Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Abgeordnete Wolfgang Kubicki hat am 9. De-
zember auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes-
tag verzichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete
Dr. Christel Happach-Kasan am 10. Dezember 2002 die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
begrüße die neue Kollegin herzlich.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass Professor Richard
Schröder als Mitglied des Kuratoriums „Wissenschafts-
zentrum Berlin für Sozialforschung“ ausscheidet. Als
Nachfolgerin benennt sie die Kollegin Ulla Burchardt.
Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Daniel Bahr , Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Historischer
Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen
der Europäischen Union – Drucksache 15/216 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung des Antrags der Bundesregierung: Ausnahme von
dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für
Mitglieder der Bundesregierung – Drucksache 15/220 –
4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes zu dem
Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-
markt – Drucksachen 15/25, 15/77, 15/91, 15/132, 15/201 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
5 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes zu dem
Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-
markt – Drucksachen 15/26, 15/77, 15/91, 15/133, 15/202 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Seesicherheit
optimieren – nationaler und europäischer Handlungs-
bedarf nach Tankeruntergang der Prestige – Drucksa-
che 15/192 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-
Josef Laumann, Wolfgang Börnsen , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ladenschlussgesetz
modernisieren – Drucksache 15/193 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Michael Meister,
Otto Bernhardt, Leo Dautzenberg, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zurAufhebung des Vermögensteuergesetzes – Druck-
sache 15/196 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 5 e und 5 l
– es handelt sich um Wahlvorschläge für Gremien – ab-
gesetzt werden.
Des Weiteren ist folgende Umstellung der Tagesord-
nung vereinbart worden:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Präsident Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 17 – vereinbarte Debatte zu Wirt-
schaft und Arbeitsmarkt – wird bereits heute nach Tages-
ordnungspunkt 5 aufgerufen.
Tagesordnungspunkt 15 – kapitalgedeckte Altersver-
sorgung für Beamte – wird heute nach Tagesordnungs-
punkt 9 aufgerufen.
Tagesordnungspunkt 7 – Einsetzung eines Untersu-
chungsausschusses – wird am Freitag nach Tagesord-
nungspunkt 13 behandelt.
Die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 12 – Verkehrs-
infrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz; ein enorm
langer Titel – soll ohne Debatte überwiesen werden.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Überwei-
sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.
Der in der 12. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwie-
sen werden.
Gesetzentwurf von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Abbau von Steuer-
überwiesen:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bun-
deskanzler
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in
Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Dr. Gerd Müller, Michael Stübgen, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Der Weg für die Osterweiterung ist frei: Ab-
schluss der Beitrittsverhandlungen auf dem
Europäischen Rat in Kopenhagen
– Drucksache 15/195 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
der Fraktion der FDP
HistorischerErweiterungsgipfel verstärkt Druck
auf innere Reformen der Europäischen Union
– Drucksache 15/216 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-
antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Am vergangenen Wochenende ist den europäischen
Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen gelungen,
was sich viele unserer Vorgänger gewünscht hatten und
was sicher ganz viele unserer Mitbürgerinnen und Mit-
bürger in Europa, zumal auch in Deutschland, erwartet ha-
ben: aus unserem Kontinent, der in der Vergangenheit so
oft Schauplatz grausamer Konflikte, Kriege und politi-
scher Spaltung war, nun ein wirklich einiges Europa zu
schaffen, ein Europa zudem mit einer wirklich glanzvol-
len ökonomischen und auch politischen Perspektive.
Der Weg in ein großes und starkes Gesamteuropa
ist jetzt klar abgesteckt. Wir haben wirklich zusammen-
gebracht, was zusammengehört, und wir vollenden damit
das Werk so großer Europäer wie Konrad Adenauer und
Monnet, wie Willy Brandt und Vaclav Havel, aber auch
wie Marion Gräfin Dönhoff oder Wislawa Szymborska.
Wo unsere Vorfahren in den europäischen Kriegen auf-
einander gehetzt wurden, bauen wir heute ein Europa des
Friedens, der Freiheit und des Wohlstands. Wir bauen es
auf unserem gesamten Kontinent. Aus dem europäischen
Albtraum von Mord und Gewaltherrschaft ist der Traum
eines einigen Europas geworden. In Kopenhagen wurde
dieser Traum nun Wirklichkeit.
Wir haben den Auftrag, gemeinsam diese großartige
Chance so zu nutzen, dass unsere Kinder und deren
Kinder allen zusammen dafür dankbar sein können. Ich
möchte an dieser Stelle zunächst Premierminister
Rasmussen meinen Dank aussprechen. Er hat – daran
kann es keinen Zweifel geben – die Präsidentschaft her-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1183
vorragend wahrgenommen und die enorm schwierige
Aufgabe der Erweiterung mit einer klugen und auch ent-
schlossenen Verhandlungsstrategie wirklich bravourös
gemeistert.
In diesen Dank will ich ausdrücklich auch den für die
Erweiterung zuständigen deutschen Kommissar Günter
Verheugen einschließen, der im Erweiterungsprozess mit
Umsicht, mit Zähigkeit und mit Geradlinigkeit verhandelt
und so mit dazu beigetragen hat, dass dieses Ergebnis er-
zielt werden konnte.
Danken sollten wir vor allem auch den Völkern Ost-
und Mitteleuropas. Lassen Sie uns nicht vergessen, wie
sehr wir diesen großen Erfolg von Kopenhagen nicht zu-
letzt dem mutigen Kampf der Menschen in Polen, in Un-
garn, in Tschechien und in anderen mittel- und osteu-
ropäischen Ländern zu verdanken haben. Wir haben
diesen Erfolg aber auch – das möchte ich nachdrücklich
unterstreichen – der Zivilcourage der Bürgerinnen und
Bürger in Ostdeutschland zu verdanken, einer Courage,
die sie motiviert hat, gegen diktatorische Willkür zu
kämpfen, wodurch sowohl die Einheit unseres Landes als
auch die Einheit Europas ermöglicht wurde.
Sie alle hatten nicht zuletzt aufgrund der von Willy
Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik und den da-
mit einhergehenden Erleichterungen nie die Hoffnung auf
ein besseres und ein freieres Leben aufgegeben. Das his-
torische Ergebnis des Kopenhagener Gipfels ist insofern
auch eine Erfüllung dieser Zuversicht. Ich bin sicher: Die
Menschen in den Beitrittsländern werden die Chancen,
die sich uns allen durch die EU-Erweiterung bieten, nut-
zen und durch ihr positives Votum bei den Volksabstim-
mungen den Weg zur endgültigen europäischen Einigung
frei machen.
Mein Dank geht auch an unsere atlantischen Verbün-
deten, vor allem an die USA. Sie haben den europäischen
Einigungsprozess stets unterstützt und die ganze Zeit po-
sitiv begleitet, weil sie mit uns davon überzeugt waren,
dass ein geeintes, ein starkes Europa einen ganz wesentli-
chen Beitrag für eine stabilere, gerechtere und bessere
Weltordnung leisten würde. Das neue, in Kopenhagen be-
siegelte Europa darf und wird diese Erwartungen nicht
enttäuschen.
Wir können ruhig darauf hinweisen – es wäre im Ge-
genteil nicht richtig, diese Tatsache zu verleugnen –, dass
die in Kopenhagen beschlossene Erweiterung der Euro-
päischen Union auch sehr stark im nationalen Interesse
Deutschlands liegt. Gerade die Tatsache, dass die deut-
schen Interessen heute mit den Hoffnungen, mit den Er-
wartungen und mit den Interessen der Völker Europas
übereinstimmen, beweist die historische Dimension der
Beschlüsse von Kopenhagen und ermöglicht uns, die sich
bietenden großartigen Chancen zu nutzen.
Trotz weltweiter Abschwächung haben die mittel- und
osteuropäischen Staaten jährliche Wachstumsraten, die
mit knapp 4 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt
liegen. Die Beitrittsländer zählen damit zu den dyna-
mischsten Wachstumsregionen in der Welt. Das ist nicht
zuletzt eine Chance für unsere Wirtschaft; denn wir sind
auf diesen Märkten, was sowohl die direkten Investi-
tionen als auch den Handel angeht, fast überall die Num-
mer eins. Ich sage es noch einmal – vor allem an diejeni-
gen, die gegenüber dem Erweiterungsprozess skeptisch
sind oder mit ihm Ängste verbinden –: Darin liegen nicht
zuletzt für unsere Wirtschaft und damit für Arbeitsplätze
auch und gerade in Deutschland enorme Chancen.
Die Vorteile für unsere Unternehmen und die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer liegen auf der Hand.
Beschleunigtes Wachstum steigert die Importnachfrage
dieser Länder und verbessert auf diese Weise unsere Ex-
portchancen. In diesem Zusammenhang nur eine Zahl, die
mir wichtig ist: Bereits heute ist der Außenhandel, den wir
mit diesen Ländern betreiben, im Volumen höher als der
Außenhandel, den wir mit den Vereinigten Staaten von
Amerika haben.
Es wäre indessen falsch – das wird niemand hier tun –,
den Blick auf das rein Ökonomische zu beschränken. Wir
werden auch einen Zuwachs an innerer Sicherheit be-
kommen. Geldwäsche, Drogen- und Menschenhandel,
organisiertes Verbrechen also, und auch der interna-
tionale Terrorismus, all dies kann heute nicht mehr aus-
schließlich im nationalen Maßstab bekämpft werden. Die
Erweiterung wird also dazu beitragen, dass die Zusam-
menarbeit zum Beispiel der Polizeien Europas weiter ver-
bessert und, wo immer nötig, intensiviert wird.
Dabei ist klar, dass unsere Grenzkontrollen gegenüber
den neuen Mitgliedstaaten erst dann abgebaut werden
können, wenn diese Länder in der Sicherung ihrer Außen-
grenzen das realisiert haben, was man den Schengen-
Standard nennt. Daher war es eine richtige und keines-
wegs nur uneigennützige Entscheidung, dass wir in
Kopenhagen den neuen Mitgliedstaaten Sonderzahlungen
in Höhe von 858 Millionen Euro genau für diese Maß-
nahmen der Grenzsicherung, der Sicherung der Außen-
grenzen, gewährt haben.
Auch die großen grenzüberschreitenden Risiken wie
etwa Umweltgefährdungen wird das neue Europa sehr
viel besser, weil miteinander, bekämpfen können und
übrigens auch bekämpfen müssen – und dies besser, als es
in den Nationalstaaten je denkbar wäre.
Schließlich wird die Erweiterung – auch das sollte
nicht vergessen werden – das Alltagsleben der Menschen
in Europa auch kulturell sehr bereichern.
Meine Damen und Herren, natürlich ging es in Kopen-
hagen nicht zuletzt um die Finanzierung der Erweite-
rung.Dabei war klar, dass wir angesichts der historischen
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Dimension unsere Verhandlungsstrategie nicht einseitig
auf die finanzpolitischen Kriterien würden ausrichten
können, obwohl auch dies ein wichtiger Aspekt der deut-
schen Verhandlungsstrategie war. Denn angesichts knap-
per Ressourcen war es nicht zuletzt auch unsere Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass mit diesen knappen Ressourcen
sparsamer als in der Vergangenheit umgegangen wird.
Wir hatten also eine gute Balance zwischen dem für uns
finanziell Verkraftbaren, dem politisch Notwendigen und
dem, was die Beitrittsländer brauchen, zu finden.
Insgesamt lässt sich feststellen: Wir haben auch und
nicht zuletzt aus finanzpolitischer Sicht ein wirklich
gutes, weil vernünftiges, Ergebnis erzielt. Für die zehn
Beitrittsländer wird im Zeitraum von 2004 bis 2006 ein
Betrag von insgesamt 40,9Milliarden Euro zur Verfügung
gestellt. Übrigens liegen wir – es ist mir wichtig, dass das
nicht in Vergessenheit gerät – damit um 1,7 Milliarden
Euro unter dem hier in Berlin 1999 verabschiedeten Fi-
nanzrahmen, der seinerzeit – auch das sollte bedacht wer-
den – für nur sechs Beitrittskandidaten verabschiedet
wurde und der jetzt für zehn Beitrittsländer gilt.
Ein großer Erfolg war auch, dass der auf meiner Ver-
einbarung mit Staatspräsident Chirac beruhende Brüsse-
ler Kompromiss zur Stabilisierung der Agrarausgaben bis
zum Jahr 2013 nicht angetastet worden ist. Was Frank-
reich und Deutschland in Brüssel vereinbart und veran-
kert haben, hat insoweit gehalten. Damit ist es uns, denke
ich, endgültig gelungen, das für die Erweiterung mit Ab-
stand größte Kostenrisiko auf Dauer im Griff zu behalten.
Gleichzeitig haben wir einen Weg gefunden, die
schrittweise Einführung der Agrardirektbeihilfen in den
Beitrittsländern bis zum Jahre 2013 nicht nur zu postulie-
ren, sondern auch solide zu finanzieren. Mir scheint, dass
das ein durchaus schlagender Beweis dafür ist, dass Eu-
ropa auch angesichts von Interessengegensätzen führbar
bleibt, weil zu pragmatischen Lösungen imstande.
Meine Damen und Herren, auch in der Frage der Frei-
zügigkeit haben Mitgliedstaaten auf der einen Seite und
Beitrittsländer auf der anderen Seite, wie ich finde, Au-
genmaß und politische Verantwortung bewiesen. Wir sind
alle davon ausgegangen, dass es wichtig ist, dass das
neue, große Europa möglichst niemandem Angst macht,
schon gar nicht den Europäern selbst. Es war diese Bun-
desregierung, die eine siebenjährige Übergangsfrist bei
der Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgesetzt hat. Dadurch
können wir vor allem in den kritischen ersten Jahren den
Zugang zu unseren Arbeitsmärkten mit den neuen Mit-
gliedstaaten entsprechend dem, was vernünftig und des-
halb geboten ist, nicht zuletzt bilateral regeln. Mittel- und
langfristig wird sich ein unter Umständen entstehender
Migrationsdruck aufgrund des hohen Wachstums in den
neuen Mitgliedstaaten ohnehin ganz deutlich relativieren.
Das haben unsere Erfahrungen zum Beispiel bei der Süd-
erweiterung mit Portugal und Spanien eindeutig bewiesen.
Kein Zweifel: In Kopenhagen haben wir ein neues Ka-
pitel in der europäischen Geschichte aufgeschlagen. Mit
der endgültigen Überwindung der gewaltsamen Teilung
unseres Kontinents ist das europäische Werk jedenfalls in-
soweit vollendet worden.
Dieses Europa bedeutet – das muss man immer wieder
deutlich machen – weit mehr als einen Binnenmarkt. Die-
ses Europa bedeutet ein politisches Gemeinwesen, das sich
auf der Grundlage einer gemeinsamen europäischen Kul-
tur und Lebensweise begreift. Diese Grundlage ist das
ganz einzigartige europäische Sozial- und Gesellschafts-
modell, das auf umfassender Teilhabe im Politischen wie
im Ökonomischen und den Prinzipien der Aufklärung be-
ruht, das heißt auf den unveräußerlichen Rechten und
Freiheiten des Einzelnen, aber eben auch und nicht zuletzt
auf Solidarität und Verantwortung, die in einer wachen
und starken Bürgergesellschaft verwirklicht werden.
Das bedeutet auch ein Europa, das mehr auf Nachbar-
schaft und Interessenausgleich als auf Konflikt und Do-
minanz setzt, auf fairen Wettbewerb statt auf erbar-
mungslose Konkurrenz. Dieses neue Europa will weder
Superstaat noch Supermacht sein. Es wird seine Erfah-
rungen und Fähigkeiten in den internationalen Beziehun-
gen selbstbewusst, aber ohne Überheblichkeit zur Gel-
tung bringen.
Es wird und es muss Exporteur von Stabilität werden.
Das ist der Hintergrund.
Deshalb ist es so bedeutsam, dass wir in Kopenhagen
den Weg für die europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik endgültig frei gemacht haben. Wenn ich
„Weg“ sage, dann meine ich das auch; denn von Ab-
schluss kann noch keine Rede sein. Erfolg und Stärke un-
seres neuen Europas werden eben auch daran gemessen
werden, wie wir krisenhaften Entwicklungen in der eige-
nen Nachbarschaft und in einer von Unsicherheiten und
Instabilitäten gekennzeichneten Welt begegnen.
Dabei ist eines klar: Wir Europäer haben schlimme Er-
fahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht. Diese Erfah-
rungen haben uns eben nicht zu idealistischen Pazifisten
werden lassen, wohl aber zu Gesellschaften, die ganz ge-
nau wissen, und zwar geprägt durch diese Erfahrungen
von Generation zu Generation, dass Krieg und Gewalt in
aller Regel keine Konfliktlösung, sondern allenfalls „Ul-
tima Ratio“ in solchen Konflikten sein können.
Meine Damen und Herren, Europa – so hat einer der
großen europäischen Historiker einmal gesagt – ist noch
nie in seiner Geschichte nur geographisch definiert wor-
den, sondern stets vor allem politisch. Die Grenzen dieses
Europas lernt man weniger im Erdkundeunterricht, son-
dern vor allem in Geschichte und eben in Politik. Deshalb
ist dieses Europa keineswegs grenzenlos.
Es muss uns vor allen Dingen um zwei Bedingungen
gehen. Erstens. Wer zu Europa gehören will, der muss die
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1185
gemeinsamen Werte teilen: Menschenwürde, Demokra-
tie, Grundrechte, Rechtsstaat und natürlich Völkerrecht.
Zweitens. Die dadurch definierte Europäische Union
muss handlungsfähig, das heißt politisch führbar bleiben.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Erweiterung der
Europäischen Union nicht nur in Quadratkilometern mes-
sen, sondern dass wir sie auch daran messen, wie weit die
Vertiefung gelingt. Insoweit stimme ich der Überschrift
des Antrags durchaus zu, wenn Sie darauf hinweisen, dass
das Wesentliche in der europäischen Politik in der kom-
menden Zeit die Arbeit des Konvents, ihre Begleitung
und, wo uns möglich, ihre Unterstützung sein wird. Es be-
steht kein Zweifel, dass das als die zentrale Aufgabe der
nächsten Zeit hinzukommen muss.
Vertiefung meint Strukturen, die Europa den Bürgern
und die den Bürgern Europa näher bringen. Wir brauchen
entschlossene institutionelle Reformen, die auf Dauer si-
cherstellen, dass dieses erweiterte Europa handlungsfähig
bleibt. Wir brauchen also das, was im Konvent – im Übri-
gen weitgehend überparteilich, soweit es deutsche Politik
angeht – diskutiert wird: nicht zuletzt eine sinnvolle und
politisch wirksame Zuordnung der Institutionen zuei-
nander und natürlich die Definition dessen, was Europa
tun soll und was Sache der Nationalstaaten bleiben muss.
Kernelement muss eine europäische Verfassung als
Basis für ein effizientes, aber auch demokratischeres und
vor allen Dingen transparenteres Europa sein. Die Bürge-
rinnen und Bürger müssen wissen, wer im erweiterten Eu-
ropa für was politisch verantwortlich ist. Nur dann kann
Verantwortung zugemessen werden und können aus
falsch verstandener Verantwortung oder auch aus Fehlern
Konsequenzen gezogen werden.
Zu einer bürgernahen Verfassung, einer Verfassung
also, wie wir sie wollen, gehört natürlich auch die rechts-
verbindliche Integration derGrundrechtscharta, die un-
ter dem Vorsitz von Herrn Herzog erarbeitet wurde.
Die aktive Gestaltung der Reformen in der Europä-
ischen Union wird Schwerpunkt – ich betone es noch ein-
mal – deutscher Politik in den nächsten Wochen und Mo-
naten sein müssen. Nach den Beschlüssen von Kopenhagen
besteht diese Möglichkeit als großartige Chance für uns
und ich denke, wir werden sie alle zusammen nutzen wol-
len.
Es ist klar: Wir werden dabei weiterhin eng mit Frank-
reich zusammenarbeiten. Es hat sich auch in den letzten
Wochen gezeigt, dass dann, wenn Frankreich und
Deutschland gemeinsam vorgehen, nicht nur diese beiden
Länder Nutznießer sein werden, sondern ganz Europa.
Bei allen Schwierigkeiten und gelegentlichen Interessen-
gegensätzen, die es natürlich in dieser Beziehung ebenfalls
gibt, ist eines deutlich geworden: Die Partner in Europa er-
warten, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit
im Interesse Europas funktioniert. Das ist eine Erwartung,
die wir nicht enttäuschen dürfen und für die wir immer
wieder Interessengegensätze, die es natürlich ebenfalls
gibt, überwinden müssen und – das hat sich in Brüssel, Ko-
penhagen und anderswo gezeigt – auch überwinden kön-
nen.
Der Konvent wird im Sommer nächsten Jahres einen
Entwurf für eine künftige europäische Verfassung vorle-
gen. Ich denke, der Zeitplan ist einzuhalten. Es ist das
Ziel, auch das deutsche, dass die Regierungskonferenz in
der zweiten Hälfte des nächsten Jahres unter italienischer
Präsidentschaft in Rom die neue Verfassung verabschie-
det. Mein Eindruck ist – das habe ich dem italienischen
Ministerpräsidenten auch gesagt –, dass Rom ein guter
Ort für eine solche Verfassungsdiskussion sein könnte.
Meine Damen und Herren, der Europäische Rat hat
Rumänien und Bulgarien, die wichtige Fortschritte ge-
macht haben, eine Perspektive für das Jahr 2007 eröffnet.
Es wird einzig und allein auf die Beitrittsfähigkeit nach
den festgelegten Kriterien ankommen.
Dass es auf die Beitrittsfähigkeit nach den 1993 in Ko-
penhagen festgelegten Kriterien ankommt, ist ein ganz
wichtiger Grundsatz für die Bewertung auf uns zukom-
mender europäischer Politik und dahinter stehender Wün-
sche; denn genau nach diesem Prinzip wird der Beitritts-
wunsch der Türkei behandelt werden.
Wir haben auch in diesem Fall in enger Abstimmung
mit unseren französischen Freunden die Beitrittsperspek-
tive für die Türkei beim Kopenhagener Gipfeltreffen kon-
kretisieren können. Im Dezember 2004 werden wir über
einen Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlun-
gen zu diskutieren haben. Es wird nur dann eine positive
Entscheidung geben, wenn die Türkei bis dahin auf der
Basis von Feststellungen, die die Kommission treffen
wird, die noch anstehenden Aufgaben beim Aufbau eines
demokratischen Gemeinwesens auch wirklich bewältigt
hat.
Dass die Türkei, wenn sie es will und diese Kriterien in
der Sache – ich will das betonen –, also in der Staatspra-
xis, erfüllt werden, ihren Platz in Europa finden wird, ist
aufgrund der historischen Erfahrungen und der politi-
schen Realität im 21. Jahrhundert möglich und sicher
auch nötig.
Die Türkei kann, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger es
wirklich wollen, eine wichtige, vielleicht die wichtigste
Brücke zwischen Kontinentaleuropa auf der einen Seite
und dem östlichen Mittelmeerraum auf der anderen Seite
werden. Als Mitglied der NATO erfüllt die Türkei diese
Rolle militärstrategisch bereits jetzt.
Wer die Mitgliedschaft der Türkei im Bündnis gut-
heißt, ihre Zugehörigkeit zu Europa als Perspektive unter
den klar definierten Bedingungen jedoch ausschließt, der
verhält sich widersprüchlich und – ich muss das auch an
dieser Stelle sagen – verletzt die Kontinuität deutscher
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Europapolitik, die von allen meinen Vorgängern im Amt
geprägt worden ist.
Diese Kontinuität darf – davon bin ich überzeugt – gerade
im deutschen Interesse nicht wahltaktischen und partei-
politischen Motiven geopfert werden.
Meine Damen und Herren, die Türkei hat jetzt die Ge-
legenheit, zu beweisen, dass eine moderne Gesellschaft
und eine demokratische Verfassung in islamisch gepräg-
ten Gesellschaften möglich und zum Besseren der Men-
schen auch in der Staatspraxis durchsetzbar sind. Eben
deshalb noch einmal: Wir machen dieses Angebot nicht,
weil andere es wünschen. In diesem Zusammenhang muss
ich übrigens darauf hinweisen, dass es keineswegs so ist,
dass die Debatte über die Türkei und Europa, soweit sich
unsere Freunde in Amerika daran beteiligt haben, auf die
jetzige Administration beschränkt geblieben wäre. Wir
haben diese Diskussion im Vorfeld von Helsinki, als Bill
Clinton amerikanischer Präsident war, natürlich mit glei-
cher Intensität geführt wie jetzt auch. Deswegen ist die
ganze Aufregung darüber etwas, was sich vor diesem Hin-
tergrund mindestens relativiert.
Um es noch einmal klar zu machen: Europa – Deutsch-
land ist dabei – macht dieses Angebot nicht, weil andere
es für richtig halten, sondern wir machen dieses Angebot,
weil es im europäischen und damit auch im deutschen
Interesse ist. Ich betone auch: Wir werden die Fort-
schritte der Türkei nicht allein daran messen, was Gesetz
ist, sondern daran, was Staatspraxis ist. Unsere türki-
schen Freunde wissen dies und sie werden deshalb auch
sehr genau auf die Umsetzung eben jener Kriterien ach-
ten, die über die Realisierung des Beitrittswunsches bzw.
des Wunsches zur Aufnahme von Verhandlungen über den
Beitritt – denn exakt darüber und nicht über den Beitritt
an sich wird geredet werden – entscheiden.
Schließlich muss klargestellt werden: Wer am Thema
des Beitritts der Türkei so etwas wie einen neuen Kultur-
kampf nach dem Motto „Christliches Abendland gegen
Islam“ anzetteln will, der will den Menschen weisma-
chen, Muslime ließen sich aus unseren Kulturen und Ge-
sellschaften heraushalten oder seien nicht in der Lage, die
demokratischen Kriterien mit den Grundsätzen ihren
Glaubens in Übereinstimmung zu bringen.
Ich halte eine solche Denkweise für falsch, ja für gefähr-
lich, denn Muslime gehören in allen europäischen Gesell-
schaften zum selbstverständlichen Alltag in eben diesen
Gesellschaften.
Was im Innern gilt, das trifft auch für Europa insgesamt
zu: Wer den Türken in der Türkei die Demokratiefähigkeit
pauschal abspricht, der kann nicht ernsthaft um das de-
mokratische Engagement etwa türkischer Mitbürgerinnen
und Mitbürger in Deutschland werben.
Im Verhältnis verschiedener Kulturen, Religionen und
ethnischer Gruppen zueinander geht es – jedenfalls nach
unserer Auffassung – immer um ein und dasselbe: um To-
leranz, um friedliches Zusammenleben und um Integra-
tion.
Meine Damen und Herren, ich denke, gerade der Deut-
sche Bundestag sollte im Angesicht der Ergebnisse von
Kopenhagen vor allem dies eine würdigen: Die nun be-
schlossene und bald vollzogene Erweiterung der Europä-
ischen Union macht Polen von unserem Nachbarn zu un-
serem wirklichen Partner. Gerade Polen, das in den
vergangenen Jahrhunderten zwischen deutschen und rus-
sischen Großmachtinteressen so zerrieben, so zerschun-
den wurde, kann jetzt endlich nach dem freien Willen sei-
ner Bürgerinnen und Bürger die ausgestreckte Hand
Europas ergreifen.
Vielleicht gestatten Sie mir folgenden Hinweis: An dieser
Einigung ein wenig mitgewirkt zu haben war für mich als
deutscher Bundeskanzler in Kopenhagen schon ein bewe-
gender Augenblick.
Premierminister Miller aus Polen hatte maßgeblichen
Anteil am historischen Erfolg von Kopenhagen. Ich
werde noch heute Abend mit ihm zu einem Arbeitsbesuch
zusammentreffen. Ich hoffe, ihm bei dieser Gelegenheit
die Zustimmung des gesamten deutschen Bundestags ge-
rade zur polnischen Mitgliedschaft in der Europäischen
Union mitteilen zu können. Ich bin sicher, dass das im In-
teresse aller ist.
Nicht zuletzt die Integration Polens in die Europäische
Union vollendet, was geschichtsbewusste Kanzler der
Bundesrepublik Deutschland stets erstrebt haben. Vor die-
sem Hintergrund ist Kopenhagen auch ein später und ein
verdienter Erfolg von Willy Brandt und Helmut Kohl.
Unser Auftrag ist es, dieser Verantwortung gerecht zu
werden. Ich denke, im Interesse aller sagen wir miteinan-
der im Deutschen Bundestag, dass Deutschland das Seine
dazu beitragen wird.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1187
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kollegin Angela Merkel, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig:
Das herausragende Ergebnis des EU-Gipfels von Kopen-
hagen lautet: Die Europäische Union bekommt zehn neue
Mitglieder. Mit Polen und Tschechien sind darunter auch
zwei unmittelbare Nachbarn Deutschlands. Sie alle werden
nach den Ratifizierungsverfahren im kommenden Jahr ab
dem 1. Mai 2004 der Europäischen Union angehören.
Der historische Prozess, der 1993 in Kopenhagen ein-
geleitet wurde und die Spaltung Europas überwinden
wird, ist zehn Jahre später – wieder in Kopenhagen – auf
der Zielgeraden angekommen. In dieser Hinsicht kann
man sagen: Kopenhagen war ein historischer Gipfel; Ko-
penhagen war ein Meilenstein. Was dieser Prozess für die-
jenigen Länder, die bald dazukommen, die bald die Euro-
päische Union bereichern werden, bedeutet, das hat der
frühere polnische Außenminister Geremek 1998 bei der
Verleihung des internationalen Karlspreises der Stadt
Aachen so unübertroffen bescheiden und für mich auch
anrührend formuliert:
... ich habe keinen Krieg gewonnen, keinen Frieden
gestaltet, ich habe keine Grundlagen der europä-
ischen Strukturen gelegt. Meinem Land war zwar
eine Glanzzeit beschieden, im modernen Zeitalter
fiel es jedoch des Öfteren den europäischen Groß-
mächten zum Opfer und verschwand für mehrere
Jahre von der politischen Karte Europas. Polen, der
von Jalta aufgezwungenen Ordnung ausgeliefert,
konnte bis zum Jahre 1989 an der Wiederentstehung
der europäischen Einheit keinen Anteil nehmen. Eu-
ropa blieb aber für immer ein Gegenstand des polni-
schen Freiheitstraumes. Die Vereinigung Europas ...
wäre ohne diesen polnischen Traum nicht möglich
gewesen. Ich habe mich daran, so gut wie ich konnte,
beteiligt. Von Europa habe ich immer geträumt. Es
ist vielleicht auch wichtig: große politische Entwürfe
müssen doch von Träumen begleitet werden, da
diese den Willen zur Tat erwecken.
So weit Geremek. Sein Traum ist Realität geworden. Viele
haben an dessen Verwirklichung mitgearbeitet. Es war
gut, dass Sie am Ende Ihrer Rede Helmut Kohl erwähnt
haben.
Wir sind dankbar, dass es gelingen konnte.
CDU und CSU haben die Entscheidung von Kopenha-
gen mit Nachdruck begrüßt. Wir hatten uns an der Vorbe-
reitung beteiligt. Die Erweiterung ist die logische Konse-
quenz der gesellschaftlichen Veränderungen von 1989
und 1990. Die neuen Mitglieder gehören zu uns. Sie wer-
den uns schon bei den nächsten europäischen Wahlen be-
reichern. Ich plädiere dafür, dass gerade wir, die Deut-
schen, aus unserer Erfahrung der deutschen Einheit
heraus, immer wieder darauf hinweisen, dass diese neuen
Mitglieder Bereicherung sind, dass wir von ihren Erfah-
rungen lernen können, dass die Abwesenheit von Freiheit
über Jahrzehnte diesen Ländern einen neuen Blick auf Eu-
ropa ermöglicht und dass wir nicht einfach an den beste-
henden Regelungen festhalten dürfen, sondern offen für
Veränderungen sein müssen. Das sind wir diesen Ländern
schuldig. Dafür werden wir uns einsetzen.
Wir werden in Europa bald statt 380 Millionen Men-
schen 500 Millionen Menschen in 27 Mitgliedstaaten
sein. Es wird darauf ankommen, dafür zu sorgen, dass das,
was bisher auf dem Papier steht, gelebte Realität wird.
Wir müssen das, was bisher auf dem Papier steht, mit Le-
ben erfüllen und müssen es den Bürgerinnen und Bürgern
in unseren Ländern nahe bringen. Denn natürlich gibt es
dort auch Sorgen, Ängste und Skepsis. Es wird die Auf-
gabe jedes verantwortlichen Politikers sein, aus diesem
großen Europa ein Europa der Bürger zu machen.
Ich möchte deshalb darauf hinweisen, dass wir bei
Staaten, wie zum Beispiel Tschechien, in denen noch De-
fizite bestehen und die noch nicht anerkannt haben, dass
Unrecht nicht die Basis zukünftiger Demokratie sein
kann, für das Recht auf Heimat eintreten und Dinge nicht
in Vergessenheit geraten lassen, trotz der gemeinsamen
Mitgliedschaft und gerade wegen des gemeinsamen Fun-
daments für Demokratie.
Herr Bundeskanzler, es wird nicht einfach werden, die
Regierbarkeit dieses vergrößerten Europas wirklich zu
gewährleisten. Ich bin sehr dafür, dass die deutsch-fran-
zösische Kooperation weiterhin der Motor der zukünfti-
gen Entwicklung Europas ist. Aber es wird ganz wesent-
lich auch darauf ankommen, dass gerade de Deutschen
Anwalt der kleineren Länder in der Europäischen Union
sind.
Deshalb sage ich mit allem Nachdruck: Das, was wir im
Umgang mit Österreich vor einigen Jahren in der Europä-
ischen Union erlebt haben, darf sich nie wieder wieder-
holen,
weil es unveräußerbare Dinge in Frage gestellt hat.
Dieses vergrößerte Europa ist natürlich eine Antwort
der Europäer auf die Globalisierung. Die Vergrößerung hat
außenpolitische Konsequenzen und Wirkungen nach in-
nen. Was die außenpolitischen Konsequenzen anbelangt,
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
so bin ich, wie alle anderen auch, sehr froh, dass der
Durchbruch zu einer europäischen Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik jetzt wieder ein weiteres Stück voran-
gebracht wurde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es wird
wiederum ganz entscheidend von Deutschland abhängen,
ob diese europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik gelebt werden und funktionieren kann. Die Situation
und die Finanzausstattung der Bundeswehr sowie die Pla-
nungsunsicherheit, die an vielen Stellen bestanden hat,
sind keine Grundlage für eine verlässliche Außen- und Si-
cherheitspolitik der Europäischen Union.
Deshalb muss die Verteidigungspolitik auf bessere, siche-
rere Grundlagen gestellt werden. Ihr Stellenwert wird stei-
gen müssen. Sprechen Sie einmal mit den französischen
Kollegen. Dann werden Sie hören, dass man mit Deutsch-
land unzufrieden ist, was den Stellenwert der Verteidi-
gungspolitik für ein zukünftiges sicheres Europa angeht.
Es gibt natürlich auch eine Wirkung nach innen, Herr
Bundeskanzler. Es wäre vielleicht gut gewesen, Sie hätten
ein Wort darüber gesagt – Sie haben über die Wachstums-
raten in den mittel- und osteuropäischen Ländern gespro-
chen –, was der zukünftige wirtschaftliche Wettbewerb
auch für die Modernität und die Erneuerungskraft in
Deutschland bedeuten würde. Wir haben Ihnen jetzt in
zähen Vermittlungsausschussverhandlungen etwas abge-
rungen, was uns zum Beispiel der Präsident des Ifo-In-
stituts in München, Herr Sinn, abfordert, damit Deutsch-
land nicht der Bremser in Europa bleibt, sondern damit
Deutschland wieder zum Motor in Europa wird.
Wir brauchen einen Niedriglohnbereich. Wir brauchen
Entriegelung auf dem Arbeitsmarkt. Wir brauchen Auf-
weichungen des Flächentarifvertrags, damit mehr Flexi-
bilität möglich wird. Wir brauchen diese Dinge, weil wir
von unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn noch
stärker als von anderen Nachbarn im Westen lernen wer-
den, dass sie bereit sind, neue Wege in einer veränderten
Welt zu gehen. Dadurch wird sich der Wettbewerb ver-
stärken.
Deshalb wird es spannend sein, ob wir akzeptieren,
dass es in Estland schon heute mehr Internetanschlüsse
pro Kopf gibt als in Deutschland. Deshalb wird es span-
nend sein, ob wir bereit sind, neue Wege zu gehen und wie
zum Beispiel in Slowenien die Mitbestimmung auch über
Aktienbesitz und nicht nur durch formale Regelungen er-
folgen zu lassen. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten
ganz kräftig und immer wieder gefordert sein, von unse-
ren europäischen Nachbarn zu lernen, offen zu sein, bereit
zu sein, ein Benchmarking einzugehen, um neue Wege zu
gehen. Ich sehe dies bei dieser Bundesregierung überhaupt
nicht. Es herrscht in Europa die Sorge, dass Deutschland
der kranke Mann Europas wird. Das wäre bedauerlich. Wir
können mehr. Die Menschen in diesem Lande können
mehr.
Sie müssen einen Politikwechsel in Ihrer Wirtschafts-
und Sozialpolitik vornehmen,
damit wir endlich wieder ein Beispiel für andere europä-
ische Länder werden.
Es ist richtig: Die Erweiterung ist eine große Leistung.
Ich möchte an dieser Stelle Kommissar Verheugen dan-
ken. Wir sind sicherlich nicht in allen Fragen immer einer
Meinung. Aber es ist unbestritten, dass er sich als der für
Erweiterung verantwortliche Kommissar bemüht hat und
Erfolge erzielt hat, die vor vielen Jahren noch nicht denk-
bar erschienen. Es ist gut, dass der Finanzrahmen an die-
ser Stelle so eingehalten wurde, wie Sie das berichtet ha-
ben. Es ist gut, dass es Planungssicherheit im Bereich der
Agrarpolitik gibt.
Aber, Herr Bundeskanzler, die Wahrheit ist auch: Wenn
die deutschen Bauern den französischen Präsidenten nicht
gehabt hätten, dann hätten Sie die Dinge am liebsten
schon vor 2006 auf den Kopf gestellt. Deshalb war es gut,
dass es wenigstens in Frankreich eine vernünftige Agrar-
politik gibt, meine Damen und Herren.
Es wäre gut gewesen, Sie hätten in diesem Zusam-
menhang auch einmal darüber gesprochen, was jetzt an
zukünftigen Problemen auf uns in der Europäischen
Union zukommt. Wir werden mehr Mitgliedsländer. Wir
werden uns mit der Frage der unterschiedlichen Ge-
schwindigkeiten in der Entwicklung Europas mit mehr als
25 Mitgliedstaaten natürlich intensiver befassen müssen.
Es geht zum Beispiel um die Europäische Währungs-
union. Es ist wichtig, dass wir die Warnungen von Wim
Duisenberg sehr ernst nehmen, der als Präsident der Eu-
ropäischen Zentralbank deutlich macht, dass der Beitritt
zur Währungsunion weiter an harte Kriterien gebunden
sein muss. Genau aus diesem Grunde ist es wiederum so
wichtig, dass der Stabilitätspakt so, wie er vereinbart
wurde, auch eingehalten wird und dass Deutschland nicht
zum Aufweicher dieses Stabilitätspakts wird, weil das un-
vorhersehbare Folgen für die gesamte Zukunft der Euro-
päischen Union haben würde.
Herr Bundeskanzler, auf dem Gipfel in Kopenhagen
hat es ein zweites großes Thema gegeben und das war der
Beitritt der Türkei.
– Oder der Kandidatenstatus der Türkei
mit dem Ziel des Beitritts. Wir brauchen hier keine Haar-
spalterei zu betreiben.
1188
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1189
Meine Damen und Herren, es war ein Thema, das von
Ihnen im Vorfeld der Diskussion weitestgehend unter dem
Deckel zu halten versucht wurde.
Ich halte es für einen Gewinn, dass wir heute öffentlich
eine breite Diskussion über dieses Thema haben. Ich stelle
fest, dass Ihre Einlassungen heute schon weitaus verhal-
tener sind, als sie das vor einigen Wochen waren. Ich
glaube, dass Sie sich damit zumindest ansatzweise der
Problematik dieser Frage bewusst werden.
Wenn Sie uns immer wieder zu unterstellen versu-
chen, wir würden an dieser Stelle parteitaktisch oder
wahltaktisch argumentieren, dann möchte ich Sie nur da-
rauf hinweisen, dass bereits 1999 Wolfgang Schäuble in
einer ähnlichen Debatte nach dem Rat von Helsinki sehr
deutlich gemacht hat, dass wir die Entscheidung von
Helsinki für falsch gehalten haben. Es muss heute und
auch in den nächsten Jahren möglich sein, über diese
Frage zu diskutieren, die im Übrigen überhaupt nicht
parteitaktisch aufgeladen ist. Große Europäer wie
Helmut Schmidt und große Historiker wie Professor
Winkler, die alle eher dem sozialdemokratischen Lager
zuzuordnen sind,
hegen genau die gleichen Bedenken, die auch von unserer
Seite artikuliert werden.
Es ist mir relativ schleierhaft, was Sie eigentlich dazu
getrieben hat, in Europa zum Antreiber eines möglichst
zügigen Beitritts der Türkei zu werden, wobei Sie von
Frankreich und anderen immer wieder zurückgehalten
wurden.
Deshalb sage ich nicht, dass nicht alle amerikanischen
Administrationen – egal ob der Präsident Clinton oder
Bush hieß – ein Interesse daran hatten, dass die Türkei
Mitglied der Europäischen Union wird. Die Amerikaner
vertreten hier sehr eigennützige Interessen.
– Es ist doch legitim, dass die Amerikaner eigennützige
Interessen haben, so wie auch wir eigennützige Interessen
haben. Wer seine Interessen nicht formuliert, kann in der
Welt keine Politik machen. Ich bitte Sie, das ist doch das
Simpelste von der Welt.
Die Frage lautet daher nicht: Haben die Amerikaner
Wünsche geäußert? Die Frage lautet vielmehr: Wie haben
die Deutschen darauf reagiert?
An dieser Stelle sagen wir: Der Beitritt eines Landes zur
Europäischen Union ist nicht Gegenstand von Kompen-
sationsgeschäften für nicht eingehaltene außenpolitische
Versprechungen an anderer Stelle.
Es wird in Europa mit großem Staunen verfolgt, welche
Kapriolen Sie schlagen müssen, um zu begründen, wie
Sie Ihre Wahlversprechen, die Sie natürlich nicht halten
können, zum Beispiel in der Frage der Verlässlichkeit in
der NATO mit der Realität in Übereinstimmung bringen.
Ich erinnere Sie in Bezug auf die AWACS-Besatzungen
daran, dass die Sozialdemokraten vor dem Bundesverfas-
sungsgericht 1993 wegen der Frage geklagt haben: Dür-
fen AWACS-Maschinen mit deutscher Besatzung über
Ungarn fliegen und auf Bosnien schauen? Nach Rechts-
auffassung der SPD – dies wurde im Übrigen vom Bun-
desverfassungsgericht bestätigt – war dies nämlich ein
Kampfeinsatz. Erklären Sie mir bitte den Unterschied zu
AWACS-Maschinen über dem Territorium der Türkei, die
auf den Irak schauen. Dass dies im Falle militärischer Ak-
tionen dann kein Kampfeinsatz sein soll, das können Sie
in Deutschland und auch anderswo mit Sicherheit nie-
mandem erklären. Das ist das Problem.
Wir sollten ehrlich miteinander umgehen
und mit Blick auf die Türkei deutlich machen: Die Mit-
gliedschaft in der Europäischen Union und in der NATO
sind verschiedene Dinge. Sie lassen sich nicht miteinan-
der kompensieren. Über die Frage, wer Mitglied in der
Europäischen Union wird, entscheiden die Europäer sel-
ber und aus eigener Verantwortung.
Sie haben richtigerweise zwei Kriterien genannt. Das
eine ist: Diejenigen, die Mitglied werden wollen, müssen
die Werte miteinander teilen und die Kriterien erfüllen.
Sie haben ein zweites Kriterium eingeführt: Europa muss
handlungsfähig und politisch führbar sein. Genau um
diese beiden Fragen geht es, wenn wir uns über die Gren-
zen Europas – ich meine ausdrücklich nicht die geogra-
phischen Grenzen – unterhalten. Sie haben die Antwort
gegeben, dass Europa damit nicht grenzenlos ist. Was es
nicht ist, wissen wir jetzt. Aber es fehlt die Definition des-
sen, was wir uns für Europa noch vorstellen können.
Dabei ist doch deutlich erkennbar, Herr Bundeskanzler,
dass es – auch das könnten Sie von den Gipfeln in Kopen-
hagen und anderswo berichten – erhebliche Meinungsun-
terschiede zwischen den einzelnen Nationalstaaten gibt,
wie das zukünftige Europa aussehen soll. Der italienische,
der spanische oder der britische Ministerpräsident teilen
offenbar die Auffassung derer, die aus Europa ein mög-
lichst großes, aber locker zusammengefügtes Gebilde ma-
chen wollen. Wir teilen insbesondere mit den Beneluxlän-
dern, aber auch mit Frankreich die Vorstellung, dass die
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
Vertiefung eine der Hauptaufgaben der nächsten Zeit dar-
stellt – Sie haben sie im Übrigen eben selbst als die we-
sentliche Aufgabe bezeichnet –, damit sich eine europä-
ische Identität herausbildet und wir gemeinsam in einer
multipolaren Welt als Europäische Union auftreten können.
Nach dieser Feststellung blieben Sie aber die Antwor-
ten schuldig. Denn die Mitgliedschaft der Türkei wirft
doch einige Probleme auf. Ich will an dieser Stelle nicht
über die ökonomische Größe sprechen, sondern mit den
Kriterien beginnen. Wir haben in den EVP-Gesprächen
im Vorfeld des Gipfels darüber nachgedacht, was Europa
in ökonomischer Hinsicht verkraften kann. Wir wissen,
wie schwierig sich die Beitrittsverhandlungen mit den
zehn neuen Mitgliedstaaten in dem bestehenden finanzi-
ellen Rahmen gestaltet haben. Die Türkei ist bekanntlich
ein Land, das in seiner Bevölkerungszahl annähernd so
groß ist wie Deutschland.
Lassen Sie uns nun zu den Kriterien kommen. Ich bin
Ihnen dankbar, dass Sie heute festgestellt haben, dass die
Türkei die Kriterien nicht nur auf dem Papier erfüllen,
sondern dass sie sie auch in die Praxis umsetzen muss. Die
Überprüfung soll in zwei Jahren stattfinden. Schauen Sie
sich einmal die Amnesty-International-Berichte an, die
sonst auf der linken Seite des Hauses doch oft Beachtung
finden.
– Bei uns auch, aber ich spreche das deshalb an, weil Sie
sich zurzeit in Widersprüche verwickeln.
Schauen Sie sich die Fortschrittsberichte der Europä-
ischen Union an. Darin wird festgestellt, dass die Türkei
hinsichtlich der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfrei-
heit, der Vereinigungsfreiheit, des Rechts auf Berufung vor
Gericht und in vielen anderen Bereichen noch erhebliche
Mängel aufweist. Ich kann mich nur dem EU-Kommissar
Verheugen anschließen: Eine Gesetzesänderung allein
kann nicht der Maßstab dafür sein, ob die Umsetzung in
die Praxis tatsächlich erfolgt.
– Ganz ruhig, Herr Müntefering! Regen Sie sich nicht auf!
Was uns verwundert hat, ist, dass entgegen der übli-
chen Praxis in Europa diesmal nicht die Kommission eine
Empfehlung gegeben hat, Daten und Termine zu nennen,
sondern dass im Falle der Türkei erstmalig der Rat von
sich aus initiativ geworden ist. Eines ist sicher: Die Kom-
mission hätte auf dem Gipfel in Kopenhagen keinerlei
Daten genannt und auch keinen Druck gemacht, Daten zu
nennen.
Deshalb bin ich außerordentlich dankbar, dass neben
dem Wegfall eines konkreten Termins zugunsten der Kon-
zentration auf die Frage der Kriterien jetzt auch in den
Schlussfolgerungen der Präsidentschaft festgehalten wur-
de, dass auf der Grundlage eines Berichts und einer Emp-
fehlung der Kommission 2004 weiterberaten werden soll.
Ich rate uns allen, der Kommission – zu der Sie ohnehin
ab und an ein sehr kritisches Verhältnis haben, um es vor-
sichtig auszudrücken – ihre Aufgabe zu belassen, die sie
auch in allen anderen Beitrittsverhandlungen wahrge-
nommen hat.
Lassen Sie mich nun zu der politischen Führbarkeit
Europas kommen. Wir meinen, dass anders als 1963, als
der Türkei die Aussicht auf die Mitgliedschaft in der Eu-
ropäischen Union auf der Grundlage einer Wirtschafts-
union geboten wurde, die Erweiterung und die Vertiefung
der politischen Union so weit fortgeschritten sind, dass
sich für die Führbarkeit angesichts der politischen Situa-
tion in der Türkei und in den europäischen Ländern er-
hebliche Probleme auftürmen, die mit Sicherheit nicht in
kürzester Zeit überwunden werden können. Aus diesem
Grunde fordere ich Sie auf: Nehmen Sie die Frage der po-
litischen Führbarkeit ernst. Es geht doch hier nicht um die
Frage, ob Muslime zu der Realität in den europäischen
Ländern gehören. Ich bitte Sie! Wir alle leben mit den tür-
kischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Land gut zusammen und wollen dies auch weiterhin. Das
gilt für die CDU und die CSU genauso wie für die SPD
und die Grünen.
Das ist doch nicht das Problem. Das Problem ist, dass die
Integration dieser Bürgerinnen und Bürger nur unvoll-
ständig gelungen ist. Diese zu verbessern ist die Haupt-
aufgabe für die nächsten Jahre. Helmut Schmidt hat doch
Recht damit, dass die Freizügigkeit innerhalb der Euro-
päischen Union mit der Türkei als gedachtem Mitglied-
staat ein erhebliches Problem aufwirft.
Wer das nicht sieht und beim Namen nennt, redet einfach
an den Menschen vorbei.
Herr Bundeskanzler, zur Wahrheit gehört auch, dass
wir die politische Ordnung in der Türkei, die bis heute
auf einer erheblichen Rolle des Militärs beruht, damit die
Trennung von Religion und Staat überhaupt möglich ist,
nicht einfach wegwischen können. Diese steht durchaus
im Gegensatz zu der politischen Verfasstheit der Mit-
gliedsländer der Europäischen Union. Wir tun uns keinen
Gefallen, wenn wir diese Unterschiede einfach weg-
wischen.
Zur Wahrheit gehört auch, dass ein politischer Führer
wie Herr Erbakan in der Türkei jetzt spannende und in-
teressante Wege geht, von denen wir noch nicht wissen,
zu welcher politischen Ordnung der Türkei sie einmal
führen werden. Deshalb plädieren wir dafür, erst einmal
1190
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1191
die Vertiefung der Europäischen Union voranzutreiben
und die Entwicklung in der Türkei abzuwarten, aber nicht
immer und immer wieder voreilige Erwartungen zu
schüren, die nur in großen Enttäuschungen der Türkei en-
den würden.
– Herr Schmidt, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie
festgestellt, dass ich hier überhaupt nichts schüre, sondern
über die Probleme spreche, die wir gemeinsam zu bewäl-
tigen haben
und die von erheblicher Bedeutung für das Gelingen des
europäischen Einigungswerkes sein werden.
Meine Damen und Herren, wer hier so tut, als sei der
Beitritt der Türkei irgendeine Lappalie, die man einmal
so am Rande erledigen könnte,
versündigt sich an der Europäischen Union und ihrer Zu-
kunft. Deshalb werden wir uns an dieser Stelle den Mund
nicht verbieten lassen, meine Damen und Herren.
Deshalb werden wir auch nicht zulassen, dass jede ab-
weichende Meinung gleich mit Kulturkampf gleichge-
setzt wird; das hat damit überhaupt nichts zu tun. Deshalb
hätte ich es auch gut gefunden, wenn Sie, Herr Bundes-
kanzler, in Ihrer Regierungserklärung noch etwas stärker
auf das Projekt eingegangen wären, das Sie für das zu-
kunftsfähigste und für die nächste Zeit wichtigste halten,
nämlich die Vertiefung der politischen Union und die Ar-
beit am Europäischen Verfassungskonvent.
Nicht ohne Grund ist ja auch der Präsident des Euro-
päischen Verfassungskonventes, den Sie ja nun wirklich
nicht als einen Antieuropäer bezeichnen können, gegen-
über einer Mitgliedschaft der Türkei, um es wieder vor-
sichtig zu sagen, außerordentlich skeptisch. Er sagt sogar,
dass sie aus seiner Sicht mit einer Vertiefung der politi-
schen Union nicht vereinbar ist.
Auch das müssen wir uns wenigstens anhören und ernst
nehmen; denn die Meinung Giscard d’Estaings ist in die-
sem Zusammenhang nicht irgendeine x-beliebige.
Für die CDU/CSU sage ich: Wir werden die Vertiefung
der politischen Union und die Arbeit am Verfassungskon-
vent intensiv begleiten, so wie wir es von Anfang an ge-
macht haben. Die Initiative für eine klare Aufteilung der
Kompetenzen kam ja nicht von ungefähr aus den Län-
dern der Bundesrepublik Deutschland und da ganz beson-
ders von den von der Union regierten, weil genau die
Frage, wer wofür verantwortlich ist, die zentrale Frage ist,
die die Bürger vor Ort interessiert, wenn sie Europa ganz
persönlich erleben. Die Frage, ob man in Zukunft noch ei-
nen staatlichen oder einen kommunalen Zuschuss zum
Bau eines Fußballstadions geben kann oder ob man damit
das europäische Wettbewerbsrecht verletzt, ist für viele
Bürgerinnen und Bürger spannender als manche Richt-
linie, die wir sonst diskutieren.
Meine Damen und Herren, es wird deshalb ganz wich-
tig sein, dass wir im Rahmen der Arbeit des Konventes zu
Strukturen kommen, die die politische Führbarkeit Euro-
pas wirklich erlebbar werden lassen. Es wird auch ganz
besonders wichtig sein, dass wir uns darüber klar werden,
in welchen politischen Bereichen wir eine Vergemein-
schaftung haben wollen und in welchen Bereichen wir die
Zuständigkeit vor Ort haben wollen. Ich plädiere übrigens
in diesem Falle dafür, nicht zu sagen: Alles, was einmal in
Europa angekommen ist, muss immer in Europa bleiben.
In einem sich vertiefenden Europa gibt es Felder, die
durchaus wieder in die nationale oder kommunale Zu-
ständigkeit zurückgeführt werden können. Auch diese
Diskussion werden wir führen.
Wir haben in unserem Antrag nicht von ungefähr rela-
tiv detaillierte Aussagen zu den Strukturen des zukünf-
tigen Europas, wie wir es uns vorstellen, gemacht. Für
uns muss zukünftig das Europäische Parlament in diesem
Zusammenhang eine zentrale Rolle in Europa spielen.
Deshalb haben wir immer wieder gefordert – ich hoffe,
das wird von der Bundesregierung übernommen –, dass
der zukünftige Kommissionspräsident vom Europäischen
Parlament gewählt werden muss. Wir können es uns nicht
vorstellen, dass das Ende einer institutionellen Debatte in
Europa darin besteht, dass zum Schluss zwar der Rat ei-
nen hauptamtlichen Präsidenten hat, aber die Kommis-
sion und ebenfalls das Parlament geschwächt aus dieser
Debatte hervorgehen. Wir können uns allenfalls vorstel-
len – das ist deshalb unser Vorschlag –, dass das Amt des
Ratspräsidenten mit dem des Kommissionspräsidenten in
Personalunion verbunden wird. Die Bedeutung beider
Institutionen würde dadurch unterstrichen, dass sie in ei-
ner Hand liegen.
Mich würde schon interessieren – das habe ich bisher
nicht gehört –, mit welcher Verhandlungsstrategie die
Bundesregierung ihren Vertreter in den Konvent schickt,
denn diese Fragen sollen und werden in den nächsten Mo-
naten entschieden. Bei all diesen Punkten – manchmal
wird ja von Blockadepolitik der Opposition geredet – sind
wir meistens vor Ihnen mit sehr konkreten Vorschläge in
die Offensive gegangen und haben damit unseren Beitrag
zu dieser Europäischen Union geleistet.
Herr Geremek hat von einem Traum gesprochen. Ich
sage: Wir müssen den Menschen in Deutschland und an-
derswo eine Vision von Europa geben. Ich habe die
Sorge, dass diese Vision von Europa in der Geschäftigkeit
der Räte manchmal verloren gehen könnte. Für mich be-
steht diese Vision in einer kulturellen Gemeinsamkeit und
in einer wachsenden Identität, einer Identität, in der wir
das Sozialstaatsmodell und unsere gemeinsame europä-
ische Auffassung von Freiheit auch in einem globalen
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
Wettbewerb gegen andere Pole dieser Welt durchsetzen,
zumindest einbringen können, um dadurch eine zentrale
Rolle zu spielen.
Ob es uns gelingt, über den Nationalstaat hinaus eine
europäische Identität zu entwickeln, wird die spannende
Frage sein, an der sich die Wettbewerbsfähigkeit Europas
und damit auch Deutschlands entscheidet. Ich möchte
nicht, dass Deutschland der „kranke Mann“ ist und derje-
nige ist, der bremst und als Erster den Stabilitätspakt in-
frage stellt, sondern ich möchte, dass Deutschland in die-
ser Sache Motor ist. Dafür werden wir eintreten und
kämpfen. Dabei werden wir konstruktiv mitarbeiten.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr.Angelica Schwall-
Düren von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich habe den Eindruck, wir sind uns einig: Der Euro-
päische Rat von Kopenhagen wird für immer als eines der
wichtigsten Ereignisse in die Geschichte Europas einge-
hen. Am letzten Wochenende haben die Staats- und Re-
gierungschefs der Europäischen Union mit der Aufnahme
von zehn neuen Mitgliedern über nicht mehr und nicht
weniger entschieden als über die Wiedervereinigung Eu-
ropas.
Wir wissen, welch großen Anteil die 40-jährige
deutsch-französische Zusammenarbeit für die Erfolge im
Prozess der europäischen Integration hat. Weder der poli-
tische Erfolg des ersten noch des zweiten Gipfels von Ko-
penhagen wären ohne den deutsch-französischen Motor
in dieser Form denkbar gewesen.
Mit der Kopenhagener Einigung beenden wir die vor
allem für unsere Nachbarn in den Beitrittsländern so leid-
volle Zeit, in der Mauern und Stacheldraht die Menschen
im Westen und im Osten Europas voneinander trennten.
Adam Michnik, einer der großen Intellektuellen und ehe-
maligen Dissidenten Polens, stellte die Ergebnisse des
Gipfels von Kopenhagen am Wochenende in direkten Zu-
sammenhang mit dem Jahr 1980, als die polnische Ge-
werkschaft Solidarnosc ihren Kampf gegen das kommu-
nistische Regime aufnahm. Erst seit dem letzten Freitag,
so sagte er, sei ihr Werk wirklich vollendet. Er erinnerte
auch daran, dass beide Entscheidungen, die Verhängung
des Kriegsrechts in Polen 1981 und die Entscheidung über
die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU, auf einen
13. Dezember fielen. Aus einem der traurigsten Daten der
polnischen Geschichte sei, so Michnik, nun auch eines der
freudigsten geworden.
Als sich 1951 Belgien, Deutschland, Frankreich, Ita-
lien, Luxemburg und die Niederlande zu den ersten Inte-
grationsschritten entschlossen, ging es darum, für das
vom Krieg zerstörte Europa Frieden und Stabilität durch
die Einbindung Deutschlands herzustellen. Der Schutz
vor dem sowjetischen Kommunismus war ein weiteres
Motiv. In einem nächsten Schritt ging es um den ökono-
mischen Wiederaufbau und die Schaffung neuen Wohl-
standes.
Nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzun-
gen ist die EU zu einem Erfolgsmodell des friedlichen Zu-
sammenlebens und des konstruktiven Interessenaus-
gleichs geworden.
Der freiwillige Zusammenschluss von Staaten und die
freiwillige Abgabe von Souveränitätsrechten an eine
überstaatliche Institution sind einmalig in der Geschichte
Europas und der Welt. All die Vorteile der europäischen
Zusammenarbeit auch jenen Menschen zugute kommen
zu lassen, die in den Zeiten des Kalten Krieges unter
staatssozialistischen Diktaturen gelitten haben, bedeutet
nichts anderes als die Einlösung eines Versprechens, wel-
ches wir bereits zu Beginn der europäischen Integration
gegeben haben: Wir haben versprochen zusammenzu-
führen, was durch den Zweiten Weltkrieg so schmerzhaft
geteilt war – sobald das historische Fenster sich öffnet.
Das waren und sind gerade wir Deutschen den Menschen
in Mittel- und Osteuropa schuldig; denn diese mussten die
Folgen des Angriffskrieges von Hitlers Armeen ohne ei-
genes Zutun am längsten ertragen.
Jean Monnets Verheißung aus dem Jahre 1952 erhält
durch die Osterweiterung der Europäischen Union da-
her eine aktuelle Bedeutung:
Wir einigen keine Staaten, wir führen Menschen zu-
sammen.
Nicht durch Gewalt und Unterdrückung, sondern durch
den freien Willen der europäischen Bürger entsteht eine
Union, deren Zusammengehörigkeit nicht auf Zwang be-
ruht, sondern auf Werten, die wir alle teilen: Frieden, De-
mokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Min-
derheitenschutz.
Wir haben allen Grund, dieses Ereignis zu feiern. Wir
haben auch allen Grund, die Leistungen der Beitritts-
länder und ihrer Bevölkerungen im Transformations-
prozess anzuerkennen. Sie alle haben einen langen und
aufopferungsreichen Weg zurückgelegt, um die EU-Bei-
trittskriterien erfüllen zu können. Die politischen Eliten
haben für ihre europapolitische Überzeugung oft sogar
ihre eigene politische Zukunft riskiert.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wie zu erwarten
war, haben wir am vergangenen Wochenende noch einmal
1192
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1193
harte Verhandlungen erlebt. Es ging wieder einmal um die
Finanzierung der Erweiterung. Gerade in Deutschland
ist diese Frage mit der Befürchtung verbunden, dass die
Bundesrepublik als Nettozahler den größten Anteil der
Erweiterungskosten zu tragen hat. Ich bin überzeugt, dass
der Kompromiss, der in Kopenhagen erreicht wurde,
keine Grundlage für solche Befürchtungen bietet; denn es
kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass ge-
rade Deutschland auch ganz praktisch von der Erweite-
rung der Europäischen Union in hohem Maße profitiert.
Durch die Fortentwicklung der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik und der europäischen Verteidigungspo-
litik ebenso wie durch die bessere Zusammenarbeit bei der
Kontrolle unserer Grenzen, bei Asyl- und Einwanderungs-
fragen, durch gemeinsame Anstrengungen zur Bekämp-
fung grenzüberschreitender Kriminalität und durch ge-
meinsame Standards beim Umweltschutz wird unser aller
Leben sicherer werden.
Gerade wir werden es sein, die wirtschaftlich in hohem
Maß von der Aufnahme der Staaten Mittel- und Osteuro-
pas in die Europäische Union profitieren. Der Herr Bun-
deskanzler hat ausdrücklich darauf hingewiesen. Höhere
Investitionen, verstärkter Kapitalverkehr und eine engere
Zusammenarbeit von west- und osteuropäischen Unter-
nehmen werden das Wachstum beschleunigen. Der Markt
von 450 Millionen Menschen wird der größte zusammen-
hängende Markt der Welt sein und Europa auch im inter-
nationalen Wettbewerb enorme Chancen bieten. Dies
wird bereits dadurch deutlich, dass der deutsche Außen-
handel mit den Ländern der Beitrittsregion im letzten
Jahr um fast 13 Prozent gewachsen ist. Das Volumen liegt
heute schon bei 141 Milliarden Euro. Damit entfällt ein
Zehntel des deutschen Außenhandels auf die Beitrittslän-
der.
Über die gegenwärtige Erweiterungsrunde hinaus sind
in Kopenhagen weitere wichtige Weichen gestellt wor-
den. Mit seiner Aussage, mit der das Ziel eines Beitritts
von Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 bestätigt wird,
gibt der Europäische Rat beiden Staaten ein positives Si-
gnal. Dieses und die bestehenden langfristigen Perspekti-
ven der Beitrittsmöglichkeit zu westlichen Institutionen
für die Staaten des westlichen Balkans tragen viel zur Sta-
bilisierung in Südosteuropa bei und weisen zugleich
über die soeben abgeschlossene Runde der Erweiterung
hinaus.
Das europäische Modell regionaler Integration und
friedlicher Zusammenarbeit kann auch dort wirken, wo
wir es auch nach 1989 noch mit kriegerischen Auseinan-
dersetzungen zu tun hatten. Durch den Stabilitätspakt
wurden den Nachfolgestaaten Jugoslawiens Perspektiven
eröffnet, die den Menschen dort zeigen, dass es sich loh-
nen kann, den demokratischen Weg zu gehen.
Ende 2004 – auch dies ist ein wichtiges Ergebnis von
Kopenhagen – wird die Europäische Union darüber ent-
scheiden – Frau Merkel ist leider nicht mehr anwesend –,
ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen
werden sollen. Klar ist – ich muss es noch einmal beto-
nen –: Auch mit der Türkei werden erst dann Beitrittsver-
handlungen aufgenommen, wenn sie die politischen Kri-
terien erfüllt.
Das Bestehen einer stabilen Demokratie sowie der Schutz
von Menschen- und Minderheitenrechten haben absolu-
ten Vorrang vor geostrategischen Überlegungen. Grund-
lage für einen Beitritt werden – wie auch im Fall der
Kandidaten der gegenwärtigen Erweiterungsrunde – die
politischen und wirtschaftlichen Kopenhagener Kriterien
sein.
Vieles spricht für eine EU-Mitgliedschaft derTürkei.
Die Türkei ist ein Land, das für die Europäische Union,
die NATO und die gesamte Weltgemeinschaft sehr wich-
tig ist. Sie liegt an der Nahtstelle zur islamisch geprägten
Welt und hat daher eine enorme geostrategische Bedeu-
tung. Die Türkei könnte ein Land werden, das eine isla-
misch geprägte Kultur mit demokratischen Grundwerten
in Einklang bringt. Gerade durch eine klare Trennung
zwischen Religion und Staat könnte die Türkei ein Vorbild
für die gesamte Region werden.
Das Argument, ein Beitritt der Türkei ließe sich nicht
mit der europäischen Identität vereinbaren, ist unzutref-
fend. Ganz abgesehen davon, dass es in Vergangenheit
und Gegenwart in Europa zahlreiche Verschränkungen
antiker, christlicher und islamischer Kultur gegeben hat,
ist die EU keine Religionsgemeinschaft. Die EU ist ein
Zusammenschluss von europäischen Staaten auf der
Basis einer säkularen Staatsform, von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und liberalen
Wirtschaftsverfassungen. Wenn die Türkei diese Bedin-
gungen erfüllt, steht ihr die Tür zur Europäischen Union
offen.
Denn die Mitgliedschaft der Türkei – auch dies muss
noch einmal betont werden – ist im deutschen und euro-
päischen Interesse. Durch ihre inklusive und nachbar-
schaftliche Symbolik würde sie das innenpolitische Kon-
fliktpotenzial auch in der Bundesrepublik reduzieren, den
politischen Extremismus schwächen, Migrationsdruck
durch ökonomische und soziale Entwicklung an Ort und
Stelle senken, bessere Voraussetzungen zur Lösung des
Kurdenproblems schaffen und dem Entwestlichungstrend
in Gestalt des neoosmanischen Islamismus durch Stär-
kung des laizistischen Staates entgegenwirken. Mit einer
politisch und wirtschaftlich integrierten Türkei könnte die
EU außerdem ein aufgeklärt islamisches Scharnier mit
Ausstrahlung in die islamische Welt erhalten.
Bereits in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die
aus diesen Erwägungen abgeleitete Heranführungsstrate-
gie der Europäischen Union für die Türkei bisher erfolg-
reich war. Erst vor kurzem hat die neue türkische Regie-
rung ein umfangreiches Reformpaket vorgelegt. Nun geht
es vor allem darum, dass die Reformen fortgesetzt und
auch tatsächlich umgesetzt werden.
Dazu gehört ganz wesentlich die Religionsfreiheit.
Dr. Angelica Schwall-Düren
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Angelica Schwall-Düren
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist klar,
dass die Erweiterung für die Europäische Union gleich-
zeitig eine enorme Herausforderung hinsichtlich der Ver-
tiefung darstellt. Die EU ist in der Verantwortung, ihre in-
neren Strukturen bis 2004 so zu verändern, dass dieser
große Erweiterungsschritt ihre Handlungsfähigkeit nicht
beeinträchtigt. Es liegt im gemeinsamen Interesse, die EU
nicht zu schwächen, sondern sie zu stärken.
Denn der fühlbare Verlust staatlicher Souveränität ist das
Ergebnis einer entgrenzten Ökonomie, der grenzüber-
schreitenden Folgen von Umweltdesastern und der infor-
mationstechnologischen Revolution. Die Globalisierung
erodiert den Nationalstaat. Die Vertiefung der EU bedeu-
tet daher nicht die Aufgabe von Souveränität, sondern ist
unter den veränderten internationalen Bedingungen für
alle am Integrationsprozess Beteiligten der einzige Erfolg
versprechende Versuch, Souveränität zurückzugewinnen
bzw. zu erhalten.
Das Projekt der Erweiterung muss also durch eine um-
fassende ReformderUnion ergänzt werden. Dazu gehören
im Grundsatz sowohl die Intensivierung der Integration als
auch eine stärkere Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips.
Das wird in den nächsten Jahren die versammelte europä-
ische Staatskunst erfordern. Deutschland wird hier einen
entscheiden Beitrag leisten.
Dazu gehört vor allem die Umsetzung konkreter Schritte.
Wir müssen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-
litik sowie die europäische Verteidigungspolitik entschei-
dend fortentwickeln. Bundesminister Fischer hat gemein-
sam mit seinem französischen Amtskollegen de Villepin
einen Vorschlag erarbeitet, der eine hervorragende Grund-
lage zur Weiterentwicklung der ESVP im Sinne eines um-
fassenden Sicherheitskonzeptes mit zivil-militärischen
Instrumenten bietet.
Die Herausforderungen der globalisierten Welt verlan-
gen von uns Europäern mehr denn je, dass wir unser wirt-
schaftliches Gewicht gemeinsam in die Waagschale wer-
fen. Deshalb wollen wir im Sinne der Lissabonstrategie
das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell weiter
stärken.
Bereits seit einiger Zeit ist klar geworden, dass es mit
den für sechs Staaten konzipierten Institutionen nicht
möglich sein wird, den Anforderungen der EU 15 und erst
recht nicht der EU 25 Genüge zu tun. Deshalb muss nun
eine Grundlage für das weitere Funktionieren der Euro-
päischen Gemeinschaft gefunden werden. Die EU braucht
ein auf Dauer tragfähiges Verfassungsfundament. Die
Arbeiten dazu haben im Konvent begonnen. Es ist wich-
tig, dass erstmals die nationalen Parlamente daran betei-
ligt sind und dass auch die Beitrittskandidaten Teil des
Konvents sind.
Wir haben nun durch den Präsidenten des Konvents ei-
nen ersten Verfassungsentwurf, vielmehr ein Gerüst, vor-
gestellt bekommen, das als Grundlage für die weiteren Ar-
beiten dienen kann. Mein Fraktionskollege Michael Roth
wird noch detailliert darauf eingehen, welche Erwartun-
gen wir zur Stärkung von Partizipation und Handlungs-
fähigkeit in der EU an eine europäische Verfassung stel-
len.
Ich bin davon überzeugt, dass in Kopenhagen Histori-
sches geleistet wurde. Die vor uns liegenden Aufgaben
haben wir alle im Blick. Wir können aus dem großen Er-
folg des vergangenen Wochenendes die nötige Kraft
schöpfen, um diese Aufgaben anzupacken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gerhardt,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich in
Kopenhagen ereignet hat, ist ein Stück Geschichte, hat
eine große Bedeutung und ist der entscheidende Schritt
zur Wiedervereinigung Europas.
Deswegen sollten wir jetzt manche vorherigen Gipfelver-
anstaltungen, die sich nach unserer Überzeugung mit Fi-
nanzfragen nicht so effektiv befasst haben, und auch den
sehr schwierigen – um nicht zu sagen: zum Teil fehlge-
schlagenen – Gipfel von Nizza, der sehr wenig zur mög-
lichen späteren Vertiefung beigetragen hat, einmal ver-
gessen.
Was für uns Deutsche wichtig ist, ist die große Zu-
kunftsinvestition, die in unserem wohlverstandenen na-
tionalen Interesse liegt. Es muss ausgedrückt werden,
dass sie viel mehr Chancen als Risiken hat.
Das ist der Kern des Gipfels von Kopenhagen. Sie bietet
nicht nur ökonomische Chancen, sondern auch Chancen
für die Erweiterung unserer Freiheit und unserer Sicher-
heit, die weit über die soziale Sicherheit hinausgeht. Sie
bietet mehr und mehr Menschen weitere Chancen.
