sein. Sie muss sich um alle küm-
ern, die in eine existentielle Notlage geraten sind – un-
bhängig von Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, poli-
ischer Überzeugung oder sogar Mitschuld.
Es geht auch um die grundlegenden Fragen: Was
ann, was muss humanitäre Hilfe darüber hinaus leisten
nd was kann, was muss sie nicht leisten?
Während die Welt gebannt und hilflos auf die bedroh-
iche Situation im Irak und in Afghanistan schaut, ster-
en im Kongo, in Liberia, in Tschetschenien. Tausende
on Menschen – unbemerkt und vergessen. Humanitäre
ilfe muss aber gerade diese vergessenen Katastrophen
s öffentliche Bewusstsein bringen und nicht allein dem
NN-Effekt folgen. Sie darf nicht nur dort helfen, wo
ie Kameras hingehalten werden.
Am Beispiel Darfurs lässt sich zeigen, woran es hu-
anitärer Hilfe derzeit mangelt: Nach Angaben der
NO kommt nur etwa die Hälfte der benötigten Hilfe in
ieser Krisenregion auch wirklich an. Das kann es doch
icht sein! Erst durch die Hilfsorganisationen wurde die-
es Gebiet ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Seit dem Ende des Kalten Krieges wird mit dem Be-
riff „humanitär“ in geradezu verschwenderischer Art
mgegangen. Es wurde von „humanitären Krisen“, „hu-
anitären Einsätzen“ und sogar vom „humanitären
rieg“ gesprochen. Aber immer öfter wird humanitäre
ilfe als Feigenblatt genutzt, um die Unwilligkeit zu po-
itischen – aber damit dauerhaften – Lösungen zu verde-
ken. In letzter Zeit scheinen humanitäre Prinzipien zu-
ehmend politischen Zielen zum Opfer zu fallen. Wenn
oalitionstruppen in Afghanistan humanitäre Hilfe zum
eil ihrer militärischen „hearts and minds“-Strategie ma-
hen, können sie die Möglichkeiten und die Akzeptanz
er Hilfsorganisationen untergraben. Beim Kampf gegen
en Terror wird es den Hilfsorganisationen erschwert,
eutral zu bleiben; aber eben diese Neutralität ist de
acto deren Lebensversicherung.
Übergriffe auf Helfer werden wahrscheinlicher, wenn
an nicht mehr klar zwischen Militär und humanitären
rganisationen trennen kann. Noch nie mussten die
ilfsorganisationen so viele Opfer beklagen wie in den
tzten Jahren. „Ärzte ohne Grenzen“ musste das bereits
979 begonnene Afghanistan-Projekt vor kurzem abbre-
hen, da fünf Mitarbeiter ermordet und weitere massiv
edroht wurden. Dies ist sehr traurig. Noch trauriger ist
ber, dass bisher kein Mitglied der Bundesregierung
ierzu sein Bedauern geäußert hat!
Bei allem Verständnis für vertrauensbildende Maß-
ahmen und bei aller Freude über den Eifer und die An-
trengungen unserer Soldaten, beim Aufbau eines Staa-
es zu helfen: Dies alles ist nicht ihr eigentlicher
irkungskreis. Die Hauptaufgabe des Militärs in der
riedensmission ist nicht die humanitäre Hilfe, sondern
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12725
(A) )
(B) )
der Schutz der Zivilbevölkerung vor Übergriffen durch
Milizen oder bewaffnete Banden.
Absprache und klare Rollenverteilung von Militär
und humanitärer Hilfe ist wichtiger denn je. Es ist er-
schreckend, dass der Bundesverteidigungsminister die-
sen Dialog mit den Hilfsorganisationen verweigert, sich
der Diskussion nicht stellen will oder kann.
Konfliktbewältigung bzw -verhinderung sind Aufga-
ben der Politik, der Regierungen, Parlamente und Par-
teien, nicht aber der Hilfsorganisationen.
Deshalb muss eines klar gesagt werden: Humanitäre
Hilfe ist kein Ersatz für politische Programmatik! Sie
kann weder Kriege und Vertreibungen verhindern noch
gesellschaftliche Systeme nachhaltig beeinflussen. Sie
kann ebenso wenig eine Demokratie aufbauen oder lo-
kale Warlords und deren Milizen entwaffnen. Dies ist
und kann auch nicht ihre Aufgabe sein.
Wir müssen Hilfsorganisationen intensiv unterstüt-
zen. Die finanzielle Förderung nicht weiter zu reduzie-
ren ist dabei nur eine wichtige Aufgabe. Zusätzlich müs-
sen wir dafür Sorge tragen, dass die Arbeit der
Hilfsorganisationen nicht durch politische Instrumentali-
sierung erschwert, behindert oder gar unmöglich ge-
macht wird.
Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Humanitäre
Hilfe zu leisten ist ein Gebot der Menschlichkeit und der
Nächstenliebe. Diese Hilfe ruht auf jenem Fundament
von Werten und Grundüberzeugungen, auf denen unsere
Gesellschaft aufgebaut ist. Die Verpflichtung zu humani-
tärer Hilfe gilt absolut. Sie macht keinen Unterschied
zwischen politischen Systemen, unterschiedlichen
Ethnien, Religionen oder dem Geschlecht.
Daneben steht aber eine immer schmaler werdende
Basis der finanziellen Mittel. Sie nötigt uns, humanitäre
Hilfe zielgerichtet zu leisten. Die Arbeit der zuständigen
Ministerien ist besser zu koordinieren. Ebenso ist die
Zusammenarbeit mit den für humanitäre Hilfe unver-
zichtbaren Nichtregierungsorganisationen noch besser
abzusprechen und es sind gemeinsam Konzepte weiter-
zuentwickeln. Die Konsequenz daraus, nämlich eine
stärkere Konzeptionierung auf der Geber- wie auch auf
der Empfängerseite ist von der Regierung noch nicht
ausreichend geleistet worden. Das aber ist notwendig.
Wir können leider nicht von einer Entspannung, sondern
wir müssen von einer stetigen Verschärfung der humani-
tären Notlagen weltweit ausgehen.
Daher kann der vorliegende Antrag von Rot-Grün
nicht befriedigen. Er ist wenig mehr als ein unkritisches
und pauschales Lob des vorliegenden Berichtes der Bun-
desregierung. Ich will das an einem wichtigen Thema
kurz umreißen. Der Bericht für den Zeitraum bis 2001
nennt wenigstens noch unter dem Titel „Querschnittsthe-
men/Gender Mainstreaming“ die besondere Situation
von Frauen. Auf dem Sektor der humanitären Hilfe weist
er auf die daraus erwachsende Verpflichtung einer diffe-
renzierten Geschlechterperspektive hin. In dem vorlie-
genden Antrag von Rot-Grün ist diese Erkenntnis nicht
einmal mehr in eine Worthülse gepackt. Offensichtlich
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st das für Sie auch kein ernst zu nehmendes Thema. Das
ber ist ein Irrtum.
Eine Gruppe, die unter lebensbedrohenden Katastro-
hen und Krisensituationen besonders zu leiden hat, sind
n allen Bevölkerungen und auf allen Kontinenten die
rauen. Daher entspricht es der Realität, die Problematik
er Benachteiligung der Frauen auch hier in der Diskus-
ion um eine notwendige Zielkonkretisierung unserer
umanitären Hilfe als ein Querschnittsthema besonders
ervorzuheben. Das Pilotprojekt des AA von 2001 führt
u eben dieser Erkenntnis: Frauen sind bei humanitären
otfällen einer vielfältigen und gesteigerten Gefährdung
usgesetzt.
Der Mangel an konsequentem Handeln der Regierung
piegelt sich im gleichen Maße im vorliegenden Antrag
ider. Im Bericht der Regierung über die Situation der
rauen hieß es vollmundig, dass – ich zitiere –
sie daher auch bei der Planung und Durchführung
von humanitären Projekten eine besondere Berück-
sichtigung verdienen.
azu finde ich in Ihrem Papier keinerlei Entsprechung.
hr Antrag nennt und umreißt kurz vor allem eine Zahl
on Krisengebieten in Afrika.
Circa 14 aktuelle Krisenregionen sind in Afrika zur-
eit bekannt. Dabei gehört das Phänomen der Flücht-
inge mit zu jenen Bereichen, die im besonderen Maße
umanitäre Notsituationen auslösen.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinen Nationen
NHCR zählt derzeit circa 4,2 Millionen Flüchtlinge.
twa eine halbe Million sind davon so genannte Binnen-
ertriebene. Die ausreichende Versorgung der Flücht-
inge mit Wasser und Nahrung, mit Kleidung und Unter-
unft gehört ebenso zum vordringlichen Bedarf der
umanitären Hilfe wie der Schutz der Flüchtenden und
er Flüchtlingslager.
Auch hier ist der Anteil der Frauen nicht nur der grö-
ere, sondern auch derjenige, dessen Gefährdungslage
eutlich stärker ist. Die humanitäre Hilfe, die Deutsch-
and leistet, muss die besondere Not der Frauen als eine
chwerpunktaufgabe wahrnehmen. Auch in diesem
inne muss das Konzept unserer humanitären Hilfsleis-
ungen zielgerichtet sein. Zum Wohle der bedrohten
rauen darf das Handeln der Regierung sich nicht im
roduzieren von Worthülsen verlieren.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei
iesem wichtigen Thema möchte ich bei den Gemein-
amkeiten beginnen: Wir teilen die Grundwerte, die
berzeugung, dass wir uns – sei aus christlicher oder hu-
anistischer Prägung, sei es aus Respekt vor den Men-
chenrechten – verpflichtet fühlen, Menschen in Not bei-
ustehen. Nun können wir uns darüber streiten, ob
amals die Regierung Kohl die Prioritäten richtig gesetzt
at oder ob jetzt die rot-grüne Bundesregierung besser
nd effektiver hilft. Wir können allerlei Zahlen gegen-
berstellen, mal uns nur auf die Haushaltstitel des Aus-
ärtigen Amtes beschränken, mal die im BMZ angesie-
elte entwicklungsorientierte Not- und Übergangshilfe
12726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
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dazurechnen, wir können dabei Äpfel mit Birnen ver-
gleichen und je nachdem, wie wir mit Zahlen umgehen,
die eine oder die andere These untermauern. Ich halte
das für sinnlos.
Angesichts der Leistungsfähigkeit Deutschlands ei-
nerseits und der Größe der Herausforderung andererseits
– mehr als 45 Millionen Menschen befinden sich in einer
extremen Notlage aufgrund von Kriegen und Naturka-
tastrophen – sollten wir uns auf die einfache Formel eini-
gen: Es war damals nicht genug und es ist auch heute
nicht genug!
Der Menschenrechtsausschuss hat angesichts des
Haushaltsentwurfs 2005 gefordert, die Mittel für die hu-
manitäre Hilfe aufzustocken. Ich hoffe sehr, bald die er-
lösende Nachricht zu hören, dass der Haushaltsaus-
schuss diesem Wunsch des Menschenrechtsausschusses
entspricht. Aber selbst mit dieser gewünschten Aufsto-
ckung wäre ich noch nicht wirklich zufrieden: Der Bun-
destag sollte gemeinsam, fraktionsübergreifend, dafür
werben, dafür streiten, dass sowohl die Mittel für die hu-
manitäre Nothilfe als auch für die längerfristig angelegte
Entwicklungszusammenarbeit der tatsächlichen Heraus-
forderung angepasst werden und schon sehr bald
0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens entspre-
chen. So viel zur Quantität.
Bei der Qualität verdienen zwei Aspekte Aufmerk-
samkeit, die durchaus mit Konflikten verbunden sind:
Erstens gilt auch für humanitäre Hilfe in oder nach Krie-
gen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen, dass sie so
weit wie irgend möglich Hilfe zur Selbsthilfe sein muss,
dass sie Menschen möglichst aktivieren und nicht allein
alimentieren sollte. Hungernde müssen mit Nahrungs-
mitteln versorgt werden. Das ist klar. Ob man aber ver-
sucht, diese Nahrungsmittel möglichst im betroffenen
Land zu kaufen, um damit die dortige Landwirtschaft zu
unterstützen und die Nahrungsmittelproduktion anzukur-
beln oder ob man dort Überschussproduktion aus dem
Geberland ablädt und die Märkte in den Empfängerlän-
dern stört oder gar kaputtmacht, macht einen großen Un-
terschied.
Auch wenn ich das „World Food Program“ natürlich
nicht insgesamt infrage stellen möchte, so muss Kritik
an einzelnen Maßnahmen, zum Beispiel in Afghanistan,
erlaubt sein. Ich möchte ausdrücklich – lobend – erwäh-
nen, dass die Bundesregierung auch in ihrer Nothilfe die
Auswirkungen ihres Handelns auf die Märkte, auf die
Nahrungsmittelproduktion in den Empfängerländern,
sehr genau beobachtet und sich möglichst so verhält,
dass es einen fließenden Übergang von der Nahrungs-
mittelsoforthilfe zur entwicklungsorientierten Unterstüt-
zung, zur Förderung der ländlichen Regionalentwick-
lung, gibt.
Ein zweiter Reibungspunkt, der im Antrag der Koali-
tionsfraktionen offen angesprochen wird, ist die Über-
schneidung von humanitären und militärischen Einsät-
zen. Die humanitäre Hilfe ziviler Organisationen muss
gerade in Kriegssituationen unabhängig und überpartei-
lich sein. Wenn sie es nicht ist, dann geraten die Helfe-
rinnen und Helfer selber in die Gefahr, als Konfliktpartei
angesehen zu werden und buchstäblich in die Schuss-
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inie zu geraten. Der Irakkrieg lieferte und liefert immer
och viel Anschauungsmaterial, wie es nicht sein sollte
nd welche Gefahren dadurch heraufbeschworen wer-
en. Die US-amerikanischen Streitkräfte kontrollieren
nd instrumentalisieren die humanitäre Hilfe und brin-
en dadurch viele Helferinnen und Helfer in äußerst ge-
ährliche Situationen.
Der Bundeswehr kann dagegen – zum Beispiel bei ih-
em Afghanistan-Einsatz – in der zivil-militärischen Zu-
ammenarbeit eine sehr viel größere Sensibilität beschei-
igt werden als den Amerikanern. Dennoch ist das
erhältnis zwischen der Bundeswehr und den zivilen
ilfsorganisationen nicht ganz frei von Spannungen. Es
ibt da durchaus auch Konkurrenzsituationen. Wir glau-
en jedoch, dass diese Konflikte lösbar sind, wenn so-
ohl die Bundeswehr als auch die humanitären Organi-
ationen in beiderseitigem Respekt klare Kriterien für
hre spezifischen Aufgabenfelder definieren und ge-
einsam so etwas wie einen Verhaltenskodex für die Zu-
ammenarbeit in Krisen- und Kriegsgebieten entwi-
keln.
Wir sind uns einig, dass wir uns bemühen müssen,
ehr Mittel für die humanitäre Hilfe bereitzustellen und
ie humanitäre Hilfe so effektiv und nachhaltig wie
öglich zu gestalten. Aber auch hier gilt der alte Zahn-
rztspruch: Vorbeugen ist besser als bohren. Deshalb
öchte ich an dieser Stelle ausdrücklich begrüßen, dass
ie Bundesregierung in diesem Jahr einen Aktionsplan
Zivile Krisenprävention“ vorgelegt hat.
Der Zivile Friedensdienst (ZFD) und das Zentrum für
nternationale Friedenseinsätze (ZIF) sind neue Einrich-
ungen, die vor fünf Jahren auf Initiative aus diesem Par-
ament entstanden sind. Es wäre zu umfangreich, die se-
ensreiche Arbeit dieser Einrichtungen hier gebührend
arzustellen und zu würdigen. Ich will aber damit schlie-
en, dass ich sowohl den von Idealismus beseelten Men-
chen in der humanitäre Hilfe als auch den Friedensfach-
räften, die in der Krisenprävention tätig sind, für ihren
insatz von Herzen danken möchte. Sie sind Botschafte-
innen und Botschafter des Friedens und der Mensch-
ichkeit.
Rainer Funke (FDP): Es ist gut, dass sich der Bun-
estag mit der humanitären Hilfe beschäftigt. Der Aus-
chuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zeigt
it dieser Debatte, dass wir durchaus auch den zweiten
eil unserer Aufgaben ernst nehmen. Auf den ersten
lick ist die humanitäre Hilfe einer der einfacheren Be-
eiche der Politik. Hier geht es nicht um politische Aus-
inandersetzungen, sondern allein um Menschlichkeit.
ieser unparteiische, oft sogar unpolitische Charakter
ichert der humanitären Hilfe die Akzeptanz bei Kon-
liktparteien und vor allem bei der Bevölkerung vor Ort.
as ist die Grundvoraussetzung dafür, dass humanitäre
ilfe schnell, effizient und unbürokratisch zu den
pfern einer Katastrophe oder eines Konfliktes gelangen
ann.
Trotzdem ergeben sich bei der humanitären Hilfe
eute komplexe und vielgestaltige Probleme. So besteht
urzeit die Tendenz, den Begriff des „Humanitären“ in
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12727
(A) )
(B) )
der Öffentlichkeit und Politik inflationär zu gebrauchen.
Es ist die Rede von „humanitärer Politik“, „humanitärer
Intervention“ oder gar „humanitären Bomben“. Zudem
wird die humanitäre Hilfe immer öfter als integraler Be-
standteil einer allumfassenden politischen Strategie an-
gesehen. All dies zeugt von mangelndem Respekt vor
dem humanitären Raum, dessen Freiheit von Wertung
und Politik unbedingt erhalten werden muss, wollte man
nicht die humanitäre Hilfe in ihrem Wesen zerstören.
Humanitäre Hilfe darf eben nicht politisch instrumentali-
siert werden.
In der zunehmenden Globalisierung und medialen
Vernetzung der Welt liegen für die humanitäre Hilfe Se-
gen und Unglück dicht beieinander. Die Massenmedien
bringen uns menschliche Schicksale immer näher. Das
macht uns unserer Verantwortung für humanitäre Kata-
strophen auch in weiter entfernten Weltgegenden be-
wusst. Allerdings steigt mit der zunehmenden Zahl von
Katastrophen und Konflikten auf den Bildschirmen auch
die Selektivität der Wahrnehmung. Dies führt zu einem
Wettbewerb um das „größte Unglück“, das prestige-
trächtigste Projekt und die bewegendsten Bilder. Wenn
es aber einen Bereich gibt, in dem Wettbewerb und
Kommerzialisierung keine Berechtigung haben, so ist
dies die humanitäre Hilfe. Die Medien, die Nichtregie-
rungsorganisationen, aber auch die Politik müssen sich
hier ihrer Verantwortung stets bewusst sein.
Es gibt im Bereich der humanitären Hilfe aber durch-
aus auch strukturelle und institutionelle Probleme. Viel-
fach wird kritisiert, dass es der humanitären Hilfe an
Nachhaltigkeit mangelt und sie damit ihre Notwendig-
keit selbst immer wieder reproduziert. Stellenweise wird
sogar von Überversorgung ohne Rücksicht auf die Ver-
sorgungsmöglichkeiten vor Ort berichtet. Andererseits
entstehen oft gerade dort Versorgungslücken, wo kurz-
fristige humanitäre Hilfe nicht nahtlos in langfristige
Entwicklungshilfe übergeht. Das wird sich letztlich nur
durch eine noch bessere Koordinierung und Verzahnung
von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfe lösen las-
sen.
Humanitäre Hilfe ist ein Bereich, wo das Wirken
staatlicher deutscher Stellen und das Engagement und
die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung dicht
ineinander greifen. Es steht unserem Land gut an, dass
Deutschland trotz knapper Kassenlage in privaten und
öffentlichen Haushalten bei der Hilfe in weltweiten Not-
situationen im internationalen Vergleich immer noch
ganz vorn dabei ist. Deutsche humanitäre Helfer haben
weltweit einen ausgezeichneten Ruf, unsere Hilfe
kommt an und wird geschätzt und gewürdigt. Das weiß
auch die liberale Opposition im Deutschen Bundestag
durchaus zu würdigen.
Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen
Amt: 45 Millionen Menschen, so wird geschätzt, sind
zurzeit weltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen. Sie
sind Opfer von Kriegen, von Gewalt oder sie flüchten
vor Dürre, Überschwemmungen und Wirbelstürmen. Oft
sind sie durch schreckliche Ereignisse traumatisiert. Mit
der humanitären Hilfe versuchen wir, die schwerste Not
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ieser Menschen zu lindern, nicht mehr und nicht weni-
er.
Insgesamt stellte das Auswärtige Amt deutschen
ilfsorganisationen, den Vereinten Nationen und dem
nternationalen Komitee vom Roten Kreuz in diesem
ahr allein rund 73 Millionen Euro für Hilfsprojekte zur
erfügung. 14 Millionen Euro davon entfallen auf Pro-
ekte des humanitären Minenräumens. Auch in den
ächsten Jahren wollen wir humanitäre Hilfe dort ge-
ähren, wo sie benötigt wird.
Dass diese Hilfe aber auch bei den Menschen an-
ommt, ist nur durch den Einsatz der vielen Hilfsorgani-
ationen – NROs und kirchliche Hilfswerke – möglich.
hne deren unermüdliches Engagement – oft unter Ein-
atz des eigenen Lebens und der eigenen Gesundheit –
äre diese Hilfe undenkbar. Daher möchte ich zunächst
inmal den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnnen dieser
ilfsorganisationen im Namen der Bundesregierung und
es gesamten Deutschen Bundestages für ihren Einsatz
anken.
Ich verstehe gut, dass die Hilfsorganisationen eine In-
trumentalisierung der humanitären Hilfe ablehnen. Ich
ann ihnen versichern: Die Bundesregierung wird auch
ünftig darauf achten, dass sich die Hilfe ausschließlich
n den humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit und
eutralität orientiert. Das ist auch unser Anliegen.
Wir wissen aber auch: Humanitäre Hilfe kann nur die
chlimmste Not lindern. Sie beseitigt nicht die Ursachen
er Krisen. Dafür bedarf es nachhaltiger politischer Lö-
ungen, die durch Verhandlungen zwischen den jeweili-
en Konfliktparteien gefunden werden müssen.
Besondere Anforderungen hat in diesem Jahr – und
ch befürchte, das wird auch im nächsten Jahr so sein –
ie Darfur-Krise an uns gestellt, nicht zuletzt auch in fi-
anzieller Hinsicht. Nur unter großen Anstrengungen
ar es letztlich möglich, die vorgesehenen Mittel zur
inderung dieser humanitären Katastrophe in Höhe von
ahezu 50 Millionen Euro, davon 32 Millionen Euro bi-
ateral, aufzubringen und gleichzeitig in angemessener
eise auf andere Krisen weltweit zu reagieren, von de-
en einige ähnliche Dimensionen wie Darfur besitzen.
70 000 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – sind
ach Angaben der Weltgesundheitsorganisation im Dar-
ur-Konflikt allein in den letzten acht Monaten ums Le-
en gekommen. 1,8 Millionen Menschen sind auf der
lucht, vielen von ihnen droht ebenfalls das Schicksal,
pfer von Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigung, Hunger
nd Krankheit zu werden. Nach Einschätzung der VN
nd vieler Hilfsorganisationen haben wir es hier mit der
erzeit schlimmsten menschenrechtlichen und humanitä-
en Krise weltweit zu tun. Auch deshalb war und ist es
nsere Pflicht, alles, was möglich ist, zu tun, um diesen
enschen zu helfen.
Der Bericht, den der Generalsekretär der Vereinten
ationen letzte Woche dem Sicherheitsrat vorgelegt hat,
st zutiefst beunruhigend: Immer noch werden offensicht-
ich in Darfur in großem Umfang Kriegsverbrecher und
erbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Nicht
ur die von der sudanesischen Regierung bewaffneten
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Reitermilizen, die Janjaweed, sondern auch die Rebellen-
bewegungen machen sich schwerster Menschenrechts-
verletzungen gegen die Zivilbevölkerung schuldig. Die
Bundesregierung, die Vereinten Nationen und Hilfsorga-
nisationen haben jüngst schwere Vorwürfe gegen die su-
danesische Regierung erhoben, nachdem sudanesisches
Militär bei der Räumung eines Flüchtlingslagers brutale
Gewalt gegen Lagerbewohner – hauptsächlich Frauen
und Kinder – angewendet hatte. Das Lager wurde in
Brand gesetzt und mit Planierraupen zerstört. Trotz der
deutlichen internationalen Kritik sind die Sicherheits-
kräfte gestern Morgen erneut brutal gegen Flüchtlinge
vorgegangen. Dies ist auf das Schärfste zu verurteilen.
Nachdem sich zunächst in den letzten Monaten auf-
grund des internationalen Drucks – die Bundesregierung
hat ihn maßgeblich ausgeübt – der Zugang der Hilfsor-
ganisationen verbessert hatte, wird nun die Arbeit der in-
ternationalen Hilfsorganisationen offensichtlich erheblich
behindert. Die Vereinten Nationen mussten letzte Woche
vorübergehend ihre Arbeit in Darfur einstellen, unter an-
derem weil die sudanesische Regierung Zwangsumsied-
lungen vorgenommen hatte und die Sicherheitslage sich
zunehmend verschlechtert. Das Welternährungsprogramm
der Vereinten Nationen musste 85 internationale Mitar-
beiter aus verschiedenen Orten evakuieren. Auch deut-
sche Hilfsorganisationen haben in den letzten Tagen von
erheblichen Einschränkungen ihrer Zugangsmöglichkei-
ten berichtet, Mindestens 180 000 Flüchtlinge können
zurzeit nicht von der humanitären Hilfe erreicht werden.
Damit droht sich die Zahl der Todesopfer weiter zu erhö-
hen. Das ist nicht akzeptabel. Ich fordere die sudanesi-
sche Regierung und die Rebellenorganisationen auf, die
Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu beenden und end-
lich ihren internationalen Verpflichtungen nachzukom-
men.
Gerade die jüngsten Entwicklungen zeigen: Humani-
täre Hilfe kann zwar dazu beitragen, die Not der betrof-
fenen Menschen zu lindern; sie kann allerdings nicht die
politischen Konflikte lösen. Daher wird die Bundesre-
gierung weiterhin auf allen politischen Ebenen – auf der
Ebene der EU, der VN in Zusammenarbeit mit der AU –
versuchen, den internationalen Druck aufrechtzuerhalten
und eine langfristige politische Lösung des Konfliktes zu
finden.
Gerade gestern haben sich die Konfliktparteien bei
den Friedensgesprächen in Abuja auf ein Ende der Ge-
walt und den freien Zugang der Hilfsorganisationen ver-
ständigt. Das muss jetzt auch umgesetzt werden.
Nächste Woche trifft sich der Sicherheitsrat der VN in
Nairobi, um über die Lage im Sudan, insbesondere in
Darfur, zu beraten. Voraussichtlich werde ich an dieser
Sitzung teilnehmen. Wenn die Konfliktparteien nicht
einlenken, sollte der Sicherheitsrat – wie beschlossen –
weiter gehende Maßnahmen ergreifen. Darüber hinaus
unterstützen wir finanziell und logistisch die Beobach-
termission der AU, die den Waffenstillstand überwachen
soll. Auf unsere Initiative hin wird nun eine Untersu-
chungskommission der VN die Menschenrechtsverlet-
zungen in Darfur untersuchen und hoffentlich die Ver-
antwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
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Nicht nur in Darfur, sondern auch in anderen Krisen-
egionen der Weit leisten wir in großem Umfang huma-
itäre Hilfe, wie in Uganda, im Kongo und in West-
frika, auf dem Balkan und in Kolumbien, um nur einige
eispiele zu nennen. Humanitäre Hilfe kann nur die
chlimmste Not der Menschen lindern. Aber sie ist oft
er Anfang für eine weiter gehende, umfassende Lösung
on Konflikten. Daher möchte ich mich zum Schluss für
ie Unterstützung bedanken, die es über alle Fraktions-
renzen hinweg bei dieser schwierigen Aufgabe – nicht
ur in der Krisenregion Darfur – gegeben hat. Ohne den
ersönlichen Einsatz und die Unterstützung wäre unser
ngagement nicht möglich. Ich hoffe, wir können auch
n den nächsten Jahren mit der Unterstützung durch alle
raktionen rechnen.
nlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Bildungsarmut in
Deutschland feststellen und bekämpfen (Tages-
ordnungspunkt 9)
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit ihrem An-
rag greift die FDP ein Anliegen auf, das von den Sozial-
emokraten in der Opposition wie in der Regierung seit
ahren mit besonderem Engagement verfolgt wird. Wir
reuen uns, dass auch die FDP jetzt entdeckt, dass wir
lle eine besondere Verantwortlichkeit haben gegenüber
en Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus
uwanderfamilien, aber auch aus deutschen Familien,
ie keine lange und erfolgreiche Bildungstradition in ih-
en Familien aufweisen.
Die Kollegin Multhaupt hat schon dargelegt, wie die
PD-geführte Bundesregierung seit 1998 an vielen Stel-
en ihren Beitrag dazu geleistet hat, dass Bildungsarmut
ein Schicksal werden muss, sondern Schritt für Schritt
ekämpft werden kann und es für die Kinder, Jugendli-
hen und Familien neue und sichere Wege gibt, mehr
ildungschancen zu verwirklichen. In der direkten För-
erung der Familien und Kinder nennen wir die Erhö-
ung des Kindergeldes, das Erziehungsgeld, aktuell den
inderzuschlag im Rahmen von Hartz IV als Stichwort.
n der Infrastrukturverbesserung für Kinder und Jugend-
iche und Familien sind Stichworte das Ganztagsschul-
rogramm, die Aufwertung der Kindertagesstätten und
ie Krippeninitiative, das Teilzeitfördergesetz und in der
ildungsförderung schließlich das JUMP-Programm,
it dem wir 1998 gestartet sind, JUMP-Plus, die beson-
eren Förderprogramme für Jugendliche bei der Berufs-
orbereitung, ausbildungsbegleitende Hilfen bis hin zur
obilisierung zusätzlicher Lehrstellen und Einstiegs-
raktika, wie sie im jüngsten Pakt für Ausbildung ver-
inbart worden sind.
Dabei muss klar sein: Bildungsarmut kann sich verfes-
gen, wenn Familien aus realer Armut keinen Ausweg
inden. Bildungsarmut nimmt zu, wenn zugewanderte
amilien und ihre Kinder keine Wege zur Integration
inden. Bildungsarmut dokumentiert schließlich unser
olitisches Versagen, wenn wieder besserer Kenntnis
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12729
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falsche Strukturen und Qualitäten in unserem Bildungs-
system gezielt dafür sorgen, dass die Bildungspotenziale
aller Kinder und Jugendlichen sich nicht entfalten kön-
nen, dass Kinder und Jugendlichen vor allen Dingen
Misserfolgskarrieren in unserem Bildungssystem an sich
erfahren und schließlich auch, dass Jugendlichen die
Chance auf eine berufliche Qualifizierung gar nicht erst
gegeben wird, bzw. ein erfolgreicher Abschluss nicht er-
reicht werden kann.
Hierzu nur zwei konkrete Sachverhalte, die uns zu
denken geben müssen:
Erstens. Die Rangreihe der nach der ersten PISA-Stu-
die 2002 vorgeblich besonders erfolgreichen Bundeslän-
der bildet genau die Rangfolge der Prozentteile der Be-
völkerung ab, die in den jeweiligen Ländern in
Sozialhilfe leben. Weist Bayern hier einen Prozentsatz
von 3,4 Prozent auf, steigert sich dieser Prozentsatz bis
zum Land Bremen auf 23,6 Prozent. Natürlich gibt es ei-
nen Zusammenhang von realer Armut und Bildungsar-
mut. Der Kampf gegen die Bildungsarmut muss deshalb
auch immer unterfüttert werden mit dem Kampf gegen
die reale Armut. Erfolge in der Bekämpfung der Bil-
dungsarmut tragen umgekehrt dazu bei, dass auch die
reale Armut schrittweise überwunden werden kann.
Zweitens erleben wir aktuell m Deutschland, dass
über 10 Prozent der Kinder bei der Einschulung zurück-
gestellt werden, 3,5 Prozent der Kinder so genannte Son-
derschulen besuchen, 10 Prozent der Kinder einen
Schulabstieg an sich erfahren, indem sie von einer so ge-
nannten „höheren Schule“ auf andere Schulformen ab-
steigen und schließlich über 24 Prozent der Kinder, ein
Spitzenwert m Europa und der Welt, eine Klassenwie-
derholung durchmachen. Unter diesen Kindern ist ein
besonders großer Teil aus Familien mit einem Migra-
tionshintergrund. Von diesen Kindern sammeln sich
dann besonders viele in den so genannten Hauptschulen,
die schon längst nicht mehr das Fundament von Bildung
in Deutschland bilden, sondern in eine sehr schwierige
Rolle als ungeliebte „Restschule“ und Schule der Kinder
und Jugendlichen aus Migrationsfamilien und bildungs-
fernen Schichten gedrängt werden.
Positiv am Antrag der FDP ist deshalb, dass wir zu-
sammen in drei Fragen in Deutschland grundsätzlicher
und ebenso ausdauernd wie konsequent in eine Überprü-
fung bisheriger Positionen eintreten müssen und auch zu
neuen Lösungen kommen müssen.
Zum einen: In Bezug auf das endlich verabschiedete
Zuwanderungsgesetz ist das jahrelang gehegte Tabu der
konservativen Seite endlich gebrochen: Deutschland ist
ein Zuwanderungsland und hat sich entsprechend an der
Integration im Sinne von Fördern und Fordern der zuge-
wanderten Menschen zu engagieren. Dieses muss jetzt
zu einer Gesamtaufgabe von Bund, Ländern und Kom-
munen, der Organisationen der Zivilgesellschaften und
auch der Beteiligten selbst werden.
Zum anderen: Wie lange wollen wir noch ein Bil-
dungssystem als vorbildlich begreifen, das sich als hoch
sozial selektiv, als nicht leistungsfähig in Bezug auf eine
gute Grundförderung für alle Kinder und Jugendliche
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erausgestellt hat? In der frühkindlichen Förderung, in
er Stärkung der Grundschule, in der möglichst langen
emeinsamen Unterrichtung der Kinder und in der Öff-
ung von Schule nach außen haben wir strukturell wie
ualitativ Reformbedarf. Hier muss das Tabu, das in
eutschland über jede Diskussion der Schulstruktur ge-
egt worden ist, erst noch gemeinschaftlich gebrochen
erden. Die SPD ist hierzu bereit. Wir wünschen uns,
ass auch andere politische Kräfte hier ihre dogmati-
chen Scheuklappen ablegen.
Und schließlich: Bildungsarmut ist bekämpft und ge-
ört der Vergangenheit an, wenn Kinder und Jugendliche
us zum Beispiel Migrationsfamilien ganz konkret er-
ahren können, dass sie über Bildung einen Einstieg in
en Aufstieg in dieser Gesellschaft erreichen können.
er erste Aufstieg muss die konkrete Erfahrung werden,
ass sie eine qualifizierende berufliche Ausbildung be-
ommen. Hier gibt es noch Reserven bei den Firmen, die
iel zu wenig ausbilden und neuen Betrieben, auch ge-
ade von zugewanderten und ausländischen Betriebsin-
abern, die das deutsche Berufsbildungssystem erst noch
it annehmen sollten, die zu nutzen sind. Und natürlich
raucht es auch mehr Durchlässigkeit aus dem berufli-
hen Bildungssystem in das akademische Bildungssys-
em.
Dabei werden angesichts der Beharrlichkeit von Bil-
ungsarmut keine schnellen Erfolge für alle zu erreichen
ein. Nur wollen wir auch der Schwarzmalerei des An-
rages der FDP nicht in allen Punkten folgen. Gerade
enn man die OECD-Vergleiche heranzieht, ist die Ju-
end- und Ausbildungslosigkeit in Deutschland eben
eutlich unter dem Durchschnitt und liegt Deutschland
ier ohne Zweifel in der Spitzengruppe, was die Versor-
ung von Kindern und Jugendlichen mit Ausbildungsan-
eboten angeht. Auch in der Unterstützung der Jugendli-
hen von der Berufsvorbereitung über die Unterstützung
n der Berufsausbildung bis hin zu speziell auf die Ziel-
ruppen von bildungsfernen Jugendlichen wie zugewan-
erten Jugendlichen gibt es besondere Anstrengungen in
eutschland, die nicht zuletzt durch eine beträchtliche
ffentliche Finanzierung belegt sind.
Zu den Forderungen der FDP stellen wir deshalb in
ürze fest:
Erstens. Was die FDP zur Reform der beruflichen Bil-
ung fordert, ist in differenzierter Form von der Regie-
ung mit ihrem Vorschlag zur Reform des Berufsbil-
ungsgesetzes bereits eingelöst.
Zweitens. Vom Bund zu fordern, dass er die Sprach-
örderung für Zuwanderungskinder vor der Einschulung
eistet, widerspricht der Aufgabenverteilung zwischen
und und Ländern, die auch noch einmal durch das Inte-
rationsgesetz und die dortige Aufteilung der Sprachför-
erung festgelegt worden ist. Wir bitten die FDP sehr
erzlich, die SPD in den Länderparlamenten in diesem
inne im Streit für mehr Bildungschancen zu unterstüt-
en.
Drittens. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht,
er von der Bundesregierung im Jahr 2001 vorgelegt
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worden ist, spricht natürlich die Fragen von Bildungs-
armut und Zuwanderung an. Die FDP muss gebeten wer-
den, hier genauer nachzulesen. Wir sind ganz sicher,
dass auch im Bericht des Jahres 2005 diese Fragen noch
genauer und auch zielführender von der Analyse her be-
leuchtet werden.
Viertens. Dass die FDP jetzt darauf kommt, dass Bil-
dungsforschung und Berichterstattung zu den Fragen
von Bildungsarmut verstärkt werden müssen, mutet
merkwürdig an. Hier hat die FDP die Wegmarken offen-
sichtlich nicht mitbekommen, die wir schon vor einigen
Jahren gesetzt haben. Der erste gemeinsame Bildungsbe-
richt von Bund und Ländern, der im Jahr 2006 nach dem
langjährigen Sträuben der Länderseite endlich durchge-
setzt werden konnte, hat hierzu auch genau den richtigen
Schwerpunkt gewählt. Er soll sich nämlich mit der Inte-
gration von Kindern und Jugendlichen und Erwerbstäti-
gen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem be-
fassen. Dieses ist bereits so beschlossen und damit sind
wir schon viel weiter als der Antrag der FDP an dieser
Stelle uns nahe legen will.
Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Ich freue
mich, dass wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion
der FDP zum Thema Bildungsarmut befassen. Der An-
trag der Kolleginnen und Kollegen von der FDP spricht
ein schwerwiegendes Problem an.
Jedes Jahr verlassen viele junge Menschen die Schule
ohne Abschluss. 2003 verließen circa 84 000 Jugend-
liche die Schule ohne Hauptschulabschluss. Für sie ist
das Risiko, arbeitslos zu bleiben, besonders hoch. Neben
die negativen wirtschaftlichen Folgen treten gesell-
schaftliche Ausgrenzungsprozesse.
Ein Punkt im vorliegenden Antrag ist Bildungsarmut
aufgrund mangelnder Sprachkompetenz, insbesondere
bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Auch wir
von der Union sind für eine intensive und frühzeitige
Sprachförderung von Kindern und Jugendlichen. Beim
Einstieg in die Schullaufbahn zeigt sich, dass die Schüle-
rinnen und Schüler heute weitaus größere Unterschiede
im Entwicklungsstand und in den Lernvoraussetzungen
aufweisen als in früheren Jahren. Die Grundschule muss
deshalb gezielt dafür Sorge tragen, dass unterschiedliche
Bildungsvoraussetzungen durch individuelle Förderung
ausgeglichen werden. Insbesondere im sprachlichen Be-
reich muss eine leistungsfähige Grundschule auf Maß-
nahmen der vorschulischen Förderung aufbauen können.
Dies gilt vor allem für Kinder aus Migrantenfamilien
mit nur geringen Kenntnissen der deutschen Sprache.
Kindergärten und Kinderhorte müssen intensiver als bis-
her darauf hinarbeiten, dass die von ihnen betreuten Kin-
der grundschulfähig werden.
Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Aspekt,
der auch in unserer Fraktion immer wieder im Mittel-
punkt von bildungspolitischen Anträgen steht: der Be-
deutung einer möglichst früh ansetzenden Bildungspoli-
tik. Eine der zentralen Forderungen der Union ist ja
gerade die Stärkung frühkindlicher Bildung und Erzie-
hung in Familie und Kindertagesstätte. Sie ist die Vo-
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aussetzung für mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung
on Bildungschancen, eine stärkere Entkoppelung von
ozialer Herkunft und schulischer Leistung und eine Ent-
altung der individuellen Begabungen.
Wenn wir von frühkindlicher Bildung und Erziehung
eden, dann verstehen wir dies jedoch keinesfalls als rein
nstitutionelle Veranstaltung. Wir verstehen darunter die
esondere Berücksichtigung der primären Erziehungs-
ompetenz und der Erziehungsaufgabe der Eltern. Ich
atte, bei der Diskussion um Ganztagsschule und Ganz-
agsbetreuung – so wie sie in diesem Plenum in den letz-
en Monaten geführt wurde – oft das Gefühl, es ginge
m eine Versorgungsfrage. So als könnten wir die in den
erschiedenen Studien wie PISA und dem OECD-Ver-
leich aufgedeckten Defizite des deutschen Bildungssys-
ems lösen, indem nur für ausreichend Tagesbetreuung
esorgt würde. Überhaupt scheint die ganze Diskussion
ich auf die Frage nach der Versorgung mit Ganztagsbe-
reuungsangeboten zu verkürzen.
Doch wir müssen den Fokus weiter fassen. Wollen
ir wirklich etwas verbessern, so müssen wir über die,
icherlich wichtige, Versorgungsfrage hinausgehend
uch inhaltlich mehr leisten. Das vermisse ich häufig in
en Vorschlägen der Regierungskoalition.
Gerade die inhaltliche Verzahnung von Elternhaus,
ildung und Betreuung – damit beziehe ich mich auf
leichnahmigen Antrag der Unionsfraktion – verspricht
angfristige Erfolge bei der Modernisierung unseres Bil-
ungssystems. Es gibt viele Einzelaspekte, die bei dieser
nhaltlichen Gestaltung berücksichtigt werden müssen,
um Beispiel die in vielen Studien erwiesene Bedeutung
er Ein-Person-Beziehung im frühen Kindesalter.
Doch das wissen Sie alles längst selbst, daher zurück
um vorliegenden Antrag.
Richtig und wichtig ist auch die Forderung nach einer
odernisierung der Berufsausbildung. Die CDU/CSU
at im Frühjahr 2003 als erste Fraktion einen Vorstoß im
arlament gemacht und im März diesen Jahres einen ent-
prechenden Gesetzentwurf eingebracht. Die Bundesre-
ierung hat dagegen ein halbes Jahr mit einer unsinnigen
ebatte über eine Ausbildungsplatzabgabe vertan und
rst im Oktober einen Gesetzentwurf zur Novellierung
er Berufsausbildung vorgelegt. Die Leidtragenden sind
ie derzeit 31 200 nicht versorgten Jugendlichen.
Der heute vorliegende FDP-Antrag geht in die rich-
ige Richtung: Mit der Abkehr von starren Ausbildungs-
ystemen und der Einführung theoriegeminderter Be-
ufsbilder erleichtern wir eher praktisch begabten
ugendlichen den Einstieg in das Berufsleben. Aller-
ings darf das Berufskonzept nicht durch eine beliebige
odulation der Ausbildungsgänge in Teilqualifikationen
ufgeweicht werden. Das von der Union in die Diskus-
ion gebrachte Stufenmodell stellt einen gangbaren Weg
wischen der bisherigen dreijährigen Ausbildung ohne
wischenqualifikation und der Auflösung von Berufen
n Einzelmodule dar.
Wir sollten die Diskussion in diesem Sinne konstruk-
iv weiterführen und bald zu der dringend notwendigen
ovellierung des Berufsbildungsrechts kommen.
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Insofern empfehle ich den Antrag zur Überweisung in
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung.
Werner Lensing (CDU/CSU): Bildung ist das, was
übrig bleibt, wenn wir all das vergessen haben, was wir
zuvor lernten. Es heißt zwar: „Schüchterne Dummheit
und verschämte Armut sind den Göttern heilig“ (Marie
Freifrau von Eschenbach 1830 bis 1916), doch diese
Sentenz sollte keinesfalls für die Bildungspolitik gelten!
Umso mehr ist es mir wichtig und geradezu unab-
dingbar, dass wir heute über das drückende Problem der
Bildungsarmut in Deutschland debattieren. Einige der
im FDP-Antrag angesprochenen Probleme haben bereits
Niederschlag in dem Unionsantrag zur Novellierung des
Berufsbildungsgesetzes gefunden. Hier sind wir also
schon auf einem guten Weg. Andere Anregungen des
Antrages möchte ich heute gerne mit eigenen Vorschlä-
gen vorantreiben.
Die derzeitige Situation in der Bildungspolitik will
ich versuchen mit einem eindrucksvollen Bild aus der
Natur wie folgt zu umschreiben: Um die vermeintlichen
Früchte der eigenen Bildungspolitik zu ernten, versucht
die rot-grüne Regierung seit Jahren, den knorrigen Baum
der Erkenntnis zu schütteln, damit er seine Ernte preis-
gibt und nahezu die Keimlinge der Bildung als reife
Früchte herunterfallen lässt. Doch obwohl von Jahr zu
Jahr wegen falscher Bewirtschaftung immer weniger
Früchte an diesem Baum hängen, schüttelt und rüttelt
Rot-Grün gleichwohl heftiger und heftiger an diesem –
natürlich ohne sichtbaren Erfolg. Es wollen an ihm ein-
fach nicht mehr Früchte wachsen.
In dieser Situation fragt sich das rot-grüne „Ernte-
Team“ ängstlich und händeringend: „Was haben wir hier
nur wieder falsch gemacht?“ Meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition, ich will es Ihnen sagen:
Die unbedarften Gärtner begannen zu spät, sich um die-
sen Baum zu kümmern. Hätten sie diesem zu Beginn sei-
nes Wachstums mehr Aufmerksamkeit geschenkt und
ihn beispielsweise gedüngt – will sagen: unterstützt
durch eine solide Finanzierung –, wäre er sicherlich hö-
her und schöner gewachsen. Jetzt ist er bestenfalls ein
Bonsai.
Kurzum: Mir geht es im Konkreten um den frühen
Ansatz bildungspolitischer Maßnahmen und um die an-
gemessenen Mittel, die zu dem grundlegenden Erfolg
führen, den wir alle wollen – weg von der Bildungsar-
mut, hin zum Bildungsreichtum.
Wir sollten daher alle gemeinsam Bildungspolitik
völlig neu entwerfen. Dies allein schon aus dem Grund,
weil Bildung unser ganzes Leben begleitet, aber auch,
weil Bildung der Wesenszug ist, der uns Menschen am
meisten miteinander verbindet. Insofern benötigen wir
ein Konzept für eine Rundumreform des deutschen Bil-
dungssystems, wie dies unter anderem der Verband der
Bayerischen Wirtschaft und Herr Professor Dr. Lenzen,
der Präsident der Freien Universität Berlin, jüngst ange-
dacht haben. Gerne will ich Ihnen – allerdings ohne Ab-
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timmung mit meiner Fraktion – hier einige dieser Anre-
ungen darlegen.
Doch eigentlich sind diese Visionen – das heißt, sie
mschreiben mit einem Blick die Situation, wie sie sein
önnte und sein müsste – keine Traumwelt, sondern
ögliche zukünftige Realität:
Wir sollten mit dem Lernen früher starten und Bil-
dung in allen Lebensphasen bis ins Rentenalter indi-
viduell fördern. Schließlich ist jeder Mensch einzigar-
tig.
Dabei könnten Kinder mit vier Jahren in eine sechs-
jährige Primarschule eingeschult werden, die Vor-
und Grundschule integriert, vor allem aber Schüler
und Schülerinnen nach ihren speziellen Fähigkeiten
fördert.
Schließlich fällt die Entscheidung über die Schulkar-
riere bereits zwischen dem vierten und siebenten Le-
bensjahr.
Wir sollten in die schulischen Anfangsjahre das
meiste Geld investieren: Denn schon aufgrund der de-
mographischen Entwicklung brauchen wir so viele
hoch qualifizierte junge Menschen wie nur möglich.
Hierfür muss natürlich die Bildungsfinanzierung ge-
nerell neu entworfen werden:
Milliarden von Euro, die in das spätere Ausmerzen
von Bildungslücken gesteckt werden müssen, sind am
Beginn der Bildungsentwicklung besser investiert.
Die Vorschule sollte gebührenfrei und das Studium
gebührenpflichtig angeboten werden. Denn es ist ein-
fach nicht einzusehen, wieso Bildung dort, wo diese
am wirksamsten ist, nämlich im Vorschulalter, auch
gleichzeitig relativ teuer ist.
Durch das Ausschöpfen von Effizienzreserven, Priva-
tisierungen und vor allem durch einen flächendecken-
den Subventionsabbau zugunsten der Bildung wäre
hier viel zu erreichen.
Bereits die Hälfte der 150 Milliarden Euro Subventio-
nen, die der Staat jährlich an die Wirtschaft zahlt,
könnten aus Deutschland ein Bildungsparadies ma-
chen. Für Investitionen in die Zukunft, die nicht nur
bitter nötig sind, sondern sich auch mehrfach auszah-
len, bedürfte es denn nicht einmal der Streichung der
Eigenheimzulage.