An diesem Prozess waren viele beteiligt. Einige Na-
men sind schon genannt worden: Das waren die Solidar-
nosc und eine Persönlichkeit wie Václav Havel. Das war
das mutige Vorgehen der Ungarn und das waren die Bür-
gerinnen und Bürger in der früheren DDR. Das war ein
Stück Tabubruch der alten Deutschlandpolitik in der al-
ten Bundesrepublik Deutschland auch durch meine Partei.
Das waren Willy Brandt und Walter Scheel mit den Ver-
tragsbindungen zu Osteuropa.
Das war ein anfänglich mit kritischen Augen betrachteter
Helsinkiprozess, den Hans-Dietrich Genscher mit einge-
leitet hat und dem niemand zugetraut hat, dass er solche
1194
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1195
lawinenartige Drücke auf Herrschaftsregime im Osten
entfaltet.
Wir sollten auch ein Stück Frieden machen mit man-
chen innenpolitischen Diskussionen der Vergangenheit
über Außenpolitik. Es gab Situationen, in denen die Sozi-
aldemokratische Partei gänzlich anderer Meinung war als
wir, und es gab Situationen, in denen sie unserer Auffas-
sung war. Dieselbe Differenz gab es zur Union. Ich will in
diesem Zusammenhang nur eine Randbemerkung ma-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die einzige Partei, die beide
Schritte der Deutschlandpolitik mitgestaltet hat, ist die
FDP im Deutschen Bundestag.
Jetzt haben wir diese großartigen Chancen und da stellt
sich die Frage, was wir damit anfangen. Welche Poten-
ziale haben wir? Wie gliedern wir uns in strategische welt-
politische Überlegungen ein? Was können wir anderen an
Stabilität bieten? Zuallererst muss ich sagen: Es wird eine
unglaublich ehrliche Überzeugungsarbeit zur wirklichen
Vertiefung der Europäischen Union notwendig sein,
auch in der Bundesrepublik Deutschland. Wir als Freie
Demokraten haben uns nie vorgestellt, dass es eine Art all-
gemeiner Mitgliederverein ist. Wer an dem Gipfel in Ko-
penhagen teilgenommen hat und genau hinhörte, muss
auch wissen, dass er auch in Westeuropa noch viel Über-
zeugungsarbeit zu leisten hat.
Es sind viele zu uns in die Europäische Union gekom-
men, die der europäischen Familie angehören wollen und
die sich geradezu danach gesehnt haben, ihre Chancen zu
ergreifen. Aber manche haben nur sehr vage Vorstellun-
gen, was das wirklich – auch für uns – bedeutet. Deshalb
will ich es hier ansprechen. Eine Vertiefung Europas wird
nur gelingen, wenn die alten Nationalstaaten zu einem
wirklichen Souveränitätsverzicht bereit sind
und wenn sie es nicht als eine Prestigeangelegenheit an-
sehen, über die eine oder andere Frage noch in ihrem al-
ten nationalen Gehäuse entscheiden zu können. Das wird
ein Gedankensprung werden, den viele in Westeuropa
noch nicht vollzogen haben. Ich höre manche Stimmen,
die dauernd für Neuaufnahmen plädieren – manche plä-
dieren auch für eine zügigere Aufnahme der Türkei –, bei
denen ich das Gefühl habe, sie entschuldigen sich für Ver-
tiefungsaufgaben, die wir wahrzunehmen haben.
Deshalb muss an dieser Stelle darauf hingewiesen wer-
den: Eine Erweiterung ohne eine klare, konkrete Vertie-
fung, ohne eine eigene europäische Identitätsfeststellung
und ohne eine Beschreibung des eigenen Profils wird die
Europäische Union nicht erfolgreich durchführen können.
Das ist die Kernaufgabe, vor der wir stehen.
Im Übrigen können wir uns heute Morgen in Bezug auf
die Vertiefungsaufgabe manche innenpolitische Diskus-
sion ersparen. Wenn die Europäische Union wirklich ver-
tieft werden soll, dann wird das deutsche Modell der So-
zialpolitik und der kollektiven Systeme sowie das, was
Rot-Grün in der Wirtschaftspolitik macht, nicht zu halten
sein. Selbst wenn Rot-Grün hier eine Mehrheit hat, wird
ihnen das zerrinnen.
Die Vertiefung wird alle zu Veränderungen zwingen.
Sie wird eine Vertiefung sein müssen, die die beiden fol-
genden Dinge nicht enthalten kann: einerseits zu glauben,
wir seien noch die alten Nationalstaaten, und andererseits
europäisch agieren zu wollen, ein Global Player sein zu
wollen, Europa wiedervereinigen und Stabilitätsbrücken
zu den Ländern des Barcelona-Prozesses bis hin zu Israel
und der Türkei bilden zu wollen.
Vor uns liegt noch die Frage bezüglich einer Perspek-
tive für die Ukraine, Weißrussland und Russland. Es ist
bisher nicht darüber diskutiert worden, wie wir uns dieser
Frage nähern. Wir haben für Bosnien-Herzegowina,
Kroatien und Serbien eine Perspektive. Wir haben eine für
Bulgarien und Rumänien genannt. Ich warne davor: Wir
werden im Hinblick auf die Vertiefung Probleme bekom-
men, wenn wir diese Fragen nicht strategisch gliedern.
Deshalb ist über die Frage „Vertiefung oder Erweiterung“
offen zu diskutieren. Wir müssen erst einmal die jetzige
Situation der Europäischen Union verarbeiten.
Im Übrigen – ich sage das nicht kritisch, Herr Bundes-
kanzler – sollte mit allen politischen Kräften in Deutsch-
land, also auch mit uns, besprochen werden, wie wir ge-
meinsam den Prozess der Referenden, die jetzt in vielen
anderen Ländern stattfinden müssen, begleitend unter-
stützen, damit sie zum Erfolg geführt werden. Das ist eine
wichtige Aufgabe.
Ein weiterer Punkt ist der Stabilitätsexport. Ich bin
der tiefen Überzeugung, dass die Europäische Union ge-
nau das tun muss. Sie haben es in Ihrer Regierungser-
klärung angesprochen. Das erwartet man von uns. Wir
sollten diese Aufgabe wirklich verantwortungsbewusst
übernehmen.
Ich warne aber davor, beim Stabilitätsexport durch die
Europäische Union nur in Kriterien von Mitgliedschaften
in der Europäischen Union zu denken. Deshalb bin ich
etwas zögerlich in der abschließenden Bewertung der
Frage der vollen Mitgliedschaft, der Mitgliedschaft minus
einiger Teilhabemöglichkeiten oder eines besonderen
Partnerschaftsverhältnisses zur Türkei.Wir sollten diese
Diskussion wieder führen, wenn der Evaluationsbericht
der Kommission 2004 auf der Tagesordnung steht. Bis da-
hin wäre ich vorsichtig, jemandem falsche Hoffnungen zu
machen. Denn die türkische Führungselite – wir beo-
bachten seit Jahren, dass sie durchaus den Willen hat, einen
europäischen Weg einzuschlagen – hat noch die gewaltige
Aufgabe vor sich, diesen Weg gesamtgesellschaftlich
wirklich abzusichern. Wenn sie ihn absichert, wird nicht
nur die Fragestellung der Türkei auftreten. Vielmehr wird
auch die Fragestellung anderer Länder – und dies bis hin
zu Israel – auftreten, wie die Partnerschaftsbrücke dann
Dr. Wolfgang Gerhardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Gerhardt
aussieht. Viele nordafrikanische Staaten stehen in alter,
historischer, wenn auch nicht immer nur glücklicher Ver-
bindung zu unserem großen Partner Frankreich. Das
heißt, Stabilitätsexport ja, aber differenziert, nicht ein-
heitlich und nicht als Raster. Die Frage nach einer Mit-
gliedschaft ist dann aufzurufen, wenn wir ein klareres
Bild haben.
Welche Potenziale Europa hat – darauf will ich abschlie-
ßend zu sprechen kommen –, stellen wir uns selbst mög-
licherweise noch nicht vollständig vor. Die Europäische
Union ist nach meiner Überzeugung weltweit das beste
und überzeugendste Beispiel für viele Erdteile, die gera-
dezu bewundern, dass es einem Kontinent, der, wie in den
Geschichtsbüchern nachlesbar, noch vor einem halben
Jahrhundert große Konflikte hatte, gelungen ist, einen
Mechanismus der Zusammenarbeit und der Konflikt-
regelung sowie eine einheitliche Währung zu ent-
wickeln. Unsere amerikanischen Freunde haben das nie
für möglich gehalten. Die Teilung des Kontinents musste
überwunden werden. Manchmal setzen andere größere
Hoffnungen in uns als das, was wir uns selbst zutrauen.
Deshalb sollte sich die Europäische Union nicht nur
mit Butterbergen und Milchseen beschäftigen. Ob wir bis
2013 die Agrarausgaben in der derzeitigen Höhe halten
können, das ist zwar für die Zukunftssicherung der Men-
schen im ländlichen Raum wichtig. Aber nach dem Gip-
fel in Kopenhagen wissen wir, dass wir ein geostrategi-
scher Player sind. Weltpolitisch haben wir aber noch nicht
richtig laufen gelernt.
Herr Bundeskanzler, die Europäische Union wird Sta-
bilitätsexport nur betreiben und eine geostrategische
Rolle nur wahrnehmen können, wenn sie sich klar wird,
mit wem sie dies tun will. Damit spiele ich darauf an, dass
es allerhöchste Zeit wird, die Misstöne zwischen Berlin
und Washington ein für alle Mal zu beseitigen, wenn wir
diese Potenziale nutzen wollen.
Angesichts der Bemerkungen, die meine Kollegin Merkel
vorhin zu AWACS und anderem gemacht hat, und der Be-
merkungen zu den Spürpanzern und alledem frage ich
mich heute, ob es nötig war, so Wahlkampf zu führen,
wenn jetzt langsam die Tatsachen erkennbar werden. Dies
sei aber nur eine Fußnote.
Wenn die Europäische Union eine große weltpolitische
Rolle spielen will, kann sie das nur mit begleitender Part-
nerschaft im transatlantischen Bündnis mit den Verei-
nigten Staaten von Nordamerika und mit Kanada. Sonst
wird sie sie nicht wahrnehmen können.
Das hat zwei Seiten. Auch unseren amerikanischen
Freunden sollte man sagen: Eine singuläre Supermacht
wird nicht weltweit erfolgreich sein, wenn sie nicht be-
gleitende Abstützung sucht. Wir haben 40 Prozent des
Weltsozialprodukts in diesen beiden transatlantischen
Partnern. Wir würden einen großen historischen Fehler
machen, wenn wir damit nicht für alle Menschen auf die-
ser Welt etwas Vernünftiges anfangen würden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen heute über einen wahrhaft histo-
rischen Gipfel, über den Gipfel von Kopenhagen, der den
Weg für die große Erweiterung der Europäischen Union
frei gemacht hat. Die Europäische Union ist die historisch
richtige Antwort auf die leidvollen Erfahrungen von Ge-
nerationen von Menschen in Europa: durch kriegerische
Auseinandersetzungen, durch Nationalismus und durch
religiösen Fundamentalismus, der die Menschen auf die-
sem Kontinent über lange Zeiten gequält, gefoltert, aus
dem Land getrieben, ermordet hat. Deshalb ist die euro-
päische Integration nach 1945 und nach 1989 in erster Li-
nie ein Friedensprojekt.
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, das nach
Osten und nach Süden noch nicht abgeschlossen ist.
Weil dieser Frieden so unbezahlbar ist, weil diese Er-
weiterung für uns keine Pflichtübung gegenüber der Ge-
schichte, sondern die große Chance am Beginn dieses
Jahrhunderts ist, die wir mitgestalten können, die wir aber
auch mitverantworten müssen, ist es wichtig, dass wir uns
bewusst machen, dass wir die Menschen in diesem Pro-
zess mitnehmen müssen. Diese Erweiterung wird nicht
gelingen, wenn es uns nicht gelingt, die Menschen in Eu-
ropa in diesem Prozess mitzunehmen. Das nächste Jahr
wird dabei sehr entscheidend sein; denn in fast allen Bei-
trittsstaaten sind Referenden über die Erweiterung zu ge-
winnen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich in den Bei-
trittsstaaten nach der anfänglichen Euphorie längst eine
differenzierte und auch durchaus EU-kritische öffentliche
Meinung gebildet hat. Daher ist es wichtig, soweit wir
überhaupt die Möglichkeit haben, auf diese Prozesse Ein-
fluss zu nehmen, diejenigen in den Beitrittsstaaten zu un-
terstützen, die sich für Europa, die sich für die europä-
ische Integration aussprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen
uns natürlich – gerade in unserem eigenen Land – auch
um die kümmern, die dem Erweiterungsprozess kritisch
und skeptisch gegenüberstehen. Wir müssen die Ängste
dieser Menschen ernst nehmen. Wir müssen ihnen die
Kraft unserer Argumente gegenübersetzen. Das ist in die-
ser Debatte deutlich geworden. Kollege Gerhardt hat es
angesprochen: Der Erweiterungsprozess hat mehr Chan-
cen als Risiken. Aber wir müssen diese Risiken benennen
können, um Vertrauen zu gewinnen. Wir müssen das Eu-
ropa des solidarischen Entwickelns von Wohlstand, des
pfleglichen Umgangs mit Ressourcen, das Europa, das in-
1196
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1197
tegrieren, Minderheiten schützen und Frieden sichern
will, dagegen stellen. Es ist alternativlos, aber es ist nicht
deshalb alternativlos, weil es das kleinere Übel ist, son-
dern weil es genau die Perspektive ist, die den Menschen
Europa näher bringt und die Lebensqualität und die öko-
logische Qualität auf diesem Kontinent nachhaltig sichert.
Dieses Ernstnehmen von Ängsten bedeutet aber auch,
dass wir eine harte Auseinandersetzung mit all den Popu-
listen führen müssen, die die Ängste der Bevölkerung be-
nutzen, um ihre nationalistische, ihre undemokratische
Propaganda zu verbreiten, um dieses einzigartige Pro-
jekt zu zerschlagen oder zum Stillstand zu bringen. Diese
populistische Argumentation müssen wir entschieden
bekämpfen.
Mit großer Spannung wurde darauf gewartet, welche
Botschaft von Kopenhagen in Richtung Türkei ausge-
sandt wird. Das von Kopenhagen ausgegangene Signal ist
richtig und notwendig, denn die Türkei brauchte die Be-
stätigung, dass sie in der Europäischen Union willkom-
men ist. Das ist das Signal: Wenn die Türkei die Kriterien
erfüllt, ist sie willkommen.
Aber es ist auch richtig, dass wir der Türkei noch weitere
zwei Jahre Zeit lassen, damit sich der politische Prozess
in der Türkei weiterentwickeln kann, weil die Türkei die
Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Es ging aber
auch darum, der Türkei sehr deutlich zu sagen: Wenn ihr
die Kriterien erfüllt, dann können diese Verhandlungen
beginnen und dann werden sie beginnen.
Für uns ist ein ganz wichtiger Gradmesser für die De-
mokratisierungsbereitschaft der Türkei und für die Ernst-
haftigkeit der Reformpolitik, wie weit die Türkei es
tatsächlich schafft, die Menschenrechte zu sichern, Folter
zu beenden, politische Gefangene freizulassen und die
Gleichberechtigung der kurdischen Bevölkerung tatsäch-
lich durchzusetzen, und zwar nicht nur auf dem Papier. Es
geht nicht nur darum, diese Durchsetzung der Menschen-
rechte in der Türkei gesetzlich zu regeln, sondern sie muss
in der türkischen Gesellschaft Wirklichkeit werden. Da-
rum muss es uns gehen und daran werden wir die Türkei
messen.
Liebe Frau Kollegin Merkel, Ihre wortreichen Aus-
führungen zur Türkei waren durchgängig von der tiefen
Frustration der CDU/CSU gekennzeichnet, dass sie in die-
ser Frage europaweit selbst im konservativen Lager total
isoliert ist.
Sie, Frau Merkel, haben es zugelassen, dass Roland Koch
die Türkeifrage zu Wahlkampfzwecken instrumentali-
siert. Das, was Herr Koch in Hessen gemacht hat, ist
nichts anderes als eine Kampagne zulasten der bei uns le-
benden Türken und Kurden und anderer Ausländer.
Wenn Herr Stoiber von sich gibt, die Türkei passe nicht in
die Europäische Union, weil sie nicht an der europäischen
Geschichte der Aufklärung teilgenommen hat, dann will
er damit die Türkei aus der westlichen Welt ausgrenzen.
Das ist Ausgrenzungspolitik und gegen diesen Kampf der
Kulturen wenden wir uns ganz entschieden. Ausgrenzung
bedeutet immer auch ein Stück weitere Radikalisierung.
Ausgrenzung bedeutet in der Konsequenz weitere An-
wendung von Gewalt. An dieser Spirale dürfen wir nicht
drehen.
Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen Moderni-
sierung und Demokratisierung mit kultureller Vielfalt.
Das ist das Ziel, dem sich Europa verpflichtet fühlen
muss. Für uns ist die Europäische Union ein Zukunfts-
projekt, das weder als exklusiver christlicher Verbund
konzipiert noch als monolithischer kultureller schwarzer
Block definiert ist. Darüber gibt es auch in der Europä-
ischen Union bis in die konservativen Parteien hinein
große Einstimmigkeit.
In den Grundpfeilern der Europapolitik haben wir in
diesem Hause viele Gemeinsamkeiten gehabt. Lassen Sie
uns mit diesen Gemeinsamkeiten bezüglich der Grund-
pfeiler der europäischen Integration ausgesprochen pfleg-
lich umgehen und sie nicht kurzfristigen parteipolitischen
Interessen opfern!
Wir müssen nicht nur über die Frage der Mitglied-
schaft, sondern auch darüber diskutieren, wie die Europä-
ische Union, deren Grenzen sich nicht geographisch, son-
dern politisch verändern, ihre Nachbarschaft organisiert.
Das ist natürlich ein Bereich, der insbesondere für den
Balkan, aber auch für den östlichen Teil Europas wichtig
ist.
Ausdruck dieser künftigen Nachbarschaftsarchitek-
tur ist sicherlich die verstärkte Verantwortung, die die Eu-
ropäische Union jetzt in Friedensmissionen auf dem Bal-
kan übernehmen wird. Das ist ein Prozess, den wir
unterstützen. Die in Kopenhagen gefundene Einigung zu
einer EU-NATO-Dauervereinbarung stellt einen Mei-
lenstein auf dem Weg zu einer wirklichen europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik dar. Auch das un-
terstützen wir.
Wir haben im Verhältnis zu Russland mit der Eini-
gung, die zu Kaliningrad gefunden worden ist, eine er-
mutigende Regelung gefunden. Ich sage aber auch sehr
deutlich: Der Weg zu einem gutnachbarlichen Verhältnis
zwischen der Europäischen Union und der Russischen
Föderation ist beschwerlich und weit. Ich erinnere in die-
sem Zusammenhang an die Tschetschenienfrage, die für
uns ganz wichtig ist. Zu guter Nachbarschaft gehört, dass
Rainder Steenblock
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Rainder Steenblock
die Nachbarn die Menschenrechte in ihren Ländern ak-
zeptieren und sich für ihre Einhaltung einsetzen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Erweiterung
bedeutet nicht nur Veränderung nach außen, sondern er-
fordert auch Reformen nach innen. Der Agrarkompro-
miss zum Beispiel, der in Paris den Weg für Kopenhagen
freigemacht hat, war vielleicht notwendig, aber ich sage
hier auch sehr deutlich, dass der Agrarkompromiss nicht
das Ende der gemeinsamen Agrarpolitik in Europa dar-
stellen kann. Wir wünschen uns weitere konkrete Re-
formschritte für eine Agrarpolitik, die an der Entwicklung
der ländlichen Räume orientiert ist.
Hier muss Zukunftsfähigkeit gewährleistet werden, in-
dem die ländlichen Räume wieder attraktiv werden, dort
Arbeitsplätze und eine lebensfähige Infrastruktur ge-
schaffen werden. Wir wollen eine Agrarpolitik, die sich an
den Verbraucherinteressen orientiert und dabei hohe Um-
welt- und Tierschutzstandards einhält.
Wir wollen eine Agrarpolitik, die auch international in
den Globalisierungsprozessen, also in den WTO-Ver-
handlungen, tatsächlich die Perspektive für eine globale
Gerechtigkeit eröffnen wird. Das ist eine Agrarpolitik, die
die handelsverzerrende Wirkung der Direktzahlungen ab-
baut. Es ist eine Agrarpolitik, die sich von den Direktzah-
lungen abwendet und einer Modulation und Förderung
der ländlichen Räume und der umwelt- und tierschutzge-
rechten Landwirtschaftspolitik zuwendet. In diese Rich-
tung müssen wir weitergehen und nicht die Direktzahlun-
gen als Ultima Ratio der Landwirtschaftspolitik erhalten.
Deshalb glauben wir, dass die Vorschläge, die Agrar-
kommissar Fischler gemacht hat, eine gute Grundlage für
weitere Reformüberlegungen bieten. Wir wollen darüber
hinaus die Strukturfonds als Ausdruck von Solidarität für
die besonders bedürftigen Regionen in Europa weiterent-
wickeln.
Die Frage nach der politischen Vertiefung der Europä-
ischen Union ist von der Erweiterung nicht zu trennen.
Deshalb tagt der Konvent seit Februar dieses Jahres. Er
wird eine europäische Verfassung vorlegen. Wir unter-
stützen dieses Projekt nachdrücklich, weil wir wollen,
dass die Bürgerinnen und Bürger die europäische Verfas-
sung als ihr Projekt empfinden. Sie sollen spüren, dass
dort Bürgerrechte verankert sind und von Solidarität und
Nachhaltigkeit gesprochen wird. Das müssen zentrale Im-
plikationen einer europäischen Verfassung sein.
Wir wünschen uns, dass die Menschen in Europa dar-
über in einem Referendum abstimmen, weil es um ihre
Zukunftsperspektiven geht.
Unstreitig ist, dass Kern der Verfassung die Europä-
ische Grundrechte-Charta werden soll. Unstreitig ist
auch, dass das Europäische Parlament und die Kommis-
sion gestärkt werden müssen.
Eine Reihe von anderen Gesichtspunkten sind gerade
uns Grünen ganz besonders wichtig: Ökologie und
Nachhaltigkeitsprinzip. Wir wollen aber auch – das sage
ich an dieser Stelle sehr deutlich –, dass der Euratom-
Vertrag im Sinne der europäischen Verfassung abge-
wickelt wird und dass wir eine europäische Energiepoli-
tik bekommen, die ihre Schwerpunkte auf regenerative
Energien setzt.
Wir setzen uns dafür ein, dass das europäische Modell
ein Modell der Solidarität wird, dass Solidarität und so-
ziale Marktwirtschaft Eingang in die Verfassung finden.
Deshalb begrüße ich, dass der Konvent eine Arbeits-
gruppe zu sozialen Fragen eingerichtet hat.
Abschließend dazu sage ich: Natürlich wollen wir, dass
direktdemokratische Elemente, Möglichkeiten der direk-
ten Beteiligung von Menschen in Europa, in der Verfas-
sung verankert werden, um die demokratische Legitimie-
rung zu stärken und die Bürgerinnen und Bürger besser an
die europäische Ebene zu binden. Dazu gehört auch, dass
wir uns hier in diesem Hause und im Konvent den Fragen
der Subsidiarität stellen. Die Frage, welche Entscheidung
auf welcher Ebene getroffen wird, ist eine der Zukunfts-
fragen, um Europa für die Menschen tatsächlich lebbar
und attraktiv zu machen.
Wenn wir die Subsidiarität nicht in der Verfassung ver-
ankern, werden uns die Menschen davonlaufen. Deshalb
sollten wir an diesen Stellen zusammenarbeiten.
Über die Politik bezüglich der Zukunft Europas kön-
nen wir uns bei den Fachpolitiken wie Umweltpolitik,
Verkehrspolitik usw. trefflich streiten. Wir sollten aber
gemeinsam dafür eintreten, dass die Perspektive eines
friedlichen Europas durch Integration als stabilisierender
Faktor in den globalen Entwicklungsprozessen erhalten
bleibt. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen wie für
ein Europa, das mit den Ressourcen auf dem eigenen Kon-
tinent pfleglich umgeht,
für ein Europa, das das solidarische Miteinander bei der
Sicherung und Verteilung des Wohlstandes in Europa auf
seine Fahnen schreibt. Wenn es diese Solidarität im Mit-
einander des Verteilens in Europa nicht gibt, dann werden
all die positiven Vorstellungen zu Europa, die wir hier
geäußert haben, keine Zukunft haben. Deshalb lassen Sie
uns an dieser Stelle gemeinsam für dieses Europa der
Menschen kämpfen.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
1198
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1199
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der Gipfel von Kopenhagen hat gezeigt, dass gerade
die kleinen Mitgliedstaaten oft die größten Beiträge zur
Integration Europas leisten. Der dänischen Präsident-
schaft ist in der schwierigen Schlussphase der Beitritts-
verhandlungen ein Interessenausgleich gelungen, der den
historischen Schritt der Wiedervereinigung Europas mög-
lich macht.
Die Erweiterung ist für alle in der Europäischen Union
politisch, ökonomisch und kulturell ein großer Gewinn.
Ich möchte auch im Namen meiner Fraktion dem däni-
schen Premierminister Anders Fogh Rasmussen und sei-
ner Regierung der bürgerlichen Mitte zu diesem erfolg-
reichen Gipfel herzlich gratulieren.
Im Vorfeld des Gipfels ist heftig über Geld gestritten
worden. Auch die Bundesregierung hat mit markigen
Worten Missverständnisse riskiert. Ich möchte deshalb
ausdrücklich betonen, dass die Aufwendungen für die Er-
weiterung eine gute Investition in eine verlässliche Zu-
kunft sind und dass wir froh sind, diese Investition zu täti-
gen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist gerade für Deutschland ein beruhigendes Ge-
fühl, auch an seiner Ostgrenze Freunden und Partnern zu
begegnen, die die gleichen Ziele verfolgen: Frieden, Si-
cherheit und Wohlstand in funktionierenden Demokratien
und mit markwirtschaftlichen Strukturen. Deutschland
rückt mit dieser Erweiterung in die Mitte der Europä-
ischen Union. Wir werden nicht zuletzt auch wirtschaft-
lich davon profitieren. Dies ist das einhellige Urteil füh-
render deutscher Ökonomen.
Angela Merkel hat schon heute Morgen zu Recht auf
die Gefährdungen hingewiesen, denen der Stabilitäts-
pakt ausgesetzt ist oder ausgesetzt sein könnte. Lassen
Sie mich zum Stabilitätspakt und zur Währungsunion ei-
nen zentralen Gedanken entwickeln. Es ist ein Alarmsig-
nal, dass die „Financial Times Deutschland“ in diesen Ta-
gen getitelt hat: „Deutschlands Top-Bonität wackelt“.
Dass die drei führenden Ratingagenturen erwägen,
Deutschland in seiner Bonität abzustufen, ist nicht nur
eine weitere Schlappe für die Finanzpolitik der Bundesre-
gierung, sondern – viel schlimmer – es zeigt auch das
schwindende Vertrauen der Weltfinanzmärkte in die Re-
formfähigkeit dieser Regierung. Ein weiteres Alarmzei-
chen ist, dass der „Economist“ festgestellt hat: Durch die
Konjunkturschwäche Deutschlands wird Westeuropa im
kommenden Jahr das niedrigste Wachstum einer Weltre-
gion aufweisen. Durch die Fehler dieser Regierung zieht
Deutschland zurzeit die Wirtschaft der Europäischen
Union in die Tiefe. Das ist eine sehr bedenkliche Ent-
wicklung, die dringend korrigiert werden muss.
– Der kommt jetzt, Herr Kollege Schmidt. Ich freue mich,
dass Sie ihn freudig erwarten.
Mit der Erweiterung wird nur etwa die Hälfte der
EU-Staaten zur Eurozone gehören. Hieraus ergibt sich
eine besondere Verpflichtung; denn die Währungsunion
verbindet die beteiligten Mitgliedstaaten in einer beson-
ders engen Weise. Die Währungsunion bildet Kerneuropa.
Zur Bewältigung ihrer besonderen Aufgabe bedarf es ei-
ner besonderen Institution, etwa eines offiziellen Euro-
rates, nicht nur eines informellen, wie es ihn im Moment
gibt. Deutschland sollte sich wieder zum Hüter der
Währungsunion entwickeln und mit konstruktiven Vor-
schlägen dafür sorgen, dass die Eurozone auch in Zu-
kunft Zentrum wirtschaftlicher und politischer Stabilität
wird, die auf ganz Europa, auf die ganze Europäische
Union ausstrahlt.
Lassen Sie mich auch ein Wort zu unserem Umgang
mit unserer gemeinsamen Geschichte sagen. Wir wissen
um das dramatische Unrecht, das im deutschen Namen
den Staaten in Mittel- und Osteuropa angetan wurde. Da
gibt es keinen Vergleich und keine Verrechnung. Zur Wer-
tegemeinschaft Europa gehört auch,
jegliche Vertreibung für Unrecht zu erklären und jedem
Menschen das Recht auf die Heimat zuzubilligen. Es wäre
schön – das ist meine hoffnungsvolle Erwartung –, wenn
es hier zu einer versöhnlichen Geste käme.
Heute Morgen ist hier sehr viel über die Türkei gestrit-
ten und diskutiert worden.
Ich möchte auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns
gestern im Nachgang zum Gipfel in Kopenhagen aus
Ankara erreichte. Der türkische Außenminister hat ges-
tern ausweislich einer Pressemeldung der türkischen
Nachrichtenagentur Anatolia erklärt, die Türkei wider-
spreche den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates
von Kopenhagen im Hinblick auf Zypern und die Türkei
spreche der Europäischen Union das Recht ab, über die
Zukunft Zyperns zu entscheiden. Das ist ein arger Miss-
klang im Nachgang zu diesem Gipfel. Ich erwarte, dass
die Bundesregierung die gleiche Energie, die sie in ei-
nen Beitrittsverhandlungstermin gesteckt hat, dafür
aufbringt, mit unseren Partnern in der Türkei darüber zu
sprechen, dass der künftige Weg für Zypern selbstver-
ständlich ein Weg innerhalb der Europäischen Union ist
und bleiben wird.
Im Zusammenhang mit dem Beitrittswunsch der
Türkei wird immer wieder die These aufgestellt, die
Europäische Union sei kein christlicher Klub. Frau
Dr. Schwall-Düren hat heute Morgen davon gesprochen,
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Peter Hintze
dass die Europäische Union keine Religionsgemein-
schaft sei.
Das ist eine Selbstverständlichkeit, der zuzustimmen
leicht fällt. Bei diesem wichtigen Thema sollten wir aber
doch einmal einen Moment lang den Zusammenhang zwi-
schen Religion und Politik untersuchen und ihn nicht ein-
fach beiseite schieben. Ich rate zu einer gründlichen Un-
terscheidung zwischen der Glaubensfreiheit auf der einen
Seite und der kulturprägenden Wirkung des Christentums
und des Islam auf der anderen Seite. Kulturelle Unter-
schiede zu achten, aber auch zu beachten, ist, wie ich
finde, nicht nur sinnvoll, sondern wichtig und richtig. Der
Bundeskanzler hat vor einem neuen Kulturkampf ge-
warnt. Es ist alles andere als Kulturkampf, sondern gera-
dezu eine kulturelle Notwendigkeit, die unterschiedlichen
Ausprägungen von zwei großen Hochkulturen zu achten,
ernst zu nehmen, aber auch auf ihre Auswirkungen zu ach-
ten.
Die Europäische Union ist weltanschaulich neutral, aber
von ihren Werten her eindeutig vom europäischen Men-
schenbild bestimmt, das zum einen durch die Aufklärung
und zum anderen durch die christliche Anthropologie ge-
prägt ist. Daraus entwickelten sich das Verständnis der un-
antastbaren Menschenwürde, die Menschenrechte, die
Gleichheit von Frau und Mann, die rechtsstaatliche Demo-
kratie, die Pressefreiheit und schließlich die soziale Markt-
wirtschaft.
– Herr Kollege Beck, sie rufen gerade „Säkularisierung“
dazwischen. Wenn Sie diesen Zwischenruf ernst meinen,
dann heißt das nichts anderes, als dass diese Werte, die aus
dem christlichen Verständnis erwachsen sind, heute für
viele Menschen – das gilt wahrscheinlich auch für Sie –
keine religiöse Begründung mehr haben. Sie brauchen als
Werte an sich auch keine religiöse Begründung mehr, aber
sie haben eine bestimmte Prägung erfahren.
Wenn Sie sich in islamischen Staaten und in früher christ-
lich geprägten Staaten umschauen, dann werden Sie fest-
stellen, dass die Einstellung zur Demokratie, zu Men-
schenrechten, zur Pressefreiheit und zur Glaubensfreiheit
unterschiedlich ist.
Bisher gibt es keinen islamischen Großstaat auf der Erde,
der unsere Werteordnung praktiziert.
Damit wir uns richtig verstehen: Wir unterstützen mit
großer Anstrengung die europafreundlichen und demo-
kratieorientierten Kräfte in der Türkei. Die Türkei ist ein al-
ter Freund Deutschlands. Wir begrüßen alle positiven Ent-
wicklungen, die durch die Reformgesetze eingeleitet wor-
den sind. Wenn es einmal zu einer Werteübereinstimmung
kommt, dann können sich Abendland und Morgenland ver-
söhnlich die Hand reichen. Darüber würden wir uns freuen
und würden es begrüßen. Es wäre ein großer Gewinn.
Dass wir den Wunsch nach einer solchen Entwicklung
aber nicht einfach mit der Realität vertauschen dürfen, er-
kennen wir nicht zuletzt an den beachtlichen Integra-
tionsproblemen, die sich in Deutschland trotz vielfältiger
guter Erfahrungen immer wieder stellen. Verantwortliche
Politik nimmt solche Probleme ins Auge und leugnet sie
nicht einfach oder überdeckt sie nicht mit einem freundli-
chen Wunsch.
Ein letzter Gedanke. Die jetzt beschlossene Erweite-
rung um zehn neue Mitgliedstaaten will politisch und
wirtschaftlich gelebt werden. Das heißt auch, dass wir uns
in Europa über unsere Identität klar werden müssen. Wir
müssen uns überlegen, was für ein Projekt diese politische
Union überhaupt ist. Das wollen wir im Rahmen des Ver-
fassungsprozesses tun. Es geht dabei um unsere Grenzen
im inhaltlichen und geographischen Sinne; denn ein gren-
zenloses Europa würde sich verlieren. Wir wollen ein Eu-
ropa, das sich als Werte- und Schicksalsgemeinschaft ver-
steht, um einen guten Beitrag für die Zukunft der
Menschen zu leisten, die uns in unserer politischen Ver-
antwortung anvertraut sind.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Bury.
H
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Seit Kopenhagen ist Freitag, der 13., ein Glücks-
tag. Er ist ein Glückstag für Europa und damit auch ein
Glückstag für Deutschland.
Mit der Entscheidung über die Erweiterung der Euro-
päischen Union ist der Eiserne Vorhang endgültig gefal-
len. Europa wird wieder vereinigt. Wir nutzen die großar-
tige Chance, ein Europa des Friedens, des Wohlstandes
und der Sicherheit zu schaffen. Deutschland kommt dabei
eine zentrale Rolle zu. Wir haben die Erweiterung von An-
fang an gewollt und mit allen Kräften unterstützt. Für uns
war und ist der Einsatz für das weitere Zusammenwach-
sen Europas immer Herzenssache, historisches Vermächt-
nis und Zukunftsinvestition.
Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Der von Ko-
penhagen hat insbesondere drei. Da waren erstens die dä-
1200
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1201
nische Präsidentschaft, die klug und entschlossen verhan-
delt hat, zweitens Erweiterungskommissar Günter Ver-
heugen, dem ich für sein großes Engagement sehr herz-
lich danken möchte – er genießt gerade in den mittel- und
osteuropäischen Staaten zu Recht hohes Ansehen und
hat das Vertrauen in Deutschland und Europa weiter ge-
mehrt –,
und drittens hat nicht zuletzt der Bundeskanzler entschei-
denden Anteil am Erfolg des Gipfels, vor allem durch sei-
nen Beitrag zur Lösung der Probleme, mit denen unsere
polnischen Nachbarn bis in die letzten Stunden des Gip-
fels rangen.
Gerhard Schröder hatte bewusst vor Kopenhagen deutlich
gemacht, dass für uns eine Erweiterung ohne Polen nicht
vorstellbar sei. Es ist gut, dass gerade Deutschland die
Ideen beisteuern konnte, um den Knoten zu durchschla-
gen.
Deutschland rückt vom östlichen Rand der EU in die
Mitte der erweiterten Europäischen Union. Gerade wir
werden von der Erweiterung am stärksten politisch, wirt-
schaftlich und sicher auch kulturell profitieren. Bereits
heute sind unsere guten und engen Beziehungen zu den
mittel- und osteuropäischen Staaten auch ein Fundament
für das Wachstum von Handel und Investitionen.Allein
der Handel mit den Beitrittsländern hat schon jetzt mit
über 140 Milliarden Euro das Niveau unseres Handels mit
den Vereinigten Staaten übertroffen. Das Wachstum ist
fast dreimal so hoch wie beim Handel mit der übrigen
Welt – eine Tendenz, die sich in den nächsten Jahren auch
bei den Investitionen verstärken wird.
Das Beste ist: Es handelt sich um eine Win-Win-Situa-
tion. In den Beitrittsländern – das stellen wir schon heute
fest – entfaltet sich eine große Dynamik. Wachsender
Wohlstand und damit einhergehende Verbesserungen der
Sozial- und Umweltstandards wirken über alle Grenzen
hinaus positiv. Hoch entwickelte arbeitsteilige Volkswirt-
schaften profitieren insgesamt, wenn alle Partner ihre je-
weiligen Stärken einbringen. Gemeinsam gewinnt Europa
ökonomisch und politisch.
Deshalb muss mit der Erweiterung jetzt die Vertiefung
des Einigungsprozesses einhergehen. Auch auf diesem
Weg kommen wir in jüngerer Zeit erfreulich gut voran.
Wer hätte vor zweieinhalb Jahren bei der Rede eines Pri-
vatmannes in der Berliner Humboldt-Universität gedacht,
dass wir heute im Konvent weitgehend im Konsens über
eine gemeinsame europäische Verfassung beraten? Eine
Verfassung, die Ausdruck der gemeinsamen Ziele und
Werte ist, aber auch der Rahmen, das gewachsene Europa
demokratisch, transparent und handlungsfähig zu erhal-
ten.
Skeptiker – an denen ist in der europapolitischen De-
batte traditionell kein Mangel – fürchten nun, dass die Er-
weiterung Europas zu einer Schwächung der Gemein-
schaft, zu einem Integrationsrückschritt führen könnte.
Das Gegenteil ist richtig: Die Erweiterung zwingt uns, die
längst überfälligen institutionellen Reformen jetzt nicht
länger hinauszuzögern.
Insbesondere auch in der Außen- und Sicherheitspoli-
tik muss die EU ihre Handlungsfähigkeit stärken.
Das betrifft die Umsetzung von Entscheidungen, die wir
schon nach den heute geltenden Verträgen treffen können,
und natürlich strukturelle Weiterentwicklungen, die Ge-
genstand der Konventsarbeit sind. Es ist deshalb gut, dass
mit der umfassenden Einigung von Kopenhagen zu den
EU-NATO-Dauervereinbarungen – „Berlin plus“ – die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen
entscheidenden Schritt vorankommt. Die EU ist nun in
der Lage, bald und sichtbar auch ihre Verantwortung im
Bereich des militärischen Krisenmanagements selbst
wahrzunehmen. Bedarf dafür gibt es leider bereits jetzt
genug.
In Mazedonien konnte dank des Engagements der in-
ternationalen Gemeinschaft und insbesondere der EU und
der NATO erstmals ein Bürgerkrieg verhindert werden.
Die Lage hat sich erfreulicherweise weiter stabilisiert.
Wir wollen, dass sich diese positive Entwicklung fort-
setzt, und treten dafür ein, dass die EU dort die Nachfolge
der militärischen Mission der NATO übernimmt. Wir ge-
hen davon aus, dass die noch notwendigen Voraussetzun-
gen dafür bis März 2003 geschaffen werden und dann die
konkreten Operationen unter Rückgriff auf Mittel und
Fähigkeiten der NATO umgesetzt werden können.
Eine Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik ist keine Konkurrenz zur NATO und
auch kein Ersatz für sie. Es geht vielmehr darum, die Vi-
sion von John F. Kennedy Wirklichkeit werden zu lassen,
die Vision eines Bündnisses, das auf zwei starken Pfeilern
ruht: einem nordamerikanischen und einem europäischen
Pfeiler. Ein solider europäischer Pfeiler stärkt die transat-
lantische Partnerschaft.
Um die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU zu
stärken, werben wir im Konvent dafür, einer Person die
Aufgaben des Hohen Repräsentanten und des Außen-
kommissars zu übertragen. Dieser EU-„Außenminister“
würde mehr Kohärenz in die gemeinsame Außenpolitik
bringen können, die Troika ersetzen und der EU nach
außen Gesicht und Stimme verleihen.
Von besonderer Bedeutung ist für Deutschland neben
der Außen- und Sicherheitspolitik im Konvent die bereits
angesprochene Reform der Institutionen. Für uns hat die
Stärkung des Europäischen Parlaments und der Kommis-
sion Priorität. Alle Modelle müssen sich daran messen las-
sen, ob sie die Effizienz, die Transparenz und die Hand-
lungsfähigkeit stärken.
Ein demokratisches Europa – wir legen Wert darauf,
auch in der Verfassung zum Ausdruck zu bringen, dass es
sich bei der EU nicht nur um eine Union der Staaten, son-
dern auch um ein Bündnis der Bürgerinnen und Bürger han-
delt – muss für seine Bürgerinnen und Bürger transparent
Staatsminister Hans Martin Bury
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Staatsminister Hans Martin Bury
sein. So wie wir – PISAhin oder her – zumindest den An-
spruch erheben müssen, dass jeder Schüler Aufbau und
Funktion unseres Staates begreifen kann, muss auch die
Europäische Union mit ihren Institutionen für die Bürge-
rinnen und Bürger verständlich werden.
Das dient auch der klaren Zuordnung von Verantwortung,
damit nicht Ministerpräsidenten oder Bundesminister von
Betroffenen für Entscheidungen kritisiert werden, die
Kommissare zu verantworten haben, und gegebenenfalls
auch umgekehrt.
Der gemeinsame Binnenmarkt trägt zu Wachstum und
Wohlstand in ganz Europa bei. Wir werden die Integration
auch in diesem Bereich weiter unterstützen. Doch wir le-
gen zugleich Wert darauf, die Auswirkungen von Ent-
scheidungen auf Unternehmen, Arbeitnehmer und Regio-
nen stärker im Blick zu haben. Ich begrüße es, dass die
Kommission künftig die Industriepolitik stärker in den
Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen wird. Die Bundesregie-
rung wird die Kommission dabei unterstützen, die Be-
lange von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik in
eine ausgewogene Balance zu bringen, um so nachhalti-
gen Fortschritt zu gewährleisten.
Mit den deutschen Ländern setzen wir uns im Konvent
für eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen
der Union und den Mitgliedstaaten ein. Im Mittelpunkt
stehen dabei die Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-
hältnismäßigkeit. In diesem Rahmen befürworten wir ein
eigenes Klagerecht der Länder beim Europäischen Ge-
richtshof. Es geht Bund und Ländern dabei nicht vorder-
gründig um die Stärkung bewährter Elemente des Fö-
deralismus. Es geht im Ziel um die Bürgernähe Europas.
Da ich bei den Ländern bin, will ich bewusst an dieser
Stelle ein Wort zur Türkei sagen. Es ist bedauerlich, dass
Teile der Union meinen, damit vor dem 2. Februar 2003
ein neues Thema entdeckt zu haben. Frau Merkel und
Herr Stoiber haben in Kopenhagen nicht ohne Grund die
Erfahrung gemacht, selbst in konservativen Kreisen völ-
lig isoliert zu sein.
– Herr Ramsauer, es waren vor allem und vorneweg kon-
servative Ministerpräsidenten, die in Kopenhagen für ein
früheres Datum zur Aufnahme von Beitrittsverhandlun-
gen mit der Türkei plädiert haben.
Entgegen dem Anschein, den Sie hier erwecken wol-
len, werden wir ausgerechnet aus der Türkei dafür kriti-
siert, dass wir in Kopenhagen moderat und mit Erfolg ver-
handelt haben. Die Staats- und Regierungschefs haben auf
der Grundlage eines deutsch-französischen Vorschlages
den Beschluss gefasst, Verhandlungen über den Beitritt
dann aufzunehmen, wenn die politischen Kriterien hierfür
erfüllt sind, nicht mehr und nicht weniger. Alle Beteilig-
ten wissen, dass es vom Zeitpunkt der Aufnahme von Ver-
handlungen an noch ein langer Weg sein wird. Die Alter-
native aber hieße, denjenigen, die Sie, meine Damen und
Herren von CDU/CSU und FDP, eingeladen haben, nun
ausgerechnet jetzt, nachdem sie wichtige Fortschritte im
Bereich der Menschenrechte, bei der Verankerung der De-
mokratie und bei der Anerkennung der Rechte von Min-
derheiten gemacht haben, die Tür zuzuschlagen. Das kann
auch nicht ernsthaft in unserem Interesse sein.
Wenn es gelingt, dass ein islamisch geprägtes Land den
Weg der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Achtung
und Verteidigung der Menschenrechte, der Gleichberech-
tigung von Frauen und Männern, der Trennung von Reli-
gion und Staat, der Rechtsstaatlichkeit und der sozialen
Marktwirtschaft erfolgreich geht, dann wird das für Eu-
ropa und weit über Europa hinaus von unschätzbarem
Wert für Frieden, Freiheit und Sicherheit in der Welt sein.
Diese Chance wirft man nicht so leichtfertig weg, wie
Frau Merkel das heute Morgen getan hat.
Die europäische Integration gilt längst weltweit als
Modell für die erfolgreiche Integration von Ländern und
Regionen in eine starke Gemeinschaft. Es ist ein Modell,
das nicht auf Ablehnung und Ausgrenzung basiert, son-
dern auf Integration, Ausgleich und Partizipation. Diesen
europäischen Weg werden wir fortsetzen.
Wer Folgen oder Begleiterscheinungen der Globalisie-
rung kritisch hinterfragt, findet die richtigen Antworten
nicht in der Ablehnung von freiem Handel, liberalisierten
Märkten oder offenen Gesellschaften, sondern in der eu-
ropäischen Idee des Sozialstaats und ihrer schrittweisen
Umsetzung in der Europäischen Union.
Der Fortschritt der EU mag ungeduldigen Menschen,
zu denen ich mich selbst auch zähle, manchmal etwas zu
langsam voranschreiten. Keine Frage, es fällt nicht immer
leicht, sich dieses neue Europa vorzustellen und über die
Grenzen hinaus zu denken. Aber es ist mehr als eine Vi-
sion. Europa ist keine Religionsgemeinschaft, sondern
unsere Heimat und Zukunft. Deshalb können wir nach
dem EU-Gipfel in Kopenhagen und mit Blick auf eine eu-
ropäische Verfassung, was Geschwindigkeit und Rich-
tung angeht, zur Erweiterung und Vertiefung der EU fest-
stellen: Und sie bewegt sich doch!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Der Kopenhagener Gipfel war – wie
1202
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1203
schon einmütig betont wurde – ein Ereignis von histori-
scher Bedeutung. Die nun unumkehrbare Osterweiterung
der Europäischen Union steht für die endgültige Überwin-
dung der Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg.
Angesichts dieses Ereignisses sollten wir den vielen
großen Europäern danken und ihrer gedenken, die sich im
Nachkriegseuropa mutig und visionär zugleich über die
mentalen und ideologischen Sperren nationaler Egoismen
und Provinzialismen hinweggesetzt haben. Nicht ohne
Stolz darf ich zu diesen auch die deutschen Liberalen, vor
allem die liberalen Außenminister unseres Landes, zählen.
Jetzt aber kommt es darauf an, all denjenigen eine
herbe Enttäuschung zu bereiten, die in der Osterweiterung
der Europäischen Union nichts weiter als ein hinterlistig-
destruktives Instrument gesehen haben, das vereinte Eu-
ropa auf die Funktion einer besseren Freihandelszone
oder eines verlängerten Flugzeugträgers zu reduzieren.
Tief greifende Reformen der europäischen Institutionen
und zeitlich parallel dazu die Mobilisierung aller nur
denkbaren Hilfen für die verbliebenen Beitrittskandidaten
sind das Gebot der Stunde. Bulgarien und Rumänien müs-
sen in ihrem Reformwillen gestärkt werden. Die Türkei
braucht Unterstützung bei der Fortsetzung des begonne-
nen Reformprozesses und der Stärkung der demokrati-
schen Stabilität, die auch in unserem Interesse liegt.
Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, dass die
Tür im Blick auf die Beitrittsperspektive der Türkei nicht
zugeschlagen werden darf.
Die FDP-Fraktion hat ihrem Antrag den Titel „Histori-
scher Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Re-
formen der Europäischen Union“ gegeben. Denn machen
wir uns nichts vor: Wenn wir es nicht schaffen, bis zum
Beitrittsvollzug am 1. Mai 2004 die inneren Reformen
der EU-Institutionen umzusetzen, wird der Beitritt von
zehn neuen Mitgliedern kaum verkraftet werden können.
An der Stärkung der Handlungsfähigkeit und der Effi-
zienz der europäischen Institutionen führt kein Weg vor-
bei. Auch wenn der eine oder andere anders kalkuliert
hatte, war die Entscheidung für die Osterweiterung die
Entscheidung für eine vertiefte und reformierte Zusam-
menarbeit. Sie war das nicht rückholbare Ja zu einer eu-
ropäischen Verfassung, die ein hohes Maß an integrativer
Substanz benötigt.
Deshalb liegt die Messlatte für die Arbeit des Europä-
ischen Verfassungskonvents sehr hoch. Die deutschen
Vertreter im Konvent sind aufgefordert, sich nachdrück-
lich für einen Verfassungsentwurf einzusetzen, der
schwierige Themen nicht verdeckt oder verdrängt. Die
Vorstellungen des Außenministers in seiner Rede in der
Humboldt-Universität im Jahr 2000 finden sich in der ak-
tuellen Debatte im Konvent überhaupt nicht wieder. Da
hat sich jetzt sehr vieles geändert und vieles wird richti-
gerweise auch anders gesehen.
Für die FDP-Fraktion bedeutet dies zunächst: Wir wol-
len eine grundlegende Reform des Rates mit einer klaren
Trennung seiner legislativen und exekutiven Aufgaben.
Wir wenden uns entschieden gegen einen Unionspräsi-
denten oder Superpräsidenten, der das Gleichgewicht des
institutionellen Geflechtes aus Rat, Kommission und Eu-
ropäischem Parlament auflösen würde. Dies wäre ein
Rückschritt für die europäische Integration und ein Sieg
des Intergouvernementalismus.
Folgerichtig lehnen wir den Vorschlag von Valerie
Giscard d’Estaing in diesem Punkt ab, einen Kongress der
Völker einzuberufen, um einen derartigen Unionspräsi-
denten zu bestimmen.
Die Stärkung des Europäischen Parlaments gehört zu
den wichtigsten Forderungen für ein Europa der 25, 27
oder 28 Staaten. Deshalb wollen wir ein gesetzgeberi-
sches Initiativrecht für das Europäische Parlament, eine
Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens und das un-
eingeschränkte Budgetrecht. Wir wollen auch die Kom-
mission stärken. Wir wollen einen starken Kommissions-
präsidenten und wir wollen, dass er vom Europäischen
Parlament gewählt wird.
Wir unterstützen als FDP-Fraktion – ich kann darauf
im Detail jetzt nicht eingehen – deutsch-französische
Initiativen, um den Reformprozess voranzubringen. Sol-
che Initiativen brauchen wir besonders in den Bereichen
der Innen-, der Justiz-, der Außen- und der Sicherheits-
politik. Gerade Letztere muss die Säulenstruktur über-
winden und zunehmend zu einer exekutivischen Kompe-
tenzerweiterung der Europäischen Kommission führen.
Die Idee des „Doppelhuts“, die jetzt diskutiert wird, ist für
uns allenfalls für eine Übergangszeit vertretbar.
Meine Damen und Herren, leider habe ich nur wenig
Zeit. Lassen Sie mich deshalb zum Schluss nur noch ein
wichtiges Zitat von György Konrad, einem großen Eu-
ropäer und dem Karlspreisträger von 2001, bringen, der
wiedergibt, was wir in Europa sein sollen. Er sagte:
Europäer sind wir durch innere, komplexe Ge-
hirntätigkeit, durch die flexible Handhabung unserer
inneren Paradoxa, durch unser Vergnügen an der For-
menvielfalt, durch die Verwandlung des Abwechs-
lungsreichtums unserer schöpferischen Spannung.
Europäer sind wir dadurch, dass wir für andersartige
Kulturen Verständnis haben beziehungsweise intel-
lektuelle Sympathie und dass wir da-
rauf vertrauen, uns dadurch nicht zu verlieren.
Dieses Selbstverständnis und Selbstvertrauen wünsche
ich uns bei dem weiteren Erweiterungs- und Vertiefungs-
prozess.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anna Lührmann,
unser „Parlamentsküken“, zu ihrer ersten Rede.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In der Debatte ist bereits angeklungen: Die Union wird in
eineinhalb Jahren zehn neue Mitglieder haben. In dieser
Erweiterung liegt eine riesige Chance für Europa als
Ganzes, für die bisherigen und natürlich auch für die
neuen Mitgliedstaaten.
Wir haben diese Floskeln schon oft gehört. Sie sind
auch richtig; aber sie treffen meiner Meinung nach nicht
den entscheidenden Punkt. Es geht nicht um die Chancen
von Staaten, sondern es geht um die Chancen von Men-
schen in Europa.
Es geht um die Chancen der Menschen, die das Pech hat-
ten, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs geboren
zu werden. Jetzt sind sie wieder Teil der großen Idee Eu-
ropa, der Idee von Demokratie, Menschenrechten und So-
lidarität.
Es geht aber auch um die Chancen der Menschen, die
in den bisherigen Mitgliedstaaten leben. Auch sie werden
von dieser Erweiterung profitieren, und zwar nicht nur
durch den Abbau von Grenzen und Vorurteilen zwischen
den Völkern. Vielmehr werden sie dies auch konkret im
Portemonnaie spüren. Gerade wir in Deutschland werden
in ganz besonderem Maße von den Wachstumschancen,
die sich aus dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten erge-
ben, profitieren.
Nicht zuletzt geht es um die Chancen der jungen Ge-
neration in Europa; denn für uns bedeutet dieses neue
Europa ein Leben in dauerhaftem Frieden, in dauerhafter
Freiheit, in sozialer Sicherheit und in Wohlstand. Auch die
Türkei wird eines Tages in dieses europäische Haus ein-
ziehen. Diese positive Perspektive für meine Generation
lasse ich mir von Ihnen, Frau Merkel, nicht kaputtreden!
Nachdem die Beitrittsverhandlungen jetzt erfolgreich
abgeschlossen worden sind, dürfen wir Europäerinnen
und Europäer uns aber nicht entspannt zurücklehnen.
Nachdem die Beitrittskandidaten riesige Anstrengungen
hinsichtlich der Übernahme des acquis communautaire
unternommen haben, muss auch die Union ihre Hausauf-
gaben im Europäischen Konvent machen. Wir brauchen
ein effizientes Entscheidungssystem, damit die EU auch
mit 25 oder mehr Mitgliedstaaten in der Lage ist, politisch
zu gestalten.
Wenn 25 oder mehr Mitgliedstaaten an einem Tisch
sitzen, dann kann Politik nicht mehr nach den folgenden
Devisen funktionieren: Ich stimme der Erweiterung nur
zu, wenn ich dann nicht weniger Regionalförderung
bekomme. Ich stimme der Vergemeinschaftung der Justiz-
und Innenpolitik nur zu, wenn ich höhere Fischfang-
quoten bekomme. Wir müssen das Einstimmigkeitsprin-
zip im Rat endgültig überwinden.
Für uns junge Europäerinnen und Europäer ist die
Europäische Union keine Veranstaltung von ehrwürdigen
Staatsmännern, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die
Vorstellung, Kriege gegen andere Europäer zu führen, er-
scheint uns absurd. Stattdessen ist es für uns normal,
Freunde in Paris oder Warschau zu haben, in Manchester
zu studieren oder in Prag zu arbeiten.
Weil das so ist, wollen wir, dass die wichtigen Fragen
der europäischen Politik nicht länger zwischen den Staats-
und Regierungschefs unter Ausschluss der Öffentlichkeit
verhandelt werden.
Die Europäische Union braucht endlich eine Verfassung,
die eine demokratische Ordnung schafft. Die Verfassung
muss das Europäische Parlament und die Kommission
stärken. Die Verfassung muss die politische Integration
vertiefen und die europäischen Werte Demokratie und
Gewaltenteilung müssen endlich auch in Brüssel umge-
setzt werden.
Mit anderen Worten: Der Europäische Konvent muss Eu-
ropa vom Kopf auf die Füße stellen.
Wir brauchen ein solides demokratisches Fundament
für eine Europäische Union, die ihren Bürgerinnen und
Bürgern ein demokratisches Zuhause gibt, für eine Euro-
päische Union, die es den Menschen leicht macht, sich als
Europäerinnen und Europäer zu fühlen, für eine Europä-
ische Union, die den Mut und die Kraft hat, sich ihrer
weltpolitischen Verantwortung zu stellen und zu einer ge-
rechten Gestaltung der Globalisierung beizutragen,
und für eine Europäische Union, die sich den drängenden
Zukunftsproblemen aktiv annimmt, anstatt sich perma-
nent in den Weiten der gemeinsamen Agrarpolitik zu ver-
lieren.
Die Zukunft meiner Generation liegt in der Europä-
ischen Union. Sie demokratisch zu verfassen ist in den
nächsten Monaten unsere Aufgabe; denn die Menschen in
Mittel- und Osteuropa haben sich nicht von undemokrati-
schen Strukturen befreit, um sich jetzt in einer nicht wirk-
lich demokratischen Union wiederzufinden. Deshalb sage
ich: Lassen Sie uns den Geist des demokratischen Auf-
bruchs von den neuen Mitgliedstaaten in die alte Europä-
ische Union tragen!
Vielen Dank.
Ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ih-
rer ersten Rede gratulieren, Frau Lührmann.
1204
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1205
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS
begrüßt alle guten Beschlüsse zur Osterweiterung der Eu-
ropäischen Union. Ich denke, die Entscheidungen des
Gipfels in Kopenhagen waren zu weiten Teilen in der Tat
sehr erfolgreich. Die Frage ist nun allerdings: Was wird
daraus gemacht werden?
Die Bürgerinnen und Bürger in den Beitrittsländern
mussten auf die Möglichkeit, Mitglied der Europäischen
Union zu werden, lange warten – länger als die Ostdeut-
schen. Doch nun sollte man die Chance nutzen, aus dieser
Wartezeit auch zu lernen. Wir sollten gemeinsam aus
den Erfahrungen mit der staatlichen Vereinigung
Deutschlands einige Lehren ziehen, um bei der Erweite-
rung der EU nicht Schiffbruch zu erleiden.
Erste Lehre: Es wird für alle sehr teuer, wenn man ver-
sucht, alle EU-Regeln eins zu eins, ohne Rücksicht auf
kulturelle Besonderheiten, auf die Beitrittsländer zu über-
tragen, nach der Devise: Das hat sich bei uns bewährt, das
wird sich auch bei euch bewähren. Ich erinnere nur daran,
dass Helmut Kohl mit dieser Methode die strukturelle
Stagnation des Westens auf den Osten übertragen hat. Ich
nenne nur als Beispiel – so bezeichnete es Professor
Simon, der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrats –
das „im Kern verrottete Hochschulsystem“.
Zweite Lehre: Die EU braucht dringend neue politi-
sche und strukturelle Ansätze, wenn sie überleben will.
Deshalb muss man den Beitrittsländern Spielräume las-
sen, um Neues auszuprobieren und Innovationen in die
EU hineinzutragen.
Allerdings habe ich starke Zweifel, ob man wirklich
bereit ist, aus den Fehlern der staatlichen Vereinigung
Deutschlands zu lernen. Manchmal drängt sich der Ein-
druck auf, man wolle die gleichen Fehler wiederholen.
Zum Beispiel wird im Augenblick wieder der Eindruck
erweckt, es wäre alles wesentlich billiger als geplant
und man könne die Dinge sozusagen aus der Portokasse
bezahlen. Doch diese Illusion wird nur verbreitet, um
sich die Zustimmung der Bürger in den Alt-EU-Mit-
gliedstaaten zu erkaufen. Dabei – das müssen wir alle
wissen – wird die Erweiterung richtig teuer. Ich finde,
es gehört zu einer verantwortlichen Politik, das den
Bürgerinnen und Bürgern auch ehrlich zu sagen. Vor al-
lem muss gesagt werden, wie diese Lasten verteilt wer-
den sollen.
In Deutschland hatte man den Solidaritätszuschlag ein-
geführt. Die, die wirklich an der Vereinigung kräftig ver-
dient haben, konnten diese Art von Solidarität sehr leicht
wegstecken. Schon jetzt ist das Geschäft mit Osteu-
ropa für einige Unternehmen eine wahre Goldgrube. Ein
Siemens-Manager äußerte sich beeindruckt von dem Bil-
dungsniveau der Osteuropäer. Noch mehr beeindruckt
war er allerdings von den Personalkosten. Kostet ihn ein
Ingenieur in Deutschland rund 50 Euro pro Stunde, so
kann er einen ungarischen Ingenieur schon für 6 Euro pro
Stunde haben. Wir als PDS sind deshalb der Auffassung,
dass diejenigen, die von der Erweiterung profitieren, auch
einen entsprechenden Anteil an der Finanzierung der
Erweiterung leisten sollen.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat auch
heute wieder in ihren Debattenbeiträgen ihren Widerwillen
gegen eine Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei
bekundet. Ich möchte nur daran erinnern, dass der Türkei
seit 1963 in Aussicht gestellt wurde, dass Beitrittsverhand-
lungen aufgenommen werden sollten. 1963 – das sollten
Sie einmal in Ihre persönliche Biografie einordnen. Ich war
damals zwei Jahre alt; inzwischen habe ich zwei Kinder
großgezogen und warte jetzt auf die Enkel.
Der Widerwille gegen die Aufnahme von Verhandlun-
gen mit der Türkei riecht sehr nach einer neuen Giftmi-
schung, die Herr Koch in Hessen für den Wahlkampf vor-
bereitet.
Ich denke, Sie sollten aber beachten, dass die Türkei in der
jüngsten Zeit Verfassungsänderungen vorgenommen und
Schritte zur Stärkung der Grund- und Bürgerrechte unter-
nommen hat. Zahlreiche Probleme sind jedoch – das müs-
sen wir bekennen – ungelöst. Die kurdische Bevölkerung ist
noch nicht wirklich gleichberechtigt. Noch immer wird in
der Türkei gefoltert. Noch immer werden die Menschen-
rechte durch Polizei und Armee massiv verletzt. Von der
vollständigen Durchsetzung demokratischer Rechte und
Strukturen kann keine Rede sein. Auch der Völkermord an
den Armeniern wird noch von Staats wegen geleugnet.
Die Erfüllung der Kriterien von Kopenhagen ist der
Maßstab für die Entscheidung über die Aufnahme von
Verhandlungen. Ich erwarte, dass die Türkei die mit den
Entscheidungen von Kopenhagen verbundene Chance für
weitere Reformen nutzt, sodass im Jahr 2004 die Europä-
ische Union eine positive Bilanz ziehen kann.
Wenn man die Türkei allerdings zurückweist, wie das
die CDU/CSU tut, dann drängt sich doch sehr der Ver-
dacht auf, dass man gar kein Interesse an wirklich demo-
kratischen Veränderungen in der Türkei hat. Darin unter-
scheiden wir uns grundlegend.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Roth.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Mit den jungen Europäerinnen und Europäern ist
zu rechnen. Da ist Pep dahinter. Da ist ein guter Wille da-
hinter. Deswegen sollte uns vor Europas Zukunft alles an-
dere als bange sein.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Michael Roth
Vom Willen habe ich schon gesprochen. Wo ein Wille
ist, da ist auch ein Weg. Der Erweiterungsgipfel von Ko-
penhagen ist der beste Beleg dafür. Ich will ganz selbst-
bewusst an den Beginn meiner Rede stellen: Diese Eini-
gung, die Wiedervereinigung Europas, wird zukünftig mit
den Namen von Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten verbunden sein,
mit Kanzler Gerhard Schröder und mit Kommissar
Verheugen. Ich bin mir sicher, dass beim nächsten großen
Zukunftsschritt für Europa – –
– Mehr als blöde Sprüche fällt Ihnen nicht ein. Dabei te-
lefonieren Sie auch noch. Das finde ich sehr respektlos,
nicht nur mir gegenüber, sondern auch Ihren Kolleginnen
und Kollegen gegenüber.
Es geht um den Willen. Der Wille zur Zukunft Europas
muss jetzt, wenn es um die Vertiefung derEuropäischen
Union geht, ebenso stark und ebenso mutig vorhanden
sein. Die politische Union muss vorangetrieben werden;
denn ohne die Vertiefung ist alle Erweiterung nichts. Wir
alle wissen, dass die Europäische Union ohne grundle-
gende radikale Strukturreformen – diese ernsten Worte
gehören bei aller Freude auch hierher – nicht mehr so wei-
terarbeiten kann, wie wir alle uns das wünschen. Der Gip-
fel von Kopenhagen sollte uns anspornen, all die Steine,
die noch auf dem Weg liegen, wegzuräumen.
Wir alle wissen: Wenn wir den europäischen Zukunfts-
zug jetzt auf das falsche Gleis setzen, droht Stillstand,
schlimmstenfalls sogar Entgleisung. Wir werden mit der
europäischen Bimmelbahn vielleicht noch den einen oder
anderen Mini-Erfolg erreichen können, aber für die wirk-
lich großen Herausforderungen sind wir noch nicht ge-
wappnet, wenn die EU mit 25 Mitgliedstaaten weiterar-
beiten möchte.
Die EU darf nicht zerfasern. Sie muss vielmehr einen
substanziellen Beitrag zur Lösung der drängenden politi-
schen, ökonomischen und sozialen Probleme leisten. Sie
muss einen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten. Das
müssen wir auch den Bürgerinnen und Bürgern sagen, die
uns bisweilen angstvoll mit der Frage konfrontieren: Wo
bleibt die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten? Wir
geben Macht und Einfluss und Kompetenzen der Natio-
nalstaaten ja nicht aus Jux und Tollerei ab; ganz im Ge-
genteil: Mehr Handlungsfähigkeit für die Politik und für
die Gesellschaften ist nur mit mehr Europa erreichbar.
Wenn wir über Europa reden, müssen wir auch immer
die Globalisierung mit im Auge haben. Davon hat schon
Herr Staatsminister Bury gesprochen. Die Integration Eu-
ropas ist die demokratische Antwort auf die Globalisie-
rung. Sie ist auch eine selbstbewusste Antwort, die wir de-
nen, die der Globalisierung kritisch oder angstvoll ge-
genüberstehen, immer wieder geben sollten. Der Dialog
muss noch intensiviert werden.
Wie schwierig der Gleichklang von Erweiterung und
Vertiefung ist, haben uns schon in der Vergangenheit vor
allem die Regierungskonferenzen gezeigt. Nizza war da-
bei der Gipfel der Traurigkeit. Willy Brandt, der ja viele
Gipfel mit geprägt hat, hat diese Schwierigkeit einmal so
umschrieben – ich hoffe, ich darf zitieren –:
Mit den Europa-Verhandlungen ist es wie mit dem
Liebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf hoher
Ebene ab, wirbelt viel Staub auf – und es dauert sehr
lange, bis etwas dabei herauskommt.
Leider haben wir diese Zeit nicht mehr. Weil wir diese
Zeit nicht haben, müssen wir die nächsten Monate sehr
engagiert nutzen. Der Europäische Verfassungskonvent
bietet eine hervorragende Möglichkeit, endlich über den
Tellerrand der nationalstaatlichen Interessen hinauszu-
blicken.
Denn was war bisher meistens das traurige Ergebnis
allzu vieler Gipfel, vor allem der Regierungskonferen-
zen? Wir haben europäische Kompromisse gefunden, de-
nen meistens nur der kleinste gemeinsame und allzu oft
nationale Nenner zugrunde lag. Vor gut einem Jahr haben
wir hier eine Konventsdebatte geführt. Damals waren wir
uns alle einig: Wir brauchen den Konvent und müssen
sehr engagiert dafür kämpfen. Nun haben wir unser Ziel
erreicht und darauf können wir sehr stolz sein.
Jetzt hat der Konvent neun Monate gearbeitet und es
ist Zeit für eine Zwischenbilanz. Zur Arbeit des Konvents
ist schon viel Positives gesagt worden. Er hat eine Menge
erreicht. Vor einem Jahr haben wir noch nicht geglaubt,
dass das alles einmal so selbstverständlich sein würde, ge-
rade wenn man an die vielen Partner denkt, die eine euro-
päische Verfassung und einen einheitlichen Verfassungs-
text eher als problematisch ansehen, die mit der
Grundrechtscharta ihre Probleme hatten und der EU keine
eigene Rechtspersönlichkeit zusprechen wollten. Es gab
immerhin auch viele Kolleginnen und Kollegen in ande-
ren Ländern, die an der Pfeilerstruktur der Europäischen
Union festhalten wollten. All diese Vorbehalte werden
wir, wenn es weiterhin so gut läuft, überwinden können.
Aber dann sollten wir auch noch ein paar Forderungen
und Vorschläge drauflegen. Wir sollten uns mit dem in
den vergangenen neun Monaten Erreichten nicht zufrie-
den geben, auch wenn das, dank der engagierten Arbeit
unserer Konventsvertreter, seitens der Bundesregierung
und des Deutschen Bundestages, als Quantensprung zu
bezeichnen ist.
Im Kern dreht es sich bei dem Konvent um die Frage,
wie die Europäische Union politisch am besten geführt
werden kann, und zwar sowohl nach innen als auch nach
außen; ich denke da an die Verteidigungspolitik, die Si-
cherheitspolitik und die Außenpolitik. Das müssen wir
1206
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1207
auch den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder deut-
lich machen; denn nur ein Europa mit einer größeren
Handlungsfähigkeit kann den Menschen nutzen. Europa
ist ja kein Selbstzweck.
Vielleicht fällt uns diese Klarstellung in den Diskus-
sionen bisweilen noch schwer; denn eines ist auch klar:
Debatten über Institutionen sind nicht besonders sexy.
Deswegen sollten wir über diese Debatten hinaus Bot-
schaften vermitteln, in denen es unmittelbar um Europa
geht: Die soziale Dimension der Europäischen Union
muss ausgebaut werden, ebenso der Aspekt der Nachhal-
tigkeit. Wir haben hier viele Debatten über Nachhaltigkeit
geführt. Dieser Punkt ist in der politischen Debatte selbst-
verständlich geworden. Aber den sorgsamen Umgang mit
unseren Ressourcen und die Beibehaltung von sozialen
Gestaltungsspielräumen im Hinblick auf Solidarität und
Gerechtigkeit werden wir nur mit Europa erreichen kön-
nen und nicht ohne oder gegen Europa.
In den uns noch verbleibenden Monaten sollten wir uns
unter strategischen Aspekten klar auf eines konzentrieren:
Wir müssen mehr Integration fordern. Schon jetzt mit
Formelkompromissen in die Debatte zu gehen, vor allem
auf parlamentarischer Ebene, hielte ich für verfehlt. Wir
haben in vielen Beschlüssen, die wir hier gefasst haben,
ein großes Einvernehmen darüber erzielen können, wohin
die Reise gehen soll: mehr Rechte für das Parlament, mehr
Demokratisierung, Stärkung der Exekutive, in diesem Fall
der Kommission. Deswegen gehen wir sehr vorsichtig mit
der Forderung um, den Rat in der Weise zu stärken, dass
an seine Spitze ein gewählter Präsident gestellt wird. Ich
halte das für hochproblematisch, weil wir kein Europa der
Regierungen wollen, sondern ein Europa, das über ein
starkes, demokratisch verankertes Parlament verfügt, in
dem die unterschiedlichen Verfahrensabläufe klar und
transparent sind und wir allen Bürgerinnen und Bürgern
sagen können, wofür Europa zuständig ist und wofür nicht.
Wenn wir uns selbstkritisch nach unserer Rolle als Par-
lamentarierinnen und Parlamentarier des Deutschen Bun-
destages fragen, dann darf unsere Antwort nicht sein: Wir
machen uns auf die Reise nach Brüssel und setzen uns in
eine wie auch immer geartete dritte Kammer. Nein, wir
müssen uns innerstaatlich an der Kontrolle und Mitge-
staltung der europäischen Politik beteiligen, wie das auch
in Art. 23 des Grundgesetzes geregelt ist.
Wir haben einen gut arbeitenden Europaausschuss, über
den wir das verstärkt tun müssen. Deswegen ist dem Vor-
schlag von Valéry Giscard d’Estaing, einen Volkskon-
gress mit nationalen Parlamentariern einzurichten, eine
Absage zu erteilen. Er wäre auch nur ein Placebo für man-
gelnde Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente.
Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, zu erreichen, dass
das Pendel im Verfassungskonvent am Ende zugunsten
gemeinschaftlicher Lösungsansätze ausschlägt. Dass
diese Chance gestiegen ist, zeigen auch die deutsch-fran-
zösischen Initiativen. In diesem Bereich sind wir sehr weit
vorangekommen. Ich meine, dass im Rahmen der Ver-
handlungen mit unserem französischen Partner noch vie-
les aus dem Weg geräumt werden kann, was momentan
nach Stärkung der intergouvernementalen Politikansätze
aussieht.
Die entscheidende Beratungsphase hat jetzt begonnen.
Wir brauchen so schnell wie möglich die inhaltliche Ausge-
staltung eines vollständigen und kohärenten Verfassungs-
textes. Wir brauchen keine Salamitaktik, mit der diverse
Einzelvorschläge in die Debatte des Konvents eingespeist
werden. Wir brauchen vielmehr so schnell wie möglich ei-
nen Gesamtvorschlag. Die Debatte um die Grundrechte-
charta hat gezeigt, dass dies der richtige Weg war. Wir soll-
ten auch bei der Verfassungsdebatte daran festhalten.
Eines muss allen, auch den Kritikern einer verstärkten
Integration, klar sein: Nur die umfassende Parlamentari-
sierung der Verfassungsgebung sichert die Mitbestim-
mung der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf dem
weiteren Weg der europäischen Integration. Nur sie, näm-
lich mehr Parlamentarisierung, trägt zur Akzeptanz der
EU-Verfassung in den Mitgliedstaaten bei.
Abschließend möchte ich den französischen Schrift-
steller Paul Lacroix zitieren.
Aber nur ein kurzes Zitat.
Ein ganz kurzes Zitat. – Es lautet:
Die Einigung Europas gleicht dem Versuch, ein
Omelett zu backen, ohne Eier zu zerschlagen.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, das eine oder andere Ei noch
zu zerschlagen, damit der Konvent ein großer Erfolg wird.
Vielen Dank.
Man sieht, dass der Zitatenschatz zu Europa groß ist.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte hat einen großen Fehler: Sie findet nach dem Gip-
fel von Kopenhagen statt. Wir hätten erwartet, dass man
mit dem Parlament einen solch weitreichenden Gipfel
vorher bespricht.
Michael Roth
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Gerd Müller
Das wäre der Stellung des Parlamentes angemessen ge-
wesen.
Man darf sich nicht wundern, dass sich bei dieser Debatte
die Reihen jetzt lichten. Ich sehe aber viele junge Men-
schen auf der Tribüne.
Es gibt auch sicherlich viele, die vor dem Fernseher sit-
zen.
Heute wurde der Gipfel als ein historischer Gipfel
gewürdigt. Man muss in der Tat fragen: Was ist das His-
torische an diesem Kopenhagener Gipfel? Der Kalte
Krieg mit seiner atomaren Bedrohung dauerte 40 Jahre. In
Berlin gab es die Mauer und Stacheldraht. Das Selbstbe-
stimmungsrecht der Völker Europas, die jetzt zur Europä-
ischen Union hinzukommen, war durch autoritäre Sys-
teme unterdrückt. Denken Sie einmal zurück, was
historisch ist. Es ist eine großartige Entwicklung in den
letzten 50 Jahren in Gang gekommen.
17. Juni 1953: Denken wir an die 500 000 Bürger der
früheren DDR, die unweit von diesem Parlament auf die
Straße gegangen sind. Die SED, die Mutterpartei der
PDS, hat von einem faschistischen Putschversuch gespro-
chen. Panzer fuhren auf, der Ausnahmezustand wurde
ausgerufen und es gab Erschießungen mitten in Berlin.
23. Oktober 1956: In Ungarn protestierten Studenten.
Es gab die Hoffnung auf Liberalisierung. Russische Pan-
zer haben diesen Traum am 4. November beendet. Der da-
malige ungarische Ministerpräsident wurde hingerichtet.
21. August 1968: Liebe junge Zuhörer, um 1.30 Uhr in
der Nacht fand der Einmarsch der Truppen des War-
schauer Pakts in Prag statt. Über Radio Prag wurde der
Ruf „Helft uns – Helft uns!“ gesendet. Aber er war ver-
geblich. Auch dieser Aufstand wurde von den Truppen des
Warschauer Paktes niedergeschlagen.
Viele mutige Opfer strebten nach Freiheit. Die Freiheit hat
sich ihren Weg gebahnt.
Heute wurden viele Namen großer Staatsmänner ge-
nannt. Ich möchte den genannten ein paar wenige hinzu-
fügen: Solschenizyn, den polnischen Papst, Lech Walesa,
einen Vertreter des mutigen Volkes Polen, Willy Brandt,
Gorbatschow, Präsident Bush und zweifelsohne Helmut
Kohl.
Sie im Besonderen und viele andere schufen eine neue
europäische Friedensordnung.
Man fragt sich: Woher kommt die Strahlkraft der Eu-
ropäischen Union? Warum wollen all die Staaten Mittel-
und Osteuropas – weit über die jetzigen zehn hinaus – in
die Europäische Union? Es sind die europäischen Kul-
turwerte. Die Strahlkraft der EU ist auch eine Bestäti-
gung dieser Kulturwerte. Frieden in Freiheit, Selbstbe-
stimmung und Würde des Einzelnen, Individualität statt
Vergesellschaftung und Vermassung, soziale Marktwirt-
schaft statt Sozialismus, Ludwig Erhard statt Honecker,
diese Werte haben die Oberhand behalten.
Rechtsstaat, Demokratie, soziale Verantwortung und
Marktwirtschaft sind die Regeln im europäischen Haus.
Dies sind aber zugleich auch die Grundlagen und das
Erbe des Christentums und der Aufklärung, unsere
gemeinsame Geschichte und Kultur. Frau Merkel hat be-
reits darauf hingewiesen und es verdeutlicht – ich bin
ebenfalls fest davon überzeugt –: Europa braucht eine
Identität,
eine kulturelle Grundlage, eine gemeinsame Wertebasis.
Darauf können sich dann Solidarität, Freundschaft und
Miteinander auf dem Weg zur politischen Union begrün-
den.
Der Herr Bundeskanzler sagte: Es wächst zusammen,
was zusammengehört. – Aber die Frage ist: Was ist die
Zielprojektion dieser Bundesregierung im Hinblick auf
eine Europäische Union? Die Kernfrage, die hier von der
Union gestellt wird und von Frau Merkel verdeutlicht
wurde, möchte ich noch einmal herausarbeiten: Will die
Bundesregierung eine Vertiefung der Europäischen
Union oder beschreitet sie den Weg zu einem europä-
ischen Völkerverbund mit 27, 30 oder 35 Mitgliedstaa-
ten? Darüber gilt es zu sprechen.
Ich zitiere Herbert Kremp aus der „Welt am Sonntag“
vom 15. Dezember 2002:
Mit 25 Staaten und der nahenden Türkei schwenkt
die EU auf den Weg einer großen Freihandelszone
im lockeren Staatenverbund ein. Die bundesstaatli-
che Integration, Kernidee der Gründergeneration,
verfällt der schieren Größe. Das neue EU-Format ist
politisch nicht als Einheit, als „Union“ im wahren
Sinne organisierbar.
Die Kernfrage, die sich hier stellt, lautet: Gehen wir
weiter den Weg in Richtung politische Union und Vertie-
fung der Zusammenarbeit oder machen wir die Europä-
ische Union zu einem Vielvölkerstaat, zu einem Staaten-
verbund, zu einer Freihandelszone? Eine weitere Öffnung
der Europäischen Union in Richtung Kleinasiens, des
Balkans oder der Nachfolgestaaten der Sowjetunion wäre
mittelfristig das Ende der Vertiefung der Europäischen
Union. Das ist uns bewusst. Auch deshalb sind wir gegen
eine Beitrittsperspektive für die Türkei.
Hierüber sollten wir ganz nüchtern diskutieren. Herr
Gloser wird dazu noch sprechen. Helmut Schmidt und
Valéry Giscard d’Estaing sind dieser Auffassung. Auch
der bayerische SPD-Fraktionsvorsitzende, den ich jetzt
nicht umfassend zitieren will,
1208
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1209
schreibt in einem langen Artikel, an eine baldige Voll-
mitgliedschaft der Türkei in der EU sei nicht zu den-
ken. Dies geht weit über die Festlegungen der Union
hinaus.
Unabhängig von der Tatsache, dass die Beitrittskrite-
rien bei weitem nicht erfüllt sind: Wir wollen – das sage
ich sehr deutlich; Edmund Stoiber hat immer wieder he-
rausgestellt, dass die Türkei unser Freund und Partner ist –
neue Strukturen der Zusammenarbeit entwickeln.
Deshalb war es richtig, die Wirtschaftsleistungen bzw. die
finanziellen Hilfen wesentlich zu erhöhen. Wir müssen
neue Wege der Integration auch mit den hier lebenden
Türken gehen. Die Integration ist nicht erfolgreich ver-
laufen. Wir müssen diese Frage natürlich auch mit dem
deutschen Volk diskutieren.
Wenn Sie diese europäische Identität beiseite schieben
und den Weg zum Beitritt der Türkei gehen, dann frage ich
Sie: Mit welchen Argumenten verwehrt die Bundesre-
gierung den Staaten, die dann folgen werden, den Beitritt
zur Europäischen Union: Georgien, Aserbaidschan, Ar-
menien, Ukraine, Serbien-Montenegro, Bosnien, Ma-
rokko, Israel?
Deshalb können und dürfen wir uns heute an diesem
Punkt der Frage der Finalität nicht verweigern. Das wird
eine Kernfrage sein, die wir gemeinsam beantworten
müssen. Wir müssen neue Strukturen der Zusammenar-
beit mit und neben der politischen Union entwickeln. Wir
haben noch eine ganze Menge zu tun, um den Begriff der
privilegierten Zusammenarbeit – andere nennen sie Teil-
mitgliedschaft, wieder andere EWR Ost – inhaltlich zu
füllen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Voraus-
setzungen für diesen Schritt der Erweiterung der Europä-
ischen Union sind leider nicht umfassend gesetzt. Ich er-
innere an das institutionelle Problem, das in Nizza nicht
gelöst wurde. Wir sind finanziell nicht auf den Beitritt
vorbereitet, weil der Berliner Gipfel unter Regentschaft
von Gerhard Schröder gescheitert ist.
– Herr Gloser, die Fragen der Reform der Agrarpolitik und
der Reform der Strukturpolitik sind offen.
Alle diese Fragen schiebt diese Bundesregierung vor sich
her: keine Lösung, kein Ansatz.
Es gibt keine Position der Bundesregierung zum Ver-
fassungsvertrag. Frau Merkel hat hier grundlegende
Ausführungen gemacht. Der Bundeskanzler sprach in sei-
ner Rede – ich habe sie hier – davon, es müsse eine ent-
schlossene Reform sein, es müsse ein guter Vertragsent-
wurf sein. Das waren leere Formeln, leere Floskeln. Wir
wissen nicht, in welche Richtung die Bundesregierung im
Konvent über den Verfassungsvertrag verhandelt. Wir, der
Deutsche Bundestag, und die Öffentlichkeit wollen wis-
sen, welche Position die Bundesregierung zum Verfas-
sungsvertrag einnimmt und wie ihr Konzept zur Souverä-
nitätsteilung zwischen Europa und Nationalstaat aussieht.
Zur Kompetenzabgrenzung zwischen Brüssel, Berlin
und Düsseldorf oder München wurden bisher keine Vor-
stellungen entwickelt. Welche Rolle soll das nationale
Parlament in Zukunft noch spielen? Wir wollen ein maß-
gebliches Mitentscheidungsrecht in der Sekundärrecht-
setzung in Europa.
Wir haben mit dem Schäuble-Bocklet-Papier als ein-
zige Fraktion, als einzige Partei ein umfassendes, ge-
schlossenes Konzept vorgelegt.
Das Prinzip Subsidiarität muss Verfassungsrang haben.
Ich könnte weitere inhaltliche Ausführungen dazu ma-
chen, die ich beim Bundeskanzler vermisst habe.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ich darf die Frage stellen: Was tun Sie, um die Herzen der
Jugend und aller Menschen in unserem Lande für diese
Osterweiterung zu gewinnen? Was tun Sie, um die Sorgen
der Heimatvertriebenen aufzunehmen?
Herr Kollege, eine Frage, aber nicht mehr viele.
Wie lösen Sie die Probleme im Grenzland?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa
braucht Führung: wirtschaftlich, ordnungspolitisch. Eu-
ropa braucht eine Identifikation, eine Gestaltungs- und
Leitidee. Eine Regierung muss Orientierung geben. Sie
haben keinen Kompass. Sie wissen nicht, woher Sie kom-
men, und Sie wissen nicht, wohin Sie wollen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
– Herr Minister, bitte Schweigen auf der Regierungsbank.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dass die Bundesregierung sowohl einen Kom-
pass hat als auch genau weiß, wohin sie will, zeigt auch
Dr. Gerd Müller
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Ludger Volmer
die Sicherheitspolitik, die im Rahmen des Europäischen
Rates mitdiskutiert und teilweise beschlossen worden ist.
Herr Kollege, Ihre Fraktionsvorsitzende konnte sich
heute Morgen leider nicht enthalten, das Thema Finanzie-
rung der Bundeswehr, offensichtlich ein Evergreen der
Oppositionskultur, in die Debatte um den europäischen
Einigungsprozess einzubringen. Was sie damit bewiesen
hat, waren nicht etwa Fehler der Bundesregierung; Sie,
Frau Merkel, haben damit nur bewiesen, dass Sie einem
altmodischen Verständnis von Sicherheitspolitik anhän-
gen.
Der Europäische Rat hat auf mindestens drei Ebenen
neue Weichenstellungen für eine moderne Sicherheitspo-
litik vorgenommen, die einem erweiterten Sicherheitsbe-
griff folgt. Dieser Sicherheitsbegriff ist dabei, Abstand zu
nehmen von seiner Militärlastigkeit.
Zunächst hat er beschlossen, dass die Ergebnisse der Ver-
handlungen, die damals in Berlin vom Bundeskanzler mit
initiiert worden waren und die in das Konzept „Berlin plus“
mündeten, nun notifiziert oder ratifiziert werden. Das heißt,
die europäischen Streitkräfte, so sie im europäischen Kon-
text handeln wollen, können auf NATO-Assets, auf die In-
frastruktur der NATO, zurückgreifen. Das heißt nicht mehr
und nicht weniger, als dass die grundsätzliche Frage, ob die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der
NATO-Struktur kompatibel ist oder nicht, nun positiv ge-
klärt ist.
Wir sehen ja schon die ersten positiven Auswirkun-
gen. Im Vorgriff oder in Erfüllung von „Berlin plus“ wird
– darüber werden wir morgen diskutieren – die Bundes-
republik gemeinsam mit unseren niederländischen
Freunden die Lead-Funktion bei ISAF in Afghanistan
übernehmen. Das ist möglich, weil die auf dem Europä-
ischen Rat beschlossenen Strukturen der Zusammenar-
beit zwischen der NATO und der Europäischen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik funktionieren und
implementierbar sind. Dies ist auch ein Erfolg der rot-
grünen Bundesregierung.
Die Europäer haben sich dazu bekannt, dass Sicher-
heitspolitik mehr ist als Militärpolitik. Deshalb ist die Eu-
ropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch Teil
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der
GASP. Die GASP ist das übergeordnete Denksystem zur
ESVP. Die GASPbeinhaltet den Begriff der Außenpolitik.
Das heißt, Sicherheitspolitik wird zum großen Teil nicht
militärisch definiert. Dies ist der eigentliche Neuansatz,
den Sie, Frau Merkel, überhaupt nicht gesehen haben.
Der gesamte Prozess der Osterweiterung der Europä-
ischen Union ist ein Stück hervorragender Sicherheitspo-
litik. Es ist nicht militärische Sicherheitspolitik par excel-
lence. Schauen wir doch 15 Jahre zurück. Viele der Staa-
ten, die nun Mitglied der Europäischen Union werden,
waren damals Teil eines gegnerischen Blocks. Wir stan-
den uns hoch bewaffnet gegenüber. Dass der Warschauer
Pakt zusammengebrochen ist, ist der eine Punkt. Dass die
Europäische Union bereit ist, sich zu erweitern, heißt
doch: Sie leistet Sicherheitstransfer nach Osten, und
zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens werden ehemalige
Gegnerstaaten nun in ein gemeinsames Gesellschafts-
konzept – nicht nur in ein Verteidigungskonzept – einge-
bunden und zweitens leisten wir Stabilitätstransfer für
Staaten, für die möglicherweise sonst krisenhafte Ent-
wicklungen drohen. Auch in diesem Sinne leistet der eu-
ropäische Erweiterungsprozess einiges für unsere eigene
Sicherheit in Europa.
Wenn wir diesen Sicherheitsbegriff zugrunde legen,
hat das auch Rückwirkungen auf die Reform der Bun-
deswehr. Das kam schon in der Weizsäcker-Kommission
zum Ausdruck und die Bundesregierung ist dabei, die Si-
cherheitspolitik und die Hardware, also die Sicherheits-
strukturen, in diesem Sinne zu reformieren.
Selbstverständlich braucht die Bundeswehr neue Mög-
lichkeiten und die entsprechende Ausrüstung, um ihrer
neuen Verantwortung auch weltweit gerecht zu werden,
aber dies sollte nicht additiv zur bisherigen Landesvertei-
digung gesehen werden, sondern teilweise als Alternative.
Denn Landesverteidigung im traditionellen Sinne, wie
Sie, Frau Merkel, sie im Kopf haben, ist überflüssig ge-
worden. Wir sind heute von Freunden umgeben. Ein Pro-
zess, der vor zehn Jahren begann,
hat auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen nun seinen
Abschluss gefunden. Ehemalige Gegnerstaaten sind
Freunde geworden. Wir heißen sie herzlich willkommen.
Dies gibt uns die Möglichkeit, unsere Sicherheitspolitik
neu zu definieren, Abschied zu nehmen von einem längst
überholten Verteidigungsdenken und uns modernen si-
cherheitspolitischen Anforderungen zuzuwenden.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Wissmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte auf einige Interventionen der Kollegen von Rot-
Grün eingehen. Ich verstehe nicht, warum Sie in dieser
1210
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1211
Debatte an der Opposition herumnörgeln. Eigentlich
müssten Sie doch froh sein, dass die Entscheidungen des
Kopenhagener Gipfeltreffens von Regierungsfraktionen
und Opposition gemeinsam getragen werden und wir den
Wettbewerb um die besten Ideen für die Zukunft Europas
führen und es keine nennenswerte Antieuropafraktion
gibt. Das ist doch der große Vorteil des Deutschen Bun-
destages gegenüber anderen Parlamenten.
Seien Sie froh, dass Sie eine so kreative und vorantrei-
bende Opposition
und eine Oppositionsführerin haben, die das in ihrer Rede
zum Ausdruck gebracht hat. Seien Sie froh, dass Sie nicht,
wie das in anderen Parlamenten der Fall ist, mit Ressenti-
ments behaftete Reden der jeweils anderen Seite hören
müssen.
Wir sind uns erfreulicherweise über die große europa-
politische und strategische Bedeutung der Erweiterung
der Europäischen Union einig. Wir sind uns auch darin ei-
nig, dass wir alles tun müssen, um den bevorstehenden
Prozess der Ratifizierung, der in einigen Ländern schwie-
rig wird, positiv zu begleiten.
Trotz des Engagements empfiehlt es sich, wenn wir un-
sere Mitbürger auf den Weg der Erweiterung der Europä-
ischen Union mitnehmen wollen, immer wieder den Blick
auf die realen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse,
die jeden Einzelnen berühren, zu werfen. Es ist vorhin
schon zu Recht gesagt worden, dass die Erweiterung der
Europäischen Union für viele, die in Deutschland arbei-
ten, eine große Wachstumschance darstellt. Wir sind po-
tenziell eigentlich eines der stärksten Länder der Europä-
ischen Union – wir müssen nur die Fesseln abwerfen –,
wenn es darum geht, neue Märkte zu erobern.
Schon heute sind wir in den mittel-, ost- und südosteu-
ropäischen Ländern in der Regel Investitionsland und
Handelspartner Nummer eins. Wir haben eine große
Chance, diese Möglichkeiten auszubauen. Der Handel
mit den Beitrittsländern – das wurde schon zu Recht ge-
sagt – übersteigt den Wert von 140 Milliarden Euro.
Wenn wir den Blick auf die sozialen und wirtschaftli-
chen Verhältnisse richten, dann dürfen wir auch nicht ver-
schweigen, dass der gegenwärtige Zustand der Europä-
ischen Union und ihres Haushalts nur sehr unzureichend
auf die Erweiterungsperspektive eingestimmt ist
und die Agrar-, die Regional- und die Strukturpolitik der
Europäischen Union ganz schnell an ihre finanziellen
Grenzen kommen werden.
Was die finanzielle Bedeutung des Aus-dem-Ruder-Lau-
fens von Haushalten angeht, so haben wir es an einigen
Stellen mit tickenden Zeitbomben zu tun.
Meine Damen und Herren, sosehr wir die Erweiterung
auch begrüßen, müssen wir dennoch sehen, dass es auf
Dauer nicht gehen kann, dass in den letzten 20 Jahren in
die Europäische Union gekommene Länder – ich nenne
als Beispiel das uns sehr sympathische Irland – weiterhin
die Absicht haben, soweit es geht, von den Mitteln der eu-
ropäischen Fonds zu profitieren, obwohl alle vernünftigen
Wohlstandskriterien erfreulicherweise bereits weit über-
schritten sind.
Es geht nicht, dass wir langfristig eine Europäische
Union bauen, in der sich die neuen Beitrittsländer – die
wir begrüßen – mit den alten Nettoempfängern zu einem
Besitzstandskartell verbinden, das am Ende wirkliche
strukturelle Reformen unmöglich macht. Das müssen wir
auch sagen und die Sorgen der Bürger aufnehmen; nur so
können wir die Weichen für die Zukunft richtig stellen.
Wir müssen auch begreifen, dass eines der Defizite der
Europäischen Union darin besteht – das ist vor allem ein
Defizit der Nationalstaaten, die dazu bisher zu wenig Per-
spektiven eröffnet haben –, dass wir eine abgestimmte
und koordinierte europäische Wirtschaftspolitik bis
heute nicht haben.
Ich rufe nicht danach, die Wirtschaftspolitik nach
Brüssel zu verlagern. Aber ich rufe dazu auf, dass wir
kraftvoller und überzeugender als bisher eine abge-
stimmte europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik be-
treiben, die dafür sorgt, dass wir in Europa nicht in erster
Linie mit fragwürdigen Strukturhilfen und Subventionen
operieren, sondern dass wir die Wachstumskräfte in Eu-
ropa entfesseln. Ich glaube, hier liegen noch gewaltige
Aufgaben vor uns.
Die Botschaft heißt klar: Runter mit den Subventionen
in Europa, runter mit den übersteigerten konsumtiven
Ausgaben, runter mit der Staatsquote! Sie heißt positiv:
striktes Einhalten der Maastrichter Stabilitätskriterien,
eine durchgreifende Deregulierung der Arbeitsmärkte
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und eine
mutige Konsolidierung der Haushalte in allen europä-
ischen Mitgliedstaaten. In der Freude über die Erweiterung
und über die erreichten staatspolitischen Ziele dürfen wir
den Blick für die dahinter liegenden ökonomischen und
sozialen Fakten nicht verlieren.
Nun will ich die Frage aufgreifen, wie die Europäische
Union in Zukunft aussehen soll. Das Thema Türkei ist für
keinen von uns ein ideologisches Thema, sondern wir
stellen die Fragen: Wie soll eigentlich die künftige Gestalt
der Europäischen Union im Jahre 2020 aussehen? Wozu
führt eine grenzenlose Ausweitung der Europäischen
Union? Kann eine Überdehnung der Europäischen Union
am Ende politisch, wirtschaftlich und sozial überhaupt
noch gemeistert werden? Meine Sorge ist: Eine grenzen-
lose Ausweitung der Europäischen Union führt am En-
de – ob wir es wollen oder nicht – dazu, dass der Gedanke,
der uns eint, nämlich die Integration Europas, zerstört
wird.
Deswegen müssen wir alles daransetzen – auch wenn wir
unterschiedliche Konzepte haben –, dass wir zuerst um
die Integration der Europäischen Union und zunächst
Matthias Wissmann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Matthias Wissmann
nicht um eine möglichst grenzenlose Ausweitung bemüht
sind.
Ich sage dies auch ganz offen zu politischen Freunden.
Herr Berlusconi – man mag die eine oder andere Meinung
über ihn haben – fährt auch nach Russland und teilt dem
russischen Präsidenten mit, dass er möglichst schnell des-
sen Land als Vollmitglied der Europäischen Union auf-
nehmen will. Wir müssen also mehr Fragen beantworten
als nur die Frage nach dem Beitritt oder Nichtbeitritt der
Türkei. Wir müssen die Frage nach der künftigen Gestalt
Europas beantworten.
Deswegen rate ich uns, alles daranzusetzen – wenn Sie
daran engagiert arbeiten, haben Sie die Unterstützung der
Union –, dass wir der Europäischen Union die Vertiefung,
die Führungsfähigkeit, die parlamentarische Kontrolle
und die Transparenz geben, die sie dringend braucht. Dies
ist die allererste Aufgabe. Wenn die Erfüllung dieser Auf-
gabe durch uferlos viele Beitritte gefährdet würde, wä-
re – das sage ich ganz klar – für die Union die Integration
Europas wichtiger als eine grenzenlose Ausweitung.
Zusammengefasst: Bei allen Unterschieden gibt es,
wenn wir guten Willens sind, bezüglich der europäischen
Perspektive eine weit über Parteigrenzen hinausgehende
Gemeinsamkeit. Meine Hoffnung ist, dass wir verstehen,
dass sich der Europäischen Union eine Riesenchance bie-
tet, wenn uns im nächsten halben Jahr die Vertiefung der
Europäischen Union gelingt. Wir müssen dabei die Bür-
ger mitnehmen. Die Bürger in Deutschland sind nicht eu-
ropafeindlich, aber sie nehmen eine abwartende Haltung
ein. Sie sind über alle Aspekte dessen, was wir hier be-
sprechen, nicht genügend bzw. in vollem Umfang infor-
miert.
Frau Präsidentin, wenn Sie mir erlauben, dies hier noch
zu sagen: Ich beschäftige mich jetzt verstärkt mit Europa-
politik und habe den Eindruck, dass wir uns auch im Par-
lament überlegen müssen, wie wir das gesamte Parlament
in den nächsten zwölf Monaten stärker mit dem Thema
Europa beschäftigen können, damit durch die Beschäfti-
gung des Parlamentes mit dem Thema auch die Bürger
klarer verstehen können, vor welch großen Weichenstel-
lungen wir stehen.
Ich glaube, dem können wir nicht gerecht werden,
wenn die Sitzungen des Deutschen Bundestages nach
dem normalen Muster ablaufen. Wir stehen vor der Rati-
fizierung der Erweiterung und wir stehen vor der Frage
der Vertiefung. Deswegen glaube ich, dass das Parlament
die Abläufe der Plenarsitzungen im nächsten halben Jahr
ändern muss – das französische Parlament hat eine solche
Entscheidung bereits getroffen –, damit das Thema Europa
wirklich in den Mittelpunkt rückt. Dieses Thema sollte
nicht nur dann im Mittelpunkt stehen, wenn ein erfolg-
reicher Gipfel stattgefunden hat, sondern auch, wenn die
großen Entscheidungen vorbereitet werden. Vorhin ist zu
Recht gesagt worden: Das Thema Europa gehört nicht nur
nach den Entscheidungen, sondern auch davor zum Kern
der Plenartagungen des kommenden Jahres.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Kopenhagen, Brüssel, Laeken, Barcelona, Sevilla – es
hat viele Stationen gegeben. Ich möchte in Bezug auf be-
stimmte Ausführungen des Kollegen Matthias Wissmann
unterstreichen, dass es auf dieser langen Wegstrecke auch
viele Gemeinsamkeiten im Deutschen Bundestag gege-
ben hat. Die Strecke von Kopenhagen nach Kopenhagen
ist dank der Arbeit unterschiedlicher Regierungen, unter-
schiedlicher Lager zustande gekommen.
Ich werde auf ein paar Punkte eingehen, die die aktu-
elle Diskussion beleuchten sollen. Ich möchte Folgendes
deutlich herausstreichen – das haben viele, auch Frau
Angelica Schwall-Düren, sehr deutlich gemacht –: Ohne
den Willen und die Bereitschaft aller Beteiligten, zu Kom-
promisslösungen zu kommen, wäre dieser Erfolg nicht
zustande gekommen. Das gilt zuallererst im Hinblick auf
die großen Leistungen und die großen Anstrengungen der
Regierungen und der Bevölkerungen in den Beitritts-
ländern. Ich meine, dies sollte an dieser Stelle deutlich
herausgestellt werden.
Denn gerade die Umstellungen und die Reformprozesse
haben den Menschen in den Beitrittsländern große An-
passungsleistungen abverlangt, die sie weitestgehend – in
einer bestimmten Phase sicherlich auch mit Unterstüt-
zung der Europäischen Union – aus eigener Kraft bewäl-
tigt haben.
Schließlich will ich auch den Mitgliedstaaten der EU
meine Anerkennung dafür aussprechen, dass sie Solida-
rität übten und sich auch in Fragen, die wichtige natio-
nale Interessen berühren, zu gemeinsamen Positionen
durchringen konnten. Ich erinnere in diesem Zusammen-
hang an den deutsch-französischen Agrarkompromiss.
Aber auch andere haben trotz öffentlicher Diskussionen
in vielen Bereichen, was ihre Interessen angeht, zurück-
gesteckt.
Ich möchte meinen Dank ausdrücklich Bundeskanzler
Schröder aussprechen, weil er in den letzten vier Jahren
gemeinsam mit dem Außenminister Joschka Fischer die
Position der rot-grünen Bundesregierung vertreten hat. In
diesem Zusammenhang kann ich der Union zumindest ei-
nen Rückblick nicht ersparen. Diskussionen, die hier
1999 stattgefunden haben, erinnern mich an das Verhalten
gewisser Schüler in meiner Schulzeit, die zu den Lehrern
gelaufen sind und gesagt haben: Herr Lehrer, ich weiß et-
was. – Sie haben uns nach Ihrem Ausscheiden aus der Re-
gierungsverantwortung, also zu Beginn unserer Regie-
rungszeit, bei den Beitrittskandidaten häufig in Verruf
gebracht, nach dem Motto: Die rot-grüne Bundesregie-
rung will diese Erweiterung nicht. – Das hat einfach nicht
gestimmt.
1212
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1213
In den letzten Jahren ist uns von diesen Ländern signa-
lisiert worden, dass sie in dieser deutschen Bundesregie-
rung einen Befürworter – von „Makler“ möchte ich nicht
sprechen – dieses großen Projekts gehabt haben. Man hat
in der Tat gesagt: Sprecht mit uns wahrhaftig, sprecht mit
uns über realistische Ziele und Daten; das ist besser, als
uns Beitrittsdaten zu nennen, die niemand einhalten kann.
Das muss ich auch hier in Erinnerung rufen.
Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte,
der polnischen Geschichte, aber auch unserer eigenen
Geschichte war es doch ein sehr eindeutiges Zeichen,
dass Gerhard Schröder gerade in einer sehr schwierigen
Phase der Kopenhagener Verhandlungen deutlich gesagt
hat: Es gibt keine Erweiterung ohne Polen. Das ist ein
wichtiges außenpolitisches Zeichen. Ich denke, darüber
gibt es hier, im Deutschen Bundestag, einen entspre-
chenden Konsens.
Lieber Gerd Müller, wir beide sind 1994 in den Deut-
schen Bundestag gewählt worden. Manche CD, die du
– ich darf das sagen, weil wir uns ganz gut kennen – hier
immer wieder auflegst, stimmt einfach nicht. Ich denke
zum Beispiel an die Verhandlungen im Rahmen des
Berliner Gipfels zur Agenda 2000. Gerade auf der
Grundlage der Ergebnisse von Berlin ist es doch gelungen
– das ist heute durch den Beitrag des Bundeskanzlers und
durch andere Beiträge deutlich geworden –, diese Erwei-
terung zu finanzieren, und zwar statt für sechs Länder,
wovon man damals in Berlin ausgegangen ist, sogar für
zehn Länder. Dabei bleiben wir sogar unter dem, was wir
uns damals als finanziellen Rahmen gesetzt haben. Wenn
das kein Erfolg ist, dann weiß ich nicht, was ein Erfolg
sein soll. Ich hätte mir gewünscht, manches wäre schon
unter der CDU/CSU-Regierung geschehen.
Kollege Wissmann hat einen Punkt zu Recht angespro-
chen – darüber gibt es im Grundsatz keinen Dissens –,
dass man bestimmte Bereiche wie die Strukturfonds, den
Agrarbereich usw. reformieren muss. Ich habe eine herz-
liche Bitte – schließlich kommen wir aus demselben
Landstrich und demselben Bundesland –, nämlich dass
der Ministerpräsident des Freistaates Bayern nicht gegen
jede Reform, die im Agrarbereich angegangen wird, ist
und dass er einsieht, dass es ohne größere finanzielle Be-
teiligung gemacht werden muss und dass es Nachteile
auch für bayerische Landwirte geben wird. Wenn die Re-
form gewollt wird, dann brauchen wir auch seitens der
CSU in Bayern Unterstützung und nicht nur eine populis-
tische Politik.
Ein weiterer Punkt. Es gibt, wie ich denke, einen
großen Konsens, was den Verfassungskonvent angeht. Ich
denke, wir sind, auch wenn man die Debattenbeiträge
berücksichtigt, hier im Parlament auf einem guten Weg.
Lassen Sie mich einen weiteren wichtigen Aspekt an-
sprechen; das sage ich auch etwas selbstkritisch. Am ver-
gangenen Montag haben die Vertretung der Europäischen
Kommission in Berlin und der schon vielfach gelobte
Kommissar Günter Verheugen eine Initiative pro Erwei-
terung gestartet. Auf dem Film stand, er sei von der Eu-
ropäischen Kommission und vom Informationsbüro des
Europäischen Parlaments. Ich hätte mir vor dem Hinter-
grund, dass auch wir in Zukunft Verantwortung dafür ha-
ben, diesen großen Erweiterungsprozess innenpolitisch
zu flankieren, natürlich gewünscht, in dieser Aufzählung
auch den Deutschen Bundestag oder die deutsche Bun-
desregierung zu lesen. Ich richte auch an die Bundes-
regierung die Bitte, bei Gelegenheit auszuloten, warum
diese Initiative nicht gemeinsam machbar war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen Ta-
gen ist häufig, auch hier, die Türkei angesprochen wor-
den. Herr Michael Glos hatte vor kurzem ein Presse-
gespräch gegeben. Leider bin ich aus den verschiedenen
Aspekten nicht schlau geworden.
– Das kann ich mir nicht vorstellen, Herr Glos. – Das Fa-
zit dieser Pressemitteilung ist, die CSU wolle vor dem
Hintergrund der Entscheidung zur Türkei ihre EU-Politik
verändern. Es hätte alle hier brennend interessiert, schon
jetzt zu erfahren, wie die CSU ihre EU-Politik verändert,
damit wir nicht auf die Ergebnisse der Tagung in Kreuth
warten müssen. Es hat ja schon kritische Stimmen auch
aus der CDU gegeben.
Bundeskanzler Kohl ist richtigerweise für seine Ver-
dienste im Zusammenhang mit den Erweiterungsprozes-
sen gewürdigt worden. In den Schlussfolgerungen über
den Europäischen Rat in Luxemburg vom 12. und 13. De-
zember 1997, lieber Michael Glos – das hat Bundes-
kanzler Kohl entsprechend mit entschieden –, ist unter
Ziffer 31 über die europäische Strategie für die Türkei zu
lesen:
Der Europäische Rat bekräftigt, dass die Türkei für ei-
nen Beitritt zur Europäischen Union infrage kommt.
Das Beitrittsersuchen der Türkei wird auf der Grund-
lage derselben Kriterien untersucht wie im Falle an-
derer Bewerberstaaten.
Die Bundesregierung macht doch nichts anderes als
das, was hier niedergelegt ist. Sie sollten bei diesem
Thema nicht in dieselbe isolationistische Phase eintreten,
wie Sie das schon einmal in diesem Deutschen Bundestag
an anderer Stelle getan haben. Als der Deutsche Bundes-
tag nämlich über die KSZE in Helsinki entschieden hat,
haben Sie als CDU/CSU dagegen gestimmt. Sie befanden
Günter Gloser
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Günter Gloser
sich in dieser Frage damals im Gleichklang mit den alba-
nischen und den italienischen Kommunisten.
Jetzt sind Sie wieder isoliert. Ich meine, Sie sollten Ihren
Standpunkt überprüfen. Es gibt in Ihrer Fraktion glück-
licherweise – ich nenne nur Volker Rühe und auch
Ruprecht Polenz, der anders argumentiert hat – vernünf-
tige Stimmen.
Ich glaube, wir sollten – das unterstreiche ich zum
Schluss meiner Rede – diesen großen Grundkonsens, den
es in Fragen der Europapolitik gibt, fortführen. Wir haben
das getan, als wir in der Opposition zu der Bundesregie-
rung aus CDU/CSU und FDP waren. Es ist guter demo-
kratischer Brauch, in wichtigen Existenzfragen, auch
beim Bau dieser Europäischen Union, die Unterstützung
aller in diesem Hause zu haben. Ich ermuntere Sie, all
meine üblichen europäischen Verdächtigen, die Skeptiker
in Ihren Reihen noch zu überzeugen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Wir stehen am Ende einer Debatte zu einem – wie oft ge-
sagt wurde – historischen Ereignis, dem Gipfel in Kopen-
hagen, zu dessen Erfolg – auch das wurde zu Recht ge-
sagt – der deutsche Bundeskanzler wesentlich beigetragen
hat, aber ebenfalls der deutsche Kommissar Günter
Verheugen. Beiden ist hier noch einmal zu danken.
Dies ist ein historisches Ereignis für viele Menschen,
insbesondere für diejenigen, mit denen ich, gemeinsam
mit anderen, in kommunistischer Zeit für Freiheit und
Demokratie eingetreten bin. Auch diese Linie ist heute
schon gezogen worden. Es ist die Vollendung, die Erfül-
lung eines Lebenstraumes vieler Europäer, die nicht
zurück nach Europa wollten, sondern die wollten, dass die
europäischen Traditionen von Freiheit und Demokratie
auch für ihr Land Wirklichkeit werden. Ich bin froh, dass
verschiedene Redner dies heute schon zum Ausdruck ge-
bracht haben. Dieser Lebenstraum dauert nun schon län-
ger an. Es gibt ihn nicht erst seit dem Jahr 1989, obwohl
in dieses Jahr ein ganz zentrales Ereignis fiel. Erst heute
schließt sich der Kreis wirklich.
Die Bilder, die wir nach Kopenhagen sehen konnten,
sind prägende und wichtige Bilder. Wenn sich zum Bei-
spiel in Polen Adam Michnik und der dortige Minister-
präsident, das heißt zwei Menschen aus ganz unter-
schiedlichen Lagern, die vor 1989 auf entgegengesetzten
Seiten standen, wegen dieses Ereignisses in den Armen
liegen, dann spricht dies Bände: Es zeigt die Größe der ge-
meinsamen Aufgabe, dass sich die politischen Lager
heute völlig neu formieren und dass auch die Opposition
in diesen Ländern davon zu überzeugen ist, diesem euro-
päischen Weg, der für das betreffende Land wichtig ist,
zuzustimmen. Denn in diesen Ländern gibt es Referenden
und es ist keineswegs klar, dass diese Referenden alle po-
sitiv ausgehen. Hier sollten wir selber klare Signale geben
und die Beitrittsverträge baldmöglich ratifizieren. Es ist
gut, dass von Kopenhagen diese klare Botschaft ausgeht.
Es ging um die Vollendung und nicht nur um eine Er-
weiterung Europas. Ich glaube, darin liegt die zentrale
Bedeutung. Insofern ging es in Kopenhagen um die Frage
der Identität Europas. Aber Europa ist noch nicht voll-
ständig. Mit Rumänien oder Bulgarien laufen noch Ver-
handlungen. Es ist richtig, dass wir sagen: Wir wollen
auch diesen Ländern verstärkt helfen, dass sie Mitglied
werden können. – Es gibt den Vorschlag – den ich sehr un-
terstütze –, dass man diesen beiden Ländern ab 2004, das
heißt, wenn die zehn anderen EU-Mitglieder sind, ein kla-
res Signal gibt, dass sie dazugehören. Dazu sollte man im
Europäischen Parlament einen Beobachterstatus schaffen,
um sie in europäischen Fragen mitreden, wenn auch noch
nicht mitentscheiden zu lassen. So erhielten Politiker der
Regierungs- und Oppositionsparten die Gelegenheit, in
ihren Ländern für die EU-Integration einzutreten und diese
Prozesse voranzubringen. Hier ist Wesentliches zu tun.
Wir haben mitten in Europa eine Wunde, das frühere
Jugoslawien.Hier ist viel Blut geflossen. Hier war Krieg.
Durch die Ergebnisse von Kopenhagen und dadurch, dass
wir demnächst zwischen NATO und EU – durch diesen
Durchbruch – entsprechende Abkommen haben werden
– das ist von Staatsminister Bury angesprochen worden –,
können wir nun, nach zwei Jahren, als Europäer dort auch
die militärische Sicherung übernehmen.
Dass im Zentrum Europas eine friedliche Entwicklung
militärisch abgesichert werden muss, macht deutlich, wie
groß die Aufgabe noch ist. Deshalb brauchen wir für diese
fünf Staaten eine gezielte und engagierte Heranführungspo-
litik. Denn Stabilität und Integration auch für diese Länder
im Zentrum Europas zu gewährleisten ist eine wesentliche
Aufgabe und diese müssen wir entschlossen anpacken.
Darüber hinaus gibt es die Länder am Rand Europas.
Es ist eine Frage der Identität, dass wir zum Beispiel ein
Land wie Moldova nicht völlig vergessen dürfen. Es ist
ein Land, an das normalerweise keiner denkt. Dort haben
die Not, die Armut und die Verzweiflung der Menschen
dazu geführt, dass man eine nicht reformierte, kommu-
nistische Regierung gewählt hat, die nun den Präsidenten
stellt. Dies ist ein Problem. Es resultiert aus der großen
Armut und bringt Risiken für die Stabilität mit sich. Wenn
wir uns die Region genauer ansehen, stellen wir fest, dass
auch dort europäisches Wirken notwendig ist, um genau
verfolgen zu können, was mit diesem Land und dieser Re-
gion geschieht.
1214
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1215
Wir haben uns hier auch über die Türkei unterhalten.
Es ist überhaupt keine Frage, dass wir uns mit den Pro-
blemen, die durch eine Mitgliedschaft der Türkei auf die
Tagesordnung gekommen sind, intensiv beschäftigen
müssen. Aber eines muss man sehr deutlich machen – da-
rauf ist hier bereits hingewiesen worden –: Diese Frage
war schon sehr viel früher aktuell. 1963 ist, meine Herren
und Damen von der CDU/CSU, von Kanzler Adenauer
der Assoziierungsantrag mit vorbereitet worden. Schon
damals ging es um die Perspektive der Mitgliedschaft.
1987 hat die Türkei einen Antrag auf Mitgliedschaft ge-
stellt. Der parallel gestellte Antrag Marokkos wurde vom
Rat mit der Begründung abgelehnt, es sei kein europä-
isches Land. Ich denke, das war richtig. Der Antrag der
Türkei wurde nicht in der gleichen Weise abgelehnt, son-
dern der Kommission zur Prüfung übermittelt. Damit ist
klar: Die Türkei ist ein europäisches Land.
Ich sehe gerade, dass Herr Glos mit anderen Dingen
beschäftigt ist. Aber ihm muss ich deutlich sagen: Es wäre
sinnvoll gewesen, diese ablehnende Haltung seinerzeit,
unter dem damaligen Kanzler, zum Ausdruck zu bringen.
Adenauer aber vertrat eine andere Auffassung. Er war der
Ansicht, dass die Türkei sehr wohl eine europäische Per-
spektive habe.
Auf der Basis dieser Linie hat 1999 der Gipfel in Helsinki
stattgefunden, der dem in Luxemburg 1997 folgte. Dieser
Linie, die Kanzler Adenauer vorgegeben hatte und die
Kanzler Kohl fortgesetzt hat, ist die jetzige Regierung ge-
folgt. Dabei lassen sich viele Probleme ausmachen, von
denen ich eine Fülle aufzählen könnte.
Den Zeitplan, der jetzt abgesteckt wurde, sehe ich als
ausgesprochen ambitioniert an, wenn man sieht, was in
der Türkei alles gemacht werden muss. Es darf keinen po-
litischen Rabatt geben. Es reicht nicht aus, dass man sich
im Gesetzblatt zur Einhaltung der Menschenrechte ver-
pflichtet, sondern sie müssen in der Praxis auch eingehal-
ten werden. Auch das ist bereits gesagt worden. Sowohl
Christen als auch Muslime müssen sich nicht nur frei be-
wegen, sondern auch ungehindert ihre Religion ausüben
können. Die Ausübung unterschiedlicher Religionen und
unterschiedlicher ethnischer und kultureller Traditionen
müssen in diesem Land zur Praxis werden. Wir werden se-
hen, ob dies in den nächsten Jahren der Fall sein wird.
All dies wird zu neuen Entscheidungen führen. In zwei
Jahren wird dies dann nicht nur von den heutigen 15, son-
dern von 25 Mitgliedstaaten gemeinsam entschieden.
Hier stellt sich dann für uns alle die Frage der Zukunft Eu-
ropas.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 15/215 zu überweisen, zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für Verbrau-
cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/195 und 15/216 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 15/195 soll zusätzlich an den
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft überwiesen werden. – Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht der Bundesregierung über die Lage der
freien Berufe
– Drucksache 14/9499 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine Stunde vorgesehen. – Kein Widerspruch.
Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Parlamentarische Staatssekretär Rezzo Schlauch.
R
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bun-
desregierung hat gegen Ende der vergangenen Wahlpe-
riode dem Parlament den dritten Bericht über die Lage der
freien Berufe vorgelegt. Diesen Bericht möchte ich mit ei-
nigen grundsätzlichen Bemerkungen in die parlamentari-
sche Diskussion einführen.
Unser Land braucht mehr Menschen, die den Mut ha-
ben, eigene unternehmerische Ideen zu verwirklichen und
Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Angehörigen der freien Berufe sind hierfür bekannt-
lich hervorragende Repräsentanten.
Gerade in den vergangenen Wochen haben wir Ent-
scheidungen vorbereitet und getroffen, die unternehme-
risches Handeln erleichtern und fördern.
Markus Meckel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
– Hören Sie erst einmal zu! Sie können später dazu Stel-
lung nehmen. Dafür ist eine Parlamentsdebatte schließ-
lich gedacht.
Als Erstes nenne ich die Sicherung der Mittelstands-
finanzierung. Es ist bekannt, dass sich die Banken – so-
wohl Geschäftsbanken als auch öffentliche Banken –
zunehmend aus der Finanzierung des Mittelstandes
zurückgezogen haben. Deshalb haben wir mit der Schaf-
fung einer neuen Mittelstandsbank durch die Fusion von
KfW und DtA einen wichtigen Schritt getan.
Als Mittelstandsbank des Bundes wird sie ein zentraler
Ansprechpartner in allen Fragen der Mittelstandsförde-
rung werden. Wir schaffen damit eine höhere Effizienz
und bauen Bürokratie ab.
Zweitens. Mit einem Masterplan Bürokratieabbau
werden wir wuchernde Bürokratien abbauen. Alle, die
sich diesem Thema ernsthaft widmen und es nicht nur als
Schlagwort in der politischen Auseinandersetzung im
Munde führen, wissen, welche Herkulesaufgabe dies dar-
stellen wird.
Drittens. Wir werden deutliche Erleichterungen für
Gründer schaffen. So planen wir zusammen mit dem
Handwerk, den durch die Leipziger Beschlüsse eingelei-
teten Liberalisierungsprozess im Handwerk fortzu-
führen.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht wahr
sein, dass man – wie es mir in den vergangenen Wochen
untergekommen ist – beim Kauf von Jalousien für innen
und für außen in einem Einrichtungshaus vonseiten des
Verkäufers die Auskunft erhält: Innen können wir sie Ih-
nen anbringen, aber außen nicht, weil dem die Hand-
werksrolle entgegensteht. – Das müssen wir ändern und
in diesem Bereich müssen wir weitere Fortschritte erzie-
len.
Das ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass die Ver-
karstung nicht nur in der Politik, sondern auch in den ge-
sellschaftlichen Gruppierungen vorhanden ist.
Ich hoffe, dass wir diese Verkarstung gemeinsam werden
aufbrechen können.
Außerdem wollen wir Existenzgründer in der Grün-
dungsphase finanziell entlasten, zum Beispiel durch die
Freistellung von Kammerbeiträgen. Auch die Umsetzung
des Hartz-Konzepts bringt viel Positives für den Mittel-
stand. In den jüngsten Verhandlungen sind weitere Ver-
besserungen und Entbürokratisierungsmaßnahmen für
Kleingewerbetreibende und die Gründer einer Ich-AG
vereinbart worden, beispielsweise – das wird einen ent-
scheidenden Punkt darstellen – die vereinfachte Besteue-
rung und vereinfachte Buchführungspflichten für Klein-
gewerbetreibende.
Viertens. Mit der grundlegenden Reform der gering-
fügigen Beschäftigung und mit der Einführung einer
Gleitzone zwischen 400 und 800 Euro werden wir mit Si-
cherheit gerade den freien Berufen und dem Mittelstand
viel Gutes tun.
– Herr Kollege von der CDU/CSU, ich würde den Mund
an dieser Stelle nicht so voll nehmen, und zwar deshalb,
weil wir von den Grünen bereits im vergangenen Sommer
so weit waren wie Sie zu Beginn dieses Jahres.
Bei den freien Berufen haben wir es mit einer der wich-
tigsten Gruppierungen des Mittelstandes zu tun, die auf
bemerkenswert positive Entwicklungen verweisen kann.
Sie werden es in dem Bericht gelesen haben – und wenn
Sie das nicht getan haben, können Sie es nachholen.
Auch wenn in Deutschland von vielen über vieles auf
hohem Niveau gejammert und geklagt wird, so sind die
Freiberufler komischerweise nicht in der ersten Reihe zu
finden.
Ich denke, die Freiberufler gehen die Dinge mit ihrem
Sachverstand etwas nüchterner, etwas vorurteilsfreier und
ohne die großen politischen Brillen an.
Die Bundesregierung kennt und schätzt die in den letz-
ten Jahren ständig gewachsene Bedeutung der freien Be-
rufe in Wirtschaft und Gesellschaft. Die freien Berufe ha-
ben in den letzten zehn Jahren eine außerordentlich positive
Dynamik aufgewiesen. Nach wie vor besteht bei ihnen ein
hohes Potenzial für Wachstum und Beschäftigung.
So wuchs die Zahl der Selbstständigen und der abhän-
gig Beschäftigten in den freien Berufen auf über 3 Mil-
lionen. Damit repräsentieren sie nicht nur 7 Prozent aller
Erwerbstätigen in Deutschland; sie erwirtschafteten auch
rund 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zwischenzeit-
lich ist mehr als jede fünfte selbstständige Person in der
Bundesrepublik freiberuflich tätig. Bemerkenswert posi-
tive Aspekte hierbei sind die bei den Freiberuflern beste-
hende stabile Beschäftigung auch in schwachen Kon-
junkturphasen, die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt
mindert, das hohe Engagement der freien Berufe bei der
Lehrlingsausbildung und nicht zuletzt die hohe Frauen-
quote bei den selbstständigen freien Berufen mit ver-
gleichsweise hohen Einkommen bei den Freiberuflerinnen.
Meine Damen und Herren, die Zukunft der freien Be-
rufe wird deutlich stärker als bisher von der Binnen-
marktstrategie der EU geprägt sein.
Ich nenne hier das Stichwort „freie Preisgestaltung“. Der
Europäische Gerichtshof hat zwar die kollektive Preisge-
1216
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1217
staltung gerechtfertigt; auf ihr liegt aber vonseiten der
Kommission nach wie vor hoher politischer Druck. In vie-
len Berufsfeldern wie denen der Architekten, der Rechts-
anwälte und der Steuerberater wird zurzeit über Gebühren
und Honorare diskutiert.
Wir werden auf dieses Thema mit Sicherheit auch in den
Ausschussberatungen zu sprechen kommen.
Das bedeutet: Der scharfe Wind des internationalen
Wettbewerbs weht auch diesem Berufsstand stärker ins
Gesicht. Wo nötig, wird die Bundesregierung Windschutz
geben.
Dabei werden wir die Freiheit wettbewerblichen Han-
delns aber hoch halten; denn gute Wettbewerbspolitik ist
immer auch gut für den Verbraucher.
Wir können bezüglich der Situation der freien Berufe
optimistisch in die Zukunft blicken. Denn die freien Be-
rufe haben wegen ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Eigen-
ständigkeit und des Willens zur persönlichen Verantwor-
tung in unserem Land und darüber hinaus auch im
vereinten Europa beste Chancen. Ich freue mich, Ihnen
vor diesem Hintergrund diesen dritten Bericht vorlegen zu
können, und wünsche eine fruchtbare parlamentarische
Diskussion.
Ich bedanke mich.
Es tut mir Leid, Herr Kollege Hinsken. Ich habe Sie zu
spät gesehen.
– Dazu haben Sie jetzt noch Gelegenheit. Das Wort hat der
Abgeordnete Dr. Rolf Bietmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach so viel Bekenntnis zu unternehmerischer
Eigenverantwortung, Herr Staatssekretär
– jawohl, ich bin ergriffen –, stellt man sich natürlich die
Frage, warum dieses Bekenntnis in der praktischen Poli-
tik der Bundesregierung keine Umsetzung findet.
Denn Ihre Politik in Steuerfragen und Ihre Politik in Ar-
beitsmarktfragen ist doch ein klassischer Angriff auf den
Mittelstand und die freien Berufe in diesem Land.
Dass die freien Berufe in unserem Land eine herausra-
gende Bedeutung haben, wissen wir, Gott sei Dank, seit
längerem. Sie sind ebenso wie die breite Schicht leis-
tungsfähiger kleiner und mittlerer Unternehmen für das
Funktionieren der Marktwirtschaft unverzichtbar. Darum
sagen wir von CDU und CSU ein ganz klares Ja zu den
freien Berufen und wir danken für die großartigen
Beiträge der Angehörigen der freien Berufe zur gesamt-
wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland.
Annähernd jeder fünfte Selbstständige ist als Freibe-
rufler tätig.
Zu Beginn des Jahres gab es rund 761 000 selbstständige
Freiberufler und – wir hörten es bereits – knapp 2 Millio-
nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie über
157 000 Auszubildende in diesem Bereich.
Aufgabe der Politik in einer marktwirtschaftlichen
Ordnung ist es, die Bereitschaft der Menschen zu Selbst-
ständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Wir
brauchen heute mehr denn je die individuelle Verant-
wortung des Einzelnen für die Gemeinschaft bei der Ent-
wicklung beruflicher Ziele. Dazu brauchen wir auch eine
politische Strategie, die nur lauten kann: weniger Staat
und dafür umso mehr privat!
Die politische Realität in Deutschland ist heute aller-
dings eine andere: Statt Selbstständigkeit zu fördern,
greift der Staat immer weiter um sich. Die Zahl der Ge-
setze und Verordnungen steigt unerträglich. Die steuerli-
chen Lasten der Privaten haben eine Höhe erreicht, die die
Motivation zu selbstständiger und eigenverantwortlicher
Berufs- und Arbeitsleistung zurückdrängt. Nicht nur der
volkswirtschaftliche Schaden dieser Politik ist immens,
auch die gesellschaftspolitische Bedeutung fehlender Mo-
tivation für Selbstständigkeit ist verheerend.
Der vorgelegte Bericht der rot-grünen Bundesregierung
enthält insoweit – man kann es kaum glauben – erstaunli-
che Bekenntnisse zur Selbstständigkeit. Beispielsweise
heißt es, die Bundesregierung ziele mit ihrer Mittelstands-
politik darauf ab, die Leistung und Wettbewerbsfähigkeit
kleinerer Unternehmen und der freien Berufe zu stärken.
„Unternehmerische Dynamik und innovative Ideen“, so
liest man, „sollen sich voll entfalten können.“
Wer dies heute, wenige Monate nach der Bundestags-
wahl, hört, der reibt sich verwundert die Augen und stellt
fest, dass dieses richtige Bekenntnis mit der tatsächlichen
Politik von Rot-Grün völlig unvereinbar ist.
Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Rolf Bietmann
Der kurz vor der Wahl erstellte Bericht mit seinen wohl
formulierten Floskeln ist angesichts der politischen Rea-
lität ein weiterer Beweis dafür, dass die Menschen durch
Erklärungen vor der Wahl über die wahren Absichten rot-
grüner Politik nach der Wahl getäuscht worden sind.
Statt der angekündigten Freiräume für die Entfaltung
unternehmerischer Dynamik erleben die Vertreter der
freien Berufe und des Mittelstandes dramatische Ein-
engungen ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit. Dies
gilt in besonderer Weise für die gerade von Freiberuflern
privat finanzierte Altersvorsorge. Die geplante Besteue-
rung von nicht selbstgenutzten Immobilien sowie die Ein-
führung der Pauschalsteuer für Wertpapiergeschäfte tref-
fen die selbstständig Handelnden in der Bundesrepublik
Deutschland im Kerngehalt ihrer privaten Altersvorsorge.
Diese Steuerpolitik ist ein Angriff auf die selbstständig
Tätigen in Deutschland.
Wer als Freiberufler seine Altersvorsorge über Immo-
bilien, Wertpapiere und Lebensversicherungen organi-
siert, sieht sich heute einem unkalkulierbaren Zugriff
durch den Staat ausgesetzt.
Wie der Bericht insoweit von der Senkung der Staats-
quote, der Konsolidierung des Staatshaushalts und dem
politischen Bekenntnis zu privater Eigenverantwortung
sprechen kann, bleibt rätselhaft. Mit ihrer Steuerpolitik
zerstört Rot-Grün die Grundlagen einer über Jahre privat
aufgebauten Altersvorsorge zulasten der Menschen.
– Herr Stiegler, das ist die Wahrheit. Ihr Fraktionsvorsit-
zender möchte am liebsten, dass die Menschen in
Deutschland nur noch für den Staat arbeiten, damit das
Geld, das sie hart erarbeiten, durch Sie ausgegeben wer-
den kann.
Herr Stiegler, diese neue Form des Sozialismus wollen
wir aber nicht.
Im Übrigen treffen die steuerpolitischen Vorhaben der
Bundesregierung die freien Berufe und die Selbstständi-
gen. Dies gilt für die Erhöhung der Pauschalierung für die
private PKW-Nutzung ebenso wie für die Einführung ei-
ner Mindestbesteuerung bei Personenunternehmen und
die Verschärfung der Abschreibungsregeln. Insbesondere
die Einschränkung der Verlustverrechnung bei Personen-
unternehmen ist ein massiver Angriff von Rot-Grün auf
den Mittelstand und die freien Berufe in Deutschland.
Der neueste Vorschlag der Bundesregierung ist die Aus-
weitung derGewerbesteuerpflicht auf die freien Berufe.
Dabei – Sie klatschen Beifall – ist mir durchaus bekannt,
dass auch Bürgermeister und Landräte, die der Union an-
gehören, angesichts der katastrophalen Finanzsituation
der öffentlichen Haushalte eine Reform der Gewerbe-
steuer fordern. Die von Rot-Grün zu verantwortende fi-
nanzielle Dramatik der kommunalen Haushalte kann aber
nicht dadurch gelöst werden, dass wir eine wichtige ge-
sellschaftliche Gruppe, die für Arbeits- und Ausbildungs-
plätze in Deutschland hohe Verantwortung zeigt, mit ei-
ner neuen Steuer überziehen. Ich will eine Einführung der
Gewerbesteuer für die freien Berufe nicht zur Diskussion
stellen. Für mich sind Freiberufler wegen ihrer Verpflich-
tung auf das allgemeine Wohl keine Gewerbetreibenden
im Sinne des Gesetzes. Deshalb hat die Gewerbesteuer
dort auch nichts zu suchen.
Statt gerade Selbstständige und Freiberufler mit neuen
Steuern zu überziehen, sollte sich die Regierung Gedan-
ken machen, wie man im Rahmen einer sozial verant-
wortbaren Privatisierungspolitik konkrete Aufgaben öf-
fentlicher Dienstleistung auf freie Berufe übertragen
kann. Dies gilt für den Bau- und Planungsbereich wie für
eine Vielzahl von öffentlichen Beratungsangeboten. Wir
dürfen jedenfalls nicht immer nur von weniger Staat re-
den. Wir müssen es dort, wo möglich, auch praktizieren.
Die Vertreter der freien Berufe weisen mit Recht auf die
immer stärker anwachsende Kostenlast hin. Die Kosten-
struktur, insbesondere der stark ansteigende Personalkos-
tenanteil, der jetzt durch die Erhöhung der Lohnnebenkos-
ten auszuufern droht, belastet die unternehmerische
Flexibilität der freien Berufe und gefährdet mittel- und
langfristig Arbeitsplätze. Ein Beispiel: Die Bundesregie-
rung verkündet in dem Bericht, insbesondere bei den heil-
kundlichen Berufen habe es bei der Zahl der Ausbildungs-
stellen Zuwächse gegeben. Zugleich enthält der Bericht
die Aussage, dass bei den Umsätzen sowie Einkünften der
Ärzte und Zahnärzte deutliche Rückgänge zu verzeichnen
waren. Aber anstatt diese Missstände zu beseitigen, wer-
den sie durch verordnete Nullrunden noch verstärkt. Die
Einnahmen gehen zurück und die Lohnnebenkosten stei-
gen. Das passt auf Dauer nicht zusammen. Das belastet
Ausbildungs- und Arbeitsplatzentwicklung.
Dabei ließe sich die Zahl der Arbeitsplätze – hören Sie
jetzt wirklich einmal gut zu – in den freien Berufen deut-
lich erhöhen, würden wir in Deutschland endlich Mut zu
einer Flexibilisierung des Arbeitsrechts haben. Es kann
doch nicht angehen, dass in einer kleinen Anwalts- oder
Steuerberatungspraxis in Erfurt – oder wo auch immer –
mit sechs oder acht Mitarbeitern der Kündigungsschutz in
gleicher Weise Anwendung findet wie bei Daimler-Chrys-
ler in Stuttgart.
Ähnliches lässt sich für die Betriebsverfassung sagen: Be-
reits die Anhebung der Mindestmitarbeiterquote in beiden
Gesetzen würde zu einer deutlichen Beschäftigungsstei-
gerung bei Mittelstand und freien Berufen führen.
Kein anderes Land in Europa erlaubt sich den Luxus ei-
ner fehlenden Differenzierung zwischen Kleinunterneh-
men und Großunternehmen im Arbeitsrecht. Auf diese
Weise opfern wir in Deutschland sehenden Auges Jahr für
Jahr und Monat für Monat Tausende von Arbeitsplätzen.
Das ist nicht nur Blockade für unternehmerische Freiheit,
das ist auch zum Nachteil der Menschen, die in unserem
Land ehrlich nach Arbeit suchen.
Lassen Sie mich, wenn Sie von Popanz reden, auch
kurz von der Scheinselbstständigkeit sprechen. Hier sind
Sie doch wirklich kläglich gescheitert. Sie wissen, dass
Jahr für Jahr etwa 10 Prozent der Existenzgründungen
von Freiberuflern über die Regelung zur Scheinselbst-
ständigkeit unterlaufen worden sind; das bedeutet pro
Jahr 2 000 betroffene Existenzgründungen in Deutsch-
land. Hierdurch wurde das Wachstum der freien Berufe
entscheidend abgeschwächt und gleichzeitig die Bereit-
schaft der Menschen zu mehr Selbstständigkeit auch noch
staatlich bestraft.
Dass diese rot-grüne Geißel der Selbstständigenkultur
in Deutschland bald der Vergangenheit angehört, ist ein
großes Verdienst der Union. Rot-Grün hat durch den Kom-
promiss im Vermittlungsausschuss eingestanden, dass
diese Regelung ein ideologischer Irrweg war. Meine Da-
men und Herren, wir brauchen in Deutschland nicht Rege-
lungen gegen Selbstständigkeit, wir brauchen Freiraum für
mehr Selbstständigkeit.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Diskussion über die
Anpassung der Gebührenordnungen nachvollziehbar. Da-
bei geht es ja nicht nur um die Höhe, sondern auch um struk-
turelle Fragen. Auf diesem Gebiet wurden Versprechungen
gemacht, die Rot-Grün nicht eingehalten hat. Das gilt für
die Rechtsanwaltsvergütung ebenso wie für die Reform
des Justizkostenrechts und anderes.
Besonders schlimm trifft es angesichts des Chaos in
der Gesundheitspolitik die Ärzteschaft, die mit Budgetie-
rung und Honorarabsenkungen nachhaltig geschädigt
wird.
Leider lässt der Bericht auch eine differenzierte Aus-
einandersetzung mit der Entwicklung der freien Berufe
in den neuen Bundesländern vermissen. Dabei wissen
wir alle, meine Damen und Herren, dass Freiberufler auf-
grund der wirtschaftlichen Situation dort beginnen, ihr
Engagement einzuschränken oder berufliche Aktivitäten
zu verlegen, sodass der Prozess der wirtschaftlichen De-
stabilisierung in den neuen Bundesländern voranschrei-
tet.
Dies gilt auch wieder für die Ärzteschaft. Wie wir
wissen, gibt es inzwischen Regionen mit ärztlicher Un-
terversorgung. Praxen können nicht besetzt werden,
Ärzte fehlen vor Ort. Solche Entwicklungen müssen ana-
lysiert werden. Hierzu findet sich kein Wort in dem Be-
richt.
Auch fehlt eine differenzierte Betrachtung neuer Grup-
pen von freien Berufen, insbesondere auch der so ge-
nannten nicht verkammerten freien Berufe. Hierzu hätte
es einer gründlichen Untersuchung bedurft, um flexibel
auf geänderte Bedingungen reagieren zu können. Doch
auch da bleibt der Bericht Antworten schuldig.
Der Bericht insgesamt lässt Mängel deutlich werden.
Er ist im Juni dieses Jahres formuliert und daher wohl eher
wahlstrategisch ausgerichtet worden. Die Bundesregie-
rung ist daher aufzufordern, den Bericht in möglichst kur-
zer Zeit zu aktualisieren
und dabei vor dem Hintergrund der angespannten Ar-
beitsmarktsituation vor allem die Entwicklung der freien
Berufe in neuen Berufsfeldern sowie auch die sich zu-
spitzende Situation in den neuen Ländern zu untersuchen.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss.
Die freien Berufe haben aufgrund ihrer hohen volks-
wirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen und gesell-
schaftlichen Bedeutung unser Augenmerk verdient. Sie
sind ein wesentliches Element der Freiheit und einer der
letzten Wachstumsmärkte in Deutschland. Gerade darum
brauchen wir mehr denn je ein Bekenntnis zu Selbststän-
digkeit und ein Bekenntnis zu Eigenverantwortung, ver-
bunden mit einem klaren Ja zu unternehmerischer Leis-
tungsbereitschaft. In diesem Sinne bleiben CDU und CSU
Partner der freien Berufe und des Mittelstands in Deutsch-
land.
Vielen Dank.
Herr Kollege, ich habe gehört, dass dies Ihre erste Rede
hier war. Dazu möchte ich Ihnen die Glückwünsche des
Hauses aussprechen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Lange.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es war eine SPD-Bundesregierung unter Bun-
deskanzler Schmidt, die im Jahr 1979 erstmals einen Be-
richt über die Lage der freien Berufe erstellt hat.
In dieser guten Tradition wird dem Deutschen Bundestag
heute der dritte Bericht vorgelegt.
Dr. Rolf Bietmann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Christian Lange
Die Bundesregierung und die SPD-Bundestagsfraktion
haben die Förderung von Selbstständigkeit, kleinen und
mittleren Unternehmen und Existenzgründern zu einem
Schwerpunkt ihrer Wirtschaftspolitik gemacht. Dass nicht
nur wir das so sehen, sondern auch die freien Berufe
selbst, können Sie der neuesten Ausgabe der Zeitschrift
„Der freie Beruf“ entnehmen. Sie gestatten, dass ich da-
raus das eine oder andere zitiere.
Darin heißt es:
Der Bundesverband der Freien Berufe begrüßt, dass
die Bundesregierung in der Regierungserklärung
überfällige Eigenverantwortung betont und in einer
zentralen Funktion für das Gemeinwesen sieht. Dies
entspricht dem gesellschaftlichen Modell, das den
freien Berufen eine zentrale Funktion im Zusam-
menspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft
zuweist.
So die Bundesregierung, so die freien Berufe und so die
SPD-Bundestagsfraktion!
Lassen Sie mich ein zweites Zitat bringen:
Der Bundesverband der Freien Berufe greift die Ini-
tiative der Bundesregierung auf, durch Förderung
des Mittelstands den Ausbau der wissensgestützten
Dienstleistungen in der Informationsgesellschaft zu
stärken.
Er weist aber auch darauf hin, dass Selbstständigkeit nicht
nur aus der Arbeitslosigkeit heraus, sondern auch dann ge-
fördert werden sollte, wenn vorher eine feste Anstellung
vorhanden war. Sie haben bei dem Beispiel Mittelstands-
bank gehört, in welche Richtung die Bundesregierung
geht. Wir werden dies unterstützen – freie Berufe, Bun-
desregierung und SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam.
Ein zweiter Aspekt, den Sie, Herr Bietmann, dargestellt
haben, betrifft die alte Litanei rund um die Steuer- und
Sozialabgabenlast.Herr Kollege, auch wenn es Ihre erste
Rede war,
möchte ich Sie doch einfach einmal auf die Statistik hin-
weisen. Die OECD hat eine Statistik zu den Steuern und
Sozialabgaben im Jahr 2001 in Prozent der Wirtschafts-
leistung erstellt. Deutschland ist darin mit 36,4 Prozent
aufgeführt. Wenn ich Ihnen aufzählen würde, wer alles
vor uns liegt, dann wäre meine Redezeit fast vorbei: Es
geht von Schweden über Italien, Griechenland, die Nie-
derlande, Ungarn und Großbritannien. Alle haben eine
wesentlich stärkere Belastung als wir. Nehmen Sie das
doch endlich einmal zur Kenntnis und setzen Sie Ihre
ideologische Brille ab!
Dritter Punkt. Wenn Sie die Steuer- und Abgabenent-
wicklungen, insbesondere die Steuerbelastungen, an-
schauen, dann nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir mit der
Steuerreform 2004 und 2005 weitere Absenkungen der
Steuern in Deutschland vornehmen werden.
Nehmen Sie vor allen Dingen zur Kenntnis, wo Sie von
der CDU/CSU und der FDP 16 Jahre lang stehen geblie-
ben sind: Ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent war im
Jahr 1998 das Ergebnis Ihrer Regierung.
Jetzt sind wir bei 48,5 Prozent angelangt. 2004 werden
wir bei 47 Prozent und 2005 bei 42 Prozent angelangt
sein. Das ist ein gemeinsamer Beitrag der Bundesregie-
rung und der SPD-Bundestagsfraktion für die freien Be-
rufe. Ich bitte Sie, dies einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Die Entwicklung der freien Berufe ist übrigens auch des-
halb eine Erfolgsbilanz.
Insbesondere die Dynamik bei der Entwicklung der
freien Berufe zeigt die positive Entwicklung in Deutsch-
land hin zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesell-
schaft. Wir haben die Zahlen gehört. Mittlerweile haben
wir in Deutschland fast genauso viele Freiberufler wie
Handwerker, und zwar mit steigender Tendenz. Allein in
unserer Regierungszeit hat sich die Zahl der Freiberufler
von 650 000 auf etwa 740 000 erhöht.
Anfang 2001 gab es über 160 000 Ausbildungsplätze. Die
freien Berufe sind mit 10 Prozent aller Auszubildenden
hinter Industrie und Handwerk der drittgrößte Ausbil-
dungsbereich.
Hier wird weit über den Bedarf hinaus ausgebildet. Damit
werden berufliche Chancen eröffnet, die weit über diesen
Sektor hinausreichen.
Insgesamt konnten die freien Berufe bundesweit das hohe
Ausbildungsniveau halten. Die positive Entwicklung auf
dem Lehrstellenmarkt muss angesichts des Rückgangs
der Zahl der Ausbildungsverträge in allen Wirtschaftsbe-
reichen ganz besonders gewürdigt werden. Deshalb will
ich ein Wort des Dankes an die freien Berufe aussprechen.
Sie bilden aus und das verdient unseren Respekt.