Aber auch die Firmen und Betriebe müssten auf dem
Gebiet der Weiterbildung einen größeren Teil zum
Ganzen beisteuern. Schließlich funktioniert heute der
Wettbewerb vorranging über unsere Köpfe.
Um all diese Vorstellungen umsetzen zu können,
uss ein Umdenken in der gesamten Bevölkerung statt-
inden. Bildung sollte als unser bester und beständigster
arktwert verstanden werden – als unser wahrer Reich-
um. Dem entgegen rechnet man heutzutage Reichtum
nd Gewinn in Bilanzen von Zahlen, also in Gewinn-
nd Verlustrechnungen.
Dabei setzt man fataler Weise den Faktor Bildung als
tets gegeben voraus, so als führe dieser eine Eigenexis-
enz und wäre – fast wie ein Naturgesetz – schon immer
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vorhanden gewesen. Ist er aber nicht. In Wirklichkeit be-
ruhen die originären Erfolgspotenziale auf den nicht bi-
lanzierbaren menschlichen Fähigkeiten und Kompeten-
zen. Der Versuch, diese dennoch bilanzieren zu wollen,
zeigt sich schon in der Begriffswahl: Man nennt sie be-
zeichnender Weise „Human- und Beziehungskapital“.
Bildung zahlt die besten Zinsen!
Bliebe alles beim Alten, zementierten wir in unver-
antwortlicher Weise die gegenwärtige schlechte Lage.
Und die ist bekanntlich traurig genug:
– 10 Prozent der Schulabgänger eines jeden Jahrgangs
haben keinen Schulabschluss und sind näher an Ar-
mut und Abhängigkeit als an einem persönlichen und
eigenständigen Lebensentwurf angesiedelt. Dies be-
trifft vor allem Kinder aus einem Migrationsumfeld –
mit unabsehbaren Folgen.
– 20 Prozent der Jugendlichen gelten als nicht ausbil-
dungsfähig.
– 30 Prozent der Studentinnen und Studenten brechen
ihr Studium ab.
Genau dadurch entstehen die Kosten, die Bildung
heute so teuer machen.
Was – frage ich Sie – spricht also gegen das Vorha-
ben, möglichst früh und intensiv in Bildung zu investie-
ren? Ich meine, nichts. Im Gegenteil: Alles spricht dafür.
Nur so überwinden wir die Bildungsarmut in Deutsch-
land.
Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bil-
dungschancen sind Lebenschancen. Bildung ist der
Schlüssel zu Beschäftigungssicherheit und zu gesell-
schaftlicher Teilhabe. Deshalb können wir die gegen-
wärtige Situation nicht hinnehmen: Es ist eine riesige
Ungerechtigkeit, wenn die familiäre Herkunft die Zu-
kunft von Kindern und Jugendlichen weitgehend vorbe-
stimmt, wie es in Deutschland der Fall ist.
Ich stimme also der Überschrift des Antrags der FDP
voll zu: Ja, wir müssen Bildungsarmut möglichst schnell
und effizient bekämpfen. Ja, wir brauchen möglichst ge-
naue Informationen und präzise Instrumente um effektiv
handeln zu können.
Bei der Wahl der Instrumente hören unsere Überein-
stimmungen leider schon auf. Es kann nicht unser Ziel
sein, wie es die FDP vorschlägt, „theoriegeminderte Be-
rufsbilder“ für die Jugendlichen einzuführen, die an An-
forderungen einer „normalen“ Berufsausbildung schei-
tern. Es muss vielmehr unser Ziel sein, alle Jugendlichen
effektiver und intensiver zu fördern, und zwar durch mo-
dularisierte und flexible Ausbildungswege, die zu einem
vollen Beruf führen. Wir dürfen sie nicht abschreiben
und zu billigen Arbeitskräften machen. Genau das würde
nämlich die Einführung so genannter „theoriegeminder-
ter Berufsbilder“ letztendlich bedeuten.
„Theoriegeminderte Berufsbilder“ – das heißt in der
Praxis Berufsbilder zweiter Klasse. Das würde zu der
Logik, an der unser Schulsystem krankt, passen: Nicht
fördern, sondern selektieren ist allzu oft das Motto. Im
dreigliedrigen, höchst selektiven Schulsystem werden
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ie Kinder und Jugendlichen einfach aussortiert, die
icht genau ins Anforderungsprofil einer Schule passen.
erade Kinder mit Migrationshintergrund werden be-
onders häufig ohne Rücksicht auf ihre Leistungsfähig-
eit in Hauptschulen geschickt. Und selbst von dort wer-
en sie oft noch in die nächste Instanz nach unten weiter
ereicht. 1999 waren immerhin 15 Prozent der Sonder-
chüler Jugendliche mit Migrationshintergrund, obwohl
hr Anteil an Schulen nur 9,4 Prozent ausmachte.
Wir brauchen also keine noch feinere Gliederung des
usbildungssystems, das dann immer niedrigere An-
prüche stellt. Was wir brauchen ist ein gründlicher Per-
pektivwechsel: Das Problem sind nicht die Kinder und
ugendlichen, es ist das sozial ausgrenzende Bildungs-
ystem: Unser selektives Schulsystem ist nicht in der
age, das maximale Potenzial in jedem einzelnen Kind
u wecken. Fördermaßnahmen, die Jugendliche errei-
hen, wenn sie erst mal auf dem Abstellgleis Haupt-
der Sonderschule gelandet sind, greifen zu spät. „Theo-
iegeminderte Berufsbilder“ zu schaffen, heißt deshalb,
n den Symptomen herumdoktern und die Probleme
icht angehen.
Es ist also die alte Schulstrukturfrage, an die wir uns
it neuen Argumenten heranwagen müssen: Das drei-
liedrige Schulsystem hat versagt, sowohl unter Leis-
ngs- als auch nach Gerechtigkeitsaspekten. Stattdessen
rauchen wir eine leistungsstarke Schule für alle Kinder.
ine Schule für alle – das ist heute allgemein bekannt –
teht nicht für softe Kuschelpädagogik. Sie steht gerade
ür mehr Leistungsfähigkeit und individuelle Förderung,
ür mehr Chancengerechtigkeit und Leistungsorientie-
ung gleichermaßen. Anders gesagt: Sie steht für die
usschöpfung aller Begabungsreserven.
Wesentlich für die Bekämpfung der Bildungsarmut ist
atsächlich eine gezielte Sprachförderung, vor allem für
inder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
enn Sprache ist sowohl der Schlüssel zu schulischem
rfolg als auch zu gesellschaftlicher Teilhabe. Soweit
ind wir uns einig. Die FDP-Fraktion sollte nicht zu kurz
pringen. Alle Kinder und Jugendlichen mit Migrations-
intergrund und nicht nur die Vorschulkinder müssen
on der Sprachförderung profitieren. Sonst riskieren wir
ine lost generation von schlecht integrierten jugendli-
hen Migrantinnen und Migranten, mit all den sozialen
olgen, die aus mangelnder Teilhabe an der Gesellschaft
rwachsen.
Finanziell in der Verantwortung dafür stehen aller-
ings die Länder und leider nicht der Bund, etwa im
ahmen der Integrationsförderung, wie es im Antrag der
DP angedeutet wird.
Bildungsarmut in Deutschland bekämpfen und Bil-
ungschancen gerechter zu verteilen – die von der FDP
orgeschlagenen Instrumente greifen diesbezüglich
chlicht zu kurz. Um die Bildungsarmut zu bekämpfen,
üssen wir das Bildungssystem von seinen Wurzeln her
eistungsfähiger und gerechter gestalten. In meinen Au-
en soll auch weiterhin der Bund hierfür mit in der Ver-
ntwortung stehen, insbesondere bei der beruflichen Bil-
ung und auch beim lebenslangen Lernen. Deshalb
rwarte ich, dass wir, Bund und Länder gemeinsam,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12733
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Wege finden und eben keine neuen, föderalen Blockaden
aufbauen. So können schnell und konsequent die nötigen
Veränderungen vorgenommen werden.
Ulrike Flach (FDP): Die Gefahr, arbeitslos zu
werden, ist für jemanden ohne einen Schulabschluss
fast zehnmal höher als für jemanden mit einem aka-
demischen Grad. Bildung ist nicht nur eine Investition in
die Zukunft, sondern auch in die ökonomische Sicher-
heit. Umgekehrt ist mangelnde Bildung ein Risiko für
den ökonomischen Erfolg des Einzelnen.
Seit Beginn der 80er-Jahre liegt der Anteil derjenigen,
die eine allgemein bildende Schule ohne einen Haupt-
schulabschluss verlassen, bei circa 10 Prozent. Im letz-
ten Jahr waren das fast 90 000 Jugendliche, wobei der
Anteil der männlichen Jugendlichen deutlich höher ist
als der der Mädchen. Nach der OECD-Studie „Bildung
auf einen Blick“ ist der Anteil der deutschen Jugendli-
chen zwischen 15 und 19 Jahren, die weder eine Ausbil-
dung machen noch eine Arbeit haben, sehr hoch. Wir lie-
gen mit fünf Prozent bei männlichen und fünf Prozent
bei weiblichen Jugendlichen schlechter als Frankreich,
die Niederlande, Irland oder Norwegen. Der OECD-Be-
richt stellt fest:
Jugendliche mit geringen Qualifikationen laufen
eine erhöhte Gefahr, langfristig arbeitslos zu wer-
den, instabile oder unbefriedigende Beschäfti-
gungsverhältnisse zu finden, was weitere negative
Konsequenzen, wie soziale Ausgrenzung mit sich
bringen kann.
Die FDP hat immer die Auffassung vertreten, dass die
Chancen am Start gleich sein müssen. Deshalb brauchen
wir gerade für junge Menschen aus bildungsfernen Fa-
milien und für Kinder aus Migrantenhaushalten eine bes-
sere Förderung. Noch immer sind fast 40 Prozent, der ju-
gendlichen Zuwanderer ohne jede Ausbildung.
Wir wollen zunächst eine bessere Datenbasis. Dazu
gehört die verstärkte Bildungsforschung, aber auch die
Aufnahme von Daten über Bildungsarmut in den Zwei-
ten Armutsbericht der Bundesregierung.
Wir wollen eine modulare Berufsausbildung, die auch
theorieschwachen Jugendlichen die Möglichkeit gibt,
Teilqualifikationen zu erwerben. Die Aussagen von
Herrn Brase gestern im Ausschuss geben mir Hoffnung,
dass auch die SPD einer modularen Berufsausbildung et-
was abgewinnen kann.
Wir wollen eine verbindliche Sprachförderung für
Migranten, die überprüfbar die deutsche Sprache als die
Eintrittskarte in unsere Gesellschaft vermittelt. Wir
brauchen neue Formen der Finanzierung von Bildung.
Ich freue mich, dass die Vergabe von Bildungskrediten
seit ihrer Einführung 2001 jährlich Zuwächse verzeich-
net. 2001 waren es rund 5 000, 2003 schon 12 200 Kre-
ditverträge zu rund 3 Prozent Zinsen.
Von besonderer Bedeutung ist die Förderung der Wei-
terbildung. Es sind leider gerade die gering Qualifizier-
ten, die allein Erziehenden und die Migranten, die am
wenigsten an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen.
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as heißt, gerade die, die es am Arbeitsmarkt besonders
chwer haben, tun zu wenig für ihre Fortbildung.
Wir alle reden über Konzepte des lebenslangen Ler-
ens. Ich finde die Anregungen im Konzept „Bildung
eu denken!“, das Professor Lenzen für die Vereinigung
er Bayerischen Wirtschaft erarbeitet hat, sehr span-
end. Es bietet ein finanziell durchgerechnetes Gesamt-
onzept der Bildungsförderung bis ins hohe Erwachse-
enalter. Darin finden sich zwar auch Punkte, die nicht
erade der Beschlusslage der FDP entsprechen, zum
eispiel das soziale Pflichtjahr; aber das Konzept ist ein
ichtiger Anstoß, endlich die Bildung des Menschen
on der Wiege bis ins hohe Alter insgesamt in den Blick
u nehmen.
Deutschland gibt im OECD-Vergleich nach wie vor
owohl für Bildungseinrichtungen als auch für die Schü-
er pro Kopf weniger aus als der OECD-Durchschnitt.
ir erreichen keine 6 Prozent des BIP, während die
kandinavischen Länder, aber auch Frankreich, Mexiko,
SA, Kanada, Österreich und Großbritannien zum Teil
eit vor uns liegen.
Bildungsarmut zu bekämpfen kostet Geld. Bildungs-
rmut in Deutschland weiter anwachsen zu lassen, kostet
ber noch viel mehr Geld, aufgrund der Folgekosten wie
ozialhilfe, Arbeitslosengeld, Verlust von Kaufkraft und
erringerung der Zahlungen in unsere sozialen Systeme.
ir können uns Armut im Bildungsbereich nicht leisten!
nser Antrag macht konkrete Vorschläge. Wir bitten um
nterstützung.
nlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Stabilisierung und
Weiterentwicklung des genossenschaftlichen
Wohnens (Tagesordnungspunkt 10)
Wolfgang Spanier (SPD): Wir haben die Initiative
rgriffen, um das genossenschaftliche Wohnen in
eutschland zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
ie SPD-Bundestagsfraktion unterstützt diese Initiative
it Nachdruck.
Lassen Sie mich zunächst einige grundsätzliche Be-
erkungen machen. Vielen ist nicht bewusst, welche
edeutung der genossenschaftliche Sektor insgesamt in
nserer Wirtschaft hat. In Deutschland ist die Genossen-
chaftsorganisation die mitgliederstärkste Wirtschafts-
rganisation. Praktisch jeder Landwirt, 60 Prozent al-
er Handwerker, bei Bäckern und Metzgern sind es
0 Prozent, 75 Prozent aller Einzelhändler sind Mitglie-
er in Genossenschaften. Im Bankensektor spielen die
olksbanken und die Raiffeisenbanken eine wichtige
olle. In den Genossenschaftsorganisationen arbeiten
00 000 Menschen.
Ähnliches gilt für den besonderen Bereich der Woh-
ungsgenossenschaft. Die rund 2 000 Wohnungsgenos-
enschaften in unserem Land haben mehr als 3 Millionen
itglieder und verfügen über einen Bestand von
12734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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2,2 Millionen Wohnungen, das heißt über 10 Prozent der
Mietwohnungen in Deutschland. Sie sind ein wichtiger
Partner der Politik für die Wohnraumversorgung, aber
auch für die wichtigste Zukunftsaufgabe der Städtebau-
und Wohnungspolitik: den Umbau unserer Städte ange-
sichts der demographischen Entwicklung und Binnen-
wanderung.
Der frühere Bundesminister Kurt Bodewig hat im
Juli 2002 eine Expertenkommission „Wohnungsgenos-
senschaften“ mit dem Ziel einberufen, das selbstbe-
stimmte genossenschaftliche Wohnen als dritte tragende
Säule neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnei-
gentum weiterzuentwickeln und die Zukunft der genos-
senschaftlichen Idee zu sichern. Die Kommission wurde
vom Minister Manfred Stolpe bestätigt, verbunden mit
dem Auftrag, neben einer Analyse Vorschläge und
Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die sich an den
Gesetzgeber und an die Wohnungsgenossenschaften
selbst richten.
Im April dieses Jahres hat die Kommission unter dem
Vorsitz von Jürgen Steinert, dem früheren Präsidenten
des GdW, einen ausführlichen Bericht vorgelegt. Die
Empfehlungen an den Bundesgesetzgeber wollen wir im
Parlament aufgreifen, in den kommenden Monaten im
Parlament und in der interessierten Öffentlichkeit bera-
ten, um dann, so hoffe ich, zu Entscheidungen zu kom-
men.
Im Namen meiner Fraktion möchte ich der Kommis-
sion ausdrücklich danken. Der Bericht gibt uns die Mög-
lichkeit, uns über die Besonderheiten und Potenziale des
genossenschaftlichen Wohnens umfassend zu informie-
ren. Sehr präzise werden die Handlungsfelder aufge-
zeigt, in denen das genossenschaftliche Wohnen gestärkt
werden kann. Hilfreich für die Politik sind die konkreten
Empfehlungen der Kommission.
Wenn ich vorhin das genossenschaftliche Wohnen als
dritte Säule bezeichnet habe, die es zu stärken gilt, so
füge ich hinzu, dass es uns nicht um eine Bevorzugung
geht, sondern dass wir das genossenschaftliche Wohnen
als gleichberechtigte Wohnform neben dem Wohnen zur
Miete und dem Wohnen im Eigentum verstehen. Es ist
aber an der Zeit, unser Augenmerk auf diese zukunfts-
weisende Wohnform zu richten.
Wohnungsgenossenschaften haben in Deutschland
eine mehr als hundertjährige Tradition. Sie folgen den
Grundsätzen der Selbstverwaltung und Selbstverantwor-
tung, der Selbsthilfe und gegenseitigen Hilfe. Es ist eine
besondere Ausprägung des gemeinschaftlichen Woh-
nens. Die Genossenschaften sind diesem Leitbild ver-
pflichtet. Allerdings gibt es eine große Vielfalt und
durchaus eine unterschiedliche Ausprägung, diese Prin-
zipien umzusetzen.
Die lange Geschichte der genossenschaftlichen Idee
und der Wohnungsgenossenschaften verleitet möglicher-
weise dazu, diese Idee und diese Wohnform für traditio-
nell, gleichsam für „verstaubt“ und für „überholt“ zu
halten.
Ich bin davon überzeugt: Genau das Gegenteil ist
richtig. Diese Prinzipien und diese Wohnform sind zu-
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unftsweisend. Wir sind mittendrin im tief greifenden
esellschaftlichen Veränderungsprozess. Die deutliche
eränderung im Altersaufbau unserer Gesellschaft, die
chon eingesetzt hat und sich verstärken wird, der mittel-
ristig einsetzende Rückgang der Bevölkerung und die
uswirkungen der Binnenwanderung, sind die zentrale
erausförderung gerade auch in der Städtebau- und
ohnungspolitik, keineswegs nur in der Sozialpolitik.
Genossenschaften sind Ausdruck bürgerschaftlichen
ngagements. Das Genossenschaftseigentum als dritter
eg zwischen Wohneigentum und Miete verbindet pri-
ates Kapital mit gemeinschaftlichen Projekten. Dies er-
ffnet Chancen, insbesondere für Menschen, die sich in-
ividuelles Wohneigentum nicht leisten können oder
ollen. Als gemeinschaftliche Wohnform hat das genos-
enschaftliche Wohnen auch besondere Potenziale, wenn
s darum geht, Stadtquartiere zu entwickeln, unsere
tädte als soziale Städte zu stabilisieren und zu entwi-
keln.
Beim Verkauf von Wohnungsbeständen ist die Grün-
ung einer Bewohnergenossenschaft eine interessante
öglichkeit der Mieterprivatisierung, für die es bereits
rfolgreiche Beispiele gibt.
Wohnungsgenossenschaften können nicht nur einen
esonderen Beitrag zur sozialen Quartiersentwicklung
eisten. Ich will ausdrücklich nicht damit sagen, dass
icht auch Wohnungsgesellschaften und private Wohnei-
entümer daran mitwirken können, aber von ihrem
elbstverständnis her müsste es für Genossenschaften
ine Selbstverständlichkeit sein.
Die demographische Entwicklung zwingt die Kom-
unen, auch den ländlichen Raum, und natürlich auch
ie Städtebau- und Wohnungspolitik stärker noch als
isher das Wohnen für junge Familien und das Wohnen
m Alter stärker im Blickfeld zu haben. Es sei noch ein-
al ausdrücklich versichert, dass die gleiche Zielsetzung
uch für die anderen Wohnformen, dem Wohnen zur
iete und dem Wohnen im privaten Eigentum gelten.
Der besondere Charakter des gemeinschaftlichen
ohnens und der geringe Anteil von privatem Eigenka-
ital am Erwerb von Genossenschaftsanteilen bieten
ine interessante Alternative für diese Zielgruppen. Eine
eihe von Wohnungsgenossenschaften zeigen bereits
eute erfolgreich, wie solche zukunftsweisenden Wohn-
nd Nachbarschaftsformen aussehen können. Sie zeigen
uch, wie attraktiv dies für viele Menschen ist. Ich nenne
ur ein Beispiel aus meiner ostwestfälischen Heimatre-
ion: die Wohnungsgenossenschaft „Freie Scholle“ in
ielefeld.
Natürlich stellt sich sofort die Frage nach der Förderung.
ls wir 1991 gemeinsam mit der heutigen Opposition das
igenheimzulagegesetz beschlossen haben, haben wir die
örderung des Erwerbs von Genossenschaftsanteilen im
17 a des Eigenheimzulagengesetzes vereinbart. Damit
ar zum ersten Mal diese Förderung möglich, allerdings
ab es in der Umsetzung von Anfang an Schwierigkei-
en, weil eben das private Eigentum und das genossen-
chaftliche Eigentum voneinander getrennt sind, sodass
ier eine Art „Zwitter“ entstand. Mir ist es wichtig fest-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12735
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zuhalten, dass mit der Streichung der Eigenheimzulage
auch dieses zarte Pflänzchen der Genossenschaftsförde-
rung, so problematisch es sein mag, wegfällt. Umso
mehr halte ich es für geboten, dass wir uns mit den ent-
sprechenden Empfehlungen der Expertenkommission
auseinander setzen.
Die Kommission richtet ihre Empfehlungen an die
Wohnungsgenossenschaften selbst und an die Politik
und damit auch an uns, den Bundesgesetzgeber. Die
Wohnungsgenossenschaften haben dies bereits aufge-
griffen, unter anderem der Gesamtverband der Woh-
nungswirtschaft, GdW. Wir begrüßen dies ausdrücklich.
Denn es ist ureigenes Interesse der Wohnungsgenossen-
schaften, ihr genossenschaftliches Leitbild verstärkt in
die Öffentlichkeit zu tragen, die genossenschaftliche
Idee zu revitalisieren, ihre Potenziale durch zukunfts-
weisende Projekte nachzuweisen. Selbsthilfe bzw. ge-
genseitige Hilfe ist gerade auch für die kleinen Genos-
senschaften besonders wichtig. Sie werden es bei einem
sich verschärfenden Wettbewerb auf dem Wohnungs-
markt in der Zukunft nicht leicht haben. Hier ist der Vor-
schlag der Kommission, Dachgenossenschaften zu bil-
den, ein hilfreicher Vorschlag. Die bestehenden
Genossenschaften müssten auch an der Neugründung
von Genossenschaften, vor allem von Bewohnergenos-
senschaften, ein großes Interesse haben, weil neu
gegründete Genossenschaften zur Stärkung der genos-
senschaftlichen Idee beitragen und weil es in der Bevöl-
kerung offensichtlich ein wachsendes Bedürfnis nach
gemeinschaftlichen Wohnformen, besonders für das
Wohnen im Alter, gibt.
Aber auch der Deutsche Bundestag ist gefordert. Mit
unserem Entschließungsantrag greifen wir Empfehlun-
gen der Expertenkommission auf. Wir fordern die Bun-
desregierung auf, eine breite gesellschaftliche Diskus-
sion des individuellen und gesellschaftlichen Nutzens
genossenschaftlichen Wohnens gemeinsam mit den
Kommunen, Wohnungsgenossenschaften und Verbänden
einzuleiten.
Wir wollen, dass durch Modellvorhaben und Pilot-
projekte neue Impulse gegeben werden, um in den Kom-
munen bei der Stadt- und Quartiersentwicklung den
Genossenschaftsgedanken zu stärken, Strukturen zur
Unterstützung kleiner Wohnungsgenossenschaften und
neuer genossenschaftlicher Wohnprojekte zu schaffen.
In diesem Zusammenhang unterstreicht die Experten-
kommission, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen
allenfalls in wenigen kleineren Punkten verändert wer-
den sollten. Die Expertenkommission stellt ausdrücklich
fest, dass sich das deutsche Genossenschaftsgesetz be-
währt hat. Das sehen wir auch so. Dennoch wollen wir,
dass im Rahmen der Modernisierung des Genossen-
schaftsgesetzes auf eine Flexibilisierung und Erleichte-
rung der Gründung von Genossenschaften sowie eine
Verbesserung der Rahmenbedingungen für kleinere Ge-
nossenschaften hingewirkt wird.
Interessant sind auch die Vorschlage der Kommission,
wie das genossenschaftliche Wohnen die staatlich gefor-
derte private Altersvorsorge ergänzen kann. Diese Vor-
schläge gilt es zu prüfen, möglicherweise auch im Rah-
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en der Modellvorhaben. Die Kommission geht davon
us, dass Vorsorgeangebote von Wohnungsgenossen-
chaften dazu beitragen können, die Wohnkostenbelas-
ung im Alter zu reduzieren und kalkulierbar zu machen.
ie Bundesregierung wird daher aufgefordert zu prüfen,
elche Angebote zur privaten Altersvorsorge Woh-
ungsgenossenschaften machen können, um die Wohn-
ostenbelastung im Alter zu reduzieren. An dieser Stelle
ei angemerkt, dass wir die gleiche Frage demnächst in
iner Anhörung des Deutschen Bundestages auch für das
elbst genutzte private Wohneigentum erörtern werden.
Es ist uns gelungen, im Haushalt insgesamt 2,8 Mil-
ionen Euro für diese Modellvorhaben und Pilotprojekte
ereitzustellen.
Mit diesem Entschließungsantrag der Koalition eröff-
en wir die parlamentarische Beratung, die wir dann in
en Ausschüssen intensivieren. Das sind wir nicht nur
er Expertenkommission schuldig, das sind wir auch der
ufgabe schuldig, das genossenschaftliche Wohnen zu
tabilisieren und weiter zu entwickeln.
Auf vielen Veranstaltungen in den letzten Wochen
nd Monaten habe ich, erfahren, dass es ein großes Inte-
esse an diesem Vorhaben gibt, nicht nur bei den Verbän-
en und in der Fachwelt, auch bei vielen interessierten
ürgerinnen und Bürgern. Es mag eine Minderheit sein,
ber dennoch weiß ich von vielen Initiativen, die Vor-
tellungen vom gemeinschaftlichen Wohnen im Alter
aben und dabei an die Organisationsform der Genos-
enschaft denken. Beklagt wird oft, dass es zu wenig Un-
erstützung gibt. Ich weiß von einer Reihe von Initiati-
en, die zum Verkauf gestellte Wohnungsbestände
bernehmen wollen, aber nicht im Privateigentum, son-
ern als Genossenschaft, um ganz bewusst den Zusam-
enhalt in ihrem Quartier zu erhalten und zu stärken.
uch dieses bürgerschaftliche Engagement wollen wir
tützen.
Wir freuen uns auf spannende Diskussionen, die hof-
entlich auch zu konkreten Ergebnissen führen.
Klaus Minkel (CDU/CSU): Über 20 Jahre habe ich
em Aufsichtsrat einer Baugenossenschaft als Vorsitzen-
er oder als stellvertretender Vorsitzender angehört. Da
st es mir eine besondere Freude, heute eine Lanze zu-
unsten der Baugenossenschaften brechen zu dürfen.
Als Ertrag eines über hundertjährigen Wirkens sind
eute 2,1 Millionen Genossenschaftswohnungen vorhan-
en. Diese Zahl kennzeichnet die wahre Leistung der
enossenschaften nur unvollkommen, da in der Vergan-
enheit getreu dem obersten Ziel von Hermann Schulze-
elitzsch auch zahlreiche Eigenheime und Eigentums-
ohnungen entstanden sind. Mit 2,1 Millionen Bestands-
ohnungen sind die Genossenschaften ein wichtiges
oziales Korrektiv, da bei den Genossenschaften in der
egel die soziale Bindung nicht mit dem Ablauf der Bin-
ungsfrist endet.
Der Kommissionsbericht wäre ohne die aktuellen
robleme der Genossenschaften sicher nicht entstanden.
12736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Im Osten haben wir das Leerstands- und Abbruchpro-
blem. Wenn aus dem Aufbau Ost Chefsache wird, kann
daraus leicht Abbruch Ost werden. Im Westen gibt es
auch schon Abbruchprobleme, aber noch mehr Sanie-
rungsprobleme. Die Sozialwohnungen der 50er- und
60er-Jahre sind in der Regel zu klein ausgefallen und
heute nicht mehr marktgerecht.
Soweit wegen der Bestandsgefährdung nach Staats-
hilfe gerufen wird, wird es sicher ohne Staatshilfe nicht
gehen. Es muss aber auch danach gefragt werden, wa-
rum es in vielen guten Jahrzehnten nicht möglich gewe-
sen ist, im Westen einen Solidarfonds aufzubauen. Das
hätte dem genossenschaftlichen Prinzip entsprochen.
Auch beim Bestandserwerb wird nach Staatshilfe ge-
rufen. Es ist ein schwerer Verlust, wie zurzeit öffentli-
ches Vermögen verschleudert wird. Die Wohnungen der
Rentenversicherung sind für 25 000 Euro/Wohnung an
das Ausland verramscht worden, damit die Renten noch
einmal gezahlt werden konnten. Hätten die Genossen-
schaften im Wege der Selbsthilfe eine leistungsfähige
Dachgenossenschaft aufgebaut, hätte der Vermögens-
wert für Deutschland erhalten werden können. Nun wird
das Ausland extrem hohe Renditen erzielen. In Hessen
achtet die Landesregierung immerhin darauf, dass Ge-
nossenschaftswohnungen in Genossenschaftshand blei-
ben.
Im Bericht wird die Verknüpfung von Genossen-
schaftsfinanzierung und Alterssicherung durch. Anteile
oder stille Einlagen vorgeschlagen. Dagegen ist nichts
zu sagen. Der Vorschlag bleibt aber Wunschdenken, so-
lange es an der Dividendenfähigkeit und der Einlagensi-
cherung fehlt. Nur 25 Prozent der Genossenschaften im
Westen, 5 Prozent im Osten schütten Dividenden aus.
Auch ist es nicht nachvollziehbar, dass die Genossen-
schaftswohnungen als kleine, aber feine Nische bei der
Alterssicherung begünstigt werden, nicht aber das Ei-
genheim, die Eigentumswohnung. Hier darf es keine Un-
gleichbehandlung geben.
Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Bericht sehr po-
sitiv zum Eigentum ausspricht. Es ist dann aber wider-
sprüchlich, dass die Eigenheimzulage vollständig aufge-
geben werden soll, damit die soziale Stabilisierung von
Quartieren besser gefördert werden kann. Die beste so-
ziale Stabilisierung erreicht man in Eigenheimquartie-
ren. Auch ist es nicht richtig, selbst auf Kosten anderer
genesen zu wollen nach dem Motto, wenn jeder nur an
sich denkt, ist an alle gedacht. Man würde sich über
80 Prozent der Bevölkerung hinwegsetzen, für die das
Eigenheim das oberste materielle Ziel ist. Mieter sind
mehrheitlich leider verhinderte Eigentümer.
Die Union ist für eine umfassende Stärkung der Ge-
nossenschaftsidee. Die Union ist für eine Stärkung durch
Dachgenossenschaften. Es muss kritisch gefragt werden,
warum es die nicht schon lange gibt. Die Union ist für
die Grundsteuerbefreiung im Verkehr der Genossen-
schaften untereinander, um Fusionen zu erleichtern.
Die Union ist dagegen, dass § 17 Eigenheimzulagen-
gesetz die Genossenschaftsförderung wieder unabhängig
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om Wohnen gewährt. Dafür waren die schwerwiegen-
en Missbräuche zu zahlreich.
Die Union ist für den Förderzweck wirtschaftliche
nd Wohnbelange. Die Union ist gegen ideelle und kul-
urelle Förderzwecke. Die Erfahrungen der Vergangen-
eit sprechen dagegen. Auch ist das Wohnen ein Rück-
ugsbereich des Privaten, der eine Politisierung und
deologisierung nicht verträgt. Wir sind für häuslichen
rieden statt für kulturellen Häuserkampf.
Der Bericht ergibt einen großen Beratungsbedarf. Die
nion freut sich auf die Beratungen im Ausschuss.
Gerhard Wächter (CDU/CSU): Aus den bisherigen
eiträgen meiner Vorredner ist übereinstimmend deut-
ich geworden, dass die Grundidee der Genossenschaf-
en, speziell auch der Wohnungsgenossenschaften, heute
enauso aktuell und modern ist, wie vor mehr als
00 Jahren: das am Eigen- wie auch Gemeinwohl orien-
ierte Prinzip der Selbstverantwortung, Selbsthilfe und
elbstverwaltung.
Gerade in wirtschaftlichen und sozialen Krisenzeiten
üssen wir an unsere Bürgerinnen und Bürger appellie-
en, mehr Selbstverantwortung für sich und andere zu
bernehmen, Selbsthilfe zu mobilisieren, weil der Staat
n die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Wohnungs-
enossenschaften sind ein guter Partner der Politik,
enn es darum geht, für unsere Bürger altersgerechten
nd günstigen Wohnraum zu schaffen. Sie haben sich
ewährt, sie sind eine wichtige Säule des Wohnungs-
arktes.
Wir müssen aber feststellen, dass die Mitgliederzah-
en seit Ende der 90er-Jahre in den alten Bundesländern
tagnieren, in den neuen Bundesländern sogar leicht
inken. Die Frage nach der Zukunft des genossenschaft-
ichen Wohnens ist deshalb wichtig und richtig.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den Bericht der
xpertenkommission. Darin wird dem Modell des ge-
ossenschaftlichen Wohnens grundsätzlich das Potenzial
ingeräumt, auf dem zukünftigen Wohnungsmarkt auch
eiterhin eine wichtige Rolle zu spielen.
Der Bericht beinhaltet durchaus überlegenswerte An-
ätze. Inwieweit die Politik nun dazu beitragen kann, auf
iese Form des Wohnens positiv einzuwirken, wird noch
ingehend zu erörtern sein. Vernünftigen Vorschlägen
tehen wir offen gegenüber.
Sie alle wissen, dass die demographische Entwick-
ung uns in der Städtebau- und Wohnungspolitik vor
roße Herausforderungen stellt. Die Zusammensetzung
nserer Gesellschaft ändert sich, nicht nur in Bezug auf
as Alter.
Eine solche dramatische Veränderung erfordert einen
odernen und facettenreichen Wohnungsmarkt und
tädtebau. Das ist eine große Herausforderung, aber
uch eine große Chance, nicht zuletzt für die Wohnungs-
enossenschaften. Daher stehen wir dem Antrag der
oalitionsfraktionen in den Punkten positiv gegenüber,
n denen es um die Initiierung einer breiten gesellschaft-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12737
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lichen Debatte und Entwürfe von Modellvorhaben und
Projekten geht.
Positiv bewerten wir auch, dass die Bundesregierung
dazu aufgefordert wird, die Einbeziehung von Woh-
nungsgenossenschaften in die Altersvorsorge zu prüfen.
Doch wir mahnen an, diesen Aspekt nicht einseitig zu
betrachten. Die Integration in die Altersvorsorge darf
nicht auf das Modell der Wohnungsgenossenschaften be-
schränkt sein, sondern das Thema Wohnimmobilie als
Bestandteil der Altersvorsorge muss grundsätzlich ange-
gangen werden.
Vorsicht ist geboten, wenn es darum geht, neue För-
derinstrumente ins Leben zu rufen. Ich sage dies im Hin-
blick auf die Forderung, die Sie unter Punkt 5 Ihres An-
trages formulieren, und zwar die Überprüfung der
Empfehlungen der Kommission zu speziellen Förder-
maßnahmen. Das Wort „prüfen“ ist gut, aber die Emp-
fehlungen der Kommission dürfen nicht zu einem
Selbstläufer werden. Deutschlands finanzielle Lage lässt
keine großen Sprünge zu. Im Gegenteil, die Förder- und
Subventionspolitik in Deutschland gehört generell auf
den Prüfstand. Daher muss auch jede Überlegung, neue
Fördermaßnahmen ins Leben zu rufen, auf Herz und
Nieren geprüft werden.
Wenn Förderpolitik unverzichtbar ist, dann muss sie
nicht nur zielgerichtet, sondern auch verlässlich sein.
Unberechenbares Taktieren – wie bei der Eigenheimzu-
lage – zerstört Vertrauen. Umso wichtiger ist es, dass die
staatlichen Rahmenbedingungen verlässlich sind. Und
da habe ich angesichts der bisherigen Erfahrungen mit
der Politik der jetzigen Bundesregierung erhebliche
Zweifel.
So ehrenwert Ihre Ansätze zur Stabilisierung und
Weiterentwicklung von Wohnungsgenossenschaften sind,
sie passen nicht zu Ihrem Verhalten.
Zum einen ziehen Sie neue Fördertatbestände zuguns-
ten der Wohnungsgenossenschaften in Betracht, auf der
anderen Seite stellen Sie mit der immer wieder in Gang
gesetzten Diskussion um die Aufhebung der Eigenheim-
zulage ein erfolgerprobtes Förderinstrument zur Disposi-
tion. Das passt nicht zusammen.
Angesichts dieser Widersprüche kommt der Verdacht
auf, dass Sie eine bestimmte Ziel- bzw. Wählergruppe
bedienen wollen, oder, was noch schlimmer wäre, Sie
haben schlichtweg kein ganzheitliches Konzept, was die
Wohnraumversorgung unserer Bevölkerung in der Zu-
kunft anbelangt.
Ich stelle für meine Fraktion fest: Wohnungsgenos-
senschaften sind sinnvoll, sie sind neben dem privat ge-
nutzten Eigenheim und der Mietwohnung eine wichtige
Säule. Unsere Aufgabe muss es sein, den Wohnungsge-
nossenschaften gewissermaßen Hilfe zur Selbsthilfe zu
geben. Dass heißt, wir müssen die entsprechenden Rah-
menbedingungen schaffen. Rahmenbedingungen, die
den Wohnungsgenossenschaften Freiräume eröffnen, die
sie von zusätzlichen Belastungen befreien und ihnen die
Chance geben, sich aus eigener Kraft, im Wettbewerb
auf dem Wohnungsmarkt zu behaupten.
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Maßvollen Vorschlägen – zum Beispiel zu Änderun-
en im Steuerrecht oder auch Genossenschaftsrecht –
ird sich die Union nicht verschließen. Wir freuen uns
uf intensive und hoffentlich konstruktive Beratungen
m Ausschuss.
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN): Im April dieses Jahres hat die Expertenkom-
ission „Wohnungsgenossenschaften“ ihren Bericht
orgelegt. Mit unserem Antrag möchten wir, Bundes-
agsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD,
as genossenschaftliche Wohnen als dritte tragende
äule, neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnen
m Eigenheim, stärken. Wir setzen uns auf der Grund-
age des Expertenberichts für eine Stabilisierung und
eiterentwicklung des genossenschaftlichen Wohnens
in. Die Empfehlungen der Expertenkommission müs-
en genauestens geprüft und erprobt werden. Das Poten-
ial der Wohnungsgenossenschaften ist noch nicht aus-
eschöpft!
Die genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe,
elbstverwaltung und Selbstverantwortung sind nicht
ur Basis für eine moderne Zivilgesellschaft, sie sind
uch wichtige Stabilisatoren für ein Quartier. Dieses Po-
enzial muss erkannt und von den Kommunen genutzt
erden. In den Wohnungsgenossenschaften wird priva-
es Kapital für gemeinschaftliche Projekte genutzt. Auf-
rund der schlechten Haushaltslage muss es zukünftig
erstärkt zu privaten gemeinnützigen Aufgaben kom-
en. Die Wohnungsgenossenschaften spielen dabei eine
orreiterrolle.
Neben dem gesellschaftlichen Nutzen der Wohnungs-
enossenschaften profitieren auch bestimmte Personen-
ruppen von der nachbarschaftlichen und gemeinschaft-
ichen Wohnform, zu nennen sind vor allem ältere oder
llein stehende Menschen, aber auch Alleinerziehende
der Familien, die auf Hilfe angewiesen sind. Das ge-
ossenschaftliche Wohnen ist sozial und integrativ.
Durch das Dauernutzungsrecht ist das genossenschaft-
che Wohnen eine langfristige und sichere Wohnform mit
oher Qualität. Es vereint die Vorteile des Wohnens zur
iete mit denen des Wohnens im Eigenheim. Als wirt-
chaftliche Miteigentümer des genossenschaftlichen Ge-
einschaftseigentums haben Genossenschaftsmitglieder
itspracherechte und Dauernutzungsrechte. Dadurch be-
teht Schutz vor Verdrängung und Kündigung. Zur Stabi-
sierung und Weiterentwicklung des genossenschaftli-
hen Wohnens fordern wir die Bundesregierung auf:
Erstens. Eine breite gesellschaftliche Diskussion des
ndividuellen und gesellschaftlichen Nutzens genossen-
chaftlichen Wohnens zu initiieren. Dazu müssen Kom-
unen, Wohnungsgenossenschaften und Verbände ins
oot geholt werden.
Zweitens. Durch Modellvorhaben und Pilotprojekte
ollen neue Impulse für das genossenschaftliche Wohnen
egeben werden. Der Genossenschaftsgedanke muss bei
en Kommunen in der Stadt- und Quartiersentwicklung
estärkt werden. Das genossenschaftliche Wohnen muss
ür neue Bewohnergruppen attraktiv gemacht werden.
12738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Ebenso sollen eine private Altersvorsorge, in und mit
Genossenschaften entwickelt werden.
Drittens. Best-Practice-Beispiele und Arbeitshinweise
sollen den Ländern, Kommunen, Verbänden und der in-
teressierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wer-
den.
Viertens. Das genossenschaftliche Wohnen muss mit
den bisherigen Instrumenten der staatlich geförderten
privaten Altersvorsorge verbunden werden.
Fünftens. Die Modernisierung des Genossenschaftsge-
setzes muss auf eine Flexibilisierung und Erleichterung
der Gründung von Genossenschaften sowie Verbesserung
der Rahmenbedingungen für kleine Genossenschaften
zielen.
Sechstens. Strukturen zur Unterstützung kleiner
Wohngenossenschaften und Dachgenossenschaften müs-
sen geschaffen werden.
Wir hoffen auf breite Unterstützung unseres Antrages.
Eberhard Otto (Godern) (FDP): Seit mehr als
100 Jahren sind die deutschen Wohnungsgenossenschaf-
ten ein wichtiger Anbieter von preiswertem Wohnraum.
Sie bieten unter anderem Wohnsicherheit, günstige Nut-
zungsentgelte und neben der reinen Wohnraumversor-
gung verfolgen sie auch freiheitliche Prinzipien wie das
Identitätsprinzip, die Selbsthilfe, die Selbstverwaltung
und die Selbstverantwortung.
Gerade in den neuen Bundesländern hat dieses eine
besondere Bedeutung; Wohnungsgenossenschaften ver-
hindern so unter anderem zumindest teilweise eine noch
stärkere Abwanderung. Demnach ist die Stärkung der
Wohnungsgenossenschaften als eine Säule der Woh-
nungsversorgung grundsätzlich zu begrüßen.
Die FDP vertritt ein liberales Leitbild zur Wohnungs-
politik, das von dem Obersatz „Durch mehr Markt zu ei-
ner besseren, effizienteren und differenzierteren Woh-
nungsversorgung“ geprägt ist. Wir wollen deshalb, dass
möglichst viele Menschen in den eigenen vier Wänden
wohnen und der Rest durch den Markt versorgt wird, der
aus einer Vielzahl von Unternehmen und aus wohnungs-
politischer Vielfalt besteht.
Die FDP steht für Eigentum. Dazu zählt für uns aus-
drücklich auch genossenschaftliches Eigentum, wenn
die Eigentumsmerkmale ausreichend gewahrt sind. Das
heißt: Durch den Erwerb von Genossenschaftsanteilen
muss echtes Eigentum entstehen. Eine Grundeigenschaft
von echtem Eigentum ist es, dass es auch vererbt werden
kann.
In der genossenschaftlichen Wohnform kann über Ge-
nerationen Vermögen akkumuliert werden. Jedoch ist
nach § 77 Genossenschaftsgesetz die Mitgliedschaft
nicht voll vererbbar.
Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf, um
die fortlaufende Vermögensbildung abzusichern.
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Die Genossenschaften verfügen über einen umfang-
eichen Bestand an Genossenschaftswohnungen. Dieser
uss auf seine Attraktivität für die Nutzer und seine Ver-
arktung hin untersucht werden, bevor weiter neu ge-
aut wird. Das heißt, in rückläufigen Märkten – über
0 Prozent der Wohnungsgenossenschaften in den neuen
undesländern sind von Wohnungsleerstand betroffen –
ind auch Bestandsverringerungen zur wirtschaftlichen
tabilisierung notwendig.
nlage 5
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weite-
rer Gesetze (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Dr. Max Stadler (FDP): Es kommt sicher nicht alle
age vor, dass ein Gesetz, das noch gar nicht in Kraft ge-
reten ist, bereits wieder korrigiert werden muss. So ge-
ehen ist es kein Ruhmesblatt für den Gesetzgeber, wenn
enige Monate nach Verabschiedung des Zuwande-
ungskompromisses schon wieder ein erstes Reparatur-
esetz im Bundestag beraten und beschlossen werden
uss. Allerdings muss zur Entschuldigung aller Betei-
igten gesagt werden, dass die meisten Änderungen da-
urch veranlasst worden sind, dass zwischenzeitlich zu
nderen Materien Gesetzesbeschlüsse gefasst worden
ind, an die das am 1. Januar 2005 in Kraft tretende Auf-
nthaltsgesetz mit Nebenmaterien nunmehr angepasst
erden muss.
Demgemäß handelt es sich um eine ziemlich unüber-
ichtliche Vielzahl von redaktionellen Änderungen und
ngleichungen an andere Gesetze, die im Wesentlichen
wischen den Fraktionen des Bundestages unstrittig
ind. Gerade wegen der Kompliziertheit der Materie
äre es aber angebracht gewesen, die Ausschussbera-
ungen erst nach einem Berichterstattergespräch zwi-
chen den Regierungs- und den Oppositionsfraktionen
bzuschließen. Stattdessen hat die rot-grüne Koalition
ieder einmal gezeigt, dass sie intern oft große Pro-
leme hat, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
och bis Dienstag dieser Woche, also in letzter Minute,
ind von der rot-grünen Koalition Änderungsanträge
orgelegt worden. Da der Zuwanderungskompromiss am
nde einvernehmlich vereinbart worden war, wäre es
uch anzustreben gewesen, über das erste Änderungsge-
etz Konsens zwischen den Fraktionen zu erzielen. Auf-
rund des Zeitdrucks, den die Koalition selbst zu verant-
orten hat, hat sie dann aber den Oppositionsfraktionen
ine Berichterstatterrunde zur intensiven Beratung ver-
eigert.
Dennoch stimmt die FDP-Bundestagsfraktion dem
nderungsgesetz zu, weil die vorgelegten Regelungen
urchaus sachgerecht sind. Dies gilt sowohl für die Er-
ichtung einer Fundpapierdatenbank beim Bundesver-
altungsamt, mit der der Missbrauch, dass Ausländer
ich bewusst ihrer Ausweispapiere entledigen, um einer
ückführung zu entgehen, bekämpft werden soll, als
uch für die Neuregelung, traumatisierten Personen me-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12739
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(B) )
dizinische Hilfe zukommen zu lassen. Es ist für die FDP
nicht recht verständlich, warum die CDU/CSU-Fraktion
im Innenausschuss diese letztere Maßnahme kritisiert
hat. Denn für die Hilfeleistungen gegenüber Traumati-
sierten existiert eine EU-Richtlinie, zu deren Umsetzung
in nationales Recht die Bundesrepublik Deutschland ver-
pflichtet ist. Es spricht daher nichts dagegen, diese ohne-
hin notwendige Umsetzung der Richtlinie gleich im Än-
derungsgesetz zum Aufenthaltsgesetz vorzunehmen.
Die FDP kann sich auch der Kritik der CDU/CSU-
Fraktion an einer Klarstellung im Bereich der Flücht-
linge nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht an-
schließen. Diese Flüchtlinge erhalten nach drei Jahren
eine Niederlassungserlaubnis, wenn ihnen vom Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge mitgeteilt wurde, dass
die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rück-
nahme der Anerkennung nicht vorliegen. Die Neurege-
lung fingiert jetzt diese Mitteilung für diejenigen Aus-
länder, die vor dem 1. Januar 2005 seit mehr als drei
Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitzen. Damit wird
unnötiger Verwaltungsaufwand vermieden. Denn ohne
diese Klarstellung wäre das Bundesamt unter den zeitli-
chen Druck geraten, in den verbleibenden Wochen des
Jahres 2004 zahlreiche Einzelfälle zu prüfen und über
die Mitteilung, dass keine Widerrufs- oder Rücknahme-
gründe vorliegen, zu entscheiden.
Eine ungerechtfertigte Bevorzugung ist mit der nun
vorgesehenen gesetzlichen Fiktion nicht verbunden. So-
bald nämlich im Einzelfall Anhaltspunkte dafür vorlie-
gen, dass der Flüchtlingsstatus zu widerrufen oder zu-
rückzunehmen sei, hat das Bundesamt nach wie vor das
Recht, gemäß § 73 des Asylverfahrensgesetzes die Aner-
kennung nach Ermessen wieder zu beseitigen. Also eig-
net sich dieser Punkt nach Meinung der FDP ebenso we-
nig für einen neuen politischen Streit in der
Migrationsdebatte wie die vorgesehene Neuregelung,
dass der Anspruch auf Teilnahme an Integrationskursen
auch für die im Jahr 2004 anerkannten Asylbewerber
gelten soll.