E
Rede von: Unbekanntinfo_outline
58 Prozent aller Er-
werbstätigen in den freien Berufen sind Frauen. Die Frau-
enquote unter den Selbstständigen in den freien Berufen
liegt bei etwa 40 Prozent und entwickelt sich weiter posi-
1220
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1221
tiv. Gründe hierfür sind die Unabhängigkeit der Berufs-
ausübung und die Möglichkeit, Arbeit und Familienleben
besser miteinander zu vereinbaren. Außerdem kommen
hier der höhere Grad an Hochschulbildung und die ver-
gleichsweise hohen Verdienstmöglichkeiten zum Aus-
druck.
Mehr als jeder fünfte Selbstständige ist in der Bundes-
republik inzwischen freiberuflich tätig. Mit rund 3 Milli-
onen Selbstständigen und abhängig Beschäftigten im
Jahr 2001 entfallen auf die freien Berufe 7 Prozent aller
Erwerbstätigen in Deutschland. Sie erwirtschaften 8 Pro-
zent des Bruttoinlandsproduktes.
Die Bundesregierung wird diesen positiven Trend in
den freien Berufen weiter unterstützen.
Das Stichwort Mittelstandsoffensive ist gefallen. Die
Sicherung der Finanzierung des Mittelstands ist dabei ein
zentrales Anliegen von SPD und Bundesregierung. Wir
werden deshalb die Kreditanstalt für Wiederaufbau und
die Deutsche Ausgleichsbank zu einem Förderinstrument
zur Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft zu-
sammenlegen, die Förderprogramme für den Mittelstand
optimieren und entsprechende Doppelförderungen ein-
stellen.
Jedoch nicht allein die Fördermittel für die Finanzie-
rung von selbstständigen Existenzen im Bereich der
freien Berufe sind wichtig. So sollen beispielsweise Stu-
dierende schon während ihres Studiums Erfahrungen und
Wissen in Bezug auf unternehmerisches Handeln sam-
meln. Hier setzt die vom Bundeswirtschaftsministerium
zusammen mit der Deutschen Ausgleichsbank und ande-
ren Partnern aus der Wirtschaft gestartete Initiative zur
Errichtung von Existenzgründerlehrstühlen an. Mittler-
weile gibt es 42 Lehrstühle an deutschen Universitäten,
die sich mit Existenzgründungsthemen befassen. Ein
flächendeckendes und fächerübergreifendes Lehrangebot
im Bereich Existenzgründungen und Entrepreneurship zu
schaffen ist das Ziel.
Gerade in den freien Berufen können betriebswirtschaft-
liche und juristische Kenntnisse als Ergänzung zum be-
ruflichen Wissen von großem Nutzen sein.
Diesen guten Geist der Selbstständigkeit zu etablieren
ist Sinn und Zweck dieses Programms. Die Bundesregie-
rung und die sie tragenden Fraktionen treiben dies voran.
Mit der Initiative „Innovation und Zukunftstechnolo-
gie im Mittelstand“ werden wir außerdem die Innovati-
onskompetenz der kleinen und mittleren Unternehmen
und der freien Berufe stärken. Außerdem werden wir die
Ausbildungsberufe verstärkt modernisieren und durch ein
reformiertes Berufsbildungsgesetz mehr Jugendlichen
eine echte Chance auf eine Ausbildung geben.
Für die freien Berufe – da haben Sie Recht – ist der
Bürokratieabbau ganz besonders wichtig. Sie wissen – der
Minister hat es mehrfach hier gesagt –, dies ist eines der
zentralen Anliegen der Bundesregierung. Ich sage Ihnen
ganz offen: Ich bin der Auffassung, dass wir in diesem
Bereich etwas wagen und Testgebiete ausweisen müs-
sen, so wie es Altkanzler Schmidt vorgeschlagen hat.
Ich bin sicher, dass wir in diese Richtung gehen werden.
Wir werden auf jeden Fall mehr machen, als in den
16 Jahren Ihrer Regierungszeit geschehen ist: nämlich
nichts.
Wir werden die Probleme angehen. Das haben der
Minister und auch sein Staatssekretär mehrfach angekün-
digt. Seien Sie daher versichert: In Sachen Bürokra-
tieabbau werden wir den Vergleich mit Ihnen allemal ge-
winnen.
Auch in der Vergangenheit sind wir bereits diesen Weg
gegangen. Besonders erwähnenswert sind die Projekte
„Media@Kom“,
die Verbesserung der Kommunikation, zum Beispiel zwi-
schen Arbeitgeber und Krankenkassen, durch den Einsatz
neuer Medien und die Erprobung einer bundeseinheitli-
chen Wirtschaftsnummer.
Wir werden die begonnenen erfolgreichen Arbeiten
fortführen und zu einem flächendeckenden Masterplan
zum Abbau der Bürokratie ausbauen. In den Masterplan
werden auch die Vereinheitlichung von Bescheinigungen
im Arbeits- und Sozialrecht, die stärkere Nutzung der
elektronischen Datenübermittlung, die zentrale Speiche-
rung von Arbeitsbescheinigungen, die Reduzierung der
Statistikpflicht und die Senkung der Grenzen zur Buch-
führungspflicht aufgenommen. Die Bundesregierung
handelt also; sie hat es auch schon in der Vergangenheit
getan.
Sie wird noch einen Zahn zulegen. Seien Sie sicher: Die
Fraktionen von SPD und Grünen, die Bundesregierung
und die freien Berufe werden an einem Strang ziehen.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe spezifischer Fragen
mit engem Bezug zu den freien Berufen, etwa die IT-Be-
ratung, Hompagedesign, Ökoaudit oder die erwähnte
HOAI. Zur HOAI liegt dem Bundeswirtschaftsministe-
rium ein Gutachten vor, das derzeit noch geprüft wird.
Dabei stellt die Untersuchung zur wirtschaftlichen Lage
der Architektur- und Ingenieurbüros bzw. zur Honorar-
auskömmlichkeit einen wichtigen Aspekt dar. Auch die
Überprüfung der Honorarordnung für Architekten und In-
genieure im Hinblick auf das EU-Recht und den sich er-
weiternden Binnenmarkt wird damit verbunden. Darüber
hinaus sollen Vorschläge zur Vereinfachung und Moder-
nisierung der HOAI erarbeitet werden.
Christian Lange
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Christian Lange
Mit der 4. und 5. Novelle der Wirtschaftsprüferord-
nung sind wir ebenfalls einen wichtigen Schritt vorange-
gangen. Lassen Sie mich abschließend erwähnen: Die
5. WPO-Novelle – das offizielle Unterrichtungs- und Be-
teiligungsverfahren ist seit dem 10. Dezember dieses Jah-
res im Gange – geht in ihrer Zielsetzung weit über das hi-
naus, was die Regierung bereits in der vergangenen
Legislaturperiode getan hat. Vor dem Hintergrund der
Entbürokratisierung verfolgen wir eine umfassende Re-
formierung der Wirtschaftsprüferausbildung, die Zusam-
menführung der Prüferberufe sowie die Stärkung der be-
rufsrechtlichen Aufsicht.
Sie sehen also: Bundesregierung und SPD-Bundes-
tagsfraktion ziehen zum Wohle der freien Berufe in
Deutschland an einem Strang. So soll es auch bleiben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Schlauch
und Herr Kollege Lange, wenn man Ihnen zugehört hat,
dann konnte man den Eindruck gewinnen, dass Ihr Glaube
an einen Regierungsbericht erheblich stärker zu sein
scheint als der Wille, das zur Kenntnis zu nehmen, was in
unserem Lande derzeit stattfindet.
Es findet kein Aufbruch, sondern ein Abbruch statt. Die
Wirklichkeit in Deutschland sieht so aus, dass wir in die-
sem Jahr 40 000 Insolvenzen haben werden. Die einzige
Boombranche bei den Selbstständigen ist die Branche der
Konkursverwalter. Das Einzige, was die freien Berufe
momentan noch trägt, ist die Hoffnung, und zwar die
Hoffnung auf einen möglichst baldigen Regierungswech-
sel.
Ich finde es gut, dass sich der Deutsche Bundestag in
der heutigen Debatte – erstmalig unter Rot-Grün – mit der
Lage der freien Berufe befasst. Gerade die freien Berufe
sind es, die sich in freier Tätigkeit selbst verwirklichen
wollen, mit sämtlichen Risiken und Chancen, die diese
bieten. Etwa 750 000 Selbstständige in den freien Beru-
fen sind in Deutschland tätig. Zusammen mit ihren Mitar-
beitern gibt es in diesem Bereich mehr als 3Millionen Be-
schäftigte.
Gerade als jemand, der selbstständig als Rechtsanwalt
tätig ist, weiß ich, dass es spannend und interessant sein
muss, eine Existenz zu gründen, sich hierin auch über eine
35-Stunden-Woche hinaus selbst zu engagieren und für
sich und andere Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist aber not-
wendig, mit einem überschaubaren Aufwand überhaupt in
die Möglichkeit zu kommen, diese Existenz zu gründen
und nicht schon im Vorfeld an Behörden, Paragraphen
und Genehmigungsverfahren verzweifeln zu müssen.
Es sollte das gesellschaftliche Ziel vieler sein, sich im
Bereich der freien Berufe selbst zu verwirklichen und da-
bei entsprechende gesellschaftliche Anerkennung zu er-
halten. Gerade die Mitglieder der freien Berufe sind es,
die in zumeist zeitaufwendigen Tätigkeiten bereit sind,
sich ehrenamtlich in den unterschiedlichsten Vereinen
und in anderen Formen bürgerlichen Engagements ein-
zubringen, um außerhalb des organisierten Staates die
Entwicklung unserer Gesellschaft mit ihren Erfahrungen
und ihrem Sachverstand aktiv zu begleiten.
Zudem sind gerade im Bereich der Ausbildungsberufe
mehr als 10 000 Selbstständige ausbildungsverstärkend
und prüfend tätig. Wir brauchen in unserem Land Leis-
tungsträger und eine höhere Zahl an Selbstständigen und
an freien Berufen.
Leider sind von Rot-Grün in den letzten viereinhalb
Jahren die Rahmenbedingungen der Selbstständigkeit er-
heblich verschlechtert worden.
Im Zuge der Steuerreform sind Kapitalgesellschaften ent-
lastet worden, aber der normale Arbeitnehmer und Selbst-
ständige nicht. Diese wurden auf das Jahr 2005 vertröstet
und werden bis dahin durch diverse Steuererhöhungen
und ein als Steuersubventionsabbaugesetz getarntes wei-
teres Steuererhöhungsgesetz massiv zur Kasse gebeten
und in ihrer Investitionsfähigkeit beschnitten.
Das unsinnige Gesetz gegen die Scheinselbstständig-
keit hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich weniger
Menschen in unserem Land selbstständig machen konn-
ten. Die gerade jetzt beschlossenen Maßnahmen, die Er-
höhung der Ökosteuer, die Erhöhung der Bemessungs-
grundlagen für die Sozialversicherungsbeiträge und die
Erhöhung der Lohnnebenkosten insbesondere im Bereich
der Kranken- und Rentenversicherung, sind das genaue
Gegenteil einer Politik, die unser Land benötigt.
Zudem ereilen uns – auch das wurde komplett ausge-
blendet – nahezu täglich Katastrophenmeldungen aus
dem Gesundheitsbereich. Die Krankenversicherungs-
beiträge explodieren und gleichzeitig werden ohne ein
klares Konzept Maßnahmen beschlossen, die dazu
führen, dass im nächsten Jahr voraussichtlich Zehntau-
sende von Menschen in diesen Berufen ihren Arbeitsplatz
verlieren werden. Dass weder die Bundesregierung noch
die Koalitionsfraktionen überhaupt ein Wort der Sorge um
die Existenz dieser Menschen geäußert haben, das be-
werte ich als einen Skandal dieser Debatte.
1222
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1223
Deshalb halten wir als FDP es für richtig, dass mit dem
Aufruf „Mittelstand macht mobil“ mehr als 250 000
Stellungnahmen von Unternehmen, Selbstständigen und
deren Mitarbeitern vorgelegt wurden. All diese Personen,
die gerade im wirtschaftlichen Bereich das zentrale Rück-
grat der Gesellschaft unseres Landes darstellen, wün-
schen sich von der neuen Bundesregierung das, was auch
wir von der FDP uns wünschen: Gebt uns mehr Freiheit
und baut die Bürokratie endlich ab! Redet nicht nur darü-
ber, sondern tut auch etwas!
Denn nicht die Regierung bzw. der Staat, sondern die
Unternehmen und die Unternehmer in unserem Land kön-
nen Arbeitsplätze schaffen, die zu mehr Beschäftigung
führen.
Voraussetzung dafür ist aber, dass die Politik eine po-
sitive Einstellung zu den Selbstständigen und den freien
Berufen hat. Deshalb ist die Einstellung der Politik zu den
freien Berufen von ganz zentraler Bedeutung. Wenn ich
allerdings sehe, dass 75 Prozent der SPD-Abgeordneten
und 25 Prozent der Abgeordneten der Grünen Mitglied ei-
ner Gewerkschaft sind,
dann denke ich, dass bei vielen dieser Abgeordneten häu-
fig das Sein das Bewusstsein und damit auch das parla-
mentarische Handeln bestimmt.
Ohne jede Wertung möchte ich darauf hinweisen, dass
es eben ein Unterschied ist, ob man seine berufliche Tätig-
keit in einem Anstellungsverhältnis oder als Selbstständi-
ger erlebt. Es ist ganz natürlich, dass jemand, der angestellt
ist, zu einigen Dingen eine andere Sichtweise hat als je-
mand, der selbstständig tätig ist. Aber nur mit diesem Wis-
sen über die soziale Verankerung der rot-grünen Parla-
mentsmehrheit kann man es überhaupt verstehen, warum
ein Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit entstehen
konnte, warum mit einem bombastischen Kanzlerwort
zu Beginn der letzten Wahlperiode die 630-Mark-Jobs
nahezu abgeschafft wurden und warum der Schwellen-
wert im Kündigungsschutzgesetz von zehn auf fünf her-
abgesetzt wurde. Nur mit diesem Wissen kann man auch
verstehen, warum die freien Berufe unter dem Stichwort
der Revitalisierung der Gewerbesteuer voraussichtlich
noch in dieser Wahlperiode zusätzlich mit der Gewerbe-
steuer belastet werden sollen.
Wir als FDP verstehen uns als Partei der sozialen
Marktwirtschaft. Wir wünschen uns eine Rückbesinnung
auf die Tugenden der klassischen sozialen Marktwirt-
schaft, um Arbeitsplätze und Wohlfahrt für alle durch eine
neue Kultur der Selbstständigkeit, durch mehr Freiheit
und weniger Staat sowie durch weniger Steuern und we-
niger Abgaben zu sichern.
Nur so kann der Rahmen geschaffen werden, in dem es
für die in den freien Berufen Tätigen interessant wird, die-
ser Tätigkeit weiter nachzugehen. Nur so kann ein Anreiz
für diejenigen geschaffen werden, die den Beruf noch vor
sich haben. Gerade diese jungen Menschen brauchen wir
als Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Gerade für
diese Menschen müssen wir das Gemeinwesen so gestal-
ten, dass es interessant ist, das eigene Schicksal in die
Hand zu nehmen – für sich selbst und für diejenigen, de-
nen dadurch zusätzliche Arbeitsplätze geboten werden.
Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Thiele, akzeptieren Sie doch endgültig, dass
der Wähler sich am 22. September so entschieden hat.
Ich bin dessen, mit Verlaub, langsam überdrüssig. Es hat
auch – entschuldigen Sie, dass ich es so hart formulieren
muss – ein Stück Arroganz, wenige Monate später zu sa-
gen, die Wählerinnen und Wähler wünschten nichts ande-
res als einen Regierungswechsel.
Sie müssen nun einmal akzeptieren, dass der Wähler sich
so entschieden hat. Wir versuchen in einer in der Tat
schwierigen Situation, in Kooperation mit großen Teilen
des Hauses vernünftige Lösungen für die dringendsten
Probleme dieses Landes zu finden.
Es ist auch überheblich, zu sagen, dass wir keine An-
tenne oder keine Sensibilität für die Existenzängste der
Freiberufler und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
hätten.
Diese Existenzängste und diese Probleme sind nicht im
Jahre 1998 oder in dem Zeitraum seitdem entstanden, son-
dern sind über viele Jahre hinweg gewachsen.
Jetzt läuft der Kessel über und wir versuchen in einer ex-
trem schwierigen wirtschaftlichen Situation, auch für die
Freiberufler und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Lösungen zu finden.
Sie haben unterschiedliche Realitäten angesprochen.
Jeder von uns hat in seinem Bekanntenkreis freiberuflich
Tätige; viele sind selbst davon betroffen. Sie sind als
Carl-Ludwig Thiele
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Walter Hoffmann
Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Hebammen oder in
anderen Berufen tätig. Wir alle wissen, dass sie jeden
Morgen mit großem Engagement, Idealismus und Intelli-
genz im wahrsten Sinne des Wortes in den täglichen
Kampf um die eigene Existenz gehen.
Für mich ist der Prototyp eines freiberuflich Tätigen
ein sehr enger Freund von mir, der als Architekt arbeitet.
Er hat sich in sehr jungen Jahren selbstständig gemacht
und gibt mittlerweile einer ganzen Reihe von Menschen
Brot und Beschäftigung. Er trägt auch die Verantwor-
tung für diese Mitarbeiter. Er engagiert sich neben seinem
Job kommunalpolitisch. Das macht häufig Arbeitszeiten
von zwölf bis 16 Stunden aus, fast wie bei uns.
Ich denke, dass es von dieser Sorte Menschen eine
ganze Menge gibt. Wir sollten stolz darauf sein, dass es
sie gibt und dass sie sich in einem hohen Maße für die All-
gemeinheit engagieren.
Meine sehr verehrtenDamen und Herren, Freiberufler
sind überwiegend positive Menschen, die motiviert sind,
die Mut haben, die jeden Tag ihr Bestes geben und denen
es fern liegt, durchgängig zu klagen. Vielmehr nehmen sie
ihr Schicksal selbst in die Hand und schaffen, wie man so
schön sagt.
In einigen Stellungnahmen in dem Organ des Bundes-
verbandes der Freien Berufe, „Der freie Beruf“, erkennt
man in der Tat eine andere Welt, Herr Thiele. Da wird ge-
jammert, geklagt, verzweifelt. Da steht: Keiner hört auf
uns. Da wird eine Weltuntergangsstimmung verbreitet, wie
es auch viele Medien und die Opposition in großem Um-
fange tun. In einer zentralen Schlagzeile heißt es dort: Die
Situation ist geprägt durch politisches Heulen und Zähne-
klappern.
Wer sich nun den Bericht der Bundesregierung an-
schaut, kommt zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Egal
wie man die aktuelle Situation im Detail bewertet: Die Ge-
schichte der freien Berufe in den letzten Jahren – Zahlen
haben der Staatssekretär und mein Kollege Christian
Lange hier verdeutlicht; ich will Sie damit nicht noch ein-
mal quälen – ist insgesamt in der Tat eine Erfolgsge-
schichte. Die Zahlen sind von 500000 auf 750000 gestie-
gen, das ist ein Zuwachs von 50 Prozent. 7 Prozent der
Erwerbstätigen werden durch Freiberufler repräsentiert,
Freiberufler erwirtschaften 8 Prozent des Bruttoinlands-
produkts und bilden 10 Prozent der Auszubildenden aus.
Meine Damen und Herren, das sollte man doch nicht
gering schätzen. Das ist ein großartiges Ergebnis und – ich
sage es noch einmal – darauf können wir stolz sein. Den
freien Berufen, die in schwieriger Lage ihre Arbeit getan
haben, gilt im wahrsten Sinne des Wortes unser Dank.
Ich verkenne nicht, dass es nicht allen Freiberuflern gut
geht. Wir wissen, dass viele Gruppen in der Tat Probleme
haben. Es gibt Schwierigkeiten bei der Existenzgründung,
es gibt hohen Wettbewerbsdruck, wir haben Probleme
bei der Finanzierung von Investitionen, es gibt ein hohes
Anforderungspotenzial beim technologischen Fortschritt
und bei der Internationalisierung der Märkte, wir haben
ein Problem bei der Bewältigung des Generationenkon-
fliktes und wir haben eine hohe Belastung durch bürokra-
tische Aufgaben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Vorred-
ner haben bereits gesagt, dass der Minister hier einen klaren
und eindeutigen Schwerpunkt gesetzt hat. Wir wollen ver-
suchen, in den nächsten Jahren einen Teil dieser bürokrati-
schen Belastungen und Auflagen, Stichwort: Bürokratieab-
bau, zu beseitigen. Das haben schon viele vorher gesagt und
ich verkenne in der Tat die Schwierigkeiten nicht; aber die
im Masterplan festgelegten Maßnahmenschwerpunkte sind
erstrebenswert und wir sollten sie getreu dem Motto „Einen
Kloß nach dem anderen“ schrittweise angehen.
Dabei geht es um eine stärkere Nutzung von Internet
und digitalen Medien, um die Steigerung der Serviceori-
entierung von Behörden, um die Vereinheitlichung und
Vereinfachung von Formularen, um die Beschleunigung
von Verwaltungsabläufen, um die Abschaffung überflüssi-
ger Regelungen und um die Verringerung der Zahl statis-
tischer Meldepflichten der Unternehmen.
Wir alle wissen, dass es im Land durchweg in der ge-
samten Bevölkerung ein hohes Maß an Überdruss über
eine Fülle von Gesetzen und bürokratischen Vorschriften
gibt. Es gibt auch – das muss man fairerweise sagen – eine
durchgängige Resignation gegenüber der Politik und ge-
genüber dem Glauben daran,
ob wir wirklich in der Lage sind, bürokratische Vorschrif-
ten ein Stück weit abzubauen.
Dieser Überdruss ist über viele Jahre hinweg gewachsen
und nicht erst seit dem Jahre 1998 entstanden. Wir sollten,
auch im Interesse der freien Berufe, dies als eine große
Chance und als eine große Herausforderung sehen.
Ich sage es hier noch einmal und spreche für die SPD-
Fraktion: Wir meinen es ernst mit dem Bürokratieabbau.
Wir wollen bürokratische Regelungen Schritt für Schritt
abbauen. Wir sollten bei jedem Gesetz und bei jeder Ver-
ordnung, die zwangsläufig entstehen, immer auch an die
Folgen für die operative Ebene denken, für diejenigen, für
die wir das Gesetz vorgesehen haben.
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass der Bericht
deutlich zeigt: Freiberufler sind Aktivposten in unserer
Gesellschaft. Wir wollen sie in dieser Rolle auch weiter
unterstützen. Ich denke, wir sollten daran in einem mög-
lichst breiten Konsens arbeiten.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kol-
legen Detlef Parr.
1224
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1225
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Hoffmann, Sie waren nach dem Staatssekretär und
Ihrem Kollegen Lange jetzt der dritte Redner der Regie-
rungsfraktionen, der nur in Nebensätzen den Bereich an-
gesprochen hat, in dem es am heftigsten brennt, nämlich
den Bereich der Heilberufe, der Ärzte und Apotheker.
Staatssekretär Schlauch hat davon gesprochen, die Frei-
berufler würden sich ruhig verhalten. Er kann nicht in
Berlin gewesen sein, als vor wenigen Tagen die Heilbe-
rufler zusammengerufen wurden und 15 000 Demonstran-
ten am Brandenburger Tor gegen die Politik von Rot-Grün
im Gesundheitsbereich demonstriert haben.
Es ist schon interessant, dass Sie davon sprechen, alles
für die freien Berufe zu tun. Im Gesundheitsbereich ist das
nicht erkennbar. Im Gegenteil: Sie verordnen Nullrunden
und Zwangsrabatte. Sie nehmen hier rigide staatliche Ein-
griffe vor und gefährden damit die Zukunft der niederge-
lassenen Ärzte und der Apotheker.
Der Herr Staatssekretär hat davon gesprochen, dass ge-
rade im freiberuflichen Bereich besonders viele Frauen-
arbeitsplätze geschaffen worden seien. Gerade darin be-
steht der Skandal Ihrer Gesundheitspolitik: Durch Ihr
Vorschaltgesetz werden die Arztpraxen und die Apothe-
ken nämlich gezwungen, Entlassungen vorzunehmen.
Das betrifft in erster Linie die Frauen und ist ein Weg in
die falsche Richtung.
Ein weiteres Ergebnis Ihrer Politik ist die Ärzteflucht.
Über 30 Prozent der jungen Menschen, die das Medizin-
studium beenden, ergreifen den Arztberuf überhaupt nicht
mehr, weil sie wissen, unter welchen Bedingungen sie in
den Krankenhäusern arbeiten müssen. Jetzt verordnen Sie
den Krankenhäusern Nullrunden, die Entlassungen und
weitere Leistungsverdichtungen zur Folge haben. Es sind
unmenschliche Arbeitsbedingungen, wenn Ärztinnen und
Ärzte in Krankenhäusern 30 Stunden und mehr arbeiten
müssen, und in dieser Situation bringen Sie Ihr Vorschalt-
gesetz auf den Weg.
Es ist Planwirtschaft pur, was Sie hier praktizieren. Wir
haben große Sorge, dass Sie durch Ihre Politik die Freibe-
ruflichkeit in den Heilberufen abschaffen und dazu bei-
tragen, dass nur noch staatliche Planwirtschaft im Ge-
sundheitssystem regiert. Das geht zulasten der Kranken
und Versicherungen und das machen wir nicht mit.
Herr Kollege Hoffmann, Sie wollen sicher antworten.
Herr Kollege Parr, nehmen Sie uns allen ab, dass wir
sehr intensiv und feinfühlig die vielfältigen Proteste, Hin-
weise und Kritiken aus den Bereichen des Gesundheitswe-
sens täglich – sozusagen stundenweise – mitbekommen.
Nehmen Sie uns auch ab, dass wir uns intensiv mit dieser
Situation auseinander setzen.
Aber ich sage hier noch einmal ganz deutlich: Die Pro-
bleme des Gesundheitswesens sind nicht in den Jahren
1998/99 entstanden, sondern sie haben sich über viele
Jahre hinweg aufgrund bestimmter Strukturen entwickelt.
Sie brechen in einer wirtschaftlich schwierigen Situation
massiv auf.
Die Bundesregierung – jetzt verrate ich Ihnen nichts
Neues – hat in dieser Situation nun ein Maßnahmenpaket
auf den Tisch gelegt, mit dem sie in einem ersten Schritt
die Stabilisierung der Kostenentwicklung in den Griff zu
bekommen versucht, um im Jahre 2003 zu strukturellen
Reformen zu kommen.
Ich weiß sehr wohl, dass das aktuell nur wenig Beruhi-
gung für den einen oder anderen Bereich gibt, aber wir ha-
ben kurz-, mittel- und langfristig keine andere Chance.
Sie sind eingeladen, sich im Jahr 2003 ganz intensiv an
der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen für diesen Sek-
tor und damit für viele Freiberufler zu beteiligen.
Nächster Redner ist der Kollege Johannes
Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dieser Bericht ist eine gequälte Referenz an die
Leistungskraft und die Leistungsfähigkeit von Ärzten,
Rechtsanwälten, Apothekern und in den freien Medien
Schaffenden, während diesen Berufsgruppen gleichzeitig
von hinten in die Kniekehlen getreten wird.
Während Sie auf der einen Seite mit schmerzverzerr-
tem Blick und in offenkundig nicht nur ehrlicher Absicht
diesen Gruppen Lob für ihren großen Anteil an der Schaf-
fung von Lehrstellen und am Wirtschaftswachstum zol-
len, wird den Freiberuflern auf der anderen Seite das Le-
ben jeden Tag schwerer gemacht.
Wie ein roter Faden zieht sich eine auffällige Asym-
metrie von Taten und Worten durch die Politik dieser
Bundesregierung, so auch in diesem Bericht. Auf gut
Deutsch: Es wird vieles versprochen und ganz wenig ge-
halten.
Wir als CDU/CSU sind froh, dass es noch so viele Frei-
berufler gibt, die Arbeitsplätze sichern und vor allem
140000 Lehrstellen schaffen und erhalten. Wir haben aber
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Johannes Singhammer
schon erwartet, dass in einem solchen Bericht nicht nur
die Probleme intensiv und präzise erwähnt, sondern dass
auch ganz konkrete Lösungsvorschläge dazu vorgelegt
werden. Der Bericht enthält dazu aber keine Lösungsvor-
schläge.
Sie reden immer davon, tun aber nichts. Ich nenne Ih-
nen einige Beispiele. Wenn Sie den freien Berufen wirk-
lich entscheidend helfen wollen, dann tun Sie etwas da-
gegen, dass allein in den letzten vier Jahren unter Ihrer
Regierung 300 zusätzliche Gesetze und mehrere Tausend
Bundesverordnungen, die zu beachten sind, erlassen wor-
den sind. Sie brauchen keine Gesetzesentrümpelungs-
kommission, wenn Sie sich genau überlegen, ob die eine
oder andere Vorschrift, die Sie erlassen haben, wirklich
notwendig ist.
Wenn Sie wirklich den Arbeitsplatzmotor freie Be-
rufe starten wollen – dieser verfügt noch über ein sehr ho-
hes Potenzial –, dann lassen Sie sich doch nicht erst durch
den Vermittlungsausschuss dazu zwingen, endlich die
eine oder andere Erleichterung im Bereich der Minijobs
oder auch der regulären Beschäftigungsverhältnisse von
400 bis 800 Euro mit viel Druck durchzusetzen, sondern
tun Sie auch etwas in anderen Bereichen. Ich nenne Ihnen
einige, zum Beispiel das Betriebsverfassungsgesetz.
Natürlich belasten diese Regelungen auch viele Freibe-
rufler. Tun Sie auch etwas im Bereich Teilzeit. Das Teil-
zeitgesetz, das Sie geschaffen haben, verhindert viele
Neueinstellungen.
Wenn Sie es ändern würden, könnten viele zusätzliche
Arbeitsplätze geschaffen werden.
Ich sage Ihnen, worauf Sie noch genau achten müssen
und wovon ich erwartet hätte, dass die Bundesregierung
darauf eingegangen wäre. Wir wissen, dass die Euro-
päische Union zunehmend mehr Regelungsmacht, mehr
Regelungskompetenz hat. Dies hat natürlich Wirkung
auch für die freien Berufe. In Ihrem Bericht wird zu die-
sem entscheidenden Gesichtspunkt der Überlagerung
durch EU-Normen, dem Einwirken auf unsere Regeln,
wenig oder gar nichts gesagt. Die Auswirkungen auf die
freiberuflichen Dienstleistungen sind gravierend. Hier
fehlt eine entsprechende Stellungnahme.
Was ist mit den neuen freien Berufen gerade im IT-Be-
reich? Auch hierzu gibt es wenig Erhellendes; im Klar-
text: Fehlanzeige! In Ihrem Bericht findet sich kein Kom-
mentar beispielsweise zur wachsenden Bedeutung neu
hinzukommender freiberuflicher Tätigkeitsfelder wie
zum Beispiel von Informatikern und Webdesignern.
Selbst zu dem Problem der Gebührenordnung, das natür-
lich die freien Berufe bewegt, wo seit zehn Jahren eine
Reform notwendig wäre, wird nichts Konkretes gesagt.
Was Sie aber tun, ist, mit der Frage „Gewerbesteuer für
diese Berufsgruppe – ja oder nein?“ einen neuen großen
Schatten der Ungewissheit auf die freien Berufe zu werfen.
Ich verstehe die Diskussion, weil Sie die Kommunen
durch Ihre Steuerpolitik weitgehend ruiniert haben. Ich
nenne hier als Beispiel nur die Landeshauptstadt Mün-
chen. Der Münchner Oberbürgermeister – zufälligerweise
SPD –
beklagt sich, dass die Landeshauptstadt allein für die ver-
gangenen zwölf Monate 500 Millionen Euro Gewerbe-
steuer nachzahlen muss, die im Stadtsäckel fehlen. Des-
halb ist es klar, dass man nach neuen Einnahmequellen
sucht. Aber jetzt die freien Berufe in Ungewissheit zu
stürzen und Investitionen letztendlich zu verhindern, ist
der völlig falsche Weg. Ich erkläre hier auch klipp und
klar: Mit uns wird es eine zusätzliche Belastung der freien
Berufe nicht geben.
Wir wollen die jungen Menschen ermutigen, dass sie
das Risiko eingehen, aber auch die Chancen und die
Freude, die ein freier Beruf macht, wahrnehmen. Wir wol-
len, dass die freien Berufe mehr Chancen haben, dass der
Arbeitsplatzmotor freie Berufe neu gestartet wird.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-
Sperk, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Trotz aller Weltuntergangsgemälde unserer Kol-
leginnen und Kollegen von der Opposition ist in der heu-
tigen Debatte die wichtige Rolle der freien Berufe als
tragende Säule unserer modernen Dienstleistungsgesell-
schaft erfreulicherweise sichtbar geworden. Das wird sich
auch in Zukunft nicht ändern, wenn – darüber haben Sie
heute wenig gesprochen – der Wettbewerbsdruck auf dem
heimischen Markt anhält und wichtige Veränderungen ins
Haus stehen durch die Vollendung des europäischen Bin-
nenmarktes, die Erweiterung der Europäischen Union und
die jetzt diskutierte Liberalisierung der internationalen
Dienstleistungsmärkte, wie sie durch die neue Welthan-
delsrunde der WTO im GATS angestrebt wird.
Herr Singhammer, Sie haben Vorstellungen zur Euro-
päische Union und zum GATS angedeutet. Aber wo sind
Ihre Vorschläge? Wo ist Ihre Analyse? Wo sind Ihre wei-
ter reichenden Gedanken?
– Fehlanzeige!
1226
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1227
Auf dem enger gewordenen Inlandsmarkt wird die Luft
ohne Zweifel dünner – das müssen wir feststellen –, nicht
durch Dinge, die die Bundesregierung zu verantworten
hat, sondern durch die Konkurrenz und die Wettbewerbs-
lage. Wenn man mehr Menschen zur Selbstständigkeit
ermuntert, dann entsteht auch mehr Konkurrenz. Darüber
darf man sich nicht hinwegtäuschen, indem man auf der
einen Seite Sonntagsreden hält und auf der anderen Seite
der Frage nachgeht: Wie können wir das wieder umgehen
und wie können wir die eine oder die andere Berufsord-
nung so gestalten, dass nicht mehr Konkurrenz entsteht?
Hier besteht ein Widerspruch. Mehr Konkurrenz heißt
auch: bei einem gleich bleibenden Markt geringeres Ein-
kommen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Ob wir die Chancen auf dem europäischen Binnen-
marktwirksam nutzen – er wird bald eine halbe Milliarde
Menschen umfassen und damit zum größten Konsumen-
tenmarkt der Welt anwachsen –, hängt wesentlich von
fünf Faktoren ab, bei denen Politik in der Tat eine Rolle
spielt.
Der erste Faktor sind die Initiative und der unterneh-
merische Wagemut der Freiberufler selbst.
Der zweite Faktor ist die Unterstützung der Freibe-
rufler durch ihre Berufsorganisationen, durch Informa-
tion, durch Beratung und durch Förderung der Koopera-
tion, zum Beispiel für Ingenieure und Architekten.
Den dritten Faktor bilden die Unterstützung durch die
Auslandskammern und die politische Flankierung der
Auslandstätigkeit, zum Beispiel die Förderung von Infor-
mationssystemen und Informationsveranstaltungen, In-
ternetportalen, Beteiligung an Auslandsmessen. Sie müs-
sen einmal darüber reden, welche Verbesserungen durch
die Politik der Bundesregierung in den letzten vier Jahren
geschehen sind, und sie sollten nicht nur herumjammern
und völlig falsche Zahlen über die Steuerquote dieses
Landes, von denen Sie selbst wissen, dass sie unrichtig
sind, verbreiten.
Wo waren denn unter Ihrer Regierung die hochrangi-
gen Wirtschaftsdelegationen, in denen auch einmal Frei-
berufler vertreten waren? Als Sie regierten, waren doch
nur die Manager der Großkonzerne dabei. Bei uns werden
die Vertreter von kleinen und mittleren Unternehmen und
die Vertreter der freien Berufe berücksichtigt. Das ist die
richtige Antwort auf die Fragen der zunehmenden Inter-
nationalisierung.
Der vierte und wesentliche Faktor lässt sich mit der
Frage umschreiben, wie die freien Berufe ihr Auslands-
engagement finanzieren wollen. Welche Bank ist denn
heute noch bereit, das gewiss höhere Risiko, die längeren
Anlaufkosten, die zum Teil schwierige Rechtslage für die
Besicherung von Krediten bei relativ kleinen Darlehen
auf sich zu nehmen? Hier gilt es im Rahmen der Aus-
landsfinanzierung nicht nur an die notwendige und rich-
tige Exportabsicherung, zum Beispiel durch die Hermes-
versicherung oder die Kredite der KfW, zu denken,
sondern neue Wege auch für das Auslandsengagement
von Dienstleistern und Freiberuflern zu entwickeln.
Der fünfte und leider nicht unwesentliche Faktor, ge-
rade für die Freiberufler, ist die politische Flankierung in
Form von Rechtssicherheit für den im Ausland tätigen Be-
trieb. Wir wissen, wie wichtig die politische Unterstüt-
zung durch die Botschaften und die Bundesregierung an-
gesichts der herrschenden Korruption und der fehlenden
Rechtssicherheit ist.
All diese Faktoren sind wichtig und müssen von den
Beteiligten gemeinsam berücksichtigt werden. Alle Be-
troffenen werden auch im kommenden Haushalt durch
diese Bundesregierung aktiv unterstützt. Diese Unterstüt-
zung reicht von den Auslandsmessen bis zur Kooperation
im Ausland.
Herr Minister, was die Finanzierung des Auslandsen-
gagements gerade von kleinen und mittleren Betrieben
angeht, muss man allerdings noch darüber nachdenken,
wie man den in diesen Berufen tätigen Menschen hilft, da-
mit sie die Chancen im erweiterten Binnenmarkt und im
Ausland wahrnehmen können.
Wir haben noch ein weiteres Problem – Herr
Singhammer hat das eben angesprochen, hat sich dazu al-
lerdings nicht inhaltlich geäußert –, nämlich die neue
Richtlinie der Europäischen Union bezüglich des grenz-
überschreitenden Dienstleistungsverkehrs, die den Be-
rufszugang und die Berufsausübung betrifft. Dieser soll
auf der europäischen Ebene so erfolgen, wie das bisher
nur auf der nationalen Ebene der Fall war.
Die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts bei
Dienstleistungen ist aber eine ungleich schwierigere Auf-
gabe als die eines gemeinsamen Binnenmarkts für Waren.
Die Interessen der freien Berufe müssen gegenüber der
Kommission nachdrücklich vertreten werden. Das tut die
Bundesregierung.
Ich sage ganz offen: Für die freien Berufe wird es neben
der Möglichkeit, dass sie in Europa auftreten können, we-
sentlich wichtiger sein, dass wir die Frage der Berufsqua-
lifizierung und die Frage der Qualität der Leistungser-
bringung genau klären.
Die Europäische Union und die Europäische Kommis-
sion machen bei ihren Vorschlägen zum grenzüberschrei-
tenden Dienstleistungsverkehr unseres Erachtens aber ei-
nen schweren Fehler und sind sehr widersprüchlich. Von
der Kommission werden hierzu zwei völlig verschiedene
Vorgehensweisen vorgeschlagen: Wenn sich ein EU-Bür-
ger zur selbstständigen Berufsausübung in einem anderen
Mitgliedstaat niederlassen will, dann muss er wie bisher
die Nachweise seiner Qualifikation erbringen. Wenn die-
ser EU-Bürger aber seine selbstständige Tätigkeit im Weg
des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs an-
bieten will, dann kann er das bis zu vier Monaten ohne
jeglichen Qualifikationsnachweis unter der Berufsbe-
zeichnung seines Heimatlandes tun. Das ist unmöglich.
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Wir müssen die Gleichbehandlung sichern, da eine gleich-
mäßige Qualität sonst nicht zu garantieren ist.
Die Kontaktstellen, die die Kommission vorgeschla-
gen hat, führen schon innerhalb der Europäischen Union
zu einem unglaublichen bürokratischen Aufwand; auf
globalen Dienstleistungsmärkten sind sie schlicht nicht
praktikabel. Ich sage das deswegen, weil die künftige eu-
ropäische Richtlinie auch eine qualitative und quantita-
tive Vorgabe für die neuen GATS-Verhandlungen ist.
Ich komme zum Schluss. Mit dieser Bundesregierung,
uns Sozialdemokraten und unserem Koalitionspartner ha-
ben die freien Berufe einen guten Anwalt und einen Bünd-
nispartner, um die Probleme der Zukunft gut zu bestehen
und weiterhin ein wichtiges Potenzial für die deutsche
Volkswirtschaft zu sein.
Letzter Redner in der Debatte ist Jochen-Konrad
Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
diese Diskussion aus dem Wolkenkuckucksheim in die
Realität zurückholen.
Die Grünen nehmen an dieser Debatte überhaupt nicht
teil. Es hat zwar ein Vertreter der Bundesregierung von
dieser Partei gesprochen, aber die Grünen haben sich ver-
abschiedet.
Der Bericht enthält allerhand kluge Sätze; aber An-
spruch und Wirklichkeit liegen, wie so häufig bei Ihnen,
weit auseinander. Die Situation bei den freien Berufen ist
ein Spiegelbild der wirtschaftlichen Lage. Das Problem
ist: Die Wirtschaft und damit auch die freien Berufe liegen
am Boden. Alle Fortschritte im Vermittlungsausschuss dür-
fen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigentliche Ar-
beit, nämlich die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen, noch
vor uns liegt. Die Institute haben, wie man das in den letz-
ten Tagen lesen konnte, vorhergesagt, dass die Wachstums-
erwartungen wieder zurückgehen, und zwar – das war die
ausdrückliche Begründung – aufgrund der Regierungspoli-
tik. Das Handeln der Regierung wirkt also wie ein Schuss
gegen die freien Berufe und Sie reden alles schön.
Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Freiberufler
in Hamburg bei einer Umfrage geäußert haben. Sie spre-
chen davon, Bürokratieabbau sei eines Ihrer großen
Ziele. Kollege Lange, können Sie mir dann erklären,
warum Sie die vereinfachte Buchführung für die Land-
wirte nach § 13 a gerade gestrichen haben? Können Sie
mir erklären, warum Sie kurz vor der Sommerpause eine
Erhöhung der Freigrenzen für die vereinfachte Buch-
führung abgelehnt haben? Sie waren es doch, die das
630-DM-Gesetz, das Bürokratiemonster, geschaffen ha-
ben, was den freien Berufen so große Arbeit gemacht hat.
Wir mussten Ihnen eine Einigung hierzu im Vermitt-
lungsausschuss mühsam abringen.
Sie haben doch dieses Bürokratiemonster eingeführt.
Meine Damen und Herren, Sie haben doch die Exis-
tenzgründung erschwert. Wenn der Verlustvortrag unter
den Einkunftsarten nicht mehr möglich ist, dann ist es
eben viel schwerer, sich selbstständig zu machen. Es wa-
ren doch in der Regel diejenigen mit gutem Einkommen
aus unselbstständiger Tätigkeit, die die Anfangsverluste
mit Steuerrückzahlungen finanziert haben. Das haben Sie
gestrichen und nicht andere, meine Damen und Herren.
Sie haben doch dafür gesorgt, dass Steuerberater, Wirt-
schaftsprüfer und Konkursverwalter die einzig boomen-
den Branchen sind. Ihr einziges Steuerchaos führt doch
dazu,
dass diese Leute Arbeit haben. Es führt zu immer mehr
Konkursen und dazu, dass diejenigen, die keine Arbeit
haben, auch nicht in Arbeit kommen und damit nicht mehr
Arbeit für die freien Berufe entsteht.
Wer die Konsumkraft der Menschen mindert, wie Sie es
über die Ökosteuer und andere Dinge gemacht haben, der
braucht sich nicht zu wundern, wenn am Ende weniger
Wirtschaftstätigkeit da ist. Weil weniger Arbeit da ist,
können weniger Menschen beschäftigt werden. Diese
Spirale haben Sie ständig nach unten angetrieben, anstatt
für eine Umkehr zu sorgen.
Sie sagen, Sie wollen eine Einkommen- und Körper-
schaftsteuerreform zugunsten des Mittelstandes machen.
Dann frage ich Sie, warum am Ende der Mittelständler mit
53 Prozent Versteuerung dasteht und die Körperschaften
mit 25 Prozent plus 13 Prozent Gewerbesteuer?
Wer hat denn für Wettbewerbsungleichheit bei den Ab-
schreibungen gesorgt?
Wir wollten überhaupt nicht, dass die Abschreibungszei-
ten verlängert werden, weil das innovationsfeindlich ist.
1228
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1229
Sie haben es bei den allgemeinen Tabellen gemacht. Das
betrifft überwiegend die Freiberufler. Als es dann um die
Branchentabellen für die Großindustrie ging, haben Sie
gesagt: Das machen wir nicht mehr. – Es ist doch nicht so,
wie die Kollegin Scheel vor einigen Wochen auf eine Zwi-
schenfrage von mir behauptet hat, dass wir die Abschrei-
bungen hinsichtlich der Branchentabellen nicht wollten.
Wir wollten gar nichts, weil es falsch ist und in die falsche
Richtung geht. Wir wollten keine neuen Wettbewerbsver-
zerrungen.
Meine Damen und Herren, Sie brüsten sich damit, dass
Sie bei Basel II für gute Konditionen gesorgt haben. Ich
erinnere mich noch daran, dass, als die Diskussion an-
gefangen hat, der Kollege Dautzenberg im Finanzaus-
schuss gesagt hat: Wir müssen uns um das Thema küm-
mern. – Das wollten Sie gar nicht. Sie sagten, das sei eine
Einmischung in die Regierungsgeschäfte. Wenn Basel II in
der ersten Version, so wie es der Finanzminister wollte, ge-
kommen wäre, wäre das der Tod des Mittelstandes gewe-
sen.
Dass die Diskussion überhaupt so weit gekommen ist,
verdanken Sie nur der Opposition.
Ich will Ihnen noch eines sagen: Die Freiberufler müs-
sen im Laufe ihres Berufslebens ihre Altersversorgung er-
arbeiten. Durch Ihre Steuerpolitik sind das die Gekniffens-
ten von allen. Sie wollten sie mit der Vermögensteuer zur
Kasse bitten. Nun haben Sie das vor den Wahlen sozusa-
gen ausgeklinkt und haben gesagt: Wir machen etwas an-
deres. – Ich kann Ihnen nur sagen: So wie Sie die Abgel-
tungsteuermachen wollen, wird das nie etwas. Denn das
funktioniert nur, wenn es Vertrauen gibt.
Die Menschen fühlen sich in die Falle gelockt. Wenn Herr
Stiegler sagt, na ja, zuerst müsse man den Steuersatz hal-
ten, aber sich nicht festlegt, dann ist das doch ein Signal
dafür, dass Sie wollen, dass das Geld der Leute rein-
kommt, damit Sie sie erst richtig an den Kanthaken neh-
men können.
So kann es doch nicht sein. Der Herr Gabriel macht
schon Wahlversprechen, weil er meint, 100 Milliarden
Euro kämen zurück, das bringe 25 Milliarden Euro Steu-
ern und 1 Milliarde Euro für Niedersachsen. Meine Da-
men und Herren, das sind Luftschlösser. Es wird genauso
kommen, wie die „FAZ“ vor einigen Tagen geschrieben
hat. Das Thema Vermögensteuer ist nur auf Wiedervor-
lage gelegt. Denn Sie haben diese Diskussion immer ge-
führt. Im vorigen Sommer, zu den Bundestagswahlen,
musste die Diskussion weg. Dann haben Sie sie nach der
Bundestagswahl wieder geführt. Jetzt musste sie wieder
weg.
Ich kann Ihnen sagen: Die Menschen werden Ihnen das
nicht glauben. Es gibt ein Sprichwort: Wer einmal lügt,
dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit
spricht.
Was hat denn der Kanzler versprochen? – 6 Pfennig Öko-
steuer sind genug. Inzwischen haben wir fünfmal 6 Pfen-
nig plus Mehrwertsteuer. Jetzt haben wir die sechste Stufe
Ökosteuer bekommen.
Wie sieht es denn bei den Heilberufen aus? Der Kollege
Parr hat es angesprochen. Wie sieht es denn bei den Land-
wirten aus?
Wie sieht es denn bei den Kulturschaffenden aus?
Die Kommunen haben kein Geld und können nichts mehr
tun und deswegen können auch die Freiberufler nichts
mehr tun.
Ich kann Ihnen sagen: Es gibt einen fundamentalen Un-
terschied zwischen unserer Politik und Ihrer.
Sie sagen: Staatsquote rauf, immer mehr Steuern rein, das
ist gut, und wer alles verfrühstückt, hat es am besten. – Das
ist genau die falsche Politik. Denn wer Freiberufler will,
der muss Leistung belohnen und der darf nicht alles „weg-
steuern“, der muss den Menschen Eigenkapital lassen, da-
mit sie investieren können.
Vergleichen Sie einmal die Arbeitsstatistiken am
Ende des Jahres miteinander Sie werden feststellen: Die
Freiberufler, insbesondere die im Medizinsektor, müs-
sen am Ende dieses Jahres Mitarbeiter entlassen, weil sie
nicht mehr können. Sie werden Ihr blaues Wunder erle-
ben.
Sie haben mit Ihrer Politik die Existenz der Freiberufler
abgewürgt, so wie Sie die Konjunktur abgewürgt haben.
Das sagt sogar VW. Sie haben die Konjunktur nicht be-
fördert. Legen Sie bitte ehrliche Berichte vor.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9499 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und 18 b sowie
den Tagesordnungspunkt 12 auf – es handelt sich um
Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De-
batte –:
Jochen-Konrad Fromme
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
18 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-
– Drucksache 15/109 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt: E-Commerce
– Drucksache 14/10006 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
12 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer
Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft zur
– Drucksache 15/199 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/199
– Tagesordnungspunkt 12 – soll abweichend von der
Tagesordnung nicht an den Ausschuss für Tourismus
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 d sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussfassun-
gen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen
ist.
Tagesordnungspunkt 19 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Verordnung
über Verbrennungsanlagen für Abfälle und
ähnliche brennbare Stoffe und weitererVerord-
nungen zur Durchführung des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes
– Drucksachen 15/14, 15/99 Nr. 2.1, 15/229 –
Berichterstattung:
Petra Bierwirth
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
sache 15/14 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 6 zu Petitionen
– Drucksache 15/162 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 7 zu Petitionen
– Drucksache 15/163 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 7 ist mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 19 d:
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses(6. Ausschuss)
Übersicht 1über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht
– Drucksache 15/170 –
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-
desregierung
– Drucksache 15/220 –
1230
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1231
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d so-
wie 5 f bis 5 k auf. Interfraktionell ist vereinbart, den Ta-
gesordnungspunkt 5 c – Wahl der Mitglieder des Pro-
grammbeirates beim Bundesministerium der Finanzen –
von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 5 a,
5 b und 5 d sowie 5 f bis 5 k: Wahlen zu Gremien. Ich
möchte darauf hinweisen, dass die Wahlen alle mittels
Handzeichen durchgeführt werden.
Tagesordnungspunkt 5 a:
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates
Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesre-
publik Deutschland zur Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
– Drucksache 15/204 –
Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
FDP auf Drucksache 15/204 vor. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Dann ist der Wahlvorschlag mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen. Damit sind die Vertreter
der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarats, die zugleich Vertre-
ter in der Versammlung der Westeuropäischen Union sind,
gewählt.
Tagesordnungspunkt 5 b:
Kontrollausschuss beim Bundesausgleichsamt
gemäß § 313 Abs. 1 und 2 des Lastenausgleichs-
gesetzes
– Drucksache 15/205 –
Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der
FDP auf Drucksache 15/205 vor. Wer stimmt für diesen
Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Wahlvorschlag ist ebenfalls mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 d:
– Drucksache 15/207 –
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD und der CDU/CSU auf Drucksache 15/207 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist ebenfalls
mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 f:
Kuratorium der Stiftung Archiv der Parteien
und Massenorganisationen in der DDR
– Drucksache 15/208 –
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/208 ab. Wer stimmt für die-
sen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des ge-
samten Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 g:
Parlamentarischer Beirat der Stiftung für das
sorbische Volk
– Drucksache 15/209 –
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD und der CDU/CSU auf Drucksache 15/209 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist
mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 h:
– Drucksache 15/210 –
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD und der CDU/CSU auf Drucksache 15/210 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 i:
Stiftungsrat der Deutschen Stiftung Friedens-
forschung
– Drucksache 15/211 –
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD und der CDU/CSU auf Drucksache 15/211 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist
mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 j:
Senat des Vereins Hermann von Helmholtz –
Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.
– Drucksache 15/212 –
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD und der CDU/CSU auf Drucksache 15/212 ab.
Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 k:
Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht
– Drucksache 15/213 –
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 15/213 ab. Wer stimmt für die-
sen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 17 auf:
Vereinbarte Debatte zu Wirtschaft, Arbeits-
markt und sozialer Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. – Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Mitglieder des Hohen Hauses, die den Saal
jetzt verlassen möchten, dies getan haben, eröffne ich die
Aussprache. Ich bitte, dies möglichst zügig zu tun.
Das Wort zur Aussprache hat der Bundesminister für
Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir nähern uns dem Jahresende und damit auch
der Zeit allfälliger Bilanzen, Rückblicke und Voraus-
schauen – vor allem aber der Rückblicke – vieler Men-
schen auf ein Jahr, das bei vielen gemischte Gefühle hin-
terlassen wird.
Gerade deshalb ist es mir besonders wichtig, gegen
Ende dieses Jahres auf zwei Ereignisse hinzuweisen, die
für die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung
der Beschäftigungssituation in Deutschland erhebliche
Bedeutung haben. Da ist zum einen die wahrhaft histori-
sche Entscheidung über die Zukunft Europas, die soeben
auf dem Gipfel in Kopenhagen getroffen worden ist. Der
Bundeskanzler hat sie heute bereits umfassend darge-
stellt. Ich will nur darauf hinweisen, dass die auf diesem
Gipfel beschlossene Erweiterung der Europäischen Union
aus meiner Sicht das wichtigste ökonomische Projekt der
nächsten ein bis zwei Jahrzehnte sein wird und dass dies
gerade für die Volkswirtschaft der Bundesrepublik
Deutschland von herausragender Bedeutung ist.
Das andere Projekt ist die Reform des Arbeitsmark-
tes, die wir in diesem Hohen Hause wie in den gesetz-
gebenden Körperschaften insgesamt in wenigen Tagen
zuwege gebracht haben, die hinsichtlich der Integration
des Steuer- und des Sozialsystems von herausragender
Tragweite ist und die aus meiner Sicht noch über das einst
vorbildliche Grundgesetz der Arbeitsmarktpolitik, näm-
lich das Arbeitsförderungsgesetz von 1969, hinausweist.
Die Reform des Arbeitsmarktes, die wir jetzt auf den
Weg bringen wollen, bringt Bewegung in ein System, das
von vielen für nicht reformierbar gehalten oder zumindest
erklärt worden ist. Wir werden mit dem, was wir jetzt auf
den Weg bringen, und dem, was dem noch nachfolgen
wird, all jene sehr grundlegend widerlegen, die es sich an-
gewöhnen wollen – mir tut es Leid, wenn das auch in die-
sem Hause geschieht –, Deutschland gewissermaßen als
kranken Mann Europas darzustellen.
Das ist eine Absurdität, die man angesichts der Export-
kraft der Wirtschaft Deutschlands und der Leistungs-
fähigkeit der Deutschen etwa beim Aufbau Ost nur in aller
Schärfe und Deutlichkeit zurückweisen kann.
Drei Prinzipien bestimmen die Reformen, über die wir
heute erneut miteinander sprechen.
Das erste Prinzip lautet: gleicher Lohn für gleiche Ar-
beit. Wir wollen Zeit- und Leiharbeit zu ernsthaften und
vollwertigen Alternativen für Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer und für die Arbeitgeber machen. Dabei gilt
selbstverständlich – zumindest aus meiner Sicht ist das
selbstverständlich – wie stets in der Geschichte der sozia-
len Marktwirtschaft in Deutschland und wie in fast allen
hoch entwickelten und prosperierenden Volkswirtschaf-
ten so auch bei uns die Tarifbindung. Die freiwillige Ver-
einbarung von Tarifpartnern hat Vorrang vor gesetzlichen
Regelungen, soweit sie gelingt.
Der zweite Grundsatz lautet: Wir wollen mehr Jobs
durch weniger Schwarzarbeit erreichen. Der gleitende
Einstieg in die vollen Sozialversicherungsabgaben, die
neuen Regelungen für Minijobs, zu denen wir im Ver-
mittlungsverfahren gefunden haben, und für die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer abgabenfreie Nebenein-
künfte bis 400 Euro machen reguläre Arbeit attraktiver
und werden Schwarzarbeit zurückdrängen.
Zugleich treten wir möglichen Bestrebungen, reguläre Ar-
beitsverhältnisse aufzusplitten und unter die 800-Euro-
Grenze zu drücken, durch die Ausgestaltung einer Gleit-
zone zwischen 400 und 800 Euro entgegen.
Der dritte Grundsatz, an dem wir uns orientieren, bein-
haltet Flexibilität und Sicherheit. Bewegungsmöglich-
keit und unternehmerischer Spielraum sind ohne ein ge-
wisses Maß an Sicherheit und Verlässlichkeit für die
meisten Menschen und erst recht für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mit Familien nicht hinzunehmen. Zu-
gleich ist uns klar, dass es Sicherheit und Verlässlichkeit
in der Wirtschaft von heute ohne gewisse unternehmeri-
sche Flexibilität und ohne Spielräume in den Betrieben
nicht mehr geben kann.
Wir wissen, beides gehört zusammen und beides passt
auch zusammen.
Deshalb bringen wir mit dem, was wir auf den Weg brin-
gen werden, beides zusammen, gleich, ob es um die Ta-
rifbindung der Zeitarbeit oder um die Leistungsansprüche
an Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversiche-
rung geht, die im Bereich zwischen 400 und 800 Euro ent-
stehen werden.
1232
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1233
Lassen Sie mich anhand der heute zur Verabschiedung
anstehenden Gesetze nur mit wenigen Stichworten etwas
näher auf einige Aspekte eingehen, weil den meisten von
uns ja vor Augen ist, worum es geht.
Erstens. Wir wollen, dass arbeitslose Menschen, Men-
schen, die Arbeit suchen, schneller als bisher in Arbeit
vermittelt werden. Deshalb schreibt das Gesetz vor, dass
sich Menschen, die in ihrem Beruf eine Kündigung erhal-
ten, in Zukunft sofort an die Arbeitsverwaltung wenden
und sich dort melden müssen. Wenn es uns gelingt – ich
habe darauf mehrfach hingewiesen –, die Dauer der Ar-
beitsvermittlung im Durchschnitt nur um eine Woche zu
verkürzen, bedeutet dies – auf alle heute in Deutschland
leider Arbeitslosen hochgerechnet – 100 000 Arbeitslose
weniger und für die Versicherungskassen etwa 1 Milli-
arde Euro weniger an Belastungen. Wir müssen das
Tempo der Arbeitsvermittlung beschleunigen; das ist
ein wichtiges und in der Diskussion oft unterschätztes
Ziel. Wir müssen aus dem Denken herauskommen, man
müsse Arbeitslosigkeit finanzieren. Wir wollen nicht Ar-
beitslosigkeit, sondern die Vermittlung von Menschen in
Arbeit finanzieren. Diese Vermittlung wollen wir be-
schleunigen.
Wir richten uns dabei nach dem Prinzip des Forderns
und Förderns: Wir fördern die Vermittlung in Arbeit, aber
wir müssen von denen, die Arbeit suchen, beispielsweise
auch erwarten, dass sie mehr Mobilität – zumindest die
Bereitschaft zu mehr Mobilität – aufbringen, wenn sie
ohne familiäre Bindungen sind. Wir müssen erwarten,
dass Menschen, denen ein zumutbarer Arbeitsplatz ange-
boten wird, dieses Angebot auch annehmen. Dafür haben
auch die Arbeitssuchenden einzustehen.
Wir wollen, dass die Zeit- und Leiharbeit in Deutsch-
land aus der – wie ich es genannt habe – Schmuddelecke
herauskommt.
Bisher steht sie – jedenfalls aus Sicht der großen Mehrheit
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – in dieser
Schmuddelecke. Hier gibt es einen Widerspruch bei-
spielsweise zwischen Ihnen, Herr Niebel, und uns: Auch
nach meiner persönlichen Überzeugung kann man Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der Sinnhaftig-
keit von Zeit- und Leiharbeit in Form der Möglichkeit, sie
aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen, nur überzeugen,
wenn zwischen Gewerkschaften und Unternehmen der
Zeitarbeit Tarifverträge geschlossen werden. Nur dann
sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit, das Ri-
siko, das Zeit- und Leiharbeit für sie bedeutet, einzuge-
hen. Das ist letztlich auch im Interesse der Zeitarbeitsun-
ternehmen.
Zunehmend melden sich Unternehmen, die das so sehen
wie wir, dass nämlich Tarifverträge – dafür sind sie da –
sehr wohl die notwendige Flexibilität bieten. Übrigens gibt
es auch aufseiten der Gewerkschaften die Einsicht, dass
man mit niedrigen Einstiegstarifen die Möglichkeit schaf-
fen kann, Arbeitslose aus besonderen Arbeitnehmergrup-
pen, Langzeitarbeitslose und ungelernte Arbeitslose, in Ar-
beit zu bringen.
Sie wissen das aus allen Erklärungen, die es dazu gibt. Die
Tarifverhandlungen zwischen den Gewerkschaften und der
Zeitarbeitsbranche beginnen in aller Kürze. Ich gehe davon
aus, dass es bereits im Frühjahr – das hoffe ich jedenfalls –
gelingt, solche Tarifverträge zustande zu bringen.
Es ist mir neu, dass die Liberalen und gerade Sie, Herr
Kollege Niebel, lieber ein Gesetz schmieden wollen, als
auf tarifvertragliche Bindungen einzugehen.
Das ist wirklich nur damit erklärbar, dass Ihr Verhältnis zu
den Gewerkschaften schlicht und ergreifend mindestens
ungeklärt ist.
Herr Kollege Laumann, angesichts der verschärften
Tonlage in den Reihen der Union sage ich, nicht an Ihre,
aber an die Adresse der Union: Wir werden einen Kurs,
der die Gewerkschaften in die Ecke zu drängen versucht,
nicht mitmachen.
Wir wissen seit Ludwig Erhard, wie wichtig die Tarif-
hoheit ist. Was wollen Sie ohne Gewerkschaften errei-
chen? Wie stünde die deutsche Volkswirtschaft ohne eine
funktionierende Tarifhoheit und Tarifautonomie da, auf
die wir gerade dann setzen, wenn es darum geht, be-
stimmte Sektoren der Wirtschaft und der Arbeitswelt aus
der Ecke herauszuholen und für die Zukunft nutzbar zu
machen? Ich bin sehr dankbar dafür, dass und wie die bei-
den Seiten, die Unternehmen wie die Gewerkschaften,
von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen beginnen.
Ich setze darauf, dass wir damit die notwendige Flexibi-
lität auf diesem Sektor erzeugen.
Wir werden auch die Möglichkeiten von Minijobs im
Bereich der Dienstleistungen verstärken und verbessern.
Dazu haben wir zwischen den Ländern sowie zwischen
den Oppositions- und Koalitionsfraktionen einen Weg ge-
funden, den ich sehr begrüße. Wir haben uns auf einen
Kurs verständigt, der Minijobs mit einer Obergrenze von
400 Euro vorsieht. Ferner haben wir uns auf eine Gleit-
zone verständigt, sodass Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in ein Arbeitsverhältnis hineinwachsen können.
Das Arbeitsverhältnis wird hinsichtlich der Beiträge zu
den sozialen Sicherungssystemen auf der Seite der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis zu einer Grenze
von 800 Euro gefördert. Wir setzen darauf, dass auf diese
Weise zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten entste-
hen, zwar nicht überall vollwertige Arbeitsplätze, aber zu-
sätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleis-
tungssektor, die wir brauchen.
Bundesminister Wolfgang Clement
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Bundesminister Wolfgang Clement
Ich freue mich sehr, dass es auf diesem Gebiet zu einer
Verständigung zwischen uns gekommen ist. Unsere Ver-
ständigung über Minijobs – ob bis 400 Euro oder darüber
hinaus – garantiert den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern individuelle Ansprüche aus der Rentenversicherung
und der Krankenversicherung. Damit wird die Verlässlich-
keit und Berechenbarkeit für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer verbessert.
Wir haben gleichzeitig einen Sonderweg für die so
genannten haushaltsnahen Dienstleistungen vereinbart.
Dies ist ein Sektor, in dem sich gerade in unserer Zeit be-
sonders viele Beschäftigungsverhältnisse finden, die sich
bisher außerhalb der steuerrechtlichen Legalität bewegen.
Wir schätzen, es gibt weit über 3 Millionen solcher Be-
schäftigungsverhältnisse. Wir wissen aber nur von 30 000
bis 40 000 steuerrechtlich legalen Beschäftigungsverhält-
nissen. Wir richten an die Haushalte das Angebot, von den
steuerrechtlich legalen Möglichkeiten der Inanspruch-
nahme haushaltsnaher Dienstleistungen Gebrauch zu ma-
chen, und fördern dies mithilfe des Steuerrechts. Das ist
ein ungewöhnlicher Schritt; wir glauben aber, dass er ge-
rechtfertigt und sinnvoll ist, da er dazu dient, viele die-
ser Beschäftigungsverhältnisse aus der Illegalität in die
steuerrechtliche Legalität zu holen.
Ich würde mich freuen, wenn wir dafür gemeinsam wer-
ben würden, um auch in diesem Sektor der Dienstleis-
tungen legale Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen
und damit für Klarheit und Transparenz zu sorgen.
Wir haben gleichzeitig die ersten Schritte getan, um die
so genannten Ich-AGs, wie sie im Konzept der Hartz-
Kommission genannt werden, zu fördern. Das heißt, wir
haben Möglichkeiten im kleingewerblichen Sektor ge-
schaffen, die in Deutschland bisher, soweit es um legale
Beschäftigungsmöglichkeiten geht, unterentwickelt sind.
Ich freue mich sehr, dass wir hier die ersten Schritte tun
können. Sie wissen – das haben wir im Vermittlungs-
verfahren besprochen –, dass wir die Möglichkeiten der
kleingewerblichen Selbstständigkeit erheblich verstärken
wollen. Ich freue mich, wenn die Fraktionen gemeinsam
mit dem Bundesfinanzminister ein Modell der Minimal-
besteuerung und der Minimalbuchführungspflicht solcher
Tätigkeiten der kleingewerblichen Selbstständigkeit ent-
wickeln wollen.
Dieses Modell, das wir gemeinsam mit dem Handwerk
entwickeln wollen, soll das Verhältnis zwischen Klein-
gewerbe und handwerklicher Tätigkeit stärken und klären
sowie zugleich im Handwerk die notwendige Flexibilität
schaffen. Dies gilt erst recht im Zuge des europäischen Pro-
zesses, in dem wir das Handwerk nicht in der geschützten
Form werden erhalten können, wie es in Deutschland bis-
her noch existiert. Wir wollen die duale Ausbildung, den
großen Befähigungsnachweis, den Handwerksmeister
und die Handwerksmeisterin erhalten und dem Hand-
werk eine sichere Zukunft ermöglichen. Das Handwerk
mit dem Gesellen und dem Meister bietet eine der wich-
tigsten und weltweit besten und angesehensten Qualifi-
kationsmöglichkeiten, die wir im Facharbeiterbereich
haben.
All dies, insbesondere das, was wir unter dem Konzept
Hartz II verstehen, haben die CDU/CSU-geführten Län-
der und wir, die Koalitionsfraktionen, im Vermittlungs-
ausschuss eingehend besprochen. Wir sind zu einer ge-
meinsamen Lösung gekommen. Das begrüße ich sehr,
weil ich es bei einem so wichtigen und herausragenden
Thema wie dem Arbeitsmarkt für wichtig halte, gemein-
same Lösungen – wenn es irgend geht – zustande zu brin-
gen. Mit der Leih- und Zeitarbeit, mit den Minijobs im
Dienstleistungssektor, mit den kleingewerblichen Mög-
lichkeiten und mit dem Programm „Kapital für Arbeit“ ist
aus meiner Sicht ein Durchbruch für den Dienstleistungs-
sektor in unserem Arbeitsmarkt eröffnet worden. Ich freue
mich sehr, dass wir am Ende dieses Jahres unter äußers-
tem Zeitdruck diesen Schritt zuwege gebracht haben, der
– davon bin ich überzeugt – Bewegung in den Arbeits-
markt bringen wird.
Das, was wir hier verabschieden wollen, ist ein Geset-
zespaket. Es ist zusammen mit dem, was ich genannt
habe, ein erster großer Schritt hin zu mehr Beschäftigung
und – wenn ich die Lockerung des Ladenschlussgesetzes
einbeziehe – auch zu mehr und besseren Dienstleistungen
für Haushalte und Verbraucher. Nicht zuletzt geben wir
damit mehr Menschen die Chance, sich ein Einkommen
aus eigener Kraft zu erwirtschaften.
Es werden jetzt weitere Schritte folgen. Wir werden
im Januar/Februar, wie gesagt und wie vereinbart im
Vermittlungsverfahren, in der Arbeitsgruppe die klein-
gewerblichen Möglichkeiten steuerrechtlich, buchfüh-
rungsrechtlich und handwerksrechtlich noch unterfüttern.
Wir werden dann bis zur Sommerpause die Bundesan-
stalt für Arbeit umbauen. Die Bundesanstalt für Arbeit
muss ein Unternehmen des Arbeitsmarktes werden; sie
muss geradezu unternehmerische Qualifikationen ent-
wickeln, um den Arbeitsmarkt so in Bewegung zu bringen,
wie das notwendig ist. Wir werden dann, wie angekün-
digt, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen.
So wie es die Hartz-Kommission vorgeschlagen hat, wol-
len wir – das ist unser Ziel – alle, die arbeitsfähig sind, in
Arbeit vermitteln, wenn uns das irgend möglich ist. Das
packen wir jetzt an. Wir werden das auch im neuen Jahr
mit aller Kraft fortsetzen.
Heute haben wir die Chance, den Arbeitsmarkt und den
Dienstleistungssektor in Deutschland zu durchlüften und
im Interesse von mehr Beschäftigung und besseren Ein-
kommenschancen für alle frischen Wind hereinzulassen.
Deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren: Lassen
Sie uns die Fenster gemeinsam aufstoßen! Weil heute wie-
der einiges an sehr kritischen, skeptischen Tönen zu hören
war, bitte ich Sie außerdem, zum Ende des Jahres die
Hoffnungszeichen nicht zu übersehen, die am Konjunk-
turhimmel zu erkennen sind, etwa an den internationalen
Börsen, etwa in Untersuchungen und Umfragen, die das
Ifo-Institut veröffentlicht hat, in denen sich die Erwartun-
gen für die nächsten sechs Monate deutlich verbessert ha-
ben. Ich gehe davon aus, dass Sie diese Hoffnungszeichen
genauso gern sehen, wie auch ich das tue. Ich setze also
auf ein besseres Jahr 2003.
1234
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1235
Mit dem, was wir heute auf den Weg bringen, werden
wir diese besseren Aussichten unterstützen. Weiteres wird
folgen. Ich freue mich auf die weitere Arbeit – entgegen
manchen anders lautenden Aussagen gelegentlich auch
gemeinsam mit Ihnen.
Ich danke Ihnen. Alles Gute!
Nächster Redner ist der Kollege Karl-Josef Laumann,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Ich möchte meinen Debattenbeitrag
gern mit einem Zitat aus dem Wahlprogramm der
CDU/CSU zur letzten Bundestagswahl beginnen. Mit Ih-
rer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitiere ich:
Die geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer brau-
chen eine Perspektive für weniger Bürokratie und
höheren Nettoverdienst. Die rot-grüne 325-Euro-
Regelung wird bei uns keinen Bestand haben. Wir
werden stattdessen die 325-Euro-Grenze auf 400 Euro
anheben ...
Für Arbeitnehmer, die in einem Vollzeit- oder einem
Teilzeitarbeitsverhältnis von mehr als 20 Wochen-
stunden zwischen 401 Euro und 800 Euro verdienen,
werden deshalb die Sozialversicherungsbeiträge ge-
senkt. Dieses Angebot gilt nicht nur für Langzeit-
arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, sondern für
alle Bezieher von niedrigen Einkommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Fraktion, ich melde: In diesem Punkt ist unser
Wahlprogramm eins zu eins umgesetzt.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Meckelburg?
Gern.
Herr Kollege Laumann, da Sie Vollzug melden, frage
ich Sie: Könnten Sie sich vorstellen, dass wir über den
zweiten Teil statt „Hartz II“ jetzt „Laumann I“ schreiben?
Herr Kollege Meckelburg, das ist nicht so wichtig. Das
Entscheidende ist, dass der wirklich innovative Teil von
dem, was wir heute zur Arbeitsmarktpolitik beschließen,
nämlich das Minijobmodell und die Regelungen zum
Niedriglohnbereich, von der CDU/CSU entwickelt wor-
den ist. Im Wahlkampf ist von Ihnen immer vorgebracht
worden – ich war ja auf zig Podiumsdiskussionen mit
Kolleginnen und Kollegen von Ihrer Seite –, als würde
man damit die Sozialversicherungen zerschlagen, als
würde man damit sozialversicherungspflichtige Beschäf-
tigung in Deutschland abbauen. Wenn Sie das so sehen,
dann müssen Sie gleich dagegen stimmen. Ihr Minister ist
in der Frage halt einen Schritt weiter.