Somit bleibt von denjenigen Punkten, die im Innen-
ausschuss zu einer langen Debatte geführt haben, aus
Sicht der FDP nur die Frage nach einer Altfallregelung
übrig. Dass gerade darüber am längsten gesprochen
wurde, ist etwas eigenartig, weil das heute zu beschlie-
ßende Gesetz eine solche Bleiberechtsregelung für lange
in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig lebende
Ausländer gar nicht vorsieht Vielmehr handelt es sich
um eine Frage, die im Rahmen des Zuwanderungskom-
promisses nicht gelöst werden konnte, weil die CDU/
CSU zu einer Altfallregelung nicht bereit war. Ohne Zu-
stimmung der Union kann sie auch jetzt nicht eingeführt
werden. Aus Sicht der FDP wäre sie aber dennoch
zweckmäßig, so wie sie auch vom Ausschuss für Men-
schenrechte gefordert worden ist. Die praktische Erfah-
rung lehrt, dass die Gründe für einen schon längeren
Aufenthalt ohne gesicherten rechtlichen Status vielfältig
sind. Keineswegs liegt immer ein Verschulden der Asyl-
bewerber oder eine bewusste Ausnutzung von Möglich-
keiten zur Verfahrensgestaltung vor.
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Immer dann, wenn die Betroffenen nicht selbst zu
ertreten haben, dass nach langen Jahren über ihren wei-
eren Verbleib keine endgültige Entscheidung getroffen
orden ist, wäre es aber richtig, auf den erreichten Stand
er Integration in Deutschland abzustellen. Jeder von
ns hat immer wieder mit Petitionen zu tun, mit denen
anze Dorfgemeinschaften, die Kirchen, Arbeitgeber
nd Sportvereine uns mitteilen, dass gerade der seit zehn
der zwölf Jahren in Deutschland aufhältliche Auslän-
er, der jetzt doch noch abgeschoben werden soll, bes-
ens sozial und gesellschaftlich integriert sei. Mit einer
innvollen Altfallregelung, die nicht etwa Gesetzesver-
töße belohnt, aber erreichte Integration anerkennt,
önnte hier durch den Gesetzgeber geholfen werden.
Solange diese Position, die von der FDP auch in den
erhandlungen zum Zuwanderungsgesetz klar vertreten
orden ist, mit der CDU/CSU nicht gemeinsam zu ver-
inbaren ist, muss man sich mit der Regelung für Härte-
älle aus dem Zuwanderungskompromiss behelfen. Wie
ie Länder, in deren Ermessen es übrigens liegt, ob sie
berhaupt Härtefallkommissionen einrichten, diese
öglichkeit praktizieren werden, muss man erst noch
bwarten. Manche Vorstellungen bei den Zuwande-
ungsverhandlungen gingen ja dahin, Härtefälle ledig-
ich bei schwerer Krankheit oder ähnlichen persönlichen
chicksalen anzunehmen. Die FDP meint, dass eine pra-
isgerechte Anwendung zumindest auch einen Teil der
o genannten Altfälle einbeziehen müsste.
Da aber dieser Streitpunkt gar nicht Inhalt des heute
u beschließenden Gesetzes ist, besteht kein Anlass zu
iner aufgeregten Diskussion. Die Migrationspolitik in
eutschland hat mit dem Zuwanderungsgesetz eine neue
ualität erreicht. Nach den heute zu beschließenden re-
aktionellen Änderungen, Anpassungen und geringfügi-
en Ergänzungen sollte jetzt die Praxis eine faire Chance
rhalten, die Bestimmungen des Zuwanderungsgesetzes
innvoll anzuwenden.
nlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Scheinvaterschaften
wirksam bekämpfen (Tagesordnungspunkt 11)
Gabriele Fograscher (SPD): Wir diskutieren heute
ber einen Antrag der CDU/CSU, der ein Thema auf-
reift, das auf den ersten Blick Unverständnis hervorruft.
eder kennt den Begriff der Scheinehe zur Erlangung un-
efristeter Aufenthaltstitel. Diese ist in Deutschland ver-
oten und strafbewehrt. Doch was ist eine Scheinvater-
chaft und welche Ziele werden verfolgt?
Bei einer Scheinvaterschaft erkennt ein deutscher
ann ein ausländisches Kind als leibliches Kind an, das
amit die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, und des-
en Mutter, die meist einen ungesicherten Aufenthalts-
tatus hat, erlangt dann zur Ausübung der Personensorge
inen unbefristeten Aufenthaltstitel. Oder aber: Ein aus-
ändischer ausreisepflichtiger Mann erkennt die Vater-
chaft eines deutschen Kindes an und bekommt dadurch
12740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Mit dem unbefriste-
ten Aufenthaltstitel steht in Deutschland auch der Zu-
gang in die Sozialsysteme offen. In dem vorliegenden
Antrag wird unterstellt, dass gezielt der Kontakt zwi-
schen Mutter und möglichem Vater, der Sozialhilfeemp-
fänger ist, hergestellt wird. Dem anerkennenden Vater
würden aufgrund seiner Bedürftigkeit keine Unterhalts-
kosten entstehen.
Natürlich ist es völlig legal, wenn die Vaterschaft ei-
nes leiblichen Kindes anerkannt wird und daraus für die
Mutter oder den Vater ein unbefristetes Bleiberecht in
Deutschland resultiert. Doch in den Fällen der Scheinva-
terschaft ist der anerkennende Vater nicht der biologi-
sche Vater und er hat kein Interesse an dem Kind und der
Mutter; es wird kein Vater-Kind-Verhältnis angestrebt.
Die Union erklärt nun in ihrem Antrag, es hätte in
Deutschland von Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004
1 694 Verdachtsfälle des Leistungsmissbrauchs und der
Erschleichung von Aufenthaltstiteln durch Scheinvater-
schaften gegeben. Damit wird ein Teil der Bevölkerung
unter Generalverdacht genommen, denn es ist nicht gesi-
chert, ob es sich bei diesen Zahlen wirklich um Schein-
vaterschaften handelt oder die anerkennenden Väter
nicht doch die biologischen Väter sind Väter bzw. Müt-
ter mit ungesichertem Aufenthaltstitel sind nicht auto-
matisch alles Fälle für Scheinvaterschaften, die Leis-
tungsmissbrauch im Hinterkopf haben. Auf dieser
ungesicherten Datenlage ist ein derart massiver Eingriff
in das seit 1998 geltende neue Kindschaftsrecht, wie ihn
die CDU/CSU fordert, nicht vertretbar.
Es ist unstrittig: Das Kindeswohl und die Rechte des
Kindes stehen im Vordergrund und müssen geschützt
werden. Das Kind hat das Recht auf Abstammung und
Umgang mit den leiblichen Eltern und auch dem rechtli-
chen Vater. Das Kindschaftsrecht soll weder rückgängig
gemacht noch ausgehebelt werden. Eine Rückkehr zur
Amtspflegschaft, die automatisch alle alleinstehenden
Mütter betraf, ist für uns ausgeschlossen. Für uns ist es
allerdings auch nicht hinnehmbar, dass mit der Notlage
von Müttern mit kleinen Kindern Geschäfte gemacht
werden. Es ist kriminell, wenn Menschen sich darauf
spezialisieren, schwangere Frauen oder junge Mütter an
potenzielle Väter zu vermitteln. Hierbei handelt es sich
um organisierte Kriminalität, die es zu bekämpfen gilt.
Die Unionsfraktion schlägt vor, sich an dem Schwei-
zer Modell, dem § 260 a des Zivilgesetzbuches, zu
orientieren, sodass die Vaterschaft, die als Scheinvater-
schaft vermutet wird, angefochten werden kann. Im
Schweizer Recht heißt es – ich zitiere: „Die Anerken-
nung kann von jedermann, der ein Interesse hat, bei Ge-
richt angefochten werden, …“ Ich glaube, diese Rege-
lung geht zu weit und greift auch zu weit in die
Persönlichkeitsrechte der Mutter und gegebenenfalls
auch des Vaters ein, insbesondere wenn nur ein vager
Verdacht besteht.
Sicherlich ist das Ziel, Scheinvaterschaften als krimi-
nelle Handlung zu bekämpfen, richtig. Doch ein Schnell-
schuss, wie die CDU/CSU ihn fordert, ist ganz bestimmt
nicht die richtige Lösung dieses Problems.
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Wir werden aber bei diesem Problem nicht untätig
leiben und nur zuschauen. Bereits die Innenminister-
onferenz hat sich in diesem Jahr schon mit diesem
hema befasst und wird es bei ihrer nächsten Sitzung er-
eut tun. Auch die Justizminister, Jugendminister, Ar-
eits- und Sozialminister befassen sich mit diesem Sach-
erhalt.
Wichtigste Voraussetzung, um hier als Gesetzgeber
ätig zu werden, ist eine gesicherte Datenlage. Die haben
ir bisher nicht, es gibt nur Vermutungen. Das muss sich
ndern. Deshalb müssen wir die Jugendämter, Sozial-
mter und Ausländerbehörden für diesen Sachverhalt
ensibilisieren. Auch müssen die Behörden die Instru-
ente, die ihnen bereits heute zur Verfügung stehen, wie
um Beispiel der teilweise Entzug der Vormundschaft
on der Mutter bei Gefährdung des Kindeswohls, aus-
chöpfen.
Zunächst muss klar sein, in welchem Umfang durch
cheinvaterschaften Sozialleistungen und Aufenthalts-
itel erschlichen werden. Dann hat der Gesetzgeber zu
rüfen, ob die vorhandenen rechtsstaatlichen Instru-
ente ausreichen oder ob diese durch Neuregelungen er-
änzt werden müssen.
Christine Lambrecht (SPD): Der Antrag der CDU/
SU mit dem Titel „Scheinvaterschaften wirksam be-
ämpfen“ richtet sich gegen missbräuchliche Vater-
chaftsanerkennung. Hintergrund ist folgender: Das
ind einer ausländischen Mutter und eines deutschen
aters erwirbt, abgeleitet vom Vater, die deutsche Staats-
ngehörigkeit. Damit die Mutter mit ihrem deutschen
ind in Deutschland leben kann, erhält sie, wenn sie die
orge für das Kind ausübt, eine Aufenthaltserlaubnis.
In dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion heißt es, dass
ich bundesweit die Fälle häufen, in denen Vaterschaften
ur mit dem Ziel anerkannt werden, der ausländischen
utter eine solche Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen.
enn diese Annahme zutreffend ist, müssen wir sie sehr
rnst nehmen. Einer zunehmenden Praxis, in der „fal-
che“ Vaterschaftsanerkenntnisse allein wegen des aus-
änderrechtlichen Vorteils abgegeben werden, müssten
ir entgegentreten. Dies wäre ausländerpolitisch nicht
kzeptabel und auch die Interessen des Kindes würden
ernachlässigt. Zwar kann es für das Kind in materieller
insicht günstig sein, mit der Mutter in Deutschland
erbleiben zu können. Die an sich wünschenswerte Va-
er-Kind-Beziehung wird jedoch zu einem Mann, der
eine Beziehung zu der Mutter und auch kein Interesse
n dem Kind hat, in der Regel nicht aufgebaut werden
önnen. Gleichwohl möchte ich davor warnen, jetzt so-
leich nach einer Gesetzesänderung im Abstammungs-
echt zu rufen. Ein „Schnellschuss“ kann hier mehr
achteile als Vorteile bringen.
Zunächst sind die Wertentscheidungen der Kind-
chaftsrechtsreform von 1998 zu berücksichtigen, die
amals in einem breiten fraktionsübergreifenden Kon-
ens beschlossen wurde. Die Kindschaftsrechtsreform
at ganz bewusst die Rechtsstellung und die Verantwor-
ung der Mutter eines nicht ehelich geborenen Kindes
estärkt. Die bisherige „Bevormundung“ der Mutter
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durch die Amtspflegschaft wurde abgeschafft. Seitdem
setzt eine wirksame Vaterschaftsanerkennung nicht mehr
die Zustimmung des Amtspflegers, sondern die der Mut-
ter voraus. Ebenso wie bei ehelichen Kindern, für die
eine Vaterschaftsvermutung zugunsten des Ehemannes
gilt, nimmt das Gesetz damit auch hier Scheinvater-
schaften in Kauf. Auf diese Weise wird ermöglicht, dass
derjenige, der die soziale Vaterschaft für ein Kind über-
nimmt, in der Regel auch rechtlicher Vater des Kindes
sein kann. Ein Recht zur Anfechtung der Vaterschaft
steht nur dem rechtlichen Vater, der Mutter, dem Kind
und unter begrenzten Voraussetzungen auch dem biolo-
gischen Vater zu. Ein Anfechtungsrecht einer Behörde
kennt das Gesetz bisher nicht. Führte man es ein, wäre
dies ein Schritt zurück zur alten Amtspflegschaft und der
damit verbundenen „Bevormundung“ der Mutter.
Bei der Abfassung der Voraussetzungen eines behörd-
lichen Anfechtungsrechts müsste man zudem äußerst
sensibel vorgehen. Eine Regelung, die, wie von der
CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, darauf abstellt, dass
die Vaterschaft „ausschließlich zur Erlangung von Auf-
enthaltstiteln und Sozialleistungen“ anerkannt wird,
kann leicht als diskriminierend empfunden werden. Sie
würde allein Ausländer bzw. Ausländerinnen treffen.
Man könnte daher daran denken, die Missbrauchsrege-
lung weiter, also nicht auf den ausländerrechtlichen
Missbrauch beschränkt, zu fassen. Eine solche weit ge-
fasste Regelung würde jedoch noch stärker mit den In-
tentionen der Kindschaftsrechtsreform kollidieren.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, ei-
nen genauen Blick auf die Zahlen zu werfen, mit denen
der gesetzgeberische Handlungsbedarf begründet wird.
Die Zahl von 1 694 Verdachtsfällen von Frühjahr 2003
bis Frühjahr 2004 entnimmt der CDU/CSU-Antrag,
ohne die Quelle zu nennen, einem Bericht des Arbeits-
kreises I der Innenministerkonferenz vom Oktober 2004.
Es handelt sich um die Zahl der Fälle, in denen eine aus-
ländische Mutter ausreisepflichtig war und ein deutscher
Mann oder ein ausländischer Mann mit gesichertem
Aufenthaltsstatus die Vaterschaft ihres nicht ehelichen
Kindes anerkannt hat.
Man hat damit nur erhoben, wie häufig eine zunächst
ausreisepflichtige Frau durch eine Vaterschaftsanerken-
nung ihres Kindes eine Aufenthaltsgenehmigung erhal-
ten hat. Zu der Frage, ob diese Vaterschaftsanerkennt-
nisse missbräuchlich waren, weil der Mann nicht der
leibliche Vater des Kindes ist und auch kein soziales Va-
ter-Kind-Verhältnis angestrebt wird, konnten die befrag-
ten Ausländerbehörden keine Angaben machen.
Der Bericht des Arbeitskreises der Innenministerkon-
ferenz wertet die Zahl daher selbst nur als „Indiz“ dafür,
dass es eine nicht unerhebliche Zahl von Missbrauchs-
fällen gäbe. Auf einer derart unsicheren Tatsachengrund-
lage kann man guten Gewissens keine Gesetze erlassen.
Dies gilt insbesondere, wenn es – wie hier – um Rege-
lungen geht, die speziell unsere ausländischen Mitbürge-
rinnen und -bürger betreffen. Wer sich hier nicht des
Vorwurfs der Diskriminierung aussetzen will, muss
seine Gesetzesänderungen sorgfältig und mit belastbaren
Zahlen begründen.
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Wir sollten in der Folgezeit gemeinsam darüber
achdenken, wie wir die Datenlage verbessern können.
innvoll sein könnte hier etwa eine Befragung in Ju-
endämtern, die im Rahmen ihrer Aufgabe zur Beratung
nd Unterstützung von Müttern häufig mehr über deren
amiliäre Situation erfahren als die Ausländerbehörden.
Einen rechtlichen Ansatzpunkt, um den geschilderten
issbräuchlichen Vaterschaftsanerkenntnissen entge-
enzuwirken, könnte § 1629 Abs. 2 Satz 3 BGB bieten,
onach das Familiengericht dem gesetzlichen Vertreter
ines Kindes nach Maßgabe des § 1796 BGB die Vertre-
ungsbefugnis entziehen kann. Nach § 1796 Abs. 1 BGB
st die Entziehung der Vertretungsbefugnis für einzelne
ngelegenheiten oder einen bestimmten Kreis von An-
elegenheiten möglich. Dass der Entzug der Vertre-
ungsmacht bezüglich der Feststellung der Vaterschaft
usgeschlossen ist, steht einer Beschränkung der Vertre-
ungsmacht zur Vaterschaftsanfechtung nicht entgegen.
Zugleich mit der Beschränkung der Vertretungsmacht
er Mutter muss dann das Familiengericht einen Ergän-
ungspfleger gemäß § 1909 BGB bestellen, dem hinsicht-
ch der Frage der Vaterschaftsanfechtung bzw. -feststel-
ng die elterliche Sorge übertragen wird. Der
rgänzungspfleger ist dann als insoweit für das Kind tä-
ig werdender gesetzlicher Vertreter berechtigt, dessen
igenes Vaterschaftsanfechtungsrecht – § 1600 BGB –
uszuüben und die Vaterschaft anzufechten. Dieser Er-
änzungspfleger kann somit dann in der zweiten Stufe
in entsprechendes gerichtliches Verfahren einleiten.
Eine Vaterschaftsanfechtung durch einen gesetzlichen
ertreter des Kindes ist gemäß § 1600 a Abs. 4 BGB nur
ulässig, wenn sie dem Wohl des Vertretenen, also des
indes, dient. Hier muss das zuständige Gericht neben
en allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Va-
erschaftsanfechtungsverfahrens als weitere Sachent-
cheidungsvoraussetzung eine Kindeswohlprüfung vor-
ehmen.
Ein familiengerichtliches Verfahren auf Beschrän-
ung der Vertretungsmacht der Mutter setzt keinen förm-
ichen Antrag voraus. Es handelt sich hier um ein nach
aßgabe der §§ 621 Abs. 1 Nr. 1, 621 a Abs. 1 ZPO ge-
egeltes Verfahren, für welches grundsätzlich die Vor-
chriften des FGG Anwendung finden. Ein förmlicher
ntrag ist nicht Verfahrensvoraussetzung. Es genügt da-
er eine formlose Anregung, welche auch von einer Be-
örde, zum Beispiel der Staatsangehörigkeits-, Auslän-
er- oder auch Sozialhilfebehörde, gegeben werden
ann. Schon aus praktischen Erwägungen erscheint al-
erdings eine Koordination einer solchen Anregung mit
em örtlich zuständigen Jugendamt sinnvoll.
Es sollten daher zunächst die Möglichkeiten des gel-
enden Rechts ausgelotet werden, um gegen Vater-
chaftsanerkenntnisse, die nur das Ziel haben, der Mutter
es Kindes einen gesicherten Aufenthaltsstatus und un-
er Umständen verstärkte Ansprüche nach sozialen Leis-
ungsgesetzen zu verschaffen, vorzugehen.
Über die Möglichkeiten könnte durch entsprechende
nformation der in Betracht kommenden Behörden
Staatsangehörigkeits-, Ausländer- und Sozialbehörden
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sowie Jugendämtern – Zusammenarbeit mit den zustän-
digen Stellen der Länder abgeholfen werden. Die sach-
nahen örtlichen Behörden könnten dann in einschlägigen
Fällen gerichtliche Verfahren anregen. Bevor Gesetzes-
änderungen erwogen werden, sollte erst beobachtet wer-
den, wie seitens der Gerichte auf solche Anregungen re-
agiert wird.
Roland Gewalt (CDU/CSU): Die Gesetzeslücke im
deutschen Kindschaftsrecht, über die wir hier heute re-
den, ist groß wie ein Scheunentor. Sie ermöglicht es in
einer Vielzahl von Fällen, dass über die Anerkennung ei-
ner nicht gegebenen Vaterschaft Mutter und Kind ein
dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland und umfas-
sende Sozialhilfeansprüche erlangen. Umgekehrt kön-
nen auch ausländische Männer Aufenthaltsrecht und So-
zialhilfeansprüche durch eine zum Schein erklärte
Anerkennung der Vaterschaft bekommen.
Das Problem ist keineswegs neu. Seit drei Jahren ha-
ben Parlamentarier der Union auf Landes- und auf Bun-
desebene immer wieder auf dieses Einfallstor hingewie-
sen. Bis heute hat die Bundesregierung nicht einmal im
Ansatz versucht, die Lücke zu schließen.
Lassen Sie mich von Fällen erzählen, wie sie sich in
Berlin zugetragen haben, von Fällen, die die Problematik
in ihrem ganzen Ausmaß dokumentieren:
Gut organisierte Banden vermitteln ausländischen
Frauen, die zur Ausreise verpflichtet sind, einen deut-
schen Staatsangehörigen, der die Vaterschaft für das
Kind der Frau anerkennt. Dabei ist der Deutsche regel-
mäßig Sozialhilfeempfänger und er ist weder der biolo-
gische Vater noch hat er irgendeine soziale Beziehung zu
dem Kind. Der wirkliche Vater lebt weiter mit Mutter
und Kind ganz offen zusammen. Ändern tut sich nach
der zum Schein erfolgten Anerkennung der Vaterschaft
durch einen Dritten nur eines: Das Kind erhält die deut-
sche Staatsangehörigkeit; die Mutter ein dauerhaftes
Aufenthaltsrecht und die ganze Familie, also auch die
Geschwister des von dem Deutschen anerkannten Kin-
des, erlangt umfassende Sozialhilfeansprüche. Wie ge-
sagt, es wird nichts verheimlicht. Die ausländische Fa-
milie lebt mit dem wirklichen Vater weiter, als sei nichts
geschehen, denn die Anerkennung der Vaterschaft durch
einen Dritten zum Schein ist nach deutschem Recht völ-
lig legal.
Das Ganze wird mittlerweile perfekt organisiert. In
Berlin sind den Behörden Fälle bekannt, bei denen ein
deutscher Sozialhilfeempfänger bis zu sechs Kinder ver-
schiedener ausreisepflichtiger Frauen anerkannt hat. Da-
bei fällt es denjenigen, die die Vaterschaftsanerkennung
organisieren, nicht besonders schwer, Männer zu finden,
die sich dazu bereit erklären. Sie selbst sind ja Sozialhil-
feempfänger und deshalb keinerlei Unterhaltsansprü-
chen ausgesetzt. Im Gegenteil: Die Ausländerfamilie
verschafft dem deutschen Scheinvater einen lukrativen
Nebenverdienst. Es ist in Berlin mittlerweile kein Ge-
heimnis, dass es hierfür regelrechte Tarife gibt. Um die
5 000 Euro liegt der Lohn für den Scheinvater.
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Die Innenministerien der Länder haben mittlerweile
rmittelt, um welche Größenordnung es sich hier bei den
issbrauchsfällen in Deutschland handelt. Die ermittel-
en Zahlen sind auch der Bundesregierung seit langem
ekannt. Zwischen Frühjahr 2003 und Frühjahr 2004 hat
an l 694 konkrete Verdachtsfälle ermittelt. Besonders
chwer betroffen sind Nordrhein-Westfalen mit 398 Fäl-
en, Brandenburg mit 207, Niedersachsen mit 183 und
ayern mit 112 Fällen.
Weshalb die Bundesregierung dennoch bisher nichts
nternommen, hat, ist für mich unbegreiflich. Bereits in
er letzten Legislaturperiode hat mein Berliner Kollege
elias eine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung
erichtet. Die damalige Staatssekretärin im Bundesin-
enministerium, die Kollegin Sonntag-Wolgast, hat da-
als in ihrer Antwort vom 12. April 2001 die Situation
n unverantwortlicher Art und Weise heruntergespielt. Es
eien nur vereinzelt Missbrauchsfälle vorgekommen.
ie einzige Konsequenz, die die damalige Staatssekretä-
in zu ziehen bereit war: Man werde die Entwicklung
orgfältig beobachten. Eine schöne Umschreibung dafür,
ichts zu tun. Unmittelbar nach dieser Antwort der Bun-
esregierung hat die Berliner Senatsverwaltung für Inne-
es an das Bundesinnenministerium gemeldet, dass es
ntgegen der Auffassung der Bundesregierung ein mas-
ives Auftreten des Missbrauchs des Kindschaftsrechts
ebe. Ein Alarmbrief des damaligen Staatssekretärs in
er Senatsinnenverwaltung Diwel, heute Staatssekretär
m Bundesinnenministerium, geriet damals über den
Focus“ an die Öffentlichkeit. Die Bundesregierung war
lso über den Umfang des Missbrauchs der Vater-
chaftsanerkennung von Anfang an umfassend infor-
iert. Geschehen ist nichts.
Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute
it einem Thema, das sensibel, aber auch brisant ist. Es
st nicht ganz neu. Die Entwicklung zeigt aber mittler-
eile, dass ein Handeln des Gesetzgebers geboten ist.
Um Aufenthaltsrechte und auch staatliche Leistungen
n Deutschland zu erlangen, ist offenbar inzwischen je-
es Mittel Recht. Bislang wurden dazu in der Regel vor-
ehmlich Scheinehen geschlossen. Die Eheschließung
ines Ausländers oder einer Ausländerin mit einem oder
iner Deutschen erfolgte lediglich auf dem Papier. Das
ingehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft war nie
eplant. Zweck war allein, durch die Eheschließung ei-
en gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland zu er-
angen.
Der Gesetzgeber hat hierauf reagiert und Regelungen
ber die Behandlung von Scheinehen in das Familien-
echt aufgenommen. Darüber hinaus ist das Eingehen ei-
er Scheinehe sowie die Vermittlung nach § 92 a AuslG
trafbar.
Schnell hat sich leider eine neue Gesetzeslücke aufge-
an. Sie wird auch schamlos ausgenutzt: Ausländerinnen
hne Bleibe- oder Aufenthaltsrecht betrügen den Staat
amit, dass sie in der Regel von Sozialhilfeempfängern
ie Vaterschaft ihres Kindes anerkennen lassen. In ande-
en Fällen erkennen Ausländer ohne Bleibe- oder Auf-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12743
(A) )
(B) )
enthaltsrecht in Deutschland das Kind einer deutschen
Frau an.
In beiden Fällen besteht keinerlei Verbindung zwi-
schen der Frau und dem Mann. Zwischen dem Vater und
dem Kind ist weder eine biologische noch eine soziale
Beziehung vorhanden. Trotzdem erwirbt das Kind mit
der rechtlichen Anerkennung der Vaterschaft bei einer
ausländischen Frau die deutsche Staatsangehörigkeit.
Damit dürfen alle Angehörigen des Kindes ersten Gra-
des, das heißt seine ausländische Mutter und weitere
Kinder in Deutschland bleiben oder wieder nach
Deutschland einreisen. Im anderen Fall erhält der aner-
kennende ausländische Vater eines deutschen Kindes
ebenfalls ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht. In der Regel
werden dann in beträchtlicher Höhe durch den Staat So-
zialleistungen für alle erbracht.
Gezielt werden Sozialhilfeempfänger für die Vater-
schaftsanerkennung gesucht: Denn sie sind finanziell
nicht in der Lage, die mit der Anerkennung entstehenden
Unterhaltsverpflichtungen für das Kind und auch die
Mutter zu tragen. Der Staat zahlt. Eine Handhabe dage-
gen gibt es nicht. Die rechtliche Anerkennung nicht leib-
licher Kinder aus sachfremden ist bisher legal. Dies ist
allerdings nicht länger hinnehmbar. Ungeachtet der Mil-
lionen zu Unrecht gezahlten Sozialleistungen der öffent-
lichen Hand zulasten der Allgemeinheit sind die Folgen
für das betreffende Kind verheerend. Die Anerkennung
durch den falschen Vater vereitelt sein Recht auf Kennt-
nis der Abstammung und Umgang mit dem leiblichen
Vater. Dies stellt einen erheblichen Eingriff in das grund-
rechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht des Kindes
– Art. 2 Abs. 1 und Artikel 6 GG – dar.
Die Innenministerkonferenz der Länder hat sich Ende
2002 mit der Thematik befasst, nachdem sich unter an-
derem in Berlin und in Hamburg die Verdachtsfälle von
Scheinvaterschaften beträchtlich häuften. Auf Initiative
von Bremen untersuchte zwischenzeitlich eine Arbeits-
gruppe im Rahmen der Innenministerkonferenz die Ent-
wicklung von Scheinvaterschaften in allen Bundeslän-
dern. Das Ergebnis liegt vor: Allein im Zeitraum
Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 betrug die Zahl der Ver-
dachtsfälle des Leistungsmissbrauches und der Erschlei-
chung von Aufenthaltstiteln bundesweit 1 694. Nach
vorliegenden Erkenntnissen hat sich das Geschäft mit
zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennungen inzwischen
zu einer lukrativen Einnahmequelle entwickelt, mit der
bei nahezu keinem Risiko sehr hohe Profite erzielt wer-
den. Dem muss jetzt ein Riegel vorgeschoben werden.
Mangels finanzieller Leistungsfähigkeit der anerken-
nenden Väter entstehen zu ihren Lasten keine materiel-
len Nachteile, strafrechtliche Konsequenzen gibt es auch
keine und als Belohnung für die Anerkennung werden
Beiträge bis zu 10 000 Euro pro Fall gezahlt. Die Allge-
meinheit muss oft für Sozialleistungen jahrelang auf-
kommen. Das scheint inzwischen ebenso gut durch pro-
fessionelle Schleuserbanden organisiert zu sein wie der
Menschenhandel. Dort haben wir noch bestehende Ge-
setzeslücken gerade geschlossen bzw. sind dabei. Bei
den Scheinvaterschaften müssen wir es nun auch tun.
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Derzeit kann bei uns die Vaterschaft durch Anerken-
ung wirksam begründet werden, wenn sie bewusst
ahrheitswidrig ist und allein den Zweck verfolgt, in
eutschland ein Bleibe- oder Aufenthaltsrecht zu erwir-
en. Vor der Kindschaftsrechtsreform 1998 war für die
aterschaftsanerkennung noch die Zustimmung durch
as Kind und dessen gesetzlich vorgeschriebene Vertre-
ung vor dem Jugendamt erforderlich. Dieses Zustim-
ungserfordernis ist weggefallen. Die Stellung der Mut-
er wurde gestärkt und es wurde ihr überlassen, auch
enjenigen als Vater zu akzeptieren, der es genetisch
icht ist, es – im Hinblick auf gewachsene oder neu ent-
tehende familiäre Strukturen – aber sein will. Dieser so
enannte „soziale Vater“ darf jetzt auf keinen Fall in-
rage gestellt werden.
Der Gesetzgeber konnte bei der Reform nicht damit
echnen, dass es hier einmal einen Missbrach zulasten
es Staates und insbesondere auch der Kinder geben
önnte. Dieses Problem hat aber nicht nur Deutschland.
ährend man in Frankreich die Ausländergesetze zur
ekämpfung illegaler Einwanderung reformiert und für
lternteile eines französischen Kindes die Anspruchsvo-
aussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis verschärft
at, hat die Schweiz hier der öffentlichen Hand – der
eimat – und Wohnsitzgemeinde ein Anfechtungsrecht
ei Vaterschaftsanerkennungen eingeräumt.
Nach Prüfung der Rechtslage in Deutschland er-
cheint weder eine Änderung des Staatsangehörigkeits-
echts noch des Ausländergesetzes, wohl aber eine
esetzesänderung des Kindschaftsrechts durch Erweite-
ung der Anfechtungsberechtigten um eine staatliche
telle geeignet, dem Problem der zweckwidrigen Vater-
chaftsanerkennung adäquat zu begegnen. Zum Schutz
eutsch-ausländischer Paare und dort vollzogener Vater-
chaftsanerkennungen müssen – um sie nicht unter Ge-
eralverdacht zu stellen – die Hürden für ein Anfech-
ungsrecht eines öffentlichen Trägers ausreichend hoch
ngesetzt werden. Wir wollen das Schützenswerte schüt-
en und den Missbrauch ausschließen. In den jetzt anste-
enden weiteren Beratungen werden wir geeignete Lö-
ungswege aufzeigen.
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS/90 DIE GRÜ-
EN): Nach dem vorliegenden Antrag sollen die zustän-
igen Länderbehörden ein Anfechtungsrecht bezüglich
er Vaterschaft erhalten, wenn es Hinweise gibt, dass die
aterschaft ausschließlich zur Erlangung von Aufent-
altstiteln oder Sozialleistungen anerkannt wird. Be-
ründung der Unions-Fraktion: Es gebe immer mehr
issbrauchsfälle, in denen weder eine biologische noch
ine soziale Vater-Kind-Beziehung bestehe und die Va-
erschaft nur anerkannt werde, um der Mutter einen Auf-
nthaltstitel bzw. dem Kind die deutsche Staatsbürger-
chaft zu verschaffen. Auch würden professionelle
chleuserbanden dies immer mehr als Geschäftsfeld ent-
ecken.
Zum Hintergrund: Insbesondere im Land Berlin, aber
uch in NRW soll es Missbrauchsfälle gegeben haben, in
enen sich ausreisepflichtige Mütter oder Väter wie be-
chrieben, einen Aufenthalt „erschlichen“ haben. Diese
12744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
Zahlen liegen uns leider noch nicht vor. Die Thematik
hat einen zweijährigen Vorlauf bei der Innenminister-
konferenz; bisher gab es kein empirisch gesichertes Zah-
lenmaterial. Auch das jetzt von den Ausländerbehörden
gelieferte Material ist nach unserer Ansicht nicht hinrei-
chend aussagekräftig. Lassen Sie mich auf die Schwä-
chen im vorliegenden Unionsantrag zu sprechen kom-
men:
Er bezieht sich nur auf Frauen ohne Aufenthaltsrecht,
die über einen deutschen Mann oder einen ausländischen
Mann und damit über einen sicheren Aufenthalt ihres
Kindes selbst ein Aufenthaltsrecht erhalten können. Die
umgekehrte Richtung wäre aus Sicht der Union also
nicht möglich.
Nach Angaben der Union nimmt seit 2001 die Zahl
der Missbrauchsfälle stetig zu. Wie sie zu einer solchen
Einschätzung kommt, ist unklar, da in der von der IMK
beschlossenen Erhebung bei den Ausländerbehörden al-
lein der Zeitraum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 er-
fasst ist.
Außerdem – und das sagt die Union auch selbst –
handelt es sich allenfalls um Verdachts- und nicht um
Missbrauchsfälle. In der Erhebung der Ausländerbehör-
den wurde nämlich allein die Zahl der Vaterschaftsaner-
kennungen erfasst, woraus noch lange nicht die Miss-
brauchsfälle abzulesen sind. Genausogut könnten sie
sagen, dass, wenn im Jahr 2003 30 Millionen Steuerer-
klärungen abgegeben wurden, es möglicherweise bis zu
30-millionenfachen Steuerbetrug gibt.
Ein anderer wichtiger Punkt des Unionsantrages ist
neben der angeblichen Erschleichung von Aufenthaltsti-
teln der Verdacht des Leistungsmissbrauchs: Durch die
Vaterschaftsanerkennung „erlangen alle Beteiligten ei-
nen Anspruch auf Sozialhilfe“. Die Erhebung der Aus-
länderbehörden umfasste jedoch – naturgemäß – über-
haupt nicht die Bedürftigkeit der Betroffenen. Es ist
daher klar, dass es sich bei dieser Behauptung um reine
Spekulation handelt.
Gleiches gilt für die Annahme, dass Schleuserbanden
als „Vaterschaftsvermittler“ in großem Maße tätig wer-
den. Hierzu gibt es unseres Wissens keinerlei empirisch
gesichertes Material.
Die Union sieht besonders verheerende Folgen für die
betroffenen Kinder. Die Anerkennung durch den „fal-
schen“ Vater vereitele ihre Rechte auf Kenntnis der Ab-
stammung und Umgang mit dem leiblichen Vater. Dies
ist jedoch ein allgemeines – wenn man so will – „Pro-
blem“ des neuen Kindschaftsrechts. Das neue Kind-
schaftsrecht akzeptiert nicht nur den biologischen, son-
dern auch den sozialen Vater. Will man hier also
Änderungen vornehmen, sind Grundsätze des 1999 re-
formierten Kindschaftsrechtes betroffen.
Es ist aber fraglich, ob das Kindeswohl tatsächlich für
eine Aufhebung der so genannten „falschen“ Vaterschaft
mit dem daraus resultierenden Verlust des Aufenthalts-
rechtes spricht, so auch der Zwischenbericht der IMK.
Dass es eine Anfechtungsbefugnis öffentlicher Stellen
im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnun-
gen „noch nicht“ gibt – als Beispiel wird § 260 a des
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chweizer Zivilgesetzbuches genannt –, liegt unter an-
erem auch am reformierten Kindschaftsrecht. Vor der
eform des Kindschaftsrechtes musste auch das nicht-
heliche Kind der Vaterschaftsanerkennung zustimmen,
as durch das Jugendamt in Amtspflegschaft erfolgte.
iese Bevormundung der Mutter durch den Staat wollte
an jedoch gerade abschaffen.
Die Union will zumindest Hürden für ein Anfech-
ungsrecht der Ausländerbehörden aufbauen. Kriterien
ie die fehlende soziale Beziehung zwischen Vater und
ind oder die fehlende Bereitschaft des Vaters, für das
ind zu sorgen, sind jedoch abzulehnen. Die Feststel-
ung der sozialen Beziehung kann nicht wie bei einer
cheinehe an einer familiären Lebensgemeinschaft fest-
emacht werden. Väter kümmern sich heutzutage häufig
uch viel um ihre Kinder, ohne mit ihnen zusammen zu
ohnen. Hier stellt sich weiterhin die Beweisfrage. Ein
bstellen auf die fehlende Bereitschaft des Vaters, für
as Kind zu sorgen, würde zu einer Diskriminierung und
u einem Generalverdacht gegen Sozialhilfeempfänger
ühren.
Ein Zurückdrehen der Kindschaftsrechtsreform ist
it Rot-Grün nicht zu machen. Der Gesetzgeber hat bei
ieser Reform bewusst auf eine behördliche Beteiligung
ei der Vaterschaftsfeststellung unehelicher Kinder ver-
ichtet und damit die Rechte der Mütter gestärkt. Staatli-
he Stellen haben weder bei ehelichen noch bei uneheli-
hen Kindern von Deutschen das Recht, die Vaterschaft
es biologischen oder auch des sozialen Vaters in Zwei-
el zu ziehen. Gleiches muss auch für die Kinder von
usländischen Vätern oder Müttern und für binationale
aare gelten. Ein behördliches Anfechtungsrecht öffnet
ür und Tor für einen Generalverdacht gegen alle Fami-
ien mit einem ausländischen Elternteil mit unsicherem
ufenthalt. Soll der Staat herumschnüffeln, was die Mo-
ive einer Vaterschaftsanerkennung waren? Ich verweise
ier noch mal auf die Ihnen bekannte Stellungnahme der
rbeitsgruppe der IMK, die festgestellt hat, dass die
ugendämter bundesweit – bis auf einige Ausnahmen
keinen nennenswerten Missbrauch von Vaterschafts-
nerkennungen zum Zwecke der Aufenthaltserlangung
estgestellt“ haben.
Und zu den Fällen, in denen es doch einmal zum
issbrauch gekommen ist: Gerade in der Vorweih-
achtszeit sollten Sie sich mal an die Weihnachtsge-
chichte – in der ja die Frage der Vaterschaftsanerken-
ung eine wesentliche Rolle spielt – erinnern. In was für
iner verzweifelten Lage muss eine ausländische Mutter
igentlich sein, wenn sie die Abstammung ihres Kindes
egen einer Aufenthaltserlaubnis verleugnet?
Aber, wie gesagt, ich halte das für eine seltene Aus-
ahme und daher lehnen wir Ihren Antrag ab.
Sibylle Laurischk (FDP): Vor neun Monaten stand
ch hier schon einmal, um über die Anfechtung der Va-
erschaft zu sprechen, allerdings zum Wohle des Kindes.
as heute in Rede stehende Phänomen war damals
chon hinreichend bekannt, sodass es verwundert, dass
s nicht schon im Februar von der antragstellenden
nion thematisiert wurde.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12745
(A) )
(B) )
Viel lieber als über Vaterschaftsanfechtung würde ich
in diesem Hause über die Übernahme von Vaterverant-
wortung sprechen, das vorneweg und nebenbei.
Die Sache selbst ist durchaus ernst, die Zahl der Ver-
dachtsfälle so genannter Imbissväter allein für den Zeit-
raum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004 wird auf
1 700 bundesweit geschätzt, wobei die erhobenen Daten
wegen der mangelnden Aufklärung der tatsächlichen
biologischen oder sozial-familiär vermittelten Vater-
schaft kaum belastbar erscheinen, was der Bericht des
Arbeitskreises 1 der Ständigen Konferenz der Innen-
minister und -senatoren vom 7./8. Oktober 2004 selbst
einräumt. Eine über diese Verdachtsfälle hinausgehende
Dunkelziffer gibt es nicht, da die Innenminister alle
Fälle der Aufenthaltsrechtserteilung nach Vaterschaftsa-
nerkennung statistisch erfasst haben. Davon ausgehend,
dass mit der zweckwidrigen Vaterschaftsanerkennung
nicht nur Aufentshaltstitel für einen Elternteil und
Staatsbürgerschaft für das Kind, sondern auch daran an-
knüpfende Sozialleistungen erschlichen werden, können
wir das fiskalische Interesse nicht leugnen: Plünderung
unserer überstrapazierten Sozialkassen darf es nicht ge-
ben. Insofern verwundert die bevorstehende Initiative
der IMK zu diesem Thema, dem der vorliegende Antrag
vorgreift, nicht.
Allerdings befremdet mich der Anknüpfungspunkt
für eine Missbrauchsverhinderung, die beabsichtigte Än-
derung des Kindschaftsrechts. Mit gutem Grund ist mit
der Reform des Kindschaftsrechts 1998, übrigens noch
zu Zeiten der Koalition von Union und FDP, die Zustim-
mungspflicht des Jugendamtes zur Vaterschaftsanerken-
nung abgeschafft worden, um diesen Kernbereich fami-
liärer und personeller Selbstbestimmung vor staatlichem
Zugriff und Gestaltung zu bewahren. Wie sollte denn ein
Anfechtungsrecht der „zuständigen Behörden“ der Län-
der aussehen, wer sollte das sein, Sozialamt, Jugendamt,
Staatsanwaltschaft? Oder kommt die Ausländerbehörde?
Immerhin geht es hier um minderjährige, möglicher-
weise neugeborene Kinder. Wie sollen die „Hinweise“
aussehen, die ein solches Anfechtungsrecht auslösen
soll? Wie sollen wir uns die Ermittlung der wahren Va-
terschaft vorstellen. Einfacher, genetischer Vaterschafts-
test mit Speichelprobe oder qualifizierter Vaterschafts-
test durch Feststellung einer sozial-familiären Beziehung
zwischen Vater und Kind? Einen solchen Vaterschafts-
test der höheren Art würde übrigens eine Vielzahl von
biologischen Vätern auch nicht bestehen, eine Hürde für
das Anfechtungsrecht, wie im Antrag beschrieben,
stellte dies auch nicht dar. – Kurz, wir halten das Bürger-
liche Gesetzbuch nicht für den systematisch richtigen
Ort, missbräuchliche Vaterschaftserklärungen zu be-
kämpfen.
Wir sollten die vorhandenen Mittel des Rechtsstaats
nutzen, weshalb ich die Länder dazu auffordere, die
Möglichkeiten de lege lata auszuschöpfen. Die wahr-
heitswidrige Vaterschaftsanerkennung ist auch unter
dem Aspekt des Persönlichkeitsrechts des Kindes nicht
hinzunehmen und erst recht nicht der damit oft einherge-
hende Betrug zum Nachteil der Sozialkassen. Benennen
wir doch das Problem, wie es ist, und verfolgen es auch
als ein solches: Wenn einem deutschen Mann sach-
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remde Vorteile dafür versprochen oder gewährt werden,
ass er die Vaterschaft wahrheitswidrig für ein ausländi-
ches Kind anerkennt, ist dies allein schon zum Schutz
es Kindes missbilligenswert, ebenso die Vorteilsgewäh-
ung gegenüber einer deutschen Mutter, die einen aus-
ändischen Vater wahrheitswidrig die Vaterschaft für ihr
ind anerkennen lässt, um diesem Scheinvater einen
ufenthaltstitel zu verschaffen. Hier ist die Überprüfung
usländerrechtlicher und sozialrechtlicher Vorschriften
efragt. Einer Änderung des Kindschaftsrechts können
ir nicht zustimmen. Ein sozial- und innenpolitisches
roblem sollte nicht in den Regelungskreis des BGB
erlagert werden. Versuchen wir nicht, binationale Be-
iehungen generell unter einen Verdacht zu stellen, wenn
uch die Mutter und das Kind oder der ausländische Va-
er Vorteile aus einer solchen Bindung an einen Deut-
chen ziehen mögen.
Mir scheint der Antrag der Union zu sehr vom
unsch nach tagespolitischen Effekten geprägt zu sein.
eider trifft dies die Falschen, nämlich die Kinder, wes-
alb wir den Antrag ablehnen.
nlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlungen und
Berichte zu den Anträgen:
– Umsetzung des nationalen Radverkehrs-
plans 2002–2012 forcieren
– Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht
vorlegen
– Den Fahrradtourismus in Deutschland um-
fassend fördern
(Tagesordnungspunkt 12 a und b)
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ich freue mich, als neu
ewählte Berichterstatterin für das Thema Fahrradtouris-
us im Tourismusausschuss zu sprechen! Denn: Der
ahrradtourismus in Deutschland ist ein wichtiges – lei-
er häufig unterschätztes – Thema, wie nicht zuletzt die
päte Debattenzeit zeigt.
Warum setzt sich die SPD-Fraktion für die Förderung
es Fahrradtourismus ein? Dafür gibt es mehrere gute
ründe, aus denen ich fünf herausgreifen möchte:
Erstens. Der Fahrradtourismus boomt: Über 2 Millio-
en Deutsche verbrachten 2003 ihren Urlaub überwie-
end im Fahrradsattel. Das entspricht einer Zunahme
on 12,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und der Boom
eim Radurlaub hält an: Rund 6,5 Millionen Deutsche
lanen für die nächsten drei Jahre mindestens eine
adreise.
Zweitens. Das Fahrrad ist ein Wirtschaftsfaktor: Im
ahrradtourismus werden jährlich rund 5 Milliarden
uro umgesetzt. Namhafte Veranstalter von Radpau-
chalen verzeichneten 2003 zweistellige Zuwächse. Der
bsatz von Karten und Radwanderführern konnte 2003
iederum gesteigert werden. Erfolgreichstes Produkt ist
12746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
die ADFC-Radtourenkarte, die – seit ihrem Ersterschei-
nen 1990 – im Jahr 2003 einen Gesamtabsatz von über
2 Millionen Exemplaren erreichte. Damit gilt sie als die
erfolgreichste Radlerkarte der Welt.
Drittens. Radfahren kann jeder: Für uns Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten hat die Förderung von
Urlaubsformen, die für möglichst viele Menschen nutz-
bar sind, Priorität, und Fahrradurlaub ist eine Form des
Reisens, die für viele Zielgruppen geeignet ist. Ob Fami-
lie oder Single, ob jung oder alt – fast jeder kann sich in
den Sattel schwingen. Die Kosten, insbesondere bei ei-
nem Inlandsurlaub, sind vergleichsweise gering, sodass
diese Form des Reisens auch für Menschen mit kleinem
Portemonnaie geeignet ist.
Viertens. Radreisen schützen die Natur: Uns Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten liegt das Thema
Umwelt- und Naturschutz am Herzen. Auch aus diesem
Grund halten wir den Fahrradtourismus für besonders
förderungswürdig, denn er ermöglicht Erholung in und
mit der Natur, ohne Luftverschmutzung und mit gerin-
gem Flächenverbrauch.
Fünftens. Mit dem Radtourismus werben wir für
Deutschland: Der Boom beim Fahrradurlaub nützt vor
allem dem Deutschlandtourismus, denn ein großer Teil
der Fahrradurlauber bleibt im Land, und es kommen zu-
nehmend Gäste aus dem Ausland hierher, um Deutsch-
land vom Sattel aus zu erkunden. Diese Zuwächse sind
kein Zufall, denn kaum ein anderes Land wirbt so inten-
siv um die Zielgruppe der Radfahrer. Laut Länderver-
gleich des ADFC halten Deutschland und Österreich das
nutzerfreundlichste Angebot für Urlauber bereit, wäh-
rend beliebte Urlaubsländer wie Spanien, Italien oder die
USA schlechtes oder gar kein Informationsmaterial bie-
ten. Deutschland weist mit seiner serviceorientierten
Broschüre „Deutschland per Rad entdecken“, die mehr
als 50 Routen und Regionen vorstellt, und dem dazuge-
hörigen Internetauftritt ein schlüssiges Konzept vor.
Wir müssen viel vernetzter denken. Warum sage ich
das? Seit dem vergangenen Jahr stellen wir jährlich
10 Millionen Euro für den Ausbau von Betriebswegen
an Bundeswasserstraßen zur Verfügung: Da diese Wege
landschaftlich besonders reizvoll, meist frei von Autos
und oft historisch interessant sind, etwa im Bereich des
Elbe-Lübeck-Kanals mit der Alten Salzstraße, werden
sie von Radlern gut angenommen. Leider sind viele die-
ser Wege in einem Zustand, der ein zügiges oder auch
nur sicheres Fortkommen für Radfahrer nicht erlaubt.
Deshalb haben wir uns entschlossen, für den fahrradge-
rechten Ausbau der Uferwege zu sorgen.
Der Radwegebau an Flüssen und Kanälen bietet die
Chance, das landseitige Angebot für Radfahrer, Wande-
rer und Spaziergänger mit wasserseitigen Aktivitäten zu
verbinden. Hier ist vernetztes Denken gefragt: Wir dür-
fen nicht länger jede Sportart oder Tourismussparte für
sich betrachten, sondern sollten die Voraussetzungen da-
für schaffen, dass attraktive Kombinationsangebote ent-
wickelt werden können. In Niedersachen gibt es bereits
das erfolgreiche Angebot „Paddel & Pedal“, das Fahr-
rad- und Kanuurlaub miteinander verbindet. Solche
Kombinationen sind ausbaufähig, wenn wir gemeinsam
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it den Ländern und Kommunen dafür sorgen, dass die
enötigte Infrastruktur zu Lande und zu Wasser zur Ver-
ügung steht.
Was mir allerdings Sorgen macht: So richtig und
ichtig der Ausbau von Betriebswegen also ist, so hat es
och, und das möchte ich nicht verschweigen, bei der
onkreten Umsetzung Schwierigkeiten gegeben. Die
onstruktion, dass Mittel nur beantragt werden können,
enn das zuständige Wasser- und Schifffahrtsamt einen
igenen Bedarf für den Ausbau sieht, hat sich als proble-
atisch erwiesen. Vielfach, so auch in meinem Wahl-
reis, sind die Ämter nicht gewillt, Gelder zu beantra-
en, weil der Zustand der Wege für die Befahrung mit
hren Maschinen noch ausreicht. Die Folge: Von den be-
eitgestellten 10 Millionen Euro wurden bislang in 2004
ur knapp 500 000 abgerufen. Wir als SPD-Bundestags-
raktion fordern die Bundesregierung deshalb auf, für ei-
en besseren und zügigen Abfluss der Mittel Sorge zu
ragen. So steht es auch in unserem Antrag. Das Ver-
ehrsministerium hat das Problem ebenfalls erkannt und
rbeitet mit Hochdruck an einer Lösung.
Ich habe bereits die Notwendigkeit angesprochen,
eim Tourismus stärker vernetzt zu denken. Ein erfolg-
eiches Beispiel für eine solche Vernetzung, in diesem
all zwischen Radfahrern und Übernachtungsbetrieben,
t das Label „Bett & Bike“. Die Zahl der fahrradfreund-
chen Beherbergungsbetriebe mit dem ADFC-Gütesie-
el ist von 216 im Jahr 1995 auf über 3 500 im Jahr 2004
estiegen. Damit ist „Bett & Bike“ die erfolgreichste
ielgruppenbezogene Marketingkooperation von Gast-
etrieben in Deutschland. In meinem Heimatland
chleswig-Holstein ist es in diesem Jahr erstmals gelun-
en, einen regionalen „Bett & Bike“-Führer herauszuge-
en. Der ADFC hat hier hervorragende Arbeit geleistet
nd viele Betriebe überzeugt, künftig fahrradfreundli-
hen Service anzubieten. Ich selbst habe die Werbung
ür „Bett & Bike“ in meinem Wahlkreis tatkräftig unter-
tützt. Im ersten Verzeichnis sind 175 Hotels, Pensionen,
ugendherbergen, Campingplätze, Heu-Herbergen und
aturfreundehäuser aufgeführt, die auf die besonderen
edürfnisse von radelnden Gästen eingehen und signali-
ieren: „Radfahrer willkommen“. Für das nächste Ver-
eichnis ist mit einem weiteren Anstieg der beteiligten
etriebe zu rechnen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, auch
ie bewegt das Thema Fahrradtourismus, das stellen Sie
dem vorliegenden Antrag dar. Zu Ihren Feststellungen
nd den Schlüssen, die Sie daraus ziehen, ist in der ers-
n Debatte von meinen Kolleginnen bereits alles Wich-
ge gesagt worden. Wir stimmen ja grundsätzlich über-
in: Natürlich ist es wünschenswert, möglichst genaue
tatistiken über den Fahrradtourismus zu haben. Man
arf hier aber auch nicht übertriebene Erwartungen ha-
en, einiges gibt es schon und letztlich hängt die Attrak-
vität des Fahrradtourismus wirklich nicht an der Daten-
ge.
Auch wir wollen gute Transportmöglichkeiten für
ahrräder in der Bahn. Wir fordern deshalb in unserem
eute debattierten Antrag die Bahn auf, ein Konzept für
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12747
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die Fahrradmitnahme unter Berücksichtigung des ICE
vorzulegen.
Natürlich wollen auch wir mehr Abstellplätze für
Fahrräder und bessere Sicherheit vor Diebstahl. Wir sind
hier in Bund-Länder-Gesprächen und erwarten gute Er-
gebnisse. Ihr Antrag wiederholt Bekanntes und fordert
Dinge, die überflüssig sind oder die wir bereits machen –
deswegen lehnen wir ihn ab!
Deutschland, das hatte ich bereits erwähnt, ist ein
fahrradfreundliches Land. Wir haben hier vielen Staaten
etwas voraus – diesen Vorteil müssen wir nutzen. Wir
wissen allerdings auch um die Chancen zu weiteren Ver-
besserungen und sind bereit, sie gemeinsam mit der
Bundesregierung anzugehen.
Heidi Wright (SPD): Weder die Tageszeit noch das
Jahreswetter eignet sich wirklich gut zum Fahrradfahren,
umso besser eignet es sich, die Umsetzung des Natio-
nalen Radverkehrsplanes voranzubringen. Dies tun wir
natürlich nicht nur mit dieser Debatte, sondern mit den
wichtigen Umsetzungsschritten der vergangenen Monate
und den notwendigen weiteren Umsetzungsschritten in
Zukunft.
Ich darf uns alle zu dieser Umsetzung weiter auffor-
dern und nicht nur in unserer Arbeit im Deutschen Bun-
destag, sondern in unseren oft vielfältigen Funktionen
und Einflussmöglichkeiten auf kommunaler Ebene.
Keine Frage, alle haben es erkannt – Fahrradpolitik ist
ein Gewinnerthema und alle – oder zumindest viele –
stricken mit an dem Muster der Fahrradpolitik. Diese
wurde von dieser Bundesregierung mit der Aufstellung
des Nationalen Radverkehrsplanes aus dem Schattenda-
sein herausgeholt und mit einer eigenen Planstelle im
Ministerium, mit eigenen Haushaltstiteln – mehreren –,
mit dem Aufbau eines Internetportals als Kommunika-
tionsplattform für Bund, Länder, Verbände und Fach-
kreise versehen.
Das Gewinnerthema Radpolitik hat viele Aspekte. Es
trägt bei zu einer besseren, flexibleren Mobilität. Es trägt
bei zur Umweltentlastung. Es reduziert die Mobilitäts-
kosten der Verbraucher: Mineralölpreis. Es entlastet das
Verkehrschaos in den Städten. Es trägt zu mehr Wohlbe-
finden und Gesundheit durch Bewegung bei.
Nur leider sind wir in Deutschland noch recht am An-
fang der Entwicklung, diese Aspekte auch wirklich zu
realisieren.
Also, so ganz das Fahrradland sind wir in Deutsch-
land noch nicht – aber wir haben mehr als den guten
Willen. Wir haben den politischen Willen. Wir haben die
Erkenntnis in die Notwendigkeit. Wir haben höchst ak-
tive Partner, Akteure und Unterstützer. Wir haben in
Deutschland inzwischen ein sehr positives öffentliches
Bewusstsein für das Fahrradfahren in der Freizeit und
zum Sport, aber auch für tägliche Besorgungen, zur Ar-
beit, zur Schule.
Bewusstseinsbildung fängt ja nicht hier im Bundestag
an – wir können das nur unterstützen.
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Bewusstseinsbildung findet draußen, in den Familien,
n den Kindergärten, in den Schulen und in den Cliquen
tatt. Es muss einfach cool sein, Fahrrad zu fahren: mit
em Fahrrad zur Schule, mit dem Fahrrad zur Arbeit, mit
em Fahrrad auch über den Führerschein hinaus. Das
uto ab 18 bzw. die ab 18 auftretende Fußkrankheit ist
icht cool.
Mit dem politischen Hintergrund des Radverkehrspla-
es und insbesondere den neuen finanziellen Möglich-
eiten konnte bereits einiges bewirkt werden. Wir sorgen
trotz schwieriger Haushaltssituation – für Geld für den
adwegebau an Bundesstraßen. Wir sorgen für die Ver-
tetigung der Mittel im Haushaltsplan. Wir konnten die
nvestitionen in 2002 und 2003 auch etwas steigern.
anz zufrieden stellend ist das für mich jedoch noch
icht.
Ganz besonders gilt das für Radwege an Bundes-
asserstraßen. Hier werden die vorgesehenen Mittel
icht ausgeschöpft: veranschlagte Ausgaben rund
80 000 Euro. Deshalb haben wir in Auftrag gegeben,
orschläge zur besseren Umsetzung zu erarbeiten.
Als wichtig haben wir auch erkannt, dass die Investi-
ionsmittel das eine wichtige, die nicht investiven Mittel
edoch ebenso wichtig sind. Ich bin ganz fest davon
berzeugt, dass es richtig war, hier einen eigenen Titel
u schaffen, und danke unseren Haushältern – liebe
nnette Faße, ich weiß, Du hast Dich da sehr eingesetzt.
Mit den nicht investiven Mitteln konnten unterstützt
erden: der bundesweite Wettbewerb Best-of-Bike, die
uflage des NRVP in englischer und russischer Sprache,
iverse Fachveranstaltungen, unter anderem die Impuls-
eranstaltung „Kinder in Bewegung“, aber auch Aktio-
en des ADFC, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-
lubs, der in diesem Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert
nd echt ein tolles Rad dreht, also Aktion des ADFC mit
er AOK „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“, Projekt des
DFC zur Zweiten aktualisierten Fernradwegekarte so-
ie das ADFC-Projekt „Radreiseanalyse 2005“.
Wir können uns freuen, dass wir diese Projekte mit
icht unerheblichen finanziellen Mitteln unterstützen
önnen. Diese sind jedoch wirklich nur eine Unterstüt-
ung, denn Deutschland ist groß und es liegt enorm viel
rbeit an. Diese wird mit unglaublichem Engagement
on vielen Ehrenamtlichen geleistet. Hier geht mein aus-
rücklicher Dank an alle, die sich einsetzen und an der
ktualisierung der Fernradwegekarte arbeiten.
Ich bin sicher, hier wird etwas Bleibendes geschaffen
nd etwas wirklich Sinnvolles vorangebracht. Herzli-
hen Dank!
Zum Abschluss der Aufzählung der guten Taten: In
er nächsten Woche werden wir einen Fahrradkongress
n Berlin haben, bei dem die Aktivitäten in den Regionen
nd best practice dargestellt werden und aus dem weitere
mpulse gewonnen werden müssen.
Abstimmungsarbeit steht an. So liegt aktuell die Ver-
rdnung der Änderung straßenverkehrsrechtlichen Vor-
chriften zur StVO vor.
12748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Und das ruft mir in Erinnerung die Regelung für mehr
Sicherheit für Fahrradfahrer, die wir mit dem verbesser-
ten Sichtfeld für LKW-Fahrer – Ausschaltung des toten
Winkels – gemacht haben. Wie sieht hier die Praxis aus?
Von der Vorsitzenden des Arbeitskreises Sicht und
Bediensicherheit des Verbandes der Automobilindus-
trie, VDA, Frau Elisabeth Frank, wurde auf meine An-
frage nochmals bestätigt, dass die deutsche Automobil-
industrie nach wie vor zu ihrer Zusage steht, so schnell
wie möglich die Neufahrzeuge über 7,5 Tonnen mit dem
neuen Spiegelsystem auszurüsten sowie diese Spiegel
auch für die Nachrüstung anzubieten.
Ein Aspekt beschwert unsere doch recht positive Ar-
beit für den Fahrradverkehr – die Mitnahme des Fahr-
rads auch im ICE.
Also ich muss das hier nicht lang und breit ausführen.
Der ADFC und seine Mitglieder fordern das. Ich will das
und fordere das. Die Opposition will das und fordert das.
Die Bahn will nicht und erklärt hinlänglich umständlich
und nicht nachvollziehbar, dass sie das nicht will.
Liebe Bahn, die Forderung – Fahrrad im ICE – steht
in unserem Antrag drin, also werden wir da dranbleiben.
Ich kann die Opposition nur aufordern, sich an der Über-
zeugungsarbeit an der Bahn mit zu beteiligen – wir fei-
ern dann auch gemeinsam.
Zum Schluss, trotz Wetter, Winter und sonstige Wi-
drigkeit: Das Fahrrad ist ein Verkehrsmittel der Zukunft.
Das Fahrrad gehört zu einer zukunftsfähigen Verkehrs-
politik wie die Sonnenenergie zu einer zukunftsfähigen
Energiepolitik.
So wie es uns mit einer vernünftigen Politik gelungen
ist, so richtig die Sonne anzuzapfen, müssen wir mit ei-
ner vernünftigen Politik dafür sorgen, dass sich die Rä-
der im Fahrradverkehr immer mehr und besser drehen.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die
von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mitte der 90er-
Jahre eingebrachte Initiative zur Schaffung eines Natio-
nalen Radverkehrsplanes ist von der Bundesregierung in
der Zwischenzeit umgesetzt worden. Das begrüßen und
anerkennen wir. Doch wir beklagen, dass zwischen An-
spruch und Wirklichkeit der Berliner Politik für das Ver-
kehrsmittel „Fahrrad“ ein zunehmender Widerspruch
deutlich wird.
Doch zunächst zu den kleinen Kuriositäten unseres
parlamentarischen Systems: Diesem haben wir es zu ver-
danken, dass wir die zwei – zu Sommeranfang gestellten –
Anträge zum Fahrradverkehr genau dann debattieren,
wenn es draußen nass und kalt wird und so mancher sein
Fahrrad winterfest im Keller parkt. Allerdings: Einen
echten Radfahrer hält schlechtes Wetter ja auch nicht
vom Radfahren ab, somit sollte auch nichts gegen eine
politische Debatte zum Thema „Förderung des Radver-
kehrs“ mitten im November sprechen.
Bei der Fahrradpolitik scheint die Bundesregierung
aufs Einrad umgestiegen zu sein: Mehr blumiger Rad-
korso als klares „Radfahr-Förderkonzept“, mehr „Kreis-
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erkehr“ als Strecke, mehr „Steher-“ als „Tempo-Strate-
ie“!
Der Antrag der Regierungskoalition zum Nationalen
adverkehrsplan erstaunt. Er ist auch nur vor dem Hin-
ergrund einer vernichtenden Kritik des ADFC zu verste-
en. Dessen Repräsentanten, die kompetent und kon-
truktiv sind, ist beim letzten parlamentarischen Abend
er Kragen geplatzt; den andauernden Stillstand in der
adverkebispolitik haben sie kritisiert. Nach über zwei
ahren Winterschlaf meldet sich die Regierungskoalition
ndlich zurück aufs fahrradpolitische Parkett. CDU/CSU
nd FDP haben sich im gleichen Zeitraum mit einer
ielzahl von Initiativen fördernd für eine aktive Radver-
ehrspolitik eingesetzt; doch stets haben Rot-Grün mit
hrer Mehrheit jeglichen Fortschritt verhindert.
Erfreulich ist, dass die heute hier vorliegenden zwei
nträge sich im Ziel kaum unterscheiden. Beide fordern
auch in einzelnen Punkten erstaunlich übereinstim-
end – eine konsequentere Förderung des Radverkehrs,
eziehungsweise eine forcierte Umsetzung des NRVP.
s herrscht Einigkeit über das Grundsätzliche:
Die Förderung des Radverkehrs ist aus gesundheitli-
hen, verkehrspolitischen und ökologischen Gründen
ichtig. Und wer die Erfolge der Fahrradpolitik in Dä-
emark, den Niederlanden und in der Schweiz verfolgt,
er weiß: Wir alle müssen noch mehr in die Pedale tre-
en.
Bei aller Freude über Gemeinsamkeiten muss aller-
ings festgestellt werden: Es überwiegt Verunsicherung,
enn man den Koalitionsantrag genau in Augenschein
immt. Welchen Zweck hat der Antrag der Koalition
irklich? Geht es im Antrag wirklich um die dargestell-
en Ziele, oder sollen der Bundesregierung die Waden
estärkt und die Pedale geputzt werden? Sicher ist:
unsch und Wirklichkeit stimmen nicht überein. Nur so
assen sich die drei Seiten Lobeshymnen und langwieri-
en Darstellungen vor den eigentlichen Forderungen im
oalitionsantrag erklären. Nur so lässt sich erklären, wa-
um anstelle der seit langem von uns geforderten Vorlage
es Fortschrittberichtes zum NRVP mit einem Propa-
anda-Antrag reagiert wird.
Statt neue Wege zu suchen und Mögliches möglich zu
achen, ist man meist damit beschäftigt, Gründe zu su-
hen, irgendetwas nicht zu tun – oder besser: nicht tun
u können. Statt kraftvoll Ideen, die sowohl im NRW als
uch im Bundestagsbeschluss aber natürlich auch vom
DFC und anderen Verbänden vorgeschlagen wurden
mzusetzen, beschreitet man den Weg der „idealen“ Ver-
altung: Ideen sammeln, Listen erstellen, prüfen, for-
chen, verwerfen, neue Ideen anfordern, ablehnen.
Trotzdem ist anzuerkennen, dass die Bundesregierung
icht ganz untätig gewesen ist: Die Mittel für den Aus-
au der Radwege gehören dazu, wobei aber unterschla-
en wird, dass mit Beginn der 90er die entscheidenden
oraussetzungen für die Auslegung und Finanzierung
er Radwegenetze geschaffen wurden. Aus Gründen der
edlichkeit auch gegenüber den fast 60 Millionen Rad-
ahrern in Deutschland ist jedoch festzustellen, dass in
er konkreten Umsetzung des NRVP, nämlich der da-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12749
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mals festgelegten aktiven Förderung des Radverkehrs
durch die Bundesregierung, in vielen Bereichen zu we-
nig getan wurde und wird.
In Bezug auf die Umsetzung des NRVP müsste man
sogar Shakespeare widersprechen, der einmal sagte:
„Wo Geld vorangeht, sind alle Wege offen“. Denn um
das Ziel des NRVP, den Anteil des Radverkehrs bis 2012
deutlich zu erhöhen, reicht der Bau von Radwegen bei
weitem nicht aus.
Die Umsetzung – so das Konzept – erfolgt im Klei-
nen: auf Länder- und kommunaler Ebene. Die zahlrei-
chen Pro-Rad-Organisationen und freiwilligen Initiati-
ven brauchen jedoch Unterstützung in der Umsetzung
vor Ort. Denn sonst haben wir im Jahr 2012 mehr Rad-
wegekilometer als Radfahrer.
Durch das Aufschieben der Vorlage des Fortschrittbe-
richtes zum NRVP und des „zweiten Berichts über die
Situation des Fahrradverkehrs in Deutschland“ bis zum
Frühjahr 2006 entzieht sich die Bundesregierung der
Kontrolle und der Verantwortung auch in diesem Be-
reich der Verkehrspolitik. So bleibt zu vermuten, dass
die Bundesregierung mit dem Hinweis, dass eine Be-
standsanalyse über die Umsetzung des NRVP drei Jahre
nach dessen Umsetzung im Frühjahr 2006 sinnvoller ist,
bereits jetzt das nächste Wahljahr im Auge hat. Sachge-
recht wäre eine Vorlage im Frühjahr 2004 gewesen. Inte-
ressant und amüsant ist in diesem Zusammenhang auch
die Rechenmethode der Regierung: Die Zeit zwischen
Auflage des NRVP im Frühjahr 2002 und der beabsich-
tigten Veröffentlichung des Fortschrittsberichtes im
Frühjahr 2006 errechnet sie mit drei Jahren. Das nenne
ich kreativ.
Wäre die Regierang genauso dynamisch wie sie bei
Zeitfragen kreativ ist, dann wäre nicht erst im Juni dieses
Jahres die seit langem von der Union und vom ADFC
geforderte eigenständige „Arbeitseinheit Fahrradver-
kehr“ einberufen worden. Ohne sie ist eine effiziente
Umsetzung des NRVP gar nicht möglich! Sie hätte be-
reits viel früher geschaffen werden müssen! Hier liegt
ein unnötiges Versäumnis der rot-grünen Bundesregie-
rung vor.
Für die Öffentlichkeit sind die Handlungsmaximen in
der Fahrradpolitik der Bundesregierung nur schwer er-
kennbar. Zwar versucht das Verkehrsministerium mit der
Durchführung von Veranstaltungen zur Förderang des
Radverkehrs und zur Umsetzung des NRVP den Schein
der Aktivität zu wahren; trotzdem gilt – frei nach Shake-
speare: „Die Kappe macht den Mönch nicht aus“.
Zurück zum Antrag: Die im Antrag als „Feststellun-
gen des Deutschen Bundestages“ getarnten „Schönwet-
ter-Worte“ halten einer genaueren Prüfung meist nicht
stand: So heißt es unter 1.: „Viele Maßnahmen zur För-
derung des Radverkehrs liegen aufgrund unserer födera-
tiven Verfassung in der Verantwortung von Ländern und
Kommunen.“
So weit ist gegen diese Feststellung nichts einzuwen-
den. Weiter heißt es: „Dem Bund kommt die Koordinie-
rungsfunktion für die Umsetzung des NRVP zu. Mit Vor-
lage des NRVP bekennt sich die Bundesregierung zu
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hrer aktiven Rolle als Katalysator und Moderator bei
er Förderung des Radverkehrs.“
Interessanterweise wird vom Bund-Länder-Arbeits-
reis genau diese Rolle der Bundesregierung bei der
msetzung nicht bestätigt. Hier hat man deutlich die zö-
erliche Zusammenarbeit mit dem BMVBW kritisiert.
Von einer Moderatorenrolle kann keine Rede sein;
ehr von einer Hinterradbremse. Aber seit Shakespeare
st ja bekannt: „Menschen deuten oft nach ihrer Weise
ie Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn“. Zu hoffen
leibt, dass mit der Schaffung einer eigenständigen Ar-
eitseinheit im BMVB auch die Zusammenarbeit mit
em Bund-Länder-Arbeitskreis verbessert wird. Aber
uch wenn es um die Vernetzung von Radwegen geht,
elegiert die Bundesregierung die Verantwortung immer
ieder an die Länder, Kommunen und Verbände. Dabei
äre es ihre Aufgabe als „Moderator und Motor des
RVP“ eine Zusammenarbeit sicherzustellen. Sie hat
ier die Pflicht, für die Abstimmung der Interessen zu
orgen. Sie hat die Verantwortung, dass das seit langem
estehende Konzept für eine fahrradtouristische Koordi-
ierungsstelle endlich umgesetzt wird.
Anders sieht die Sache bei der Diskussion um die
ahrradmitnahme im Bahnfernverkehr aus. Hier gefällt
ich die Bundesregierung ausnahmsweise in der Mode-
atorenrolle. Sie erweist sich jedoch als „Schaf im
olfspelz“! Anstatt zu prüfen, ob die im Allgemeinen
isenbahngesetz und in der Eisenbahn-Verkehrsverord-
ung geregelte Beförderungspflicht von Personen und
eisegepäck auf Fahrräder ausgedehnt werden kann,
erden seit Jahren sporadische Verhandlungen mit der
eutschen Bahn geführt, die bisher nicht wirklich ziel-
ringend sind. Auch hier wieder: viel Aktionismus, ohne
innvolle Konsequenzen. Was wir brauchen, sind neue
nitiativen, um die Erreichbarkeit deutscher Ferienregio-
en im Fernverkehr für Radtouristen deutlich zu verbes-
ern.
Trotz aller Kritik bleiben Lichtblicke. Konfuzius
usste schon: „Wenn über das Grundsätzliche keine Ei-
igkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu ma-
hen.“ Das ist hier glücklicherweise nicht der Fall. Im
rundsatz sind wir uns über alle Fraktionen beim Rad-
erkehr einig und wir sollten auch weiter gemeinsam für
en Erfolg des Radverkehrsplans arbeiten. Die bereits
ngesprochene Verbesserung bei den Mitteln für den
adwegeausbau ist als Lichtblick zu nennen. Jetzt gilt
s, diese Mittel auch zu verstetigen und jährlich in dieser
rößenordnung bereit zu stellen, das gilt auch für For-
chungs- und Projektvorhaben. Aber auch die Schaffung
er eigenständigen Einheit „Radverkehr“ im BMVBW
erspricht Besserung.
Auch sind inzwischen die haushaltsrechtlichen Vo-
aussetzungen für eine vereinfachte Vergabe der Mittel
ur Umsetzung des NRVP und zur konkreten Förderung
inzelner Projekte geschaffen worden. Dies erleichtert
ie unermüdlichen Anstrengungen der Verbände. Denn
ür die sachkundige und wirkungsvolle verkehrspoliti-
che. Arbeit zur Umsetzung des NRVP müssen der
DFC und andere Umsetzungsträger mit berechenbaren
nd angemessenen finanziellen Mitteln ausgestattet sein.
12750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Unabhängig davon muss die Verkehrssicherheit
– auch beim Radverkehr – wieder mehr in den Fokus ge-
nommen werden. Die dafür vorgesehenen Mittel von
jährlich 11 Millionen Euro bedeuten pro Bundesbürger
einen Betrag von nur 14 Cent. Das ist nicht ausreichend.
Immerhin beklagen wir pro Jahr um die 600 Todesopfer
im Radverkehr. Die Zahl der Fahrradunfälle mit Perso-
nenschaden ist im Jahr 2003 sogar um 7,7 Prozent auf
über 76 000 angestiegen. Alarmierend!
Wer für mehr Radverkehr in Deutschland sorgt, wer
in diesem Verkehrsbereich Defizite und Barrieren ab-
baut, wer bei einer bundesweiten Kampagne für das Rad
mitmacht, der findet unsere Anerkennung und unsere
Unterstützung. Mit einem Dank an alle radfahrenden
MdB-Kollegen möchte ich schließen. Immer mehr par-
ken ihr Zweirad im Regierungsviertel und sogar von den
Bündnisgrünen-Kollegen haben einige ihre Autophase
beendet und sind wieder auf das Rad umgestiegen. Es
lebe die Einsicht!
Klaus Brähming CDU/CSU: Das Ziel des Antrags
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel „Den
Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern“
war es, Deutschland noch fahrradfreundlicher zu gestal-
ten und das Potenzial des Fahrradtourismus für die deut-
sche Wirtschaft besser auszuschöpfen. Dies gilt sowohl
für die deutschen Fahrradhersteller, wie beispielsweise
Biria in Neukirch in Sachsen, als auch für den weiteren
Auf- und Ausbau einer hochwertigen Infrastruktur rund
um die regionalen und überregionalen Radwanderwege.
Radfahren dient nicht nur der Gesundheit und ist eine
Fortbewegung mit dem umweltfreundlichsten Verkehrs-
mittel überhaupt, sondern in Verbindung mit dem Fahr-
radtourismus ist Radfahren auch ein wichtiger, wachsen-
der Wirtschaftsbereich in Deutschland. Die neuesten
Zahlen bestätigen die wachsende Bedeutung des Fahr-
radtourismus für die deutsche Tourismuswirtschaft. Im
Jahr 2003 haben 2,25 Millionen Deutsche einen mehrtä-
gigen Urlaub auf dem Sattel verbracht. Dies stellt eine
12,5-prozentige Steigerung gegenüber dem Vorjahr dar.
Die Zunahmen gehen dabei fast vollständig auf die Zu-
nahmen im Deutschlandtourismus zurück.
Nach einer Umfrage der Forschungsgemeinschaft Ur-
laub und Reise – FUR – nimmt der Fahrradurlaub auch
zukünftig zu: 10,1 Prozent der Deutschen, das sind fast
6,5 Millionen Menschen, planen für die nächsten drei
Jahre „ziemlich sicher“ oder „wahrscheinlich“ mindes-
tens eine Radreise. Wie wichtig Radurlauber mittler-
weile als Wirtschaftsfaktor sind, zeigt folgende Zahl:
Die Gesamtausgaben von knapp 70 000 Radtouristen
und Tagesausflüglern im sächsischen Teil des Elberad-
weges betrugen von April bis Oktober 2003 27,93 Mil-
lionen Euro. Aus diesen Gründen haben wir den heute zu
debattierenden Antrag in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht.
In dem Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
wird die rot-grüne Bundesregierung beispielsweise dazu
aufgefordert, den Ausbau überregionaler Radwege und
die WegbeschiIderung der überregionalen Routen voran-
zutreiben und sich bei der Deutschen Bahn AG für eine
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undenfreundlichere Fahrradmitnahme vor allem in
ochgeschwindigkeitszügen einzusetzen. In den Aus-
chusssitzungen bezeichneten die Koalitionsfraktionen
on SPD und Bündnis 90/Die Grünen zahlreiche unserer
orderungen als überholt oder nicht sinnvoll bzw. außer-
alb der Zuständigkeit des Bundes und verwiesen statt-
essen auf den Nationalen Radverkehrsplan der Bundes-
egierung als dem richtigen Instrument zur Förderung
es Fahrradverkehrs.
Die Regierungskoalition will daher heute gegen den
ntrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen und
as stimmt mich persönlich traurig, denn es gibt durch-
us gemeinsame Ziele. Beispielsweise haben SPD und
ündnis 90/Die Grünen selbst einen Antrag mit dem
itel „Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans
002–2012 forcieren“ in den Deutschen Bundestag ein-
ebracht. Schon aufgrund des Titels dieses Antrags wird
lso deutlich, dass die Regierungskoalition Fehleinschät-
ungen und Umsetzungsprobleme bei ihrem eigenen
adverkehrsplan einräumt. Gleichzeitig wird der heute
ebattierte Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Be-
ründung abgelehnt, der Radverkehrsplan der Bundesre-
ierung aus dem Jahre 2002 sei das allein glücklich ma-
hende Instrument zur Förderung des Radtourismus.
as gilt denn nun?
Bei einer tiefer gehenden Beschäftigung mit dem An-
rag der Regierungskoalition zum Thema Radverkehrs-
lan werden weitere Widersprüche deutlich. In diesem
ntrag wird die rot-grüne Bundesregierung von den sie
ragenden Fraktionen ermahnt, „die Deutsche Bahn AG
ufzufordern, ein Konzept für die Fahrradmitnahme im
ernverkehr unter Berücksichtung des ICE vorzulegen,
as geeignet ist, verlorene Marktanteile bei der Beförde-
ung von Fahrradtouristen von und zu ihren Urlaubszie-
en zurückzugewinnen“. Recht hat die Regierungskoali-
ion, denn Radler nutzen die Bahn erheblich stärker als
ndere Touristen. Nach Angaben des Allgemeinen Deut-
chen Fahrradclubs – ADFC – wählten im Jahr 2003
1,8 Prozent der Radtouristen die Bahn für die Rück-
eise von ihrer Radtour. Bei der Anreise stieg der Bahn-
nteil auf 36,3 Prozent. Insofern ist es mir ein völliges
ätsel, wie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere
orderung nach einer Fahrradmitnahme im ICE mit der
egründung ablehnt, man wolle nicht in die unterneh-
erische Freiheit der Deutschen Bahn AG eingreifen.
ie Initiative der Regierungskoalition ist dann also kein
ingriff in die unternehmerische Freiheit?
Weiterhin heißt es in dem eben erwähnten Antrag der
egierungskoalition, man wolle die Bundesregierung
uffordern, „das Radfernwegenetz – D-Netz – weiter
uszubauen und durch die Einrichtung einer Koordinie-
ungsstelle gemeinsam mit den Ländern für die Umset-
ung eines hohen Ausbau- und Beschilderungsstandards
u sorgen, da es an einer länderübergreifenden Koordi-
ierung mangelt“. Genau die gleiche Forderung erheben
uch wir mit unserem Antrag. Unser Antrag wird aller-
ings mit der Begründung abgelehnt, diese Themen wür-
en in den Zuständigkeitsbereich der Länder und der
ommunen fallen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12751
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Angesichts dieser Tatsachen wird deutlich, dass die
Ablehnung unseres Antrages weniger auf inhaltlichen,
als vielmehr auf ideologischen Gründen basiert. Seit
Jahren hinken Sie als Regierungskoalition unseren Ini-
tiativen zur Förderung des Radverkehrs und des Fahrrad-
tourismus hinterher. Mein Kollege Wolfgang Börnsen
und ich freuen uns zwar, dass Sie unsere Forderungen
mit etwas Zeitverzögerung übernehmen, bedauern aber
den fehlenden Hinweis auf die Ideengeber. Diese un-
ideologischen Probleme hätte man auch gemeinsam an-
gehen können. Dafür braucht man wahrscheinlich aber
Diskussionspartner auf gleicher Höhe und keine Beifah-
rer im Windschatten.
Wir werden auch weiterhin die Finger in die offenen
Wunden legen und sind gespannt auf die nächste Fahr-
raddebatte im Plenum zur Beantwortung der Großen An-
frage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem Titel
„Mit dem Fahrrad zur Arbeit“.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Als wir vor zwei Jahren den Nationalen Radverkehrs-
plan verabschiedet haben, geschah dies über alle Frak-
tionen hinweg einstimmig. Das war ein gutes Signal und
ein Aufbruch für eine neue Verantwortung des Bundes in
Sachen Radverkehr.
Auch wenn wir heute mehrere Anträge debattieren
und wohl auch unterschiedlich abstimmen, so bleibt der
Konsens im Kern doch erhalten. Alle Fraktionen wollen,
dass mehr für die Förderung des Radverkehrs getan wird
und dass die Bundesregierung die Umsetzung des Natio-
nalen Radverkehrswegeplans engagiert vorantreibt.
Unser Antrag ist aktueller, enthält übrigens viele
Punkte, die auch die Union fördert. Sie können also
durchaus zustimmen, denn der Antrag zieht eine durch-
aus kritische Bilanz der Tätigkeit des Bundesverkehrs-
ministeriums und fordert zahlreiche Maßnahmen ein, um
das Thema Radverkehr auf einen vorderen Platz der ver-
kehrspolitischen Agenda zu holen.
Ein erster Erfolg des Antrags ist es, dass im Bundes-
verkehrsministerium endlich eine Arbeitsgruppe Rad-
verkehr eingerichtet worden ist, die sich voll und ganz
dem Thema „Umsetzung des Nationalen Radverkehrs-
plans“ widmen kann. Diese Arbeitsgruppe wird in den
kommenden Wochen noch zusätzlich personell verstärkt
werden. Mittelfristig sehen wir dennoch Bedarf für ein
eigenes Referat für den Radverkehr. Es kann nicht sein,
dass ein Verkehrsträger wie das Fahrrad ohne institutio-
nellen Ansprechpartner ist, während sich alleine acht
Referate mit dem Thema Wasserstraßen in Deutschland
befassen.
Positiv ist, dass die zwei Millionen Euro für nicht in-
vestive Maßnahmen zur Umsetzung des NRVP, die die
rot-grünen Fraktionen seit diesem Jahr erstritten haben,
beginnen Wirkung zu zeigen.
Wir freuen uns sehr, dass das erfolgreiche Programm
von ADFC und AOK „Mit dem Rad zur Arbeit“ dieses
Jahr mit rund 250 000 Euro aus diesen Mitteln gefördert
werden konnte. Das Fahrradportal im Internet wird dem-
nächst online gehen. Nachdem eine Projektträgerschaft
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nstalliert wurde, sind nun Ausschreibungen für Projekte
estartet worden, die zum Beispiel die Hemmnisse im
rdnungsrecht systematisch analysieren und Verbesse-
ungsvorschläge machen sollen, die die Übertragbarkeit
iner Stiftung FahrRad, wie sie in der Schweiz existiert,
rüft und die eine Förderfibel erstellt, in der für Kommu-
alpolitiker und -verwaltung eine leicht verständliche
bersicht über die Vielzahl an schon existierenden För-
ermöglichkeiten zur Förderung des Radverkehrs ge-
chaffen wird.
Wir halten es im Übrigen für sinnvoll, bei der Vergabe
er nicht investiven Mittel in Zukunft einem Beirat mit-
irken zu lassen, dem Vertreter des Bundes, der Länder,
er Verbände, der Wissenschaft und der Zweiradindus-
rie angehören. So würde gewährleistet, dass die Aus-
ahl der Projekte praxisnah und mit Expertise erfolgt.
leichzeitig kann der Beirat genutzt werden, um die
rojekte und ihre Ergebnisse in der Öffentlichkeit be-
annter zu machen.
Der Antrag der Koalition fordert zudem ein Konzept
on der Deutschen Bahn AG, wie sie sich die Zukunft
er Fahrradmitnahme im Fernverkehr vorstellt. Die Zah-
en sind, wie der Antrag ausführt, dramatisch: In den
etzten fünf Jahren hat sich die Zahl der transportierten
adreisenden fast halbiert. Die Position der Bahn, in Zu-
unft weiter nur das IC/EC-Netz für den Radtransport zu
ffnen, ist für uns nicht hinnehmbar. Das IC/EC-Netz
oll noch weiter ausgedünnt und durch ICE ersetzt wer-
en. Von Berlin nach München oder von Köln nach
resden käme man bei Fahrradmitnahme dann nur noch
it vier- bis fünfmaligem Umsteigen mit Nahverkehrs-
ügen. Auch die Umbaukosten, die von der Bahn bei je-
er passenden und unpassenden Gelegenheit genannt
erden, sind für uns nicht nachvollziehbar. Der ICE-T
st schon heute für die Fahrradmitnahme vorgerüstet.
er Umbau des ICE 1 könnte fahrradgerecht ohne Mehr-
osten erfolgen. Wenn die Bahn an dieser Stelle nicht
insicht zeigt, werden wir zu prüfen haben, ob eine Be-
örderungspflicht nicht Gegenstand des Allgemeinen Ei-
enbahn-Gesetzes werden muss.
Sorge bereitet uns auch nach wie vor, dass das Geld
ür den Bau von Radwegen an Bundeswasserstraßen
icht abfließt. Hier wird intensiv über Lösungsmöglich-
eiten nachgedacht, zum Beispiel über eine Verschie-
ung dieser Mittel in das Gemeindeverkehrsfinan-
ierungsgesetz, GVFG. Der Antrag fordert die
undesregierung zudem auf, mit den Ländern in Ver-
andlungen über eine Zweckbindung von mindestens
ünf Prozent der Mittel für die Förderung des Radver-
ehrs zu verhandeln. Hier wird zunächst das Ergebnis
er Föderalismuskommission abzuwarten sein, wo es,
ie man hört, Bestrebungen gibt, das GVFG als Misch-
inanzierung abzuschaffen. Unabhängig vom Ausgang
ieser Verhandlungen müssen wir in Zukunft dafür sor-
en, dass mehr Geld in die kommunale Radverkehrsin-
rastruktur investiert wird. Nur so holen wir die Men-
chen aus den Autos auf die Räder. In Zeiten knapper
ittel sei nochmals daran erinnert: Die Förderung von
adverkehr ist die preiswerteste Verkehrspolitik und zu-
leich ein Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz. Und
12752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
zu guter Letzt: auch ein Beitrag zur Gesundheitspräven-
tion.
Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es ist doch
schon interessant, was diese Bundesregierung unter
„Mobilität“ versteht. Anscheinend gibt es eine neue so-
zialdemokratische Definition: Stillstand. Das sind wir ja
aus anderen verkehrspolitischen Bereichen schon ge-
wohnt. Aber dass es bei der Umsetzung des Ziels, mehr
Radverkehr in Deutschland zu fördern, derartige Verzö-
gerungsspielchen gibt ist wirklich unglaublich. Was tun
denn eigentlich die nachhaltig durch die Liebe zur Mut-
ter Natur durchdrungenen Gutmenschen in dieser fulmi-
nanten Bundesregierung für den Radverkehr in Deutsch-
land? Erst ablehnen und dann nachdenken. Das tun sie.
Im Verkehrsausschuss wurde von den Mitgliedern
beider Koalitionsfraktionen der Antrag auf unverzüg-
liche Vorlage eines Fortschrittsberichts – dieser Begriff
ist ja schon der reinste Euphemismus – zum Radver-
kehrsplan abgelehnt mit der Begründung, dass ja der
sehr ambitionierte Radverkehrsplan vorliege, der aber zu
langsam umgesetzt worden sei und man diese Umset-
zung nun beschleunigen müsse. Für diese Erkenntnis
haben die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen zwei Jahre gebraucht.
Same procedure as every year! Denn wir haben vor
einem Jahr bereits abgefragt, was denn überhaupt schon
von dem „Masterplan für den Radverkehr“ umgesetzt
wurde. Natürlich nicht sehr viel. Mittlerweile haben dies
also auch die Kollegen der Mehrheitsfraktionen mitbe-
kommen.
Aber vielleicht wollte man vonseiten der Bundesre-
gierung auch das erreichen, was im Laufe des letzten
Jahres eingetreten ist: Der Anteil der Rad Fahrenden in
Deutschland ist nach jüngsten Zahlen gesunken. Wenn
Sie glaubwürdige Politik für den Radverkehr machen
wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitions-
fraktionen, muss mehr geschehen als das Beantragen ei-
ner Forcierung einer Umsetzung eines Plans.
Was könnte man also für den Radverkehr tun? Viel-
leicht sollte man das Wort „Handlungsempfehlungen“
im Nationalen Radverkehrsplan wörtlich nehmen und
pragmatisch vorgehen. Einen Haushaltstitel eigens für
Fahrradverkehrsinfrastruktur einführen und das Gemein-
deverkehrsfinanzierungsgesetz ändern ist ja ein schöner
Ansatz. Aber die Vorschläge der Kommunen und Flä-
chengemeinden sowie Fahrradverbände zu prüfen wäre
weitaus effizienter. Gerade in strukturschwachen Re-
gionen ist der Fahrradtourismus wichtig. In Zeiten von
leeren Gemeindekassen ist dieser Wirtschaftzweig eine
wichtige Einnahmequelle geworden. Um regulierungs-
wütige Aktionen zu verhindern und sinnvolle umzuset-
zen, sollte die Steuerungsgruppe Fahrradverkehr im
Ministerium mit entsprechenden Kompetenzen ausge-
stattet werden und endlich handeln. Eine gute Maß-
nahme wäre die Erneuerung der Schilder für Rad Fah-
rende an Wegen und Straßen. Notwendig sind neue
Beschilderungen für Fahrradtouristen. Aber bevor man
sich ein zusätzliches System ausdenkt, sollte man eher
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ber die „Lichtung“ des allgemein vorhandenen Schil-
erwaldes diskutieren.
Vorbildlich für eine gut funktionierende Kooperation
wischen Politik und Verbänden ist das Projekt des
DFC und des baden-württembergischen Wirtschafts-
inisteriums mit dem Titel „Bett & Bike – Fahrrad-
reundliche Beherbergungsbetriebe in Baden-Württem-
erg.“ 1995 gab es 216 Einträge – zehn Jahre später sind
s 3 500. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koali-
ionsfraktionen, ich will Sie nicht überfordern, daher er-
ähne ich nur noch zum Schluss, dass es neben der Um-
etzung des Nationalen Radverkehrsplans noch einige
ndere Problemfelder gibt, die zum Thema Fahrradver-
ehr in Deutschland dazu gehören. Die Verkehrssicher-
eit der Rad Fahrenden ist zu bedenken, allerdings ist
nterdessen bei dem Zustand der Straßen in Deutschland
ast jeder Verkehrsteilnehmer gefährdet. Zum Thema
adverkehr und damit auch Straßenverkehr gehört aber
uch die Reform der Verkehrserziehung und der Fahrleh-
erausbildung. Das Vorhalten von Verkehrsinfrastruktur
eicht nicht aus, das Verhalten der Verkehrsteilnehmer
ntereinander ist mindestens genauso wichtig. Die Voll-
ugsdefizite bei Verkehrskontrollen wie auch die techni-
che Ausrüstung von LKW und PKW sind ebenfalls
tändig in der Diskussion.
Zu guter Letzt komme ich zu meinem Lieb-
ingsthema, der DB AG. Sie „aufzufordern, ein Konzept
ür die Fahrradmitnahme im Fernverkehr unter Berück-
ichtigung des ICE vorzulegen“, wie die Kolleginnen
nd Kollegen der Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag
agen, mag ja noch realistisch sein. Es im Sinne der mit
ahrrad Reisenden zu realisieren leider nicht. Aber das
roblem würde gar nicht existieren, gäbe es einen Wett-
ewerb im Personenfernverkehr auf der Schiene.
Also: Die Voraussetzung für einen erfolgreichen Rad-
ourismus und damit mehr Fahrrad Fahrenden in
eutschland sind ordentliche Radwege, eine einfache
nd gut verständliche Beschilderung sowie eine gute
ernetzung der verschiedenen Verkehrsträger. Entschei-
end dafür ist die enge Zusammenarbeit zwischen Bund,
ändern und Verbänden.
Einen Nationalen Radverkehrsplan, der unbeachtet in
rgendeiner Schublade des Bundesverkehrsministeriums
or sich hin modert, braucht keiner.
nlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Pilotprojekt für die
virtuelle Rekonstruktion von vorvernichteten
Stasi-Unterlagen beginnen (Tagesordnungs-
punkt 13)
Barbara Wittig (SPD): In den letzten Wochen des
estehens der DDR hat das Ministerium für Staats-
icherheit in großem Umfang Akten vernichtet – auf un-
erschiedliche Weise. Circa 16 000 Säcke mit zerrisse-
em Material konnten sichergestellt werden – es waren
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12753
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circa 600 Millionen Schnipsel. Sie stammen überwie-
gend aus der Zeit von 1980 bis 1989.
Gerade diese Unterlagen aus den letzten Jahren der
Existenz der Stasi sind aber von besonderem Interesse.
Zwar hatte die Leitung der Stasi mit ihrer Weisung vom
22. November 1989 versucht, die aus ihrer Sicht schutz-
würdigen Quellen hastig zu vernichten, doch das gelang
zum Glück nur teilweise. Die mehr als 16 000 Säcke mit
zerrissenem Material sind der Beweis dafür.
Wir alle wissen es zu schätzen, dass fleißige Mitarbei-
ter in mühevoller Kleinarbeit per Hand seit 1995 insge-
samt mehr als 500 000 Seiten wiederhergestellt haben.
Das rekonstruierte Material ist nicht nur interessant –
nein, es ist von unschätzbarem historischen Wert. Des-
halb ist es auch der politische Wille aller Fraktionen des
Bundestages, diese Unterlagen wiederherzustellen, und
zwar IT-gestützt. Dass das möglich ist, davon haben wir
uns im Fraunhofer-Institut überzeugt.
Der Haken ist nur der: Das ganze Projekt mit
16 000 Säcken würde 60 Millionen Euro kosten. Ein Pi-
lotprojekt mit nur 400 Säcken würde 6,3 Millionen Euro
kosten. Um dieses Pilotprojekt mit nur 400 Säcken geht
es der CDU/CSU in ihrem Antrag.
Ein solches Pilotprojekt müsste in zwei Phasen ablau-
fen:
2005 müsste der Bund 2,2 Millionen Euro für die
Weiterentwicklung der Software zur virtuellen Rekons-
truktion bis zur Produktionsreife bereitstellen.
2006 wären für die Test- und Evaluierungsphase, in
der Unterlagen aus 400 Säcken im industriellen Maßstab
rekonstruiert werden sollen, weitere 4,1 Millionen Euro
nötig.
Diese Mittel haben wir zurzeit nicht – weder für das
Pilotprojekt noch für das Gesamtprojekt. Die Bericht-
erstatter aller Fraktionen im Haushaltsausschuss haben
dies übrigens auch so gesehen.
Wenn die CDU/CSU heute in der so genannten Berei-
nigungssitzung des Haushaltsausschusses einen Antrag
stellt, 2,2 Millionen Euro bereitzustellen, ohne zu sagen,
wo dieses Geld hergenommen werden soll, dann ist das
unredlich und verantwortungslos.
Unsere Position ist folgende:
Am Ziel der Rekonstruktion der vorvernichteten
Unterlagen halten wir fest. Das Projekt – und zwar das
Gesamtprojekt – müssen wir aus finanziellen Gründen
zurückstellen. Deshalb muss das Material sicher unterge-
bracht bleiben.
Abschließend möchte ich deshalb meine besondere
Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass der Haus-
haltsausschuss heute knapp 3 Millionen Euro für 2005
bereitstellen wird, um mit den notwendigen Struktur-
maßnahmen in der Behörde der Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema-
ligen DDR beginnen zu können.
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Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Bereits
m Jahr 2000 hat der Deutsche Bundestag beschlossen,
lektronische Bildauswertungssysteme zur Rekonstruk-
ion von zerrissenen Stasi-Unterlagen einzusetzen. Die-
er Beschluss wurde von allen Fraktionen dieses Hauses
etragen. Begründet wurde er vor allem damit, dass die
orvernichteten Stasi-Unterlagen hochaktuell sind, weil
ie vorwiegend aus den letzten DDR-Jahren stammen.
ie sind hierdurch besonders wertvoll und authentisch.