Was wir hier in Wahrheit machen, ist das Wegräumen
von vier Jahren rot-grüner Reglementierung auf dem Ar-
beitsmarkt
oder, um es im Volksmund zu sagen, das Wegräumen des
Riesterschutts der letzten vier Jahre im Bereich der Ar-
beitsmarktpolitik.
Herr Clement, da wir in der Weihnachtszeit sind – der
dritte Advent war schon –, gestatten Sie mir folgende Be-
merkung: Ich glaube schon, dass im Himmel die Freude
über einen, der Einsicht zeigt und umkehrt, viel größer ist
als die über 99 Gerechte.
Aber wir haben auch noch ein Weiteres erreicht. In der
Haushaltswoche vor 14 Tagen habe ich gesagt: Lasst uns
doch das Scheinselbstständigkeitsgesetz abschaffen.
Im Protokoll des Bundestages können Sie lesen, dass Wi-
derspruch aus Reihen der SPD-Fraktion vermerkt wurde.
Ich will auch hier melden: Das Scheinselbstständigkeits-
gesetz ist in sich zusammengebrochen. Es ist im Kern-
stück zerstört und die Menschen brauchen sich nicht mehr
darüber grämen, dass sie, obwohl sie selbstständig sind,
als Scheinselbstständige bezeichnet werden.
Herr Clement, Sie haben in den Besprechungen der
vergangenen Woche Ihre Blockadepolitik für den Arbeits-
markt in einem anderen Punkt fortgesetzt, indem Sie nicht
bereit waren, im Bereich der Zeitarbeit hinsichtlich der
Bezahlung so viel Flexibilität zu lassen, dass dieses In-
strument gerade im unteren Segment der Zeitarbeit, im
Helferinnen- und Helferbereich, weiterhin als eine gute,
starke Brücke für den ersten Arbeitsmarkt genutzt werden
könnte.
Sie haben uns gerade gesagt, dass die CDU/CSU, weil
sie nicht der Meinung ist, dass hier vom ersten Tag an eine
Bundesminister Wolfgang Clement
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Karl-Josef Laumann
tarifliche Entlohnung gemäß dem Niveau des Entleih-
betriebes gelten muss, ihr Verhältnis zu den Gewerk-
schaften klären müsse. Die CDU hat ein ganz normales
Verhältnis zu den Gewerkschaften. Wir haben zurzeit kein
Problem – das hat mein Freund Friedrich Merz angespro-
chen – mit den Gewerkschaften, sondern damit, dass in
den letzten zehn Jahren einige aktive Parteigenossen der
SPD aus den Einheitsgewerkschaften in diesem Land eine
Richtungsgewerkschaft gemacht haben, die sich an den
Interessen der SPD orientiert und nicht mehr an den In-
teressen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in un-
serem Lande.
Unser Problem, das wir mit diesem Teil der Gewerk-
schaften haben, ist, dass sie nicht mehr bereit sind, Teile
des Vertrages der Einheitsgewerkschaften im DGB einzu-
halten und unterschiedliche religiöse und parteipolitische
Einstellungen zu akzeptieren und zu achten. Meine
Freunde, wir werden immer wieder deutlich machen, so-
lange wir die Kraft des Argumentes haben, dass wir es der
SPD nicht durchgehen lassen, den Gedanken der Ein-
heitsgewerkschaft in diesem Maße zu zerstören, wie es ei-
nige von Ihnen in den letzten Jahren getan haben.
Aber, Herr Clement, ich verstehe ja, dass Sie diesen
Teil Ihrer Rede so engagiert vortragen mussten. Denn
wir wissen, was gestern in der SPD-Fraktion los war.
Wenn ich Minister wäre, würde ich auch etwas für die
verwundeten Seelen tun. Das kann ich sehr gut nach-
vollziehen. Denn nachdem man vier Jahre durch die
Wahlkreise gezogen ist und gesagt hat: „Eine Nebenbe-
schäftigung ist des Teufels“, und heute beschließen
muss, dass diese Nebenbeschäftigung endlich wieder
möglich wird, damit fleißige Leute etwas mehr Geld ver-
dienen können, tut das – auch wenn es in der Sache rich-
tig ist –, natürlich weh.
Weil Sie gerade gesagt haben, wir müssten unser Ver-
hältnis zu den Gewerkschaften überprüfen, möchte ich
Sie bitten, dass Sie als Minister Ihr Verhältnis zu anderen
wichtigen Verbänden und zu einem anderen Gegenüber
der Tarifautonomie in diesem Lande überprüfen. Ich
finde, als Minister müssen Sie mit beiden Seiten vernünf-
tig reden. Würden Sie zum Beispiel mit den Verbänden
der Zeitarbeitsbranche reden, dann wüssten Sie, was für
ein Unheil Sie mit dieser Blockadepolitik im Segment der
Zeitarbeit anrichten, und hätten eine andere objektive Ent-
scheidung für den Arbeitsmarkt getroffen.
Herr Clement, Sie haben heute gesagt, Ende des Jahres
ziehe man Bilanz: Ja, es gab in diesem Jahr 42 000 Insol-
venzen. In diesem Jahr haben 600 000 Menschen ihren
Arbeitsplatz verloren, weil ihre Arbeitgeber Pleite gegan-
gen sind. Bezüglich derjenigen, die bereit sind, sich
selbstständig zu machen, haben wir in der Bundesrepublik
Deutschland die niedrigste Quote seit vielen Jahren. Bei
aller Freude über Minijobs und Niedriglohnbereich müs-
sen wir wissen: Damit sind unsere Probleme am Arbeits-
markt noch lange nicht gelöst.
Auch bei der Umsetzung weiterer aktiver Schritte in
Richtung einer anderen Arbeitsmarktpolitik, die wir im
Grundsatz begrüßen, ist es vor allen Dingen notwendig,
dass der Wirtschaftsminister in unserem Land dafür sorgt,
dass steuerliche Rahmenbedingungen geschaffen wer-
den, mit denen es der Mittelstand leichter hat, Arbeits-
plätze zu schaffen und zu sichern, Rücklagen zu bilden,
um schwierige Zeiten besser durchstehen zu können, so-
wie Geld zu beschaffen, um zu expandieren.
Sie müssen als Wirtschaftsminister in Ihrem Kabinett
auch dafür sorgen, dass dieses unglückselige Gesetz, das
am 1. Januar in Kraft tritt und durch das die Bereiche der
Industrie besonders belastet werden, in denen es einen
hohen Energieverbrauch gibt, gestoppt wird, damit in
Deutschland wieder mehr Arbeit und Beschäftigung und
– damit verbunden – mehr Wohlstand geschaffen werden
kann.
Sie müssen auch in der Frage der betrieblichen Bünd-
nisse für Arbeit weitergehen. So vehement Sie die Not-
wendigkeit dafür jetzt abstreiten, so deutlich sage ich Ih-
nen voraus: Ich werde es noch erleben, dass Sie auch hier
unsere Argumentation übernehmen,
damit in diesem Bereich mehr Rechtssicherheit für Ab-
läufe geschaffen werden kann, die es in unserem Lande
schon heute hunderttausendfach gibt.
Wir müssen noch über einen anderen Punkt reden. Die
Entscheidungsabläufe der betrieblichen Mitbestimmung
müssen so gestaltet werden, dass sie in unsere moderne
Zeit passen und dass sie in einem für beide Seiten vertret-
baren Zeitraum getroffen werden können. Zur Mitbestim-
mung gehört heute dazu, dass vereinbart wird, innerhalb
welcher Fristen welche Entscheidungen getroffen wer-
den. Das ist nicht etwa Arbeitgeberphilosophie. Das kön-
nen Sie auch in den Veröffentlichungen der Bertelsmann-
Stiftung und in dem Benchmarkingbericht nachlesen, die
– das wird manchmal vergessen – Ergebnisse der Ge-
spräche im Rahmen des Bündnisses für Arbeit beinhalten,
die einigen Gruppen in diesem Land nicht gefallen.
Neben der Reform der Arbeitsverwaltung sollten wir
den Schritt gehen, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu-
sammenzulegen, aber bitte nicht mit einem Arbeitslosen-
geld II, sondern mit einer aktiven Beteiligung der Kom-
munen bei der Vermittlung von Stellen. Man sollte nicht
versuchen, mithilfe des „Monsters“ Bundesanstalt für Ar-
beit alles regeln zu wollen.
Wenn Sie die von mir vorgeschlagenen Veränderungen
durchführen, dann haben Sie im Parlament alles getan –
da bin ich mir sicher –, dass das vor uns liegende Jahr für
den Arbeitsmarkt in Deutschland ein gutes Jahr wird. Das
wünschen wir von der CDU/CSU den Menschen in unse-
rem Lande am allermeisten.
1236
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1237
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Thea Dückert
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem Punkt kann man Herrn Laumann natürlich zustim-
men: Was wir heute hier beschließen und in den nächsten
Tagen auf den Weg bringen, wird im nächsten Jahr tief
greifende Veränderungen am Arbeitsmarkt auslösen.
Diese Reform wird Bewegung in den Arbeitsmarkt brin-
gen.
Ich glaube, dass das insbesondere für diejenigen wichtig
ist, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Richtig ist auch, dass viele gesprungen sind: Sie, Herr
Laumann, und auch die Koalition. Dabei ist ein ganzes
Bündel von Maßnahmen herausgekommen, die wirklich
ein Angebot an die Menschen sind. Darum geht es doch.
Wir machen den über 4 Millionen arbeitslosen Menschen
Angebote, damit sie in den Arbeitsmarkt zurückkommen
können. Diese Menschen werden in den Jobcentern eine
Beratung aus einer Hand erhalten. Einfache Regelungen
bei den Minijobs werden dafür sorgen, dass sie aus der
Schwarzarbeit geholt werden. Sie werden Ich-AGs grün-
den können, um sich selbstständig zu machen. Wir haben
das Instrument der Zeitarbeit eingeführt, um Brücken in
den Arbeitsmarkt gerade für diejenigen, die viel zu lange
draußen waren, für Langzeitarbeitslose, zu schlagen.
Das ist ein Erfolg. Dass dieser Erfolg nun wieder viele
Väter auf den Plan ruft, wundert mich nicht. Herr
Laumann hat sich gerade geoutet. Ich gönne ihm das gern.
Ich könnte ganz einfach dazu sagen: Nichts ist klarer als
die Mutterschaft in einer solchen Frage. Ich will das aber
nicht weiter ausführen; denn wir haben in der letzten Wo-
che gut miteinander gerungen.
Das Ergebnis ist die Heraufsetzung der Geringfügig-
keitsgrenze auf 400 Euro bei den Minijobs sowie die Ein-
führung einer Gleitzone. Was ist eine Gleitzone? Sie
räumt das, was wir seit ungefähr anderthalb Jahren Teil-
zeitmauer nennen, weg. Diese Mauer entsteht durch zu
hohe Sozialabgaben für kleine Einkommen. Diese werden
plötzlich mit hohen Sozialabgaben belastet, wenn sie über
der Geringfügigkeitsgrenze liegen. Deswegen haben wir
vor anderthalb Jahren das Modell der Gleitzone in die De-
batte gebracht. Was haben wir gemacht? Wir haben diese
Gleitzone eingeführt.
Herr Laumann, merken Sie auf, wenn ich mich hier auf
Ihr Wahlprogramm beziehe: Wir haben Ihr Modell nicht
1 : 1 umgesetzt.
Denn über einen kleinen, feinen Unterschied mit großen
Folgen, wie das Alice Schwarzer nennen würde, sprechen
Sie nicht. Dieser kleine Unterschied mit den großen Fol-
gen ist, dass die Menschen, die ein Einkommen in der
Zone bis 400 Euro, und die Menschen, die ein Einkom-
men in der Zone von 400 Euro bis 800 Euro beziehen, die
Abgaben, die in diesem Zusammenhang geleistet werden,
als individuellen Sozialanspruch geltend machen können.
Genau das wollten Sie nicht.
Herr Laumann, was hätte das bedeutet? Es hätte be-
deutet, dass mehrere Millionen Menschen, gerade Frauen,
die heute darüber ihre Lücken in der Rentenerwerbsbio-
grafie schließen können, aus der sozialen Sicherheit her-
ausgefallen wären.
Deswegen kann ich an meine Fraktion melden: Hier
haben wir Vollzug. Wir haben ein Instrument geschaffen,
das auf dem Arbeitsmarkt mehr Flexibilität schafft. Wir
koppeln es mit sozialer Sicherheit gerade für die Men-
schen, die es brauchen: für die mit kleinen Einkommen.
Es gibt an dieser Stelle Kritik. Sie kommt zum Beispiel
aus den Reihen der Gewerkschaften, die fragen: Habt ihr
nicht etwas geschaffen, wodurch reguläre Beschäfti-
gungsverhältnisse in Minijobs aufgelöst werden? Dazu
kann ich sagen: Nein, das haben wir nicht. Wir haben so-
gar für die Unternehmen eine kleine Speckschwarte aus-
gelegt, damit sie nicht von der vollen Beschäftigung auf
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse unter 400 Euro
übergehen. Diese Speckschwarte besteht darin, dass ein
Unternehmen für Einkommen bis 400 Euro Abgaben in
Höhe von 25 Prozent und für ein Einkommen darüber in
Höhe von 21 Prozent zahlen muss. Für den Unternehmer
lohnt es sich nicht, reguläre Beschäftigung in kleine Be-
schäftigungsverhältnisse aufzusplitten. Ich finde, dass wir
hier ein sehr kluges Detail in einem großen Reformwerk
umgesetzt haben.
Weiter war uns insgesamt die Entbürokratisierung in
diesem Bereich sehr wichtig. Dazu gehört, dass die Leute
verstehen, was wir hier machen. Was wir hier tun, ist, dass
ein Arbeitgeber eine geringfügige Beschäftigung nur
noch einer einzigen Stelle melden muss. Er kann dieser
Stelle, an die die pauschalen Abgaben fließen, Überwei-
sungen sozusagen in Form eines Dauerauftrages
schicken. Ich bin sehr froh – das sage ich auch an die Kol-
leginnen und Kollegen von der Union –, dass wir uns hier
vonseiten der Koalition durchgesetzt haben und in unse-
rem Land wirklich nur eine Stelle und nicht 16 Stellen ein-
richten werden, was Sie wollten.
So viel zur Entbürokratisierung.
Nun werde ich in den letzten Tagen – deswegen glaube
ich, dass wir etwas durchgesetzt haben, was tatsächlich zu
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Thea Dückert
Dynamik führt – immer wieder gefragt: Wie geht das
denn? Es ist wirklich so einfach, wie ich es gerade darge-
stellt habe. Ich kann heute diejenigen, die ich in meinem
Haushalt schwarz beschäftige, melden – das wollen ganz
viele – und fertig ist die Geschichte.
Sie haben dann eine legale Beschäftigung. Abgaben wer-
den geleistet. Man meldet die Beschäftigung an einer
Stelle. Was kommt hinzu? – Die steuerliche Absetzbarkeit
dieser haushaltsnahen Dienstleistung. Denn eines wissen
wir alle: Im Dienstleistungsbereich besteht eine große
Nachfrage. Aber dieser Bereich ist sehr preiselastisch; die
Haushalte können sich natürlich nicht beliebig teure
Kräfte leisten. Deswegen ist die Absetzbarkeit von 10 Pro-
zent bei Minijobs oder sogar 20 Prozent bei Dienstleis-
tungsagenturen ein großer Beitrag dazu, im Bereich der
haushaltsnahen Dienstleistungen mehr legale und auch
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zum Bei-
spiel über Dienstleistungsagenturen zu schaffen.
Meine Damen und Herren, wir schlagen mit dieser Re-
form einen Weg ein. Diesen müssen wir natürlich weiter-
gehen. Wir werden uns keine Reformpause gönnen. Wir
werden versuchen, mit einfachen und transparenten Re-
gelungen die Selbstständigkeit in diesem Lande zu för-
dern, zum Beispiel mit der Ich-AG. Wir werden aber auch
vereinfachte Steuer- und Buchhaltungsregelungen gerade
für Kleinstunternehmen einführen.
In diesem Gesetz wird deutlich, dass Beschäftigungs-
politik mehr als Sozialpolitik ist. Beschäftigungspolitik
ist Wirtschaftspolitik. Deswegen werden wir sie auch in
Zukunft durch eine engagierte Politik begleiten müssen,
die Selbstständigkeit und Existenzgründungen fördert,
die kleine und mittlere Unternehmen fördert und die wei-
ter entbürokratisiert. Entbürokratisierung wollen wir auch
in Bereichen, die Sie immer noch wie ein Kleinod hüten.
Wir wollen Erleichterungen in der Handwerksordnung
und im Hinblick auf die Zwangsmitgliedschaft in der
IHK schaffen. Diesen Weg müssen wir zusammen wei-
tergehen. Dann werden wir auch im Bereich Wirtschafts-
politik mehr Flexibilität erreichen, was gerade für kleine
und mittlere Betriebe wichtig ist.
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen werden
ständig Prognosen gebracht, wieviel Beschäftigung mehr
und wieviel Arbeitslose weniger mit diesem Gesetz er-
reicht werden. Ich stimme in dieses Konzert nicht mehr
ein, weil ich denke, dass die Leute es wirklich leid sind,
ständig irgendwelche Zahlen zu hören.
Was sie wollen, sind reale Angebote, die es ihnen ermög-
lichen, sich auf das Konzept des Förderns und Forderns
einzulassen. Ich denke, das ist mit diesem Konzept der
Fall.
Das ist auch bei der Zeitarbeit der Fall. Hier besteht ein
kleiner Unterschied zu Ihnen in der Opposition. Wir wol-
len mit der Zeitarbeit Langzeitarbeitslosen eine Brücke in
den Arbeitsmarkt bauen und keine Drehtür schaffen, wo
der eine reingeht und der andere rauskommt. Deswegen
schlagen wir differenzierte Regelungen vor, die wir nicht
von Staats wegen vorgeben, wie die FDP es merkwürdi-
gerweise will,
sondern deren Schaffung wir in die Hand der Tarifsver-
tragspartner legen wollen, die hoch und heilig verspro-
chen haben, für diejenigen, bei denen es notwendig ist,
nämlich die Langzeitarbeitslosen, Einstiegstarife zu fin-
den. Ich bin der Ansicht, dass wir gerade in diesem Be-
reich sicherlich Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose
brauchen, die einen Korridor bis zu 30 Prozent aufschlie-
ßen. Aber ich bin auch der Ansicht, dass wir uns auf die
Zusage der Gewerkschaften und der Zeitarbeitsfirmen,
gemeinsam eine ordentliche Lösung zu finden, verlassen
können.
Wir machen gerade im Bereich Zeitarbeit viel mehr, als
Sie je gefordert haben. Zum Beispiel werden wir das Ar-
beitnehmerüberlassungsgesetz sozusagen insgesamt aus
der Welt schaffen. Wir entbürokratisieren im Bereich der
Scheinselbstständigkeit.Aber, Herr Laumann, da haben
Sie etwas falsch verstanden: Wir schaffen das Schein-
selbstständigengesetz nicht ab.
Die Definition der Scheinselbstständigkeit wird bestehen
bleiben. Was wir abschaffen, ist die bürokratische Vermu-
tungsklausel für den Fall, dass einer nicht mitmachen will.
Wir haben hier entbürokratisiert. Das ist auch gut so. Ich
denke, damit werden wir weiterkommen.
Insgesamt haben wir hier, glaube ich, gemeinsam einen
guten Punkt gesetzt. Es waren vernünftige Debatten, in
denen wir mit Flexibilität vorangekommen sind. Wir wer-
den auch in Zukunft darauf achten, dass Flexibilität und
soziale Sicherheit zusammengehören. Das ist eben der
Unterschied zu Ihnen. So werden wir weitermachen.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Weihnachtliche Glückseligkeit müsste aufkom-
men, wenn man Ihre Reden hört. Es kommt ja auch recht-
1238
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1239
zeitig vor Weihnachten die frohe Botschaft aus dem Ver-
mittlungsausschuss und wir könnten eigentlich alle zu-
frieden sein, wenn wir der Ansicht wären, dass die Refor-
men am Arbeitsmarkt und der Abbau der Arbeitslosigkeit
im Schneckentempo von großen Koalitionen vonstatten
gehen könnten. Das ist leider nicht so. Die Erfolge, die
hier von drei Fraktionen verkündet werden, lohnen es,
doch ein zweites Mal hinzugucken.
Herr Clement, zu Hartz I haben wir überhaupt nicht ge-
sagt, dass der Staat vorgeben soll, wie Tarife auszusehen
haben. Im Gegenteil, das bemängeln wir. Sie schreiben
mit dem Tarifzwang, mit der Ausweitung des Tarifkar-
tells und der Gewerkschaftsmacht auf die Zeitarbeit, fak-
tisch vor, dass die Tarifautonomie in der Bundesrepublik
Deutschland keine Bedeutung mehr hat.
Die FDP kämpft für die Tarifautonomie. Wir wollen
nicht, dass das Grundgesetz gebrochen wird. Was Sie hier
machen, ist schlichtweg verfassungswidrig. Sie machen
nämlich nichts anderes, als dass Sie per Gesetz sagen:
Wenn ein Arbeitgeber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt
keinen Tarifvertrag abschließt,
dann wird für diesen Arbeitgeber ein Vertrag in Kraft ge-
setzt, den ein anderer, nämlich sein Kunde, verhandelt hat.
Das ist mit der Tarifautonomie nicht zu vereinbaren. Die
FDP wird einer Ausweitung dieses Tarifkartells ihre poli-
tische Zustimmung nicht geben.
Bei Hartz II bin ich ja geradezu dankbar. Natürlich tun
Sie durch die Änderungen, die wir, Union und auch FDP,
im Vermittlungsverfahren durchgesetzt haben, kund, dass
Ihre wesentlichsten Arbeitsmarktreformen von 1999,
nämlich die 630-DM-Gesetzgebung und die Regelungen
zum Scheinselbstständigenrecht, gescheitert sind und dass
Sie hier dringend notwendige Änderungen vornehmen
müssen.
Aber ich bin geradezu dankbar, dass die Kollegin
Dückert hier noch einmal etwas festgestellt hat, was bei
der Union offenkundig so noch nicht bemerkt worden ist.
Das Scheinselbstständigengesetz bleibt bestehen.
Es ist verändert worden, aber durch Ihre Zustimmung im
Vermittlungsverfahren stimmen Sie nachträglich einem
zwar veränderten, aber immer noch bestehenden Schein-
selbstständigengesetz zu. Alle Regelungen, die die arbeit-
nehmerähnlichen Selbstständigen betreffen, bleiben gel-
tendes Recht.
Dafür sollten Sie sich nicht hergeben.
Sie machen einen entscheidenden Fehler, der ein
Pyrrhussieg werden kann. Natürlich müssen Minijobs
möglich sein. Natürlich brauchen wir die Chance, mit
kleinen Tätigkeiten einzusteigen. Deshalb hat Hartz bei
der Eins-zu-Eins-Umsetzung gefordert: Minijobs 500 Euro
und 10 Prozent pauschale Abgeltung.
Deshalb hat die FDP gefordert: 630 Euro und pauschale
Abgeltung mit dem Eingangssteuersatz. Deshalb haben
FDP und Union gemeinsam im Bundesrat vereinbart:
500 Euro und pauschale Abgeltung mit einem Steuersatz
zwischen dem Eingangssteuersatz und 22 Prozent. Das ist
alles richtig, aber jetzt kriegen wir eine 400-Euro-Job-
Regelung, die in der Höhe zu niedrig, im Verfahren zu
bürokratisch und politisch falsch ist.
Sie ist politisch falsch aus einem einzigen Grund. Sie
gehen beim Faktor Arbeit den falschen Weg, indem Sie
das Signal geben, Arbeit könne in Deutschland immer
noch teurer gemacht werden. Sie erhöhen Steuern und Ab-
gaben für Minijobs von derzeit 22 Prozent auf 25 Prozent.
Das ist das völlig falsche Signal. Arbeit ist zu teuer in
Deutschland, wir müssen Steuern und Abgaben senken.
Aus diesem Grund kann die FDP-Bundestagsfraktion die-
sen – falschen Weg – nicht mitgehen.
Sie haben Ihre Ziele, Schwarzarbeit zu bekämpfen und
Jobpotenziale zu schaffen, nicht einmal annähernd er-
reicht. Ihre Regelungen, die den Arbeitgeber „privater
Haushalt“ betreffen, sind so unattraktiv, dass Sie Schwarz-
arbeit nicht wirklich bekämpfen werden. Die Möglichkeit,
höchstens 2 400 Euro pro Jahr abzusetzen, ist so unattrak-
tiv, dass das Potenzial von Arbeitsplätzen in privaten
Haushalten nicht einmal annähernd ausgeschöpft wird.
Auch mit der Bürokratie ist es insgesamt nicht so ein-
fach. Allein schon durch die Trennung bei Minijobs wird
die Frage der Abgrenzung, welche Tätigkeit nun eigent-
lich haushaltsnah ist und welche zum sonstigen Bereich
zählt, zumindest in Streitfragen immer wieder hoch kom-
men. In § 28 a SGB IV fordern Sie, dass ein Arbeitgeber
seine Anmeldung bei der Einzugsstelle nur noch über
EDV oder EDV-lesbar vornehmen kann. Damit wird die
Einstellung von Arbeitskräften in diesem Land von einem
Internetanschluss abhängig gemacht. Das kann nicht der
richtige Weg sein.
Aus den Gründen, die ich hier genannt habe, und vie-
len weiteren, die leider in die Redezeit nicht mehr hinein
passen, ist der weiße Rauch doch nicht ganz so weiß, wie
man meinen könnte. Deshalb muss ich hier feststellen:
Die FDP-Bundestagsfraktion ist die einzige ordnungs-
politisch klare Kraft in Deutschland.
Aus diesem Grunde – darauf sollten Sie sich verlassen –
werden wir Sie weiter auf dem Weg behindern, den Ar-
beitsmarkt zu verriestern. Wir wollen dafür sorgen, dass
es Flexibilität und Chancen für die Menschen gibt. Dafür
kämpfen wir.
Dirk Niebel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dirk Niebel
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Brandner, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Dass wir einen dynamischen Minister
haben, der die Arbeitsmarktreform ganz zu seiner Sache
macht, haben wir gerade erlebt. Dass er dabei die Zeit-
grenzen überschreitet, haben wir auch erlebt. Deshalb
bleibt mir nur wenig Möglichkeit, insbesondere Ihnen,
meine Damen und Herren von der Union, zu antworten.
Eines will ich Ihnen aber zu Beginn sagen:
Wir haben zusammen mit unserem Minister eine Ar-
beitsmarktpolitik ohne Denkblockaden betrieben, die in
der Sache dazu führt, dass es am Arbeitsmarkt vorwärts
geht, Chancen genutzt werden und wir moderne Dienst-
leistungen am Arbeitsmarkt bekommen. Das ist unser
Werk, das wir uns von Ihnen auch nicht kleinreden las-
sen.
Wir haben ein Programm gemacht, das die Gewerk-
schaften und die Arbeitgeber mitnimmt. Wir haben es
nicht nötig, die Gewerkschaften zum Feind zu erklären,
wie Sie es machen, und die Forderung der Arbeitgeber un-
reflektiert zu übernehmen. In Ihren Reihen ist das schein-
bar üblich; denn Sie haben führende Vertreter des BDA in
Ihren Reihen und können sich aus dieser Umklammerung
nicht lösen. Wir stellen daher fest, dass Sie auf diesem Ge-
biet auf einem Auge blind sind.
Ich bin auf die Zeit gespannt, in der uns Herr Laumann
erklärt, ob er noch Kollege ist oder den Hinweis seines
Kollegen Merz aufgegriffen hat, nicht mehr Mitglied in
einer DGB-Gewerkschaft zu sein. Auch das wird ein
spannender Klärungsprozess sein.
Wir nehmen heute zur Kenntnis, dass Herr Laumann
hier eine triumphierende Rede gehalten hat.
Ich sage Ihnen: Hochmut kommt vor dem Fall;
denn wir haben dafür gesorgt, dass die Minijobs keine
Abkassierjobs sind, sondern sozialversicherungspflichtig
bleiben und dazu führen, dass die kleinen Leute sozial-
rechtliche Ansprüche haben.
Sie haben gesagt: Das haben wir nicht nötig, wir ver-
zichten darauf; wir wollen nicht, dass Leistungsansprüche
für diese große Gruppe in der Republik entstehen.
Herr Kollege Brandner, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Niebel?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage von Herrn
Niebel.
Wir haben dafür gesorgt, dass der Schutz und die
Rechte der Arbeitnehmer auch in diesem arbeitsmarkt-
politischen Prozess verbessert und nicht verschlechtert
werden. Die soziale Absicherung der Arbeitnehmer in der
Gleitzone, also der volle sozialversicherungsrechtliche
Schutz, ist erhalten geblieben. Wenn es nach Ihnen ginge
und es die Teilzeitmauer noch gäbe, würde künftig die
Möglichkeit der Inanspruchnahme von Weihnachts- und
Urlaubsgeld zu Lohneinbußen führen.
Wir alle haben beklagt, dass der Sprung von 325 Euro
auf 326 Euro zu erheblich weniger Nettoeinkommen
führte. Wir haben mit der Gleitzone genau das verändert
und jetzt sind die Arbeitnehmer in der Lage, auf tarifliche
oder gesetzliche Ansprüche nicht verzichten zu müssen,
damit sie zukünftig bei mehr brutto auch tatsächlich mehr
netto in der Tasche haben.
Wir haben mit unserem Gesetz einen Beitrag zur
Schaffung neuer Arbeitsplätze geleistet, auch die Touris-
musbranche jubelt. Ich weiß, dass überall in der Repu-
blik deutlich gesagt wird, welcher Aufbruch durch dieses
Gesetz organisiert wird. Die „Berliner Zeitung“ titelt:
„Jetzt lohnt sich die legale Putzfrau“. Lasst uns doch bitte
die Chancen gemeinsam nutzen, mehr Menschen aus der
Schwarzarbeit in legale Jobs zu bringen.
Das müsste doch die Botschaft sein und nicht das Trium-
phieren darüber, wer in dieser Angelegenheit Recht oder
Unrecht hat.
– Regen Sie sich doch nicht so künstlich auf. Sie haben
doch in den Verhandlungen konstruktiv mitgearbeitet. Bei
einem einzigen Punkt haben Sie sich noch nicht überwin-
den können, das war bei der Frage der Zeitarbeit, weil für
Sie Tarifverträge Teufelswerk sind.
1240
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1241
– Ja, natürlich, Tarifverträge sind für Sie Teufelswerk.
Wir stehen auf dem Standpunkt: Mit dieser Reform ha-
ben wir dafür gesorgt, dass die Zeitarbeit endlich eine
ganz normale Branche wird. Sie haben darüber geredet,
wir haben gehandelt.
Wir haben dafür gesorgt und werden dafür sorgen, dass
Zeitarbeit in der Tat nicht die Ebene ist, die diskriminiert
werden muss, sondern in der die gleichen Arbeitsbedin-
gungen wie in allen anderen Branchen berücksichtigt
werden. Somit stellen sie ganz normale Arbeitsverhält-
nisse dar. Dies sind Chancen, die wir nutzen wollen. In
den Niederlanden wird die Zeitarbeit zu einem weitaus
höheren Prozentsatz genutzt.
In der Vergangenheit haben Sie nicht mitgeholfen, die-
sen großen Sprung zu machen. Dies ist ein Schritt hin zur
Entbürokratisierung, zur Deregulierung auf der einen
Seite, der auf der anderen Seite gleichzeitig den sozialen
Schutz erhält. Dies ist eine logische Politik, die wir zu-
sammen mit unserem Minister machen werden. Ich bin
davon überzeugt, dass Sie dieses positive Argument spä-
ter einsehen müssen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls über
die Weihnachtstage gutes Nachdenken und hoffe, dass wir
die Arbeitsmarktreformschritte, die noch auf uns zukom-
men, gemeinsam im Konsens erledigen können.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Göhner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Brandner, Sie haben es nun wirklich etwas schwer, zu be-
gründen, dass wir jetzt etwas beschließen sollen, was Sie
noch vor wenigen Tagen für falsch erklärt haben,
sei es Scheinselbstständigkeit, seien es Minijobs. Dies
fällt Ihnen schwer.
Manches, was Sie hier vor 14 Tagen noch als rich-
tungsweisend gepriesen haben, haben wir korrigieren
können, so zum Beispiel das Brückengeld. Dies haben wir
jetzt gemeinsam herausgestrichen.
Es ist gut, dass wir einen Kompromiss zu dem
„Laumann-I-Gesetz“ gefunden haben. Es ist gut, dass wir
uns hier einigen konnten, denn dies ist ein Durchbruch im
Bereich der Minijobs. Herr Minister Clement, es ist
schade, dass dies in dem anderen Gesetz, das Sie mit et-
was Etikettenschwindel „Hartz I“ nennen, nicht gelungen
ist.
Sie haben immer gesagt: Das Kernstück sind die PSAs
und die Neuregelung der Zeitarbeit.Herr Hartz hat Ihnen
die Vaterschaft bezüglich dieses Konzepts öffentlich ent-
zogen, und zwar zu Recht, weil Sie die Aufnahme einer
von der Kommission vorgeschlagenen Regelung in dieses
Gesetz blockiert haben. Wir, die CDU/CSU und die
unionsregierten Länder, haben in der Arbeitsgruppe des
Vermittlungsausschusses angeregt, den Vorschlag von
Herrn Hartz zur Zeitarbeit zu übernehmen, nämlich eine
Regelung, nach der ein tarifvertragliches Equal pay nach
sechs Monaten eintreten soll. Sie haben diesen Vorschlag
blockiert und deshalb eine Einigung leider – was ich sehr
bedauere – in diesem Bereich verhindert.
Die Folge ist eindeutig: Zeitarbeit wird in Deutschland
verteuert, bürokratisiert und kompliziert. Ich teile die Ein-
schätzung, dass die PSAs nach diesem Gesetz boomen
werden. Aber die private gewerbliche Zeitarbeit wird
wegen dieser Verkomplizierung, wegen der Bürokratisie-
rung und wegen der Verteuerung zurückgehen.
Dies ist schade für den Arbeitsmarkt, denn hier gab es in
den letzten Jahren ein starkes Wachstum.
Herr Minister Clement, Sie haben dies nun mit Tarif-
autonomie und dem faktischen Tarifzwang begründet.
Sie machen auch gar keinen Hehl daraus. Sie sagen: Alles
andere ist Schmuddelecke. In den drei Tagen, während de-
ren wir in Ihrem Hause verhandelt haben, habe ich per Zu-
fall gehört, dass auch in Ihrem Haus Zeitarbeitnehmer ein-
gesetzt werden, übrigens nicht zu Equal pay. Ich kritisiere
dies nicht, weil dies Ausdruck der Tarifautonomie ist. Sie
haben hier Ausführungen zur Tarifautonomie gemacht,
die ich sämtlich unterschreiben kann. Alles, was Sie zur
Tarifautonomie gesagt haben, ist richtig. Aber dies ist nur
die eine Seite der Tarifautonomie.
Das Grundrecht der Tarifautonomie besteht in Deutsch-
land aus zwei Seiten, der positiven Koalitionsfreiheit auf
der einen und der negativen Koalitionsfreiheit auf der an-
deren Seite. Die negative Koalitionsfreiheit nehmen Sie
in Ihrem Ministerium mit den Zeitarbeitnehmern, die Sie
dort einsetzen, in Anspruch. Sie erlaubt es nämlich, ein
Arbeitsverhältnis unabhängig von einer Tarifbindung zu
gestalten. Sie halten eben nicht die Tarifbedingungen ein,
die ansonsten die wesentlichen Arbeitsbedingungen für
die anderen Arbeitnehmer in Ihrem Ministerium darstel-
len. Die negative Koalitionsfreiheit setzen Sie hier fak-
tisch außer Kraft.
Wenn Sie dies jetzt proklamieren und sagen: Dies ent-
spricht aber dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche
Klaus Brandner
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Reinhard Göhner
Arbeit“, kann ich dazu nur sagen: Im gleichen Atemzug
sagten Sie, Herr Minister Clement, die Gewerkschaften
sagen Tarifverträge zu, in denen von diesem Grundsatz
abgewichen wird. Was denn jetzt? Tarifverträge – zu
Recht von Ihnen gewünscht –, die von dem Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ abweichen oder der ri-
gorose Grundsatz? In Ihr Gesetz haben Sie den rigorosen
Grundsatz, dass die Tarifbindung ab dem ersten Tag gel-
ten soll, aufgenommen. Nur für Arbeitslose gilt eine Aus-
nahme von sechs Wochen.
Herr Minister Clement, ich bitte Sie sehr: Diskriminie-
ren Sie nicht die Zeitarbeit in Deutschland, für die es zur-
zeit einen großen Wachstumsmarkt gibt – 800 000 Jobs in
einem Jahr –, als Schmuddelecke. Das ist nicht in Ordnung.
Ich komme auf das Thema Scheinselbstständigkeit zu
sprechen. Frau Dückert hat hier behauptet, von einer Ab-
schaffung könne nicht die Rede sein. Ich muss Ihnen sa-
gen: Das „Riester-Gesetz“ enthielt im Rahmen eines
größeren Paketes zur „Verriesterung“ des Arbeitsrechts
einen Absatz zur Neuregelung der Scheinselbstständig-
keit. Diesen Absatz wollten Sie nicht streichen. Als Kom-
promissangebot an uns wollten Sie da nur einen Satz he-
rausnehmen. Mittlerweile ist die entsprechende Regelung
komplett gestrichen. Das heißt, die Regelung, wonach ein
Selbstständiger bei Vorliegen bestimmter Kriterien be-
fürchten musste, nicht als Selbstständiger, sondern als Ar-
beitnehmer eingeschätzt zu werden, ist ersatzlos gestri-
chen. Ein Selbstständiger muss aufgrund der neuen
Rechtslage nicht mehr fürchten, er könne als Arbeitneh-
mer gelten. Die bisherige Regelung war für Existenz-
gründer ein großes psychologisches Hindernis.
Es ist gut, dass wir das bei dieser Gelegenheit streichen
konnten.
Herr Niebel, Sie haben einen Punkt übersehen: Die
Rentenversicherungspflicht für arbeitnehmerähnliche
Selbstständige ist im Rentenrecht geregelt. Man kann da-
rüber reden, ob das sinnvoll ist oder nicht. Nach der letz-
ten Ermittlung des VDR betrifft das 6 000 Menschen.
Nach der Ermittlung des VDR betraf die Neuregelung der
Scheinselbstständigkeit über 250 000 Selbstständige in
Deutschland. Dass wir uns darauf verständigen konnten,
diesen bürokratischen Unfug und diese Bedrohung zu
streichen, ist ein großer Schritt.
Es ist schade, dass wir keinen Kompromiss im Hin-
blick auf die Neuregelung der Zeitarbeitsverhältnisse
zustande bringen konnten. Sie wollten das nicht. Sie ha-
ben das blockiert. Das führte zu kuriosen Ergebnissen.
Als es um die Erweiterung der befristeten Arbeitsverhält-
nisse für ältere Arbeitnehmer ging, haben wir, die
CDU/CSU, folgenden Kompromissvorschlag gemacht:
Wir sind bereit, dem Vorschlag zuzustimmen, den Sie
selbst vor vier Wochen hier im Deutschen Bundestag be-
gründet und eingebracht haben. Dieser Vorschlag sah
nicht das jetzt vorgesehene Auslaufdatum 2006 für Ar-
beitnehmer ab 50 vor. Das kuriose Ergebnis Ihrer Blocka-
de war, dass Sie in dieser Vermittlungsgruppe Ihren eige-
nen Vorschlag abgelehnt haben. Sie wollten den
Kompromiss in diesem Bereich nicht, was ich bedauere.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns bei „Laumann I“
auf eine Neuregelung der Niedriglohnjobs geeinigt ha-
ben. Aber ich warne auch hier vor einer Übertreibung. Ich
sehe die 300 000 zusätzlichen Arbeitsplätze noch nicht.
Diese Neuregelung wird voraussichtlich dazu führen,
dass es im Bereich der Nebentätigkeiten – das ist für viele
Arbeitnehmer und für viele mittelständische Dienstleis-
tungsbetriebe wichtig – einen großen Zuwachs geben
wird. Wenn wir ermöglichen, dass jemand, der fleißig ist
und bisher nur ein kleines Einkommen hat, vor Arbeits-
beginn die Zeitung austrägt, nach der Arbeit kellnert oder
am Wochenende als Verkaufsaushilfe oder als Taxifahrer
arbeitet, dann handelt es sich nicht um zusätzliche
Arbeitsplätze im eigentlichen Sinne; denn die infrage
kommenden Personen sind auf einen Nebenjob angewie-
sen. Es ist ein wichtiger Fortschritt, dass Unternehmer
jetzt endlich legal Arbeitnehmer einstellen können, die
diese Tätigkeiten übernehmen.
Herr Niebel, Ihr Hinweis auf 25 Prozent ist zwar ei-
nerseits richtig; andererseits ist aber zu bedenken, dass
Nebenjobs billiger werden. Denn die Berechnungsgrund-
lage sind 400 Euro und nicht 325 Euro. Wenn ein Arbeit-
geber einem Arbeitnehmer in der Vergangenheit 400 Euro,
500 Euro, 600 Euro oder 700 Euro gezahlt hat, dann kos-
tete ihn das insgesamt mehr, als es künftig der Fall sein
wird. In Zukunft wird ein Arbeitnehmer im Portemonnaie,
also netto, mehr haben und der Arbeitgeber wird weniger
Arbeitskosten haben. Deshalb wird die Neuregelung zu
mehr Beschäftigung führen.
Die Neuregelung wird sicherlich auch im haushalts-
nahen Bereich dazu führen, dass Menschen aus der
Schwarzarbeit herausgeholt werden. Es ist eben so, dass die
künftig legale Beschäftigung im Bereich der 400-Euro-Jobs
zumindest den Haushalt keinen Cent mehr kostet.
Dass man sich auf dem Gebiet der sozialversiche-
rungspflichtigen Tätigkeiten mehr vorstellen könnte, ist
wahr. Aber es ist eben wichtig, dass wir in diesem Bereich
einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel erreicht ha-
ben. Der gesamte Niedriglohnbereich in Deutschland
wird, weil Arbeit in diesem Bereich bisher zu teuer war,
aufgeschlossen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Unser
Arbeitsmarkt litt unter anderem daran, dass es bei den ge-
ring qualifizierten Tätigkeiten – das ist der Bereich, in
dem viele Langzeitarbeitslose einen Einstieg suchen – nur
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1243
wenige Möglichkeiten gab. Jetzt haben wir Verbesserun-
gen erreicht, und zwar auch bei Tätigkeiten mit Einkünf-
ten zwischen 400 und 800 Euro.
Wir dürfen uns allerdings einer Illusion nicht hingeben:
Diese Änderungen im Arbeitsrecht und auf dem Arbeits-
markt können nicht alles gewesen sein. Gesicherte
Rechtsgrundlagen durch eine Erweiterung des Günstig-
keitsprinzips für betriebliche Bündnisse für Arbeit sind
ein weiteres Element, das wir brauchen, damit mehr
Arbeitsplätze entstehen und das uns keinen Cent kostet.
Die pauschalen, bürokratischen Teilzeitansprüche zu be-
seitigen kostet keinen Cent und ist ein Beitrag zur Öff-
nung des Arbeitsmarktes. Dass wir eine wirkliche und
dauerhafte Erweiterung befristeter Arbeitsverhältnisse
brauchen, das war vor vier Wochen auch noch Ihre Er-
kenntnis. Die weitere Entbürokratisierung des Arbeits-
rechtes, das heute kein Mittelständler und kein Arbeit-
nehmer ohne sachkundige Hilfe eines Fachanwaltes
überblicken kann, bleibt in vollem Umfang auf der politi-
schen Tagesordnung.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der durch Tricksereien mit der Geschäftsordnung herge-
stellten Mehrheit im Vermittlungsausschuss hat Rot-Grün
– ich kann es nicht anders ausdrücken – kaltschnäuzig ein
unechtes Vermittlungsergebnis zum Beitragssatzsiche-
rungsgesetz und zum zwölften SGB-V-Änderungsgesetz
herbeigeführt und hat damit den Dialog in diesen wichti-
gen Fragen gänzlich verweigert.
Die Koalition will morgen gegen alle Warnungen mit
ihrer Mehrheit in diesem Hause die beiden Gesetze end-
gültig durchpeitschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite die-
ses Hauses, es wäre besser gewesen, Rot-Grün hätte sich
bereits jetzt die Mühe gemacht, sich mit den Warnungen,
mit den Vorbehalten und vor allen Dingen mit den Vor-
schlägen der Opposition auseinander zu setzen. Denn der
rot-grüne Kurs der Realitätsverweigerung wird ohnehin
nicht mehr lange tragen. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie
sehr schnell von den Problemen eingeholt werden. Denn
Beitragssatzstabilität lässt sich nicht dadurch her-
beiführen, dass man in das Gesetz hineinschreibt, die Bei-
tragssätze dürften, etwa bei den gesetzlichen Kranken-
kassen, nicht angehoben werden. Vielmehr muss man
echte Strukturreformen durchführen. Dazu fehlt Ihnen
bisher noch der Mut.
Um mich festzulegen: Schon Anfang nächsten Jahres
werden die potemkinschen Fassaden, die Sie bei der Fi-
nanzierung der sozialen Sicherung aufgebaut haben, zu-
sammenfallen. Ich sage Ihnen auch, warum ich das ver-
mute. Die Regierung geht bei ihren Annahmen immer
vom best case, also vom besten Fall der wirtschaftlichen
Entwicklung, aus. Sie trägt aber selbst dazu bei, dass sich
die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiter ver-
schlechtern. So wird von Experten etwa geschätzt, dass
die mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz verbundene
Erhöhung der Lohnnebenkosten bis zu 5 Milliarden
Euro betragen kann. Das Institut für Weltwirtschaft in
Kiel sagt voraus, dass alleine im Jahr 2003 durch dieses
Gesetz 60 000 Jobs gefährdet seien. Der ZDH geht von
insgesamt 250 000 Arbeitsplätzen aus, die durch Ihre Ge-
setze gefährdet sind. Man muss sich wirklich fragen: Se-
hen Sie denn nicht, dass Sie das, was Sie auf der einen
Seite mühsam aufzubauen versuchen, auf der anderen
Seite mutwillig zerstören?
Die FDP-Fraktion wird gegen diese Vermittlungsvor-
schläge stimmen. Ich will Ihnen sagen, warum: Wir stim-
men dagegen, weil wir gegen die Anhebung der Versiche-
rungspflichtgrenze sind, da so in Zukunft weniger
Menschen die Wahlmöglichkeit haben,
in die private Versicherung zu wechseln, die resistenter
gegen demographische Entwicklungen ist als die gesetz-
liche Krankenversicherung. Wir werden dagegen stim-
men, weil wir gegen Zwangsrabatte von pharmazeuti-
schen Unternehmen, des pharmazeutischen Großhandels
und vor allen Dingen von Apotheken sind, weil dadurch
Existenzen und Arbeitsplätze in diesem Bereich vernich-
tet werden.
Wir werden dagegen stimmen, weil wir gegen eine Null-
runde für Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Zahn-
techniker sind, weil dadurch die ohnehin schon beste-
hende Rationalisierung in diesem Bereich noch weiter
verschärft wird. Wir werden dagegen stimmen, weil wir
gegen eine Preisabsenkung für zahntechnische Leistun-
gen in Höhe von 5 Prozent sind, die offenbar nur deswe-
gen kommt, um die Mehrwertsteuererhöhung zu kaschie-
ren, die Sie auf der anderen Seite in diesem Bereich
durchführen.
Wir stimmen dagegen, weil wir auch gegen die Absen-
kung der Schwankungsreserve sind. Das ist unverant-
wortlich. Die gesetzliche Rentenversicherung wird ab-
sehbar im Oktober nächsten Jahres ein massives
Liquiditätsproblem bekommen, und das selbst bei An-
nahme eines Wachstums von 2,4 Prozent, was nach der-
zeitigem Stand der Erkenntnis doch relativ weit von dem
entfernt ist, was tatsächlich zu erwarten ist.
Nein, meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie
sind auf dem falschen Weg.
Dr. Reinhard Göhner
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Heinrich L. Kolb
Die notwendigen Strukturreformen werden von Ihnen
nicht angegangen. Was wir brauchen, ist mehr Wahlfrei-
heit, ist mehr Flexibilität. Wir brauchen mehr Wettbe-
werb. Wir brauchen mehr Transparenz. Wir brauchen
mehr Eigenverantwortung und wir brauchen ein Stück
weit mehr Gerechtigkeit zwischen Generationen. Wenn
Sie dazu bereit sind – ich sage Ihnen, Anfang nächsten
Jahres werden Sie dazu bereit sein –, mit uns darüber zu
reden, dann stehen wir auch zur Verfügung. So, wie Sie
sich das jetzt vorgestellt haben, können Sie mit unserer
Zustimmung nicht rechnen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Frau Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Von Ar-
beit muss man leben können!“ – Dieser Slogan stand auf
einem Plakat meiner Partei, der PDS, bei den letzten
Wahlen. Genau über dieses Problem diskutieren wir hier.
Der Minijob wurde in den Reden, die vorher gehalten
worden sind, häufig als eine wesentliche Lösung des Pro-
blems der Arbeitslosigkeit gepriesen. Doch ich gebe Ih-
nen zu bedenken: Minijob klingt ja ganz niedlich. Doch
können Sie mir auch sagen, wo es Minimieten, Ministrom
und Miniheizkosten gibt?
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen den Do-
kumentarfilm „Bowling for Colombine“ von Michael
Moore empfehlen. Dort wird von der Mutter berichtet, de-
ren sechsjähriger Sohn mit einer Pistole seine sechs-
jährige Mitschülerin erschoss. Alle haben diese Nachricht
damals gehört. Viele haben sich zu Recht betroffen darü-
ber gezeigt. Doch die wenigsten kennen den Hintergrund
dieser Geschichte.
Die allein stehende Mutter sollte arbeiten, statt Sozial-
hilfe zu empfangen. Sie wurde in ein entsprechendes Pro-
gramm integriert. Sie nahm zwei Minijobs in einer 80 Mei-
len entfernten Stadt an. Sie fuhr vor Sonnenaufgang los
und kam nach Sonnenuntergang zurück. Das Problem al-
lerdings: Sie konnte mit ihrem Lohn von den beiden Mi-
nijobs nicht einmal die Miete für ein kleines Holzhaus be-
zahlen. Sie musste es räumen. Sie zog zu ihrem Bruder,
wo der kleine Sohn auch die Pistole fand. Der Rest der
Geschichte ist bekannt
und wird in dem Film dokumentiert.
„Die Ära Riester ist endgültig vorbei“, schrieb gestern
die „taz“. Das Dienstmädchenprivileg, von der SPD in der
Kohl-Zeit noch mächtig attackiert, kehrt zurück, das
Scheinselbstständigkeitsgesetz wird korrigiert und Billig-
jobs sind wieder als Nebenjobs möglich.
Herr Laumann ist zitiert worden und hat es auch heute
in der Debatte – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsiden-
ten – wieder erklärt: „Unser Wahlprogramm wird eins zu
eins umgesetzt.“
Das Gesetz ist im Verlaufe der Debatte ja auch schon nach
ihm umbenannt worden.
– Ja, richtig.
Ich denke, die wirklich große Gefahr besteht in der
Zerlegung von guten Jobs in viele kleine Minijobs. Das ist
das eigentliche Thema, über das diskutiert werden muss.
Der Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger spricht von Mi-
nijobs als Jobkiller. Die 320 000 Minijobs, die Herr
Minister Clement erwartet, könnten den Verlust von min-
destens 80 000 regulären Voll- und Teilzeitarbeitsplätzen
bedeuten. Sicher tun Sie vielen Hausfrauen, Rentnern und
Studenten einen Gefallen, die sich ein paar Euro dazuver-
dienen wollen. Doch damit – darum muss es doch eigent-
lich gehen – wird die Zahl der Arbeitslosen nicht reduziert
und qualitätsvolle Arbeitsplätze entstehen auch nicht. Das
sieht auch der Vorstandschef der Bundesanstalt für Arbeit,
Herr Florian Gerster, so. Klar ist nur, dass die Ausfälle bei
den Sozialversicherungen 1 Milliarde Euro überschreiten
werden.
Ich konstatiere: Arbeitsplätze werden nicht geschaffen.
Gute, qualitätsvolle Arbeitsplätze sind in Gefahr. Die So-
zialversicherungen haben mit Ausfällen zu rechnen. Das
Problem der Arbeitslosigkeit wird mit diesen Gesetzen
nicht gelöst. Wir werden dagegen stimmen.
Vielen Dank.
Nun erteile ich der Bundesministerin Frau Schmidt das
Wort.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Problem liegt weniger darin, dass Arbeitsplätze vernichtet
werden, als darin: Wie schaffen wir Arbeitsplätze? Wie
können wir Arbeitslose in Arbeit bringen? Wie schaffen wir
es, aus illegaler Beschäftigung legale Beschäftigung zu ma-
chen? Der Vermittlungsausschuss hat mit seinem Votum zu
Hartz I und II den Weg dafür frei gemacht, neue Wege zu
erproben, die zu mehr Beschäftigung führen sollen.
1244
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1245
Der Kollege Göhner hat erklärt, er wage zu bezweifeln,
dass 300000 Arbeitsplätze geschaffen werden können. Ich
habe dazu gestern im Ausschuss gesagt, ich würde gerne der
CDU/CSU folgen, die sagt, es könnten 800000 Arbeits-
plätze entstehen. Der Vermittlungsausschuss hat neben dem
Beschluss, den Weg für Hartz I und II frei zu machen, wei-
tere Entscheidungen getroffen, die notwendig sind, um den
Arbeitsmarkt anzukurbeln und mehr Arbeitsplätze zu schaf-
fen. Er hat für die beiden Gesetze zur Sicherung der Bei-
tragssätze in den Sozialversicherungssystemen votiert.
Jeder, der dazu beitragen will, Beschäftigung zu schaf-
fen, muss den entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen
seine Zustimmung geben. Angesichts der schwierigen
konjunkturellen Lage ist eine Situation entstanden, in der
wir auf der einen Seite in den gesetzlichen Sozialversi-
cherungssystemen mit großen Einnahmeverlusten zu
kämpfen haben und auf der anderen Seite den Anstieg der
Beitragssätze so gering wie möglich halten müssen. Dazu
haben wir Gesetze vorgelegt. Diese hat der Vermittlungs-
ausschuss mit Mehrheit bestätigt. Ich wünsche mir, dass
der Deutsche Bundestag morgen diesem Votum folgt.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Ja.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nachdem Sie gerade
die Hartz-Gesetzgebung gelobt haben und auf die finan-
ziell problematische Situation der Sozialkassen hingewie-
sen haben, frage ich Sie: Wie bewerten Sie den Umstand,
dass man durch die Hartz-Gesetzgebung für ungefähr
16 Euro Zuzahlung den vollen Anspruch auf Leistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung erwerben kann? Ist
dies für die Finanzen der gesetzlichen Krankenversiche-
rung positiv oder sehen Sie da eher Probleme?
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Herr Kollege Niebel, schon heute hat eine Frau oder ein
Mann mit einem Verdienst von 326 oder 327 Euro durch
die Sozialbeiträge den vollen Versicherungsanspruch.
– Es arbeiten sicherlich viele schwarz. Aber es liegt nicht
in unserem Interesse, diesen Zustand zu belassen. Wir
möchten vielmehr, dass diejenigen, die heute ohne Sozi-
alversicherungsschutz arbeiten, eine sozialversicherungs-
pflichtige Tätigkeit aufnehmen, bei der sie in die Kassen
einzahlen und damit Ansprüche gewinnen.
Sie haben einen Denkfehler gemacht. Diejenigen, die
heute schwarzarbeiten oder überhaupt keiner Erwerbsar-
beit nachgehen, sind in der Regel beitragsfrei mitversi-
chert. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die
dazu führen, dass mehr Menschen eigene Beiträge leisten.
Wir werden damit in Deutschland einen Erfolg errin-
gen. Auch die Einnahmebasis der gesetzlichen Kranken-
versicherung wird auf Dauer anders aussehen, wenn diese
Menschen nicht weiterhin beitragsfrei versichert bleiben
und außer Kranken- und Mutterschaftsgeld die gleichen
Leistungen erhalten. Das ist der Weg in die Zukunft, Kol-
lege Niebel.
Dass Risiken für die sozialen Sicherungssysteme be-
stehen, ist unbestritten. Die Risiken auf der Einnahme-
seite werden kleiner, wenn durch mehr Beschäftigung im
Bereich der Gleitzone mehr Geld in die Kassen fließt. Das
ist eine einfache Rechnung. Wir schaffen dafür jetzt die
Voraussetzungen.
Ich meine, wir sollten diesen Weg gehen, um damit den
Menschen, die erwerbstätig sind und die keinen Einfluss
darauf haben, ob ihnen ein 500-, 600- oder 700-Euro-Job
angeboten wird, die Chance zu bieten, als gleichberech-
tigte Mitglieder in die Sozialversicherungssysteme aufge-
nommen zu werden. Das ist die Chance, die sich in die-
sem Zusammenhang bietet.
Wir brauchen dennoch eine gesetzliche Regelung, die
sicherstellt, dass die Beitragssätze so niedrig wie möglich
bleiben. Wir haben in der Tat Schwierigkeiten. Es hat kon-
junkturelle Einbrüche und infolgedessen Einnahmeaus-
fälle, zum Beispiel in der Rentenversicherung, gegeben,
die eigentlich eine Erhöhung des Beitragssatzes auf
19,9 Prozent im kommenden Jahr notwendig machen. Wir
haben gesetzgeberische Maßnahmen auf den Weg ge-
bracht, damit wir den Beitragssatz im kommenden Jahr
nur auf 19,5 Prozent anheben müssen. Das ist ein um
0,4 Prozentpunkte niedrigerer Beitragssatz. Den sollten
wir alle uns wünschen, wenn wir wirklich wollen, dass die
Gesetze, die wir morgen verabschieden werden, zu mehr
Beschäftigung führen. Das ist der erste Schritt.
Mit 19,5 Prozent ist der Beitragssatz immerhin 2 Pro-
zentpunkte niedriger, als es der Fall wäre, wenn wir Ihren
demographischen Faktor beibehalten hätten, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Union, aber ansonsten keine
Reformen im Rentenversicherungssystem auf den Weg
gebracht hätten. Auch das ist Fakt.
– Herr Kollege Kolb.
Es erleichtert zwar das Geschäft, wenn die Vereinba-
rungen bilateral erfolgen. – Nach der Geschäftsordnung
Bundesministerin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Vizepräsident Dr. Norbert Lammer
stelle ich Ihr Einverständnis mit der erbetenen Zwischen-
frage fest und erteile dem Kollegen Kolb das Wort.
Frau Ministerin, wären Sie bereit einzuräumen, dass
man in Ihre Rechnung eigentlich noch den Rentenbeitrag
einbeziehen müsste, den die Menschen heutzutage an den
Zapfsäulen dieses Landes zahlen? Das macht etwa
2,2 Prozentpunkte aus, wenn ich das richtig umgerechnet
habe.
Sind Sie auch bereit einzuräumen, dass es nach dem
Gutachten des Bundesrechnungshofes trotz der Beitrags-
anhebung auf 19,5 Prozent im Oktober nächsten Jahres in
der Rentenkasse sehr eng wird und nur durch eine vorge-
zogene Zuführung aus der Bundeskasse gewährleistet
werden kann, dass die Abwicklung des Risikostruktur-
ausgleichs durch die Bundesversicherungsanstalt für An-
gestellte wie vorgesehen stattfinden kann?
Sie haben Ihre Rechnung, wie es Herr Eichel voriges
Jahr im Zusammenhang mit seinem Haushalt ausgedrückt
hat, auf Kante genäht. Dabei gehen Sie von optimalen An-
nahmen wie der Steigerung der Lohnsumme um 2,4 Pro-
zent und dem Eingang der Weihnachtsgelder im Novem-
ber und Dezember wie in den vergangenen Jahren aus.
Beides ist aber mehr als fraglich, Frau Ministerin. Sind
Sie bereit einzuräumen, dass das beileibe keine komfor-
table Situation ist, sondern dass Sie sich das auch ein
Stück weit schöngerechnet haben?
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Herr Präsident, das waren mehrere Fragen. Deshalb
würde ich gerne mehrere Antworten geben.
Herr Kollege Kolb, als ehemaliger Parlamentarischer
Staatssekretär im Wirtschaftsministerium müssten Sie ein
großes Interesse daran haben, dass wir bei allen Refor-
men, die wir auf den Weg bringen, den Faktor Arbeit ent-
lasten, damit mehr Beschäftigung geschaffen wird.
Unsere Rentenreform hat zum Ziel, die in der Renten-
versicherung wahrgenommenen solidarischen gesamtge-
sellschaftlichen Aufgaben über Steuern zu finanzieren,
damit die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wie auch
die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen entlastet werden.
Denn wir sind der Meinung, dass Beiträge nur für das ge-
zahlt werden sollten, wofür die Rentenversicherung ori-
ginär geschaffen wurde, nämlich für die Absicherung im
Alter, und zwar nach dem Äquivalenzprinzip. Deswegen
war es richtig, die Anerkennung des gesamtgesellschaft-
lich Notwendigen anzustreben. Dazu gehören die Aner-
kennung von Kindererziehungszeiten und die Aufwertung
der Teilzeitarbeit von Müttern und Vätern, die ihre Kinder
erziehen.
Dabei handelt es sich um Aufgaben, die wir über Steuer-
einnahmen finanzieren wollen. Der Anteil an der Öko-
steuer wird dafür verwendet, diese Aufgaben zu finanzie-
ren. Im Unterschied zu dem Ergebnis Ihrer Rentenreform
entlasten wir die Arbeitskosten und die Lohnnebenkosten
um 2 Prozent. Dafür verteilen wir das, was gesamtgesell-
schaftlich zu leisten ist, auf die breiten Schultern aller;
denn die Ökosteuer zahlen alle in diesem Land und nicht
nur die Beitragszahler und Beitragszahlerinnen.
Wenn wir darüber nachdenken, Herr Kollege Kolb, wie
wir den Faktor Arbeit entlasten können, können wir nicht
ernsthaft daran denken, die Leistungen, die die Menschen
im Alter erhalten sollen, drastisch zu kürzen. Unser Ziel
muss es sein, die Absicherung im Alter zu bezahlbaren
Beitragssätzen zu gewährleisten und das gesamtgesell-
schaftlich Notwendige über Steuern zu finanzieren.
Das war Ihre erste Frage, Herr Kollege Kolb, und ich habe
sie beantwortet.
Sie haben eine zweite Frage gestellt.
– Bitte?
– Herr Zöller, möchten Sie eine Zwischenfrage stellen?
Um es klarzustellen: Zwischenrufe sind ohne Voranmel-
dung möglich. Sie müssen im Unterschied zu den zugelas-
senen Zwischenfragen auch nicht beantwortet werden.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und
Soziale Sicherung:
Zur zweiten Frage. 19,5 Prozent habe ich vorgeschla-
gen, nachdem ich mit dem Verband der Rentenversiche-
rungsträger und mit der BfA gesprochen hatte. Wir haben
dabei auch die Einnahmesituation bedacht. Ich habe Ihnen
gestern schon gesagt,
1246
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1247
dass wir im Gegensatz zu den Annahmen aller Experten,
die bei der Lohnentwicklung im kommenden Jahr von
2,8 Prozent ausgehen, nur 2,4 Prozent als Grundlage ge-
nommen haben und dass mit dem, was wir jetzt auf den
Weg bringen, im kommenden Jahr die Rentenauszahlung
zu jedem Zeitpunkt gesichert ist.
Herr Kollege Kolb, dass man einen Bundeszuschuss
vorziehen kann, geht auf Ihre Regierungszeit zurück.
Selbst wenn es so wäre, wäre das kein Drama.
Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung wer-
den wir Sparmaßnahmen auf den Weg bringen müssen.
Sie wissen, dass in dem Gesetz festgelegt ist, dass die
Krankenkassen ihre Beiträge nur dann anheben dürfen,
wenn das zwingend notwendig ist. Es wird Beitragssatz-
anhebungen geben. Aber mit dem Gesetz erreichen wir,
dass die Anhebungen so gering wie möglich ausfallen und
dass wir von dem jetzigen Beitragssatz von durchschnitt-
lich 14,05 Prozent im Januar auf maximal 14,3 Prozent
kommen werden. Wir brauchen die Gesetze, die für das
kommende Jahr ein Einsparvolumen von 3,5 Milliar-
den Euro vorsehen, damit wir trotz der Einnahmeausfälle
auf der einen und der zu hohen Ausgaben auf der anderen
Seite eine tragfähige Regelung finden.
Ich kann nur an Sie appellieren, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU. Das eine Gesetz ist zustim-
mungsfrei und kann verabschiedet werden. Aber für das
zweite Gesetz brauchen wir Ihre Zustimmung. Mit ihm
wollen wir den Krankenkassen eine Nullrunde bei ihren
Verwaltungskosten verordnen, wie wir das auch von an-
deren Leistungsanbietern in diesem System verlangen.
Damit wird ein Weg beschritten, der in dieser Woche
vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde. Danach
sind die Kassen durchaus in der Lage und im Sinne des
Wirtschaftlichkeitsgebotes auch verpflichtet, über Fest-
betragsregelungen dafür zu sorgen, dass die Ausgaben in
der gesetzlichen Krankenversicherung nur moderat an-
steigen.
Gleichzeitig korrigieren wir einen Fehler, der auf Ihr
Gesetz von 1996 zurückzuführen ist. Wir wollen zwar In-
novationen schützen; aber jeder, der in diesem Sektor
tätig ist, weiß, dass wir etwas tun müssen, um die Ausga-
ben für so genannte Scheininnovationen und Me-too-Pro-
dukte zu begrenzen. Für Produkte, die am Markt mit dem
gleichen therapeutischen Nutzen und mit dem gleichen
Wirkungsbereich vorhanden sind, muss die Krankenkasse
nicht mehr bezahlen. Sie müssen den Weg frei machen,
damit wir endlich auch auf diesem Gebiet Festbeträge ein-
führen können. Dann werden die Menschen auch morgen
noch an den wirklichen Innovationen teilhaben können.
Sie müssen schon gute Gründe finden, um deutlich zu ma-
chen, warum Sie dies nicht mittragen wollen.
Ich kann nur an Sie appellieren, diesen Gesetzen mor-
gen zuzustimmen und mit dafür zu sorgen, dass wir im
kommenden Jahr die Ausgaben begrenzen können. So
können wir den Weg für die notwendigen Strukturrefor-
men im Sinne von mehr Patientenorientierung, mehr Qua-
lität, mehr Wettbewerb und mehr Prävention frei machen.
Dann sorgen wir gemeinsam dafür, dass in diesem System
jeder Euro effizient und effektiv ausgegeben wird.
Die Begrenzung der Lohnnebenkosten gehört zu dem
Paket, zu dem Sie sich eben positiv geäußert haben. Es ist
nicht nachvollziehbar, wenn Sie bei den Sozialversiche-
rungsbeiträgen nicht mitmachen.
Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Auch wenn ich diesem Parlament schon lange an-
gehöre, so kann ich mich doch an kaum eine Situation er-
innern, in der ich während einer Debatte auf der Seite der
großen SPD-Fraktion in so viele trübsinnige, gepeinigte
Gesichter gesehen habe, wie es bei der Rede von Karl-
Josef Laumann zu den Minijobs der Fall war.
Das war für mich ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk.
Wir haben ein Kontrastprogramm erlebt: Wir haben er-
fahren, wozu Politik in diesem Lande in der Lage ist,
wenn man, wie es in dem Teilbereich Minijobs der Fall
war, zur Vernunft zurückkehrt, Herr Wirtschafts- und Ar-
beitsminister. Wir haben aber auch erfahren, wohin es in
unserem Lande führt, wenn man, so wie Frau Schmidt,
störrisch bleibt und an einer falschen Politik festhält.
Frau Schmidt, eine Faustregel trifft bei Ihnen ziemlich
genau zu: Die Realität ist immer exakt das Gegenteil des-
sen, was Sie uns hier erzählen. Das Institut für Demosko-
pie in Allensbach hat in dieser Woche eine Umfrage ver-
öffentlicht, bei der die deutschen Bevölkerung zu der
Frage, was sie über die Sozialsysteme denkt, Stellung
nehmen sollte. Auf die Frage, ob die Renten gesichert
seien, haben 89 Prozent der Bevölkerung gesagt, dass sie
Zweifel haben, ob dem so ist.
Auf die Frage, ob sie Verschlechterungen bei der Versor-
gung im Krankheitsfall befürchten, antworten vor allem
Bundesministerin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Horst Seehofer
Personen aus den sozial schwächeren Kreisen überwie-
gend – in einer Größenordnung von 68 Prozent –, dass sie
im Krankheitsfall befürchten, nicht ausreichend versorgt
zu sein.
Fast alle in der Bevölkerung sagen im fünften Jahr der
rot-grünen Koalition: Die Renten sind nicht sicher.
68 Prozent aus sozial schwachen Verhältnissen befürchten
im Krankheitsfall, medizinisch nicht mehr ausreichend
versorgt zu werden.
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik in den letzten vier Jah-
ren.
Dies sind die Ergebnisse, obwohl Sie der Bevölkerung
zusätzlich riesige soziale Lasten aufgebürdet haben.
Frau Schmidt, allein in den letzten zwölf Monaten haben
Sie die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung
und zur Rentenversicherung um über einen Prozentpunkt
angehoben. Wenn man sich nur die Prozentpunkte an-
schaut, klingt das relativ bescheiden. Wenn man sich aber
die Zahlen ansieht, die dahinter stehen, stellt man fest,
dass Sie den Menschen allein in diesem Jahr – bis zum
1. Januar 2003 –durch Beitragserhöhungen in der Kran-
kenversicherung und in der Rentenversicherung – ich
muss es in D-Mark ausdrücken, weil die Zahl dann plas-
tischer wird – über 20 Milliarden DM oder 10 Milliarden
Euro aus der Tasche ziehen.
Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass Sie in der Pfle-
geversicherung seit dem Jahre 2001 von der Rücklage
leben, die wir Ihnen übergeben haben. Dabei ist noch
nicht berücksichtigt die Erhöhung der Beitragsbemes-
sungsgrenzen, die die Menschen 2 Milliarden Euro kos-
tet. Dabei ist noch nicht berücksichtigt der wiederholte
Griff in die Rentenreserven, die irgendwann zurückge-
zahlt werden müssen und über 5 Milliarden Euro im
Jahr ausmachen. Dabei ist auch noch nicht berücksich-
tigt der Beitrag an der Tankstelle mit über 30 Milliarden
DM.
Wenn man das alles zusammenfasst, ergibt sich die Bi-
lanz, dass Sie die Rentenleistungen massiv verschlechtert
haben, dass Sie die medizinische Versorgung weiter Be-
völkerungskreise verschlechtert haben und dass Sie
gleichzeitig den Menschen über 50 Milliarden DM aus
der Tasche gezogen haben. So viele negative politische
Ziele hat noch keine Regierung in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig erreicht.
Meine Damen und Herren, es wird so weitergehen,
wenn die Regierung bei dem Krebsübel bleibt, das die ei-
gentliche Ursache für diese Entwicklungen in den letzten
vier Jahren ist. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Müntefering
hat dieses Politikverständnis dankenswerterweise noch
einmal auf den Punkt gebracht, indem er gesagt hat: Wir
müssen den Staat stark machen und auf privaten Konsum
verzichten. – Genau diese Denke steht hinter der rot-grü-
nen Politik, auch hinter der Gesundheits- und Renten-
politik.
Sie halten in allen Bereichen an dem Irrglauben fest, dass
jeder denkbare Sachverhalt durch einen Paragraphen,
durch Richtlinien und durch Dirigismus geregelt werden
muss.
Die Folge davon ist, dass am Ende alles teurer und in der
Versorgung alles schlechter wird. Das ist das typische Er-
gebnis einer Planwirtschaft.
Wie wirkungslos die Planwirtschaft letzten Endes ist,
sehen Sie doch an dieser Gesetzesvorschrift: Die Kran-
kenkassen in Deutschland dürfen die Beiträge nicht er-
höhen. Obwohl dies mit einem Stichtag ins Gesetz ge-
schrieben worden ist, erhöhen die Krankenkassen
flächendeckend die Beiträge.
In unserer Zeit haben wir es nicht ins Gesetz geschrieben
und die Beiträge sind nicht erhöht worden.
Sie schreiben ins Gesetz, die Beiträge werden nicht er-
höht, und sie werden erhöht.
Ein weiteres Paradebeispiel für die Perspektiv- und
Hilflosigkeit Ihrer Politik, Frau Schmidt, ist Ihr Eingriff
zulasten der Zahntechniker. Man muss schon lange brü-
ten, bis einem Folgendes einfällt: Man senkt per Gesetz
die Preise für die zahntechnischen Leistungen – das
trifft die Zahntechniker.