Aus einem sehr sorgfältigen Ausschreibungsverfah-
en, an dem sich 15 Anbieter beteiligt hatten, ging der
uschlag schließlich an ein Konsortium aus dem
raunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Kon-
truktionstechnik und der Lufthansa-Tochter GbD. Der
usschreibungssieger erstellte zunächst einmal eine
achbarkeitsstudie. Diese Studie formulierte die techni-
chen Möglichkeiten, die Kosten und auch die politi-
che, historische und menschliche Bedeutung der bereits
usammengesetzten Unterlagen.
In zehnjähriger Puzzletätigkeit sind Papierschnipsel
us 250 Säcken zusammengesetzt worden. Das sind
war gerade einmal 1,5 Prozent der Gesamtmenge; aus
ieser relativ geringen Zahl sind allerdings äußerst be-
eutsame personen- und sachbezogene Unterlagen her-
orgegangen. Immerhin 970 registrierte Vorgänge über
pfer und Täter haben sich hieraus ergeben. Aus der Li-
eratur waren es Günter Wallraff, Sascha Anderson,
tefan Heym oder Jürgen Fuchs. Es fand sich Material
ber die Dopingmediziner Wendler und Krämer, die
AF-Terroristen Baader/Ensslin, Maier-Witt oder
lbrecht; aber auch wichtige Unterlagen über Oppositio-
elle wie Robert Havemann, Bärbel Bohley, Ulrike und
erd Poppe, Rainer Eppelmann oder Wolf Biermann wur-
en zusammengesetzt. Von den Sachvorgängen nenne ich
ur Berichte und Maßnahmen zu Parteiengründungen und
rotestbewegungen des Herbst 1989, über Verhandlungen
um Grundlagenvertrag oder über Rechtsextremismus
nd jugendliche Randgruppen in der DDR.
Damit sind in den insgesamt noch nicht bearbeiteten
6 250 Säcken noch zahlreiche interessante Unterlagen
u erwarten. Das Pilotprojekt hätte den Charme, nicht
ur die praktische Wirksamkeit des elektronischen Ver-
ahrens in der Alltagspraxis auf den Prüfstand zu stellen.
s würde vielmehr auch ohne eine mögliche Fortsetzung
ach einem Jahr Sinn machen. Mit Blick auf die bisheri-
en wertvollen Erkenntnisse der zusammengepuzzelten
eiten sind auch aus den 400 zusätzlichen Säcken wei-
ere interessante Inhalte zu erwarten. Wir wissen jetzt
uch, dass das Puzzeln von Hand sogar bedeutend teurer
ar als die elektronische Anwendung; denn auch das
anuelle Verfahren war nicht umsonst. Wenn man die
leichen Maßstäbe anwendet, welche das Innenministe-
ium für das elektronische Verfahren gesetzt hat, dann ist
as Handpuzzeln dreimal so teuer wie die neuen techni-
chen Möglichkeiten.
Bisher sind in zehn Jahren immerhin 11,385 Millio-
en Euro für 250 Säcke aufgewandt worden. Elektro-
isch rekonstruiert kosten 400 Säcke jetzt 6,3 Millionen
uro. Leider scheinen Sie von Rot-Grün die Maxime
Hinhalten der Opposition und der Wissenschaft durch
12754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
Beschäftigung“ ausgegeben zu haben. Eine ganze Reihe
von Terminen mit der Birthler-Behörde, mit dem Fraun-
hofer-Institut und mit den Haushaltsberichterstattern
sollte der Öffentlichkeit vorspielen, sei Rot-Grün es mit
dem Suchen nach einer Lösung wirklich ernst. Vollmun-
dig wird immer wieder die Wichtigkeit der weiteren
Aufarbeitung der Stasi-Akten betont. Noch am 22.Okto-
ber 2003 wollte Herr Wiefelspütz „das Projekt energisch
vorantreiben“. Er sagte wörtlich: „Es dauert mir zu
lange.“
Wenn es allerdings konkret wurde, dann wurden sie
ganz kleinlaut. Ihr ganzer Aktionismus war also reine
Nebelwerferei. Seit dem Juli 2000 haben sie mehrmals
Anträge der Union abgelehnt, zumindest erste kleinere
Summen in die jeweiligen Haushalte einzustellen. Herr
Wiefelspütz und Frau Stokar haben uns immer wieder
versichert, dass die Regierung ihren Worten auch glaub-
hafte Taten folgen lassen würde. Bei den Haushaltsbera-
tungen im Innenausschuss mussten sie kapitulieren. Sie
stellten keinen einzigen Cent für das Projekt ein. Herr
Wiefelspütz selbst bezeichnete diesen Vorgang als
„Stunde der Wahrheit“.
Gerade in diesen Tagen fällt auf, dass diese Bundesre-
gierung nach wie vor ein gebrochenes Verhältnis zur
Überwindung der deutschen Teilung hat. Sie will die
Häftlingshilfestiftung für SED-Opfer im nächsten Jahr
abwickeln. Sie stattet die Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur nicht mit den notwendigen Mitteln aus.
Engagierte Koalitionsvertreter wie Markus Meckel oder
Werner Schulz beklagen sich zu recht darüber. Sie wollte
sogar allen Ernstes den Tag der Deutschen Einheit als
gesetzlichen Feiertag streichen. Die Aufarbeitung und
Bewältigung der SED-Diktatur hat bei dieser Regierung
keine Lobby.
Die Regierung hat sich auch geweigert, die neu ent-
standene Gerechtigkeitslücke in Deutschland zu schlie-
ßen. Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach
verbesserten Rentenregelungen für ehemals staatsnahe
Personen bis hin zu Stasi-Mitarbeitern wurde von ihr er-
füllt. Gleichzeitig stimmte sie aber gegen unseren Antrag
nach einer Besserstellung der SED-Opfer. Herr Schily
lehnte zudem ab, gemeinsam mit Frau Birthler in der
Sendung vom 19. September bei Sabine Christiansen
vor die Kamera zu treten. Dabei ist die Stasi-Unterlagen-
behörde zu einem Exportschlager für viele Staaten ge-
worden, die gerade eine linke oder rechte Diktatur über-
wunden haben.
Die Birthler-Behörde ist ein moralischer TÜV, der für
die Ausbildung einer verfeinerten politischen Kultur in
Deutschland von immenser Wichtigkeit ist. Immer weni-
ger Menschen kennen die DDR aus eigenem Erleben. So
kommt Einrichtungen wie der Stasi-Unterlagenbehörde
oder der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
eine immer größere Bedeutung zu.
Wenn die Regierung schon für die Deutsche Einheit
und für die Opfer der SED-Diktatur nur wenig übrig hat,
dann sollte sie doch wenigstens der Anwendung einer
neuen technischen Innovation eine Chance geben.
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Angeblich will die Regierung auch deshalb keine
ittel in die Vergangenheitsbewältigung stecken, weil
ie einen Schwerpunkt ihrer Politik in der Förderung von
orschung und Technologie sieht. Unter dem Eindruck
ines Transrapid, der im Alltagsbetrieb nicht zwischen
amburg, Schwerin und Berlin, sondern in China fährt,
ällt es allerdings schwer, ihr dies zu glauben.
Wenn die Bundesregierung diese Maxime trotzdem
ür sich beansprucht, dann verstehe ich überhaupt nicht,
arum sie die Chancen nicht nutzen will, die sich aus
eiteren Anwendungsmöglichkeiten des elektronischen
erfahrens ergeben. Wie wir wissen, bestehen aus dem
usland bereits Anfragen für so unterschiedliche Fach-
ebiete wie Archäologie, Kunst, Medienwirtschaft, Kri-
inal- und Polizeitechnik. Seit Monaten fordere ich die
undesregierung auf, einen Vertragsentwurf zu erarbei-
en, der dem Deutschen Bundestag die Rechte an dem
echnischen Verfahren sichert. Bereits im Mai hat das
raunhofer-lnstitut in einem Schreiben an das Innenmi-
isterium und an Berichterstatter darauf hingewiesen,
ass die Umsetzung dieser Pläne nur gelingen wird,
enn es schnell geht.
Wörtlich heißt es:
Wie der internationale Forschungs- und Industrie-
markt zeigt, hängen Innovationen insbesondere da-
von ab, wie schnell man Ideen umsetzen kann. Wir
müssen leider bereits registrieren, dass in mehreren
Ländern Forschungszentren bzw. Industrieunter-
nehmen unsere Ideen im Zusammenhang mit der
virtuellen Rekonstruktion aufgegriffen haben, man
von staatlicher und privater Seite investiert und in
diese Richtung Produkte plant. Es wäre schade,
wenn der wissenschaftliche und technische Vor-
sprung verspielt wird und hoch qualifizierte Ar-
beitsplätze in unserem Land nicht entstehen wür-
den.
Ich kann die Regierung nur bitten, nach vier Jahren
iskussion endlich ein Zeichen zu setzen. Nutzen wir
ie sich bietenden Möglichkeiten zur praktischen Aufar-
eitung der SED-Diktatur! Geben wir dem neuen techni-
chen Verfahren eine praktische Anwendungschance in
eutschland!
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN): Im Berliner Ministerium für Staatssicherheit
nd seinen Bezirksverwaltungen lief während der
ende zwischen Herbst 1989 und Januar 1990 eine bei-
piellose Aktion zur Spurenverwischung. MfS-Offiziere
ollten die Spuren ihrer Tätigkeit verwischen. Sie zer-
issen Unterlagen und bereiteten sie für die Vernichtung
or. Das Ergebnis: 16 000 Säcke voll mit Papierschnip-
eln, die erhalten geblieben sind. Nun sollen die Frag-
ente mit Computerhilfe automatisiert wieder zusam-
engesetzt werden.
Nach der Besetzung von Kreis- und Bezirksstellen
es MfS im Dezember 1989 konnten Bürgerkomitees
usammen mit der Militärstaatsanwaltschaft und der
olkspolizei einen großen Teil dieses nicht endgültig,
ondern eben nur vorvernichteten Materials sichern.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12755
(A) )
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Nach Gründung der Behörde des BStU wurden circa
16 000 Säcke gezählt, die circa 600 Millionen Papier-
schnipsel enthalten. Die Erschließungsergebnisse bestä-
tigten die Annahme, dass die Stasi-Offiziere 1989 vor al-
lem aktuelle und brisante Unterlagen aus den letzten
20 Jahren der DDR zu vernichten suchten.
Im Jahr 1995 wurde in Zirndorf bei Nürnberg damit
begonnen, besonders relevante Unterlagen per Hand zu-
sammenzusetzen. Die so genannte Projektgruppe Re-
konstruktion besteht gegenwärtig aus zwölf Beschäftig-
ten des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge. In mühevoller Arbeit haben die Beschäftig-
ten über 500 000 Blatt wieder zusammengefügt. Das ent-
spricht circa zehn Blatt pro Tag und Mitarbeiter. Mate-
rialien aus 250 Säcken konnten rekonstruiert werden.
Der Bundestag hat allen Anlass, den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für diese wichtige und verdienstvolle
Arbeit zu danken.
Mithilfe der manuellen Rekonstruktion konnten be-
reits über 1 000 Vorgänge rekonstruiert werden. Das wa-
ren keineswegs unwichtige Begebenheiten, sondern An-
gelegenheiten von erheblicher öffentlicher Bedeutung.
Die Birthler-Behörde macht hier darauf aufmerksam,
dass es sich beispielsweise bei IM-Unterlagen wie Ver-
pflichtungserklärungen um Unikate handelt.
Wiederhergestellt wurden auch Opferakten, mit deren
Hilfe Menschen, die von der Stasi verfolgt wurden, ihre
Rehabilitierung betreiben können. In den Säcken befin-
den sich auch Spionageunterlagen der Abteilung XV, die
nicht allzu häufig vorhanden sind.
Die Befunde der Zirndorfer Arbeit veranlassten dann
den Bundestag in einem fraktionsübergreifenden Be-
schluss vom Dezember 2000, die Bundesregierung auf-
zufordern, die Birthler-Behörde bei ihren Bemühungen
zu unterstützen, das zeit- und kostenintensive manuelle
Verfahren durch ein geeignetes IT-gestütztes Verfahren
zu ersetzen. Dies war Veranlassung für die BStU, schnel-
lere und effektivere Alternativen zur händischen Er-
schließung der Unterlagen aus den Papiersäcken zu
suchen, nachdem sich erste Überlegungen als zu kost-
spielig erwiesen hatten. Den Zuschlag bekam das Fraun-
hofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruk-
tionstechnik.
Uns liegt der Vorschlag für ein Pilotprojekt vor. Für
die Entwicklung der Software bis zur Produktionsreife
würden im Haushalt 2005 2,2 Millionen Euro benötigt.
Die Test- und Evaluierungsphase würde später beginnen,
aber 2006 würden Haushaltsmittel von 4,1 Millionen
Euro benötigt. Alles in allem beläuft sich die Kalkula-
tion auf circa 57,5 Millionen Euro, wenn man die För-
dergelder einrechnet.
Angesichts der Haushaltslage hat diese Zahl dazu ge-
führt, dass wir noch nicht so weit sind, im Bundeshaus-
halt verbindliche Zusagen machen zu können. Für mich
persönlich und für meine Fraktion heißt das aber nicht,
dass wir dieses wichtige Projekt beerdigen. Zwei Über-
legungen veranlassen mich, die Zuversicht nicht aufzu-
geben: Zunächst einmal bezieht sich die zitierte Gesamt-
kalkulation auf alle Kosten im Zusammenhang mit dem
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rojekt. Wir müssen aber auch die Kosten der manuellen
usammensetzung der Akten mit einberechnen. Allein
ür die Jahre 1995 bis 2004 beliefen sich die Personal-
osten der Behörde auf über 10 Millionen Euro. Eine
eitere Million kommt durch die rechnerischen Miet-
osten beim BAFL hinzu.
Ich denke auch, dass wir die Varianten näher unter die
upe nehmen müssen, die eine Rekonstruktion von we-
iger Säcken vorsehen. Möglicherweise lässt sich durch
tichproben eine bessere Vorsortierung nach dem Grad
er Wichtigkeit vornehmen.
Lassen Sie mich zusammenfassend festhalten, dass
ir fraktionsübergreifend weiter versuchen müssen, hier
ine Lösung zu finden, die der zeitgeschichtlichen He-
ausforderung, aber auch der Haushaltslage Rechnung
rägt.
Gisela Piltz (FDP): In Zeiten, in denen sich nach
üngsten Umfragen fast jeder fünfte Deutsche die Mauer
urückwünscht und der Bundesfinanzminister als erste
lternative den Tag der Deutschen Einheit am 3. Okto-
er streichen würde, wird deutlich, dass die Aufarbei-
ung der DDR-Diktatur nach wie vor aktuell ist und auch
ktuell sein muss.
Natürlich müssen wir uns in der wirtschaftlich ange-
pannten Lage in Deutschland die Frage gefallen lassen,
as wir uns leisten können und was nicht. Das gilt auch
ür diesen Bereich. Fakt ist: Die Wiederherstellung der
errissenen Stasi-Unterlagen ist ein wichtiger Mosaik-
tein der Aufarbeitung. In den Zeiten der Wende wurden
on den Stasi-Mitarbeitern systematisch wichtige Unter-
agen zerrissen. Das, was in dieser Zeit zerrissen wurde,
ar mit Sicherheit wichtig. Das Ergebnis sind über
6 000 Säcke voll mit Papierschnipseln. In den Jahren
eit 1995 haben sich zuletzt 13 Mitarbeiter der Birthler-
ehörde mit dem Zusammenfügen der Puzzlestücke be-
chäftigt. In fast zehn Jahren sind so 250 Säcke fertig ge-
tellt, 250 von 16 000.
Bei diesem Tempo müssten sich die letzten Betroffe-
en bis zur Aufklärung einer Bespitzelung noch über
00 Jahre gedulden. Das darf nicht sein.
Wie wir alle wissen, könnte mittels eines computerge-
tützten technischen Verfahrens eine Rekonstruktion we-
entlich schneller und kostengünstiger vorgenommen
erden.
Die schlichte Frage ist doch: Wollen wir die zerris-
enen Akten jetzt wiederherstellen oder packen wir die
äcke in den Keller, bis irgendwann dafür wieder Geld
ereitsteht? Ich bin der Überzeugung, wir müssen es
etzt anpacken.
Mit einem ersten Schritt, dem Pilotprojekt, könnten
nterlagen aus insgesamt 400 Säcken im industriellen
aßstab rekonstruiert werden, deutlich mehr als in den
etzten zehn Jahren per Hand.
Die FDP hat immer die Auffassung vertreten, dass bei
iner konsequenteren Umsetzung der neuen Regional-
truktur der BStU das hierfür notwendige Geld zur Ver-
ügung stehen könnte; denn uns war immer klar, dass
12756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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(B) )
zwei neue Großprojekte in diesem Bereich kaum zu
finanzieren sind. Dies ist von Rot-Grün im Innenaus-
schuss bis vor kurzem immer bestritten worden. Aber es
ist eben einfach, erst alle mit einzubinden; aber wenn es
um die konkrete Finanzierung geht, kneifen Sie.
Sie haben sich nicht wirklich mit unseren Vorschlägen
auseinander gesetzt, auch nicht mit denen der Haushäl-
ter. Ihnen ist eine halbgare Regionalstruktur lieber als
ein Anfang bei der Rekonstruktion. Mit unseren Vor-
schlägen müssten keine Mitarbeiter entlassen werden
und sie könnten zu den Rekonstruktionsarbeiten heran-
gezogen werden. 400 Säcke zerrissener Akten wären da-
mit innerhalb kurzer Zeit zusammengefügt und auswert-
bar. Im Vergleich zur manuellen Rekonstruktion mit
über zehn Jahren Bearbeitungszeit für weniger Säcke
und Kosten von über 10 Millionen Euro ist das ein ganz
erheblicher Vorteil.
Ich bin gespannt, wie Sie den Betroffenen erklären
wollen, dass sie zwar problemlos ihre Akten einsehen
könnten, aber sie nicht wissen, ob es vielleicht noch
mehr Unterlagen gibt, weil die noch nicht zusammenge-
setzt sind. Aufgabe der BStU ist die Lagerung und die
Wiederherstellung. Das sollten wir immer bedenken.
Auch 15 Jahre nach dem Fall der Mauer sollten wir
der Aufarbeitung der DDR-Diktatur einen hohen Stel-
lenwert einräumen. Die Rekonstruktion ist dazu ein
wichtiger Beitrag.
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Das Pilotprojekt für die Rekon-
struktion vorvernichteter Unterlagen ist ein ehrgeiziges
Projekt. Ehrgeizig nicht nur hinsichtlich der technischen
Herausforderung, in mehr als 16 000 Säcken aufbe-
wahrte Aktenschnipsel einzuscannen und elektronisch
zusammenzusetzen, sondern leider auch hinsichtlich der
hierfür erforderlichen Kosten.
Ich will hier nicht missverstanden werden: Diese Ein-
leitung soll nicht den Versuch darstellen, ein unliebsa-
mes Projekt über die Kostenfrage zu beerdigen. Die
Bundesregierung teilt das mit dem Projekt verfolgte
Ziel, neue Erkenntnisse über die Arbeit des Ministe-
riums für Staatssicherheit sowie über Täter und Opfer zu
gewinnen. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihres
Macht- und Repressionsapparates ist eine Aufgabe, der
die Bundesregierung unverändert einen hohen Stellen-
wert einräumt.
Hierzu gehört selbstverständlich auch der finanzielle
Einsatz. Ich darf daran erinnern: In den Jahren 1999 bis
2003 sind jährlich weit über 100 Millionen Euro allein in
die Behörde der Bundesbeauftragten geflossen. Trotz der
angespannten Haushaltslage sieht der Regierungsent-
wurf für die Behörde der Bundesbeauftragten – wie
2004 – auch im Jahr 2005 beachtliche 99 Millionen Euro
vor. An der Bewältigung der historischen Aufgabe der
Aufarbeitung der SED-Diktatur arbeiten dort mehr als
2 300 Mitarbeiter. Insgesamt flossen seit 1991 dafür aus
dem Bundeshaushalt rund 1,5 Milliarden Euro.
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Es ist aber leider eine unumstößliche Tatsache, dass
arüber hinaus im Haushalt 2005 kein Spielraum für
eue, kostenintensive Projekte vorhanden ist. Die Kos-
en für die Rekonstruktion der vorvernichteten Unterla-
en beschränken sich leider nicht auf die in Ihrem An-
rag erwähnten 6,5 Millionen Euro. Die Gesamtkosten
ür das Projekt betragen vielmehr rund 65 Millionen
uro. Hinzu kommen jährliche Folgekosten von circa
00 000 Euro, die im Kapitel der Behörde zu veranschla-
en wären. Wer diesen Zusammenhang nicht nennt – Ihr
ntrag verschweigt diese Tatsache –, rechnet den Betrag
on 6,5 Millionen Euro für das Pilotprojekt letztlich
das muss man ehrlicherweise sagen – schön.
Ob die Durchführung einer Pilotstudie Sinn macht,
enn nicht zumindest Aussichten bestehen, die zu erpro-
ende Technik dann auch wie geplant einzusetzen und
as Gesamtprojekt durchzuführen, erscheint mir zwei-
elhaft. Ich bestreite nicht die fachkundige Analyse der
undesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, die darauf
ingewiesen hat, dass aus den bereits rekonstruierten
nterlagen vor allem historisch und archivarisch wert-
olle Erkenntnisse gewonnen wurden. Dennoch: Der
ergleich der mutmaßlichen Ergebnisse der Pilotstudie
it den Aufwendungen und Ergebnissen der bisher er-
olgten manuellen Rekonstruktion ist unredlich. Dies
eiß jeder, der die personalwirtschaftlichen Hinter-
ründe kennt.
Hinzu kommt, dass – auch dies gehört zu einer voll-
tändigen Abwägung – die Pilotstudie – so sagt schon
ie Bezeichnung – nicht ohne technisches Risiko ist. Ob
ieses Risiko sowie die übrigen Einschränkungen hin-
ehmbar sind, ist letztlich eine Abwägungsfrage, die al-
erdings nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichti-
ung auch der Haushaltslage beantwortet werden kann.
Wie sind hier die Gegebenheiten? Der Haushalt des
undesministeriums des Innern für das kommende Jahr,
st durch Personalausgaben sowie von Mehrausgaben für
en Sicherheitsbereich gekennzeichnet. Gleichwohl leis-
et das Bundesinnenministerium auch seinen solidari-
chen Beitrag für die Konsolidierung des Bundeshaus-
alts. So sind unter anderem 100 Millionen Euro globale
inderausgabe im Haushaltsjahr 2005 im Einzelplan
es Bundesinnenministeriums zu erwirtschaften.
Bei der vorhandenen Haushaltslage muss der Ge-
ährleistung und Weiterentwicklung der inneren Sicher-
eit Priorität vor anderen, durchaus bedeutenden und
ünschenswerten Aufgaben eingeräumt werden. Für Si-
herheitsüberprüfungen der Beschäftigten im öffentli-
hen Dienst und anderer Personengruppen wird das Pro-
ekt ohnehin, und zwar weder das Gesamtprojekt noch
ie Pilotstudie, keine nutzbaren Erkenntnis mehr bringen
önnen, denn wie Ihnen bekannt ist, werden die Fristen
nsoweit Ende 2006 auslaufen.
Bei einer Verbesserung der Haushaltslage – darin sind
ich wohl die Fachpolitiker aller Fachrichtungen einig –
erden wir das Projekt der IT-gestützten Rekonstruktion
orvernichteter Unterlagen erneut auf die politische Ta-
esordnung setzen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12757
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(B) )
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation über Aus-
weise für Seeleute und zur vereinfachten
Freistellung vom Visumserfordernis
(Tagesordnungspunkt 14)
Dr. Margit Wetzel (SPD): Im Juni 2003, unmittelbar
nachdem 129 Mitgliedsländer der ILO mit allen Stim-
men der deutschen sowie der amerikanischen Delegation
das neue Übereinkommen über Identitätsausweise für
Seeleute angenommen hatten, appellierte der Verband
Deutscher Reeder an die Bundesregierung und die Ge-
setzgebungsorgane, die innerstaatliche Gesetzeslage
rasch an das neue Übereinkommen anzupassen und des-
sen Ratifizierung unverzüglich in die Wege zu leiten, da-
mit es zu einer schnellen internationalen Anwendung des
Übereinkommens kommt, um bereits eingeleitete regio-
nale Eigenentwicklungen künftig zu verhindern, die
nicht im Interesse der weltweiten und nationalen See-
schifffahrt liegen. Eigentlich ganz im Sinne der Regie-
rung, denn schon die G-8-Gipfeltreffen 2002 in Kanada
und im Juni 2003 in Frankreich hatten diese Forderung
aufgestellt.
Diese hochrangigen Bemühungen und der Appell der
Reeder hatten und haben einen sehr realen Hintergrund:
Die Internationale Konvention der IMO zum Schutz von
Schiffen und Häfen vor terroristischen Anschlägen, der
so genannte ISPS-Code, der auf Drängen Amerikas
Ende 2002 beschlossen und über die SOLAS-Vereinba-
rung schnellstmöglich, nämlich zum 1. Juli 2004, inter-
national in Kraft gesetzt wurde, hatte die Fragen der
Identitätskontrolle von Schiffsbesatzungen ausgespart.
Hier musste also dringend nachgearbeitet werden. Wieso
dringend? Weil nach den Anschlägen vom 11. Septem-
ber das internationale Bemühen um „security“ eine über-
ragende Bedeutung gewann, sich aber niemand Gedan-
ken darum machte, dass die 90 Prozent des Welthandels,
die über Schiffe abgewickelt werden, Arbeitskräfte brau-
chen, die an Bord dieser Schiffe arbeiten, die ihren Ar-
beitsplatz „Schiff“ in Häfen erreichen müssen. Besatzun-
gen – will man sie nicht wie Gefangene am Arbeitsplatz
behandeln, sondern ihnen ihre ganz normalen Men-
schenrechte zugestehen – müssen in Häfen zum Land-
gang von Bord dürfen. Reeder haben ein absolut ver-
ständliches Interesse daran, den Crewwechsel so
reibungslos wie möglich vollziehen zu können: Die
Identität von Seeleuten muss auf verlässlicher, moderns-
ter und international einheitlicher Grundlage, kosten-
günstig und schnell feststellbar sein, damit eine ausge-
wogene Balance geschaffen wird zwischen den
Sicherheitsbedürfnissen der Staaten, den individuellen
Menschenrechten der Seeleute und den Handelsinteres-
sen der Wirtschaft.
Dies alles wurde mit der ILO Konvention 185 er-
reicht. Unsere französischen Nachbarn haben zum Bei-
spiel sehr schnell ratifiziert: Die ILO 185 wird zum
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. Februar 2005 in Kraft treten. Jeder Seemann soll ei-
en international gleichen Identitätsausweis erhalten, ein
okument, das ihm die aktive Berufsausübung beschei-
igt, das später gegebenenfalls ein biometrisches Merk-
al enthält, ein Dokument, dessen Daten für Kontrollen
n einer international stets zugänglichen nationalen Da-
enbank gespeichert sind: das Dokument, das ihm nach
nternationalem Übereinkommen ohne weitere Bürokra-
ie den Landgang und zusammen mit seinem Pass mög-
ichst auch die visumsfreie Durchreise zum Schiffswech-
el oder zum Heimaturlaub ermöglichen soll.
icherheitsbegründete Ausnahmeregelungen sind selbst-
erständlich möglich.
Deutschland aber hat die Konvention wider Erwarten
isher nicht ratifiziert, sondern ist immer noch mit der
rüfung befasst. Und genau hier setzt der eigentlich ein-
ütige Wille des Parlaments – quer über alle Fraktionen
es Bundestages – ein: Wir wollen, dass die Prüfung
chnellstmöglich zu Ende gebracht, die Ratifizierung
orgenommen, in nationales Recht umgesetzt und vor
llem so schnell wie möglich zur Realität gebracht wird.
ie Unterschiede bezüglich des möglichen Verzichts auf
in Visum in den Anträgen der Fraktionen dürfen wir bei
ieser Debatte getrost vernachlässigen: Sie kommen,
enn überhaupt, erst zum Tragen, wenn es die nationale
esetzliche Implementierung der Prüfungsergebnisse
ibt. Gerade bei der Visumsfrage sollten wir einen er-
änzenden Blick auf die vom Europäischen Rat geplante
atenbank des Visa-Informationssystems VIS werfen,
as inklusive der biometrischen Daten bis Ende 2007
erwirklicht sein soll.
Warum haben wir Parlamentarier es denn so eilig?
arum drängen wir in Form von Anträgen und einer
lenardebatte die Ministerien zur Eile, wenn doch schon
eit mehr als einem Jahr geprüft wird? Werfen Sie mit
ir einen Blick auf die derzeitige Praxis in vielen Häfen
er Welt: Landgang ist für Seeleute aufgrund der kurzen
iegezeiten ihrer Schiffe inzwischen auch ohne Sicher-
eitshintergrund schon schwierig geworden. Für viele
on ihnen ist er inzwischen unmöglich. Zahlreiche wich-
ige Welthäfen haben seit dem 1. Juli 2004 derart kom-
lizierte, bürokratische Sicherheitsvorschriften, dass die
eit nicht reicht, all die bürokratischen Anforderungen
u erfüllen. So wird Verzicht auf Landgang erzwungen.
n vielen Häfen dürfen Seeleute aus islamischen Ländern
berhaupt nicht mehr von Bord. In manchen Häfen darf
ie ganze Besatzung nicht von Bord, wenn die Angaben
ines einzelnen Seemanns meist islamischer Herkunft
ngezweifelt werden. Selbst schwer kranke Seeleute
urften in amerikanischen Häfen nicht von Bord zur Be-
andlung gebracht werden. Das erinnert fatal an Rassen-
iskriminierung.
Oder stellen Sie sich vor, was mir aus dem Hafen
amburg berichtet wurde: Ein Seemann darf sein Schiff
um Landgang verlassen und soll, weil sein Schiff in-
wischen zum Laden oder Löschen an einen anderen Kai
erholt, dort nach drei Stunden wieder seine Arbeit an-
reten. Er kann aber nicht an Bord, weil an dem anderen
erminal andere Sicherheitsvorschriften gelten, die er
orher nicht kannte. Was dann? Pakistanische Besat-
ungsmitglieder durften in Brunsbüttel nicht einmal zum
12758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Landgang von Bord, um mit ihren Familienangehörigen
zu telefonieren. Oder denken Sie an all die Reedereien,
die ihre Crew wie üblich in irgendeinem Hafen der Welt
auswechseln wollen: Die alte Besatzung darf nicht von
Bord, darf nicht zum Flughafen, um zum nächsten Schiff
zu kommen oder den verdienten Heimaturlaub anzutre-
ten. Auch das ist übrigens in unserem Welthafen Ham-
burg geschehen. Wie viele Besatzungen mussten deshalb
schon weiterarbeiten und an Bord bleiben, obwohl der
Heuervertrag zu Ende war. Wie viel Leid bei Seeleuten,
wie viele unnötige Kosten bei Reedereien sind daraus
bereits entstanden. Seeleute werden wirklich zu Gefan-
genen auf ihren Schiffen – das kann so nicht bleiben, das
muss schnellstens geändert werden.
Landgang ist für den Seemann ein ebenso grundle-
gendes Menschenrecht wie das Recht darauf, seinen Ar-
beitsplatz erreichen und verlassen zu dürfen. Was wür-
den wir sagen, wenn man uns in unseren Häusern
einsperrte, Besucher nicht durchlässt und uns das Verlas-
sen des Hauses aus Sicherheitsgründen untersagt? Das
ist nicht vergleichbar? Oh doch! Denn auch Besuch darf
der Seemann in vielen Häfen nicht mehr empfangen. Da
ist zum Beispiel die Kapitänsfrau, die nach langer An-
reise zu ihrem Ehemann in der Schleuse Kiel-Holtenau
nicht an Bord durfte. Selbst den Diakonen der See-
mannsmission und den Vertretern der Gewerkschaft wird
das Betreten der Schiffe unendlich schwer gemacht: Sie
sind es, die wenigstens noch Kontakt zur Außenwelt
schaffen können, die Medikamente, Briefe von Angehö-
rigen oder die dringend benötigten Telefonkarten brin-
gen könnten – wenn man sie ließe. Aber auch da sieht es
schlimm aus: Seemannsdiakone berichten davon, dass
sie sich beim Zugang zum Hafen ausweisen müssen, am
Terminal noch einmal und an Bord des Schiffes ein drit-
tes Mal. In vielen Fällen müssen sie ihren Identitätsnach-
weis abgeben, was nach Verbrauch von Personalausweis
und Führerschein dann letztlich schwierig wird.
Da können wir nicht tatenlos zusehen. In jedem Ha-
fen, an jedem Kai, auf jedem Schiff andere Sicherheits-
bestimmungen – so kann kein Seemann arbeiten. Und
genau deshalb, aus dieser Verantwortung den Arbeitge-
ber für ihre Besatzungen heraus, kam auch der eingangs
erwähnte Appell der Reeder, dass wir für eine schnellst-
mögliche Umsetzung der Konvention 185 sorgen sollen.
Deshalb nun die einmütige Aufforderung der Fraktionen
an die Mitarbeiter in den Ministerien, die dort ihrer Prüf-
arbeit nachgehen: Bitte denken Sie daran, dass auf den
Schiffen Menschen arbeiten, Menschen mit dem Bedürf-
nis nach unbürokratischem Landgang, mit dem Bedürf-
nis, ihren Arbeitsplatz zu erreichen und verlassen zu
können, mit dem Bedürfnis, zurück in die Heimat zu ih-
rer Familie zu fahren. Um mehr geht es nicht, aber auch
nicht um weniger. Was unsere französischen Nachbarn
können, wollen wir auch, nämlich schnellstmöglich die
ILO Konvention 185 ratifizieren. Seeleute dürfen nicht
de facto über ihren Beruf als potenzielle Terroristen dis-
kriminiert werden. 129 Länderdelegationen haben im
Wissen um den ISPS-Code im Juni 2003 ihr Bestes ge-
tan, um die Menschenwürde der Seeleute, die Handelsin-
teressen der Reeder und die Sicherheitsbedürfnisse der
Staaten in Einklang zu bringen. Die Ausweise für See-
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eute, den damit visumsfreien Landgang und die erleich-
erte Durchreise – wo immer vertretbar – ohne Visum,
ber mit internationalem Seemannsausweis und nationa-
em Pass, hätte es – als Gebot der Menschenwürde – be-
eits zum 1. Juli 2004 geben müssen.
Ich danke Ihnen für die – trotz kleiner Differenzen –
och im Kern breite überfraktionelle Unterstützung zur
atifizierung der ILO-Konvention 185.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Seit
en Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 haben
ragen von Sicherheit und Schutz einen neuen herausra-
enden Stellenwert erhalten. Jeder bekommt das fast
agtäglich am eigenen Leib zu spüren: am Flughafen,
eim Grenzübertritt, bei der Abschirmung öffentlicher
ebäude. Überall haben die Sicherheitsvorkehrungen
ugenommen. Handel und Tourismus sind in Mitleiden-
chaft gezogen, besonders beim Warenverkehr mit den
SA. Die Folgen sind bekannt und wirken weltweit.
Auch und ganz besonders ist die Seeschifffahrt davon
etroffen. Jedoch wird dieses Mehr an Auflagen und
ürokratie, an Zeitaufwand und Kosten von der Öffent-
ichkeit nur wenig wahrgenommen, weil sich die Han-
elsmarine derzeit in einem Boom, in einem Aufwind
efindet wie seit Jahren nicht mehr. Unsere Reeder,
nsere deutschen Schifffahrtsgesellschaften sind derzeit
rfolgreich wie nie zuvor! Sie bereedern nahezu
500 Handelsschiffe mit einer Bruttoraumzahl von
7,5 Millionen, das heißt eine Vervierfachung der Flotte
eit 1991. In der Welthandelsflotte nimmt die deutsche
esamtflotte nach Eigentumsverhältnissen und BRZ-
onnage hinter Griechenland, Japan und Norwegen in-
wischen den vierten Platz ein. China und sogar die
SA sind längst überholt. Zu diesem Erfolg sollten wir
ratulieren und die Tüchtigkeit aller Beteiligten anerken-
en.
Die beispielhafte Entwicklung der deutschen See-
chifffahrt, aber auch der Boom in der Weltschifffahrt
ecken jedoch Defizite auf: Die Nachfrage nach qualifi-
iertem Seepersonal steigt ständig, das Angebot leider
icht. Im Gegenteil: Immer weniger junge Menschen
ollen zur See fahren. Mangel an deutschem Seefach-
ersonal ist die Folge, der Arbeitsmarkt für Seeleute ist
ie leer gefegt. Auch deshalb, weil wir in den letzten
ahren versäumt haben, auf den Nachwuchs zu setzen.
ie Reeder greifen zunehmend auf ausländische Crews
urück. Schiffspersonal kommt heutzutage aus Indien,
roatien, Russland und vielen anderen Ländern und das,
bwohl die deutschen Fachkräfte als die Zuverlässigsten
elten, so die Einschätzung des Vorstandes der Flensbur-
er Reedereien Tom Jakob.
Die momentane gespannte Lage auf dem Arbeits-
arkt für Seeleute hat allerdings viele Väter: So zwingt
er wachsende Kostendruck die deutschen Reeder dazu,
ich ausländisches Personal ins Boot zu holen. Beson-
ers nach der Osterweiterung ist es einfacher denn je, ei-
en kroatischen oder polnischen Seemann einzustellen.
ber auch Mitarbeiter aus anderen Kontinenten sind zu-
ehmend verfügbar. Der große Unterschied besteht nicht
n der Ausbildung, sondern in den Kosten: So schlägt ein
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12759
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indischer Kapitän lediglich mit 5 000 Dollar im Monat,
ein deutscher mit 12 000 bis 15 000 Dollar zu Buche.
Junge deutsche Anwärter für den Dienst auf See wissen
um ihre Konkurrenz und bewerben sich erst gar nicht.
Aber auch die Lotsen werben massiv um hoch qualifi-
zierte Seeleute und verschärfen den Nachfrageüberhang
auf dem Markt, weil sie selber Nachwuchsmangel ha-
ben. Sie locken mit hoher Bezahlung und attraktiven Ar-
beitszeiten an Land. Auch der relativ hohe Verdienst
trägt zum Abgang von Bord bei. Kostendruck und inter-
nationaler Wettbewerb dürfen jedoch nicht über das ei-
gentliche Problem bei der Nachwuchsförderung von
Seepersonal hinwegtäuschen: Über 20 Jahre lang wurde
dieser Beruf in seiner Bedeutung, seinen Herausforde-
rungen und seiner Attraktivität unter Wert diskutiert.
Motive wie viel Geld und viele Abenteuer stehen bei
vielen Berufsanfängern nicht mehr so hoch im Kurs wie
früher. Freizeit und Familie kommen heutzutage an ers-
ter Stelle. Monatelanges Vagabundieren auf den Ozea-
nen ist nicht mehr angesagt. Das Bild des fliegenden
Holländers ist bei vielen noch im Kopf, wenn es ums
Anheuern auf einem Schiff geht, und das, obwohl sich
die Zeit auf See wesentlich verkürzt hat: Wurde früher
im Schnitt noch 9 Monate zur See gefahren, so sind es
heute noch 3 bis 4 Monate. Genügend Zeit für Frau und
Kind. Hoffentlich.
Mangelnde Attraktivität des Berufstandes scheint ein
Hauptproblem zu sein, auch wenn jetzt nach Angaben
des aktiven Verbandes Deutscher Reeder 540 Ausbil-
dungsplätze – 200 mehr als in den vergangenen Jahren –
besetzt sind. Die Bundesregierung hat zwar das Problem
erkannt, handelt aber höchst ambivalent. Auf der einen
Seite fördert sie die Ausbildung junger Seemänner drei
Jahre lang mit 25 500 Euro pro Platz, auf der anderen
Seite fährt sie teilweise nationale Alleingänge bei der
Gefahrenabwehr, was zu unzumutbaren Beeinträchti-
gungen für das Seepersonal führt.
Auch die Anschläge vom 11. September und ihre Fol-
gen haben der Attraktivität des Berufstandes nachhaltig
geschadet. Mit den Terrorangriffen auf die USA hat das
Thema Gefahrenabwehr eine ganz neue und globale Di-
mension erhalten. Für die Schifffahrt und die Betreiber
von Hafenanlagen gipfelte es in der Einführung des
ISPS-Code am 1. Juli dieses Jahres und den damit ver-
bundenen neuen Sicherheitsmaßnahmen. Seitdem ist
nichts wie vorher bei Reedern und Häfen: Hafenanlagen
mussten mit Zäunen abgesichert, Sicherheitsoffiziere an
Bord der Schiffe, in den Unternehmen und in den Hafen-
anlagen ernannt und ausgebildet sowie Trainingseinhei-
ten mit der Besatzung durchgeführt werden. Allein die
Anfangskosten für die deutschen Reeder belaufen sich
auf mehr als 55 Millionen Euro. In den Folgejahren wer-
den jährlich weitere 50 Millionen Euro veranschlagt.
Für die erhöhten Sicherheitsanforderungen haben wir
Verständnis. Das hohe Sicherheitsbedürfnis insbeson-
dere der USA darf aber nicht dazu führen, dass die welt-
weit 1,25 Millionen Seeleute auch in den Häfen sozusa-
gen an Bord eingeschlossen sind und kaserniert werden,
weil ihnen der Landgang nicht gestattet oder über die
Maßen erschwert wird. An amerikanischen Häfen wird
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hnen sogar jeglicher Landgang untersagt, wenn die Auf-
agen nicht bis zum I-Tüpfelchen erfüllt werden. Be-
affnete Wächter, die von den Reedern bezahlt werden
üssen, hindern die Seeleute beim Verlassen der
chiffe. Es gibt Fälle, so Berichte von Reedern aus Lü-
eck, Hamburg und Flensburg, in denen Seeleute in eng-
ischen und amerikanischen Häfen keinen Landgang er-
ielten oder bei Rückkehr von Sicherheitskräften sofort
ie Schwerverbrecher zu stundenlangen Vernehmungen
bgeführt worden sind, mit der Konsequenz, dass sie ihr
chiff vor der Abreise nicht mehr erreichen konnten.
ies steht in eklatantem Widerspruch zu dem Prinzip,
ass Seeleute für den Landgang keine Visa benötigen.
ur Lösung dieses Problems hat die ILO eine Konven-
ion über die Sicherheit der Ausweise für Seeleute erar-
eitet, die den Landgang weiterhin ungehindert ermögli-
hen soll. Die uns vorliegenden Anträge fordern
emeinsam die schnelle Umsetzung dieser Konvention.
Die Sicherheit darf nicht noch weiter zulasten unserer
eeleute gehen. Sie haben schwer genug an den bisheri-
en Auswirkungen des ISPS-Codes zu tragen: Es gibt
ahlreiche Beispiele von Behinderungen und zum Teil
uch Diskriminierungen von Seeleuten nach Einführung
er Maßnahmen. Es wurde über Fälle von „Sippenhaft“
ür das gesamte Schiff berichtet, nur weil einzelne Anga-
en für ein Besatzungsmitglied von den Sicherheitsbe-
örden angezweifelt wurden. Aber auch die sozialen
ontakte vieler Seeleute sind durch den ISPS-Code ein-
eschränkt und werden ad absurdum geführt: So er-
chweren die unübersichtlichen bürokratischen Handha-
ungen der Sicherheitsvorschriften in einigen – auch
eutschen Häfen – den Kontakt der Familie mit den See-
euten. So wurde beispielsweise pakistanischen Besat-
ungsmitgliedern an einer Hamburger Schleuse der
andgang für Telefonate mit Familienangehörigen vom
GS verboten. Auch durften drei Seeleute ihre Reise
icht wie geplant beenden, um den Heimflug von Ham-
urg aus anzutreten. In Kiel durfte die Ehefrau eines Ka-
itäns diesen an Bord nicht besuchen und musste unver-
ichteter Dinge wieder abreisen. Diese Fälle, wenn auch
inzelfälle, gefährden zunehmend die Attraktivität für
autische Berufe und behindern extremst die Nach-
uchsförderung.
Einem jungen Berufsanfänger ist es nur schwer zu
ermitteln, um es zugespitzt zu formulieren, dass er in
einem zukünftigen Beruf als potenzieller Terrorist ein-
estuft wird. Die soziale Situation vieler Seeleute an
ord, insbesondere die Arbeitsbedingungen, hat mit Ein-
ührung des ISPS-Codes die Grenzen der Zumutbarkeit
berschritten. In vielen Fällen liegen die Beeinträchti-
ungen nicht am ISPS-Code selbst, sondern an der Um-
etzung dieser Vorschriften und an einer zu rigiden und
uch oft uneinheitlichen Anwendung. Gerade Deutsch-
and nimmt es mit der Umsetzung besonders, wenn nicht
ogar zu genau. Fast alle Schiffe und Hafenanlagen sind
ach den Vorschriften des ISPS-Codes zertifiziert. Vor-
ildlich! Deutsche Schiffe sind aber nicht nur zertifi-
iert! Deutschland ist Musterschüler, was die Umsetzung
er IMO-Maßnahmen angeht. Selbstverständlich nicht
hne Folgen für unsere Wirtschaft; denn die Kosten für
12760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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übertriebene Maßnahmen tragen hierzulande die Unter-
nehmen.
Ein passendes Beispiel für die Umsetzung des ISPS-
Codes auf deutschen Schiffen gibt der drei Seiten umfas-
sende Bericht über die Jahresinspektion der US Coast
Guard auf einem deutschen Container-Frachter im Hafen
von New York. Nach Beendigung der über vier Stunden
dauernden Inspektion stellten die Inspektoren beein-
druckt fest, dass es nichts, aber rein gar nichts zu bemän-
geln gab. So etwas hatten sogar die amerikanischen Be-
hörden bis dato nicht erlebt.
Probleme gibt es dennoch genug. Es sind vor allem
Behördenvertreter, die die Vorschriften ungerechtfertigt
auslegen oder sich selbst nicht an die Regularien halten.
Viele „designated authorities“ – das sind die Behörden
eines jeweiligen Bundeslandes, die für die Gefahrenab-
wehr zuständig sind – stellen im Rahmen der Umsetzung
des ISPS-Codes zum Teil zu hohe Anforderungen. So
sollten im Rahmen einer Insellösung Mindeststandards
ausschließlich für Kreuzfahrtterminals in Deutschland
eingeführt werden. Der ISPS-Code sieht aber weder für
Schiffe noch für Hafenanlagen Mindeststandards vor.
Die von den Küstenländern erarbeiteten Standards stell-
ten eher Höchst- als Mindeststandards dar. Sie hätten zur
Folge gehabt, dass das Kreuzfahrtgeschäft in deutschen
Häfen zum Teil nicht mehr durchführbar gewesen wäre,
weil die Kosten für die Betreiber ins Unermessliche ge-
stiegen wären. So einen Behördenaufwand darf es nicht
geben.
Auch in anderen Fällen kommt es immer wieder zu
überzogenen Anforderungen von Behördenvertretern,
aber verantwortlich bleibt der Gesetzgeber. Erst wenn
klar wird, dass im Vergleich zu europäischen Wettbewer-
bern deutlich zu hohe Ansprüche gefordert wurden,
rudern die Behörden nach Aussagen der Reeder wieder
zurück.
Die dringend erforderliche Planungssicherheit für die
Unternehmen fehlt. Investitionen werden verschoben
oder sogar aufgehoben. Das muss und darf nicht sein.
Die Bundesregierung sollte daher nicht nur darauf ach-
ten, dass in Deutschland alle Hausaufgaben gemacht
werden. Sie hat auch dafür Sorge zu tragen, dass unsere
Nachbarn und andere Länder den ISPS-Code ordnungs-
gemäß umsetzen. Ansonsten kommt es zu Wettbewerbs-
verzerrungen. So war es deutschen Technikern nicht ge-
stattet, ein in einem spanischen Hafen liegendes
deutsches Schiff nach einem Schadensfall zu reparieren.
Die Spanier ließen die Deutschen unter Verweis auf den
ISPS-Code nicht an Bord und forderten den Kapitän auf,
einen spanischen Techniker an Bord zu nehmen. Ein
nach ISPS-Code eindeutig unzulässiges Verhalten. Nach
diesem Muster gibt es zahlreiche Beispiele. Einige Län-
der legen den ISPS-Code zum eignen Vorteil aus. Hier
muss die Bundesregierung einschreiten, denn die Mus-
terschülerrolle in Sachen Auflagenerfüllung bringt in ei-
ner globalisierten Welt bekanntermaßen oft nationale
Nachteile.
Die Problematik beim nationalen Alleingang bzw. bei
staatlicher Ungleichbehandlung haben wir von der
Union schon bei der Verabschiedung des Ausführungs-
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esetztes zum ISPS-Code angesprochen. Damals hatten
ir uns hier im Deutschen Bundestag für eine gerechtere
erteilung der Kosten eingesetzt und einen Entschlie-
ungsantrag eingebracht, der von der Regierungskoali-
ion leider abgelehnt wurde. Es war und ist aus unserer
icht nicht akzeptabel, für staatliche Verpflichtungen
ach dem ISPS-Code Gebühren zu erheben.
In anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel
änemark, Polen, Spanien und Frankreich, werden Ge-
ühren für die staatlichen Verpflichtungen nicht erho-
en. Auch die Holländer – unsere schärfsten Konkurren-
en – sind da geschickter als Manfred Stolpe: Dort
bernimmt der Staat die Kosten für die geforderte Risi-
obewertung und die Erstellung der Pläne zur Gefahren-
bwehr. Geringere Kosten und Hafengebühren machen
o den Seeverkehrsstandort Niederlande noch attrakti-
er. Eine von vielen Konsequenzen: Rotterdam gewinnt,
remen und Hamburg verlieren. Diese Einschätzung tei-
en viele Kolleginnen und Kollegen quer Beet durch alle
raktionen im Verkehrsauschuss. Doch die Regierung
ewegt sich immer noch nicht. Sie will ein Exempel sta-
uieren und die Wirtschaft zum Mitträger ihrer Finanznot
achen.
Zurzeit bemühen sich zahlreiche Verbände und Orga-
isationen um eine ordnungsgemäße Umsetzung der
MO-Maßnahmen. Dabei brauchen sie Unterstützung.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
um Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen
rbeitsorganisation über Ausweise für Seeleute und zur
ereinfachten Freistellung vom Visumserfordernis lie-
en heute drei unterschiedliche Anträge zur Abstim-
ung vor, die im Kern eigentlich identisch sind. Jeder
ieser Anträge fordert die Bundesregierung auf, das
AO-Abkommen Nr. 185 zügig zu ratifizieren und inner-
taatliche Vorschriften gegebenenfalls anzupassen. Nie-
and kann ein Interesse daran haben, den Aufenthalt
nd den Austausch von Seeleuten in Deutschland unnö-
ig zu erschweren. Regelmäßig werden in Deutschland
ie Besatzungen der dort liegenden Schiffe ausgetauscht.
ine Erschwerung des Austauschs der Besatzungen
ürde auch den Güterverkehr nur unnötig behindern.
Die internationale Arbeitskonferenz hat am 19. Juni
003 ohne Gegenstimmen das Übereinkommen Nr. 185
ngenommen, mit dem die Ausstattung der Seemanns-
usweise mit zusätzlichen Identitätsmerkmalen festge-
chrieben wurde. Mit dem Übereinkommen wird die
in- und Durchreise von Seeleuten erleichtert. Für den
andgang wird immer von der Visumspflicht abgesehen.
ei der Durchreise von Seeleuten kann hingegen die Be-
ntragung und Erteilung von Visa vor der Einreise fakul-
ativ durch die Unterzeichnerstaaten verlangt werden.
Die Regierungskoalitionen haben nun einen Antrag
orgelegt, nach dem die Auswechselungen der Mann-
chaften möglichst kostengünstig und ohne vermeidba-
en Verwaltungsaufwand durchgeführt werden können.
ieses Ziel kann dadurch erreicht werden, dass auf die
isumspflicht verzichtet werden kann. Diese Feststel-
ung ist an und für sich unkompliziert und unstrittig. Wir
aben es hier nicht mit einem politisch umkämpften Vor-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12761
(A) )
(B) )
haben zu tun, an dem sich die Gegensätze zwischen Re-
gierung und Opposition entzünden müssten. Es hätte
dem Parlament gut zu Gesicht gestanden, sich an diesem
Punkt einheitlich zu äußern. Dies hätte den gemeinsa-
men Wunsch unterstrichen, den wirtschaftlichen Interes-
sen des Reedereigewerbes keine unnötigen Steine in den
Weg zu legen. Diesem Ziel wird hier im Bundestag nie-
mand offensiv widersprechen.
Union und FDP haben jedoch den Weg gewählt, sich
dennoch ausländerpolitisch in dieser Frage zu profilie-
ren. Während die Koalitionsfraktionen die oben ge-
nannte Feststellung, dass von der Visumspflicht abgese-
hen werden kann, ohne weitere Einschränkungen in der
Begründung treffen, nehmen Union und FDP hier zu-
sätzliche ausländerpolitische Hinweise auf, die mit dem
Anliegen an sich gar nichts zu tun haben. So schlägt die
Union im Begründungstext vor, dass die Bundesregie-
rung vom Erfordernis der Einholung eines Visums bei
der Durchreise verzichten kann, sofern dies mit dem
Ausländerrecht in Einklang steht und Sicherheitsbelan-
gen Rechnung getragen wird. Die FDP lässt im Begrün-
dungstext ihres Antragstextes verlauten, dass die Bun-
desregierung vom Erfordernis der Einholung eines
Visums, bei der Durchreise verzichten kann, da die
neuen Seemannsausweise biometrische Daten enthalten
und deshalb hohen Sicherheitsstandards genügen.
Der einzige Dissenz in der Sache besteht anscheinend
darin, Selbstverständlichkeiten zusätzlich betonen zu
müssen. Natürlich handelt die Bundesregierung stets im
Einklang mit dem Ausländerrecht. Ebenso natürlich
wird bereits im ILO-Abkommen Nr. 185 darauf hinge-
wiesen, dass die zusätzlichen biometrischen Daten in
den Seemannsausweisen eine visumsfreie Durchreise er-
leichtern. Auch die Regierungsfraktionen weisen in
ihrem Antrag darauf hin, dass ein Zusammenhang zwi-
schen dieser Regelung und den gegebenen Sicherheits-
fragen besteht.
Union und FDP reicht dies nicht. Sie müssen noch
einmal zusätzlich auf das Ausländerrecht verweisen. Mit
Wirtschaftspolitik oder Schifffahrtsfragen hat dies nichts
zu tun. Ich kann das Bedürfnis weiterer Anträge nur so
verstehen, dass die Oppositionsfraktionen hiermit ein
Zeichen der Marke „Das Boot ist voll“ setzen wollen.
Das zeugt von wenig wirtschaftspolitischem Sachver-
stand und einem hohen Bedürfnis, auch eine solche
Sachfrage populistisch nutzen zu wollen. Ein solches
Vorgehen ist dieser Frage nicht angemessen und ich
kann diesen Politikstil daher nur bedauern.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Vor eineinhalb
Jahren hat die FDP-Fraktion einen Antrag eingebracht,
der die Bundesregierung aufforderte, das ILO-Überein-
kommen 185 zügig zu ratifizieren. Wir zogen diesen An-
trag zurück, um einen interfraktionellen Brief an die zu-
ständigen Minister zu ermöglichen, leider ohne
entsprechende Reaktion der Regierung.
Anfang dieses Jahres versuchten wir dann fraktions-
übergreifend, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg
zu bringen, um der Regierung noch einmal Dampf zu
machen. Erfreulich ist, dass es uns in den Ausschussbe-
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atungen gelungen ist, beim Forderungsteil an die Regie-
ung auf einen Nenner zu kommen. Damit sind wir uns
lle hier im Hause im Ziel einig, dass die Bundesregie-
ung das Übereinkommen schnellstmöglich umsetzen
oll.
Ziel des ILO-Übereinkommens 185 ist es, die Le-
ens- und Arbeitsbedingungen für die Seeleute zu ver-
essern und den Arbeitgebern den Personalwechsel auf
hren Schiffen zu erleichtern. Arbeitnehmer und Reeder
aren sich von Anfang an einig, dass dieses Überein-
ommen ein richtiger und wichtiger Schritt ist, um die
esteckten Ziele zu erreichen. Leider scheint die Bun-
esregierung immer noch Probleme zu sehen, obwohl
nzwischen auch die EU eine Ratifizierung empfohlen
at.
Die soziale Situation der Seeleute hat sich im letzten
ahr deutlich verschlechtert. Durch das gestiegene Si-
herheitsbedürfnis in den Häfen, ist die Absicherung der
echtlichen Position der Seeleute dringender denn je.
Ich gestehe offen, dass ich nicht vorausgesehen habe,
ass der ISPS-Code solch gravierende Auswirkungen
uf die soziale Situation der Seeleute nach sich ziehen
ürde. Wie ich von der Seemannsmission erfahren habe,
tehen Seeleute offensichtlich vielerorten unter einem
error-Generalverdacht. Es kann nicht angehen, dass
eeleute in englischen und amerikanischen Häfen keinen
andgang erhalten oder stundenlang wie Schwerverbre-
her zu Vernehmungen abgeführt werden. Dabei haben
uch die USA dem ILO-Übereinkommen in Genf zuge-
timmt. Das ILO-Übereinkommen sollte doch gerade zu
rleichterungen beim Landgang der Seeleute führen.
Die Erfahrungen der letzten Monate zeigen, wie drin-
end die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens ist.
ie Bundesregierung sollte sich hier nicht länger bitten
assen und endlich zur Tat schreiten. Auf internationaler
bene sollte die Regierung das Problem der sozialen,
ituation der Seeleute auch bei der IMO zur Sprache
ringen. Die Sicherheitsvorschriften im Rahmen des
OLAS-Übereinkommens und des ILO-Übereinkom-
ens sollten doch für Sicherheit sorgen. Es ist nicht hin-
ehmbar, wenn einzelne Besatzungsmitglieder arabi-
cher Herkunft nur wegen ihrer Herkunft unter Verdacht
tehen. Das ist Rassismus und dagegen müssen wir vor-
ehen. Der geplante neue Seeleuteausweis, der durch das
LO-Übereinkommen 185 eingeführt werden soll, wird
offentlich helfen, dieses Problem zu beseitigen. Also,
och einmal zum Schluss mein Appell an die Regierung:
atifizieren Sie endlich das ILO-Übereinkommen!
nlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Marketing für die
Hauptstadt Berlin (Tagesordnungspunkt 16)
Brunhilde Irber (SPD): Lassen sie uns den Titel des
ntrages der CSU/CSU zu Beginn genau anschauen:
Marketing für die Hauptstadt Berlin“. Da die Federfüh-
ung im Bereich Tourismus liegt, soll es sich wohl im
eitesten Sinne um das touristische Marketing handeln.
12762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
Nun zu den Fakten: Im Jahr 2003 gab es in Berlin
11,4 Millionen Übernachtungen, im Vergleich zum Vor-
jahr eine Steigerung um 2,6 Prozent. Mit diesen Werten
verfestigt Berlin die Position des beliebtesten Städte-
reiseziels in ganz Deutschland. Um es für sie noch deut-
licher zu betonen: Die deutsche Hauptstadt zählt, neben
London, Paris und Rom, zu den meistbesuchten Metro-
polen Europas. Die Erfolgsgeschichte steigert sich
enorm, wenn man sich die aktuellen Zahlen vor Augen
führt:
In den ersten acht Monaten besuchten insgesamt
3,8 Millionen Hotelgäste die deutsche Hauptstadt, das
sind rund 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die
Zahl der registrierten Übernachtungen stieg im gleichen
Zeitraum um 17 Prozent auf 8,7 Millionen an.
Da in Ihrem Antrag deutlich differenziert wird zwi-
schen deutschen und ausländischen Gästen, hier noch
weitere Fakten: Die Anzahl der Ankünfte ausländischer
Berlinbesucher stieg von Januar bis August diesen Jah-
res um 27,9 Prozent auf 1,07 Millionen an. Bei den
Übernachtungen wurde ein Wachstum von 24,5 Prozent
auf 2,79 Millionen verzeichnet. Auch die Zahlen von
Berlingästen aus dem Inland geben Anlass zu großer Zu-
friedenheit: ein Plus an Gästen von 17,1 Prozent von Ja-
nuar bis August, ein Übernachtungsplus von 13,7 Pro-
zent auf rund 5,9 Millionen!
Und zum Schluss dieser im höchstem Maße erfreuli-
chen und positiven Zahlen noch ein paar Bemerkungen
zu der Bettenauslastung und somit zum wirtschaftlichen
Zustand der Beherbergungsbetriebe: Die 558 Berliner
Betriebe hielten im August 2004 75 934 Betten für Gäste
bereit. Dies sind rund 7 300 mehr als im Vorjahresmo-
nat. Trotz dieser erhöhten Kapazität stieg die durch-
schnittliche Bettenauslastung von 50,9 Prozent um
knapp 6 Prozentpunkte auf 56,5 Prozent. So weit zum
Hintergrund.
Nun wollen sie also mit Ihrem Antrag dafür sorgen,
dass das Marketing für Berlin mithilfe der Regierung
weiter gestärkt und ergänzt wird. Ja sagen sie denn mal
warum? Herr Nerger, Chef der Berlin Tourismus Marke-
ting, und sein Team leisten hervorragende Arbeit und
sind auf alle Fälle zu beglückwünschen. Warum soll
denn die Bundesregierung hier noch zusätzlich aktiv
werden und sich somit auch noch in eine Länderangele-
genheit mischen?
Ich brauche Ihnen doch Wohl hoffentlich nicht zu er-
klären, dass Tourismus bei uns in der Bundesrepublik
eine föderale Aufgabe ist. Außerdem dachte ich, müsste
ich Ihnen auch nicht erklären, dass für das Auslandsmar-
keting bei uns im Lande die Deutsche Zentrale für Tou-
rismus zuständig ist. Diese fördern wir finanziell übri-
gens seit der Regierungsübernahme mit über 30 Prozent
mehr, als sie es zu ihrer Zeit getan haben. Wir setzten da-
mit die richtigen Schwerpunkte, Sie nicht. Für das Mar-
keting der Länder, und sie fordern eine finanzielle Unter-
stützung für das Marketing eines Bundeslandes, ist allein
das betreffende Bundesland zuständig. Und allein schon
wegen der Missachtung dieser Strukturen in Ihrem An-
trag haben sie sich mal wieder ins Abseits begeben. Wie-
der mal nichts Neues von ihnen.
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Doch begeben wir uns nun in diesem Werk, auf die
uche nach einer Antwort auf die eingangs gestellte
rage, warum sie denn eine Marketingförderung für Ber-
in für nötig halten, und dies trotz dieser traumhaften Zu-
achsraten. Nur nebenbei: Die BTM – und ich zitiere
örtlich – sagte vergangene Woche zu „Spiegel-
nline“: „Das wird das beste Jahr, das wir je hatten.“
ei dieser Suche nach einer Antwort stolpert man über
ie Kernaussage, die da lautet, dass eine nicht ausrei-
hend positive Wahrnehmung Berlins als Hauptstadt ge-
eben sei. Aus ihrer eigenen Behauptung folgt nun für
ie CDU/CSU – ich zitiere und hören sie bitte ganz ge-
au zu –: „Über Berlin muss daher eine Bewusstseins-
nderung bei den Menschen hin zur ‚Hauptstadt der
eutschen’, national wie international, herbeigeführt
erden“.
Ich habe an Forderungen und Wünschen Ihrerseits,
nsbesondere seitdem sie zum Glück in der Rolle der Op-
osition sind, in diesem Hause und in den Ausschüssen
a schon einiges von Ihnen erlebt, aber dies hier setzt ja
un allem Vergangenen im absurdesten Sinne die Krone
uf!
Die Bundesregierung soll, ich betone nochmals, eine
ewusstseinsänderung herbeiführen und dies alleine
eicht noch nicht, denn dies soll auch noch bei allen
enschen auf der Welt geschehen – ich wiederhole
ochmals wörtlich – „bei den Menschen, national und
nternational“. Warum nur formulieren sie solche, man
st ja fast geneigt zu sagen, Dummheiten. Ich stelle fest:
s gehört sicherlich nicht zu den Aufgaben der Bundes-
egierung, eine Bewusstseinsänderung bei den Men-
chen in aller Welt in Bezug auf die Funktion Berlins
erbeizuführen.
Sie begründen leider auch überhaupt nicht, warum
ies alles geschehen soll. Was haben sie denn nur gegen
as derzeitige Bewusstsein der Menschen gegenüber
ieser schönen und abwechslungsreichen Stadt. Touris-
en aus aller Welt strömen in diese Stadt, die Zahl der
bernachtungen steigt in enormen Maße an. Berlin hat
ine kulturelle Vielfalt wie kaum eine andere Stadt in
eutschland, Berlin ist das Mekka für eine Vielzahl von
enschen aus den unterschiedlichsten kulturellen Berei-
hen. Berlin ist ein wunderbares Schaufenster der ver-
angenen und gegenwärtigen deutschen Architektur.
erlin ist eine nahezu komplette Bühne, um die deutsche
eschichte nachzuvollziehen. Nehmen wir die Anzahl
er Besucher auf dem Dach dieses Gebäudes, in dem wir
ns befinden. Meinen sie denn wirklich, die Millionen
on jährlichen Besuchern hier im Reichstag wissen
icht, dass sie sich in der Hauptstadt der Bundesrepublik
eutschland befinden? Das kann nicht ihr Ernst sein.
Im Übrigen: Haben sie überhaupt Zahlen von der
ahrnehmung Berlins als Hauptstadt? Worauf begrün-
en sich denn überhaupt ihre Annahmen, die sie hier äu-
ern? Sie geben keinerlei Zahlen, geschweige denn Hin-
eise an. Es scheint so, als gehe es hier wieder nur um
ichtigtuerei und wieder mal werden nur Luftgespinste
on ihrer Seite aufgebaut.
Ich frage sie weiter, ob sie denn wirklich die Schaf-
ung eines „Hauptstadtbezirkes Berlin“ nach dem Vor-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12763
(A) )
(B) )
bild Washington D. C. anstreben. Abgesehen von allen
damit verbundenen Schwierigkeiten und Gesetzesände-
rungen möchte ich mich hierzu jetzt in diesem Moment
nicht äußern. Eine Projektgruppe der Föderalismuskom-
mission beschäftigt sich zurzeit mit diesem Thema: Sie
werden sicherlich verstehen, dass wir uns hier nicht im
vorhinein auf Richtungen festlegen lassen, ohne das end-
gültige Ergebnis der Föderalismuskommission abzuwar-
ten.
Über die übrigen Forderungen ihres Antrages möchte
ich mich nicht mehr auslassen. Diese sind natürlich mit
Kosten verbunden, welche die Bundesregierung mal
eben wieder aus dem Ärmel schütteln soll. Sie fordern
doch immer nur mehr Geld, verweigern sich den Spar-
vorschlägen und verklagen dann unseren Finanzminister
in Karlsruhe. Ein trauriges Verhalten Ihrerseits.
Ich betone nochmals, dass Berlin nicht nur eine Reise
Wert ist, sondern dass sich aufgrund der Vielfältigkeit
gleich mehrere Reisen nach Berlin lohnen. Berlin ist aus
unserer Sicht ein tolles, interessantes und abwechslungs-
reiches Reiseziel für nationale und internationale Gäste.
Das, was sie hier abliefern, ist erschreckend, geht an
den Kompetenzen und Aufgaben der Regierung vorbei,
dient nichts anderem, als einmal mehr eine überaus posi-
tive Entwicklung schlechtzureden.
Sie benötigen dringend eine Bewusstseinsänderung,
nicht die Touristen, die Berlin besuchen.
Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mit dem Antrag fordert die CDU/CSU die
Bundesregierung auf, zusammen mit der Berlin Touris-
mus Marketing, BTM, für drei Jahre eine Projektgruppe
„Hauptstadt Berlin“ einzurichten. Der Bund soll diese
Projektgruppe aus Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit för-
dern. Die Federführung soll bei der Tourismus Marke-
ting GmbH liegen. Inhaltlich soll die Hauptaufgabe die-
ser Projektgruppe in der nationalen und internationalen
Darstellung von Leistungen der Hauptstadt liegen, ins-
besondere: Berlin als Spiegel der (gesamt-)deutschen
Geschichte, Berlin – kultureller Schmelztiegel, Berlin –
Tor zum Osten, Berlin – Architekturspiegel Deutsch-
lands.
Die Projektgruppe bzw. die in dem Antrag zur Feder-
führung bestimmte Berlin Tourismus Marketing soll mit
Botschaften, Außenhandelskammern, Goethe-Instituten,
der Deutschen Welle, der Deutschen Zentrale für Touris-
mus und anderen Institutionen zusammenarbeiten. Zu
diesem Konzept möchte ich Folgendes anmerken:
Erstens. Von der rot-grünen Bundesregierung wird
eine engagierte und qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit
gemacht. Die Opposition kritisiert das immer wieder als
zu aufwendig und teuer. Darum ist es sehr erstaunlich,
dass die CDU/CSU jetzt eine extra Marketing-Projekt-
gruppe einrichten will. Deren Arbeit ist ja nicht zum
Nulltarif zu haben.
Zweitens. Die Aufgaben der Bundesregierung werden
durch das Bundespresseamt und durch die einzelnen
Ressorts, öffentlich dargestellt. Im Ausland repräsentie-
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en die Botschaften, die Außenhandelskammern, das
oethe-Institut, die Deutsche Welle und andere Institu-
ionen die deutsche Politik. Es kann nicht Aufgabe einer
euen Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“ sein, unter der
ederführung der Berlin Tourismus Marketing GmbH
ll diese bundespolitischen Institutionen unter dem Kri-
erium „Hauptstadt“ zu koordinieren. Tourismuswer-
ung ist im Übrigen eine Angelegenheit der Länder.
Drittens. Die Hauptstadtfunktion stärkt Berlin – und
as ist auch gut so. Es ist aber nicht Aufgabe des Bun-
es, Mittel bereitzustellen, mit denen eine Institution des
andes Berlin Werbung für die Bundespolitik macht. Ich
alte es für wichtig, dass eine klare Trennung zwischen
ufgaben des Landes Berlin und den Aufgaben des Bun-
es bestehen bleibt.
Viertens. Eine Prüfung der Schaffung eines „Haupt-
tadtbezirks Berlin“ nach dem Vorbild der US-amerika-
ischen Hauptstadt Washington, D.C. halte ich nicht für
otwendig. Ich meine, dass es weder mit dem deutschen
öderalen System noch mit dem Prinzip der kommunalen
elbstverwaltung vereinbar ist, Berlin unter bundespoli-
ische Verwaltung zu stellen. Ich werbe nach wie vor für
ine Länderneugliederung mit einem Zusammengehen
on Berlin und Brandenburg, sodass Berlin den Status
iner Kommune bekommt.
Kurzum: Unsere Fraktion lehnt den CDU/CSU-An-
rag in allen Punkten ab. Die vorhandenen Bundesinsti-
utionen machen gute Öffentlichkeitsarbeit und Werbung
ür unsere Hauptstadt Berlin, sodass es keiner Unterstüt-
ung durch eine Marketing-Projektgruppe bedarf.
nlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Errichtung der Akademie der Künste (AdKG)
(Tagesordnungspunkt 17)
Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Um den wichtigs-
en Punkt gleich vorneweg zu nennen: Was der Akade-
ie der Künste, um die es in dieser Debatte geht, am
enigsten nützt, ist ein kleinteiliger Streit um Kompe-
enzen und Zuständigkeiten. Deshalb bin ich sehr froh,
ass wir im Ausschuss für Kultur und Medien einen par-
eiübergreifenden Weg zur Übernahme der Akademie
er Künste in die Verantwortung des Bundes gefunden
aben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, diesen Weg
och einmal zu rekapitulieren.
Es wird ja der Bundesregierung und insbesondere der
taatsministerin für Kultur und Medien gelegentlich von
nteressierter Seite der Vorwurf gemacht, die Kulturför-
erung des Bundes sei unsystematisch oder gar ein
lickenteppich, wie zuletzt Herr Nooke vernehmen ließ.
un ist aber gerade die aktuelle Entscheidung zur Aka-
emie der Künste ein Beispiel dafür, dass dieser Vorwurf
anz und gar unberechtigt ist.
Man muss nur einen Blick auf die Kriterien werfen,
ach denen sinnvollerweise entschieden wird, wofür der
12764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
Bund kulturpolitisch zuständig ist, um dies zu erkennen.
Diese Kriterien sind nämlich sehr einfach nachvollzieh-
bar. Neben der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
steht die kulturelle Repräsentation des Gesamtstaates im
Fokus der Bundesverantwortung. Daraus folgt, dass Kul-
tureinrichtungen von übergeordneter nationaler Bedeut-
samkeit bezüglich ihrer Förderung selbstverständlich Sa-
che des Bundes sind. Diese nüchterne Feststellung
ändert nichts daran, dass solche Einrichtungen – die
Akademie der Künste gehört zweifellos zu ihnen – be-
züglich ihres Nutzens gleichwohl eine Sache der Länder
und des Gesamtstaates sind und bleiben. Nie ist daran
gedacht worden, die Übernahme der Akademie der
Künste in Bundesverantwortung als einen ersten Schritt
zur Beschneidung der Kulturkompetenz der Länder zu
sehen.
Es ist also schon sehr kleinteilig gedacht, wenn – wie
seitens des Bundesrates geschehen – argumentiert wird,
zwar begrüße man die Absicht, im Rahmen des Haupt-
stadtkulturvertrags vom 9. Dezember 2003 die finan-
zielle Existenz der Akademie der Künste zu sichern,
könne jedoch einer institutionellen Übernahme der Aka-
demie durch den Bund in Form einer Körperschaft öf-
fentlichen Rechts nicht zustimmen, da der Bund hier
keine Kompetenzen besitze. Ich habe diese Argumenta-
tion nie verstanden. Sie ist beliebig und widersprüchlich.
An ihre Stelle muss die Frage treten, ob die Akademie
der Künste eine kulturelle Einrichtung von übergeordne-
ter nationaler Bedeutsamkeit zur kulturellen Repräsenta-
tion des Gesamtstaates ist oder nicht. An dieser – und
nur an dieser – Frage entscheidet sich, ob der Bund hier
zuständig ist.
Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Akademie so-
wie auf die heute von ihr behandelten Themen und ihre
heutigen Mitglieder liefert, so meine ich, eine eindeutige
Antwort auf diese entscheidende Frage. Die Akademie
der Künste entwickelte sich schon sehr früh von einer
Ausbildungs- und Unterrichtsstätte für zunächst bil-
dende Kunst und Architektur zu einem öffentlichen Fo-
rum für Kunst- und Kulturdebatten. Spätestens seit der
Präsidentschaft Max Liebermanns war die Akademie als
eine nationale Institution der Kunstproduktion und -dis-
kussion mit internationaler Bedeutung etabliert. Stets
waren ihre Mitglieder Wegbereiter und Vorreiter. Dass
die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur eine der
Lebensadern moderner Gesellschaften ist, diese Einsicht
wird durch Existenz und Arbeit der Akademie der
Künste sehr markant.
Die heutige Programmgestaltung unter der Präsident-
schaft Adolf Muschgs zeigt diese Mittlerfunktion ganz
deutlich. Diese Funktion und damit auch die Akademie
als solcher ist zweifelsohne von gesamtstaatlicher Be-
deutung, sowohl was die Repräsentation Deutschlands in
der Welt betrifft als auch bezüglich der ästhetisch-politi-
schen Selbstbestimmung der deutschen Gesellschaft
nach innen. Die Vielfalt des Programms ist im Rahmen
einer kurzen Rede gar nicht darstellbar. Sie reicht von
Kunstdebatten in den Sparten Literatur, Film, Architek-
tur, Bildende und Darstellende Kunst, Medienkunst und
Musik über Preisverleihungen bis zu Debatten über Per-
spektiven der internationalen Politik. Sie ist verbrieft
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urch die internationale Besetzung der Akademie der
ünste. Die bis zu 500 Mitglieder – unter ihnen Namen
ie Rebecca Horn, Daniel Libeskind, Pierre Boulez,
olfgang Hilbig, Pina Bausch und George Tabori – wer-
en unabhängig von Staatsangehörigkeit, Wohnort und
prache ausgewählt und sind lebende und lebhafte Illus-
ationen der Rede vom internationalen Kulturstaat
eutschland.
Wenn man das alles zusammennimmt, kann es keinen
weifel mehr daran geben, dass die Akademie der
ünste eine kulturelle Einrichtung von übergeordneter
ationaler Bedeutsamkeit zur kulturellen Repräsentation
es Gesamtstaates ist und als solche ein für das ganze
and bedeutsamer Impulsgeber. Wir können also die
rage nach der Zuständigkeit des Bundes eindeutig und
hne Zögern mit Ja beantworten. Die finanzielle Träger-
chaft des Bundes inklusive Einrichtung einer Körper-
chaft des öffentlichen Rechts durch den Bund ist die
onsequente Folgerung daraus. Im Übrigens – das muss
ier auch noch einmal festgehalten werden – ist das in-
rnational renommierte Archiv der Akademie der
ünste in Form einer Stiftung bereits in die Bundesver-
ntwortung gegangen, ein Vorgang, bei dem niemand
rotestiert hat, was die aktuelle Debatte um die Bundes-
ompetenz erst recht unverständlich macht.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal bekräfti-
en, dass ich mich freue, dass das Akademiegesetz nun-
ehr – nach einigen kleinen Änderungen, über die wir
mer gesprächsbereit waren – eine allgemeine Zustim-
ung finden wird. Der Vision einer Akademie der
ünste als einer nationalen Geistesinstanz, in der sich
ulturelle und gesellschaftliche Debatten begegnen und
reuzen, wird durch das vorliegende Gesetz eine gute
rundlage gegeben. Lassen Sie uns gemeinsam daran
eiterarbeiten.
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Jede
ünze hat zwei Seiten. Auch auf die Übernahme der
kademie der Künste Berlin/Brandenburg durch den
und trifft diese Binsenweisheit zu. Die eine Seite, die
ositive nämlich, ist, dass mit der Zustimmung zu dem
esetz die Finanzierung einer Kulturinstitution von in-
ernationalem Rang künftig gesichert ist. Als Kulturpoli-
iker, der ich immer wieder für eine ausfinanzierte Kul-
ur kämpfe, begrüße ich das ausdrücklich. Denn der
und übernimmt nicht nur die Akademie der Künste.
usätzlich werden die Deutsche Kinemathek und der
erliner Anteil am Hamburger Bahnhof übernommen.
Ganze 22 Millionen Euro lässt sich die Kulturstaats-
inisterin das kosten. 16 Millionen fließen davon in die
kademie. Dass da auch die Freude aufseiten der Künst-
er groß ist, versteht sich. Der Geschäftsführer des Deut-
chen Kulturrates, Olaf Zimmermann, zieht sogar den
ut vor Frau Weiß: Denn dem Finanzminister
2 Millionen Euro zusätzlich für die Kulturförderung
bzuknöpfen, sei eine beachtenswerte Leistung.
Das „Abknöpfen“ der Mittel an sich mag bei der der-
eitigen Haushaltslage schon eine beachtenswerte Leis-
ung sein. Dies möchte ich gern zugeben. Doch das Ver-
ahren der Umsetzung des Gesetzes ist weniger
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12765
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beachtlich. Damit sind wir, Sie merken es meine Damen
und Herren, bei der anderen, der negativen Seite der Me-
daille. Denn die Kulturstaatsministerin ist mit ihrem Ge-
setzesvorschlag in der Länderkammer am 14. Mai Knall
auf Fall durchgerasselt. Die Erklärung dafür war ganz
simpel: Was fehlte, war die Begründung, warum der
Bund die Zuständigkeit für eine sich in Länderhoheit be-
findlichen Kulturinstitution übernehmen wollte. Dass
sich die Länder dabei in ihren föderalen Rechten verletzt
sehen und auf den Schlips getreten fühlen würden, hätte
die Kulturstaatsministerin voraussehen können und müs-
sen. Hier wäre sauberes Arbeiten gefragt gewesen.
Warum musste es unbedingt ein Gesetz sein? Frau
Weiß hätte das ganze Hickhack mit den Ländern vermei-
den können, wenn sie die Übernahmen im Rahmen des
Hauptstadtkulturvertrages geregelt hätte, wie in der Ver-
gangenheit ja auch.
Außerdem hätte so vermieden werden können, dass
die Kulturstaatsministerin einem Beschluss des Parla-
ments vorausgreifen muss. Denn bereits seit dem 1. Ja-
nuar erbringt der Bund seine Leistung und finanziert die
Akademie der Künste. Auf welcher Basis, frage ich Sie,
wenn wir erst jetzt, elf Monate später, ein Gesetz be-
schließen? Hier ist über die Köpfe der Abgeordneten
hinweg entschieden worden. Da kann ich Ihnen, Frau
Weiß, nur dramatische handwerkliche Fehler attestieren!
Meine Damen und Herren, noch etwas ist mehr als
unglücklich: Ich meine die Knüpfung der Übernahme
der Akademie der Künste an den Einsatz der frei wer-
denden Mittel im Berliner Kulturetat für eine funktionie-
rende Opernstiftung. Wohlgemerkt: funktionierend.
Doch bisher funktioniert hier gar nichts. Nach einem
Jahr der Suche kann Kultursenator Flierl immer noch
keinen adäquaten Intendanten präsentieren. Warum
wohl? Liegt es vielleicht doch am Konzept der Stiftung?
Und ist die Opernstiftung vielleicht doch kein – ich
zitiere die Kulturstaatsministerin aus einem „Focus“-
Interview vom 17. November vergangen Jahres –
„Exempel für modernes Kulturmanagement“?
Was kann Berlin bislang vorweisen? „Big Brother in
der Oper“, wie vorgestern die „Berliner Morgenpost“
titelte. Sehen Sie, deshalb haben wir auch die Verknüp-
fung von Opernstiftung und der Akademie der Künste
immer kritisiert. Denn was die Akademie dringend be-
nötigt, ist Planungssicherheit. Was sie durch das unsou-
veräne Agieren von Frau Weiß bekommen hat, ist genau
das Gegenteil.
Sicherheit für die Akademie der Künste, das ist der
Grund, warum wir dem Gesetz zustimmen. Ansonsten
kann ich dem Gesetz nichts Positives abgewinnen. Denn
es zeigt nur einmal mehr die Konzeptlosigkeit, mit der
die Kulturstaatsministerin die Hauptstadtkultur betreibt.
Oder würden Sie die „Entlastung des Berliner Kultur-
haushaltes“ als Konzept bezeichnen?
Ich nenne es eher Armutszeugnis und Flickschusterei.
Sie hangeln sich von einer Notlösung zur anderen. Heute
übernimmt der Bund die Akademie der Künste, den
Hamburger Bahnhof und die Kinemathek. Morgen ist es
vielleicht das Naturkundemuseum. Auf welcher Grund-
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age? Erklären Sie mir doch einmal, warum es die Aka-
emie der Künste Berlin/Brandenburg ist und nicht die
kademie der Bildenden Künste in Nürnberg? Und wa-
um der Hamburger Bahnhof?
Ja, der Bund hat die Aufgabe, sich um die Hauptstadt-
ultur zu kümmern. Daran gibt es nichts zu deuten. Ich
inde es hervorragend, wenn sich der Bund nicht nur
azu bekennt, sondern den Bekenntnissen Taten folgen
ässt.
Aber Kultur ist nun einmal auch Ländersache. Umso
ichtiger ist es, dass wir alle – die Parlamentarier im
undestag, aber auch die Länder – wissen, wohin die
eise geht! Welche Kulturinstitutionen in der Hauptstadt
lanen Sie, Frau Kulturstaatsministerin, noch vom Bund
bernehmen zu lassen und auf welcher Basis? Was wir
ringend benötigen, ist endlich eine klare Aussage da-
über, für welche Kulturinstitutionen in der Hauptstadt
er Bund und für welche das Land Berlin zuständig ist.
ie Zeit des Förderns auf Zuruf muss endlich ein Ende
aben!
Frau Weiß, der November neigt sich seinem Ende ent-
egen. Langsam beginnt die Zeit des Wünschens und
es Schenkens. Ich wünsche mir von Ihnen, dass Sie
ndlich ein in sich stimmiges und langfristiges Konzept
ür das Engagement des Bundes in der Frage der Haupt-
tadtkultur vorlegen. Und ich hoffe sehr, dass Sie uns al-
en dieses Geschenk machen werden.
Erika Steinbach (CDU/CSU): Hans Scharoun, der
rste Präsident der neugegründeten Akademie der
ünste in West-Berlin, sprach bei der Eröffnung im
ahre 1954 von Freiheit und Wahrheit als den Sternen,
ie über der Kunst und dem neuen Haus leuchten mö-
en. Die Bundesregierung greift mit dem vorliegenden
esetzentwurf nach diesen Sternen und möchte sie über
ich selber leuchten sehen. Bei viel Verständnis für das
rundanliegen der Bundesregierung, die Existenz der
kademie der Künste zu sichern, lehnen CDU und CSU
ie Vorgehensweise ab.
Die Akademie der Künste ist seit ihrer Gründung im
ahr 1696 Beratungsorgan ihrer Träger in künstlerischen
ragen. Kaum eine heute noch aktive Institution in
eutschland hat eine so ehrwürdige Tradition wie die
kademie. Ihre Idee war maßstabsetzend für die „Hohe
chule“.
Gegründet wurde sie von Kurfürst Friedrich III. von
randenburg mit dem hohen Anspruch, die Provinz
randenburg kulturell den anderen deutschen Ländern
nzugleichen. Unter Friedrich Wilhelm II. wurde die
kademie der Künste gar zum Symbol der Modernisie-
ung Preußens. Mit ihren liberalen und demokratischen
rinzipien erwarb sie sich internationales Renommee. In
er Weimarer Republik war sie der Anlaufpunkt der
ünstlerischen Elite Deutschlands und Europas. Nach
em vorläufigen Untergang der Akademie der Künste
urch die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialis-
en wuchs sie nach dem Krieg und insbesondere nach der
ereinigung der Akademie der Künste West mit der
kademie der Künste Ost im Zuge der deutschen Einheit
12766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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wieder zu dem bedeutendsten Treffpunkt internationaler
Künstler in Deutschland heran und knüpfte damit an ihre
alte und herausragende Tradition an.
Die Geschichte der Akademie der Künste verpflichtet
uns heute, sie nicht als politischen Spielball zu benutzen.
Sie verdient unser aller Unterstützung. Deshalb möchte
ich auch heute keine Diskussion über die Gesetzge-
bungskompetenz des Bundes zu dem uns vorliegenden
Gesetz führen. Genauso lasse ich heute das Für und Wi-
der der föderalen Vielfalt unserer Kulturpolitik aus dem
Spiel, auch wenn mir die Bundesregierung die Bedenken
des Bundesrates zu leichtfertig vom Tisch gewischt hat.
Wir unterstützen das Bemühen der Bundesregierung,
die finanzielle Existenz der Akademie der Künste zu si-
chern. Wir schließen uns auch ihrer Auffassung an, dass
die Akademie aus ihrer über 300-jährigen Tradition he-
raus wie kaum eine andere nationale Institution im Aus-
land als herausragende Repräsentanz deutscher Kultur
wahrgenommen wird. Ebenso verschließen wir uns nicht
dem von den Mitgliedern der Akademie geäußerten Wil-
len einer Überführung in Bundeszuständigkeit.
Wir kritisieren aber scharf die Vorgehensweise und
Motive der Bundesregierung, die hinter diesem Gesetz-
entwurf stehen. Bereits seit dem l. Januar 2004 finanziert
der Bund die Akademie der Künste. Wir fragen uns, auf-
welcher Grundlage dies geschieht, wenn wir erst heute
über eine Übernahme der Trägerschaft debattieren.
Die Übernahme der Trägerschaft wiederum ist ein
zweifelhaftes Koppelgeschäft mit der Gründung der
Opernstiftung. Dies weckt schlimmste Befürchtungen,
da die Gründung der Opernstiftung mit schriller Begleit-
musik einhergeht. Von „politischem Krieg“ und „Berli-
ner Kulturkampf“ ist heute in den Medien die Rede. Wie
kann man die Akademie der Künste zu diesem Zeitpunkt
in derart stürmisches Fahrwasser werfen? Warum über-
haupt lässt sich die Bundesregierung, wenn sie der Aka-
demie eine herausragende und besonders förderwürdige
Bedeutung zuspricht, auf dieses Kompensationsgeschäft
ein? In anderen Fällen – ich erinnere an das Jüdische
Museum – war das auch nicht der Fall.
Dieses Gesetz wird immer den faden Beigeschmack
behalten, dass Berlin die Akademie der Künste an den
Bund abschiebt, um die neue Opernstiftung zu errichten.
Dieses Vorgehen ist der Akademie der Künste unwürdig.
Mit diesem Gesetzentwurf beteiligt sich die Bundes-
regierung an einem abschreckenden Geschacher.
CDU und CSU werden, um den Mitgliedern der Aka-
demie der Künste und dem kulturellen Leben im In- und
Ausland kein falsches Signal zuzusenden, heute dem
Gesetzentwurf trotzdem zustimmen. Für uns steht die
Existenz der Akademie der Künste im Mittelpunkt unse-
rer Überlegungen. Dafür stellen wir erhebliche genannte
Bedenken hinten an.
Wir bedauern sehr, dass kein würdigeres Verfahren
und Vorgehen gewählt wurde. Der Wechsel der Träger-
schaft der Akademie der Künste bleibt ein weiteres un-
rühmliches Kapitel dieser Bundesregierung. Die ein-
gangs angesprochenen Sterne von Freiheit und Wahrheit
leuchten heute leider nicht heller, weder über der Kunst,
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och über der Akademie, und schon gar nicht über die-
em Gesetzentwurf.
Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rinnern wir uns kurz: Die Entscheidung des Bundes,
ie Akademie der Künste als Körperschaft des öffentli-
hen Rechts zu übernehmen, wurde Ende 2003 im neuen
auptstadtkulturvertrag festgeschrieben. Durch die ent-
prechende Entlastung des Berliner Kulturhaushalts
16 der insgesamt 22 Millionen Euro Entlastung sind
er Übernahme der Akademie der Künste zu verdan-
en – sollte der Berliner Senat in die Lage versetzt
erden, die Berliner Opernreform durchzuführen. Tat-
ächlich kann die Berliner Opernreform als Modell für
ünftige Reformen im Kulturbereich betrachtet werden.
ngesichts der derzeitigen Querelen und skandalösen
andwerklichen Fehler bei der Suche nach einem Gene-
aldirektor der Berliner Opernstiftung fragt man sich al-
erdings, ob der Berliner Kultursenator selbst die Bedeu-
ung dieser Reform überhaupt begriffen hat.
Dieser Hintergrund und das derzeitige personelle
ickhack dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,
ass es sich bei der Entscheidung des Bundes, die Aka-
emie der Künste als rechtsfähige Körperschaft des öf-
entlichen Rechts in Trägerschaft des Bundes zu errich-
en, um eine kulturpolitische Grundsatzentscheidung
andelt. Denn dass die Akademie der Künste eine ehr-
ürdige Institution mit nationaler und internationaler
trahlkraft war und ist – darüber besteht kein Zweifel.
eit ihrer Gründung 1669 ist sie ein Ort des internationa-
en Austauschs von Künstlern; sie ist ein Hort der Demo-
ratie, in dem das kulturelle Erbe Deutschlands gepflegt
nd weiterentwickelt wird. Große Namen wie Felix
endelssohn-Bartholdy, Thomas Mann, Heinrich Mann,
ermann Hesse, Ricarda Huch, Alfred Döblin, Heiner
üller – alle waren sie Mitglieder der Akademie – ste-
en für den humanistischen Ansatz dieser internationa-
en „Gelehrtenrepublik“. Was haben wir der Akademie
er Künste nicht alles zu verdanken? Ohne sie wäre zum
eispiel das Brandenburger Tor in seiner klassizisti-
chen Form niemals gebaut worden. Stets, auch unter
rößter Repression, bildete die Akademie der Künste
ine Gegenkraft zu nationaler Engstirnigkeit. Dass ihr
erzeitiger Präsident Adolf Muschg ein Schweizer ist,
ein Vorgänger György Konrad ein Ungar, zeigt, dass
ich die Akademie der Künste dieser Tradition bewusst
t.
Ich freue mich deshalb über das Engagement des
undes und darüber, dass nun eine kompakte Lösung für
iese Institution gefunden wurde. So kann die Rolle der
kademie im kulturellen Austausch, bei der Vermittlung
er Künste und der Pflege unseres kulturellen Erbes ge-
ichert werden. In der Übernahme der Akademie der
ünste zeigt sich eine doppelte Zuständigkeit des Bun-
es: erstens seine besondere Verantwortung für die kul-
urelle Entwicklung der Bundeshauptstadt, zweitens
eine Zuständigkeit für Institutionen, die in besonderer
eise der Repräsentation des Gesamtstaats dienen. Bei-
es trifft im Falle der Akademie der Künste zu. Die Bun-
eskompetenz, die von einigen Bundesländern ange-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12767
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zweifelt wurde, ist damit eindeutig gegeben. Die
Entscheidung ist verfassungskonform und sie liegt zu-
dem im ureigenen Interesse des Gesamtstaats. Die neue
Satzung der Akademie der Künste präzisiert diese be-
sondere Kompetenz des Bundes; im Verwaltungsbeirat
ist der Bund als Zuschussgeber mit der Mehrheit der
Stimmen vertreten. An der künstlerischen Autonomie
der Akademie wird dies selbstverständlich nichts än-
dern.
Von ihrem neuen Sitz am Pariser Platz im Zentrum
Berlins wird die Akademie der Künste ihre Wirkung
weiter entfalten, kulturelle Debatten anstoßen und so
Kultur zu einem zentralen Bestandteil der – politischen –
Identitätsfindung der so genannten „Berliner Republik“
machen. Vergessen wir außerdem nicht: Die Zuwendun-
gen und Preise der Akademie zur Unterstützung von
Künstlern gewährleisten auch unter schwierigen ökono-
mischen Bedingungen ein Klima, in dem sich Künstler
in diesem Land willkommen fühlen dürfen.
Nach Osteuropa pflegt die Akademie stets fruchtbare
Kontakte, sodass sie zur kulturellen Vertiefung des euro-
päischen Einigungsprozesses Wichtiges beiträgt. Über-
haupt sollten wir uns über die immense Bedeutung die-
ser Institution in einem zunehmend unübersichtlichen,
von ökonomischen Sachzwängen geprägten Globalisie-
rungsprozess im Klaren sein. Nur wenn das kulturelle
und geistige Erbe Europas und Deutschland weiter le-
bendig gehalten wird, kann die Globalisierung als ein
humaner Prozess gestaltet werden. Für diesen Willen
steht die Akademie der Künste.
Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes-
kanzler: Wir debattieren heute über das geistige Institut
unserer Nation. Die Akademie der Künste blickt auf eine
stolze, über 300 Jahre alte Tradition zurück. Als unab-
hängige Künstlersozietät ist sie die älteste ihrer Art in
Europa. Wie kaum eine zweite Institution bildet die Aka-
demie die Entwicklung der Künste und den geistigen Zu-
stand einer Gesellschaft ab. Sie ist damit nicht nur ein
Kernelement der Kulturlandschaft in der Hauptstadt,
sondern auch eine Einrichtung von internationaler Repu-
tation.
Mit der Übernahme in die finanzielle und rechtliche
Obhut des Bundes soll die Akademie auch künftig für
die Künste streiten. Wir wollen aber keine Staatsakade-
mie, vielmehr sehen wir uns in der schönen Tradition der
Akademiebewegung, einen freien Ort des freien Gedan-
kens und des freien Urteils zu unterstützen. Vom Pariser
Platz sollen künftig kulturpolitische Diskussionen ausge-
hen, die ganz Deutschland bewegen, vielleicht sogar ver-
ändern können. Die Akademie bleibt also inhaltlich au-
tonom. Die von ihr ausgehenden Impulse entfalten sie
coram publico; sie wirkt öffentlich. Durch ihre Veran-
staltungen vermittelt sie wesentliche künstlerische Strö-
mungen der Gegenwart. Durch ihr interdisziplinäres
Archiv, ihre umfangreiche Bibliothek und die zwei Ge-
denkstätten in ihrer Obhut trägt sie erheblich zur Pflege
des kulturellen Erbes bei.
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Mit seinem Engagement für die Akademie der Künste
ertieft der Bund sein kulturpolitisches Engagement in
erlin. Dieses Institut – ich kann es nur wiederholen –
st von herausragender Bedeutung für die Kulturnation
eutschland und es ist eben keine Regionalakademie.
m ihre Strahlkraft zu erhalten, hat sich die Bundesre-
ierung entschlossen – übrigens im völligen Einverneh-
en mit dem Senat von Berlin und der Landesregierung
randenburg – in die alleinige Verantwortung für die
kademie einzutreten.
In einem juristischen Sinne technisch gesprochen
ielt das Ihnen vorliegende Gesetz auf die Errichtung ei-
er rechtsfähigen Körperschaft des öffentlichen Rechts
n Trägerschaft des Bundes. Sie soll an die Stelle der
leichnamigen Körperschaft treten, die von Berlin und
randenburg errichtet wurde. Mit der Übernahme der
kademie kommt der Bund einer Verpflichtung nach,
ie im Hauptstadtkulturvertrag vom 9. Dezember 2003
nthalten ist. Er entlastet damit die Kulturhaushalte Ber-
ins und Brandenburgs und sichert zugleich das finan-
ielle Fundament der Akademie. Dieses Engagement des
undes fügt sich ein in sein Gesamtkonzept für die Kul-
ur in der Hauptstadt Berlin. Es schafft, wie Sie wissen,
ie Voraussetzung für den Erhalt der drei Berliner
pernhäuser, den ja alle Fraktionen dieses Hauses mit
achdruck gefordert haben.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom
4. Mai dieses Jahres das Ansinnen grundsätzlich be-
rüßt, „im Rahmen des Hauptstadtlkulturvertrages die
eitere finanzielle Existenz der Akademie der Künste,
ie von den Ländern Berlin und Brandenburg getragen
ird, zu sichern“. Gleichwohl hat eine Mehrheit im Bun-
esrat die Auffassung vertreten, dass der Bund nicht
erechtigt sei, die Akademie als Körperschaft des öffent-
ichen Rechts zu errichten, da die Gesetzgebungskompe-
enz für kulturelle Angelegenheiten in der alleinigen Zu-
tändigkeit der Länder liege.