Gleichzeitig erhöht man per Gesetz die Mehrwertsteuer
für zahntechnische Leistungen von 7 auf 16 Prozent – das
trifft nicht nur die Zahntechniker, sondern auch die Pa-
tienten, weil sie beim Zahnersatz 50 Prozent Selbstbetei-
ligung haben und deshalb die Hälfte dieser Mehrwert-
steuererhöhung mitzahlen. Deshalb ist es falsch, wenn Sie
der deutschen Öffentlichkeit pausenlos erzählen, Sie wür-
den die Selbstbeteiligung nicht erhöhen. Sie erhöhen die
Selbstbeteiligung über die Mehrwertsteuer!
1248
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1249
Das hat die Auswirkung, dass die Zahntechniker mas-
senhaft in ihrer Existenz bedroht werden. Die Preissen-
kung zulasten der Zahntechniker und der Ausgleich über
die Erhöhung der Mehrwertsteuer nützt nur einem, näm-
lich dem Bundesfinanzminister. Die einzige Freude an der
Operation kann der Bundesfinanzminister haben.
Jetzt erklären Sie einmal der deutschen Öffentlichkeit,
dass die Patienten mehr zuzahlen sollen und dass 20 000
bis 30 000 zahntechnische Praxen kaputt gehen, nur damit
der Bundesfinanzminister seinen verkorksten Haushalt
sanieren kann.
Nächstes Beispiel für die Folgen des Staatsdirigismus
sowie einer unverantwortlichen und auch nicht zukunfts-
orientierten Politik: Die Beitragsbemessungsgrenze in
der Rentenversicherung wird von 4 500 auf 5 100 Euro
erhöht. Das heißt für die Betroffenen: monatlich 135 Euro
mehr an Beitragsbelastung. Nur, das ist eine Anleihe bei
den Betroffenen; denn in der Rentenversicherung werden
Sie zeitversetzt in der Zukunft diese Rentenanwartschaf-
ten aufgrund der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze
wieder ausbezahlen müssen. Das nenne ich eine unver-
antwortliche, auf Kosten der jungen Generation ausge-
legte Politik, wenn Sie die Lasten der Zukunft dadurch
finanzieren, dass Sie die Beitragsbemessungsgrenze er-
höhen und damit noch höhere Rentenanwartschaften für
die Zukunft ins Gesetz schreiben. Dabei brauchten wir in
der Zukunft angesichts des demographischen Wandels ei-
gentlich eine Entlastung der Rentenversicherung.
Arzneimittel und Apotheken:Auf dem Arzneimittel-
sektor erleben wir jetzt den sechsten Versuch in der Ära
Schmidt, die Kosten in den Griff zu bekommen. Der erste
Versuch war die Einführung des Budgets. Das Budget hat
Frau Schmidt wieder abgeschafft. Dann hat sie mit den
Ärzten Zielgrößen zur Einhaltung der Arzneimittel-
verordnung vereinbart. Gescheitert! Daraufhin hat sie die
Aut-idem-Regelung ins Gesetz geschrieben. Die meisten
wissen gar nicht, was das ist. Sie müssen es auch nicht
lernen, weil es in der Praxis wirkungslos war. Dann hat sie
die Pharmaindustrie in das Kanzleramt eingeladen und hat
sie zu einem Bakschisch von 200 Millionen Euro verur-
teilt. Wirkungslos für die Arzneimittelausgaben! Budgets
eingeführt, Budgets abgeschafft. Zielgrößen eingeführt,
keine Wirkung. Aut-idem-Regelung eingeführt, ohne jede
Wirkung in der Praxis. Bakschisch, wirkungslos.
Jetzt kommt der nächste Versuch, und zwar mit einem
Eingriff des Staates in die Preisgestaltung der Apotheken,
des Großhandels und der Pharmaindustrie. Frau Schmidt,
in einem Jahr, wenn Sie dann noch im Amt sind, werden
Sie wieder hier stehen und uns erklären, warum Sie nach
sechs erfolglosen Instrumenten dem Deutschen Bundes-
tag das siebte Instrument vorschlagen. Sie werden wieder
zum Budget zurückkehren. Das nenne ich Flickschuste-
rei. Sie stehen vor einem Scherbenhaufen und erreichen
nichts anderes als eine Existenzgefährdung vieler Apo-
theker, eine Gefährdung der Arzneimittelsicherheit, eine
Gefährdung der Versorgung auf dem flachen Land und
den Verlust vieler zukunftsorientierter Arbeitsplätze,
nämlich solcher für pharmazeutische Fachkräfte. Das ist
das Ergebnis Ihres Preiseingriffs.
Das Gleiche gilt für die Krankenhäuser und die Arzt-
praxen. Ich sage noch einmal: Nullrunden sind Minus-
runden. Wenn in den Krankenhäusern die Personalkosten
steigen, die Krankenhäuser aber nur eine Nullrunde be-
kommen – die Ausgaben des laufenden Jahres sind die
Vorgabe für das nächste Jahr –, dann heißt das, dass sie
weniger zur Verfügung haben. Genauso ist es bei den
Arztpraxen.
Das Allerschlimmste ist: Wenn Sie einen staatlich ver-
ordneten Kostenstopp erlassen, dann wird dem Kosten-
stopp ein Leistungsstopp zulasten von kranken Men-
schen folgen. Das Unsoziale Ihrer Gesundheitspolitik ist,
dass sie immer stärker zulasten der Versorgung von kran-
ken Menschen geht.
Dieses ganze Regelwerk mit Reglementierung, Bud-
getierung, Paragraphen, staatlichen Preissenkungen und
willkürlichen Maßnahmen ist nicht ein Beitragssatzsiche-
rungsgesetz; es ist nichts anderes als ein Raubrittergesetz,
das Arbeitsplätze gefährdet und den Patienten schadet.
Herr Kollege Seehofer, denken Sie bitte an die Rede-
zeit.
Ich sage Ihnen zum wiederholten Mal: Sie werden die
Sozialsysteme nicht mit Staatsdirigismus retten. Wir ha-
ben Ihnen viele Vorschläge gemacht. Ich wiederhole den
zentralen Vorschlag der Union dazu, wie man die Sozial-
systeme für die Zukunft rettet und die beiden großen so-
zialpolitischen Ziele, nämlich hochwertige Versorgung
für alle und angemessener Lebensstandard im Alter, er-
reichen kann: nicht indem man den Faktor Arbeit über die
Lohnnebenkosten weiter belastet, sondern indem man ei-
nen radikalen Kurswechsel einleitet und in die Sozialsys-
teme den Faktor Eigenverantwortung einfügt. Ohne ein
Stück Eigenverantwortung in der Rente, in der Gesund-
heit und in der Pflege wird es auf Dauer Solidarität im
Krankheitsfall und im Alter nicht geben. Allen ist das klar,
nur der SPD noch nicht.
Frau Schmidt, ich wünsche Ihnen, dass Sie ruhige
Weihnachten feiern. Erholen Sie sich gut; denn die Folgen
des Gesetzes, das hier morgen verabschiedet werden wird,
Horst Seehofer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Horst Seehofer
werden Sie im Jahr 2003 in voller Stärke zu spüren be-
kommen.
Das geht dann zulasten der Arbeitsplätze, zulasten der Pa-
tienten und zulasten der Rentnerinnen und Rentner. Des-
halb wird das Jahr 2003 – das prophezeie ich Ihnen – ein
sehr ungemütliches Jahr für Sie werden. Wir werden dafür
sorgen, dass Sie das auch spüren.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
– Drucksachen 15/25, 15/77, 15/91, 15/132, 15/201 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das
ist offensichtlich nicht der Fall.
Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? – Auch das
ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Bun-
destag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Das gilt dann selbstverständlich auch für die folgende Be-
schlussempfehlung des Vermittlungsausschusses.
Wir stimmen zunächst über die Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/201 ab. Wer dieser Beschlussempfeh-
lung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzei-
chen. – Wer stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? –
Wer enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von
CDU/CSU, FDP und der beiden Fraktionslosen ange-
nommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
– Drucksachen 15/26, 15/77, 15/91, 15/133,
15/202 –
Berichterstattung:
Ludwig Stiegler
Auch hierzu ist Berichterstatter der Kollege Ludwig
Stiegler.
Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.
Besteht der Wunsch, Erklärungen dazu abzugeben? –
Auch das ist nicht der Fall.
Ich weise darauf hin, dass mir zu diesem Tagesord-
nungspunkt eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäfts-
ordnung der Abgeordneten Christel Humme, Hilde
Mattheis, Elke Ferner und einer Reihe weiterer Kollegin-
nen und Kollegen aus der SPD-Fraktion vorliegt.1
– Unabhängig davon, dass das Verlesen solcher Erklärun-
gen zur Abstimmung unüblich ist, führt die Verweigerung
der Verlesung vielleicht zu einer seltenen Steigerung der
Attraktivität von Bundestagsprotokollen, die auf diese
Weise persönlich eingesehen werden müssen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer für die Beschluss-
empfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache
15/202 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer
stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? – Wer möchte
sich der Stimme enthalten? – Dann ist diese Beschluss-
empfehlung des Vermittlungsausschusses angenommen
bei großer mehrheitlicher Zustimmung aus den Reihen
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen, bei Zustimmung der Fraktion der CDU/CSU, bei ein-
zelnen Gegenstimmen aus der SPD-Fraktion, Gegenstim-
men der FDP-Fraktion und der fraktionslosen Kollegen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum Bun-
deshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2002
– Drucksache 15/149 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses
– Drucksache 15/182 –
Berichterstattung:
Dietrich Austermann
Walter Schöler
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Hierzu liegen acht Änderungsanträge der Abgeordne-
ten Frau Dr. Gesine Lötzsch und Frau Pau vor.
Wir treten in die Beratung dieses Tagesordnungspunk-
tes ein. Als erster Redner hat der Bundesfinanzminister
Hans Eichel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Finanzpolitik steht in wirtschaftlichen Schwächepha-
sen im Spannungsfeld zwischen kurzfristiger Konjunk-
1250
1 Anlage 1
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1251
turgerechtigkeit und langfristigem Abbau der Staats-
verschuldung. Es kommt darauf an, den Konsolidierungs-
pfad nicht zu verlassen, aber auch nicht durch verfehlte
Kürzungen von Investitionen die wirtschaftliche Schwäche
zu verstärken. Das ist ein schmaler Grat, aber es ist der rich-
tige Weg.
Die Haushaltspolitik des Bundes wird dieser Verant-
wortung gerecht. Wir lassen 2002 eine einmalige Aus-
weitung der Neuverschuldung zu, weil der Preis für zu-
sätzliche Kürzungen in diesem Jahr ein geringeres
Wachstum und mehr Arbeitslosigkeit gewesen wäre. Im
kommenden Jahr werden wir mit einem langsamen An-
ziehen der Konjunktur weitere verstärkte Schritte zum
Abbau der Neuverschuldung gehen mit dem Ziel, diese
für den Gesamtstaat wieder unter 3 Prozent des Brutto-
inlandsproduktes zu drücken.
Wir leisten unseren Beitrag dazu mit dem Bundes-
haushalt. Unser Ziel ist es, 2003mit 18,9 Milliarden Euro
die niedrigste Neuverschuldung seit der Wiederverei-
nigung zu erreichen.
Dieser Ansatz, Konjunkturgerechtigkeit mit Konso-
lidierung zu vereinen, ist der angemessene Weg, um zu
einer langfristig tragfähigen Haushaltslage zu kommen.
Die wirklich entscheidende Frage ist: Gab es im Laufe
dieses Jahres eine sinnvolle Alternative zu dem konjunk-
turgerechten Hinnehmen einer höheren Verschuldung?
Ich sehe keine bessere Lösung. Von der Opposition je-
denfalls habe ich keinen belastbaren Vorschlag gehört.
Der Bund hat schnell und wirtschaftspolitisch richtig
auf die konjunkturbedingten Zusatzbelastungen reagiert,
die die Steuerschätzung offenbart hat. Wenn die beste-
hende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-
wichts durch den Vollzug des Bundeshaushalts 2002 nicht
verschärft werden soll, müssen die automatischen Stabili-
satoren wirken. Die erheblichen konjunkturellen Mehrbe-
lastungen sind unter Verzicht auf massive kurzfristige
Einsparvorgaben durch höhere Defizite auszugleichen.
Der Bund wird deshalb in diesem Jahr mehr Schulden
machen müssen, als zu Beginn des Jahres geplant. Wir
brauchen einen Nachtragshaushalt. Statt der eingeplanten
21,1 Milliarden Euro Neuverschuldung ist es nötig, dass
der Bund in diesem Jahr bis zu 34,6 Milliarden Euro neue
Schulden macht.
Damit können die zusätzlichen Ausgaben für den Arbeits-
markt in Höhe von rund 5 Milliarden Euro und die Steuer-
mindereinnahmen in Höhe von 8,5 Milliarden Euro auf-
gefangen werden.
Ich nehme nicht freudig mehr Schulden auf. Aber es
gibt dazu in diesem Jahr keine volkswirtschaftlich sinn-
volle und verantwortbare Alternative. Wir müssten sonst
zu diesem Zeitpunkt im Jahr oder schon einen Monat vor-
her durch massive gesetzliche Eingriffe und durch den
Abbruch von Investitionen gegensteuern. Das würde die
noch viel zu schwache konjunkturelle Erholung beenden.
Der geeignete Weg zur Überwindung der Störung des ge-
samtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist vielmehr die ein-
malige Erhöhung der Kreditaufnahme im Zusammenspiel
mit unserer langfristig angelegten Wachstums-, Beschäf-
tigungs- und Konsolidierungsstrategie.
Nun hat der Kollege Austermann in der Debatte zur
ersten Lesung des Nachtragshaushalts bezweifelt, dass
die verstärkte Kreditaufnahme dazu geeignet sei, das ge-
samtwirtschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen.
Eine Erhöhung der Arbeitsmarktausgaben und der Aus-
gleich von Steuermindereinnahmen seien völlig ungeeig-
net, Arbeitslosigkeit abzubauen und Wirtschaftswachs-
tum anzuregen. Ich sage ganz deutlich: Der Verzicht auf
diese höhere Neuverschuldung wäre, volkswirtschaftlich
gesehen, sozusagen ein Selbstmord aus Angst vor dem
Tode gewesen. Die staatliche Nachfrage wäre weggebro-
chen. Das hätte aber noch höhere Belastungen und wei-
tere Mindereinnahmen bedeutet. Im Ergebnis hätten die
Bürger, die Unternehmen und auch der Staat noch weni-
ger gehabt.
Weniger Wachstum aber hätte mehr Arbeitslose bedeutet.
Genau das, Herr Austermann, wäre das Ergebnis einer
nicht konjunkturgerechten Politik gewesen.
Aus diesem Grund sind im Stabilitätspakt die automati-
schen Stabilisatoren vorgesehen.
Alle großen Volkswirtschaften haben auf die konjunk-
turellen Haushaltsbelastungen mit höheren Defiziten rea-
giert. In der Europäischen Union sind die Staatsdefizite
in ähnlicher Größenordnung wie in Deutschland ausge-
weitet worden. Acht Länder der Europäischen Union ha-
ben einen wesentlich stärkeren Anstieg der staatlichen
Defizite als Deutschland. Während unser Defizit von
2001 auf 2002 um 1 Prozentpunkt angestiegen ist und da-
mit unter dem Durchschnitt des Anstiegs der Staatsdefi-
zite in der Europäischen Union liegt,
haben Luxemburg, Schweden, Irland, Österreich, Groß-
britannien, Frankreich, Finnland und Dänemark in 2002
zwischen 5,6 Prozent und 1,1 Prozent höhere Abwei-
chungen gegenüber der Haushaltslage in 2001. Dass das
überwiegend bei einer günstigeren Ausgangsposition der
Fall ist, soll gar nicht bestritten werden. Aber daran wird
deutlich, welche Auswirkungen die Konjunktur auf die
Haushalte hatte, und wie sehr wir uns bemüht haben, von
einer ungünstigeren Ausgangsposition aus die Defizite
einzugrenzen, die durch die Konjunktur bedingt werden.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Ich wiederhole: Acht Länder in der Europäischen
Union haben eine stärkere Abweichung in 2002 als
Deutschland. Deutschland liegt bei der Abweichung unter
dem Durchschnitt der Europäischen Union.
Wenn diese Tatsache Sie nicht überzeugt, dann schauen
Sie auf die Vereinigten Staaten. Dort gibt es inzwischen
ein Staatsdefizit von 3,2 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts, nur zwei Jahre nachdem man dort Haushaltsüber-
schüsse hatte. Die Ausweitung der Defizite ist also in der
gegenwärtigen Situation international anzutreffen – und
dies in vielen Ländern mit wesentlich höherer Geschwin-
digkeit als in Deutschland. Es ist also keine deutsche Aus-
nahme, sondern eine angemessene Politik in einer wirt-
schaftlichen Schwächephase.
Das Grundproblem Deutschlands ist aber – darauf
muss ich immer wieder hinweisen –, dass wir noch nicht
auf allen Ebenen hinreichende Fortschritte bei der Sanie-
rung der Staatshaushalte erreicht haben. Wir wissen
– ich wiederhole das hier; die Kosten habe ich nie bestrit-
ten –, dass dies die Konsequenz der 20 Prozent höheren
Staatsschulden, die in den 90er-Jahren in der Folge der
deutschen Einheit entstanden sind, und der in die sozialen
Sicherungssysteme verlagerten Kosten der deutschen
Einheit ist. Das ist zu Ihrer Zeit geschehen. Ich will hierü-
ber keine Schulddiskussion mehr führen, sondern dies nur
als schlichte Tatsache festhalten.
Es gilt, nach vorne zu schauen. Hier gilt es eine klare
Lehre zu berücksichtigen: Wenn wir in Zukunft besser
mit konjunkturellen Schwankungen fertig werden wol-
len, müssen wir einen größeren Sicherheitsabstand zu der
3-Prozent-Grenze, die der Maastrichter Vertrag vorgibt,
aufbauen. Erst dann können die automatischen Stabilisa-
toren ihre Wirkung voll entfalten. Allerdings müssen wir
dann in Zeiten wirtschaftlicher Stärke wesentlich härter
konsolidieren, wie wir das in früheren Jahrzehnten nie fer-
tig gebracht haben. Das schlagen wir Ihnen mit dem Haus-
halt 2003 vor.
Wenn wir wieder höhere Wachstumsraten verwirkli-
chen wollen, dürfen wir mit unseren Konsolidierungs-
bemühungen nicht nachlassen. Ganz im Gegenteil: Wir
müssen sie verstärken. Der Weg zu 2006 wird steiler. Dies
ist sicher politisch oft schwer umsetzbar. Aber so muss die
Maxime unseres Handelns lauten. Hierzu bedarf es wei-
terer Schritte. Wir müssen kritisch überprüfen – ich be-
tone das –, was wir uns noch leisten können und was nicht.
Es wird Einschnitte geben, aber nicht, um den Sozialstaat
zu schwächen, sondern um einen starken, aktivierenden
Staat auch für unsere Kinder und Enkel zu sichern. Das
Ziel der Haushaltskonsolidierung besteht ja nicht in der
Rückführung der abstrakten Größe Staatsdefizit. Es geht
darum, zukünftigen Generationen ganz konkret mehr Le-
benschancen und mehr Wahlfreiheiten zu lassen.
Dies erfordert: Wir dürfen nicht zusätzlich zu den demo-
graphischen Belastungen einen Schuldenberg aufbauen
und in die Zukunft wälzen. Das ist der Kern nachhaltiger
Politik.
Meine Damen und Herren, hier gilt es, den um sich
greifenden Horrorszenarien zu trotzen. Herr Seehofer hat
eben wieder ein Beispiel dafür geliefert. Er hat nur Hor-
rorszenarien gemalt und keine eigenen Lösungskonzepte
auf den Tisch gelegt.
Damit leisten Sie keinen Beitrag dazu, die Zukunft unse-
res Landes zu gewinnen.
Das haben inzwischen übrigens auch die Vertreter der
Wirtschaftsverbände und der Unternehmen gemerkt. Sie
von der Opposition scheinen das noch nicht gemerkt zu ha-
ben. Mit Ihrer Schwarzmalerei sind Sie in diesem Lande in-
zwischen ziemlich allein. Denn eines hat man in der Wirt-
schaft gemerkt: Auch wenn es eine Reihe von Problemen
gibt, die wir lösen müssen – das bestreitet kein Mensch –,
sind Schwarzmalerei und Jammern das Schlechteste, was
wir machen können. Das heißt nämlich, die wirtschaftli-
chen Probleme noch ordentlich zu verschärfen. Deswegen
hören Sie von den Vorstandsvorsitzenden der großen Un-
ternehmen und neuerdings auch von den Lobbyisten der
Wirtschaftsverbände diese Schwarzmalerei nicht mehr.
Damit bleiben Sie zu Weihnachten 2002 ganz allein im
Land und machen eine traurige Figur.
Wir haben Reformbedarf; das ist offensichtlich. Diese
Aufgabe wird Rot-Grün schnell anpacken. Aber ich halte
auch fest, dass wir im internationalen Vergleich – die
merkwürdige Debatte um das Rating hat das sehr klar zu-
tage gefördert – hervorragend dastehen.
Das World Economic Forum hat uns, was die Wettbe-
werbsfähigkeit betrifft, unter 80 Ländern dieser Erde an
die vierte Stelle gesetzt. Wir haben im letzten Jahr aufge-
holt, während andere, zum Beispiel unsere Freunde in den
Niederlanden oder in Frankreich, zurückgefallen sind.
Wir haben auf dem Weltmarkt Marktanteile gewonnen.
Deutschland wird 2002 Rekordüberschüsse in der Han-
dels- und Leistungsbilanz haben. Unsere Stärke auf dem
Weltmarkt, das ist die Wirklichkeit.
Wir haben im vergangenen Jahr höhere Wachstumsraten
als die beiden anderen großen Volkswirtschaften dieser
Welt erzielt. Die Vereinigten Staaten hatten eine Wachs-
tumsrate von 0,3 Prozent und Japan lag im Minus.
Die Arbeitslosenquote liegt in Deutschland trotz der
Wiedervereinigung, also trotz der hohen Arbeitslosigkeit
1252
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1253
in Ostdeutschland, unter der von Frankreich, Italien und
Spanien, die alle diese große Herausforderung nicht zu
bewältigen hatten.
Die deutsche Volkswirtschaft ist stark. Darauf können
wir aufbauen.
Wir haben die niedrigste Inflationsrate in Europa. Das
sind gute Voraussetzungen. Deutschland ist und bleibt
also – um mit dem früheren Deutsche-Bank-Chef Hilmar
Kopper zu sprechen – „als Standort eine Premiummarke“.
Diesen Standort gilt es durch Reformen zu verbessern. Ich
wiederhole: Jammern ist keine sinnvolle politische Stra-
tegie.
Ich teile die Auffassung des Zukunftsforschers Matthias
Horx, der gesagt hat: „Durch die Jammerhaltung werden ...
die natürlichen Veränderungsimpulse unterdrückt.“
Diese Legislaturperiode müssen und werden wir inten-
siv für die weitere Erneuerung Deutschlands nutzen. So
schaffen wir Modernisierung mit sozialer Gerechtig-
keit.
Meine Damen und Herren, unsere Haushaltspolitik
wird diesem Anspruch gerecht. Sie ist kurzfristig kon-
junkturgerecht.
Sie setzt bereits mit dem Haushalt 2003 den Kurs der Haus-
haltskonsolidierung fort. Sie ist in die langfristige Moder-
nisierungsstrategie der Bundesregierung eingebunden.
Ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren,
um Ihre Unterstützung für den Nachtragshaushalt 2002.
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
Ich darf vielleicht in der Zwischenzeit nur der guten
Ordnung halber nachträglich Ihr Einverständnis damit
einholen, dass für diese Aussprache insgesamt eineinvier-
tel Stunden vorgesehen sind. Ich habe das bei Aufruf des
Tagesordnungspunktes nicht förmlich festgestellt. – Ich
bedanke mich.
Herr Austermann, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir
eben gehört haben, waren rückwärts gewandte Halbwahr-
heiten.
Die Bilanz, die am Jahresende mit dem Nachtragshaushalt
aufgemacht wird, hat offensichtlich nichts mehr mit der
Realität zu tun.
Wozu stellen wir einen Haushalt auf? Der Haushalt soll
vor Beginn des Jahres aufgestellt werden und die Ent-
wicklung von Einnahmen und Ausgaben vorzeichnen.
Dann kann man sich im Laufe des Jahres möglicherweise
darüber freuen, dass das eine oder andere so bestätigt
wird.
Was für eine Situation haben wir tatsächlich? Der Fi-
nanzminister hat davon gesprochen, er habe einen Kon-
solidierungskurs eingeschlagen; dieser Konsolidierungs-
kurs werde fortgesetzt. Herr Eichel, ist es Konsolidierung,
wenn im Nachtragshaushalt festgestellt wird, dass die
Ausgaben um 8,6 Milliarden Euro über dem Haushalt des
letzten Jahres liegen,
dass die Konsumausgaben deutlich angestiegen sind, aber
die Investitionsausgaben zurückgegangen sind?
Ist es Schwarzmalerei, wenn wir die Situation so be-
schreiben, wie sie ist?
Wenn Sie selber zu dem Mittel greifen müssen, den
Versuch zu unternehmen, den Haushalt noch verfassungs-
gemäß erscheinen zu lassen, indem Sie sagen, das ge-
samtwirtschaftliche Gleichgewicht sei gestört, dann
können Sie uns doch nicht Schwarzmalerei vorwerfen.
Entweder ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht
gestört oder nicht. Wenn es gestört ist, dann muss man das
sagen. Sie tun es, um damit einen Haushalt zu rechtferti-
gen, bei dem die Investitionen unter den neuen Schulden
liegen. In diesem Jahr wird die Nettokreditaufnahme
nach meiner Einschätzung nicht 34,5 Milliarden Euro,
sondern eher die Größenordnung von 40 Milliarden Euro
erreichen. Sie werden damit Rekordmeister bei der Nach-
kriegsverschuldung sein. Das wird belegt durch diesen
Haushalt, zumindest durch die Jahresrechnung des letzten
Jahres.
Dann muss man die Frage stellen, ob Sie tun, was das
Grundgesetz fordert. Ist das, was Sie tun, geeignet, das ge-
samtwirtschaftliche Gleichgewicht wieder herzustellen?
Reichen dafür einfach höhere Schulden aus? Reicht es
dafür aus, einfach zu behaupten, eine ganz konsistente Po-
litik zu machen, und am Jahresende festzustellen, dass der
Haushalt hinten und vorne nicht gestimmt hat? Kann man
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dietrich Austermann
dann einfach noch einmal 10, 15 oder 20 Milliarden Euro
neue Schulden machen? Das ist keine Politik.
Wir brauchen keinen Buchhalter an der Spitze des Fi-
nanzministeriums, der die Daten der Prognoseinstitute zu-
sammenträgt und hinterher sagt, es gebe leider keinen an-
deren Weg; man müsse das so addieren. Dafür brauchen
wir keinen Finanzminister.
Man stelle sich das einmal vor: Der Finanzminister ist
auf dem Papier der wichtigste Minister in einem Bundes-
kabinett.
Deutschland ist die drittwichtigste Industrienation der
Erde und der wichtigste Minister in der Regierung des
drittwichtigsten Industrielandes der Erde ist nicht in der
Lage, eine Prognose über die Weiterentwicklung der wirt-
schaftlichen Lage abzugeben, die vier Wochen standhält.
Wofür brauchen wir dann ein solches Ministerium, das
bisher ja auch die Aufgabe hatte, wirtschaftliche Ent-
wicklungen zu schätzen? Gegen Ihre Prognosen, Herr
Eichel, sind Eintagsfliegen Überlebenskünstler.
Die Daten, die man gelegentlich bekommt, stimmen doch
hinten und vorne nicht.
Ich will das konkret am Haushalt belegen. Ich habe mir
die Steuereinnahmen Ende November vorgenommen; die
Zahlen dürften auch Ihnen vorliegen. Sie müssten eigent-
lich mit roten Ohren hier stehen und sagen: Liebe
Freunde, liebe Kollegen, der Nachtragshaushalt, den ich
vorgelegt habe, gilt nicht mehr; denn ich kenne inzwi-
schen die Steuereinnahmen im November.
Wenn Sie das sich abzeichnende Defizit bei den Steuer-
einnahmen im restlichen Jahresverlauf ausgleichen wol-
len, müsste allein der Bund im Dezember 32 Milli-
arden Euro Steuern zusätzlich einnehmen und auf die
Länder entfiele noch einmal ein fast so hoher Betrag. Zu-
sammen wäre das die Größenordnung von etwa 62 Milli-
arden Euro. Angesichts einer Situation, in der die Firmen
zum Teil dazu übergehen mussten, das Weihnachtsgeld
für die Mitarbeiter zu reduzieren, ist doch nicht davon
auszugehen, dass wir allein im Monat Dezember doppelt
so hohe Einnahmen erzielen wie in den anderen Monaten.
Das heißt, bei den Steuereinnahmen stimmen Ihre Pro-
gnose und Ihr Haushaltsentwurf nicht mehr.
Das gilt im Übrigen auch für die Arbeitsmarktausgaben.
Ich darf auch hier die erschreckende Zahl nennen. Die
Bundesanstalt fürArbeit hat zurzeit beim Bund Kredite
mit einem Volumen von rund 8 Milliarden Euro aufge-
nommen, um ihren laufenden Verpflichtungen nachzu-
kommen.
Sie hat darüber hinaus einen Zuschuss von 2 Milli-
arden Euro bekommen. Insgesamt gingen in diesem Jahr
fast 10 Milliarden Euro Zuschüsse an die Bundesanstalt.
Ich gehe davon aus, dass ein Teil dieser Kredite am Ende
des Jahres noch besteht, und das heißt – deswegen unter-
streiche ich es –, dass die Neuverschuldung am Ende des
Jahres ganz wesentlich über dem Wert liegt, der heute Be-
standteil des von Ihnen vorgelegten Entwurfes ist.
Es ist daraus ein zweiter Schluss zu ziehen. Wenn die
Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr praktisch 10 Mil-
liarden Euro aus der Staatskasse braucht, ist es doch völ-
lig unwahrscheinlich, dass man davon ausgehen kann,
dass wir im nächsten Jahr ohne jeden Zuschuss an die
Bundesanstalt für Arbeit auskommen werden.
Wer das unterstellt, fängt gleich zu Beginn des Jahres wie-
der mit der Schönfärberei an.
Man muss auch darauf hinweisen, dass Sie nicht nur
einen verfassungswidrigen Nachtragshaushalt vorgelegt
haben, weil in diesem Haushalt die Investitionen unter der
Neuverschuldung liegen, sondern dass Sie gleichzeitig
auch die Stabilitätskriterien verletzen, die wir selbst uns
vorgegeben haben. In einer aktuellen Umfrage wurden
Bürger kurz vor Ende des Jahres gefragt, was sie von der
Einführung des Euro halten. Die meisten Menschen gehen
davon aus, dass es ihnen besser gehen würde, wenn sie
noch die D-Mark hätten. Denen möchte ich als Trost zu-
rufen: Stellen Sie sich vor, wir hätten die Mark noch und
Eichel und Welteke wären für die Stabilität der Währung
verantwortlich.
Man muss sich die Situation angucken. Wir können mit
Freude sehen, dass die EU sich darum bemüht, Deutsch-
land in Bezug auf die Stabilität auf einem ordentlichen
Kurs zu halten.
Deswegen muss ein Bericht abgegeben werden. Aber
gucken Sie sich den Stabilitätsbericht an. Der geht doch
wieder von geschönten, gefärbten und die Bürger täu-
schenden Zahlen aus. Sie behaupten der Wahrheit zuwi-
der, bei der Arbeitslosigkeit seien im nächsten Jahr gerin-
gere Zahlen anzunehmen. Übrigens bestätigen Sie in dem
Papier gleichzeitig, dass die Arbeitslosigkeit seit Beginn
des Jahres 2001 ansteigt. Der Anstieg hat also weder et-
was mit dem 11. September noch mit anderen Dingen zu
tun.
Wir sagen: Der Nachtragshaushalt spiegelt die Rea-
lität nur unzureichend wider und Sie setzen den Kurs der
1254
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1255
Täuschung und der Vertuschung fort. Angesichts der ex-
plodierenden Neuverschuldung in diesem Jahr und der
geringen Aussicht auf eine deutliche konjunkturelle Er-
holung im kommenden Jahr muss davon ausgegangen
werden, dass der Entwurf für 2003 Anfang kommenden
Jahres bereits Makulatur sein wird.
Sie haben davon gesprochen, die Politik der rot-grünen
Regierung sei geeignet, die Situation zu verbessern.
In Ihrer Rede, Herrr Eichel, war aus meiner Sicht kein ein-
ziger gestaltender Ansatz enthalten. Bei keinem Ansatz
konnte man sagen: Der Minister bemüht sich, an dieser
oder jener Stellschraube zu drehen, um damit Entwick-
lungen positiv zu beeinflussen.
Weil Sie und die Koalition die Dinge schleifen lassen
und weil das, was im so genannten Hartz-Konzept, jetzt
besser Laumann-Konzept, steht, nicht dazu beiträgt, die
Situation auf dem Arbeitsmarkt bis zum Ende des nächs-
ten Jahres wesentlich zu verbessern,
können Sie heute davon ausgehen, dass auch im Jahr 2003
die Kriterien von Maastricht wieder gerissen werden.
Ich kann Ihnen dazu die Zahlen aus Ihrem eigenen Sta-
bilitätsbericht vortragen. Sie gehen jetzt, im Dezember
2002, davon aus, dass in diesem Jahr 77 Milliarden bis
82 Milliarden Euro an Finanzierungssalden der staat-
lichen Ebenen zu verzeichnen sind. Das sind rund 4 Pro-
zent. Im nächsten Jahr rechnen Sie damit, dass allein das
Volumen beim Bund bei 27 Milliarden Euro liegt. Ange-
meldet haben Sie eine Neuverschuldung in Höhe von
18 Milliarden Euro.
Es heißt weiter, im Gesamtstaat dürften es 57 Milli-
arden bis 62 Milliarden Euro sein. Wenn Sie das Brut-
toinlandsprodukt bewerten, werden Sie sehen, dass auch
im nächsten Jahr die 3-Prozent-Hürde selbst dann geris-
sen wird, wenn das, was Sie an positiven Erwartungen ha-
ben, eintreten sollte.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Regierung stän-
dig darauf hinwirkt, die Wirtschaft zusätzlich zu belasten.
Daneben werden die Möglichkeiten zum Konsum immer
weiter eingeschränkt und das Vertrauen der Bevölkerung
ist deutlich gesunken.
Die Wachstumserwartungen der Bundesregierung
für 2003 liegen mit 1,5 Prozent deutlich über den Pro-
gnosen der Experten und Sachverständigen der Institute.
Es gibt heute keinen ernst zu nehmenden Prognostiker
mehr, der davon ausgeht, dass wir im nächsten Jahr
1,5 Prozent Wachstum haben.
Wenn das nicht der Fall ist, werden die Ausgaben für
den Arbeitsmarkt steigen. Die Regierung geht davon aus,
dass wir im nächsten Jahr knapp 250 000 Arbeitslose
mehr haben werden, als im Soll dieses Jahres angenom-
men. Das heißt, die Arbeitslosigkeit wird im nächsten Jahr
noch weiter ansteigen und die Steuereinnahmen werden
geringer ausfallen, als es bisher angenommen wird.
Es wäre daher gut, Sie würden den Entwurf für den
Haushalt 2003, der uns inzwischen im Haushaltsaus-
schuss vorliegt, auf der Basis realistischer Prognosen
nachbessern, in denen das Wachstum im nächsten Jahr
ganz deutlich unter 1 Prozent gesehen wird.
Die Regierung hat gestern das deutsche Stabilitätspro-
gramm beschlossen. Danach soll die Defizitquote im
kommenden Jahr bei 2,75 Prozent liegen. Gleichzeitig hat
man in einem Risikoszenario klammheimlich in einem
Nebensatz eingeräumt, dass die Zielwerte unter Umstän-
den nicht eingehalten werden können. Wenn das so ist,
dann sagen Sie das nicht nur der EU-Kommission, die die
Wahrheit am 8. Januar auf den Tisch legen wird, sondern
sagen Sie den Bürgern, dass Sie Ihren eigenen Prognosen
nicht mehr glauben.
Meine Damen und Herren, die Wirtschafts- und Fi-
nanzpolitik der Bundesregierung löst nicht die strukturel-
len Probleme unseres Landes.
Es wird konzeptionslos an den Symptomen kuriert. Die
Menschen fordern, dass wir uns um Gemeinsamkeit
bemühen. Die Union hat ihre Bereitschaft dazu bei der
Debatte über die Arbeitsmarktpolitik bewiesen. Die Men-
schen sagen uns, dass sie die Regierungspolitik zurzeit
nicht mehr nachvollziehen können. „Zickzackkurs“, „Hin
und her“, „Raus und rein“ sind harmlose Bezeichnungen
dafür.
Wir erhalten jeden Tag eine Fülle von Briefen – ich
denke, den Kollegen von der Koalition geht es genauso –,
in denen sich Menschen Sorgen um ihren Arbeitsplatz ma-
chen. Ich könnte beispielhaft Landwirte, Apotheker oder
viele andere nennen. Eine Apothekerin aus Kiel schrieb
mir heute, sie befürchtet, dass sie wegen der Maßnahmen,
die morgen beschlossen werden sollen, das letzte gemein-
same Weihnachten mit ihren Mitarbeitern in ihrem Be-
trieb begehen wird.
Schauen Sie sich die Situation doch an. Die Menschen
sagen, dass sie sich nicht ordentlich regiert fühlen und
keine gute Perspektive sehen. Die Menschen werden nach
dem Weihnachtsfest, vielleicht am 31. Dezember, Aus-
blick auf das kommende Jahr halten. Dabei müssen sie zur
Kenntnis nehmen, dass es mehr Ungewissheiten, mehr
Nebel und Risiken als positive Perspektiven gibt; denn
Sie belasten die Bürger und Betriebe ab dem 1. Januar mit
40 neuen Steuern oder Steuererhöhungen, mit höheren
Sozialabgaben.
Nein, dies ist der falsche Weg. Wir brauchen eine Poli-
tik, die die Eigenverantwortung und die Leistungsbereit-
schaft in diesem Land wieder fördert, die das Vertrauen
der Menschen in die politisch Handelnden stärkt. Wir
brauchen eine Politik der Steuerentlastung und der
Wachstumsförderung. Sie machen das Gegenteil. Sie
Dietrich Austermann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dietrich Austermann
schaden damit der Zukunft unseres Landes. Deswegen
lehnen wir diesen Nachtragshaushalt ab.
Ich erteile nun der Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Sehr geehrter Herr Austermann, ich kann verstehen
und erwarte es auch nicht anders, dass Sie uns in der De-
batte bezüglich dieses Nachtragshaushaltes und der Höhe
der Neuverschuldung unter Beschuss nehmen. Sie haben
auch gesagt, dass Sie davon ausgehen, dass die Neuver-
schuldung noch höher sein wird. Mit diesem Punkt kann
ich mich gut auseinander setzen. Dazu will ich auch gleich
noch etwas sagen.
Ich möchte aber eines feststellen: Wenn Sie jetzt, nach-
dem wir gerade eine ausführliche Debatte über die Ergeb-
nisse des Vermittlungsausschusses hatten und Sie sich so-
gar zu Recht gefreut haben, was Ihr Herr Laumann mit
den Grünen und den Sozialdemokraten zusammen auf
den Weg gebracht hat, sagen, diese Regierung hätte kei-
nerlei gestaltenden Ansatz,
ist das wirklich Quatsch und eigentlich nur ein rhetori-
scher Trick und nicht mehr. Das lasse ich Ihnen nicht
durchgehen.
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen: Die Menschen
wollen, dass wir Reformen machen. Aber mit der Be-
hauptung, dass wir davon nichts anpacken, machen Sie es
sich zu einfach. Ich glaube auch, dass einige Kollegen in
Ihrer Fraktion gerade heute unterstrichen haben, dass dies
gar nicht unbedingt die Grundlinie der CDU in der Oppo-
sition ist.
Wir werben natürlich um Zustimmung für diesen
Nachtragshaushalt, aber ich möchte auch ein wenig da-
rauf eingehen, wie es eigentlich zu dieser Lage gekom-
men ist. Seit der Novembersteuerschätzung haben wir die
genauen Zahlen auf dem Tisch: Wir haben Zusatzaus-
gaben im Bereich des Arbeitsmarktes und erwarten paral-
lel Steuermindereinnahmen in beträchtlicher Höhe, näm-
lich in Höhe von über 8 Milliarden Euro.
Dies ist gegenüber den Annahmen im Herbst 2001 eine
deutliche Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen
Rahmenbedingungen. Die Arbeitslosenzahl ist erheb-
lich gestiegen, im Jahresdurchschnitt um über 200 000.
Die Beschäftigtenzahl ist in gleichem Maße zurückge-
gangen. Und wir haben ein um ein dreiviertel Prozent ge-
ringeres Wachstum.
Sie wissen aber auch, meine Damen und Herren – darü-
ber haben wir auch im Haushaltsausschuss gesprochen –,
dass die Prognosen der Institute – mit den Prognosen ist es
nicht so einfach – noch im Sommer und bis in den Herbst
hinein – ich finde, dies müssen Sie von der Opposition zur
Kenntnis nehmen – über denen der Bundesregierung lagen.
Diese sind erst jetzt unmittelbar im Zusammenhang mit
dem Nachtragshaushalt korrigiert worden.
Über die Ergebnisse muss man sich nicht freuen, aber
sie sollten bei der Beurteilung der Haushaltsplanung
berücksichtigt werden. Ich finde, Sie machen es sich
hierbei ein bisschen zu leicht. Sie wissen selbst, dass die
Entwicklung im Sommer, die Kurseinbrüche auf den in-
ternationalen Aktienmärkten und die entsprechende
Dämpfung des Konsumenten- und Investorenvertrauens
eine konjunkturelle Schwäche zur Folge haben. Diese
müssen Sie auch als Faktor, der von außen kommt, aner-
kennen.
Diese konjunkturelle Wirkung gibt es nicht nur in
Deutschland, sondern – der Finanzminister ist darauf ein-
gegangen – auch in Amerika und in anderen europäischen
Ländern. Diese Wirkung ist nicht schön, aber sie muss
man bei der Beurteilung des Haushaltskurses dieser Re-
gierung berücksichtigen. Dass Sie dabei strenger sind,
lasse ich Ihnen durchgehen.
Ich möchte eines ganz deutlich sagen: Wir von der Re-
gierungsseite haben in diesem Wahlkampfherbst nicht ge-
leugnet, welche konjunkturellen Risiken in dieser auf
Kante genähten Haushaltsplanung stecken. Ich habe es
damals im Fernsehen gesehen, jetzt aber noch einmal ge-
nau nachgelesen, auch wegen der Diskussion um den Un-
tersuchungsausschuss: Es ist gesagt worden, dieser Haus-
halt sei auf Kante genäht. Von meinem damaligen
Kollegen Metzger ist auch gesagt worden, es könne sein,
dass wir die 3-Prozent-Hürde schrammen; es könne aber
auch sein, dass wir darüber springen. Aber in derselben
Debatte, also am selben Tag, haben Sie mit einer viel
größeren Unverfrorenheit umfangreiche finanzielle Zusa-
gen für den Fall Ihres Wahlsieges gemacht.
Das muss man hier einmal im Hinblick auf die Wahrheit
und die Glaubwürdigkeit Ihrer Politik sagen.
Sie müssen auch in Betracht ziehen, dass sich diese
Probleme – ich glaube, dass dahinter letztlich ernsthafte
Schwierigkeiten stecken – auch in den Haushalten der
Länder Hessen und Bayern abbilden. Auch diese Länder
haben im November, also just zu der Zeit, als wir im Bund
gehandelt haben, einen Nachtragshaushalt verabschiedet
bzw. eine Haushaltssperre verhängt.
Ich will auf die Ausgangslage zurückkommen. Die Zu-
satzbelastungen des Haushalts bestehen in einer Er-
höhung der Nettokreditaufnahme um 13,5 Milliarden
1256
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1257
Euro; wir müssen also ein Haushaltsloch in zweistelliger
Milliardenhöhe schließen.
Ich möchte kurz darauf zu sprechen kommen, worauf
das zurückzuführen ist. Ich verweise auf die verminderten
Steuereinnahmen in Höhe von 8,5 Milliarden Euro. Dazu
kommen Ausgaben in Höhe von 5 Milliarden im Bereich
Arbeitsmarkt. Es ist wichtig, festzustellen, Herr
Austermann, dass die Ausgabeänderungen ausschließlich
den Arbeitsmarkt betreffen. Insofern haben Sie Recht,
wenn Sie sagen: Es gibt eine Steigerung im konsumtiven
Bereich. Aber eine Analyse der Konsequenzen für die Ar-
beitslosenhilfe und die Bundesanstalt für Arbeit zeigt,
dass wir die konjunkturellen Probleme zu meistern haben
und dass das nicht einfach das Ausgabeverhalten des Bun-
des betrifft.
Herr Austermann, Sie haben Recht: Es kommt darauf
an, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Man muss da-
her eine gute Konsolidierungspolitik machen. Das ist zu-
mindest mit Blick auf die Steuereinnahmen notwendig.
Man muss auch im Bereich Arbeitsmarkt zu Änderungen
kommen, gerade dann, wenn man auf diesem Gebiet
Mehrausgaben hat. Ich möchte für uns in Anspruch neh-
men, dass wir da einiges tun. Ich will das deutlich ma-
chen.
Zur Konsolidierung: Die Höhe der Neuverschuldung
im Nachtragshaushalt 2002 ist zwar nicht schön; letztlich
gibt es dazu aber keine Alternative. Im Grunde genommen
haben auch Sie nichts anderes vorgeschlagen; schließlich
kann man zu diesem Zeitpunkt des Jahres keine tiefen
Einschnitte bei den Ausgaben vornehmen. Wie gesagt,
das haben Sie nicht vorgeschlagen. Das stelle ich fest. Ich
glaube, Sie erkennen an, dass wir unter Handlungsdruck
stehen.
Viel wichtiger ist aber, wie wir in Zukunft die Ursachen
dieser Entwicklung bekämpfen. Ich komme auf die Kon-
sequenzen zu sprechen, die wir unmittelbar, das heißt mit
dem Haushalt 2003 ziehen. Wir legen ein Paket vor, mit
dem der Konsolidierungskurs kurz- und mittelfristig ge-
stützt und eben nicht infrage gestellt wird. Ich werde mit
viel Interesse verfolgen, wie sich die Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP im Rahmen der Haushaltsver-
handlungen dazu verhalten, dass es einen Konsolidie-
rungsbedarf gibt, der es nach sich zieht, dass die Netto-
kreditaufnahme tatsächlich bei 18,9 Milliarden Euro
bleibt. Das ist im Hinblick auf den Haushalt 2003 ein ehr-
geiziges Ziel. Sie wissen, dass eine solche Nettokredit-
aufnahme die niedrigste seit der Wiedervereinigung wäre.
Ich betone das hier ganz deutlich; denn auch Sie tragen
Verantwortung. Der Bundesrat wird darüber zu entschei-
den haben, ob er das Gesetz zum Steuervergünstigungs-
abbau mitträgt oder nicht. Das hat für den Haushalt 2003
Konsequenzen von bis zu 3 Milliarden Euro. In den Fol-
gejahren steigt dieser Betrag deutlich an, nämlich auf
4 Milliarden Euro und 6 Milliarden Euro. Von diesen
Konsequenzen sind auch die Länderhaushalte betroffen,
die bei Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs selbstver-
ständlich ebenfalls entlastet würden. Im Verhalten der
unionsgeführten Länder im Bundesrat wird sich zeigen,
ob Sie bereit sind, für den Kurs Verantwortung zu über-
nehmen, den auch Sie für richtig halten, nämlich für den
Kurs der Einhaltung der Maastricht-Kriterien.
Es reicht nun wirklich nicht, heute Schwarzmalerei zu
betreiben, indem Sie behaupten, dass wir das sowieso
nicht schaffen. Auch Sie wissen, dass negative Entwick-
lungen in der Wirtschaft manchmal unterschätzt werden.
Das sieht man regelmäßig an den Differenzen in den Steu-
erschätzungen. Sie wissen ebenfalls, dass auch positive
Entwicklungen manchmal unterschätzt werden. Wenn das
der Fall ist, dann haben wir eben ein bisschen zu viel
Schwarzmalerei betrieben. Wenn wir Ihrem Standpunkt
folgten, dann könnte das dazu führen, dass man den Kopf
in den Sand steckt. Das kann man von Politikern nun
wirklich nicht verlangen. Ich bitte Sie um mehr konstruk-
tive Vorschläge und darum, nicht nur zu jammern, dass al-
les viel schlechter wird, als es ist.
Sie ruhen sich auf Ihrem Standpunkt aus; denn wenn
Sie das nicht täten, dann müssten Sie zu den Änderungen,
die wir vornehmen, Stellung beziehen und das fällt Ihnen
schwer. Bei der Formulierung eigener Strukturvorstellun-
gen sind Sie auffallend zurückhaltend.
Wir haben uns vorgenommen, nicht nur im Bereich des
Arbeitsmarkts, sondern auch bei den Renten und bei der
Bildung Strukturreformen anzugehen. Die OECD hat
Deutschland, durchaus mit Lob, aber auch mit Tadel, auf-
gefordert, am Konsolidierungskurs festzuhalten und die
Strukturreformen in den Bereichen Finanzen, Arbeit und
Bildung, die ich schon genannt habe, fortzusetzen. Nur so
können wir die Wachstumsschwäche bei uns überwinden,
die eine positive Beschäftigungswirkung viel zu spät ein-
treten lässt. Dafür brauchen wir eine dauerhafte Konsoli-
dierung der Staatsfinanzen.
Wenn Sie sich nicht aufraffen, uns bei diesen Themen
zu begleiten – bei der Arbeitsmarktpolitik, dass muss ich
konzedieren, haben Sie das gemacht – und vielleicht in ei-
nen Wettbewerb mit uns um Alternativen einzutreten,
dann werden Sie als Opposition, wie ich glaube, keine Ak-
zeptanz in der Bevölkerung finden. Wir sind uns gewiss,
dass wir diese Reformen angehen müssen.
Zur Zustimmung zum Nachtragshaushalt heute gibt es
keine vernünftige Alternative. Ich gebe zu, dass wir da-
rauf angewiesen sind, dass die Wachstumsprognosen, die
Herr Eichel mit seinem neuen Stabilitätsprogramm vor-
gelegt hat, eintreten werden. Ich hoffe aber, dass wir mit
unserem Reformwillen auf diesem Weg ein Stück voran-
kommen und dass Sie uns kritisch, aber bitte nicht de-
struktiv begleiten.
Anja Hajduk
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Koppelin für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Schönreden von Herrn Eichel wie auch die Rede meiner
Vorgängerin helfen nicht: Der Nachtragshaushalt für das
Jahr 2002 ist ein haushaltspolitischer und wirtschaftspoli-
tischer Offenbarungseid und nichts anderes.
Noch in der Haushaltsdebatte am 12. September – da-
ran möchte ich erinnern; das ist erst drei Monate her und
war vor der Bundestagswahl – erklärte Bundesfinanzmi-
nister Eichel hier im Hause, dass wir in Deutschland
durchaus zufrieden stellende Verhältnisse hätten. Eichel
sprach von angeblich solider Haushaltspolitik, er sprach
davon, dass es überall in Deutschland Wachstum gebe,
und erklärte der deutschen Öffentlichkeit, die nur staunen
konnte, wir kämen weiter voran. Der Höhepunkt in sei-
nem Debattenbeitrag war die Aussage – ich zitiere wört-
lich –:
Der Aufschwung in Deutschland hat bereits einge-
setzt ... Wir befinden uns also auf einem gesicherten
Wachstumspfad.
Vor drei Monaten hätte, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, der Bundesfinanzminister eigentlich schon wissen
müssen, dass er der deutschen Öffentlichkeit nicht die
Wahrheit sagt.
Hätte er nämlich die Berichte aus seinem Ministerium ge-
lesen, dann hätte er erkennen müssen, dass der Bundes-
haushalt bereits im Juli in einer katastrophalen Situation
war und er schon damals einen Nachtragshaushalt hätte
vorlegen müssen.
Im Juli-Bericht des Finanzministeriums steht nämlich,
dass die Steuereinnahmen bereits im ersten Halbjahr 2002
um über 10 Milliarden Euro hinter denen aus dem Vorjahr
zurücklagen. Das war, wohlgemerkt, im Sommer und
nicht im Herbst. Denn einige aus der Koalition und Herr
Eichel kommen mit der Ausrede, er habe das nicht ge-
wusst. Das steht in dem Bericht aus seinem Ministerium.
Wir als Opposition können nichts dafür, wenn Sie, Herr
Minister, Ihre Berichte nicht lesen.
Dann hat Kollege Oswald Metzger die bedeutende
Aussage gemacht – das ist inzwischen bekannt –, spätes-
tens zu diesem Zeitpunkt müsse dem Bundesfinanzminis-
ter klar gewesen sein, dass er einen Nachtragshaushalt
braucht. – Das war, wohlgemerkt, im Sommer. Stattdes-
sen hat Bundesfinanzminister Eichel die eigene Koalition
zur Ruhe ermahnt und erklärt, man solle die Ausfälle nicht
zu hoch bewerten.
Kommen Sie uns also bitte nicht mit solchen Reden, wie
Sie sie auch heute wieder gehalten haben, da uns genau
bekannt ist, was Sie alles gesagt haben. Ich werde noch
mehr dieser Zitate bringen.
So, wie es den Aufschwung, den uns Herr Eichel ver-
sprochen hat, nicht gegeben hat, hat es die Bundesregie-
rung auch nicht geschafft, die Zahl der Arbeitslosen zu
senken.
Beides zusammen, die Steuerausfälle und die hohe Zahl
der Arbeitslosen, führt nun zu der Vorlage des Nach-
tragshaushalts. Während der Bundesfinanzminister das
ganze Jahr über in seinen Reden und Aussagen die Rea-
lität geleugnet hat und Zahlen und Fakten bewusst nicht
zur Kenntnis nehmen wollte, muss er nun mit dem Nach-
tragshaushalt das Versagen der Bundesregierung in der
Wirtschafts- und in der Haushaltspolitik eingestehen.
Ich sage, auch mit Blick auf die Tagesordnung von
morgen, nach der ein Untersuchungsausschuss eingesetzt
werden soll: Man kann feststellen – das ist unbestritten –,
dass Bundesfinanzminister Eichel ein Jahr lang der deut-
schen Bevölkerung nicht die Wahrheit gesagt hat.
Ich wiederhole: Sie haben der deutschen Bevölkerung ein
Jahr lang nicht die Wahrheit gesagt.
Regen Sie sich ab, Herr Bundesfinanzminister. – Zurufe
von der Regierungsbank sind nicht üblich, Herr Präsident.
Aber regen Sie sich ab, Herr Minister, ich will Sie jetzt in
Schutz nehmen.
Mit diesem Nachtragshaushalt dokumentiert der Bun-
desfinanzminister allerdings: Der Täter ist geständig.
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Begrün-
dung für den Nachtragshaushalt heißt es – ich zitiere die
Bundesregierung wörtlich –:
Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist im
Jahre 2002 ernsthaft gestört. Insbesondere die Ziele
eines hohen Beschäftigungsstandes und eines steti-
gen und angemessenen Wirtschaftswachstums wer-
den nach wie vor gravierend verfehlt.
Das ist eine Aussage der Bundesregierung. Dass dem so
ist, das wollen wir überhaupt nicht bestreiten. Entschei-
dend ist nur: Wer ist der Verursacher?
Wer ist der Verursacher, dass wir kein Wirtschaftswachs-
tum haben, wer ist schuld an der hohen Zahl der Arbeits-
1258
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1259
losen? – Verursacher sind einzig und allein die Bundes-
regierung und unter anderem dieser Bundesfinanzminister.
Ich werde Ihnen das auch gleich deutlich machen.
Die Kollegin fragte vorhin, wo die Alternativen sind.
Wer Steuern und Abgaben so drastisch erhöht und im
kommenden Jahr noch weiter erhöhen wird wie diese
Bundesregierung, darf sich nicht wundern, wenn es in
Deutschland kein Wachstum gibt.
Wer Investitionen drastisch senkt, darf sich nicht wun-
dern, dass es keinen Konjunkturaufschwung gibt.
Wer den Arbeitsmarkt, Frau Zwischenruferin, so zwangs-
reguliert, wie Sie es gemacht haben, erschwert jede
Chance, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Jetzt bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als neue Schulden
zu machen. Statt der veranschlagten 21,1 Milliarden Euro
müssen Sie nun eine Neuverschuldung von 34,6 Milliar-
den Euro eingehen.
Ich darf Sie auch daran erinnern, was der Herr Bundes-
finanzminister Eichel am 1. September erklärte – wört-
liches Zitat –: Wir weichen nicht in Schulden aus. –
Das ist doch noch gar nicht so lange her. Mit diesem
Nachtragshaushalt dokumentiert der Bundesfinanzminis-
ter, dass auch diese Aussage nicht der Wahrheit entspro-
chen hat.
Das ist die zweithöchste Nettokreditaufnahme in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Herr Bun-
desfinanzminister, was haben Sie alles in diesem Jahr ver-
sprochen und was haben Sie alles gesagt?
– Herr Präsident, vielleicht besteht die Möglichkeit, dass
der Bundesfinanzminister seine Aufmerksamkeit wieder
dem Redner zuwendet und nicht dem Abgeordneten aus
der Fraktion.
Herr Kollege Poß.
Herr Bundesfinanzminister, es ist schon sehr unhöf-
lich, was Sie da jetzt machen.
Herr Kollege Poß, ich bitte, ein ordnungsgemäßes
Zuhören auch von der Regierungsbank sicherzustellen.
Herr Bundesfinanzminister, von Ihren Zusagen haben
Sie keine eingehalten. Ihr schlechtes Gewissen zeigt sich
auch dadurch, dass Sie nicht bereit waren, in den Haus-
haltsausschuss zu kommen, um dort Ihren Nachtrags-
haushalt zu rechtfertigen. Sie haben auch da gekniffen.
Herr Bundesfinanzminister, Sie stellen inzwischen eines
der größten Probleme in unserem Lande dar.
Ihre Haushaltspolitik bewirkt zum Beispiel, dass unsere
Bundeswehr total unterfinanziert ist,
dass sie ihre Aufgaben nicht wahrnehmen kann.
– Sie können sich wieder beruhigen. Die Tatsachen spre-
chen doch für uns. Tatsache ist, dass der Wehretat unterfi-
nanziert ist. Das trifft ähnlich übrigens auch – das sage ich
auf Ihre Zurufe hin – für den Etat des BGS zu. Innenpoli-
tisch sorgt Eichels Haushaltspolitik und vor allem seine
Steuerpolitik dafür, dass wir keinen Aufschwung haben
und dass es keine Belebung in der Konjunktur gibt. Wir
sind weit davon entfernt.
Das ist ein weiteres Problem, das dieser Minister verur-
sacht. Insofern ist er eine Gefahr.
Sie, Herr Bundesfinanzminister, sind vor allem dafür
verantwortlich, dass der Mittelstand mit neuen Steuern
drangsaliert wird, dass unsere Wirtschaft keine Luft
mehr zum Atmen hat und dass es keine Chance für die
Schaffung von neuen Arbeitsplätzen gibt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturel-
len Situation ökonomisch unsinnig und deshalb zie-
hen wir sie auch nicht in Betracht.
Auch das ist erst ein paar Wochen her, dass der Bundes-
kanzler das erklärte. Herr Bundesfinanzminister, erklä-
ren Sie uns doch einmal, warum auch dieses Zitat schon
wieder nicht gilt. Es haben doch einfach zu viele Men-
schen in diesem Land an Ihre Aussagen und an die Aus-
sagen des Bundeskanzlers geglaubt und sind jetzt bitter
enttäuscht.
Jürgen Koppelin
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Jürgen Koppelin
So, wie Sie, Herr Bundesfinanzminister Eichel, haus-
haltspolitisch, finanzpolitisch und wirtschaftspolitisch
Politik gemacht haben, kann man heute nicht ausschlie-
ßen, dass Sie nach den Landtagswahlen in Niedersachsen
und Hessen der deutschen Bevölkerung verkünden wer-
den, dass Sie die Mehrwertsteuer anheben werden.
Davon sind jedenfalls wir überzeugt.
Wenn Sie oder die Redner der Koalition hier behaup-
ten, das täten sie nicht – ich glaube Ihnen kein Wort mehr
und die deutsche Öffentlichkeit glaubt Ihnen auch kein
Wort mehr.
Der Bundeshaushalt 2002 – ich komme zum Schluss –
war von Anfang an wertlos und irreführend. Bei seiner
Verabschiedung durch die rot-grüne Koalition war er
schon veraltet. Herr Bundesfinanzminister, Sie hätten be-
reits Mitte des Jahres einen Nachtragshaushalt vorlegen
sollen.
Im Übrigen – Kollege Austermann hat darauf aufmerk-
sam gemacht – halten wir ihn für verfassungswidrig.
Herr Bundesfinanzminister, Sie sind im Jahr 2002 den
Aufgaben des Bundesfinanzministers der Bundesrepublik
Deutschland nicht nachgekommen. Sie haben auf der
ganzen Linie versagt. Sie haben Ihrer eigenen Propaganda
geglaubt. Jetzt müssen Sie die Lücke zwischen Propa-
ganda und Wirklichkeit mit Schulden schließen. Das ist
die augenblickliche Situation.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Nachtrags-
haushalt nicht zustimmen; denn er ist ein einziges Doku-
ment politischen Versagens.
– Weil Sie hier anhaltend Zurufe machen, sage ich Ihnen
noch etwas: Dieser Nachtragshaushalt 2002 ist der An-
fang vom Ende der Laufbahn des Ministers Eichel.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Nun hat der Kollege Manfred Carstens, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kol-
legen! Das Haushaltsjahr 2002 – und mit ihm der Nach-
tragshaushalt – stellt ja eine Art Ergebnis der vierjährigen
rot-grünen Finanzpolitik dar. Als Vorsitzender des Haus-
haltsausschusses will ich heute einige Überlegungen an-
stellen, die eher grundsätzlicher Natur sind, wiewohl ich
natürlich auch auf die Zahlen eingehen muss.
Uns liegt jetzt der Nachtragshaushalt vor. Er sieht eine
Neuverschuldung von 34,6Milliarden Euro vor. Nach den
Beratungen im Haushaltsausschuss muss ich annehmen,
dass dieser Betrag nicht ganz ausreichen wird, sodass ich
persönlich eine Entwicklung in Richtung von 40 Milliar-
den Euro prognostiziere. Ob diese Zahl erreicht oder über-
schritten wird, muss ich offen lassen.
Wir haben darüber hinaus festzustellen, dass die wirt-
schaftliche Lage sehr mäßig, sehr bescheiden ist,
dass die Arbeitslosigkeit drastisch ansteigt und dass es bei
den Sozialversicherungsträgern Not leidende Kassen gibt.
All das ist kein schönes Ergebnis, aber, so füge ich hinzu,
es ist auch kein Anlass, Schadenfreude aufkommen zu las-
sen;
denn dies tangiert letztlich nicht allein den Finanzminis-
ter, sondern unser ganzes Land.
Deswegen gilt es, Überlegungen anzustellen, ob die
aktuelle Finanzpolitik – alles andere lasse ich außen vor,
zur Gesamtbetrachtung gehört noch vieles, was ich hier
nicht erwähnen kann – eine gewisse Aussicht auf Besse-
rung bietet. Ich habe die große Sorge – das werde ich
gleich auch mit einem Blick zurück begründen –, dass
allzu leicht auf neue Einnahmen zugegriffen wird, zum
Beispiel auf Steuererhöhungen, wenn es irgendwo ein
Problem zu bewältigen gibt oder wenn sich ein zusätzli-
cher Bedarf auftut. Das ist in der Haushalts- und Finanz-
politik sehr schädlich.
Wir haben das bei der Ökosteuer erlebt: fünfmal 6 Pfen-
nig – plus Mehrwertsteuer – ging der Benzinpreis rauf. Für
die Terrorismusbekämpfung im Zuge des 11. September hat
man die Verbrauchsteuern erhöht. Als die Hochwasserkata-
strophe mit ihren finanziellen Folgen zu bewältigen war, hat
man die vorgesehenen Steuersenkungen ausgesetzt.
Das führt dazu, dass das, was Wirtschaft und Private
normalerweise zu erwarten haben, nicht zur Verfügung
steht. Der Verbrauch lässt nach und die Zuversicht sinkt.
Vor allen Dingen kommen diese Entscheidungen plötzlich
und überfallartig, sodass sich die Bürger nicht darauf ein-
stellen können. All das, was man privat oder in der Wirt-
schaft geplant hat, kann nicht mehr umgesetzt werden.
Die Verunsicherung nimmt zu. Diese Entwicklung hat ei-
nen erheblichen Anteil daran, dass die Wirtschaft nicht so
wächst, wie das einige erwartet haben.
Das Gegenstück hat in den Jahren 1983/84 bis 1990/91
in einer Phase der deutschen Finanzpolitik stattgefun-
den – ich kann mich noch gut daran erinnern –, in der es
vonseiten der Länder und Kommunen erhebliche Wider-
stände gegen eine Steuersenkungspolitik gegeben hat. In
drei gewaltigen Schritten sind die Steuern 1986, 1988 und
1990 erheblich gesenkt worden. Als Folge davon zog die
wirtschaftliche Entwicklung an und die Zahl der Beschäf-
tigten nahm in den Jahren 1984 bis 1991 um 3,1Millionen
zusätzlich sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ge-
waltig zu. Damit einher gingen zusätzliche Steuereinnah-
men und Minderausgaben bei den Sozialversicherungskas-
1260
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1261
sen. Diese Politik ist auch eine Vorlage für die Maßnahmen,
die derzeit in einer Situation anstehen, in der die Arbeits-
losigkeit deutlich ansteigt.
Um diese Ausführungen zu objektivieren, füge ich Fol-
gendes hinzu: Von dieser Politik, die bis 1990/91 anhielt,
wurde dann auch bei der Union und der FDPAbstand ge-
nommen – mit nicht positiven Folgen. Als der Bedarf zur
Finanzierung der deutschen Einheit entstand, sind auch
wir seinerzeit auf Steuererhöhungen ausgewichen. Diese
Steuererhöhungen haben einige Jahre lang negative Fol-
gen mit sich gebracht, bis wir wieder den Kurs hin zu ei-
ner wirtschaftlichen Erholung eingeschlagen haben. In
den zwölf Monaten von Oktober 1997 bis Oktober 1998
– das erscheint heute kaum noch vorstellbar, obwohl es
erst vier Jahre zurückliegt –, ist die Zahl der Arbeitslosen
um fast 400 000 zurückgegangen.
Auch jetzt muss der Kurs wieder in die richtige Rich-
tung gelenkt werden. Das Schlimme ist aber – wie meine
Analyse ergibt –, dass dieser Kurswechsel nicht erfolgt.
Vielmehr wird die Politik der vergangenen vier Jahre fort-
gesetzt, die doch zu diesem recht schlechten Ergebnis ge-
führt hat. Von daher besteht kaum Aussicht auf Besserung.
Die Annahme, dass wir in den nächsten Jahren in
Brüssel ein Haushaltsdefizit unter 3 Prozent vorweisen
können, ist nicht sehr realistisch.
Ich gehe auch davon aus, dass das mit dieser Politik nicht
gelingen kann.
Von daher sollten wir als Haushälter, die in den kom-
menden Monaten den Haushalt 2003 angehen, darauf hin-
arbeiten, die Senkung der Ausgaben anzugehen – und
zwar mit Rasierklinge und Lupe, wie wir es schon einmal
getan haben – und im Einvernehmen mit allen Beteiligten
Einsparungen im Haushalt vorzunehmen, um die Netto-
neuverschuldung, die auf uns zukommt, etwas zurückzu-
führen und vielleicht auch eine gewisse Voraussetzung
dafür zu schaffen, dass aus den steuerpolitischen Vorlagen
im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss Impulse für
die wirtschaftliche Entwicklung entstehen können. Das ist
unsere Aufgabe und das könnte etwas bewirken – auch
wenn wir den Kurs leider nicht gänzlich ändern können,
weil mit der finanzpolitischen Vorlage des derzeitigen Fi-
nanzministers die falsche Richtung eingeschlagen worden
ist.
Lassen Sie mich abschließend noch anmerken – es
wird mir sicherlich nicht übel genommen –: Es zeigt sich
nun, wie wichtig die Verhandlungen im Bundesrat wer-
den. Es könnte dabei nicht schaden, wenn am 2. Februar
die Stimmen von Niedersachsen und Hessen der richtigen
Seite zugute kämen.
Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
die PDS im Bundestag weder Fraktions- noch Gruppen-
status besitzt, fehlen uns beiden Abgeordneten einerseits
die notwendigen Ressourcen, um umfangreiche Haus-
haltsalternativen vorzulegen. Gleichzeitig haben wir aber
auch gar nicht das Recht, vor der zweiten und dritten Le-
sung Anträge zum Haushalt zu stellen. Das wiederum be-
deutet, dass unser Begehren, welches wir in acht Ände-
rungsanträgen niedergelegt haben, auch nicht Gegenstand
der Beratung im Haushaltsausschuss sein konnte. Ich
kann also heute nur an Ihren politischen Willen appellie-
ren, unsere Anträge trotzdem nicht nur zu prüfen, sondern
auch zu bescheiden.
Wir schlagen erstens vor, durch die Beendigung der
Auslandseinsätze der Bundeswehr 40Millionen Euro ein-
zusparen. Mit einer schnellstmöglichen Beendigung der
Auslandseinsätze könnten noch für diesen Haushalt im
Jahre 2002 Mittel gespart werden, da ein nicht unbe-
trächtlicher Teil der Kosten dadurch entsteht, dass die be-
nutzten Materialien und Ausrüstungen ersetzt werden, um
für künftige Einsätze gerüstet zu sein.
Zweitens schlagen wir vor, für ein kommunales Inves-
titionsprogramm 20Millionen Euro zu bewilligen. Der
Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
enthält ein solches Vorhaben. Angesichts der Finanznot
der Kommunen wäre es angebracht, ihnen noch im Jahr
2002 Ausgaben durch den Bund zu erstatten, zum Beispiel
mit einer bereits 1991 und 1993 angewandten kommuna-
len Investitionspauschale. Für örtliche Baufirmen würden
Aufträge bezahlt und Arbeitsplätze könnten gesichert
werden.
Drittens schlagen wir ein Sonderprogramm zur Stär-
kung östlicher Grenzregionen vor. Hierzu wären 3Mil-
lionen Euro aufzuwenden, welche erbracht werden könn-
ten, indem die Mittel, welche im EU-Haushalt eingespart
wurden, hier eingespeist werden.
Viertens schlagen wir vor, das Programm Stadtumbau
Ost um 4Millionen Euro aufzustocken. Die Vielzahl der
unterstützenswerten Anträge beweist, dass dieses Pro-
gramm bisher eher ein Tropfen auf den heißen Stein war.
Unser fünfter Vorschlag betrifft den Abbau der Bun-
desrückstände bei der Bezahlung des Hochschulbaus.
Bund und Länder teilen sich die Ausgaben für den Hoch-
schulbau. Die tatsächliche Durchführung der Bauten er-
folgt aber in den Ländern. Vom Bund sind die dafür an-
fallenden Kosten anteilig zu erstatten, und dabei ist der
Bund seit Jahren im Rückstand. Deshalb schlagen wir vor,
hier 10 Millionen Euro umzuverteilen.
Unser sechster Vorschlag: Wir wollen, dass Initiativen
gegen Rechtsextremismus mit zusätzlich 2Millionen
Euro gefördert werden. Der Bund fördert – das ist richtig –
Initiativen gegen Rechtsextremismus; mit den im Haushalt
2002 veranschlagten geringen Mitteln von 5Millionen
Euro gehen allerdings sehr viele wichtige Initiativen leer
Manfred Carstens
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Petra Pau
aus. Eine weiter gehende Unterstützung ist hier dringend
notwendig.
Unser siebter Vorschlag: Wir wollen den Handwerker-
hilfsfonds wieder auflegen. Sie wissen, dass eine Insol-
venzwelle viele wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu ver-
nichten droht. Wir möchten, dass die nicht verausgabten
Mittel für Auslandsentschädigungen, welche vor allen
Dingen Großunternehmen zugute kommen, umgewidmet
werden und 2 Millionen Euro in den Handwerkerhilfs-
fonds fließen.
Schließlich unser achter und letzter Vorschlag: die An-
gleichung der Bundeswehrbesoldung Ost. Hier geht es um
ein zusätzliches Volumen von 2,5 Millionen Euro. Auch
zwölf Jahre nach der Vereinigung erhalten die Zeit- und
Berufssoldaten Ost sowie die Zivilbeschäftigten weniger
Sold als im Westen. Allgemein führt die Bundesregierung,
wenn es um die Ost-West-Angleichung geht, ins Feld,
dass die neuen Bundesländer finanzschwach sind. Dieses
Argument trifft nun aber für die Bundeswehr nicht zu,
weil hier einzig und allein der Bund zahlt. Sie sollten also
die genannten 2,5 Millionen Euro für die tatsächliche
Gleichstellung aufwenden.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kröning von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Nach der ersten Lesung des Nachtragshaushalts 2002
am 3. Dezember hat der Haushaltsausschuss beraten und
auf Drucksache 15/182 die Beschlussempfehlung und den
Bericht vorgelegt. Dieser Bericht ist Grundlage der heuti-
gen Debatte und Entscheidung.
Zu Ihnen, Frau Kollegin Pau, muss ich leider sagen:
Ihre Kollegin hat im Haushaltsausschuss überhaupt nicht
das Wort ergriffen. Ich habe auch den Eindruck, dass Sie
heute ein Programm für vier Jahre vorgelegt und nicht ei-
nen Beitrag im Rahmen der Nachtragshaushaltsdebatte
geleistet haben.
In dem Bericht werden die Differenzen zwischen Ko-
alition und Opposition festgehalten. Sie sind – wie man an
der heutigen Debatte erkennen konnte, ist das nach wie
vor Thema – politischer und rechtlicher Natur. Der politi-
sche Streit dreht sich immer noch, wie leider auch der An-
trag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses zeigt,
darum, ob die Haushaltsentwicklung bei der Verabschie-
dung vor einem Jahr, vor Beginn oder im Verlauf des
Wahlkampfes vorhersehbar war oder nicht, ob etwas ver-
schwiegen worden ist oder nicht.
Herr Austermann, Sie haben der Agitation, die Sie mit
der Forderung nach Einsetzung eines Untersuchungsaus-
schusses eingeleitet haben und offenbar fortzusetzen be-
absichtigen, heute einen traurigen Rekord hinzugefügt –
traurig auch deshalb, weil er zugleich Ausdruck völliger
politischer Hilflosigkeit gewesen ist.
Das ist – auch wenn sich das möglicherweise derzeit in
demoskopischen Umfragen für Sie positiv auswirkt – kein
Beitrag zur Vertrauensbildung in die Politik.
Lassen Sie mich, ergänzend zu den Ausführungen der
Koalition vor 14 Tagen und heute, noch einige Hinweise
geben: Die Wachstumserwartungen – ich möchte nicht
die schillernden Begriffe Prognose und Projektion benut-
zen, die ich mir längst abgewöhnt habe – der sechs führen-
den deutschen Institute verschlechterten sich von Anfang
bis Mitte dieses Jahres von 1,3 auf eine Zahl zwischen 0,6
und 1,2 Prozent.
Im Herbst 2001, also während der damaligen Haushalts-
beratungen, gingen die Institute noch von knapp 2,5 Pro-
zent aus; im Frühjahrsgutachten 2002 bestätigten sie diese
Einschätzung. Ich darf zitieren:
„Die deutsche Wirtschaft befindet sich am Beginn ei-
nes Aufschwungs.“
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das
mit seiner Wachstumserwartung den unteren Rand des
Spektrums abgebildet hatte, schrieb am 11. Juli, also zu
Beginn der parlamentarischen Sommerpause – Zitat –:
„Im weiteren Verlauf dieses Jahres sollten sich“ – so die
zugrunde gelegten Daten – „die Auftriebskräfte verstärkt
fortsetzen.“
Der Konjunkturverlauf spiegelte sich in der Haushalts-
entwicklungwider. Das Bundesministerium für Finanzen
veröffentlichte im Juli die Zahlen über die Steuereinnah-
men von Bund und Ländern im ersten Quartal und im Sep-
tember 2002 die Zahlen des ersten Halbjahres 2002.
Hören Sie – besonders Sie, Herr Koppelin – bitte genau zu:
Bei Bund und Ländern waren es 5,8 Prozent bzw. 5,2 Pro-
zent weniger als im jeweiligen Vorjahreszeitraum, beim
Bund nur minus 5 Prozent bzw. 4,3 Prozent. So lag und
liegt es dem Haushaltsausschuss vor.
Man konnte daher zum fraglichen Zeitpunkt – offenbar
sind wir davon während der gesamten Sommerpause ge-
1262
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1263
meinschaftlich ausgegangen – annehmen, dass die Min-
dereinnahmen und die Mehrausgaben im Jahresergebnis
wettgemacht werden könnten.
Die Zahlen dieses atypischen Jahres bildeten die
Grundlage unserer Wahlkampfauseinandersetzung. Im
Herbstgutachten 2002 der wirtschaftswissenschaftli-
chen Institute, das genau vier Wochen nach der Wahl vor-
gelegt wurde, schlug sich jedoch nieder, was Produktion,
Auftragseingänge und Geschäftsklima während der Som-
merpause zunehmend signalisiert hatten. Ich darf zitieren,
was am 22. Oktober 2002 gesagt wurde:
Der für dieses Jahr prognostizierte Aufschwung hat
nicht eingesetzt, weil mit den drastischen Ein-
brüchen an den Aktienmärkten und den internationa-
len politischen Spannungen unvorhersehbare
Schocks aufgetreten sind, welche die Konjunktur-
aussichten abrupt verschlechtert haben.
– Herr Zwischenrufer, hören Sie zu:
Diese Entwicklung kann jedoch nicht der Wirt-
schaftspolitik angelastet werden.
Das sage ich zum Thema Verursachung und Verantwor-
tung.
Nichts anderes als das, was ich hier zusammengefasst
habe, hat sich im Frühsommer im Finanzplanungsrat
und im Spätsommer im Haushaltsausschuss zugetragen.
Die CDU/CSU hat auf eine Aussprache über die Ent-
wicklung des Defizits in der Sitzung des Ausschusses am
Morgen vor der ersten Lesung des Bundeshaushaltes am
12. September verzichtet.
– Aus purer Eitelkeit, die Sie auszeichnet, wollten Sie
nicht darüber debattieren, weil der Finanzminister zu die-
ser Stunde nicht im Ausschuss anwesend war. Sie haben
sich selber vor einer Rechenschaft über Ihre unhaltbaren
Versprechungen im Bundestagswahlkampf gedrückt.
Das ist daran deutlich geworden, dass der damalige und
vielleicht auch nachmalige Kanzlerkandidat der CDU/CSU
bei seinem Auftritt am Freitag, dem 13. September
– Freitag, der 13., damit muss man umgehen können –,
auf das Thema mit keinem Wort eingegangen ist. Im Ge-
genteil: Er bot ein Füllhorn von milliardenschweren Ver-
sprechungen, die jede Grenze auf der Ausgaben- und Ein-
nahmenseite des Haushaltes gesprengt hätten, wenn er
Kanzler geworden wäre.
Verehrter Herr Vorsitzender des Haushaltsausschusses,
so nachdenkenswert Ihre Ausführungen heute auch gewe-
sen sind, ich darf mir doch die freundliche Anmerkung er-
lauben: Wo war Ihre Stimme damals, im Parlament und in
Ihrer Partei?
Nach der Aktualisierung der – von Bund und Ländern
gemeinsam vorgelegten – Steuerschätzung im Novem-
ber, die den konjunkturellen Rückschlag fiskalisch be-
legte, hat die Bundesregierung unverzüglich reagiert, wie
auch – und zwar zum selben Zeitpunkt – zahlreiche Lan-
desregierungen. Gemeinsam mit dem Entwurf des Nach-
tragshaushaltes ist ein korrigierter Entwurf für den Haus-
halt 2003 vorgelegt worden, der uns noch verdammt
beschäftigen wird. Beide Entwürfe sind eingebettet in
eine finanzpolitische Gesamtstrategie aus Ausgabenkür-
zungen, Abbau von Steuervergünstigungen
und begrenzten Erhöhungen der Neuverschuldung – Ent-
scheidungen, die alle bitter, aber unvermeidlich sind.
Dies ist wiederum Teil einer finanz- und wirtschafts-
politischen Strategie, die – um es mit Blick auf Art. 115
des Grundgesetzes juristisch auszudrücken – der „Ab-
wehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-
wichts“ dient.
Es geht darum – das meint der Begriff Strategie –, die
kurz- und langfristigen Ziele und Maßnahmen miteinan-
der zu verknüpfen. Mit dieser, Herr Austermann, schon in
der vorigen Wahlperiode erklärten und eingeleiteten so-
wie jetzt forcierten Politik tragen wir – sicherlich in einer
Lage, die wir vor vier Jahren so nicht hätten voraussehen
können, einer fundamental veränderten Lage – den An-
forderungen des Grundgesetzes Rechnung. Dazu gehört
die Einbindung der Länder – lassen vor allem Sie als
Union mit Ihrer Führerschaft im Bundesrat sich das sa-
gen – durch den Sechs-Punkte-Beschluss von Bund, Län-
dern und Gemeinden in der Sitzung des Finanzplanungs-
rates am 27. November dieses Jahres und durch den
Beschluss über einen nationalen Stabilitätspakt in der
Sondersitzung am 21. März. Eckpunkte dieses gesamt-
staatlichen Kontraktes sind, das Defizit im Jahre 2003 un-
ter 3 Prozent vom Bruttoinlandprodukt zu drücken und bis
2006 einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erreichen.
Mit derselben Entschlossenheit wie Bundesminister
Eichel hat Bundesminister Clement die Probleme ange-
Volker Kröning
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Volker Kröning
packt. Es ist der Koalition klar, dass es bei den noch längst
nicht abgeschlossenen Strukturreformen, die unser
Land braucht, auf soziale Ausgewogenheit und auf Im-
pulse für Wachstum und Beschäftigung ankommt. Die
Koalition hat verstanden:
Es muss gehandelt werden; allerdings ist auch viel Über-
zeugungsarbeit zu leisten. Dies geht – lassen Sie mich
auch das auf die Ausführungen von Herrn Carstens erwi-
dern – nur parteiübergreifend.
Dazu ist die aktualisierte Richtschnur das Stabilitäts-
programm, das die Bundesregierung gestern beschlossen
hat. Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen – auch
denjenigen, die nicht im Saal sind –, es nachzulesen.
Es ist in viel stärkerem Maße gesamtstaatliches Hand-
lungsprogramm – nach innen wie nach außen –, als den
meisten klar ist. Nach den zwei schwierigen Haushalts-
jahren 2001 und 2002, in denen einmalig antizyklisches
Handeln unter Rückgriff auf die Ausnahmeregelung des
Art. 115 GG nötig war, bekräftigt die Bundesregierung in
dem Stabilitätsprogramm den Willen zu einer Gesamtpo-
litik, die nicht nur auf Nachhaltigkeit angelegt ist, sondern
Vorsorge trifft, also die Richtung der Strukturreformen
energisch weiter verfolgt.
Der für Januar/Februar zu erwartende Jahreswirt-
schaftsbericht wird diesen Weg, der im Außen- und im
Innenverhältnis von größter Bedeutung ist, verdeutlichen
und konkretisieren.
Im Lichte dieses Berichts wird die Koalition endgültig
über den Regierungsentwurf zum Haushalt 2003 entschei-
den. Auf alle Ressorts kommen hohe Anforderungen zu.
Der Haushaltsausschuss wird mit Blick auf die großen
Gesetze, die zum Ende dieses Jahres beschlossen worden
sind und zu Beginn des nächsten Jahres noch zu be-
schließen sind, mit Zuversicht ans Werk gehen
und alles tun, um Ausgabendisziplin zu wahren, das
heißt, den Haushalt 2003 verfassungskonform und Maas-
tricht-konform aufzustellen.
Was wir brauchen, ist ein Wirkungsverbund von Fi-
nanz- und Wirtschaftspolitik, für den sich jeder – Öffent-
lichkeit, Parlament sowie die staatlichen und kommunalen
Handlungsebenen und -instanzen – mit verantwortlich
fühlen sollte.
Es heißt ja im europäischen Rahmen – das wird oft ver-
gessen –: Stabilitäts- und Wachstumspakt. Dieser Pakt
muss angesichts der ökonomischen Schwäche, die Euro-
land insgesamt durchmacht, gerade von Deutschland, das
ökonomisch die führende Nation in Europa ist,
mit Ideen und Initiativen gefüllt werden.
Ich sage als Bremer dazu: „Buten un binnen, wagen un
winnen“. – Ich bitte um die Zustimmung zu dem Nach-
tragshaushalt.
Danke schön.
Letzter Redner in dieser Aussprache zum Nachtrags-
haushalt ist der Kollege Kurt Rossmanith, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen
und Herren Kollegen! An sich, lieber Kollege Kröning,
müsste man Ihnen jetzt einen ausgeben für den besten
Witz des Tages. Sie haben nämlich gesagt, die Koalition
habe verstanden. Daran ist nicht nur nach Ihren Aus-
führungen, sondern vor allem auch nach den Ausführun-
gen des Herrn Bundesfinanzministers zu zweifeln. Die
Ausführungen an sich haben bewiesen, dass Sie eben
nicht verstanden haben, und zwar rein gar nichts verstan-
den haben.
Der Nachtragshaushalt 2002, der heute in zweiter und
dritter Lesung beschlossen werden soll, ist geradezu ein
Dokument der versäumten Pflichten dieser Bundesregie-
rung. Sie waren es, die wider besseres Wissen – kommen
Sie nicht mit Zahlen von Januar/Februar/März; das Jahr
ging ja weiter und die Wahl war am 22. September – die
Lage schöngeredet haben. Sie haben dadurch wertvolle
Zeit verstreichen lassen, die man für eine Konsolidierung
des Haushalts und eine Wende in der Wirtschafts-, Ar-
beitsmarkt- und Finanzpolitik hätte nutzen können,
ja geradezu hätte nutzen müssen.
Bundesminister Eichel hat in der Debatte im Deut-
schen Bundestag am 12. September, zehn Tage vor der
Bundestagswahl, gesagt – ich zitiere –:
1264
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1265
Nach 21,1 Milliarden Euro in diesem Jahr bleibt es
bei der für 2003 geplanten Neuverschuldung in Höhe
von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wert werden
wir festhalten.
Er fährt fort – es wird noch schöner –:
Alles, was unsere Finanzpolitik auszeichnet,
– die Finanzpolitik des Herrn Eichel, die Finanzpolitik der
Bundesregierung unter Gerhard Schröder –
ist ... Solidität, Nachhaltigkeit, Ausgabenkontrolle
und Rückführung der Neuverschuldung.
Damals haben Sie, Herr Eichel, den Preis für den bes-
ten Witz des Tages gekriegt, um nicht zu sagen: für den
besten, leider traurigen Witz des Jahres.
Kollege Dietrich Austermann hat dargelegt, wie die
Haushaltsrechnung im Endeffekt nach dem 31. Dezember
dieses Jahres aussehen wird – ich beziehe mich nur ein-
mal auf Ihre Zahlen –: Neuverschuldung in diesem Jahr
34,6 Milliarden Euro anstelle von 21,1 Milliarden Euro.
Im nächsten Jahr beträgt die Neuverschuldung 18 Milli-
arden Euro statt der prognostizierten 15,5 Milliarden Euro.
Ich muss Ihnen sagen – jeder weiß das, auch Sie wissen
das, Herr Bundesminister Eichel –: Diese Annahme ist
mehr als Optimismus; sie ist weit überzogen und viel zu
optimistisch.
In einem Punkt will ich Sie heute einmal ob Ihrer Ehr-
lichkeit loben.
– Ja, was sein muss, muss sein. – Sie haben heute Ihrem
Bundeskanzler, Gerhard Schröder,
nicht nur eine, sondern zwei schallende Ohrfeigen ver-
passt. Die eine haben Sie ihm als Bundeskanzler und die
andere als Parteivorsitzendem der SPD gegeben, indem
Sie auf den Überschuss im Ausfuhrbereich hingewiesen
haben. Bundeskanzler Schröder hat Tag für Tag bis hin
zum Wahltag immer gesagt: Nein, wir können nichts
dafür, es ist die Weltkonjunktur, die leider so schlecht
ist. – Sie haben heute dankenswerterweise die Zahlen auf
den Tisch gelegt und gesagt: Im Außenhandel haben wir
einen Überschuss erzielt. – Stellen Sie sich vor, es wäre so
gewesen, wie Gerhard Schröder immer gesagt hat; dann
wären Sie weit im Minus und nicht noch im ganz knappen
Plus gewesen.
Sie haben – es ist heute schon gesagt worden – hin-
sichtlich des nächsten Haushaltes gesagt, dass Sie glau-
ben, die Stabilitätskriterien zu erfüllen. Das wird Ihnen
natürlich nicht gelingen. Gestern hat die Bundesregierung
das Stabilitätsprogramm aktualisiert. Ich zitiere hier nur
die „Berliner Zeitung“ vom heutigen Tag: „Bundesregie-
rung ignoriert Konjunkturrisiken für 2003“.
Genau das tun Sie. Sie beschließen etwas. Genauso gut
könnte man beschließen, dass – wie es ein früherer Kol-
lege, Bernhard Friedmann, einmal gesagt hat –, im Him-
mel Jahrmarkt ist. Genau dieselbe Qualität haben Ihre
Beschlüsse.
Sie haben noch am 16. September, sechs Tage vor der
Wahl, in der ARD gesagt: Ich bin sicher, wir kriegen kei-
nen blauen Brief aus Brüssel. – Damit haben Sie aus-
nahmsweise Recht behalten. Denn den blauen Brief, Herr
Bundesfinanzminister, erhält man dann aus Brüssel, wenn
man sich der 3-Prozent-Marke nähert.
Sie haben diese 3-Prozent-Marke durchbrochen wie eine
E-Lok jeden Rammbock.
Deshalb bekommen Sie aus Brüssel keinen blauen Brief,
sondern sofort ein Verfahren an den Hals, was die logische
Konsequenz ist. Hier haben Sie einmal rein zufällig das
Richtige ausgesagt.
Sie wollen im Haushaltsjahr 2003 den Bundes-
zuschuss zur Bundesanstalt für Arbeit, der möglicher-
weise in diesem Jahr die 10-Milliarden-DM-Grenze er-
reicht – ich beziehe mich nur auf Ihre offiziellen Zahlen,
die von 5,2 Milliarden Euro sprechen –, auf Null zurück-
führen. Dazu hätten Sie auch etwas sagen sollen.
Das ist wieder so ein Beschluss, wie ich ihn vorhin skiz-
ziert habe. Sie ignorieren dabei schlicht und einfach die
Tatsache, dass 4,22 Millionen Mitbürgerinnen und Mit-
bürger in unserem Land im kommenden Jahr das traurige
Los der Arbeitslosigkeit tragen müssen.
Allein in diesem Jahr gab es 42 000 Unternehmens-
insolvenzen. In meinem Wahlkreis, in dem es Gott sei
Dank, wie ich sagen muss, mit zuletzt 5,6 Prozent Ar-
beitslosen im Verhältnis zum Bund noch weitaus günsti-
ger ist, vergeht keine Woche – ich weiß von allen Kolle-
ginnen und Kollegen, dass es ihnen ähnlich geht –, in der
nicht mindestens ein mittelständischer Unternehmer ei-
nen Hilfeschrei an mich richtet: Herr Abgeordneter, wir
stehen kurz vor der Insolvenz. Helfen Sie uns, wir können
nicht mehr weiter!
Mein Wahlkreis grenzt an Tirol, Österreich. Ich könnte
Ihnen Firmen nennen, die den Sprung über die Grenze
nach Reutte und nach Vils bereits gemacht haben. Die Fir-
men sagen, dass sie aufgrund dieser Politik und unter die-
sen Rahmenbedingungen schlicht und einfach nicht mehr
existieren können.
Kurt J. Rossmanith
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Kurt J. Rossmanith
Sie überschreiten nicht nur die Grenze, die in Art. 115
des Grundgesetzes festgelegt ist, sondern Sie missbrau-
chen diesen Artikel permanent.
– Lieber Herr Kollege Schöler, wenn wir im Bund bayeri-
sche Verhältnisse hätten, dann könnten wir uns diese De-
batte sparen; denn dann gäbe es keinen Nachtragshaus-
halt, sondern einen geordneten Haushalt.
Herr Kollege, ich darf Sie bitten, zum Schluss zu kom-
men.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss, damit Sie
mir nicht wieder das Mikrofon abschalten müssen.
Ich stehe schon kurz davor.
Diese Bundesregierung scheint in einigen Punkten
lernfähig zu sein. Der aktuelle „Stern“ spricht von der
„Kupferkoalition“, weil sie in einigen Bereichen von der
Union abkupfert. Das ist aber weitaus zu wenig.
Was wir brauchen, ist kein Herumdoktern an der Ar-
beitsmarktpolitik, sondern vor allem eine Veränderung in
der Wirtschaftspolitik und Steuerpolitik. In diesen Berei-
chen muss etwas geschehen. Wir benötigen Investitio-
nen. Damit schaffen wir Arbeitsplätze. Das ist das Ge-
heimnis. Alles andere ist nur zweite Wahl. Deshalb
können wir diesem Nachtragshaushalt auf keinen Fall zu-
stimmen.
Ich schließe damit die Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Nachtrags-
haushaltsgesetzes 2002. Der Haushaltsausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 15/182, den Gesetzentwurf anzunehmen. Es liegen
acht Änderungsanträge der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/183? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses ge-
gen die Stimme der Abgeordneten Pau abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/184? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltun-
gen? – Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem eben
festgestellten Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/185? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist ebenfalls mit dem eben festge-
stellten Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/186? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP gegen die
Stimme der Abgeordneten Pau abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/187? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem eben festge-
stellten Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/188? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltun-
gen? – Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls mit dem eben
festgestellten Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/189? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Auch dieser Änderungsantrag ist mit der überwiegenden
Mehrzahl der Stimmen des Hauses abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 15/190? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die-
ser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimme der Abgeordneten Pau abgelehnt worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP sowie gegen die Stimme der Abgeordneten Pau
angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
dritter Lesung mit dem Stimmenverhältnis, das ich soeben
festgestellt habe, angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatz-
punkt 6 auf:
8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Faße, Anke Hartnagel, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Rainder Steenblock, Dr. Reinhard
Loske, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Seeschifffahrtssicherheit verbessern – Ölkata-
strophen vermeiden
– Drucksache 15/198 –
1266
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1267
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen , Dirk Fischer (Hamburg),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Seesicherheit optimieren – nationaler und euro-
päischer Handlungsbedarf nach Tankerunter-
gang der „Prestige“
– Drucksache 15/192 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Wider-
spruch? – Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Wohl kaum jemand unter uns kann sich dem Ein-
druck der Bilder entziehen, die uns allabendlich von der
spanischen Atlantikküste erreichen, wo Menschen seit
Wochen in Sisyphusarbeit gegen die Ölpest ankämpfen,
ohne dass überhaupt ein Ende in Sicht wäre. Was hier ge-
leistet wird, ist unglaublich und verdient allergrößte
Hochachtung. Das konnte man vom Handeln der dortigen
Regierung nicht immer sagen.
Bei manchem mögen die Bilder Erinnerungen an
frühere Havarien und ähnliche Szenarien vor unseren
Küsten wachrufen, als sich zum Beispiel vor vier Jahren
die Havarie der „Pallas“ oder – längst nicht so schlimm –
die Havarie der „Baltic Career“ in der Kadetrinne ereig-
nete. All dies erinnert uns immer wieder daran, dass Fragen
der Schiffssicherheit und der Vermeidung von Umweltrisi-
ken Tagesaufgaben sind, die nicht in den Hintergrund ge-
raten dürfen.
Wir alle sind, auch wenn die Biskaya weit entfernt
scheint, mit betroffen. Denn Schiffshavarien und Um-
weltrisiken, die einerseits durch alte Schiffe in schlechtem
Zustand und unter Billigflagge sowie mit nicht hinrei-
chend qualifizierten Besatzungen auf Niedriglohnniveau
und andererseits durch Defizite beim gemeinsamen Han-
deln, wie wir es gerade erlebt haben, verursacht werden,
sind eine aktuelle Gefährdung für uns alle.
Nun sind zwar die Unfallursachen noch nicht ausrei-
chend geklärt. Aber wir wissen, dass die „Prestige“ in ei-
nem solchen Zustand war, dass sie jederzeit auch in der
Ost- oder Nordsee hätte sinken können. So sehen wir mit
großer Sorge, dass gerade im Ostseeraum die Zahl der Öl-
transporte aus dem Baltikum in den für die Seeschifffahrt
sensiblen Bereichen zunimmt und damit die Gefährdun-
gen für die Ökosysteme in Ost- und Nordsee wachsen.
Seit der Havarie der „Pallas“ hat die rot-grüne Bun-
desregierung ein deutlich verbessertes Sicherheits- und
Notfallkonzept vorgelegt. Seine rasche Umsetzung er-
lebten wir insbesondere nach der Havarie der „Baltic Ca-
reer“. Zum Beispiel ist das deutsche Notschleppkonzept
europaweit führend. Auch die Forderungen aus dem An-
trag vom Juni 2001 „Schiffssicherheit auf der Ostsee ver-
bessern“ sind inzwischen größtenteils – bis auf den
Prüfauftrag zum Weitbereichsradar für die Kadetrinne –
umgesetzt worden. Ganz wichtig ist: Mit der Einrichtung
eines gemeinsamen Havariekommandos in Cuxhaven
wird darüber hinaus eine handlungsfähige Einheit ge-
schaffen, in der Kompetenzen gebündelt werden. Dies
muss Rückwirkungen auf andere europäische Staaten ha-
ben, damit hier mehr geschieht.
Es kann im Übrigen nicht Angelegenheit des Deut-
schen Bundestages sein, das Vorgehen der spanischen
Behörden im aktuellen Havariefall zu kritisieren oder da-
rüber zu diskutieren. Es bleibt aber festzustellen, dass es
europaweit noch erheblichen Optimierungs- und Koor-
dinierungsbedarf gibt, um Umweltrisiken zu vermin-
dern und die Schiffssicherheit zu erhöhen. Für weitrei-
chende Maßnahmen hat sich deshalb die rot-grüne
Bundesregierung in den zuständigen Räten und Gremien
stark gemacht.
Im Interesse einer höheren Schiffssicherheit setzen wir
uns unter anderem für eine weitere Verkürzung der Le-
bensdauer von Einhüllentankern ein. Wir arbeiten daran,
in bestimmten Bereichen der Ostsee Sonderzonen einzu-
richten, und setzen uns ein für eine Lotsannahmepflicht
mit Schlepperbegleitung in sensiblen Bereichen wie zum
Beispiel der Kadetrinne, für eine schnellstmögliche Ver-
schärfung der Hafenstaatenkontrollen sowie dafür, dass
die spezifische Verantwortung der Flaggenstaaten für die
Sicherheit der Schiffe auch im Flaggenstaatenkodex deut-
lich gemacht wird.
Die aktuellen Vorschläge und Hinweise der EU-Kom-
mission, die im aktuellen Falle rasch gehandelt hat – –
– Herr Rossmanith, Sie waren doch gerade dran. Was
schimpfen Sie denn schon wieder?
– Seien Sie friedlich, es ist Weihnachten.
Die aktuellen Vorschläge und Hinweise der EU-Kom-
mission sind hilfreich. Sie entheben aber kein Land seiner
spezifischen nationalen Verantwortung. Hier möchte ich
noch einmal abschließend die Problematik der Notfallhä-
fen für havarierte Schiffe ansprechen, die nach einer
Regelung der EU ab 2004 vorzuhalten sind. Deutschland
hat bereits ein umfangreiches Konzept zur Zuweisung
von Notfallliegeplätzen erarbeitet.
Ich gehe davon aus, dass auch die im Zusammenhang
mit Havariefällen auftretenden Finanzierungsprobleme
für die Häfen frühzeitig gelöst oder geklärt werden. Denn
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Christine Lucyga
Häfen sind kommerzielle Unternehmen, deren Bereit-
schaft zur Aufnahme von Havaristen umso größer ist, je
weniger der Ökonomie des jeweiligen Hafens dadurch
Nachteile entstehen. Die Tatsache, dass gegenwärtig ei-
nige EU-Länder ihre Häfen vermehrt für havarierte
Schiffe schließen, deutet darauf hin, dass es hier Probleme
zu lösen gibt.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal ganz dringend
unterstreichen: Wir sollten uns immer wieder vor Augen
halten, dass weder das Verbannen von gefährlichen Schif-
fen aus europäischen Gewässern noch eine bessere Aus-
stattung des Entschädigungsfonds im Havariefall das
Übel an der Wurzel packen. Vielmehr verlagern sie das
Problem unter Umständen lediglich in andere Regionen
der Welt.
Das kann nicht unser Anliegen sein. Vielmehr muss es da-
rum gehen, gemeinsam mehr Sicherheit weltweit zu er-
reichen.
In diesem Sinne verstehe ich auch den vorliegenden
Antrag. Ich bitte Sie, ihn ebenso zu verstehen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Börnsen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich teile die Einschätzung meiner Kollegin hinsichtlich
der Bedeutung des Themas und hätte es als gut empfun-
den, wenn neben der Parlamentarischen Staatssekretärin
heute Abend auch der Minister persönlich anwesend ge-
wesen wäre, um Ihren Antrag zu unterstützen. Das gehört
dazu, wenn man etwas zu einer Sache von solcher Be-
deutung sagen will.
Die Ölpest vor der spanischen Küste hält Europa seit
Tagen in Atem. Folgenreich ist die Havarie der „Prestige“
für Mensch und Meer. Wieder einmal sorgt ein Billigtanker
für eine verheerende Umweltkatastrophe. Mit Tankern
ohne Doppelhülle muss auf unseren Meeren endlich
Schluss sein. Wer Sicherheitsstandards verletzt und fahr-
lässig handelt, hat auf der See nichts mehr zu suchen.
Auch hier sind es immer wieder die schwarzen Schafe,
um die es geht. Die große Mehrheit der Eigner und Besat-
zungen handelt verantwortungsbewusst. 7 560 Schiffe um-
fasst die Welttankerflotte. Der Anteil der Doppelhüllenboote
daran beträgt gerade einmal 22 Prozent. Über 40 Prozent der
Flotte sind älter als 20 Jahre. Manche Schiffe sind schlecht
gewartet und unzureichend gerüstet. Darin liegt die eigent-
liche Problematik. Hier muss endlich mehr geschehen, da-
mit nichts mehr geschieht.
Der gesunkene Öltanker „Prestige“ gehörte zu diesen
gefährlichen Schiffen. Er war als problematisch einge-
stuft, sein Rumpf bereits einmal mit einer zusätzlichen
Stahlplatte geflickt. Trotzdem hatte er freie Fahrt, weil es
immer noch kein international praktiziertes Zugriffs-,
Kontroll- und Sanktionsrecht gegenüber Gefahrschiffen
gibt. Die Transportkette auf hoher See hat nicht nur
Lücken, sondern unterliegt immer noch einer gewissen
Leichtigkeit der Problemabschätzung.
Die See ist weit, die See ist tief, die Umweltgefährdung
minimiert sich, so die landläufige Ansicht. Falsch! Das
Meer ist und darf für niemanden mehr eine Müllkippe
sein.
An Land praktizieren wir einen ganz strikten Sicher-
heitsmaßstab. Ein Heizölerdtank muss grundsätzlich dop-
pelwandig sein, auch wenn er nur eine Tonne Öl umfasst.
Er muss eine gemauerte Auffangwanne, ein Leckanzeige-
gerät und eine Füllstandsanzeige haben. Die Wanne muss
über eine wasserundurchlässige Beschichtung verfügen;
dieser Anstrich muss den DIN-Vorschriften genügen. Und
natürlich kontrollieren TÜV und Umweltamt den Einbau
des Erdtanks und wiederholen regelmäßig ihre Besichti-
gungen vor Ort. Geschätzte Gesamtkosten für den Eigen-
heimbesitzer: 3 000 bis 4 000 Euro.
Das Ziel dieser Vorschriften ist eindeutig: Es darf kein
Tropfen Öl ins Erdreich gelangen. Knallhart und konse-
quent sind wir an Land bereits bei einer Tonne Öl. Die
„Prestige“ jedoch hatte 77 000 Tonnen Schweröl gebun-
kert. Dieser 26 Jahre alte Pott war nach Auffassung von
Experten eine tickende Zeitbombe. Nach dem Zeitplan
der IMO hätte er erst im Jahre 2005 verschrottet werden
müssen. Die umweltgefährliche Ladung war nicht durch
Doppelwandigkeit geschützt. Diese Konstruktionslösung
ist für Neubauten seit 1993 vorgeschrieben, aber erst von
2015 an besteht eine generelle Doppelwandpflicht. Bei
Grundberührung, Strandung oder Kollision sind Ölschiffe
damit sicherer, doch garantiert eine solche Vorrichtung al-
lein noch keinen Gesamtschutz. Die Seegefährdungen
bleiben vielfältig.
Aufgeschreckt durch den Untergang der „Prestige“ vor
der Küste Galiziens haben sich der Verkehrsministerrat in
Brüssel und der Europäische Rat in Kopenhagen mit der
Thematik befasst. Das ist gut so. Beide Gremien haben
zwar ihre Betroffenheit und Entschlossenheit, etwas zu
tun, mitgeteilt, jedoch weder beim Alter von Ölbooten
noch bei der Doppelhüllenpflicht neue Zielmarken ge-
setzt. Das reicht uns nicht aus. Wir erwarten von der Bun-
desregierung eindeutige Daten.
Was muss eigentlich passieren, damit etwas passiert?
Bereits vor Jahren wurde eine schwarze Liste für gefähr-
liche Schiffe geschaffen. Insgesamt sind derzeit 66 dieser
1268
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1269
Seelenverkäufer bei Lloyd’s registriert. Ein Bulkcarrier
aus Honduras mit 42 Jahren, ein Passagierschiff aus Boli-
vien mit 37 Jahren und mehrere Öltanker aus den 70er-
Jahren sind dabei. 26 der 66 Schiffe fahren unter türki-
scher Flagge.
Für die maroden Boote gibt es in deutschen wie in eu-
ropäischen Häfen kein Anlaufverbot. Bei uns werden sie
geduldet, in den Häfen der USA abgewiesen. Dort ver-
bietet der Oil Pollution Act Einhüllentankern konsequent
den Hafenzutritt. Also weicht man nach Europa aus. Das
können und dürfen wir nicht dulden.
Was muss eigentlich passieren, damit etwas passiert?
Erinnern wir uns: Am 25. Oktober 1998 geriet der Holz-
frachter „Pallas“ vor der dänischen Küste in Brand. Ein
Einschleppen nach Esbjerg wurde abgelehnt. Die „Pallas“
havarierte vor Amrum. Das Krisenmanagement war cha-
otisch, der persönliche Einsatz der Rettungskräfte bei-
spielhaft. Die ökologischen Auswirkungen der Havarie
wurden von Umweltverbänden als verheerend eingestuft.
Danach hat die CDU/CSU hier im Parlament ein neues,
umfassendes Seeunfallmanagement eingefordert, wurde
aber niedergestimmt. Die Schaffung einer nationalen Küs-
tenwache, das Ausweisen von Nothäfen, ein Notschlepp-
konzept, Verkehrstrennungsgebiete und eine Konzentra-
tion von Zuständigkeiten beim Bund gehören unserer
Meinung nach dazu.
Einen erheblichen Teil dieser Forderungen von damals
finden wir heute in dem gemeinsamen Antrag der Sozial-
demokraten und der Grünen wieder. Deshalb werden wir
dem Antrag zustimmen. Für die Union ist in diesem Fall
ein gemeinsames Vorgehen richtig, um in Europa unsere
Vorstellungen gemeinsam durchzusetzen.
Unseren Antrag, der weitgehender ist, empfehlen wir
der parlamentarischen Beratung. Wir werden weiter Druck
für mehr Verkehrs- und Umweltsicherheit machen, auch
deshalb, weil die Bundesregierung nach dem „Pallas“-De-
bakel über fünf Jahre gebraucht hat, um jetzt, zum 1. Ja-
nuar 2003, das Havariekommando in Cuxhaven in Betrieb
zu setzen.
Vier verschiedene Verkehrsminister waren nötig, um
ein Sicherheitszentrum zu schaffen. Fünf Jahre hat es ge-
dauert, bis das Land Schleswig-Holstein das Havarie-
abkommen in der vergangenen Woche unterschrieb. Es
hat es widerwillig getan, wie man vernehmen konnte, ob-
wohl das Land zwischen Nord- und Ostsee besonders
„Pallas“-geschädigt war.
Die Kieler Kritik, vom Innenminister persönlich vor-
getragen, teilen wir seit Beginn der Debatte um das Kom-
mando. Noch reden zu viele Ressorts mit. Bundes- und
Landeskompetenzen wie auch die Einbindung von Bun-
desgrenzschutz und Bundesmarine sind unzureichend ge-
klärt.
Wir von der Union bleiben dabei: In einer nationalen
Küstenwache nach Vorbild der US Coast Guard gehören
alle Sicherheitseinrichtungen des Landes unter eine ein-
heitliche Führung.
Was muss eigentlich passieren, damit etwas passiert?
Im Herbst 1999 kenterte der Öltanker „Erika“ vor der
französischen Küste. Auch hier wurde das Einschleppen
in einen Hafen nicht erlaubt. Die EU-Kommission
schnürte flugs die Sicherheitspakete Erika I und Erika II.
Eine europäische Seesicherheitsagentur sollte umgehend
eingerichtet werden.
Im Mai 2000 landete der Vorschlag bei der Bundesre-
gierung in Berlin. Sie benötigte immerhin noch zwölf Mo-
nate, um ihre Stellungnahme im Bundesrat absegnen zu
lassen. Gestern, vier Jahre nach der Katastrophe, hat sich
auch der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags
mit der Vorlage befasst. Es ist unglaublich: 50 Monate
nach der Umweltkatastrophe! Wir haben, was Havarien
zur See angeht, kein Erkenntnis-, sondern ein absolutes
Umsetzungsdefizit.
Der vorläufige Standort der Seesicherheitsagentur wird
Brüssel sein. Der Antrag unserer Fraktion, dem sich die
FDP angeschlossen hat, die Bundesregierung möge sich
um den Standort bemühen, wurde gestern mit der Mehr-
heit von Sozialdemokraten und Bündnisgrünen leider ab-
gelehnt. So wird man nationalen Interessen nicht gerecht,
zumal Deutschland mit seiner zentralen Lage zwischen
Nord- und Ostsee für eine solche Initiative prädestiniert
wäre.
Was muss eigentlich passieren, damit etwas passiert?
Die „Prestige“ transportierte Öl aus Russland. Ihre Route
begann in Lettland, passierte in der Ostsee die gefährliche
Kadetrinne, später den Belt, dann die gesamte Nordsee,
bis das Unglück vor der spanischen Küste eintrat. Es war
reiner Zufall, dass sich die Katastrophe nicht vor unserer
Haustür ereignet hat.
Der Kreis Ostholstein hat ein solches mögliches Sze-
nario in diesen Tagen durchgespielt, einen Ölunfall-GAU
für die Ostsee angenommen. 60 000 Schiffe durchfahren
jährlich den Fehmarnbelt, das sind 165 täglich. Die Öl-
tanker unter ihnen werden immer mehr und immer größer.
Die an der Seekatastrophentrockenübung Beteiligten
stellten eine Reihe von Ungereimtheiten fest: Sie began-
nen bei den Zuständigkeiten einzelner Behörden und Ret-
tungsämter und endeten mit der Erkenntnis, dass weder
die aktuellen Telefonnummern der zuständigen Ansprech-
partner vorlagen noch eine gemeinsame Funkfrequenz be-
stand.
Seit dem Debakel mit der „Pallas“ praktiziert die Bun-
desmarine regelmäßige Seesicherheitsübungen und das
tut sie beispielhaft. Diese sollten aber auch für den zivilen
Bereich sowie gemeinsam stattfinden.
Handlungsbedarf besteht für die Ostsee insgesamt.
Trotz enormer Verbesserungen besteht durch die Weige-
rung Russlands, einer Radarüberwachung und Lotsan-
nahmepflicht für die baltische See zuzustimmen, eine
nicht vertretbare Sicherheitslücke in der Ostsee. Hier end-
lich zu einer internationalen Seesicherheitsvereinbarung
zu kommen halten wir für richtig. Sie ist einer der neun
Punkte des Konzepts der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
das wir mit unserem Antrag vorlegen.
Wolfgang Börnsen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Wolfgang Börnsen
Wir erwarten, dass die Bundesregierung zügig handelt
und nicht erst dann etwas passiert, wenn etwas passiert ist.
Deshalb fordern wir einen jährlichen Regierungsbericht
über die Optimierung der Seesicherheit, der hier im Par-
lament debattiert werden sollte.
Während wir hier, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
um bessere Strategien für die Vermeidung von Umwelt-
katastrophen auf See ringen, sind immer noch – auch
heute – Hunderte von Helfern in Galizien dabei, den
Strand vom Öl zu reinigen. Ihnen allen und auch den Ein-
satzgruppen aus Deutschland sollte unser gemeinsamer
Dank gelten.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder
Steenblock.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Lieber Herr Kollege Börnsen, ich möchte mich
auch im Namen meiner Fraktion sehr herzlich dafür be-
danken, dass von dieser Sitzung heute hier das gemein-
same Signal des Deutschen Bundestages an die in un-
serem Zuständigkeitsbereich liegende deutsche Küste
ausgeht, das lautet: Wir nehmen eure Interessen ernst. Wir
machen dies nicht zu einem Thema des Parteienhick-
hacks, sondern wir stellen uns dieser Verantwortung ge-
meinsam. – Dafür, dass wir diese Position heute hier
gemeinsam vertreten können, herzlichen Dank. Im Aus-
schuss werden wir uns weiter mit dieser Thematik be-
schäftigen. Ich glaube, dieses Verfahren hat eine ausge-
sprochen positive Außenwirkung. Vielen Dank.
An der bestehenden Situation ist unerträglich, dass die
Politik erst dann anfängt, zu handeln, wenn Katastrophen
passieren und die Politiker, die sich schon lange entspre-
chende Initiativen vorgenommen haben, dafür erst dann
eine entsprechende Mehrheit haben. Dies ist bitter.
Umso konsequenter müssen wir diese Situation nut-
zen, um eine strikte Anwendung des Verursacherprinzips,
eine konsequente Verankerung von Vorsorgegesichts-
punkten zu erreichen und um das Haftungsrecht so mas-
siv zu verschärfen, dass es sich einfach nicht mehr lohnt,
mit solchen Seelenverkäufern auf den Meeren unterwegs
zu sein. Es darf sich nicht mehr lohnen, dieses Risiko ein-
zugehen. Hierfür müssen wir gemeinsam kämpfen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind mit ihrer
rigiden Gesetzgebung, mit ihrer Coastguard und mit den
Versicherungssummen, die dort gezahlt werden müssen,
für uns ein Beispiel. Wir brauchen diese abschreckende
Wirkung. Unser Antrag zielt genau in diese Richtung, die
Mauern hier so hoch zu ziehen, dass wir diese ab-
schreckende Wirkung auch für die europäischen Häfen
haben werden.
Ich möchte Ihr Augenmerk noch auf einen anderen Be-
reich richten, den auch der Kollege Börnsen angespro-
chen hat. Der Tanker „Prestige“ ist auch durch die Ostsee,
durch die Deutsche Bucht gefahren. Keiner kann sich die
Katastrophe ausmalen, wenn wir im deutschen Watten-
meer auch nur annähernd so viel Öl hätten. Dies wäre
fürchterlich. Sie erinnern sich sicher an die „Pallas“-Ka-
tastrophe; ich erinnere mich auch sehr gut. Damals ging
es um 60 oder 70 Tonnen Öl. Hier reden wir von einer
Größenordnung von mehreren 10 000 Tonnen. Dies wäre
der Tod für das Ökosystem Wattenmeer. Dies wäre auch
für die Menschen an der Küste, die von dem Meer leben,
für die Fischer, für den Tourismus für lange Jahre das öko-
nomische Desaster. Dies können wir nicht zulassen.
Mit all dem, was wir hier beschließen, haben wir ein
Problem überhaupt nicht gelöst; das ist das Problem der
russischen Ölhäfen an der Ostsee, die jetzt ausgebaut
werden. Diese werden von all dem, was wir hier be-
schließen, nur begrenzt tangiert. Deshalb ist einer der zen-
tralen Punkte in unserem Antrag der Auftrag, mit der rus-
sischen Regierung zu verhandeln. Die Belastung der
Ostsee durch Tankertransporte ist enorm. Die Sicher-
heitsbedingungen sind auch nicht im Ansatz auf dem Ni-
veau, das wir uns alle wünschen müssen.
Wenn wir Seesicherheit ernsthaft gewähren wollen,
und zwar gerade in der Ostsee, muss schwerpunktmäßig
mit den Russen und den baltischen Ländern zusammen
ein Sicherheitskonzept entwickelt werden, das tatsächlich
vorbeugend greift. Von unserem Einzugsbereich sind dort
im Augenblick die Risiken am höchsten.
Wir haben es geschafft, das Wattenmeer als PSSA, also
als besonders schutzwürdiges Seegebiet, auszuweisen.
Gerade was Einhüllentanker angeht, haben wir jetzt die
Möglichkeit, neue, rigidere Vorschriften sofort umzuset-
zen. Diese Möglichkeiten sollten wir in Anspruch nehmen.
Herr Börnsen, ich stimme mit Ihnen überein: Es war
notwendig, dafür zu sorgen, dass wir das Havariekom-
mando haben. Dieser Schritt ist aber noch nicht hinrei-
chend. Wir müssen weiter dafür arbeiten, dass die Zu-
ständigkeiten und die Kompetenzen dieses Kommandos
sehr groß sind und dass der Zugriff wirklich eindeutig ge-
klärt ist. Ich weiß auch aufgrund eigener Erfahrungen, wie
schwer das ist.
Was die Zusammenarbeit von Bundes- und Landes-
behörden angeht, haben wir es mit hochproblematischen
verfassungsrechtlichen Konstruktionen zu tun. Viele Pro-
bleme auf diesem Gebiet sind noch immer nicht geklärt.
Es besteht die Gefahr, dass es an dieser Stelle wieder zu
einer nicht eindeutigen Zuständigkeitsregelung kommt,
und zwar mit den Konsequenzen, die ich am eigenen Leib
– ich sage das hier ganz offen – erfahren habe. Lassen Sie
uns deshalb gemeinsam dafür sorgen, diese komplexen
1270
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1271
und komplizierten Fragen im Interesse der Seesicherheit,
im Interesse der Menschen an den Küsten zu regeln.
Es ist wichtig, zusätzlich Vorsorge zu betreiben. Auch
als Grüner sage ich noch einmal deutlich: Die Anzahl der
Probleme wird deutlich geringer, wenn es uns gelingt, un-
sere Energiepolitik in andere Bahnen zu lenken, damit
die Abhängigkeit vom Öl und von den Öltransporten nicht
mehr besteht und wir selbst in der Lage sind, unsere
Energieversorgung mit regenerativen Energien zu gewähr-
leisten.
Wichtig wäre auch, dass wir in Zukunft eine giftfreie Pro-
duktion in Angriff nehmen, damit diese Stoffe nicht mehr
auf den Weltmeeren unterwegs sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Goldmann.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin sehr für Gemeinsamkeit, wenn es da-
rum geht, Schaden von der Küste, Schaden von der Natur
abzuwenden. Aber ich bin auch dafür, dass man bei der
Wahrheit bleibt.
Ich bin seit fünf Jahren schifffahrts- und hafenpoliti-
scher Sprecher der FDP. So wie „alle Jahre wieder“ Weih-
nachten kommt, so treffen wir uns eigentlich „alle Unfall
wieder“ hier im Plenum; man kann das fast in das Weih-
nachtsritual einbinden. Jedes Mal liegen uns Anträge vor.
Die neueste Vorlage ist ein siebenseitiger Antrag von der
SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen. Ich frage mich,
was Sie in den vergangenen vier Jahren eigentlich konkret
auf die Beine gestellt haben.
– Da sind Sie leider im Irrtum. Vor vier Jahren fand die
„Pallas“-Havarie statt und es gibt noch immer kein wirk-
lich wirksames Havariekommando.
Als ich das im Ausschuss ansprach, war die geschätzte
Kollegin so nett und sagte mir: Ich habe da mittlerweile
etwas bekommen; ich war nämlich in Cuxhaven. – Dann
hat sie mir etwas zugefaxt. Daraufhin habe ich mich ge-
fragt: Hat sie die wesentlichen Teile behalten oder war sie
so nett, wie sie getan hat, hat sie mir also wirklich alles
zugefaxt? In dem, was sie mir zugefaxt hat, steht nämlich
gar nichts drin.
Der Kern der Geschichte ist das, was Herr Steenblock
eben ansprach: In welchem Maß hat das Havariekom-
mando Durchgriffs- und Zugriffsrecht?
– Nein, liebe Annette, dies ist leider nicht geregelt. Ich
habe mich heute noch einmal ans Ministerium gewandt
und mich im Hinblick auf Rechtsvorschriften erkundigt,
die endlich zu denjenigen Verbesserungen führen sollen,
die am 1. Januar erreicht werden sollten. Diesbezüglich ist
anscheinend nichts da; denn man konnte uns in einer mei-
ner Meinung nach sehr wichtigen Angelegenheit leider
nichts zur Verfügung stellen.
Auch was die von Ihnen erhobenen Forderungen an-
geht, sind Sie total unglaubwürdig. Gestern haben wir im
Ausschuss gesagt: Lasst uns doch gemeinsam dafür ein-
treten, dass die Agentur für die Sicherheit des Seever-
kehrs viel für Deutschland tut. Einen von der CDU/CSU
gestellten Antrag, der an Harmlosigkeit an sich überhaupt
nicht zu überbieten war und in einer Frage ein bisschen
Gemeinsamkeit zum Ausdruck bringen konnte, haben Sie
allerdings prompt abgelehnt.
Danach haben Sie gegenüber Pressevertretern aus Ihrer
Region, liebe Kollegin Faße, Äußerungen getätigt, die zu
einer groß aufgemachten, vierseitigen Veröffentlichung
führten, die besagte, dass Sie sich für die Einrichtung die-
ser Behörde in Brüssel einsetzen wollen. Sie scheinen ers-
tens gar nicht informiert darüber gewesen zu sein, dass es
diese Agentur schon gibt, und zweitens fordern Sie dazu
auf – ich verweise auf Punkt acht –, dass Brüssel eine of-
fizielle Bewerbung um den Standort der EMSA vorlege.
Die Veröffentlichung erfolgte am 10. Dezember. Sie
behaupten, das hätten Sie abgestimmt. In dieser Veröf-
fentlichung ist von der Mitgliedschaft in der Küstengang
der CDU/CSU oder, in diesem Fall, der SPD die Rede.
Außerdem steht dort, die Person wisse überhaupt nicht,
dass die Dinge schon lange abgelaufen seien, dass man im
Grunde genommen schon vor langem Entscheidungen ge-
troffen habe, die an Deutschland wieder einmal vorbei-
gegangen seien.
Wir haben gestern im Ausschuss vorgeschlagen, wir
könnten eine dezentrale Einrichtung führen; wir könnten
dezentrale Einrichtungen erreichen. Aber in Ihrem Antrag
steht nichts von dezentralen Einrichtungen, die Sie errei-
chen wollen. Ich kann nur feststellen: Alle Jahre wieder
produzieren Sie jede Menge Papier, unternehmen aber an-
gesichts der Herausforderungen, die bestehen, im Grunde
genommen herzlich wenig. Wir halten hier zum Teil Fens-
terreden, die in der Sache nicht helfen.
Ich habe – das ist vielleicht etwas flapsig ausgedrückt –
solche Faxen dicke. Entweder setzen wir uns zusammen
und sorgen dafür, dass solche Unfälle – –
Rainder Steenblock
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Hans-Michael Goldmann
– Sie sollten sich hinsetzen und die Probleme lösen.
Oder wir sorgen gemeinsam dafür, dass Dinge abgearbei-
tet werden und dass wir nicht in einem halben Jahr wieder
hier stehen, jammern und beklagen, dass Vorschläge auf
den Weg gebracht werden müssen. Wir haben hier – Herr
Kollege Börnsen hat das vorhin gesagt – kein Diskussi-
onsdefizit,
sondern schlicht und ergreifend ein Lösungsdefizit. Für
diese Lösungsdefizite sind einzig und allein Sie verant-
wortlich.
Ihr neuer Minister Stolpe hat erklärt, die Problematik
des Havariekommandos sei gelöst. Ich kann nur sagen: Er
hat davon keine Ahnung. Es ist überhaupt nichts gelöst. In
dieser Frage wird geredet und diskutiert. Jeder weiß ei-
gentlich, was getan werden muss. Es gibt die IMO, die uns
klipp und klar sagt, wie die Situation ist. Wir fragen nach
Nothäfen. Sie haben bei dieser Problematik kein Fleisch
an den Knochen. Sie bringen in dieser Sache nichts auf
den richtigen Weg. Sie sorgen nicht für mehr Sicherheit an
der Küste. Das ist meiner Meinung nach Politik, die an
den Erfordernissen vorbeigeht.
Herzlichen Dank.
Ich weiß, dass die Redezeit für die kleinen Fraktionen
knapp ist. Ich bitte aber darum, sie nicht um die Hälfte zu
überziehen. Das ist wirklich zu viel.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Hartnagel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte zunächst auf Herrn Goldmann
eingehen. Die meiste Zeit Ihrer Rede ging es um das
Thema Agentur für Seesicherheit und darum, dass deren
Sitz nach Deutschland kommen soll.
Ich frage Sie ganz ehrlich, ob es in diesem Zusammen-
hang nicht Wichtigeres gibt, als deren Sitz nach Deutsch-
land zu holen.
– Doch, das hat er gemacht.
Zum Thema Havariekommando. Das Zugriffsrecht
ist sehr wohl geregelt. Das, was Sie sagen, ist nicht rich-
tig.
– Mit dem Vorwurf der mangelnden Ahnung bei diesem
Thema wäre ich sehr vorsichtig. Wenn Sie, Herr
Goldmann, in Ihrer Presseerklärung schreiben, dass Sie
dieses Thema mit der Gruppe Binnenschifffahrt behan-
deln wollen, dann muss ich mich doch fragen, was das zu
bedeuten hat.
Herr Börnsen, ich bin sehr froh, dass wir unseren An-
trag abstimmen werden. Trotzdem muss ich Ihnen Fol-
gendes sagen: Sie haben davon gesprochen, dass nur et-
was passiert, wenn etwas passiert. Im Prinzip gebe ich
Ihnen Recht. Diesen Vorwurf müssen Sie dann aber auch
auf Ihre Regierungszeit beziehen. Ich kann mich erinnern,
dass Sie zum Schluss Ihrer Regierungszeit nicht einmal
mehr bereit waren, die „Oceanic“ zu chartern. Ich wäre
mit Schuldzuweisungen also sehr vorsichtig. Ich weiß,
wir können das freundschaftlich regeln, aber das musste
ich einmal sagen.
– Seien Sie ganz ruhig, Herr Goldmann. Auch wenn ich
eben etwas Kritisches gesagt habe, seien Sie bitte ruhig.
Wir haben gesehen: Ein einziges Schiff reicht aus, um
ein ganzes Ökosystem zu zerstören; Herr Steenblock ist be-
reits darauf eingegangen. Die Bilder haben wir alle vor Au-
gen: Wie sieht es an der galizischen Küste aus? – Schwarz.
Man sieht ölverschmierte Vögel, schwarze, zähe Öl-
brocken, die mit den Händen oder mit Schaufeln aus dem
Wasser oder vom Strand eingesammelt werden müssen.
Vor fast vier Jahren habe ich hier meine erste Rede ge-
halten, und zwar zu dem gleichen Thema, nur ging es da-
mals um die „Pallas“.Doch was heißt „nur“? Damals wa-
ren es 15 000 Seevögel, die bei der Havarie dieses
Holzfrachters – die „Pallas“ war ein Holzfrachter; das
möchte ich dazu sagen – ums Leben kamen. Im Moment
spricht man von 25 000 Seevögeln. Ich glaube, das Ende
ist leider noch nicht abzusehen. Das hat Frau Lucyga eben
richtig gesagt, aber ich will es gerne wiederholen.
Wie groß die Folgen insgesamt sind, können wir über-
haupt noch nicht absehen.
Als „größte Umweltkatastrophe in der Geschichte Spa-
niens“ hat der konservative Regierungschef José María
Aznar die Katastrophe bezeichnet. Es ist meines Erach-
tens aber nicht nur die größte Ölkatastrophe Spaniens,
sondern die größte Ölpest, die wir in Europa jemals ge-
habt haben. Die dritte Ölflutwelle ist jetzt an die Küste ge-
spült worden. Die Katastrophe ist groß. Wissen wir, wie
viele Wellen noch kommen werden? Dies ist schon eine
außerordentliche Situation.
Es kann noch schlimmer kommen: Denn 27 000 Ton-
nen Öl sind bereits ins Meer geflossen. 125 Tonnen
Schweröl strömen pro Tag durch die Risse des Wracks in
den Atlantik. 50 000 Tonnen, die sich auch noch über die
Küsten ergießen können, befinden sich noch im Tank.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1273
Es handelt sich hier allerdings nicht nur um eine Kata-
strophe für Flora und Fauna. Die Auswirkungen der Ka-
tastrophe bedeuten die Vernichtung der Existenz für Tau-
sende von Fischern. Sie leben vom Meer. Ohne den
Fischfang können sie finanziell nicht überleben. Meine
Damen und Herren, die Profitgier der Schiffs- und La-
dungseigner hat ihre Existenz zerstört.
Aber solange wir zulassen, dass auf den Meeren – warten
Sie ab –
– woher wissen Sie das denn? –
Tausende von Tonnen Öl herumgeschippert werden, so
lange wird man das Risiko einer Havarie nicht vermin-
dern können.
Seit der Havarie der „Pallas“ hat die Bundesregierung
viel für die Schiffssicherheit getan. Ich will als Beispiele
nennen: Das Havariekommando in Cuxhaven ist einsatz-
bereit. Neue Verkehrstrennungsgebiete und Tiefwasser-
wege sind eingerichtet worden. In Nord- und Ostsee stehen
mehrere Notschlepper und Schadstoffbekämpfungsschiffe
zur Verfügung.
Ein weiteres kommt noch hinzu. Das Konzept für 40 Not-
liegeplätze ist von dieser Regierung bereits vorzeitig vor-
gelegt worden und befindet sich in der Abstimmung.
Unsere nationalen Bemühungen werden jedoch nicht aus-
reichen. Das wissen wir. Die einschlägigen Sicherheitsstan-
dards müssen auf europäischer und internationaler Ebene
entscheidend weiterentwickelt werden. Vor allem aber,
finde ich, müssen die Durchsetzbarkeit und die Sanktions-
fähigkeit dieser Standards erheblich verbessert werden.
Dafür setzen wir uns ein und unterstützen dabei die Bun-
desregierung. Das sollte die Opposition und in diesem
Falle auch die FDP tun, denn es geht nicht nur um uns im
Parlament, sondern es geht um viele, viele, die durch sol-
che Unfälle geschädigt werden können.
Meine Damen und Herren, wir müssen erreichen, dass
der Transport von Schweröl und anderen gefährlichen
Stoffen mit Einhüllentankern verboten wird; darüber sind
wir uns, glaube ich, völlig einig.
– Das steht im Antrag drin.
Das europaweite Hafeneinlaufverbot wird nicht nur für
Einhüllentanker, sondern muss auch für Gefahrgutschiffe
– seien Sie doch mal einen Augenblick ruhig – mit man-
gelhaften Sicherheitsvorkehrungen durchgesetzt werden.
Ein wichtiger Punkt betrifft die Haftungsregelung bei Ha-
varien, wie ich eben gesagt habe. Die ökologischen und
ökonomischen Schäden, die bei Havarien entstehen, sind
immens. Ein zusätzlicher Entschädigungsfonds ist des-
halb dringend notwendig.
Ich sehe, ich bin mit meiner Redezeit schon im Minus,
um Gottes willen. Das war nicht meine Absicht.
Aber einen Punkt will ich trotzdem noch nennen; den
hat Herr Steenblock eben auch genannt. Ich will zum
Schluss nur sagen: In der Tat wäre es wichtig, dass nicht
nur wir die Energiewendemit mehr Förderung von rege-
nerativen Energien beförderten, sondern wenn es welt-
weit in diese Richtung ginge. Dann hätten wir nicht die
Probleme mit so vielen Ölschiffen, wie wir sie zurzeit ha-
ben.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD und der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/198 mit dem Titel „Seeschiff-
fahrtssicherheit verbessern – Ölkatastrophen vermeiden“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion der CDU/CSU gegen die Stimmen der Frak-
tion der FDP angenommen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/192 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatz-
punkt 7 auf:
9 Erste Beratung des von den Abgeordneten GudrunKopp, Rainer Brüderle, Rainer Funke, weiterenAbgeordneten und der Fraktion der FDP einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zurAufhebungdes Ladenschlussgesetzes
– Drucksache 15/106 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Anke Hartnagel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten DagmarWöhrl, Karl-Josef Laumann, Wolfgang Börnsen(Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU
Ladenschlussgesetz modernisieren
– Drucksache 15/193 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre ich
nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die FDP hat
zunächst die Abgeordnete Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Globalisierung, EU-Osterweiterung, offenere Märkte,
E-Commerce, moderne Lebens- und Arbeitsstrukturen,
verändertes Verbraucherverhalten, schlechte Wirtschafts-
und Konjunkturlage, Dienstleistungsnachfrage – die Ant-
wort der FDP-Bundestagsfraktion auf all diese Fakten ist
schlicht und ergreifend: Wir möchten ein Ausrufezeichen
hinter die Forderung von Bundeswirtschaftsminister
Clement nach einem Masterplan zum Bürokratieabbau
setzen, indem wir den Verzicht auf das Gesetz zur Rege-
lung des Ladenschlusses an Werktagen, also von montags
bis samstags, fordern. Sonn- und Feiertage bleiben ver-
fassungsrechtlich geschützt. Sonderregelungen – so wün-
schen wir uns das – sollen über die Länder und deren
Kommunen geregelt werden. Das wäre ein echter Beitrag
zur Deregulierung und zu einer größeren Freiheit aller
Marktteilnehmer in Deutschland.
Was aber enthält der Kabinettsbeschluss, der vor
kurzem gefasst wurde? Er ist nämlich in Richtung Libe-
ralisierung und Bürokratieabbau mehr als hasenfüßig.
Ganze vier Stunden mehr soll es an Samstagen an La-
denöffnungszeiten geben. Dies wird sogar noch mit einer
Sonderregelung für das Friseurhandwerk garniert, für das
es keinerlei Beschränkungen geben soll. Vielleicht hängt
daran das Versprechen der Friseure, ihrerseits über das
mögliche Haarefärben unseres Kanzlers nicht mehr zu
spekulieren. Diese Regelung finde ich sehr interessant.
Andere aus den rot-grünen Koalitionsfraktionen for-
dern für den Samstag eine Ausweitung der Öffnungszei-
ten um weitere zwei Stunden. Wieder andere wollen die
Sonderfreiheiten auf den Innenstadtbereich begrenzen.
Wieder andere diskutieren tatsächlich über Schwellen-
werte. Das heißt, Liberalisierungsschritte werden an die
Zahl der Mitarbeiter im jeweiligen Betrieb gekoppelt. Der
SPD-Fraktionsvize Michael Müller sah sogar neulich, wie
ich in einem Presseartikel las, ein Merkmal der modernen
Gesellschaft darin, dass sich diese begrenzen möge.
Wenn es um das Begrenzen geht, sind wir der Auffas-
sung, dass sich der Staat begrenzen sollte. An diesem
Punkt wären wir uns einig. Also: Alle Macht dem Staat!
Herr Müntefering, der sich verständlicherweise gerade
abwendet, hat vor kurzem verkündet: Alles Geld dem
Staat!
Das ist etwas, was wir uns als Liberale nicht wünschen.
Wir sagen ganz klar: mehr Freiheit und Gestaltungs-
raum zum Wohl der Bevölkerung für diejenigen, die am
Markt ihre Dienstleistungen anbieten wollen, nämlich für
Handel und Dienstleister. Dazu möchte ich die neueste
Umfrage des ZDF-„Politbarometers“ zum Thema Laden-
schluss anführen. Dort hieß es letzte Woche: 63 Prozent
der befragten Bürger und Bürgerinnen sind für die völlige
Freigabe der Öffnungszeiten. 10 Prozent wünschen sich
samstags eine Öffnung bis 20 Uhr. 27 Prozent wünschen
keinerlei Änderungen.
Angesichts dieser Lage, auch auf unseren Wirtschafts-
standort und das Thema Bürokratie bezogen, erscheint es
mir inzwischen lächerlich, dass wir es auch in der zwei-
ten Legislaturperiode nötig haben, diesen Gesetzentwurf
zur Abschaffung eines Gesetzes zu diskutieren und ent-
sprechend der Frage an der Ladentheke „Darf’s ein biss-
chen mehr sein?“ in Minischritten die Frage zu erörtern,
ob wir es uns in Deutschland erlauben können, ein biss-
chen mehr Freiheit zu gewähren, nämlich ein bisschen
mehr Freiraum und Eigeninitiative für die in unserer Wirt-
schaft tätigen Menschen. Ich hoffe, dass sich Rot-Grün et-
was bewegt, damit wir am Ende der Beratungen eine
breite Mehrheit für den mutigen Gesetzentwurf der FDP-
Bundestagsfraktion zur Aufhebung des Gesetzes über den
Ladenschluss an Werktagen finden. Ich wünsche mir, dass
Sie sich bewegen, und zwar nicht nur in Trippelschritten.
Sie sollten wirklich einen Schritt nach vorn wagen, damit
wir uns im Parlament wieder anderen Themen widmen
können als solchen Kleinigkeiten wie den Ladenschluss-
zeiten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Grotthaus.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Antrag der CDU/CSU und der Gesetzentwurf
der FDP treffen sich in der Zielvorstellung. Sie haben den
gleichen Inhalt, nämlich die ganztägige Freigabe der La-
denöffnungszeiten an allen Werktagen. Dabei handelt es
sich um eine Forderung, die – das gilt es gleich am An-
fang festzuhalten – noch nicht einmal der Sprecher des
Hauptverbands des Deutschen Einzelhandels, Hubertus
Pellengahr, gestellt hat. Noch am 2. Dezember – lassen
Sie mich Ihnen das mit auf den Weg geben, Frau Kopp –
schlug er vor, den Ladenschluss an allen Tagen zwischen
Weihnachten und Neujahr auf 18 Uhr zu verlängern. Das
wäre ein wichtiges Signal für den Handel und den Ver-
braucher. Danach stehe die Verlängerung der Öffnungs-
zeiten an allen Samstagen des Jahres bis 18 Uhr auf der
Tagesordnung.
Lassen Sie mich des Weiteren aus einer Stellungnahme
des Handelsverbands BAG zitieren:
... eine ersatzlose Aufhebung des Ladenschlussgeset-
zes hätte weitreichende, voraussichtlich negative
Auswirkungen speziell auf den innerstädtischen Ein-
zelhandel und begegnet daher insbesondere unter
den Gesichtspunkten des Wettbewerbsschutzes und
der Stadtentwicklung erheblichen Bedenken.
Das waren im Übrigen keine Zitate von Gewerk-
schaftsmitgliedern, die Sie immer wieder anführen, um zu
verdeutlichen, dass sie bestimmte Maßnahmen verhin-
dern,
sondern von Vertretern von Verbänden, die die Arbeit-
geber bzw. die mittelständische Industrie vertreten. Mei-
ner Auffassung nach sollten Sie des Öfteren auch auf
diese Vertreter hören.
Sie aber, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, fordern mit Ihrer Initiative mehr. Sie fordern sogar
viel mehr. Sie argumentieren, dass durch die Öffnung der
Läden rund um die Uhr die Modernisierung des beste-
henden Rechts erreicht würde. Ich frage Sie: Was verste-
hen Sie unter Modernisierung? Darunter verstehen Sie
wahrscheinlich, dass Menschen dort, wo es keine konti-
nuierlichen Produktionsbetriebe gibt, in einen Dreischich-
tenbetrieb gedrängt werden.
Denn dies könnte letztlich die Folge dessen sein, was Sie
fordern.
Ich frage Sie: Ist es modern und fortschrittlich, wenn
Frauen – diese sind nämlich hauptsächlich davon betrof-
fen – ihrer Berufstätigkeit in Nachtarbeit nachgehen müs-
sen?
– Natürlich. Denn eine Öffnungszeit von 24 Stunden be-
deutet Nachtarbeit.
– Die Möglichkeit, 24 Stunden zu öffnen, bedeutet Nacht-
arbeit. Auch wenn in den Geschäften das Licht brennt –
sobald die Frauen nach draußen gehen, ist es dunkel. Sie
kennen die Probleme, die auftreten können.
Ich frage Sie: Ist es modern, wenn die unternehme-
rische Freiheit, die Sie so betont haben, über alles gestellt
wird, aber diejenigen, die diese Freiheit ausfüllen müssen,
nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dabei
unberücksichtigt bleiben?
Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, dass es
sich beim Ladenschlussgesetz um ein Arbeitsschutzgesetz
handelt. Sie scheinen dies vergessen zu haben oder Sie
handeln nach dem Motto „Liberalisierung um jeden
Preis“, ohne die Interessen aller am Arbeitsprozess Betei-
ligten zu berücksichtigen.
Richtig ist – das gilt es aus meiner Sicht festzuhalten –,
dass etwas für den Einzelhandel getan werden muss. Da-
bei stellen die Ladenöffnungszeiten aber nur einen Aspekt
dessen dar, was getan werden muss.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp?
Aber gern.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Ist Ihnen bewusst, dass
die völlige Freigabe der Öffnungszeiten an Werktagen
nicht bedeutet, dass Geschäfte 24 Stunden lang öffnen
müssen, sondern dass es der freien Entscheidung des Un-
ternehmers in Absprache mit seinem Personal überlassen
bleibt, in welchem Zeitraum er seine Dienstleistungen an-
bietet? Malen Sie doch kein Schreckenszenario an die
Wand!
Im Übrigen ist Schichtarbeit auch schon heute in be-
stimmten Berufen an der Tagesordnung. Das wird doch
von Ihnen auch nicht bekämpft. Sind Sie bereit, dies zur
Kenntnis zu nehmen?
Ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns
vor ungefähr anderthalb Stunden über die Lockerung des
Gudrun Kopp
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Wolfgang Grotthaus
Kündigungsschutzes bzw. die Lockerung von Arbeitneh-
merrechten unterhalten haben. Da finde ich es schizo-
phren, dass Sie jetzt davon sprechen, dass der Arbeitgeber
etwas mit dem Personal abstimmt. Lassen Sie sich dazu
von meiner Seite zunächst deutlich sagen: Ich habe
39 Jahre Industrieerfahrung auf dem Buckel und weiß,
was abgestimmt wird und welcher Druck manchmal auf
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgeübt wird.
Das Nächste ist: Wem kommt eine 24-stündige Öff-
nungsdauer zugute? Sie kommt den Geschäften auf der
grünen Wiese zugute, aber nicht denen, die im Innen-
stadtbereich liegen, sodass es hier zu einem zusätzlichen
strukturellen Problem käme. Dies haben Sie bei Ihren
Ausführungen nicht bedacht.
Lassen Sie mich auch festhalten, dass das Bundeskabi-
nett – dies hat auch Frau Kopp festgestellt – einen Ge-
setzentwurf beschlossen hat, der im Januar eingebracht
werden wird und auch eine Flexibilisierung der La-
denöffnungszeiten vorsieht, aber eine, die dem Verlangen
des Einzelhandelsverbandes weitestgehend entgegen-
kommt, ohne die Arbeitnehmerinteressen unberücksich-
tigt zu lassen. Deshalb mache ich heute schon kein Hehl
daraus, dass wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen werden,
da wir natürlich mit dem Gesetzentwurf des Kabinetts
sympathisieren und diesen Gesetzentwurf im Januar in
aller Breite und in aller Ausführlichkeit diskutieren wer-
den.
Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen zu not-
wendigen Maßnahmen im Einzelhandel machen. Eines
haben Sie – genauso wie die CDU/CSU in ihrem An-
trag – aus meiner Sicht nicht berücksichtigt. Sie gehen nur
auf die Ladenöffnungszeiten ein und verkennen – ich be-
tone das noch einmal –, dass dies nur ein kleiner Teil des-
sen ist, was für den Einzelhandel notwendig ist. Es geht
nämlich nicht nur um eine 24-stündige Ladenöffnungs-
zeit. Es geht auch darum, zu bestimmten Zeiten, bedingt
durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse, bessere und
längere Ladenöffnungszeiten zu bekommen. Diese aber
liegen nicht, Frau Kopp, zwischen 20 Uhr und 6 Uhr mor-
gens.
Wie sieht es denn aufgrund des bestehenden Laden-
schlussgesetzes in natura aus? Es schmerzt den Einzel-
händler, wenn er am Samstagnachmittag kaufwillige
Kunden aus seinem Geschäft drängen muss. Gleichzeitig
ist aber auch der Verbraucher betroffen, der Einkaufen in
der Freizeit mit Erlebnis verbindet. Er ärgert sich darüber,
dass er wegen der Reglementierung an einem für ihn ar-
beitsfreien Samstag nicht die gewünschte Einkaufszeit
zur Verfügung hat. Nicht ein Werktag ist der Hauptein-
kaufstag, sondern der Samstag. Hier sehen wir den Hand-
lungsbedarf, und der Kabinettsbeschluss läuft auf eine
entsprechende Erweiterung diesbezüglicher Regelungen
hinaus.