Die Bundesregierung hat diese Auffassung zurückge-
iesen: Die Länder begrüßen in ihrer Stellungnahme
rundsätzlich die Übernahme der Akademie und akzep-
ieren sie damit als hauptstädtische Einrichtung, die – wie
er im Ausschuss für Kultur und Medien angenommene
nderungsantrag zum Gesetz noch einmal klar heraus-
tellt – der nationalen wie internationalen Repräsentation
es Gesamtstaates dient. Wenn dem so ist, dann sieht der
und auch für die Umwandlung in eine Körperschaft
ach Bundesrecht „eine evidente Handlungskompetenz“.
Der Bundesregierung liegt es fern, die Kulturhoheit
er Länder zu untergraben. Der Bund hat jedoch für die
ulturnation Deutschland auch ungeschriebene Zustän-
igkeiten: Befugnisse und Verpflichtungen, die ihrem
esen nach im bundesstaatlichen Gesamtverband wahr-
enommen werden müssen, stehen ihm aus der Natur
er Sache zu. Die Bundesregierung sieht sich daher ver-
assungsrechtlich befugt, die Akademie in eine Körper-
chaft nach Bundesrecht umzuwandeln.
12768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 18. November 2002 zur Gründung ei-
ner Assoziation zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ei-
nerseits und der Republik Chile andererseits
– Antrag: Für einen europäischen-kolumbia-
nischen Dialog und einen erfolgreichen Frie-
densprozess in Kolumbien einsetzen
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Lothar Mark (SPD): Das Assoziationsabkommen
zwischen der EU und Chile ist das umfangreichste, das
die EU jemals mit einem Drittstaat geschlossen hat, und
es stellt damit einen Meilenstein für die Beziehungen
zwischen der EU und Lateinamerika insgesamt dar.
Nach Mexiko ist Chile das zweite Land, mit dem ein sol-
ches Abkommen vereinbart wurde.
Dieser Vertrag umfasst weit mehr als ein reines Han-
delsabkommen. Der scheidende EU-Handelskommissar
Pascal Lamy, beschreibt dies wie folgt: Mit der Unter-
schrift unter dieses Dokument haben Chile und die EU
vor dem Rest der Region die Verantwortung zur Bildung
einer strategischen Beziehung zwischen Europa und La-
teinamerika übernommen. – Es geht folglich um mehr
als die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen, es
geht auch um das gemeinsame Bekenntnis zu unseren
Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte.
Entsprechend den Vereinbarungen im politischen Pro-
tokoll, das neben dem Wirtschafts- und Handelskapitel
den zweiten Pfeiler bildet, sollen die EU und Chile ihre
Positionen in Fragen der internationalen Politik künftig
noch besser koordinieren und in internationalen Gremien
gemeinsame Initiativen einbringen. Wir sind vom Nut-
zen einer solchen Politik der internationalen Koopera-
tion überzeugt, die auf Alleingänge bewusst verzichtet
und unbedingt dem Konzept des Multilateralismus ver-
pflichtet ist. Hinzu kommt als dritter Pfeiler ein Koope-
rationsabkommen, das eine verstärkte Zusammenarbeit
im kulturellen sowie im Bildungsbereich vorsieht und
Chile einen privilegierten Zugang zu den Rahmenpro-
grammen der EU gewährt.
Die Handelsvereinbarungen des Abkommens bieten
Chile Zugang zu einem Markt von über 450 Millionen
Verbrauchern. Dem Land eröffnen sich damit Chancen,
die von der Einführung neuer Qualitätsstandards und
dem damit verbundenen Gewinn des Vertrauens der eu-
ropäischen Verbraucher bis hin zur Diversifizierung der
Absatzgebiete und der eigenen Produkte reichen.
Selbstverständlich ist das Abkommen auch für Eu-
ropa von allergrößtem Interesse. Im Weltbankbericht
„Doing Business 2004“ wird Chile als bester Geschäfts-
standort Lateinamerikas bezeichnet; unter den „Emer-
ging Markets“ rangiert es an zweiter Stelle. Im vergan-
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enen Jahr hat Chile zudem Antrag auf Aufnahme in die
ECD gestellt.
Bekanntlich finden bestimmte Abkommensteile – ins-
esondere Bestimmungen zum Warenverkehr und über
nstitutionelle Fragen – bereits seit dem 1. Februar 2003
nwendung. Somit kann eine erste, vorläufige Bilanz
ezogen werden, die durchaus positiv ausfällt: Das Han-
elsvolumen der EU mit Chile hat sich in den ersten Mo-
aten dieses Jahres sprunghaft entwickelt. Die chileni-
chen Exporte nach Europa sind um 52 Prozent, die
xporte nach Deutschland sind um 56 Prozent gewach-
en. Die deutschen Ausfuhren nach Chile legten immer-
in um 11 Prozent zu.
Das Assoziierungsabkommen hat also schon jetzt den
raditionell guten und intensiven Wirtschaftsbeziehun-
en zwischen Deutschland und Chile einen wesentlichen
mpuls verleihen können. Deutschland hat seinen Rang
ls wichtigster Lieferant Chiles innerhalb der Europäi-
chen Union behauptet, wenngleich angemerkt werden
uss, dass Deutschland wie auch die EU insgesamt
icht so stark wie andere Regionen vom chilenischen
andelswachstum profitieren. An dieser Stelle geht da-
er mein Appell an die deutsche Wirtschaft, den Blick
uch wieder verstärkt über den Südatlantik zu richten.
Diese Entwicklungen lassen hoffen, dass die fort-
chreitende Liberalisierung des Warenverkehrs auf bei-
en Seiten dazu beitragen wird, das Wirtschaftswachs-
um zu steigern, die Arbeitslosigkeit zu senken und der
esellschaftlichen Entwicklung neue Impulse zu verlei-
en. Der Vertrag leistet somit einen wesentlichen Beitrag
ur Sicherung des Friedens, der Sicherheit und der wirt-
chaftlichen Stabilität in der Region. Chiles Funktion als
tabilitätsanker in der Region wird durch die Ratifizie-
ung des Assoziierungsabkommens unterstrichen.
Nicht zuletzt möchte ich noch auf die Signalwirkung
es Abschlusses auf die Verhandlungen mit dem Merco-
ur über ein vergleichbares Abkommen hinweisen. Wir
lle hoffen, dass die Erfolgsbilanzen aus den Abkommen
it Mexiko und Chile auch dazu führen werden, dass
ach dem Verfehlen des selbst gesteckten Abschlussda-
ums Ende Oktober nunmehr unter der neuen EU-Kom-
ission in nicht allzu ferner Zukunft der Abschluss mit
em Mercosur zustande kommt.
Angesichts der dargelegten Argumente stimmt die
PD-Bundestagsfraktion dem vorliegenden Gesetzent-
urf der Bundesregierung ohne Änderungen zu. Die
DU/CSU-Fraktion ist mit dem vorliegenden Antrag zu
olumbien in wesentlichen Punkten auf unsere Linie
ingeschwenkt. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen; ich
ehe gleich im Einzelnen darauf ein. Dennoch zeigt sich
us unserer Sicht ganz deutlich, dass diese richtigen An-
ätze nicht in letzter Konsequenz zu Ende gedacht wer-
en. Verschiedene Punkte lassen eine Befürwortung der
u beratenden Drucksache nicht zu.
Der Antrag benennt die bisherigen Erfolge der Regie-
ung Uribe und verweist richtigerweise darauf, dass
iese zunächst vorläufig sind und der Weg zu einer dau-
rhaften Befriedung der kolumbianischen Gesellschaft
och lang und äußerst beschwerlich sein wird. Umso
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wichtiger ist auch aus unserer Sicht die Unterstützung
der Regierung Uribe auf diesem Weg.
Vor diesem Hintergrund ist es unbestritten notwendig,
von europäischer Seite neue Impulse für den festgefahre-
nen Friedensprozess zu geben. Diese Auffassung, vertre-
ten wir seit langem. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in
einer Entschließung vom April letzten Jahres – aber auch
schon im Juli 2000 – auf die Wichtigkeit eines entschie-
deneren Engagements der Europäischen Union hinge-
wiesen. In diesem Zusammenhang haben wir die Ernen-
nung und Entsendung eines Hohen Beauftragten der
Europäischen Union für den Konflikt in Kolumbien vor-
geschlagen. Seine Aufgabe bestünde darin, den vorhan-
denen europäischen Ansatz für eine friedliche Konflikt-
lösung auf dem Verhandlungswege mit Nachdruck zur
Geltung zu bringen und damit dazu beizutragen, in enger
Abstimmung mit der kolumbianischen Regierung, dem
Sondergesandten der Vereinten Nationen und der OAS
den Friedensprozess wieder neu zu beleben und zu dyna-
misieren. Von kolumbianischer Seite ist dieser Vorschlag
bisher sehr positiv aufgenommen worden, so auch jüngst
während meiner letzten Reise nach Bogota im vergange-
nen Oktober.
Die Einschätzung der CDU/CSU zu den Hauptpro-
blemfeldern teilen wir, wenn auch mit etwas anderer Ge-
wichtung: Die Menschenrechtssituation in Kolumbien
ist nach wie vor kritisch. Es gilt weiterhin, die kolumbia-
nische Regierung auf die Umsetzung der Empfehlungen
des VN-Hochkommissars für Menschenrechte vom ver-
gangenen Februar zu verpflichten und dabei zu unter-
stützen.
Unserer festen Überzeugung nach kann es letztend-
lich nachhaltigen Frieden in Kolumbien nur auf dem
Verhandlungswege geben. Deshalb begrüßen wir die
Forderung, die kolumbianische Regierung bei der An-
bahnung konstruktiver Friedensverhandlungen mit allen
illegalen Gruppen zu unterstützen.
In diesem Zusammenhang verfolgen wir aufmerksam
den Demobilisierungsprozess mit den Paramilitärs, den
wir grundsätzlich befürworten. Viele Stimmen in Ko-
lumbien sprechen sich allerdings kritisch gegenüber ei-
ner Quasilegalisierung der paramilitärischen Verbände
im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung aus, zumal
das diesbezügliche Konzept der Regierung nicht kohä-
rent erscheint und auch noch kein Gesetzesrahmen exis-
tiert. Trotz aller Schwierigkeiten im Prozess der Demo-
bilisierung und Wiedereingliederung der Paramilitärs
sehen wir dazu keine Alternative. Gleichwohl gilt es aus
unserer Sicht, darauf zu achten, dass die Verhandlungen
transparent gestaltet werden und die Balance zugunsten
der Rechte der Opfer gewahrt bleibt. Der Vorschlag zur
Einrichtung einer Wahrheitskommission kann in diesem
Prozess ein wichtiges Instrument sein, setzt allerdings
den politischen Willen und ein funktionierendes Rechts-
system voraus.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt insbesondere,
dass die CDU/CSU in diesem Kontext auch die Notwen-
digkeit von umfassenden gesellschaftlichen Reformen in
Kolumbien betont.
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Zu Recht fordert sie in diesem Zusammenhang die
ündelung der friedenspolitischen Anstrengungen sei-
ens der USA und Europa. Zumindest die Zeichen für
ine geschlossenere Haltung der Europäer gegenüber
olumbien stehen nach dem Regierungswechsel in Spa-
ien gut. Damit verbessern sich zwar grundsätzlich die
hancen von multilateralen Initiativen; inwiefern diese
ber in einen ausgewogeneren neu aufgelegten „Plan
olombia“ münden, bleibt abzuwarten. Im Ergebnis
ollte ein angemessenes Gleichgewicht zwischen ziviler
nd militärischer Konfliktbewältigung hergestellt sein.
ch freue mich, dass die CDU/CSU-Fraktion in diesem
unkt von der einseitigen Unterstützung eines vornehm-
ich militärisch ausgelegten „Plan Colombia“ abgerückt
t.
Ich möchte nun aber zu meiner eingangs geäußerten
ritik am vorliegenden Antrag kommen. Es ist schon er-
taunlich: Einerseits betont die CDU/CSU richtigerweise
ie regionale Dimension des Konflikts. Nur zusammen
it den Anrainerstaaten können die friedenspolitischen
nstrengungen zu einer konstruktiven Lösung führen.
ndererseits aber muss in ihrer Situationsanalyse fast
ebetsmühlenartig die Verunglimpfung des Nachbarn
enezuela folgen. Sie stützt sich dabei – wie so oft – auf
ngesicherte Erkenntnisse, Verdächtigungen und Unter-
tellungen. Es ist mir unverständlich, wie versucht wird,
inen bedeutenden Partner von diesem gemeinsamen
orgehen auszugrenzen, wenn man doch einen regiona-
en Ansatz in dieser Frage fördern will. Bedauerlicher-
eise disqualifiziert sich die CDU/CSU mit ihren guten
nsätzen in dieser Frage.
Ein weiterer Punkt ist die Einschätzung der Drogen-
roblematik. Natürlich geht es um unsere Sicherheit,
ber es geht auch um unsere Verantwortung als Konsu-
entenländer, zu der sich die CDU/CSU im vorliegen-
en Antrag nicht hinreichend bekennt. Es muss aus un-
erer Sicht eine langfristige Perspektive für den
lternativen Anbau eröffnet werden. Insofern ist von al-
ergrößter Wichtigkeit, dass vonseiten der EU ein attrak-
ives Nachfolgerregime für das APS „Drogen“ angebo-
en wird. Wir sehen bisher, dass Maßnahmen im Rahmen
es „Plan Colombia“ zur Bekämpfung von Drogenanbau
nd -kriminalität zum Teil nicht in dem Maße erfolg-
eich waren wie erwartet, oft nur kurzfristig eingetreten
ind oder lediglich zu einer Verlagerung in Nachbarlän-
er geführt haben.
Die CDU/CSU spricht sich schließlich in ihrem An-
rag für die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten
us. Über eine Verfassungsänderung in Kolumbien mag
an in der Tat denken, wie man will. In jedem Fall steht
s dem Deutschen Bundestag aber nicht an, sich in der
inen oder anderen Weise dazu zu erklären und sich da-
it in diese innerkolumbianische Diskussion einzumi-
chen. Ich bin überzeugt, dass der kolumbianische Kon-
ress unter Abwägung des Für und Wider die richtige
ntscheidung in dieser wichtigen Frage treffen wird.
Insgesamt ist dem Antrag sehr deutlich die Hand-
chrift des zugrunde liegenden SWP-Papiers von
r. Günther Maihold anzumerken. Es wäre schön, wenn
ie darin zum Ausdruck kommenden Intentionen auch
12770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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tatsächlich Eingang ins Bewusstsein der CDU/CSU-
Fraktionsmitglieder gefunden hätten.
Die Zukunft wird zeigen, ob meine diesbezügliche
Skepsis berechtigt ist. Ich möchte abschließend einige
Bemerkungen zum internationalen Kontext machen, der
meines Erachtens die Bemühungen um den Frieden in
Kolumbien nicht gerade erleichtert. Allzu vorschnell
werden derzeit unter den Kampf gegen den Terrorismus
weltweit Entwicklungen subsumiert, die vielleicht einer
differenzierteren Betrachtung bedürften. Bei diesen
Konflikten in der Welt gerät Ursachenforschung stellen-
weise völlig in den Hintergrund und nachvollziehbare
Lösungsansätze für eine nachhaltige Sozial- und Frie-
denspolitik werden weitestgehend ignoriert und tabui-
siert. Chancen und Möglichkeiten, Friedenspolitik prä-
ventiv durch umsichtige und gerechte Sozialpolitik
anzugehen, werden in der globalisierten Welt oft aus Ide-
ologiegründen nicht gesehen, negiert, zumindest aber
nicht offensiv propagiert und verfolgt. Monokausale Er-
klärungs- und Lösungsansätze können aber nur in eine
Sackgasse führen, wie uns an den Beispielen der Eskala-
tion im Irak, im Nahen Osten und anderen Regionen
schmerzlich, inzwischen fast täglich vorgeführt wird.
Dies sollten wir auch in Bezug auf Kolumbien im Hin-
terkopf behalten.
Da es, wie oben erläutert, in verschiedenen Punkten
Übereinstimmung zwischen unseren Fraktionen gibt,
finden wir es bedauerlich, dass nicht im Vorfeld der Ein-
bringung ins Plenum der Versuch unternommen wurde,
zu einer Verständigung zu kommen. In der vorliegenden
Form kann die SPD-Bundestagfraktion trotz aller begrü-
ßenswerten Ansätze nicht zustimmen.
Erich G. Fritz (CDU/CSU): „Nur ein Land ist der
lateinamerikanische Malaise entronnen – Chile“, heißt
es in einem „Welt“-Artikel vom 21. Oktober 2004. Das
sind gute und ermutigende Nachrichten, die uns den
Nutzen des von der Bundesregierung erst jetzt vorgeleg-
ten Gesetzentwurfs zur Ratifizierung des Abkommens
vom 18. November 2002 über eine Assoziation zwi-
schen der EU und Chile verdeutlichen. Das Abkommen
ist in seinen wesentlichen handelspolitischen Bestim-
mungen von der EU-Kommission im Rahmen ihrer
Kompetenzen im Februar 2003 in Kraft gesetzt worden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und un-
terstützt die vorgesehene Ratifizierung, nicht zuletzt weil
Deutschland Chiles wichtigster Handelspartner inner-
halb der Europäischen Union ist. Nach Mexiko ist Chile
das zweite Land Lateinamerikas, mit dem auf der Basis
des Assoziationsabkommens die wirtschaftlichen und
politischen Beziehungen intensiviert und die wirtschaft-
liche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes un-
terstützt werden soll.
Dass es Chile im Gegensatz zu anderen Staaten La-
teinamerikas gelungen ist, sich für die EU als ernst zu
nehmender Partner darzustellen, hat erst jüngst die neue
Studie des World Economic Forums gezeigt. Danach
zählt Chile zu den Aufsteigern im Growth Competitive-
ness Index, GCI, da es sich vom 28. auf den 22. Platz
verbessert hat. Nicht nur das: Auch der Abstand zum
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ächstbesten südamerikanischen Staat, Mexiko, ist auf
6 Plätze angewachsen.
Aber nicht nur die wirtschaftlichen Erfolge Chiles
prechen für die Ratifizierung des Assoziationsabkom-
ens. Chile hat seit seiner Rückkehr zur Demokratie im
ahre 1990 seinen demokratischen Weg kontinuierlich
eschritten. Mithilfe des in dem Abkommen enthaltenen
ekenntnisses zur Wahrung der demokratischen und
enschenrechtlichen Grundsätze soll Chile auf diesem
rfolgreichen Weg weiter unterstützt werden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ferner die
orgesehene finanzielle Zusammenarbeit, die sich vor
llem auf die Förderung von Reformen zur Wirtschafts-
odernisierung und zur Verbesserung der wirtschaft-
ichen Infrastruktur Chiles erstrecken soll, und fordert
ie EU und Chile auf, die bislang noch nicht genau ver-
inbarte finanzielle Zusammenarbeit umgehend nach In-
raft-Treten des Abkommens festzulegen.
Besonders erfreulich sind die weit gehenden Liberali-
ierungsmaßnahmen im Handelsbereich: zum Beispiel
er vollständige Abbau der Zölle für gewerbliche Er-
eugnisse bis zum 1. Januar 2010 und die schrittweise
iberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen
rodukten durch Aufhebung bzw. Senkung von Zöllen.
ie wirtschaftlichen Vorteile eines solchen Zollabbaus
iegen für beide Seiten auf der Hand: Der Abbau von
chranken führt zu einer besseren Arbeitsteilung und da-
it zu einem wirtschaftlichen Gewinn für alle Beteilig-
en. Die Reformen machen Chile attraktiver für Investo-
en, weil wirtschaftspolitische Reformen glaubhaft
erankert werden. Außerdem können Erfahrungen mit
em Abbau von Handelsbarrieren gesammelt werden,
ie dem WTO-Ziel eines weltweiten Abbaus von Han-
elsbarrieren nützen können. In diesem Zusammenhang
öchte ich allerdings hervorheben, dass bilaterale und
egionale Handelsabkommen keine Alternative zu multi-
ateralen Vereinbarungen sein dürfen. Dies würde zu ei-
er Schwächung des multilateralen Handelssystems füh-
en und vor allem Entwicklungsländern schaden.
rfreulicherweise ist auch für die EU und die Bundesre-
ierung der multilaterale Rahmen der bevorzugte Weg
ür die Gestaltung der weltweiten Handelsbeziehungen.
Mir ist bewusst, dass die Realität seit Beginn der
0er-Jahre anders aussieht. Seither erleben regionale
andelsabkommen einen unvergleichlichen Boom.
uch und gerade die USA machen davon regen Ge-
rauch. Ein Freihandelsabkommen mit Chile ist bereits
bgeschlossen. Auch vor diesem Hintergrund halten wir
ine rasche Ratifizierung des EU-Chile-Assoziationsab-
ommens für wünschenswert und notwendig, wohl wis-
end, dass das vorliegende Assoziationsabkommen über
as Freihandelsabkommen zwischen Chile und den USA
inausgeht, weil es auch den sozialen, kulturellen, tech-
ischen und politischen Dialog umfasst.
Bedauerlicherweise hat außer Chile keines der latein-
merikanischen Länder eine wirkliche Entwicklung zu
erzeichnen – weder in makroökonomischer Sicht noch
insichtlich der Verminderung der Armut, in der die
eisten Menschen leben. Korruption und Drogenhandel
tehen auf der Tagesordnung. Hinzu kommt eine unzu-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12771
(A) )
(B) )
reichende Gewaltenteilung, fehlende Rechtsstaatlichkeit
und die mangelnde Transparenz politischer Prozesse.
Zwar genießt Lateinamerika in der Handelspolitik der
EU seit Ende der 90er-Jahre eine Sonderrolle, weil euro-
päische Großunternehmer im Zuge der lateinamerikani-
schen Privatisierungswelle massive Investitionen vorge-
nommen haben, eine Annäherung zwischen Europa und
den Staaten Lateinamerikas mit Ausnahme Mexikos und
Chiles verläuft dagegen nur schleppend. EU-Handels-
kommissar Lamy machte daher auf dem EU-Lateiname-
rika-Gipfel vom Mai 2004 eine stärkere regionale und
wirtschaftliche Integration zur Vorbedingung für ein
Freihandelsabkommen, über das die Staaten Lateiname-
rikas schon ab Anfang 2005 verhandeln möchten.
Von einem solchen Abkommen würde natürlich auch
Europa stark profitieren, da eine Einigung etwa mit dem
Mercosur den Europäern den Zugang zu einem Markt
mit 265 Millionen Menschen öffnen würde. Wie Sie alle
wissen, konnte die für Oktober 2004 vorgesehene Eini-
gung über ein EU-Mercosur-Abkommen nicht erzielt
werden. Wünschenswert wäre es, wenn Chile als assozi-
iertes Mitglied des Mercosur wie auch als Vertragspart-
ner des EU-Chile-Assoziationsabkommen als Vermittler
auftreten und auf einen raschen Konsens zwischen dem
Mercosur und der EU hinwirken würde.
Vor dem Hintergrund vieler noch ungelöster Fragen
und Defizite ist es für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
unverständlich, warum die Bundesregierung ein lateina-
merikanisches Land nach dem anderen aus der bilatera-
len Zusammenarbeit mit Deutschland ausschließt. Ende
2004 soll die Zusammenarbeit mit Argentinien und Uru-
guay aufhören. Darüber hinaus plant die Bundesregie-
rung als Nächstes, Chile oder auch Paraguay von der
Liste der Kooperationsländer zu streichen. Ich hoffe
nicht, dass das im Falle Chiles eine Reaktion auf die be-
vorstehende Ratifizierung des EU-Chile-Assoziationsab-
kommens ist. Wenn ja, wäre das ein falsches Signal.
Die erzielten Reformerfolge der chilenischen Regie-
rung dürfen nicht gefährdet werden. Trotz aller Erfolge
darf es auch auf bilateraler Ebene kein Nachlassen in den
Reformbemühungen geben. Auch Chile steht noch vor
großen Herausforderungen. Es zählt zu den Ländern mit
der ungünstigsten Einkommensverteilung. Ein Großteil
der Bevölkerung bleibt vom Konsum ausgeschlossen,
was negative Konsequenzen für die für den Inlandsbe-
darf produzierenden Mittelstandsbetriebe hat. Zudem hat
die radikale Privatisierung des Ausbildungssystems dazu
geführt, dass Chile bei Studien über die Effizienz der
Bildungssysteme im internationalen Vergleich regelmä-
ßig auf den hintersten Plätzen landet.
Ein Überbleibsel des Pinochet-Regimes – das binomi-
nale Wahlrecht – macht Chiles Demokraten das Leben
schwer. Es zwingt seit der Rückkehr zur Demokratie
1990 Sozialisten, Sozialdemokraten und Christliche De-
mokraten in der aus vier Parteien bestehenden Concerta-
tión zusammen. Gleichzeitig bevorzugt es die rechte Op-
position dadurch, dass jeder der beiden Blöcke – Linke
wie Rechte – pro Wahlkreis nur je zwei Kandidaten auf-
stellen darf und damit die rechte Opposition – Allianz
aus den Parteien „Demokratisch-Unabhängige Union“,
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DI, und „Nationale Erneuerung“, RN – mit lediglich
inem Drittel der Stimmen die Hälfte aller Parlaments-
itze bekommen kann. Die Concertatión wird trotz der
rfüllung ihrer Aufgabe als Bündnis sämtlicher der De-
okratie verpflichteter Parteien gegenüber der Diktatur
och so lange bestehen, bis das binominale Wahlsystem
ugunsten eines demokratischeren Verfahrens abge-
chafft ist. Noch aber wird eine Reform des Wahlrechts
on der Opposition aus Eigeninteressen weitgehend
lokkiert.
Es bleibt also noch viel zu tun in Chile wie auf dem
ateinamerikanischen Kontinent insgesamt. Deshalb for-
ern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, die von
hr aufgekündigte bzw. zurückgefahrene Zusammenar-
eit mit vielen Ländern Lateinamerikas wieder aufzu-
ehmen und auch auf EU-Ebene auf enge Beziehungen
ber das uns hier vorliegende EU-Chile-Assoziationsab-
ommen hinaus hinzuwirken. Es muss ganz entschieden
arum gehen, Lateinamerika bei seiner politischen, so-
ialen und wirtschaftlichen Stabilisierung zu unterstüt-
en. Überlassen wir Lateinamerika der wirtschaftlichen
nd politischen Einflusssphäre der USA, schadet das
uropäischen wie deutschen Interessen im weltweiten
ettbewerb.
Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Präsident
lvaro Uribe Vélez genießt in Kolumbien eine ungebro-
hen hohe Popularität: Unter seiner Regierung erscheint
um ersten Mal eine dauerhafte Lösung des über 40-jäh-
igen blutigen inneren Konfliktes möglich. Doch auch
ie internationale Gemeinschaft ist gefragt, den Frie-
ensprozess durch geeignete Maßnahmen zu unterstüt-
en.
Bei den verschiedenen Bemühungen um eine Beile-
ung des Konfliktes in Kolumbien hat sich letztlich ge-
eigt, dass ein Erfolg versprechender Weg nur in der
ombination der beiden Elemente „militärischer Druck“
nd „Verhandlungen“ liegt. Präsident Uribe hat mit sei-
em Programm „Demokratische Sicherheit“ diesen Weg
ingeschlagen. Seine bisherige Erfolgsbilanz liest sich
ositiv: Die Anzahl der Entführungen und der Binnen-
lüchtlinge ist um die Hälfte gesunken, Massaker und
berfalle auf ländliche Gemeinden haben stark nachge-
assen, zudem konnte die Koka-Anbaufläche insgesamt
erringert werden. 6 000 bis 7 000 Paramilitärs haben
ich nach Regierungsangaben freiwillig demobilisiert
nd nehmen an Wiedereingliederungsprogrammen teil.
Trotzdem bleibt der Friedensprozess äußerst fragil, ist
ie prinzipielle Schwäche der staatlichen Institutionen
vident und sind Rückschläge sowohl hinsichtlich der
erhandlungen mit den Paramilitärs, AUC, als auch hin-
ichtlich der zaghaften Friedensgespräche mit der Gue-
illa nicht ausgeschlossen. Die Bemühungen der Regie-
ung, im ganzen Land Staatlichkeit wiederherzustellen,
as Recht durchzusetzen und der ländlichen Bevölke-
ung eine Perspektive jenseits des Drogenanbaus zu ge-
en, werden von dieser positiv bewertet. Als Folge wird
ine Verfassungsänderung erwogen, die Präsident Uribe
ine direkte Wiederwahl ermöglichen und die Fortset-
ung seiner Politik der demokratischen Sicherheit garan-
ieren soll. Ohne die innenpolitischen Balancen und his-
orischen Traditionen, die mit der Frage der direkten
12772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Wiederwahl in Kolumbien verknüpft sind, verkennen zu
wollen, würden wir die generelle Möglichkeit der Wie-
derwahl des Staatspräsidenten begrüßen. Die Einschrän-
kung der direkten Wiederwahl zu Staatsämtern, wie sie
zahlreiche lateinamerikanische Länder vorsehen, weist
auch klare Nachteile in puncto Kontinuität und Verläss-
lichkeit auf.
Waffenstillstand, Demobilisierung und Reintegration
werden jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn sie von
der Gesellschaft als Ganzer getragen werden. Die Re-
form der kolumbianischen Gesellschaft und die Über-
windung der sozialen Ungleichheit sind eine wichtige
Voraussetzung dafür, dass Frieden überhaupt möglich
wird und langfristig Bestand hat. Insbesondere gilt es,
der wirtschaftlichen Elite des Landes zu verdeutlichen,
dass sie ihrer gesellschaftspolitischen und sozialen Ver-
antwortung zum Beispiel durch Reinvestition ihrer er-
zielten Gewinne in höherem Maße gerecht werden muss.
Die Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und die
deutschen politischen Stiftungen und ihre Partner müs-
sen verstärkt in die Lage versetzt werden, diesen Prozess
zu begleiten.
Die Beziehungen Kolumbiens zu Europa sind schwie-
rig. Die EU hat trotz ihres Engagements in Kolumbien,
zum Beispiel für Friedenslaboratorien, bisher keinen
konstruktiven Dialog mit der Regierung Uribe etablieren
können. Angesichts der strategischen Bedeutung eines
möglichst stabilen, demokratischen Lateinamerika auch
für Europa und der negativen Auswirkungen des Dro-
genhandels und der Geldwäsche auf Europa müssen die
EU und ihre Mitgliedstaaten aber ein gewichtiges Inte-
resse daran haben, im internationalen Rahmen eine stär-
kere, gestaltende Rolle im kolumbianischen Konflikt zu
übernehmen.
Dies ist in ureigenem europäischen Interesse. Kolum-
bien als prominentestes Beispiel steht für die gesamte
Region, die geplagt ist von Terrorismus, Drogenproduk-
tion und -handel, Kriminalität sowie Konflikten, die
Umweltschäden und Ressourcenknappheit ausgelöst ha-
ben. Protagonisten sind unter anderem Guerillas, Para-
militärs, organisiertes Verbrechen, transnationale Terro-
risten, Drogen- und Waffenhändler, die immer häufiger
grenzüberschreitend zusammenwirken. Die Verbindun-
gen der kolumbianischen Narkoguerilla mit IRA und
ETA sind Anzeichen für ein globales Zusammenwirken.
Dabei nutzen und schaffen sich die Protagonisten rechts-
freie Räume und destabilisieren damit und über ihr
regionales Zusammenwirken sowie über die Geldwäsche
ihr Ursprungsland, die Region und die Zielländer des
illegalen Handels. In diesem Zusammenhang muss
deutlich ausgesprochen werden, dass in Venezuela unter
seinem Präsidenten Hugo Chávez – der, dies sei hier am
Rande erwähnt, die Demokratie in Venezuela schritt-
weise ab- und ihm ergebene Parallelstrukturen aufbaut –
keine ausreichenden Grenzkontrollen vorgenommen
werden und auch keine hinreichend klare ideologische
und faktische Abgrenzung zur kolumbianischen Gue-
rilla, insbesondere zur FARC, erfolgt. Diese Gefahren
fordern also nicht nur die Staaten Lateinamerikas, son-
dern auch andere Regionen einschließlich Europas he-
raus.
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Beide Regionen, Europa und Lateinamerika, teilen
rinzipielle Vorstellungen zur Gestaltung der Globalisie-
ung, zur weltweiten Förderung von Demokratie, Men-
chenrechten, Marktwirtschaft sowie zur Stärkung der
ereinten Nationen. Darin sind sie einander natürliche
artner. Stabile demokratische, rechtsstaatliche und
arktwirtschaftliche Verhältnisse sind erste Vorausset-
ungen dafür, dass Menschenrechte eingehalten, Armut
berwunden und Bildungsgerechtigkeit hergestellt sowie
ie Wirtschaftsbeziehungen ausgebaut werden können;
ies gilt nicht nur für Kolumbien, sondern auch für an-
ere Demokratien in Lateinamerika.
Deshalb sind Deutschland und die EU aufgefordert,
en kolumbianischen Staat bei den Friedensverhandlun-
en mit den illegalen bewaffneten Gruppen zu unterstüt-
en, auf die Zusammenführung der bisher parallel ge-
ührten Zusammenarbeit Kolumbiens mit den USA
überwiegend militärisch – und mit Europa – überwie-
end Entwicklungszusammenarbeit – zu drängen und
ich für die Wiederherstellung eines konstruktiven euro-
äisch-kolumbianischen Dialoges einzusetzen. Auch bei
er Stärkung eines unabhängigen Rechtssystems muss
olumbien Unterstützung erfahren.
Die Drogenproduktion und der Drogenhandel, deren
erquickung mit Terrorismus, das Zusammengehen von
errorismus und internationaler Kriminalität – wie er-
ähnt besonders evident bei der kolumbianischen Nar-
oguerilla – müssen entschieden bekämpft werden.
benso muss den erwähnten Verbindungen zwischen
arkoguerilla und transnationalem Terrorismus vorge-
eugt werden. Nur so können die Integrität der latein-
merikanischen Staaten und die regionale Stabilität ge-
ahrt und Gefahren für die internationale Sicherheit
bgewendet werden. Wenn die EU ihrer globalen Ver-
ntwortung gerecht werden will, wie es die europäische
icherheitsstrategie vorgibt, muss sie sich gerade in der
egion auch sicherheitspolitisch viel stärker engagie-
en, mit der sie die größten Gemeinsamkeiten hat. Er-
änzend müssen die Anstrengungen verstärkt werden, in
rogenanbaugebieten Perspektiven für alternative legale
inkommensquellen zu schaffen. In diesem Zusam-
enhang muss auch die internationale Handelspolitik
nsbesondere im Hinblick auf Agrarprodukte stärker
icherheits- und entwicklungspolitische Überlegungen
erücksichtigen, um letztlich eine einheitliche Politik
egenüber den Ländern Lateinamerikas zu gewährleis-
en.
Schließlich muss die innerkolumbianische Debatte
ber innere Reformen wie Zugang zu Ressourcen, Öff-
ung des Parteiensystems und Partizipation der Zivil-
esellschaft sowie die Landreform angestoßen und inter-
ational angemessen flankiert werden.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
EN): Ich bedauere, dass die Entwicklungen in Latein-
merika, die heute mit dem Gesetzesentwurf zu einem
ssoziationsabkommen mit Chile und mit dem Antrag
er Unionsfraktion zu Kolumbien auf der Tagesordnung
tehen, hier erst zu so später Stunde zur Debatte gelan-
en.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12773
(A) )
(B) )
Der von der CDU/CSU vorgelegte Antrag zur Kolum-
bienpolitik enthält einiges Richtiges, nämlich genau das,
was zum Teil wörtlich übernommen worden ist aus dem
Antrag der Koalitionsfraktionen vom vergangenen
Herbst. Diese Punkte brauchen wir allerdings nicht zu
beschliessen; der Deutsche Bundestag hat sie bereits am
25. September 2003 beschlossen.
Der Antrag verfolgt aber in der Hauptsache das Ziel,
die Bundesregierung und die EU zu verpflichten auf die
Politik eines neuen Planes Columbia. Dazu sucht er die
schweren Konflikte in der kolumbianischen Gesellschaft
zu verengen auf eine „der politischen Inhalte weitgehend
entleerte Auseinandersetzung mit in den Drogenhandel
eingebundenen Kriminellen und Terroristen, die eine
Demokratie bedrohen“. Ich glaube, nicht einmal die Re-
gierung Uribe selbst, mit der wir ja eine – wie der Antrag
feststellt – „schwierige“ Kommunikation haben, würde
die Situation so apolitisch beschreiben.
Ein Blick auf die aktuelle Situation in Kolumbien
zeigt dies; während des vergangen Monats Oktober gab
es beinahe täglich Streiks und Protestaktionen in den
verschiedenen Teilen des Landes. So wurde zum Bei-
spiel am 5. Oktober dieses Jahres ein studentischer
Streik gegen Mittelkürzungen von über 1 000 Polizisten
mit harter Gewalt beendet; sogar Panzer fuhren auf dem
Universitätsgelände auf.
Am 11. Oktober protestierten Gewerkschafter des Ge-
sundheitssektors. Ihre Forderungen sind aufschlussreich:
ein Stopp der selektiven Morde und Massaker sowie der
Verfolgung von Mitgliedern der afrokolumbianischen,
indigenen und Bauerngemeinden, ein Stopp der willkür-
lichen Verhaftungen und Strafverfolgungen, eine Entmi-
litarisierung der Schulen und Universitäten des Landes.
Am 12. Oktober hatten die kolumbianischen Gewerk-
schaftszentralen zu einem 24-stündigen Ausstand aufge-
rufen. Es gab Demonstrationen in vielen Städten. Lehrer
und Erziehungsgewerkschaften protestieren; im De-
partement Arauca an der Grenze zu Venezuela fordern
die Lehrer derzeit ein Ende des Missbrauchs der Schulen
durch Militärs und Paramilitärs als Unterkünfte und zur
Lagerstätten von Kriegsgerät.
Dies zeigt, dass die innere Situation Kolumbiens nicht
auf ein einfaches Terrorismusschema zu reduzieren ist
und dass sehr viele Menschen in die Konflikte einbezo-
gen sind. 50 Prozent des Gebietes werden nicht vom
Staat kontrolliert. Soll ein tragfähiger Frieden und keine
Friedhofsruhe geschaffen werden, dann führt der Weg
nur über Verhandlungen.
Selbst der scheidende General James Hill, Komman-
deur des Kommando Süd der US-Armee, das Latein-
amerika und die Karibik umfasst, erklärte in einem Inter-
view mit der ecuadorianischen Tageszeitung „El
Comercio“ noch vor einem Monat, am 13. Oktober
2004, es werde „niemals eine militärische Lösung für
das interne kolumbianische Problem geben“. Dies ist vor
dem Hintergrund zu sehen, dass der US-Kongress am
9. Oktober eine Verdoppelung des in Kolumbien tätigen
US-Militärpersonales genehmigte.
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Aber auch der Antrag selbst widerspricht der genann-
en Einschätzung an vielen Stellen, wenn in ihm zum
eispiel „innere Reformen wie Landreform, Zugang zu
essourcen, Öffnung des Parteiensystems sowie Partizi-
ation der Zivilgesellschaft“ – Punkt 13 – gefordert wer-
en.
Deshalb muss es weiterhin Linie der Bundesregierung
nd der EU bleiben, zivile Programme, die auf die wirk-
ichen Ursachen der Gewalt zielen, zu unterstützen. Eine
uf militärische Lösungen setzende Politik des Plan
olombia bzw. eines neuen Planes Colombia lehnen wir
ntschieden ab.
Dass die Ergebnisse der bisherigen militärischen Op-
ion überhaupt nicht positiv sind, spricht wiederum der
orliegende Antrag selbst an: Warum muss denn Punkt 9
ordern, dass die Bundesregierung an die kolumbiani-
che Regierung appellieren soll, den Empfehlungen des
N-Hochkommissars für Menschenrechte nachzukom-
en? Weil die menschenrechtliche Situation nur verbes-
ert werden kann, wenn die nach wie vor bestehenden
erbindungen zwischen paramilitärischen Gruppen und
ilitärs abgebrochen, die Verletzungen der Menschen-
echte und des humanitären Völkerrechts durch parami-
itärische und andere bewaffnete Akteure strafrechtlich
erfolgt und willkürliche Handlungen der Sicherheits-
räfte gegenüber Indigenen und Bauern eingedämmt
erden.
Dazu steht aber im krassen Gegensatz, wenn Präsi-
ent Uribe gegenüber seinen Militärs über die vielen zi-
ilgesellschaftlichen Verteidiger der Menschenrechte,
ie am 8. September 2003 geschehen, als „Menschen-
echtshändler“ spricht, von denen man sich nicht aufhal-
en lassen solle.
Die Problematik des Vorgehens gegen Koka-Anbau
urch Besprühungen mit Pestiziden als Teil des Planes
olombia wird im Antrag vollkommen ausgeblendet. Je-
ermann kennt die Folgen, selbst wenn er sich nicht für
olumbien interessiert – aus Vietnam. Die Besprühun-
en treffen nicht die Profiteure des Drogenhandels, son-
ern die Bauern, zerstören ihre Lebensgrundlagen – im
egativen Sinne – nachhaltig. Die Zerstörung der öko-
ozialen Grundlagen, das Ausweichen in den Naturwald,
as Übergreifen des Konfliktes und der Verseuchungen
n Nachbarländer sind die schrecklichen Folgen dieses
orgehens.
Die Erfolge, die der Antrag beschreibt, finden ihren
öhepunkt in der These, dass 6 bis 7 000 von geschätz-
en insgesamt 15 000 Paramilitärs sich selbst freiwillig
demobilisiert“ hätten. Um aber für solche Behauptun-
en, die dem Bundestag zum Beschluss anempfohlen
erden, nicht geradestehen zu müssen, wird ein „nach
egierungsangaben“ zugefügt.
Und noch ein Letztes zu dem Antrag. Etwas daneben
st sein Votum für eine Verfassungsänderung zugunsten
ines starken Mannes Uribe:
Die kolumbianische Bevölkerung hat diese Maß-
nahmen und auch die Arbeit der Sicherheitsorgane
positiv bewertet. Als Folge wird eine Verfassungs-
änderung erwogen, die Präsident Alvaro Uribe
12774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
(A) )
(B) )
Velez eine direkte Wiederwahl ermöglicht und die
Fortsetzung seiner Politik der „demokratischen
Sicherheit“ garantieren soll.
Wir sind gut beraten, wenn wir uns in die Verfas-
sungslage des Landes Kolumbien als Deutscher Bundes-
tag nicht einmischen zugunsten eines amtierenden Präsi-
denten.
Den von der Union vorgeschlagen politischen Kurs-
wechsel und damit den Antrag der Unionsfraktionen leh-
nen wir ab.
Die Verbesserung und Vertiefung der Beziehungen zu
Lateinamerika sind nach wie vor notwendig. In diesem
Sinne ist es wichtig, dass auch die wirtschaftlichen Be-
ziehungen zum Mercosur in einer Weise ausgebaut wer-
den, die den Menschen Lateinamerikas zugute kommt.
Es ist daher richtig, in den Verhandlungen zum biregio-
nalen EU-Mercosur-Assoziationsabkommen mit Blick
auf die Interessen der Menschen Lateinamerikas vorzu-
gehen. In diesem Sinne stimmen wir dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung zum Assoziationsabkommen mit
Chile zu.
Harald Leibrecht (FDP): Vor gut einem Jahr debat-
tierten wir im Deutschen Bundestag über den Friedens-
prozess in Kolumbien. Inzwischen ist dieser Friedens-
prozess, wenn auch nur wenig, vorangeschritten. Die
ultrarechten Paramilitärs haben vergangene Woche mit
ihrer Demobilisierung begonnen. Wenn alles nach Plan
läuft, werden bis Jahresende 3 000 Kämpfer ihre Waffen
niederlegen. Des Weiteren sollen bis Ende 2005 die
Kämpfer der so genannten Vereinigten Selbstverteidi-
gungsgruppen von Kolumbien, der AUC, ihre Waffen
abgeben. Es muss uns jedoch bewusst sein, dass es sich
bei diesen Maßnahmen nur um einen Etappensieg han-
delt und nicht um einen Durchbruch des Friedensprozes-
ses in Kolumbien.
Ganz wichtig wird jetzt sein, den demobilisierten
Kämpfern ein klares Konzept vorzulegen, das ihnen eine
akzeptable Zukunft und somit Lebensperspektive auf-
zeigt. Diese Menschen sind Teil des kolumbianischen
Volkes und müssen im eigenen Land wieder voll inte-
griert werden. Wenn diese Integration nicht gelingt, wer-
den sich die ehemaligen Kämpfer in ihrer Frustration
und Enttäuschung wieder vom Staat abwenden und der
alte Konflikt wird neu aufflammen. Die Integration muss
gelingen; denn nur so kann die Drogenmafia geschwächt
und letztlich erfolgreich bekämpft werden. Es wäre für
die Zukunft Kolumbiens fatal, wenn die Waffen an der
Vordertür abgegeben werden und diese mangels erfolg-
reicher Integration wieder an der Hintertür abgeholt wer-
den. Dies wäre das Scheitern des Fiedensprozesses dort.
Die Annäherung zwischen der Regierung und der Pa-
ramilitärgruppe AUC gibt Anlass zur Hoffnung. Nun
macht sich vielleicht bezahlt, dass die Regierung und die
AUC schon länger in Verbindung stehen. Die Demobili-
sierung der AUC gestaltet sich dadurch etwas leichter,
wenn auch langwierig. Der Friedensprozess mit der
linksgerichteten Guerillagruppe FARC wird wesentlich
mühsamer sein. An deren Bereitschaft, einen aktiven
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eitrag zum Frieden in Kolumbien zu leisten, besteht
egründeter Zweifel. Es ist bedauerlich, dass Präsident
ribe keine Friedensverhandlungen mit der FARC in
etracht zieht, sondern ausschließlich auf seinen „Plan
atriota“ setzt. Seine militärische Offensive gegen die
ebellen zeigt bisher kaum Erfolg.
Für uns, für die FDP-Bundestagsfraktion, ist nach wie
or der rein militärische Einsatz, den die kolumbianische
egierung als ausschließliches Mittel gegen die Parami-
itärs fährt, nicht der richtige Ansatz. Darum sind wir mit
en Antragstellern nicht einer Meinung. Sicherlich, es
urden einige Erfolge im Kampf gegen die Rebellen er-
ielt. Doch der Preis für diese Erfolge ist viel zu hoch,
ie die Opferzahlen auf beiden Seiten zeigen. Eine zu-
rieden stellende Lösung des kolumbianischen Konflik-
es kann nur in einem Prozess entstehen, der sowohl die
aramilitärs als auch die Guerilla umfasst. Dies scheint
nzwischen auch Präsident Uribe zu verstehen; denn er
erhandelt, entgegen seiner bisherigen Vorgehensweise,
un mit den Rebellen über einen Austausch von Gefan-
enen.
Jetzt ist der Ball bei den Rebellen. Sie sind gefordert,
uf die kolumbianische Regierung zuzugehen. Nur dann
ibt es eine echte Chance für einen dauerhaften Frieden
n Kolumbien.
Aus eigener Kraft wird es Kolumbien nicht schaffen,
en Friedensprozess voranzutreiben. Hier sind die Bun-
esregierung und die Europäische Union gefordert, auf
ie notwendigen Reformen in Kolumbien zu dringen.
ur wenn die notwendigen Reformen greifen, kann Ko-
umbien langfristig einen vergleichbaren Weg wie Chile
inschlagen. Wer hätte gedacht, dass sich Chile, gebeu-
elt von der Diktatur und nach schwierigem Neuanfang,
irtschaftlich und gesellschaftspolitisch so positiv ent-
ickelt. Heute steht Chile im Vergleich zu den anderen
ändern Lateinamerikas gut und durchaus stabil da. We-
en dieser positiven Entwicklung und Stabilität unter-
tützen wir, die FDP-Bundestagsfraktion, auch das As-
oziationsabkommen der Europäischen Union mit Chile.
hile muss ein positives Beispiel für Kolumbien sein.
nlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum
internationalen Familienrecht (Zusatztagesord-
nungspunkt 7)
Christine Lambrecht (SPD): Der Regierungsent-
urf des internationalen Familienrechtsverfahrensgeset-
es ordnet die innerstaatlichen Vorschriften zur Ausfüh-
ung von bestimmten Übereinkommen auf dem Gebiet
es internationalen Familienrechts neu und enthält zu-leich die notwendigen Durchführungsvorschriften zur
euen „Brüssel-II-a-Verordnung“.
Die neue Verordnung über die internationale Zustän-
igkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
ntscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betref-
end die elterliche Verantwortung gilt ab dem 1. März
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12775
(A) )
(B) )
2005 in allen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Däne-
mark, unmittelbar. Sie ersetzt damit die bisher geltende
„Brüssel-II-Verordnung“, deren Anwendungsbereich
sich im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität in den
EU-Staaten als zu eng erwiesen hat.
Die neue „Brüssel-II-a-Verordnung“ erfasst nunmehr
im Gegensatz zur bisherigen „Brüssel-II-Verordnung“
auch diejenigen Verfahren zur elterlichen Verantwor-
tung, die nicht im Zusammenhang mit einer Ehesache
stehen. Sie gilt zudem nicht nur für die gemeinsamen
Kinder von Ehegatten, sondern für alle Kinder.
Eine weitere grundlegende und praktisch wichtige
Neuerung stellt die Möglichkeit der Vollstreckung von
Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die
Anordnung der Rückgabe eines Kindes in anderen Mit-
gliedstaaten ohne vorherige Vollstreckbarkeitserklärung
dar, im Einklang mit den Schlussfolgerungen des Euro-
päischen Rates von Tampere. Dafür sind verfahrens-
rechtliche Mindeststandards vorgesehen durch die Aus-
stellung bestimmter Bescheinigungen durch die Gerichte
der Ursprungsmitgliedstaaten. Für die Fälle grenzüber-
schreitender Kindesentführungen enthält die Verordnung
außerdem Regelungen zur schnelleren und effektiveren
Ausgestaltung des Verfahrens nach dem Haager Kindes-
entführungsübereinkommen.
Der Regierungsentwurf zum internationalen Fami-
lienrecht ermöglicht die nahtlose Einfügung in das in-
nerstaatliche Prozessrecht, soweit die Verordnung den
Mitgliedstaaten Spielraum zur Anpassung lässt. Mit An-
lehnung an die Grundkonzeption des Anerkennungs-
und Vollstreckungsausführungsgesetzes in Zivil- und
Handelssachen – AVAG, Gesetz zur Ausführung zwi-
schenstaatlicher Verträge und zur Durchführung von
Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft auf dem
Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und
Handelssachen – stellt der Regierungsentwurf der fami-
lienrechtlichen Praxis ein eigenständiges, umfassendes
und vereinfachtes Aus- und Durchführungsgesetz zur
Verfügung. Die Ausführungsvorschriften zum interna-
tionalen Familienrecht werden damit in einem einzigen
Gesetz zusammengefasst und insgesamt neu strukturiert.
Diese Entscheidung ist zu begrüßen. Die zunehmende
Zahl familienrechtlicher Besonderheiten und die Integra-
tionstiefe der neuen Regelungen spricht eindeutig gegen
die Aufnahme der Durchführungsvorschriften in das
AVAG, wo bislang im Besonderen Teil die Durchfüh-
rungsvorschriften der „Brüssel-II-Verordnung“ geregelt
sind, die nunmehr aufzuheben sind. Zudem wäre auch
eine Einstellung in das neue Buch Elf der Zivilprozess-
ordnung über die justizielle Zusammenarbeit in der EU
nicht zweckmäßig, da die vorgesehenen Regelungen auf
dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit hier schlecht
hineinpassen und der Entwurf im Einklang mit der ge-
setzgeberischen Tendenz steht, farnilienrechtliche Vor-
schriften aus der Zivilprozessordnung herauszuhalten.
Durch den Regierungsentwurf wird zudem eine
Rechtszersplitterung vermieden: Aufgrund des Sachzu-
sammenhangs übernimmt der Entwurf die bisherigen
Ausführungsvorschriften des Haager Kindesentfüh-
rungsübereinkommens unverändert. Ebenso nimmt der
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ntwurf die Ausführungsvorschriften des Europäischen
orgerechtsübereinkommens auf und gleicht sie mit der
instellung dem Anerkennungs- und Vollstreckungsver-
ahren der neuen EG-Verordnung „Brüssel II a“ so weit
ie möglich an, wohingegen das bisherige Sorgerechts-
bereinkommens-Ausführungsgesetz zugleich aufgeho-
en wird.
Die Neuregelung der Ausführungsvorschriften auf
em Gebiet des internationalen Familienrechts in einem
inheitlichen Gesetz ermöglicht auch die zukünftige In-
egration weiterer Vorschriften zur Ausführung interna-
ionaler Regelungen des Familienrechts, was einen wei-
eren wichtigen Vorteil bietet.
Darüber hinaus stellt der Regierungsentwurf die prak-
ische Wirksamkeit der „Brüssel-II-a-Verordnung“, des
aager Kindesentführungsübereinkommens und des
uropäischen Sorgerechtsübereinkommens sicher durch
erbesserung der grenzüberschreitenden Durchsetzbar-
eit familiengerichtlicher Entscheidungen.
Insbesondere hinsichtlich des Haager Kindesentfüh-
ungsübereinkommens hat sich die in diesem Zusam-
enhang einschlägige Regelung des § 33 FGG als nicht
usreichend erwiesen, die insgesamt auch als ein
stumpfes Schwert“ bezeichnet wird in der Kommentar-
iteratur zum Familienrecht. Die nun mit dem Entwurf
orgesehene Einführung von Ordnungsmitteln ermög-
icht im Gegensatz zur jetzigen Praxis auch dann deren
erhängung, wenn im Einzelfall der konkrete Erfolg
icht mehr zu erreichen ist, zum Beispiel, wenn durch
as Ferienende – wegen Zeitablaufs – der gerichtlich an-
eordnete Umgang nicht mehr realisiert werden kann
it Zwangsmitteln.
Da erst recht in vielen grenzüberschreitenden Fällen
en gerichtlich angeordneten Umgangs- und Herausga-
eentscheidungen nicht Folge geleistet wird, erscheint
in Wechsel zu repressiven Zwangsvollstreckungs-
echanismen geboten, auch im Hinblick auf mögliche
ukünftige Zuwiderhandlungen. Insbesondere enthält
er Entwurf eine Regelung, nach der die Androhung des
rdnungsmittels auch nicht isoliert anfechtbar ist. Die
egelung stärkt damit insgesamt die Autorität der Ge-
ichte bei der Durchsetzung familiengerichtlicher Ent-
cheidungen in grenzüberschreitenden Fällen.
Der Entwurf weist zudem die Aufgaben der Zentralen
ehörde nach der Verordnung dem Generalbundesan-
alt beim Bundesgerichtshof zu.
Die Zentralen Behörden stellen zum einen unter Inan-
pruchnahme des Europäischen Justiziellen Netzes für
ivil- und Handelssachen Informationen über innerstaat-
iche Rechtsvorschriften und Verfahren zur Verfügung.
um anderen arbeiten sie in bestimmten Fällen der elter-
ichen Verantwortung zusammen. Sie fördern die grenz-
berschreitende Zusammenarbeit der Gerichte und Ver-
altungsbehörden und informieren und unterstützen die
räger elterlicher Verantwortung, die die Anerkennung
nd Vollstreckung von Entscheidungen erwirken wollen.
Der Generalbundesanwalt verfügt bereits über lang-
ährige Erfahrung als zentrale Behörde nach dem Sorge-
echtsübereinkommens-Ausführungsgesetz. Bestehende
12776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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Strukturen, Erfahrungen und Kontakte beim General-
bundesanwalt können somit genutzt werden.
Ute Granold (CDU/CSU): Der Rat der Europäischen
Union hat im November 2003 die Verordnung zur Zu-
ständigkeit sowie zur Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren be-
treffend die elterliche Verantwortung verabschiedet, die
ab dem 1. März 2005 in den Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union, mit Ausnahme Dänemarks, gelten wird.
Wir befassen uns heute mit dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung, der der Durchführung dieser Verord-
nung, der so genannten „Brüssel-II-a-Verordnung“, dient
und darüber hinaus der familienrechtlichen Praxis ein ei-
genständiges und umfassendes Ausführungsgesetz zu
den bestehenden europäischen und internationalen,
Rechtsgrundlagen zur Verfügung stellt.
Während die bisherige „Brüssel-II-Verordnung“, die
durch die neue „Brüssel-II-a-Verordnung“ außer Kraft
gesetzt wird, lediglich für Sorgerechtsstreitigkeiten an-
wendbar war, in denen die Eltern des Kindes miteinan-
der verheiratet sind, gilt die neue Verordnung fortan
auch für Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheira-
tet oder bereits geschieden sind.
Die steigende Zahl von Scheidungen und aller damit
zusammenhängenden Probleme machen vor nationalen
Grenzen nicht halt. Elterliche Konflikte zum Sorge- und
Umgangsrecht bis hin zu teilweise dramatischen Fällen
von grenzüberschreitenden Kindesentführungen zeigten
in der Vergangenheit bereits Handlungsbedarf für eine
europäische Rechtsvereinheitlichung.
Der vorliegende Entwurf behandelt im Detail um-
fänglich praktische Fragen des familiengerichtlichen
Verfahrens, fasst diese klar strukturiert zusammen und
stellt nun in einem Gesetz alle Regelungen in einer ein-
heitlichen und vereinfachten Form zur Verfügung. Einer
Rechtszersplitterung wird damit entgegengewirkt.
Zu begrüßen sind die besondere Beachtung des
Rechts zum persönlichen Umgang und auch die Be-
schleunigung der Verfahren und die verbesserte Durch-
setzung gerichtlicher Anordnungen bei grenzüberschrei-
tenden Familienkonflikten. Bei der Berücksichtigung
und notfalls auch Durchsetzung des Rechts zum persön-
lichen Umgang muss das Wohl des Kindes im Mittel-
punkt stehen.
Jedes Kind hat ein Recht auf seinen Vater und seine
Mutter, die es beide braucht. Dies wurde bereits bei der
Kindschaftsrechtsreform 1998 in unser Gesetz geschrie-
ben. Damit wurde deutlich gemacht, dass der Umgang
nicht ausschließlich ein Recht – und eine Pflicht – der
Eltern ist, sondern ein Recht des Kindes auf Wahrung
und Förderung seiner Entwicklungschancen darstellt.
So ist auch die mit Blick auf das Wohl des Kindes nun
festgeschriebene Verfahrensbeschleunigung zu begrü-
ßen. Künftig darf das vollstreckende Gericht nicht mehr
prüfen, ob die Entscheidungen ausländischer Stellen im
eigenen Land Bestand haben sollen. Die Zwangsvoll-
streckung ist vielmehr sofort einzuleiten. Damit fallen
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eitraubende und kostenpflichtige Zwischenschritte bei
er Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidun-
en weg. Mit dieser Verfahrensstraffung wird die Zeit
er Ungewissheit und ungeklärten Verhältnisse in den
amilien erheblich verkürzt, was letztendlich auch dem
ohl der Kinder zugute kommt.
Im Rahmen der Vollstreckung können Geldbußen und
rdnungshaft verhängt werden, auch dann noch, wenn
um Beispiel der Zeitraum für die Gewährung des Um-
angsrechts bereits abgelaufen ist. Es ist für die Praxis
ichtig, über effektive Sanktionsmechanismen zu verfü-
en, wenn – was leider nicht selten ist – ein Elternteil die
nordnungen des Gerichts missachtet.
Zuständig für die Verfahren nach dieser Verordnung ist
ie Zentrale Behörde, das heißt für Deutschland der Ge-
eralbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der inzwi-
chen eine langjährige Erfahrung als Zentrale Behörde
ach dem Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsge-
etz hat. Die Zentrale Behörde verkehrt unmittelbar mit
llen zuständigen Stellen im In- und Ausland und fertigt
ei Bedarf auch notwendige Übersetzungen. Nimmt die
entrale Behörde einen Antrag nicht an oder lehnt sie es
b, tätig zu werden, so kann die unanfechtbare Entschei-
ung des Oberlandesgerichts im Bezirk der Zentralen Be-
örde beantragt werden.
Das heutige Gesetz, das der Durchführung der „Brüs-
el-II-a-Verordnung“ dient, ist ein weiterer Schritt für
ie Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten der
uropäischen Union hin zur Schaffung echten gemeinsa-
en europäischen Rechtsraums. Weitere Schritte müs-
en folgen. Sie stehen auch schon zur weiteren Beratung
n. Zu nennen ist hier die internationale Abwicklung der
indesunterstützung und anderer Formen des Familien-
nterhalts.
Die Europäische Kommission hat in Erfüllung ihrer
ufgabe aus dem Europavertrag unabhängig von ihren
utoritären Mitgliedstaaten das Grünbuch „Unterhalts-
flichten“ endgültig verordnet, das den Inhalt der neuen
aager Konvention für das internationale Privatrecht ab-
eckt. Es bleibt zu hoffen, dass auch die weiteren Bera-
ungen hin zu einem vereinten Europa im Interesse der
ürgerinnen und Bürger konstruktiv vonstatten gehen
erden.
Irmgard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
EN): Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt aller
amilienrechtlichen Entscheidungen, bei denen Kinder
u berücksichtigen sind. Es ist zentraler Anker grüner
olitik. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum
nternationalen Familienrecht sind sowohl anwender-
reundliche als auch die Belange von Eltern und Kindern
erücksichtigende Regelungen in grenzüberschreitenden
useinandersetzungen geschaffen worden.
Es gibt immer mehr Kinder, deren Eltern nicht die
leiche Staatsangehörigkeit haben. Diese Kinder leiden
esonders unter möglicherweise eintretenden Sorge-
echts- und Umgangstreitigkeiten, weil Verfahren hier
och länger dauern. Auch in der Bundesrepublik
eutschland werden in Zukunft immer mehr Fälle von
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12777
(A) )
(B) )
den zuständigen Familiengerichten zu bearbeiten sein, in
denen es zum Beispiel um die Anerkennung ausländi-
scher Entscheidungen zu Sorge und Umgangsrechts oder
darum geht, durch Entführung der Kinder unterbrochene
Sorgerechtsverhältnisse wiederherzustellen.
Es hat sich gezeigt, dass die bestehenden Instrumenta-
rien nicht ausreichen, um grenzüberschreitend eine
effektive Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen zu
gewährleisten. Deutschland war aus diesem Grunde im-
mer wieder internationaler Kritik ausgesetzt. Die Bun-
desregierung hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
auf diese Kritik und die veränderte Lebenswirklichkeit
von Familien reagiert. Es kann kein Zweifel daran beste-
hen, dass die insoweit vorhandenen Erkenntnisse und
Erfahrungen im internationalen Kontext gerade im Inte-
resse der betroffenen Kinder genutzt werden müssen. Der
Gesetzentwurf führt mit seinem § 44 das Instrument des
Ordnungsmittels und damit die Möglichkeit der Verhän-
gung der Ordnungshaft ein. Bisher war dies im Rahmen
der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht möglich. Ein Pro-
blem liegt darin, dass das deutsche Recht bisher nur das
durch einen Beugecharakter gekennzeichnete Zwangs-
vollstreckungssystem anbietet, um mit der Situation um-
zugehen, dass sich die verpflichtete Person der angeord-
neten Rückgabe des Kindes oder der Gewährung des
Umgangs verweigert.
Der Sanktionscharakter wird durch dieses Instrument
gegenüber dem Erzwingungscharakter in den Vorder-
grund gestellt. Maßnahmen mit Sanktionscharakter wir-
ken in höherem Maße präventiv, zum Vorteil für die be-
teiligten Kinder. Ich begrüße diese für das deutsche
Recht insoweit neuen Regelungen ausdrücklich. Selbst-
verständlich ist bei der Anwendung aller Regelungen das
Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen.
Zudem begrüße ich die Benennung des Generalbun-
desanwalts beim Bundesgerichtshof als zentrale Behörde
im Sinne der genannten Übereinkommen. Dieser war be-
reits bisher in entsprechender Funktion im Bereich des
Sorgerechtsübereinkommens sowie nach dem Adop-
tionsübereinkommens-Ausführungsgesetz und dem Aus-
landsunterhaltsgesetz tätig.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Ge-
setzentwurf im Wesentlichen der Umsetzung verbindli-
chen EU-Rechts dient und im Übrigen vornehmlich be-
reits vorhandene gesetzliche Regelungen zusammenfasst
und übersichtlicher gestaltet. Die darüber hinausgehen-
den Anliegen der Verfahrensbeschleunigung und Effek-
tivierung sind unbedingt unterstützenswert. Mit den
Änderungen werden einheitliche innerstaatliche Verfah-
rensvorschriften zur Ausführung von verschiedenen
Übereinkommen auf dem Gebiet des internationalen Fa-
milienrechts geschaffen. Dies erleichtert die Rechtsan-
wendung. Ein umfassendes Durchführungsgesetz wird
die Bearbeitung grenzüberschreitender familienrechtli-
cher Sachen für die Praxis aufgrund einer höheren Über-
sichtlichkeit der Rechtsgrundlagen erleichtern. Den zu-
ständigen Gerichten wird ermöglicht, auf grundlegende
innerstaatlich geltende Verfahrensbestimmungen zurück-
zugreifen, soweit die Verfahren auf den genannten inter-
nationalen Abkommen beruhen.
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Jenseits der bereits beschlossenen Neuregelungen
uss auch klar sein, dass das internationale gemeinsame
usammenwirken von Gerichten, Jugendämtern sowie
em internationalen Sozialdienst als helfendem Instru-
ent der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit intensi-
iert und ausgebaut werden muss.
Sibylle Laurischk (FDP): Es ist bemerkenswert,
ass das Familienrecht hier im Hause eine solche Auf-
erksamkeit genießt, dass selbst unumstrittene Gesetz-
ntwürfe, mit denen EU-Recht innerstaatlich umgesetzt
erden soll, einer Beratung zugänglich gemacht werden.
s ist nicht die Einmütigkeit, die den zu regelnden Le-
enssachverhalten eigen ist; diese sind an Konfliktträch-
igkeit und menschlichem Drama kaum zu überbieten.
reidekreisentscheidungen sind heutzutage selten anzu-
reffen. Es wird mit allen Finessen um Kinder gekämpft,
obei oft vergessen wird, dass es gerade dieser Kampf
st, der die Kinder so kränkt, verunsichert und verstört
nd eine unbeschwerte Kindheit vereitelt, oft mit gravie-
enden Folgen für ihr ganzes Leben.
Die Fälle der Auseinandersetzungen über Sorge- und
mgangsrecht aus binationalen Beziehungen nehmen
u, da mit Wachstum der EU häufiger über Grenzen hin-
eg Verbindungen entstehen und mit wachsender Mobi-
ität der EU-Bürger ein Zuwachs an Fällen zu erwarten
st. Die Ablehnung eines Kommissionsmitgliedes wegen
eines unzeitgemäßen Familien- und Menschenbildes
urch das EU-Parlament zeigt, dass die EU in diesem
esellschaftspolitisch zentralen Bereich einen wachen
urs steuert.
Mit dem vorliegenden Gesetz kann dem in der Ver-
angenheit oft erhobenen Vorwurf begegnet werden,
eutschland halte sich in Kindschaftssachen nicht an in-
ernationale Vereinbarungen, es herrsche hier „das Ge-
etz des Dschungels“ – so der französische Staatspräsi-
ent Chirac, zitiert nach einem Bericht des „Spiegels“
m Jahr 2000. Begrüßenswert ist die handliche Über-
ahme der Vorschriften des Sorgerechtsübereinkom-
ensrechtes unter dem Dach des vorliegenden Entwur-
es, die dem sachlichen Zusammenhang entspricht.
Zu begrüßen ist auch die vorgesehene Beschleu-
igung der Verfahren; denn Zeit ist in der Entwicklung
ines Kindes der Faktor, der Fakten schafft. Ein Kind,
as rechtswidrig über Monate von einem Elternteil fest-
ehalten wird, hat sich dann womöglich eingelebt und
ann bei richtig verstandenem Kindeswohl kaum mehr
urückgegeben werden. Die Konzentration der Zustän-
igkeit auf wenige, sachlich kompetente Gerichte und
ie Einrichtung der Zentralen Behörde beim General-
undesanwalt in Karlsruhe wird zu einer weiteren Be-
chleunigung führen.
Am umstrittensten erschien auch aufgrund der Stel-
ungnahmen der Verbände die Einführung von Ord-
ungsgeld und Ordnungshaft als Ultima Ratio der
wangsvollstreckung. Eine Kriminalisierung der Betrof-
enen ist damit keineswegs gewollt, vielmehr geht es al-
ein um die Durchsetzung gerichtlicher Maßnahmen und
nordnungen zum Wohle der Kinder. Auch im
12778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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nationalen Bereich ist die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen der konfliktträchtigste Teil des elterli-
chen Sorgerechts. Aus der Sicht eines Kindes wird es
allerdings sehr befremdlich sein, zu erleben, dass ein El-
ternteil in Haft genommen wird, weil es sich beispiels-
weise einer gerichtlichen Anordnung nicht beugt und ein
in seiner Obhut befindliches Kind nicht herausgibt. Die
damit verbundene Verschärfung der Betreuungssituation
des Kindes ist ein weiteres Problem. Ordnungsgeld und
insbesondere Ordnungshaft müssen deswegen Ultima
Ratio bleiben, wobei in vereinzelten Fällen mit grenz-
überschreitender intensiver Auseinandersetzung um
Kinder Eltern nur durch ebendiese Ordnungsmittel da-
von abzuhalten sind, das Kindeswohl durch ihr Verhal-
ten zu gefährden bzw. ihm zuwiderzuhandeln.
Wir setzen auf die generalpräventive Wirkung dieser
Vorschrift. Der Sanktionscharakter soll hier auch hin-
sichtlich der Durchsetzung von zukünftigen Anordnun-
gen gleichsam erzieherisch wirken. Der Grund für die-
sen Wechsel zu repressiven Zwangsmaßnahmen ist in
der Erfahrung der bisherigen Durchsetzungsschwäche
von gerichtlichen Entscheidungen über Umgang oder
Aufenthaltsrechten von Kindern zu sehen. Natürlich
hängt die Praktikabilität des Gesetzes nicht zuletzt auch
von den flankierenden Maßnahmen der Jugendämter,
Sozialdienste und Erziehungsberatungsstellen ab. Das
absolute Gewaltanwendungsverbot gegen Kinder zur
Durchsetzung des Umgangsrechts ist selbstverständlich.
Dies muss auch bei einer Regelung im internationalen
Rahmen Maßstab für uns alle bleiben.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz: Die Bundesregierung hat
im Sommer dieses Jahres einen Gesetzentwurf in das
Gesetzgebungsverfahren eingebracht, der der innerstaat-
lichen Durchführung der sogenannten Brüssel-II-a-Ver-
ordnung dient. Die Brüssel-II-a-Verordnung wird in ih-
ren wesentlichen Teilen ab dem 1. März 2005 in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme
Dänemarks gelten. Zur Erörterung des Gesetzentwurfs
ist es daher erforderlich, die Brüssel-II-a-Verordnung
kurz zu skizzieren.
Die neue EG-Verordnung enthält verfahrensrechtliche
Regelungen in grenzüberschreitenden Ehesachen und in-
ternationalen Streitigkeiten über das Sorge- und Um-
gangsrecht. Sie ersetzt die geltende so genannte Brüssel-
II-Verordnung und erweitert ihren Anwendungsbereich.
Während die bislang geltende Brüssel-II-Verordnung le-
diglich auf Sorgerechtsstreitigkeiten in solchen Fällen
anwendbar ist, in denen die Eltern des Kindes miteinan-
der verheiratet sind, gilt die neue Verordnung fortan für
Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind,
und in Fällen, in denen die Ehe der Eltern bereits ge-
schieden ist. Im Einzelnen regelt die Verordnung, welche
Gerichte für Ehesachen und Verfahren betreffend das
Sorge- und Umgangsrecht international zuständig sind.
Darüber hinaus schreibt die Verordnung vor, unter
welchen Vorrausetzungen Entscheidungen aus einem
Mitgliedstaat der Verordnung in den anderen Mitglied-
staaten gültig sind und dort vollstreckt werden können.
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n diesem Zusammenhang beschleunigt die neue EG-
erordnung die Durchsetzung bestimmter Entscheidun-
en über das Umgangsrecht sowie über die Rückgabe
es Kindes. Das Gericht im Vollstreckungsstaat darf in-
oweit zukünftig nicht mehr prüfen, ob die getroffene
ntscheidung auch wirklich im eigenen Land Bestand
aben soll. Stattdessen kann dort gleich die Zwangsvoll-
treckung eingeleitet werden. Der Wegfall dieses zeit-
aubenden und kostenpflichtigen Zwischenschrittes
chafft bislang bestehende Hürden bei der grenzüber-
chreitenden Anerkennung und Vollstreckung von Ent-
cheidungen ab. Wer eine Entscheidung erstritten hat,
ommt damit zukünftig nicht nur schneller, sondern
uch kostengünstiger zu seinem Recht.
Der Entwurf eines Gesetzes zum internationalen Fa-
ilienrecht enthält die zur Umsetzung der neuen EG-
erordnung in Deutschland notwendigen Durchfüh-
ungsvorschriften, damit diese für die Bürgerinnen und
ürger optimale Wirkung entfaltet. Durch die unbüro-
ratische Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher
ntscheidungen mit grenzüberschreitender Bedeutung in
llen Mitgliedstaaten der Europäischen Union außer Dä-
emark werden die Vorteile eines gemeinsamen europäi-
chen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
ür die Bürgerinnen und Bürger spürbar.
Gleichzeitig nimmt der Gesetzentwurf die geltenden
orschriften zur Ausführung des Haager Kindesentfüh-
ungübereinkommens und des Europäischen Sorge-
echtsübereinkommens auf und passt sie den heutigen
rfordernissen an. Damit wird der Praxis ein kompaktes
nd übersichtliches Gesetz zur Verfügung gestellt, das
lle ergänzenden nationalen Vorschriften zu den interna-
ionalen Rechtsinstrumenten insbesondere im Bereich
es Sorge- und Umgansrechts enthält. Richter und
echtanwälte können die notwendigen Informationen
unmehr einem einzigen anwenderfreundlichen Gesetz
ntnehmen.
Darüber hinaus werden im Anwendungsbereich der
enannten internationalen Rechtsinstrumente die Voll-
treckungsregelungen effektiver ausgestaltet. Ordnungs-
ittel in Form von Ordnungsgeld und Ordnungshaft tre-
en an die Stelle von Zwangsgeld und Zwangshaft. So
ann anders als bisher eine Geldbuße wegen Nichtgewäh-
ung eines Umgangsrechts auch dann noch festgesetzt
erden, wenn der Zeitraum für die Gewährung des Um-
angsrechts – zum Beispiel die Osterferien 2005 – bereits
bgelaufen ist. Die Gerichte haben damit – selbstver-
tändlich unter Berücksichtigung des Verhältnismäßig-
eitsgrundsatzes – effektivere Sanktionsmöglichkeiten,
enn ein Elternteil die Anordnungen des Gesichts miss-
chtet. Dies ist dringend erforderlich, da nicht nur ein
erstoß gegen die Rechte des Elternteils vorliegt, dem
aut Beschluss des Gerichts ein Umgangsrecht zusteht,
ondern auch gegen das Recht des Kindes auf Umgang
it seinem ihn nicht betreuenden Elternteil. Gerade der
öglicherweise endgültige Abbruch der Beziehung des
indes zum anderen Elternteil aufgrund der Umgangs-
erweigerung durch den betreuenden Elternteil kann für
as Kind extrem schädlich sein. Hinzu tritt, dass eine Fol-
enlosigkeit der Nichtbeachtung richterlicher Anordnun-
en anderen Personen in ähnlichen Konflikten noch ver-
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12779
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borgen bleibt und zur Nachahmung verleitet. Schließlich
ist Rechtsdurchsetzung eine wesentliche Voraussetzung
dafür, dass Kinder und Eltern darauf vertrauen können,
dass die Gerichte im Streitfall den Umgang zwischen
Kind und nicht betreuendem Elternteil garantieren, und
es nicht zu Selbsthilfemaßnahmen von Eltern kommt, die
trotz Gerichtsurteil ihre Kinder nicht sehen können.
Die Brüssel-II-a-Verordnung gilt in ihren wesentli-
chen Teilen ab dem 1. März 2005. Es ist daher zu hoffen,
dass die weiteren Beratungen des Gesetzentwurfs kon-
struktiv und zügig geführt werden, damit das Gesetz
zum internationalen Familienrecht ebenfalls zu diesem
Datum in Kraft treten kann. Der federführende Rechts-
ausschuss und der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend haben in ihren gestrigen Sitzungen
dem Gesetzentwurf einstimmig zugestimmt.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschafts-
namensrechts (Zusatztagesordnungspunkt 8)
Christine Lambrecht (SPD): Nach § 1355 Abs. 2
BGB kann ein durch frühere Eheschließung erworbener
Familienname nicht zum Ehenamen bestimmt werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung
mit Urteil vom 18. Februar 2004 für verfassungswidrig
erklärt.
Die dem Urteil vom 18. Februar zugrunde liegende
Verfassungsbeschwerde betraf die Frage, ob es verfas-
sungsrechtlich zulässig ist, dass als Ehename nur der Ge-
burtsname der Frau oder des Mannes, nicht jedoch ein
durch frühere Eheschließung erworbener Familien-
name, den einer der Ehegatten zum Zeitpunkt der
Eheschließung führt, gewählt werden kann. Die Be-
schwerdeführerin berief sich vor allem auf ihr Persön-
lichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 6 und
Art. 3 Abs. 1 GG.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
§ 1355 Abs. 2 BGB mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist, soweit er aus-
schließt, dass Ehegatten zum Ehenamen einen durch frü-
here Eheschließung erworbenen und geführten Namen
bestimmen können. Auch der durch Eheschließung er-
worbene Familienname erfährt den vollen Schutz aus
Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Dieses
schützt auch den gewählten Ehenamen als Ausdruck der
Identität und Individualität des Namensträgers über die
Ehezeit hinaus. An dem erheirateten Namen erwerbe ein
Ehegatte nicht nur ein Nutzungsrecht für die Dauer der
Ehe. Dieser Name stehe ihm vielmehr als eigenes Recht
zu und sei durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ge-
schützt, das verletzt werde, wenn der Name nicht zum
Ehenamen bestimmt werden dürfe. Die Beschränkung
der Ehenamenswahl sei auch unvereinbar mit dem be-
sonderen Schutz für Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1
GG, der den Ehegatten die Freiheit gebe, ihren Ehena-
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en selbst zu bestimmen. Das Gleichbehandlungsgebot
ei zudem verletzt, da der erheiratete Name zwar an Kin-
er weitergegeben werden könne, die nicht aus der Ehe
it dem Namensgeber stammten, nicht dagegen an den
euen Ehegatten. Außerdem dürfe nicht zwischen Ehen
nter Deutschen und solchen mit ausländischer Beteili-
ung differenziert werden. Art. 10 Abs. 2 Satz 1 EGBGB
evorzugt insofern bei der Ehenamenswahl Deutsche,
ie einen ausländischen Staatsangehörigen heiraten, ge-
enüber Ehen allein deutscher Nationalität.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
ufgegeben, bis zum 31. März 2005 auch für Alt- und
bergangsfälle Abhilfe zu schaffen. Der Gesetzentwurf
ient der Umsetzung der Aufforderung unter Einbezie-
ung von Regelungen zur Wahl des Lebenspartner-
chaftsnamens. Er sieht als Kernpunkt Änderungen der
eanstandeten Norm des § 1355 BGB vor. Die Regelung
oll entsprechend den Vorgaben des Gerichts im Sinne
er Erweiterung der Wahlmöglichkeiten für den Ehena-
en ergänzt werden, einen aus Ehenamen und Begleit-
amen zusammengesetzten Namen eines Ehegatten als
henamen zu bestimmen.
Eine befristete Übergangsregelung ermöglicht die
achträgliche Änderung des bereits bestimmten Ehena-
ens, der nicht Geburtsname eines der Ehegatten ist.
innen eines Jahres nach In-Kraft-Treten der Neurege-
ung kann die bislang nicht mögliche Bestimmung des
rheirateten Namens zum Ehenamen nachgeholt werden.
Für eingetragene Partnerschaften gilt Entsprechendes
emäß § 3 LPartG ohne Begründung der Zuständigkeit
es Standesbeamten.
Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute
it dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ehe-
nd Lebenspartnerschaftsnamensrechts, mit dem ein Ur-
eil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Februar
004 umgesetzt werden soll.
Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Verfas-
ungsbeschwerde eines Ehepaares zu entscheiden, das
en von der Ehefrau geführten früheren Ehenamen in der
euen Ehe als Ehenamen beibehalten wollte. Dies hatte
er Standesbeamte unter dem Hinweis, nur der Geburts-
ame dürfe zum Ehenamen bestimmt werden, abgelehnt.
Das Bundesverfassungsgericht sah den hier einschlä-
igen § 1355 Abs. 2 BGB als mit Art. 2 Abs. l GG in
erbindung mit Art. l Abs. l GG nicht vereinbar, die den
amensschutz eines Menschen als Ausdruck seiner
dentität und Individualität ohne zeitliche Befristung auf
ie Ehe gewährleisten.
§ 1355 Abs. 2 BGB greift in das verfassungsrechtlich
eschützte Namensrecht des Trägers dieses erworbenen
amens ein und behandelt damit den erworbenen Na-
en gegenüber dem Geburtsnamen als geführten Namen
inderer Qualität; denn der Träger des erworbenen Na-
ens wird gezwungen, bei gemeinsamer Ehenamens-
ahl erneut seinen geführten Namen aufzugeben und ei-
en neuen anzunehmen. Dem steht ein Entzug des
amensrechts gleich, was angesichts des hohen Wertes
es Namensrechts nicht ohne gewichtige Gründe
12780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
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geschehen und nur unter Wahrung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit erfolgen darf. Allerdings rechtfer-
tigt weder die Rücksicht auf die Gefühle des Ehegatten
aus dem früheren Familienverband, der es als belastend
und kränkend empfinden könnte, wenn sein Name zum
Ehenamen einer neuen Ehe seines geschiedenen Ehegat-
ten bestimmt und so an den neuen Ehepartner weiterge-
geben wird, noch die drohende Missbrauchsgefahr, die
mit der Möglichkeit, den in früherer Ehe erworbenen
Namen zum neuen Ehenamen zu wählen, verbunden ist,
den Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Na-
mensrecht.
Aufgrund der Verfassungswidrigkeit von § 1355 Abs. 2
BGB hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzge-
ber aufgegeben, die Rechtslage bis zum 31. März 2005
mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen und auch
eine Übergangsregelung zu schaffen.
Der Regelungsgehalt dieser Vorschrift – so zeigt es
uns die Geschichte des bürgerlichen Ehenamensrechts –
unterlag stets einem Wandel, der immer Ausdruck sich
verändernder gesellschaftspolitischer Bedingungen war
und leider zu oft erst nach Aufforderung durch das Bun-
desverfassungsgericht vom Gesetzgeber vollzogen
wurde.
In seiner ursprünglichen Fassung von 1896 bestimmte
§ 1355 BGB, dass die Frau mit der Eheschließung den
Familiennamen des Ehemannes annehmen musste. Erst
60 Jahre später erhielt sie als Folge des Gleichberechti-
gungsgesetzes die Möglichkeit, ihren Geburtsnamen
hinzuzufügen. Mit dem ersten Gesetz zur Reform des
Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 wurde
§ 1355 BGB dahin gehend geändert, dass die Ehegatten
nunmehr als gemeinsamen Ehenamen auch den Geburts-
namen der Frau wählen konnten, wobei bei Nichteini-
gung der Geburtsname des Mannes Vorrang genießen
sollte. Dabei beschränkte der Gesetzgeber die Namens-
wahl bewusst auf den Geburtsnamen, da er Namensüber-
tragungen ausschließen wollte. Zugleich sollte es dem
Ehemann untersagt sein, seiner geschiedenen Ehefrau
die Fortführung des durch die Eheschließung erworbe-
nen Namens zu untersagen. 1991 machte das Bundesver-
fassungsgericht eine weitere Reform des Ehenamens-
rechts erforderlich. Mit Beschluss vom 5. März erklärte
es § 1355 BGB insofern für verfassungswidrig, als
Abs. 2 Satz 2 den Vorrang des Mannesnamens bei Nicht-
einigung vorschrieb. In dem folgenden Gesetzgebungs-
verfahren sah der ursprüngliche Regierungsentwurf
zunächst vor, dass die Ehegatten neben ihrem Geburts-
namen auch ihren zum Zeitpunkt der Eheschließung
geführten Namen zum Ehenamen bestimmen können
sollten. Dieser Vorschlag stieß jedoch in der sich an-
schließenden parlamentarischen Beratung auf Wider-
spruch. Insbesondere die Adelsverbände protestierten
unter Verweis auf die von ihnen befürchtete „Titelinfla-
tion“ gegen die erweiterte Wahlmöglichkeit. In der Folge
erhielt § 1355 Abs. 2 BGB die jetzt geltende Beschrän-
kung der Namenswahl auf den Geburtsnamen.
Der heute zur Beratung stehende Gesetzentwurf sieht
als Kernpunkt eine Modifizierung der vom Bundesver-
fassungsgericht beanstandeten Vorschrift vor. § 1355
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bs. 2 BGB soll hinsichtlich seiner Wahlmöglichkeiten
rweitert werden. Künftig können Ehegatten neben dem
eburtsnamen auch den von einem Ehegatten zur Zeit
er Erklärung über die Bestimmung des Ehenamens ge-
ührten, in einer früheren Ehe erworbenen Namen be-
timmen. Ehegatten, die vor In-Kraft-Treten der Neure-
elung die Ehe geschlossen und bereits einen Ehenamen
estimmt haben, können binnen eines Jahres nach In-
raft-Treten dieses Gesetzes einen vom Geburtsnamen
bweichenden Namen als Ehenamen bestimmen. Weiter-
in muss diese Neuregelung konsequenterweise auf ein-
etragene Lebenspartnerschaften entsprechend übertra-
en werden.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme eine Er-
änzung vorgeschlagen, mit der klargestellt werden soll,
ass es Ehepaaren auch erlaubt ist, nur einen Namen des
urzeit der Eheschließung geführten Doppelnamens zum
emeinsamen Ehenamen zu bestimmen, auch wenn die-
er nicht Geburtsname ist.
Der Bundesregierung ist allerdings zuzustimmen,
ass eine dahin gehende Ergänzung nicht erforderlich
st, da auch das geltende Recht bereits ausreichende
öglichkeiten bereithält, um den mit der Empfehlung
erfolgten Zweck zu erreichen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass uns als
esetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht die
ntscheidung weitestgehend vorgegeben ist. Der vorlie-
ende Gesetzentwurf stellt den einzigen Weg dar, die
echtslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen.
ch denke daher, dass wir dem vorliegenden Gesetzent-
urf zustimmen sollten.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
RÜNEN): Heute steht ein Gesetzentwurf auf der Ta-
esordnung, bei dem wenig Unstimmigkeiten auftau-
hen sollten, da es sich um die Umsetzung eines eindeu-
igen Bundesverfassungsgerichtsurteils handelt.
Inhaltlich geht es um Folgendes: Das Bundesverfas-
ungsgericht hat in seinem Urteil am 18. Februar 2004
indeutig festgestellt, dass das Recht zur Wahl des Ehe-
amens mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar ist,
a bisher ausgeschlossen ist, einen durch frühere Ehe-
chließung erworbenen Familiennamen zum Ehenamen
u bestimmen. Mit einer kurzen Frist bis zum 31. März
005 ist der Gesetzgeber aufgefordert, dies Urteil umzu-
etzen und ebenso eine Regelung für die Alt- und Über-
angsfälle zu schaffen.
Genau dieser Pflicht kommt die Bundesregierung mit
em vorliegenden Gesetzentwurf nach. Zukünftig gilt
un auch für einen in einer früheren Ehe erworbenen
henamen in vollem Umfang der grundgesetzlich veran-
erte Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dies
mfasst auch das Recht, bei einer erneuten Eheschlie-
ung einen Doppelnamen festlegen zu können. Gleiches
ilt – und das ist für die weitere Gleichstellung in diesem
and ebenso wichtig – selbstverständlich auch für die
ahl des Lebenspartnerschaftsnamens. Denn die
ründe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts be-
reffen Lebenspartnerschaften in gleicher Weise.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12781
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Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei-
dung klar festgestellt, dass sowohl Vor- als auch Familien-
name Ausdruck der Identität und Individualität eines
Menschen sind, die durch die Art. 1 und 2 unserer Ver-
fassung geschützt werden. Dies gilt unabhängig davon,
ob der Familienname Geburtsname ist oder durch Ehe-
namenswahl erworben wurde.
Im geltenden Recht wird bisher, so hat das Bundes-
verfassungsgericht festgestellt, der erworbene Ehename
im Vergleich zum Geburtsnamen als Name „zweiter
Klasse“ behandelt. Da dies nicht mit dem Grundgesetz
vereinbar ist, wird das von nun an aufgehoben sein.
Wenn wir uns anschauen, wer von der bisherigen Re-
gelung profitiert, wird deutlich warum wir diese gesetz-
liche Anpassung benötigen. Mit der bisherigen Regelung
wurde vor allem das Recht desjenigen Ehegatten ge-
schützt, der seinen Geburtsnamen auch als Ehenamen
behalten konnte. Das sind nach wie vor zu über 95 Pro-
zent die Ehemänner. Erst durch die Reformen des Na-
mensrechts 1976 und schlussendlich 1991 gilt das mit
dem Gleichberechtigungsgrundsatz unvereinbare Vor-
recht des Mannesnamens nicht mehr.
Wir wissen, dass gesellschaftlich die traditionelle Re-
gelung immer noch fortwirkt. Auch heute noch sind es in
der überwiegenden Mehrzahl Frauen, die auf ihren Ge-
burtsnamen bei der Festlegung des Familiennamens ver-
zichten. Sie waren nach dem geltenden Recht gezwun-
gen, gegebenenfalls ihren Namen ein zweites Mal
abgeben zu müssen.
So verständlich der Wunsch des geschiedenen Ehe-
gatten ist, dass der „eigene“ Name nicht auch der Name
des neuen Partners wird, so hat das Bundesverfassungs-
gericht doch in seinem Urteil klargestellt, dass dieses
Recht zum grundgesetzlich verankerten Namensschutz
nachrangig ist.
Ein Festhalten an einer Regelung – so die Auffassung
des Bundesverfassungsgerichts –, die denjenigen schützt,
der seinen Geburtsnamen als Ehenamen behält, würde
eine traditionelle Vorstellung verfestigen, die mit einem
an den Gleichheitsgrundsätzen orientierten Namensrecht
nicht zu vereinbaren ist.
Eigentlich – so sollte man meinen – ist doch bei ei-
nem so eindeutigen Urteil und einer so konkreten Um-
setzung alles klar. Dem war aber nicht ganz so. Denn im
Bundesrat haben die sehr geehrten Damen und Herren
von der Opposition doch noch einmal die Zustimmungs-
pflicht angemahnt. Das hat die Bundesregierung bereits
zurückgewiesen.
Sibylle Laurischk (FDP): Dieses Gesetz ist durch
die beharrliche Initiative einer Privatperson entstanden,
derjenigen nämlich, die sich bis zum Bundesverfas-
sungsgericht durchgeklagt hat, um ihr Recht durchzuset-
zen, den angenommenen Ehenamen nach Scheidung der
Ehe als eigenen Namen auch als Familiennamen einem
neuen Ehegatten weitergeben zu können. Die Bundesre-
gierung vollzieht hier nur eine Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts, vertrat auch in dem Verfahren
vor dem Bundesverfassungsgericht noch eine andere
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uffassung und musste sich eines Besseren belehren las-
en.
Das Namensrecht ist von hoher, auch emotionaler Be-
eutung für jeden Einzelnen. Aus der Vielfalt der Zu-
chriften mit den unterschiedlichsten Personenstands-
onstellationen und Lebensläufen ist abzulesen, welche
dentitätsstiftende Funktion der Name für den Einzelnen
nd auch für einen Familienverband hat. Das Namens-
echt verfolgt mehrere, zum Teil einander widerspre-
hende Zwecke. Die vorrangige Funktion ist die der
ndividualisierung des Namensträgers. Diese Identifika-
ionskraft des Namens ist abhängig auch von der Na-
enskontinuität, die auch nach der bisherigen Rechts-
age durch die Namenswahl von Eltern für ihre Kinder
urchbrochen ist. Allerdings macht die Vielfalt der Na-
enswahlmöglichkeiten das praktische Leben gerade im
mgang mit Familien, unübersichtlich und verlangt den
ußenstehenden eine größere Merkfähigkeit und Unter-
cheidungsfähigkeit ab.
Da das Gesetz verschiedene Wahlmöglichkeiten bei
er Änderung des Personenstandes vorsieht, machen im-
er mehr Menschen von der Möglichkeit, eine privat-
utonome Entscheidung über ihren Namen und damit
uch über die Dokumentation ihrer Vergangenheit bzw.
ukunft zu treffen, Gebrauch. Dabei tritt die Ordnungs-
unktion des Namensrechts, die auch nach außen die Ab-
tammung und familiäre Zuordnung sichtbar machen
ollte, in den Hintergrund. Insofern bildet auch schon
eute das Namensrecht die sich ändernden und wech-
elnden Lebens- und Familienformen ab. Der Fall, der
it dem vorliegenden Entwurf geregelt werden soll,
olgt hinsichtlich des Individuums der Namenskontinui-
ät, die hier aber durchaus im Spannungsverhältnis zu
er Ordnungsfunktion steht. Es zeigt, dass ein Ehename
ben kein Leihname ist, sondern Bestandteil der ihn tra-
enden Person wird, auch über den Bestand der Ehe hi-
aus.
Ein Familienname muss heute einen Menschen nicht
otwendig sein Leben lang begleiten, und umgekehrt
uss auch eine Personenstandsänderung nicht unbedingt
iederschlag im Namen finden, wovon zunehmend
rauen bei einer Eheschließung Gebrauch machen, be-
onders dann, wenn sie unter ihrem eigenen Namen be-
uflich Geltung erlangt haben.
Die Vielzahl von Zuschriften, die sicher nicht nur un-
ere Fraktion erreicht hat mit der Schilderung jeweils ei-
ener, höchst nachvollziehbarer Konstellationen, in de-
en nach dem Dafürhalten der Petenten der Name nicht
it dem übereinstimmt, was er nach außen hin doku-
entiert und dargestellt wissen möchte, deutet darauf
in, dass dies nicht der letzte Gesetzentwurf zu diesem
hema sein wird. Namen sind eben nicht Schall und
auch, sondern stellen die Verbindung des Einzelnen
it seiner Umwelt, die Geltung des Menschen in der
elt dar.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
undesministerin der Justiz: Mit seinem Urteil vom
8. Februar 2004 hat das Bundesverfassungsgesetz fest-
estellt, dass das geltende Ehenamensrecht nicht mit
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dem Grundgesetz vereinbar ist. Das geltende Recht ver-
bietet Eheleuten, einen Namen zum gemeinsamen Ehe-
namen zu wählen, wenn dieser Name nicht der Geburts-
name eines Ehegatten, sondern ein aus einer Vorehe
erworbener, also „erheirateter“ Name ist. Das Bundes-
verfassungsgericht hat ausgeführt, der Gesetzgeber sei
gehalten, die derzeitige Rechtslage bis zum 31. März
2005 mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen.
Der heute zur Beratung anstehende Gesetzentwurf
setzt diese Aufforderung des Bundesverfassungsge-
richts um. Nach der vorgeschlagenen Neufassung kön-
nen die Ehegatten den Geburtsnamen oder den geführten
Namen der Frau oder des Mannes zum Ehenamen be-
stimmen. Damit wird dem Anliegen des Bundesverfas-
sungsgerichts Rechnung getragen: Ein zur Zeit der Na-
mensbestimmung von einem Ehegatten geführter Name
darf zum gemeinsamen Namen bestimmt werden. Dabei
unterscheidet der Entwurf nicht zwischen einem ein-
gliedrigen Namen und einem Ehenamen mit Begleitna-
men. Auch ein solcher Doppelname kann neuer Ehe-
name werden. Ein Ehegatte, der möglicherweise
Jahrzehnte mit seinem Ehenamen mit Begleitnamen ge-
lebt hat, kann diesen zusammengesetzten Namen als
Ganzes in die Ehe einbringen.
Weiterhin enthält der Entwurf die vom Bundesverfas-
sungsgericht gleichfalls angemahnten Übergangsrege-
lungen. Waren Eheleute wegen der bisherigen grundge-
setzwidrigen Gesetzeslage gehindert, den von ihnen
gewünschten Ehenamen zu wählen, so können sie dies
binnen Jahresfrist nachholen. Diese Frist erscheint völlig
ausreichend, um den Interessierten die Namensänderung
zu ermöglichen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil
keine Veranlassung, sich zu den Namenswahlbeschrän-
kungen bei eingetragenen Lebenspartnern im Sinne des
Lebenspartnerschaftsgesetzes zu äußern. Bei diesen stel-
len sich jedoch genau die gleichen Probleme. Deshalb ist
es unerlässlich, dass der Gesetzentwurf zur Regelung
des Ehenamens entsprechende Regelungen für den Le-
benspartnerschaftsnamen vorsieht.
Das Gesetz ist entgegen der Auffassung der Mehrheit
des Bundesrates nicht zustimmungsbedürftig. Es enthält
insbesondere keine Änderung einer verfahrensrechtli-
chen Regelung im Sinne des Art. 84 Abs. 1 des Grund-
gesetzes. Änderungen des Personenstandsgesetzes sind
nicht erforderlich. Die dort bereits vorhandenen Verfah-
rensregelungen ermöglichen es den zuständigen Stan-
desbeamtinnen und Standesbeamten, die neuen Vor-
schriften ohne Änderung anzuwenden. Der Entwurf
erweitert lediglich die materiellen Rechte des Bürgers
und ist deshalb zustimmungsfrei.
Es freut mich, dass der Entwurf in den Ausschüssen
des Bundestages einstimmig angenommen wurde. Ich
bitte deshalb um breite Zustimmung auch hier.
138. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Nachtrag zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14