Wer aber glaubt, damit sei die Situation im Einzel-
handel langfristig zu verbessern, hat sich zumindest mei-
nes Erachtens getäuscht; darüber werden wir auch noch
im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf des Kabinetts
zu reden haben. Der Einzelhandel ist viel, viel stärker von
strukturellen Problemen betroffen. Diese Feststellung
wird auch von den Verbänden des Einzelhandels vertre-
ten, aber auch von den kommunalen Spitzenverbänden,
dem Zentralverband des Deutschen Handwerks und der
Bundesvereinigung City- und Stadtmarketing.
Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass die Konzen-
tration im Einzelhandel nicht nur durch bestimmte Rah-
menbedingungen eingetreten ist. Die Konzentration hat
vielmehr auch etwas damit zu tun, dass es zu einer Filia-
lisierung in den Innenstädten gekommen ist.
– Das ist eine andere Thematik. Wenn Sie dem Einzel-
handel etwas Gutes tun wollen, Frau Kopp, sollten Sie da-
rüber einmal ein bisschen intensiver nachdenken
und nicht für einen 24-Stunden-Betrieb kämpfen. Hören
Sie auf die Fachleute des Einzelhandels! Sprechen Sie mit
den Vertretern des Einzelhandelsverbandes! Dann werden
Sie eines Besseren belehrt; denn Ihr Entwurf – das sage
ich Ihnen noch einmal – ist zu kurz gesprungen.
Der Rückzug des Einzelhandels aus den Innenstädten
ist bedingt durch die hohen Infrastruktur- und Mietkosten,
aber auch dadurch, dass Parkplätze, die in den Einkaufs-
zentren kostenlos angeboten werden, nicht vorhanden
sind. Das Ansiedeln von großen Einkaufs- und Erlebnis-
zentren auf der grünen Wiese – ich komme aus einer Stadt,
in der das der Fall ist – spielt eine sehr große Rolle. Der
Einzelhandel im innerstädtischen Bereich leidet erheb-
lich darunter, dass Einkaufs- und Erlebniszentren mit rie-
sengroßen Parkplätzen, die den Verbraucher kein Geld
kosten, irgendwo auf der grünen Wiese entstehen. In die-
sem Zusammenhang möchte ich Ihnen eine Aussage des
Handelsverbandes BAG vorlesen:
Bei einer ersatzlosen Aufhebung des Ladenschluss-
gesetzes würde sich die Situation des innerstäd-
tischen Einzelhandels weiter verschlechtern und
zusätzliche Kaufkraft aus der Innenstadt/Stadt abge-
zogen. … Den Kommunen würde es zusätzlich er-
schwert, ihrer urbanen Funktion gerecht zu werden.
Die Bemühungen um eine Revitalisierung der Innen-
städte und Stadtteilzentren würden einen Rückschlag
erleiden.
Liebe Frau Kopp, sehr geehrte Damen und Herren von der
CDU/CSU, mit Ihrem Gesetzentwurf bzw. mit Ihrem An-
trag sind Sie auch hier zu kurz gesprungen.
Wir müssen aber auch darüber diskutieren, wie wir mit
Factory Outlet Centern umgehen und wie sich der stei-
gende Versandhandel und der E-Commerce auf den Ein-
zelhandel auswirken. Das sind Themen, die die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter, aber auch die Einzelhändler
interessieren. Dafür erwarten sie von uns Lösungsansätze.
Wir müssen also nachfolgend, nachdem wir das Laden-
schlussgesetz geändert haben – ich kündige hier an, dass
1276
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1277
wir es ändern werden –, über diese Dinge reden und Lö-
sungen für diese Probleme formulieren. Das betrifft
– auch das gilt es festzuhalten – nicht allein den Bund,
sondern auch die Länder und insbesondere die Kommunen.
Wir müssen darüber diskutieren, wie wir der Filialisie-
rung in den Innenstädten Einhalt gebieten, und darüber,
ob es möglich ist, bestimmte Ansiedlungsvorhaben, die
letztendlich zur Verringerung der Attraktivität in den In-
nenstädten führen, in Kerngebieten nicht mehr zulassen.
Das fällt in die Gesetzgebungskompetenz der Länder;
hierüber müssen wir auch mit ihnen reden. Sie sollten sich
aber, so meine ich, noch einmal überlegen, was die er-
satzlose Aufhebung der Ladenöffnungszeiten für die In-
nenstädte – dort wollen wir mehr Attraktivität und urba-
nes Leben schaffen – letztendlich bedeutet.
Sie sehen, die Ladenöffnungszeiten sind zwar ein
wichtiges Problem, aber nur eines. Allerdings soll und
muss man sich um dieses Problem kümmern. Dabei müs-
sen aber die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt
werden. Die beiden Drucksachen der CDU/CSU und der
FDP berücksichtigen sie allerdings nicht. Von daher,
meine Damen und Herren von der Opposition, lehnen wir
Ihre Vorlagen ab.
Der verabschiedete Kabinettsentwurf beachtet das,
was ich gerade vorgetragen habe. Im neuen Jahr werden
wir ihn positiv begleiten. Dazu bedarf es – das gebe ich
hier ohne weiteres zu – auch noch einer ausführlichen
Diskussion in der SPD-Fraktion. Wir sind aber guter
Hoffnung, dass diese ausführliche Diskussion letztend-
lich dazu führen wird, dass wir auch in der SPD-Fraktion
die paar kritischen Stimmen noch auf unsere Seite ziehen.
Ich will Sie aber an dieser Stelle abschließend noch
einmal auffordern – ich habe das in aller Ausführlichkeit
vorgetragen –, mit uns über die strukturellen Probleme zu
diskutieren, um gemeinsam Lösungen für die Menschen
im Einzelhandel zu finden.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Ulrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten Monaten ist in diesem Land viel
über Deregulierung und Flexibilisierung geredet worden.
Gemeint war damit in erster Linie die Situation am Ar-
beitsmarkt; gemeint war aber auch – darum geht es heute –
die weitere Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten.
Die Opposition hat heute einen Antrag gestellt, der
vom Grundsatz her zwar in die richtige Richtung geht,
aber nach meiner Meinung und nach Meinung unserer
Fraktion eigentlich viel zu weit geht und völlig überzogen
ist. Wie immer bei solchen Ansätzen, muss man mit Au-
genmaß an diese Dinge herangehen und darf nicht mit zu
radikalen Lösungen kommen. Man sollte – das sage ich
mit Blick auf die FDP – nicht das Kind mit dem Bade aus-
schütten. Genau das machen aber die Initiativen von
CDU/CSU und FDP.
Von einer völligen Freigabe der Ladenöffnungszeiten
wären insbesondere die Klein- und Kleinstbetriebe be-
troffen. Diese haben nämlich eine ganze Reihe von Wett-
bewerbsnachteilen, insbesondere gegenüber den großen
Discountern auf der grünen Wiese, gegenüber den großen
Einkaufsmärkten. Die Großen haben alle Marktvorteile:
Sie haben die Parkplätze, sie haben die großen Margen bei
den Einkäufen, sie haben ein Marketingkonzept und alles,
was man sich vorstellen kann. Der Kleine ist da sehr, sehr
eingeschränkt. Genau darin liegt das Problem. Leider
Gottes waren eben Klein- und Kleinstbetriebe noch nie
das Lieblingskind der Opposition von CDU/CSU und
FDP, obwohl die FDP ja immer als der Lordsiegelbewah-
rer dieser Unternehmen aufgetreten ist – aber eben leider
nur verbal. Wo Sie real stehen, wird in dem Antrag deut-
lich, den Sie hier heute vorgelegt haben.
Es geht uns Grünen um einen klaren Wettbewerbsvor-
teil für die kleinen Unternehmen. Mit uns kann man ja
durchaus reden, genauso wie mit den Sozialdemokraten –
das wurde gerade gesagt.
Wir haben natürlich noch Differenzen in einigen Positio-
nen. Mit uns kann man aber durchaus noch über eine Ver-
längerung der Ladenöffnungszeiten reden. Zwischen ei-
ner Verlängerung und einer völligen Freigabe liegt aber
sehr, sehr viel.
Uns ist vor allen Dingen eine merkliche Differenzie-
rung bei den Ladenöffnungszeiten in Innenstadtbereichen
und auf der grünen Wiese sehr wichtig. Wir sprechen uns
für das so genannte City-Privileg aus. Das City-Privileg
hätte in der Tat einige Vorteile zu bieten – das sage ich
auch den Sozialdemokraten, bei denen noch ein bisschen
in eine andere Richtung gedacht wird. Das City-Privileg
würde eine merkliche Verbesserung der Wettbewerbssitua-
tion für mittlere, kleine und Kleinstbetriebe bedeuten. Es
würde vor allen Dingen auch eine Belebung der Innen-
städte bedeuten, die insbesondere im Osten, aber auch in
vielen Städten des Westens dringend notwendig ist. Es
würde eine Kombination von Kultur- und Einkaufsleben
ermöglichen. In dieser Hinsicht ist bundesweit eine Ver-
ödung erkennbar. Es gibt auch noch einen vierten Punkt:
die Gastronomie. Die Gastronomie hat seit zehn Jahren
schrittweise immer stärkere Einbußen zu verzeichnen.
Gerade die Gastronomie hätte einen großen Vorteil von ei-
nem solchen City-Privileg.
Wolfgang Grotthaus
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Hubert Ulrich
Man würde mit solch einer urbanen Lösung den Städten
insgesamt kräftig unter die Arme greifen.
Man muss einmal dagegen stellen, wie heute die Ein-
kaufskultur aussieht. Was machen wir alle denn heute
Abend, wenn wir noch länger hier reden? Wo kaufen wir
dann ein? – Wir fahren an die Tankstelle. Es stellt doch
mittlerweile eine Perversität in diesem Lande dar, dass die
Tankstelle zum Einkaufsladen geworden ist. Irgendwann
macht dann ein Supermarkt auf, klebt eine Tankstelle dran
und dann kann ich rund um die Uhr dort einkaufen. So
kann es doch letztendlich auch nicht gehen. Da muss ein-
fach eine bessere, eine klarere Regelung her.
Mit dieser Forderung nach einem City-Privileg stehen die
Grünen ja nicht allein. Der Deutsche Städte- und Ge-
meindebund ist an dieser Stelle ein Verbündeter von
Bündnis 90/Die Grünen. Auch manche Einzelhandelsver-
bände fordern genau dasselbe, zum Beispiel die BAG.
Eine Einschränkung ist natürlich an dieser Stelle wich-
tig: Was eine Citylage ist, kann nicht vom Deutschen Bun-
destag definiert werden; das ist natürlich eine Sache, die
in den Kommunen selbst entschieden werden muss. Das
sage ich auch als ehemaliger Kommunalpolitiker: Darü-
ber, wo Citylage und wo grüne Wiese ist, will ich vor Ort
schon selbst entscheiden; da weiß man es am allerbesten.
Jenseits dieser Diskussion um Ladenschlusszeiten ist
heute gerade in Zusammenhang mit Einzelhandel und
Handel über eine ganz wichtige Sache gesprochen wor-
den, nämlich über die Erweiterung des Niedriglohnsek-
tors. Ich glaube, da hat die rot-grüne Bundesregierung ein
ganz wichtiges Vorhaben auf den Weg gebracht. Es war
bereits gestern in der Zeitung zu lesen: Der Hauptverband
des Deutschen Einzelhandels rechnet allein durch die Ein-
führung dieses erweiterten Niedriglohnbereiches mit rund
100 000 neuen Jobs in Deutschlands. Natürlich sind das
insbesondere Jobs zwischen 15 und 20 Stunden pro Wo-
che, also einem Bereich, der durch die Gesetzgebung bis-
her für die Menschen nicht sehr lukrativ war. Das wird
jetzt – ich sage: zum Glück – von uns endlich wieder
geändert.
Der große Vorteil ist: Diese Einkommen gehen direkt in
den Konsum, was dem Handel insgesamt wieder auf viel-
fältige Weise nützt.
Es gibt noch eine weitere Sache, die die rot-grüne Bun-
desregierung bereits in der letzten Wahlperiode auf den
Weg gebracht hat, die auch insbesondere dem Einzelhan-
del hilft: Das ist die Anrechnung der Gewerbesteuer auf
die persönliche Einkommensteuer. Auch das stellt den
kleinen Einzelhändler besser als die Kapitalgesellschaft.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der hier immer wieder
zu kurz kommt.
Zusammen mit einer sinnvollen Liberalisierung der
Ladenöffnungszeiten hat die rot-grüne Bundesregierung
also nicht nur die Bedingungen für den Handel deutlich
verbessert; sie hat durch die Maßnahmen im Niedriglohn-
bereich auch einen Anreiz für den Konsum gegeben.
Könnte man sich jetzt auch noch auf ein City-Privileg statt
des heutigen Tankstellenprivilegs einigen, würden wir
insgesamt einen guten Schritt nach vorn kommen.
Insgesamt besteht, denke ich, eine gewisse Einigkeit.
Eine weitere Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten in
Deutschland ist sinnvoll. Allerdings – ich habe es ein-
gangs bereits gesagt – muss man es mit dem nötigen Au-
genmaß tun. Die Liberalisierung kann ein Mosaikstein
sein, um von der gedrückten Stimmung, wie wir sie lei-
der Gottes in manchen Bereichen haben, wegzukommen.
Allerdings – auch das muss man immer wieder erwäh-
nen – sind gerade die Entwurfsverfasser von der FDP, aber
auch die Antragsteller von der CDU/CSU Mitverursacher
der miesen Stimmung in diesem Land. Sie lassen nichts,
aber auch wirklich nichts aus, um die Konjunktur und um
mittlerweile auch unsere Betriebe im Lande herunterzu-
reden. Ein ganz schlimmes Beispiel war für mich die Ein-
lassung von Herrn Glos vor einigen Wochen hier, in der
er, um den Kanzler zu diffamieren, gleich ein deutsches
Handelsunternehmen, nämlich H&M, mit in seine Diffa-
mierungen einbezogen hat. Genau so sollte und darf man
es nicht machen.
Ein weiteres Beispiel war die Einlassung des Herrn
Hintze heute Morgen. Der Herr Hintze hat sich hier hin-
gestellt und den Eindruck erweckt, als seien die interna-
tionalen Ratingagenturen drauf und dran, die Topbonität
von Deutschland herunterzustufen, obwohl das keinerlei
realen Hintergrund hat. Auch als Oppositionspartei hat
man eine gewisse Verantwortung. Man muss aufpassen,
dass man aus parteitaktischen Gründen nicht das Land
insgesamt in eine Abwärtsspirale hineinredet.
Was da gemacht wurde, war fahrlässig und entbehrt jeder
Grundlage.
Von der FDPhabe ich auch nichts anderes erwartet; denn
dort fehlt mittlerweile jedes Gefühl für Verantwortung. Das
war früher einmal anders, aber unter der heutigen Führung
ist einfach nicht mehr zu erwarten. Da zählt einfach nur
noch der kurzfristige parteitaktische Erfolg. Aber bei einer
Volkspartei wie der CDU sollte man schon mehr erwarten
können. Deshalb appelliere ich von dieser Stelle auch an
Ihre Mitverantwortung für dieses Land. Ich will deshalb
einen Satz Ihres Ministerpräsidenten Peter Müller zitieren,
den er vor einigen Wochen im saarländischen Landtag an
die Opposition gerichtet hat. Er hat gesagt: „Was wir brau-
chen, sind Mitmacher und keine Miesmacher“. Ich wäre
froh, er und Sie würden genau diesem Satz folgen.
Vielen Dank.
1278
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1279
Auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlichen
Glückwunsch zur ersten Rede hier.
Jetzt hat der Abgeordnete Schauerte das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Ulrich, miese Stimmung wächst aus
Fakten und nicht aus Propagandageschwätz.
Es war der Bundeskanzler, der den Start der Bundesregie-
rung noch vor wenigen Tagen als „Kakophonie“ bezeich-
net hat. Auf die Idee wären wir gar nicht gekommen.
Die ersten Wochen, in denen Sie landauf, landab die
Folgerungen aus dem Regierungsprogramm vorgetragen
haben, waren so turbulent, dass es vielen schien, dass Sie
selbst den Überblick verloren haben. Einige von Ihnen se-
hen heute immer noch ganz schwindelig aus. So schnell
ging es rund!
Sie konnten gar nicht so schnell folgen; bis jetzt hat
sich da erst so etwas wie eine kleine Linie herausgebildet.
Dass wir als Deutsche heute da ein paar positive Ele-
mente gefunden haben, liegt daran, dass Sie einige Dinge,
die Sie vor Jahren falsch gemacht haben, wieder zurück-
genommen haben, nachdem wir Sie inständig darum ge-
beten haben. Ich nenne beispielsweise die Regelungen zu
den Minijobs und zur Scheinselbstständigkeit; ich muss
das nicht vertiefen.
– Herr Brandner, ich will nur eines noch einmal sagen:
Wir hätten es uns in den vergangenen Jahren, als wir re-
giert haben, gewünscht, eine auch nur in Ansätzen so ver-
antwortungsvolle Opposition zu haben, wie wir sie hier
heute gezeigt haben.
An der Stelle haben wir wirklich null Defizit. Es war doch
heute ein Triumph von Karl-Josef Laumann und Sie alle
haben doch gemerkt, dass er hundertprozentig Recht
hatte. Fragen Sie mal Ihre Kollegen! Die Vorwürfe kön-
nen hin und wieder berechtigt sein; in der gegenwärtigen
Situation sind sie es nicht.
DieLage im deutschen Einzelhandel ist katastrophal.
Auch da ist Regierungskunst gefragt. Es geht nicht um
das, was wir reden.
Wir haben heute Morgen mit dem HDE zusammengeses-
sen, um uns die Lage noch einmal ganz aktuell schildern
zu lassen. Die haben uns gesagt – das glaube ich gar nicht
einmal, aber ich sage es, damit Sie sehen, was sich dort für
eine Meinung herausgebildet hat aufgrund der Fakten –:
So schlecht sei es dem deutschen Einzelhandel seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr ergangen.
Ich halte das für übertrieben; das sage ich, damit wir uns
richtig verstehen. Aber die Stimmung ist so und für diese
Stimmung trägt diese Regierung die Verantwortung.
Wir haben im deutschen Einzelhandel 8 000 Pleiten
und 25 000 stille Liquidationen. Es sind die größeren Un-
ternehmen mit zehn, 15 oder 20 Verkäuferinnen und Ver-
käufern, die sterben, und nicht die ganz kleinen. Da, wo es
wirklich weh tut, findet im Moment der größte, bedauer-
liche Abbruch statt. Wir haben schrumpfende Umsätze,
sinkendes Eigenkapital und sinkende Beschäftigung. Die
Binnenkonjunktur ist in der Tat in Grund und Boden re-
giert worden. Die, die noch ein paar internationale Wirt-
schaftsbeziehungen haben, kommen noch so gerade zu-
recht. Die, die zu 100 Prozent, sozusagen lebenslänglich
auf die deutsche Binnenkonjunktur angewiesen sind, de-
nen geht es wirklich zum Gotterbarmen schlecht.
– Nein, hören Sie doch einmal zu. Wer die Wahrheit be-
schreibt, ist doch nicht der böse Prophet, sondern wer sie
beschönigt und nicht wahrhaben will, der stiftet Unheil.
Sie sind dabei, mit Schönreden Unheil zu stiften.
– Ja, ich komme noch dazu. – Es ist doch wahr. Sie haben
sich in den ersten drei Monaten nach der Erteilung des neuen
Wählerauftrags benommen wie eine Gruppe von Leuten,
die im Tunnel Angst vor plötzlichem Lichteinfall hat.
Als der Lichteinfall drohte, haben Sie entschieden: Wir
kaufen noch ein Stück Tunnel, damit es noch ein bisschen
dunkel bleibt. Genau so haben Sie doch Ihre Programme
angelegt. Also, bitte schön, das ist Ihre Verantwortung. Es
tut uns weh, dass Sie diese Art von Politik betreiben. Denn
die Menschen müssen dafür mit dem Verlust von Träu-
men, Einkommen, Wohlstand, Bildungschancen und al-
lem anderen, das damit zusammenhängt, zahlen.
Die wirklichen Probleme des Mittelstandes sind nicht
der Ladenschluss.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Hartmut Schauerte
Die wirklichen Probleme sind die Steuern, die Sie er-
höhen, die ökologischen Standards, die Sie erhöhen, die
Erreichbarkeit von Städten, die Sie zerstören, das Ar-
beitsrecht, die Bürokratie und der Ladendiebstahl, gegen
den Sie nichts unternehmen, weil die Grünen da zu viele
Freunde haben; auch da kommen wir nicht voran.
All das sind wirkliche Probleme des Mittelstandes. Die
Kommunalabgaben – das werden wir noch sehen – wer-
den in diesem Januar in einer exorbitanten Weise steigen:
Grundsteuer A, Grundsteuer B und andere Abgaben – all
das wächst explosionsartig und gefährdet wirklich Exis-
tenzen. Überall gibt es Verschlechterungen. Es ist, wie ge-
sagt, das schlechteste Jahr für den Mittelstand seit vielen
Jahrzehnten. Nirgendwo sind Befreiung oder ein Wachs-
tumspfad in Sicht.
Das erste kleine Hoffnungslicht haben wir heute ange-
steckt, und zwar mit der Art von Minijobs, die wir Ihnen
als Teil des Kompromisses abtrotzten. Sie hätten sie auf
Haushaltshilfen beschränkt. Wir haben diese Möglichkeit
auch dem Einzelhandel, dem Mittelstand und den übrigen
Wirtschaftsbereichen eröffnet. Das ist eine gute Nachricht
an dieser Stelle.
Nun will die SPD bzw. ihr Wirtschaftsminister den La-
denschluss verändern. Das hat er eindeutig angekündigt.
Er hat auch ein Modell vorgeschlagen, das wir uns ange-
sehen haben. Diese Ankündigung war Anlass für uns,
heute unsere Auffassung und unseren Ansatzpunkt darzu-
stellen. Ich sage Ihnen ganz nüchtern: Wenn Sie, wie Sie
es jetzt vorhaben, noch einmal zwei oder vier Stunden an
dieser oder jener Ecke dranhängen, dann ist keine Linie
mehr zu erkennen.
Man muss einmal gründlich überlegen, ob es wirklich
ein besonderes Problem ist, mutig zu sagen: Jetzt werden
wir großzügiger und machen es einfacher. Unser Beitrag
zu Großzügigkeit und Einfachheit ist zu sagen: an Wo-
chentagen unbegrenzt freigeben und an Sonntagen kein
Jota über die bisherige Regelung hinaus. Wir möchten den
Sonntag in besonderer Weise freihalten von solchen Ent-
wicklungen. Das ist uns ein ganz zentrales Anliegen. Aber
in allen anderen Bereichen fragen wir: Was nützt es, wenn
noch eine irgendwie geartete Grenze eingerichtet wird,
die überwacht werden muss? Könnten mehr Freiheiten
nicht wirklich auch für den Mittelstand in dem einen oder
anderen Fall eine Chance sein, seine Marktposition an
Stellen zu nutzen, wo er sie nicht könnte, wenn er in ein
Regelkorsett gesteckt wird?
Ist es nicht unsere gemeinsame Überzeugung, dass die
Kleinen bei Freizügigkeit größere Chancen haben als die
Großen?
Denn die Großen können trotz vorhandener Reglementie-
rungen ihre Macht und Organisationsstärke einsetzen und
ihre Monopole beliebig ausweiten.
Die Kleinen aber sind auf Geschwindigkeit bzw. Schnel-
ligkeit und auf Vielfalt angewiesen. Wenn sie diese bieten
können, dann werden sie gegenüber allen Großen einen
Vorteil haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass Karstadt
an bestimmten Totalfreiheiten gar kein Interesse hat. Aber
ich kann mir auch gut vorstellen, dass der eine oder an-
dere kleine Einzelhändler genau darin eine Chance sieht
und er nicht erst, um diese Chance wahrnehmen zu kön-
nen, eine Genehmigung beantragen möchte.
– Ich spreche mit den Einzelhändlern und mit den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern im Einzelhandel.
Ich komme zu meinem nächsten Punkt. Was ist das ei-
gentlich wieder für ein Misstrauen, das bei Ihnen wächst?
Schauen Sie sich doch die Erfahrungen, die wir mit der
letzten Öffnung der Ladenschlusszeiten gemacht haben,
an. Die erste Bemerkung, die ich dazu machen möchte, ist
folgende: All das, was damals im Zusammenhang mit der
Öffnung der Ladenschlusszeiten versprochen wurde, ist
im Prinzip nicht bzw. nicht nachweisbar eingetreten.
Weder die Zahl der Arbeitsplätze noch die Umsätze sind
gestiegen. All dies ist nicht eingetreten. Uns liegen keine
positiven Belege vor, die dies zeigen würden.
Das muss man ganz nüchtern sehen. Deswegen würde ich
in dieser Debatte auch keine falschen Versprechungen
machen wollen nach dem Motto: Wenn wir das jetzt ma-
chen, dann geht es uns gut.
Nein, wir führen diese Debatte jetzt aus der Sicht des Mit-
telstandes.
Aus Sicht der Verbraucher stellen sich andere Fra-
gen. Diese zeigen nämlich eine etwas größere Nähe zu
den beabsichtigten Veränderungen der Öffnungszeiten,
sind aber auch nicht zu 100 Prozent einverstanden. Wenn
Sie sich die Ergebnisse der entsprechenden Befragungen
anschauen, werden Sie feststellen, dass sich die Meinun-
gen die Waage halten: Der eine Teil sagt, dass er bei einer
Öffnung der Ladenschlusszeiten länger einkaufen könne.
Der andere Teil sagt, dass ihm die Veränderungen völlig
egal seien, da er auch ohne sie bestens zurechtkomme.
Diese Ergebnisse sind also nicht eindeutig.
Aber jetzt hat die Regierung vorgeschlagen, die La-
denöffnungszeiten zu verändern. Weil ihr an Liberalisie-
rung und Modernisierung unseres Landes sonst nichts ge-
lingt, probiert sie das jetzt an einem relativ untauglichen
1280
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1281
Objekt. Aber mit dem, was sie jetzt vorträgt und vor-
schlägt, wird die Grenze überschritten, bei der man sich
fragen muss: Warum soll man überhaupt noch an irgend-
welchen Regelungen festhalten? Denn die Menschen wer-
den sich ganz vernünftig verhalten. Die Ergebnisse zeigen
das.
In der Vergangenheit sind die Ladenöffnungszeiten bis
20 Uhr nicht ausgenutzt worden. 19 Uhr scheint eine
Grenze darzustellen. All das organisiert sich, ohne zu Pro-
blemen, zu Streit oder zu Gerichtsauseinandersetzungen
zu führen. Es läuft.
Wenn man die Ladenöffnungszeiten nun für den einen
oder anderen Fall noch ausweitet, werden die Verbraucher
dies entweder goutieren oder es nicht schätzen und nicht
in Anspruch nehmen. Im ersten Fall wird der Kaufmann
sagen: Ich kann und möchte hier ein gutes Geschäft ma-
chen. Im zweiten Fall wird der Kaufmann diesen Unsinn
so schnell wie möglich wieder lassen, weil er nur Kosten
produziert und keine Erträge generiert. Das ist doch eine
ganz einfache Betrachtung.
Wo ist das Problem? – Sie sind Gefangene der Gewerk-
schaften.
Das ist wie immer Ihr Problem. Sie wollen das jetzt nur
nicht zugeben und verstecken sich über weite Strecken
hinter dem Mittelstand.
Also, wir von der Union meinen: Lediglich der Sonn-
tag soll eindeutig, und zwar bundeseinheitlich, nicht län-
derspezifisch geregelt werden.
– Nein, wir sind der Meinung, diese Regelung sollte in
bundesgesetzlicher Zuständigkeit bleiben.
– Herr Brandner, die einen wollen am Sonntag in das Fuß-
ballstadion und die anderen in die Kirche. Mir ist das Mo-
tiv ganz egal. Ich möchte dem Sonntag den höchstmögli-
chen gesetzlichen Schutz angedeihen lassen. In diesem
Punkt unterscheiden wir uns. Denn Sie haben ja mit dem
Schutz des Sonntags kein Problem.
Wir wollen den Sonntag ganz konsequent schützen. Aber
zusätzliche Grenzen halten wir für nicht notwendig, weil
sich Veränderungen sehr vernünftig, moderat und ohne
besondere Belastungen einpendeln werden.
Herr Staatssekretär, ich möchte für das Gesetzge-
bungsverfahren eine weitere Anregung geben. Ich denke,
dass die Menschen das in der einen oder anderen Ortslage
miteinander verabreden können. Die Stichworte sind
Citymarketing bzw. Stadtmarketing. Dies stößt aber an
kartellrechtliche Grenzen. Es besteht nämlich die fol-
gende etwas absurde Situation: Das Gesetz dürfte alles,
was an Abstimmung nötig ist, erlauben, indem es das ver-
ordnet. Wenn aber ein Einzelhandelsverband das, was das
Gesetz sonst vorsieht, mit den ihm angehörenden Kauf-
leuten beschließen wollte, bestünde ein Kartellproblem.
Lassen Sie uns bitte sehr früh daran arbeiten, dieses Kar-
tellproblem zu beseitigen. Denn ich möchte auch im Inte-
resse der Verbraucher, dass die Einzelhändler eines Markt-
gebietes Entscheidungen treffen können, was für sie
vernünftig ist. Solche Entscheidungen wären natürlich
nicht zwingend; aber bei der Kartellbetrachtung kommt
es ja nicht auf den Zwang an, sondern auf die Tatsache,
dass überhaupt eine Verabredung getroffen ist. Ich möchte
diese Verabredungen kartellfrei sehen. Sie müssen er-
möglicht werden, damit eine Selbstorganisation erfolgen
kann.
Eine dritte Bemerkung, die mir wichtig ist.
Aber Sie achten bitte auf die Zeit.
Ja. – Wir halten es in dieser Situation nicht mehr für
hilfreich, zwischen zentralen Lagen und Randlagen zu
unterscheiden. Wir glauben, dass eine Regulierung da
eher schädlich denn nützlich ist. Wir möchten nicht wie-
der künstliche Grenzen in den Siedlungsgebieten haben.
Sonst kommen wir wieder in Grenzbereiche mit Überwa-
chung, Kontrolle und Bürokratieverfahren, die nicht hilf-
reich sind.
Der Mittelstand hat es schwer genug. Dieses Gesetz
wird ihm nicht besonders helfen. Aber wir sind sicher,
dass es ihm auch nicht schaden wird, und es gibt mehr
Freiheit. Deswegen sind wir dafür.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Jella Teuchner.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Eines ist heute ganz klar geworden: Der Laden-
schluss und die Diskussion darüber sind zu einem Sym-
bolthema geworden. Wenn man sich diese Debatten
anhört, dann könnte man glauben, dass Gesellschaftspoli-
tik einzig und allein mit dem Ladenschlussgesetz gemacht
werde. Das ist bei ihrer Rede, lieber Kollege Schauerte,
besonders deutlich geworden.
Wir sollten doch die Kirche im Dorf lassen und uns ein-
mal genau anschauen, welche Wirkungen Änderungen
beim Ladenschluss haben und welche dabei bloßes
Wunschdenken sind.
Hartmut Schauerte
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Jella Teuchner
Ein Teil der Verbraucher fühlt sich durch die bestehen-
den Ladenschlusszeiten eingeschränkt. Das nehmen wir
ernst. Wir müssen allerdings auch die Erfahrungen ernst
nehmen, die wir mit der Ausweitung der Ladenöffnungs-
zeiten 1996 gemacht haben.
Die längeren Ladenöffnungszeiten werden von einem
großen Teil der Kunden vor allem am Donnerstag und am
Freitag angenommen, jedoch nur von einem kleinen Teil
der Unternehmen. Große Einzelhandelsgeschäfte sowie
die Geschäfte in Einkaufszentren und begünstigten Lagen
haben länger geöffnet und konnten für sich ein Umsatz-
plus realisieren. Es ist nicht der internationale Wettbe-
werb, sondern der Wettbewerb zwischen den Einzel-
handelsunternehmen hier bei uns, dem die Unternehmer
ausgesetzt sind.
In Ihrem Antrag schreiben Sie, die Aufhebung der La-
denschlussbestimmungen sei eine Chance für die kleinen
und mittleren Einzelhändler, sich gegen die großen
Märkte auf der grünen Wiese durchzusetzen. Es sind aber
gerade die Vertreter großer Einzelhandelsketten, die sich
positiv zu einer Änderung bei den Öffnungszeiten äußern.
Dies verwundert nicht, da das Ifo-Institut schreibt, dass
die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten den Struktur-
wandel zulasten der kleinen und inhabergeführten Ein-
zelhandelsunternehmen an isolierten Standorten ver-
stärkt. Vor diesem Hintergrund ist Ihre Schlussfolgerung
überhaupt nicht nachvollziehbar.
Sie hoffen auf den Erhalt von bestehenden Arbeitsplät-
zen und die Schaffung neuer, flexibler Arbeitsverhält-
nisse. Auch hierzu gibt es Erfahrungen. Die Sozialfor-
schungsstelle Dortmund hat festgestellt, dass nach der
Ausweitung der Ladenöffnungszeiten 1996 die Zahl der
Beschäftigten und das Arbeitsvolumen gesunken sind.
Zum Teil wurden Vollarbeitskräfte durch geringfügig Be-
schäftigte ersetzt. Die Arbeitsbedingungen haben sich
zum Teil verschlechtert. So erfahren 38 Prozent der Be-
schäftigten weniger als vier Tage vorher, wann sie arbeiten
müssen. Auch diese Ergebnisse lassen sich nicht lapidar
mit dem Hinweis wegschieben, auch andere Beschäftigte
hätten flexible Arbeitszeiten.
Herr Schauerte, wenn es für Sie nur ein Verschiebe-
bahnhof ist und keine Auswirkungen festzustellen oder zu
erwarten sind, worüber reden wir denn dann? Dann ist
es – auch vor dem Hintergrund der Dinge, die wir schon
im Vorfeld besprochen hatten – doch wirklich nur ein
Schaufensterantrag.
Aber lassen Sie uns doch die Diskussionen dazu sachlich
führen und vor allem auf die gesamte Schönfärberei ver-
zichten.
Ein Teil der Kunden sieht in längeren Ladenöff-
nungszeiten die Möglichkeit, die Einkäufe stressfreier
zu gestalten. Wir sehen allerdings auch, dass durch eine
Freigabe der Ladenöffnungszeiten die vom Ifo-Institut
und von der Sozialforschungsstelle Dortmund beschrie-
benen Entwicklungen verstärkt werden. Die Folgen
könnten auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher
negativ sein, nämlich weniger wohnortnahe Einkaufs-
möglichkeiten und vor allem weniger qualifizierte Be-
ratung.
Die Bundesregierung hat deshalb vorgeschlagen, die
Läden nur am Samstag länger zu öffnen. Sie hat damit
eine Möglichkeit aufgezeigt, die sowohl den Verbrau-
chern als auch den kleinen Einzelhandelsunternehmen
und den Beschäftigten entgegenkommen kann. Über die-
sen Vorschlag sollten wir gemeinsam diskutieren. Wir
sollten schönfärberische Begründungen für eine Abschaf-
fung des Ladenschlussgesetzes nicht mehr bringen, weil
sie uns an dieser Stelle mit Sicherheit nicht weiterbringen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Straubinger.
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir debattieren heute über das Ladenschlussgesetz
und über seine Abschaffung. Natürlich sollten wir dabei
die verschiedensten Bereiche mit beleuchten. Es stellt
sich die Frage: Gibt es in einer Gesellschaft, in der sehr
viel Flexibilität verlangt wird, überhaupt noch Platz für
ein solches Gesetz? Ich glaube, in den Begründungen zu
den Anträgen von FDP und Union wird dargelegt, dass
das Ladenschlussgesetz abgeschafft gehört,
weil sich die Lebensverhältnisse der Menschen geändert
haben, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher, die ja
normalerweise von den Sprecherinnen der SPD hoch ge-
schätzt sind,
andere Bedürfnisse entwickelt haben und weil sich natür-
lich auch das Einkaufsverhalten der Menschen verän-
dert hat. Die Arbeitswelt hat sich insgesamt verändert, wir
haben mehr Freizeit und natürlich sind auch die neuen
Einkaufsbedingungen für die Menschen zu beachten.
In diesem Umfeld sind auch unsere Einzelhändler ge-
fordert. Man soll die Einzelhändler nicht mit Zeitvorga-
ben strangulieren, sondern sie im Gegenteil davon be-
freien. Die Händler sollen letztendlich entscheiden, wann
sie ihre Geschäfte öffnen und wann sie sie wieder
schließen.
weil ich glaube, dass man damit der Wirklichkeit eher ge-
recht wird.
Vor allen Dingen können die betriebswirtschaftlichen
Entscheidungen in den Betrieben richtig und besser auf
die unterschiedlichen Bedürfnisse, auf die Geschäftslagen
und natürlich auch auf die Kundenfrequenz abgestellt
werden.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1283
Ich kann aus dem praktischen Leben eines Einzel-
händlers berichten, weil meine Tante Einzelhändlerin
war.
Sie hat in der Vergangenheit das Ladenschlussgesetz im-
mer missachtet. Warum hat sie es missachtet? – Weil Kun-
den bereits um halb sechs Uhr in der Früh gekommen
sind, um Milch, frische Semmeln, frische Brezen und an-
dere Dinge für den Lebensbedarf zu holen.
Das ist die Lebenswirklichkeit draußen. Wenn ein Kunde
doch noch schnell einen Einkauf tätigen wollte, obwohl
der Laden einmal geschlossen war, wurde das auch erle-
digt. Das war die Wirklichkeit, verehrte Damen und Her-
ren.
In der Vergangenheit wurde die Einhaltung des Laden-
schlussgesetzes vielleicht nicht immer beachtet, aber man
ist den Bedürfnissen der Menschen wesentlich näher ge-
kommen.
Deshalb greift der Gesetzentwurf der Bundesregierung
– Staatssekretär Andres wird ihn sicherlich nachher dar-
stellen – zu kurz. Vier Stunden längere Ladenöffnungszeit
in der Woche sind die große Reform der SPD in puncto
Ladenschluss.
Ich habe oft den Eindruck: Hier hat die Aussage des
SPD-Fraktionsführers Müntefering die Hand geführt, der
die Menschen zum Konsumverzicht aufgerufen hat; die
Menschen sollten ihr Geld lieber als Steuern bei der Bun-
desregierung abliefern, weil ihr Geld dort besser aufge-
hoben wäre.
Ich glaube, es ist besser, den Handel frei entscheiden zu
lassen, wann die Geschäfte geöffnet werden. Das bedeu-
tet nicht – darauf muss hingewiesen werden –, dass die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Geschäften
überdimensionierten Belastungen ausgesetzt werden.
Schon heute sind die Ladenöffnungszeiten länger als die
Arbeitszeiten der Beschäftigten.Das kann man auch re-
geln.
Ich habe deshalb kein Verständnis dafür, dass zum Bei-
spiel die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sofort gegen
den Beschluss der Bundesregierung polemisiert hat,
weil die längeren Öffnungszeiten angeblich eine zu große
Last für die Verkäuferinnen und Verkäufer darstellen wür-
den.
Ich glaube, wenn Verdi nicht richtige Rahmenver-
träge mit den Arbeitgebern abschließen kann, sollte sie
sich einmal Tarifverhandler von der IG Metall ausleihen,
vielleicht im Leiharbeiterverhältnis. Diese könnten not-
wendige Instrumente liefern, weil es in der Metallindus-
trie gang und gäbe ist, rund um die Uhr zu arbeiten. Ich
weiß vom Automobilbetrieb in Dingolfing, dass dort rund
um die Uhr gearbeitet wird.
Das ist jedoch nicht die Zielstellung für den Einzel-
handel, aber in einzelnen Bereichen ist das heute schon
Fakt. Denken Sie zum Beispiel an die Autobahntankstel-
len und ihre angegliederten Shops, die Tag und Nacht
geöffnet haben.
Ich kann mir natürlich vorstellen, dass es im Sinne der
Grünen wäre, die Tankstellen zu schließen, aber wir wol-
len das beileibe nicht, werte Damen und Herren.
Ich habe eingangs schon gesagt, dass die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher neue Verkaufselemente wün-
schen. Dies kam auch in einem Bürgerentscheid in
Ingolstadt in Bayern zum Ausdruck. Am letzten Sonntag
gab es dort den Bürgerentscheid über die neue Verkaufs-
form Factory Outlet Center. Die Bürgerinnen und Bür-
ger haben mit über 70 Prozent für diese neue Form des
Verkaufs gestimmt.
Ich teile diese Vorstellung als Zukunftsmodell nicht un-
bedingt,
aber es zeigt sehr deutlich, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher neue Verkaufsformen haben wollen.
Es ist übertrieben zu sagen, dass dabei die kleinen Ge-
schäfte keine Zukunft mehr hätten. Gerade die kleinen
Geschäfte sind bereit und in der Lage, auf Nischenberei-
che besser zu reagieren. Dies müssen wir mit einer guten
Politik untermauern. Dabei sind auch die Kommunen ge-
fordert.
Wenn vielfältiges Lädensterben in den Innenbereichen
insbesondere kleiner Städte beklagt wird, so muss man
auch erkennen, dass dazu möglicherweise manche Bau-
leitplanung der Kommune einen größeren Beitrag leis-
tet als die Ladenöffnungszeiten.
Die Kommunen sind gefordert, das Auto nicht zu ver-
treiben; denn die Bürgerinnen und Bürger wollen mit
ihrem Auto vor das Geschäft fahren. Das gehört leider
Gottes zum Einkaufen dazu und wir wollen die Menschen
nicht umerziehen. Unter diesen Gesichtspunkten müssen
Max Straubinger
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Max Straubinger
wir die Verantwortung der Kommunen sehen. Ich fordere
sie auf, eine verantwortungsvolle Bauleitplanung vorzu-
geben.
Ich glaube aber, entscheidend für höhere Umsätze und
zukunftssicherere Läden ist, dass die Kunden die dafür
notwendige Kaufkraft haben.
Die notwendige Kaufkraft erzeugt man nicht durch über-
triebene Lohnforderungen, denen möglicherweise nicht
entsprochen werden kann, sondern mit Stabilität bei den
Inflationsraten – diese ist bei uns Gott sei Dank niedrig –
und vor allen Dingen bei Abgaben und Steuern. Hierin
liegt letztendlich die Kernursache dafür, dass die Umsätze
beim Einzelhandel nicht steigen, sondern schrumpfen. Sie
schrumpfen aufgrund der Belastungen durch die Öko-
steuer, aufgrund der steigenden Beiträge zu Kranken-,
Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie in vielen an-
deren Bereichen. Hier wird die Kaufkraft abgeschöpft, die
hinterher für den Konsum nicht mehr vorhanden ist.
Deshalb plädieren wir für eine bessere Wirtschaftspo-
litik, für eine zukunftsfähige und moderne Gestaltung der
Arbeitswelt. Dazu gehört auch die heute hier in diesem
Hohen Hause beschlossene Lockerung im Minijob- und
Niedriglohnbereich. Dadurch können vor allen Dingen
die Bürgerinnen und Bürger, die fleißig sind, auch zukünf-
tig weitere Arbeitsstellen annehmen. Dies bedeutet mehr
Konsum und wird dadurch den Einzelhandel stärken.
Unter diesem Gesichtspunkt plädieren wir dafür, dass
sich die Bundesregierung einen Ruck für mehr Freiheit
für die Einzelhandelgeschäfte gibt, dass sie sich einen
Ruck gibt, den Arbeitsmarkt nicht noch zusätzlich zu
strangulieren, und dass sie sich einen Ruck dahin gehend
gibt, dass die Bürgerinnen und Bürger jetzt von zusätzli-
chen Steuern und Belastungen befreit werden. Ich glaube,
damit können wir für unseren Einzelhandel wesentlich
mehr leisten.
In diesem Sinne ist es wichtig und entscheidend, dass
wir Unterstützung bekommen und wir dies zusammen –
vielleicht wie bei dem heute in diesem Hohen Hause ver-
abschiedeten Gesetz zu den Mini-Jobs – ausführlich dis-
kutieren und dass die Bundesregierung die Anträge von
CDU/CSU oder auch der FDP beherzigt und diese auch
umsetzt. Es ist wichtig, dass sie nicht auf die Blockierer in
den eigenen Reihen setzt, die von den Gewerkschaften oder
aus anderen Bereichen kommen, sondern für ein modernes
Land, für ein modernes Deutschland und damit auch für
moderne Ladenöffnungszeiten eintritt. Diese sollten in der
Eigenverantwortung der Ladenbesitzer stehen und nicht
durch eine gesetzliche Vorgabe bestimmt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Herr Staatssekretär Andres.
G
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was ich in den Debattenbeiträgen besonders
spannend fand, waren die nachdenklichen Töne. Ich will
ausdrücklich sagen, dass ich diese nachdenklichen Töne
wahrgenommen habe. Derjenige, der diesem Hause län-
ger angehört und die politische Debatte um dieses Thema
verfolgt hat, der weiß, dass die Ladenschlussdebatte häu-
fig mit einer unglaublichen Symbolik befrachtet wurde.
Herr Schauerte, Sie haben völlig Recht: Wer sich zum
Beispiel an die Debatten von 1996 erinnert, stellt fest:
Was sind damals nicht alles für Wunder versprochen wor-
den! Wenn der Ladenschluss geändert wird, ist die ganze
Krise im Einzelhandel behoben.
Alle, die hier sitzen, wissen: Das ist Unsinn.
Wer sich die Lage im Einzelhandel anschaut, wird fest-
stellen, dass wir es in den letzten Jahrzehnten mit einem
unglaublichen Konzentrationsprozess zu tun haben,
dass wir einen unglaublich scharfen Wettbewerb haben,
dass viele kleine und mittlere Unternehmen in diesem
Sektor sterben. Wenn hier irgendjemand glaubt, dass man
durch die Aufhebung des Ladenschlusses und das Ein-
bringen irgendwelcher Showanträge diese Situation ver-
ändert, dann möge er bitte aufstehen und dies inhaltlich
noch einmal begründen.
Der Präsident des Hauptverbandes des Deutschen Ein-
zelhandels, Hermann Franzen, hat gefordert:
Jetzt muss endlich Schluss sein mit der Diskussion
über weitere Vorschläge für eine Ladenschlussre-
form. Wir brauchen die Änderung des Ladenschluss-
gesetzes möglichst schnell, aber keineswegs noch
mehr lange Debatten über Vorschläge, die sich dann
auch noch gegenseitig blockieren.
Das kann man einer Mitteilung des HDE vom 11. De-
zember 2002 entnehmen.
Frau Kopp, ich kann Sie beruhigen. Ich sage hier aus-
drücklich, auch für meinen Minister und für diese Bun-
desregierung: Wir werden uns in unserer Absicht, zu ent-
bürokratisieren, unsinnige Regelungen aufzuheben und
bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnissen zu folgen,
überhaupt nicht beirren lassen.
Es ist doch völlig klar – auch darüber muss man gar
nicht lange reden –, dass es ein verändertes Konsumen-
tenverhalten gibt und dass sich diese Änderung beson-
ders im Verhalten am Sonnabend ausdrückt, weil dann
Zeit besteht, einkaufen zu gehen. Einkaufen hat längst
eine ganz andere Funktion als nur die der Bedarfs-
deckung. Dabei geht es um eine Kombination aus Freizeit
und Wohlfühlen. Die Menschen verbinden das Einkaufen
mittlerweile mit einem anderen Lebensgefühl und einer
1284
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1285
anderen Art und Weise des Umgangs miteinander. Ich
finde, dem muss man Rechnung tragen.
Das muss man aber nicht, indem man – ich wiederhole
das ausdrücklich – irgendwelche Fensteranträge oder ei-
nen schicken Gesetzentwurf mit zwei Paragraphen ein-
bringt. Ich kann Ihnen nur sagen: Herzlichen Glück-
wunsch! Sie sollten sich das Ladenschlussgesetz einmal
anschauen.
Ich möchte jetzt gern auf einzelne Punkte zu sprechen
kommen.
Könnte die Kollegin Kopp noch eine Zwischenfrage
stellen?
G
Nein, das möchte ich nicht.
Herr Schauerte, ich gebe Ihnen, was die kartell-
rechtlichen Probleme angeht, ausdrücklich Recht. Wir
haben diese Probleme geprüft und man muss sich mit ih-
nen auseinander setzen. Ich sage Ihnen: Die Bundesre-
gierung hat gehandelt. Der Bundeskanzler, Gerhard
Schröder, hat am 4. Dezember 2002 erklärt, dass die
gesetzlichen Ladenöffnungszeiten an Samstagen bis
20 Uhr verlängert werden sollen. Der Einzelhandel kann
dann an allen Werktagen von Montag bis Samstag im
Zeitraum von 6 bis 20 Uhr öffnen. Wir ermöglichen da-
mit eine zeitgemäße und bedarfsorientierte Öffnung der
Läden.
Seit der Änderung des Ladenschlussgesetzes 1996 hat
der Samstag im Käuferverhalten deutlich an Bedeutung
gewonnen. Am Samstag hat man Zeit zum stressfreien
Einkaufen und kann das mit anderen Freizeitaktivitäten
verbinden. Die Ausweitung der gesetzlichen Ladenöff-
nungszeiten am Samstag trägt diesem veränderten Käu-
ferverhalten Rechnung.
Der Gesetzentwurf entspricht auch einer der Hauptfor-
derungen des HDE nach einer schnellen wirksamen Re-
form, die dem Einzelhandel unmittelbar hilft: ein Sofort-
hilfeprogramm zur Belebung der Konsumnachfrage.
Wir erhalten den Ladenschluss an den übrigen Werktagen
und schützen den Sonntag ganz ausdrücklich weiterhin
als Ruhetag. Die Bundesregierung ist sich mit nahezu al-
len Beteiligten, Einzelhandel, Kirchen, Gewerkschaften
und der Mehrheit der Bevölkerung, einig – auch die Aus-
sagen der Opposition, die ich hier gehört habe, gehen in
diese Richtung –, dass insbesondere die verfassungs-
rechtlich geschützte Sonn- und Feiertagsruhe nicht an-
getastet werden darf.
Das Ladenschlussgesetz enthält klare einheitliche Re-
gelungen, die sonn- und feiertags nur einen sehr einge-
schränkten Verkauf erlauben. Dagegen hätte der FDP-Ge-
setzentwurf zur Konsequenz, dass die Ladenöffnung an
Sonn- und Feiertagen durch Landesrecht geregelt würde.
Die Folgen wären doch für alle klar: Das Recht würde wei-
ter zersplittert und der Sonn- und Feiertagsschutz würde
ausgehöhlt.
– Entschuldigen Sie, Frau Kollegin. Ich will das jetzt nicht
weiter ausführen. Mit Ihrem schlichten Hinweis auf das
Grundgesetz kommen Sie da nicht viel weiter. Lassen Sie
sich das einfach so sagen!
Wir heben die Pflicht zur Schließung an Samstagen um
14 Uhr vor verkaufsoffenen Sonn- und Feiertagen auf.
Wir halten diese Regelung für schwierig. Es war den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern bisher überhaupt nicht
zu vermitteln, dass bei bestimmten Anlässen zwar ein
Sonntagsverkauf genehmigt wird, dass sie aber am vor-
hergehenden Samstag ab 14 Uhr vor verschlossenen
Türen stehen müssen. Diese unsinnige Regelung werden
wir in diesem Zusammenhang mit aufheben.
Es ist mir wichtig, ein Weiteres zu betonen: Mit dem
Gesetzentwurf haben wir gleichzeitig die Vorschriften des
Ladenschlussgesetzes unter dem Gesichtspunkt der Ver-
einfachung und Modernisierung überprüft. Zehn weitere
Regelungen werden aufgehoben. Beispielsweise werden
die Regelungen für Warenautomaten und für Friseurbe-
triebe aus dem Ladenschlussgesetz gestrichen – Frau Kol-
legin Kopp, Ihre einleitende Bemerkung über das Haa-
refärben habe ich – das muss ich einfach sagen – als
dümmlich empfunden.
Darum geht es überhaupt nicht. – Die Notwendigkeit für
solche Regelungen ist nicht mehr erkennbar. Wir ent-
bürokratisieren das Gesetz damit erheblich.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine
maßvolle Anpassung der Ladenöffnungszeiten an verän-
derte Verbrauchergewohnheiten. Ich bin davon über-
zeugt: Die Neuregelung wird einen positiven Impuls für
privaten Konsum geben, Innenstädte beleben und damit
Restaurants, Eisdielen und anderen Gewerbebetrieben,
die nicht zum Einzelhandel gehören, zu mehr Umsatz ver-
helfen.
Das alles realisieren wir, ohne, wie dies der Antrag der
FDP will, wohl begründete Schutzrechte aufzuheben.
Andere Redner haben hier schon deutlich gemacht, dass
das Ladenschlussgesetz natürlich auch Arbeitnehmer-
schutz beinhaltet und dass das Ladenschlussgesetz eine
Interessenbalance zwischen denjenigen, die im Einzel-
handel, insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben,
tätig sind, und dem, was die Beschäftigten in diesem Sek-
tor an Schutzrechten benötigen, herstellen soll.
Wir glauben, dass der Vorschlag, den die Bundesregie-
rung gemacht hat, vernünftig ist. Wir haben heute das Ge-
setz zwar nicht diskutiert – ich habe nur die Eckdaten vor-
gestellt –, aber ich verspreche Ihnen, dass wir im Januar
ausführlich darüber reden werden, dass wir es ruhig und
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
sachlich über die Bühne bringen werden und dass wir da-
mit dem Einzelhandel und dessen Beschäftigten helfen
und entsprechende Vorschläge durchsetzen werden.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention zum gesamten Debattenver-
lauf erhält der Kollege Hinsken das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Ich bin dankbar, dass ich nach
dieser heutigen ersten Beratung zur Aufhebung des La-
denschlussgesetzes eine Kurzintervention abgeben kann.
Zusammen mit meinem Kollegen Hartwig Fischer
möchte ich erklären, dass ich nicht die Forderung ver-
schiedener Redner teile, dass die Ladenöffnungszeiten für
die Zeit von Montag bis Samstag freigegeben werden sol-
len. Unser Abstimmungsverhalten bei der dritten Le-
sung werden wir von weiteren Beratungen in der Fraktion,
in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und von
Stellungnahmen verschiedener betroffener Verbände und
Organisationen über die Auswirkungen abhängig ma-
chen.
Das wollte ich besonders deswegen erklären, weil hier
von verschiedenen Seiten diese totale Freigabe gefordert
wurde
und wir in unserer Meinungsbildung noch nicht so weit
sind, dass wir diesbezügliche Anträge mittragen könnten.
Ich danke Ihnen, dass ich das für das Protokoll sagen
konnte.
Vielen Dank. Damit ist das auf diesem Weg zu Proto-
koll gegeben.
Jetzt folgt die Kurzintervention des Kollegen
Schauerte. Sie bezieht sich auf eine Bemerkung des Kol-
legen Andres.
Herr Kollege Andres, Sie haben die Presseerklärung
von Herrn Franzen vom 11. Dezember zitiert. Ich darf
darauf hinweisen, dass er auch sagt, wir bräuchten die Än-
derung des Ladenschlussgesetzes möglichst schnell und
bräuchten keineswegs noch mehr lange Debatten über Vor-
schläge, die sich gegenseitig blockieren. Eine Blockade ist
bei unserem Vorschlag in keiner Weise erforderlich,
es sei denn, Sie wollten dadurch später entscheiden.
Sie können unserer Linie folgen oder Ihre Linie durchset-
zen. Ein Zeitverlust ist damit nicht verbunden.
Ich habe mich deswegen gemeldet, um darauf hinzu-
weisen, dass ein anderer Vorgang die Zeit sehr ausdehnt.
Ich höre, Sie wollen dieses Gesetz erst zum 1. Juni des
nächsten Jahres in Kraft treten lassen. Das beschwert den
Handel sehr. Er fragt sich, warum das erst so spät gesche-
hen soll. Er hat den Eindruck, dass das nur geschieht, da-
mit die Gewerkschaften genügend Zeit finden, um ihre
Forderungen rechtzeitig für die dann beginnenden Ta-
rifauseinandersetzungen zu entwickeln. Wenn Sie also auf
Tempo drängen, dann laden wir Sie dazu ein, dieses Ge-
setz zum 1. April in Kraft treten zu lassen, entweder mit
unserer Linie oder mit Ihrer. Wenn Sie die Mehrheit für
Ihre Linie haben, dann werden wir uns geschlagen geben.
Das kennen wir mittlerweile.
Auch Frau Kopp möchte eine Kurzintervention geben.
Ich bin großzügig und lasse sie zu.
Herr Kollege Andres, bitte antworten Sie auf beide
Kurzinterventionen zusammen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
Sie haben eben die Stellungnahme zitiert, von der auch
Herr Schauerte sprach. Um dies zu vervollständigen,
möchte ich Ihnen und dem Kollegen der SPD die Stel-
lungnahme des HDE von gestern zur Kenntnis geben, in
der es heißt:
Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels
sieht in dem von der Bundesregierung vorgelegten
Gesetzesvorschlag, die Ladenöffnungszeiten sams-
tags auf 20.00 Uhr auszuweiten, einen ersten und
wichtigen Schritt in Richtung vollständige Freigabe
der Ladenöffnungszeiten.
Es ist also nicht richtig, dass sich der HDE gegen eine
vollständige Freigabe von Ladenöffnungszeiten richtet.
Ich bitte Sie, das in den Debatten nicht immer wieder
falsch darzustellen.
Vielen Dank.
Herr Staatssekretär Andres, Sie können jetzt auf beide
Kurzinterventionen zusammen antworten.
G
Ich will zunächst sagen: Die Äußerung von Herrn
Franzen, die ich zitiert habe, trägt nicht zufällig das Da-
1286
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1287
tum 11. Dezember. Er bezog sich damit nämlich genau
und ausdrücklich auf die Beschlusslage des Kabinetts,
also auf unseren Gesetzentwurf und nicht auf Ihren An-
trag. Das ist Punkt Nummer eins.
Punkt Nummer zwei ist, Herr Schauerte: Ich gehe im-
mer davon aus, dass der Gesetzgeber das Datum des In-
Kraft-Tretens von Gesetzen festlegt. Ich kann hier nur
zum Ausdruck bringen, dass die Bundesregierung bzw.
mein Minister ein massives Interesse daran hat, dass diese
gesetzliche Regelung so schnell wie möglich wirksam
wird. Daran werden wir arbeiten. Darüber muss aber dis-
kutiert werden. Denn das legt nicht die Bundesregierung
fest, sondern der Gesetzgeber.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/193 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf
auf Drucksache 15/106 soll an dieselben Ausschüsse wie
die Vorlage auf Drucksache 15/193 überwiesen werden.
Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Einbeziehung beurlaubter Beamter in die kapi-
talgedeckte Altersversorgung
– Drucksache 15/97 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Ersten Gesetzes zur Korrektur des Ver-
sorgungsänderungsgesetzes 2001
– Drucksache 15/45 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses
– Drucksache 15/214 –
Berichterstattung:
Horst Schild
Heinz Seiffert
– Drucksache 15/232 –
Berichterstattung:
Steffen Kampeter
Walter Schöler
Antje Hermenau
Dr. Günter Rexrodt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Wider-
spruch? – Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle
Fraktionen dieses Hauses sind sich einig: Eine weitere
Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern soll
in den Kreis der Förderberechtigten der Riester-Rente ein-
bezogen werden. Auch die circa 40 000 zusätzlichen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter, ehemalige Beamtinnen und
Beamte bei Post und Bahn, die beurlaubt sind und deren
Beurlaubungszeiten ruhegehaltsfähig sind, die in ihrer
neuen Tätigkeit als Angestellte in privaten Firmen von der
Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung be-
freit sind und die uns sozusagen durch die Lappen gegan-
gen sind, sollen zukünftig in den Genuss der staatlichen
Förderung im Rahmen der kapitalgedeckten privaten oder
betrieblichen Altersversorgung kommen.
Wir freuen uns über die Wertschätzung, die darin zum
Ausdruck kommt, dass alle Fraktionen dieses Hauses,
auch die, von denen in der Vergangenheit bzw. vor der
Bundestagswahl noch Meldungen kamen, dass man gege-
benenfalls nach der Bundestagswahl diese Riester-Förde-
rung, diese Riester-Rente abschaffen wollte, diesen Ge-
setzentwurf unterstützen. Das ist eine hohe Wertschätzung,
die darin zum Ausdruck kommt, dass man offensichtlich in
allen Fraktionen dieses Hauses der Meinung ist, dass diese
Förderung ein Gewinn für Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer in diesem Lande ist.
Wenn der Bundesrat dieser Regelung morgen zustimmt
– davon gehe ich nach der Einstimmigkeit auch in diesem
Hause aus –, dann wird dieser Kreis der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer noch für das Jahr 2002 die Förde-
rung bekommen. Das Bundesfinanzministerium hat die
notwendigen Vorkehrungen getroffen. Die Firmen, die zu-
ständigen Stellen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer sind informiert.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit noch einige
grundsätzliche Anmerkungen zu dem Thema Riester-
Rentemachen. Unsere Rentenreform hat in der Bevölke-
rung einen nachhaltigen Veränderungsprozess ausgelöst.
Ich zitiere aus der „Sparkassen-Zeitung“ vom Dezember
dieses Jahres – das ist brandaktuell –:
Die Anfang 2002 in Kraft getretene Rentenreform hat
wichtige Impulse für eine zusätzliche kapitalgedeckte
private und betriebliche Altersvorsorge gegeben.
Richtig so! Die Mehrheit der Menschen in diesem
Lande ist sich darüber im Klaren, dass in Zukunft verstärkt
private und betriebliche Vorsorge betrieben werden muss.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Horst Schild
– Herr Kollege Seiffert, dazu will ich Ihnen eines sagen:
Ein namhaftes Mitglied aus Ihrer Fraktion hat mich ein-
mal gefragt, warum wir bei der Riester-Rente nicht ge-
nauso wie beim Kindergeld handeln. Beim Kindergeld
fragt ihr nicht, was die Eltern mit dem Kindergeld ma-
chen. Diejenigen, die in Zukunft neben der umlagefinan-
zierten gesetzlichen Rente zusätzlich private und betrieb-
liche Altersvorsorge betreiben, haben ein Recht auf
gleiche Standards und gleiche Sicherheit im Alter. Es
muss sichergestellt sein, dass dann, wenn der Rentenfall
eingetreten ist, das Geld wirklich vorhanden ist. Das er-
fordert – ich will mich nicht auf Details einlassen – ein ho-
hes Maß an gesetzlicher Sicherheit und Vorkehrung.
Insbesondere die betriebliche Altersvorsorge hat
durch unsere Reform einen nachhaltigen Schub bekom-
men. Diejenigen, die auf der Herbsttagung der Arbeitsge-
meinschaft für betriebliche Altersversorgung – das ist
keine Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratischen
Partei – dabei waren, konnten erleben, wie Walter Riester
dort mit dem Hinweis abgefeiert wurde,
dass es in der Bundesregierung seit Jahrzehnten keinen
Arbeits- und Sozialminister mehr gegeben habe, der sich
so viele Verdienste
um die Weiterführung der betrieblichen Altersvorsorge er-
worben hat.
Die Riester-Förderung gilt weiter. Das ist das Verdienst
von Walter Riester, dessen Name auch in Zukunft der
Riester-Rente einen guten Klang geben wird.
Die Experten gehen davon aus, dass circa 80 Prozent
der kapitalgedeckten Altersvorsorge in Zukunft über die
Betriebsrente erfolgen wird. Auch die private Altersvor-
sorge über Riester-Verträge ist weit besser, als die Oppo-
sition dies zumindest in der Vergangenheit hat glauben
machen wollen. Die Stiftung Warentest kommt zu dem
Ergebnis, dass die geförderten Produkte ein hohes Maß an
Sicherheit bieten und bei der Rendite besser abschneiden,
als von vielen angenommen wurde.
Hinsichtlich der Zahl der Vertragsabschlüsse gehen die
Expertenschätzungen zwischenzeitlich bis Ende dieses
Jahres von 3,5 bis 4 Millionen aus. Das ist ein Erfolg. Er
könnte größer sein, wenn nicht in der Vergangenheit aus
Ihren Reihen so viele Verunsicherungskampagnen betrie-
ben worden wären, die viele Menschen von einem Ver-
tragsabschluss abgehalten haben, weil sie nicht wussten,
woran sie waren. Das dürfen Sie sich gerne an Ihr Revers
heften.
Wenn davon ausgegangen werden kann, dass sich bei
der Aufteilung der Riester-Rente in Betriebs- und Privat-
rente ungefähr ein Verhältnis von 80 : 20 herausbilden
wird, dann bedeutet das, dass bereits heute mehr als die
Hälfte des infrage kommenden Personenkreises einen
Vertrag zur privaten Vorsorge abgeschlossen hat. Das ist
zweifellos ein großer Erfolg. Das darf man nicht kleinre-
den.
Ich sage Ihnen eines: Auch der Opposition sollte daran
gelegen sein, dass die Menschen unsere Reform anneh-
men und verstärkt zusätzliche Altersvorsorge betreiben.
Ich bestreite es gar nicht: Wir haben hohe Erwartungen
gehabt. Nicht alle Blütenträume sind in Erfüllung gegan-
gen; aber wir haben noch etwas Zeit. Dies ist auch – das
wiederhole ich – Ihnen zuzuschreiben; denn Sie haben in
der Vergangenheit die Riester-Rente schlecht gemacht,
obwohl Sie wissen mussten – Sie wussten es auch; Sie ha-
ben es sogar betont –, dass in Zukunft eine zusätzliche ka-
pitalgedeckte betriebliche und private Altersvorsorge not-
wendig ist. Aber im Wahlkampf haben Sie die Menschen
verunsichert. Sie haben die Riester-Rente mies gemacht.
Der Kollege Seehofer hat erklärt – ich meine, es war
hier im Deutschen Bundestag –, die Menschen sollten
nicht in diesem Jahr Verträge abschließen, sondern bis
2003 warten.
Sie haben die Menschen in der Tat verunsichert und auf-
gefordert, mit dem Abschluss eines Vertrages zur Riester-
Rente zu warten. Das ist nicht das Problem der Regie-
rungsfraktionen, sondern das Problem derer, die auf Sie
gehört haben und ein Jahr früher in den Genuss der För-
derung hätten kommen können. Das wird sich am Ende
ihres Erwerbslebens bemerkbar machen.
Gleichzeitig haben Sie immer wieder auf Umfragen
hingewiesen. Wir haben in diesem Hause zu diesem
Thema mehrere Aktuelle Stunden durchgeführt, in denen
Sie die angeblich niedrigen Vertragsabschlusszahlen auf-
geführt und dies als Zeichen des Misserfolgs der Riester-
Rente interpretiert haben. Das, meine Damen und Herren
von der Opposition, war verantwortungslos.
Lassen Sie mich abschließend eines anmerken: Wir
sollten beim Thema Altersvorsorge sachlich bleiben und
auf Konsens bedacht sein. Das fördert das Vertrauen in die
gesetzliche Rente und die Bereitschaft zur betrieblichen
und privaten Altersvorsorge. Dies ist gerade im Hin-
blick auf die jüngeren Jahrgänge nötig, die davon ausge-
hen müssen, dass das Niveau der gesetzlichen Rente in
30 oder 40 Jahren gegenwärtig nicht exakt zu bestimmen
ist. Sie brauchen dringend die private und betriebliche Al-
tersvorsorge. Wir – und dies alle gemeinsam – sollten sie
dazu ermutigen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
1288
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1289
Das Wort hat jetzt der Kollege Clemens Binninger von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Als der Bundesinnenminister das
Versorgungsänderungsgesetz auf den Weg gebracht hat,
hat er auch den Beamten die Möglichkeit eröffnet, an den
Produkten der Riester-Rente für eine kapitalgedeckte Al-
tersvorsorge teilzuhaben. Dabei hat er aber eine große und
wesentliche Gruppe vergessen. Diese 40 000 Beschäftig-
ten sind Ihnen nicht einfach durch die Lappen gegangen,
Herr Schild. Man hätte diese Gruppe schon wahrnehmen
können. Aber Sie haben sie vergessen. Das war ein hand-
werklicher Fehler.
Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen werden, wer-
den wir auch für diese Personengruppe Klarheit schaffen,
damit auch diese 40 000 Beschäftigten an der kapital-
gedeckten Altersvorsorge teilhaben können.
Auch wenn in diesem Bereich Konsens zwischen uns
besteht – Sie haben das angesprochen; das bestreitet nie-
mand –, ist in diesem Zusammenhang auf drei Punkte hin-
zuweisen: Erstens. Wie kam dieser Gesetzentwurf, den
wir heute beraten und beschließen werden, zustande?
Zweitens. Welches tatsächliche Problem verbirgt sich hin-
ter der Frage, warum den Beamten – unabhängig davon,
ob sie beurlaubt sind oder nicht – der Zugang zur Riester-
Rente eröffnet wird? Drittens. Gäbe es nicht andere große
Themenfelder, denen wir uns widmen müssten, wenn wir
dieses Problem lösen wollten?
Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben bereits im
Mai 2002 auf das Problem hingewiesen, dass der Bun-
desinnenminister in dem entsprechenden Gesetz die
große Gruppe von 40 000 Beschäftigten schlicht und ein-
fach vergessen hat. Damals wurde uns zugesichert, dieses
Problem kurzfristig zu lösen. Passiert ist allerdings nichts.
Erst nachdem wir in dieser Legislaturperiode quasi als
Impuls einen Gesetzentwurf eingebracht haben, hat die
Bundesregierung reagiert und relativ kurz danach einen
eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Dann hat sie aber
gleichzeitig wieder in die Zuständigkeitstrickkiste gegrif-
fen, indem die Zuständigkeit des Innenausschusses, der
zu Recht für den öffentlichen Dienst und für Beamten-
fragen zuständig ist, auf den Finanzausschuss verlagert
wurde. Das erweckt dabei den Eindruck, dass man versu-
chen wollte, den im BMI begangenen Fehler schlicht und
einfach zu vertuschen,
nach dem Motto: Ich kann es nicht; versuch du es mal! Ei-
nes sage ich Ihnen: Wenn Sie nach diesem Motto verfah-
ren, werden Ihnen die Ministerien bald ausgehen.
– Wenn Sie schon dazwischenrufen, Herr Poß, will ich Sie
darauf hinweisen, dass es im Innenausschuss auch aus Ih-
rer eigenen Fraktion heftige Kritik an dieser Verfahrens-
weise gab. Klären Sie das erst einmal dort, bevor Sie mir
hier einen Vorwurf machen!
Trotzdem, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen,
haben wir, nachdem beide Gesetzentwürfe vorlagen, in
der Sache einen Konsens erzielt. Ich meine, wir haben et-
was in die Wege geleitet, was die Menschen in diesem
Land besonders in dieser Zeit, in der immer weniger Ver-
trauen in die Regierung besteht,
geradezu erwarten, nämlich die konstruktive Zusammen-
arbeit der politischen Parteien.
Wir haben vorgeschlagen, die beiden Gesetzentwürfe
zusammenzuführen und letztlich über einen Gesetzent-
wurf abzustimmen. Darüber gab es über alle Fraktionen
hinweg Konsens. Es ist sicherlich gut, dass wir diesen
Weg beschritten haben. Wenn der Bundesrat morgen dem
Gesetz zustimmen wird – davon können wir ausgehen –,
bleibt dennoch für 40 000 Beschäftigte ein Nachteil be-
stehen, den Sie zu verantworten haben: Für einen Groß-
teil dieses Jahres besteht keine Fördermöglichkeit mehr.
Die 40 000 Beschäftigten werden sehr aufmerksam und
sensibel registrieren, wer ihnen das eingebrockt hat. Das
waren nämlich Sie.
Herr Kollege Schild, Sie haben eine Lobrede auf die
Riester-Rente gehalten.
Das ist aus Ihrer Sicht sicherlich nachvollziehbar. Ein paar
Dinge möchte ich dem aber entgegenhalten: Was verbirgt
sich eigentlich hinter dem Umstand, dass wir auch Beamte,
egal ob beurlaubt oder nicht, dazu bringen müssen, eine ka-
pitalgedeckte Altersvorsorge aufzubauen? Dahinter verbirgt
sich doch das Problem, dass die öffentlichen Haushalte un-
ter den Personalausgaben und Pensionslasten immer mehr
in die Knie gehen, sodass wir etwas tun müssen.
Ich sage Ihnen eines: Wer ernsthaft glaubt, dass man
mit der Riester-Rente das Problem der Kostenbelastung
der öffentlichen Haushalte durch die Beamten und die
Pensionslasten lösen kann, hat wahrscheinlich auch ge-
glaubt, dass wir im Jahr 2002 die Stabilitätskriterien ein-
halten. Das sage ich Ihnen dazu.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Clemens Binninger
Sie haben aus der „Sparkassen-Zeitung“ zitiert. Ich
sage Ihnen im Gegenzug dazu ein paar Sätze aus der Pra-
xis. Die Riester-Rente ist nach wie vor bürokratisch, un-
durchschaubar und in ihren Produkten viel zu starr und
wird zu Recht von den potenziellen Kunden nicht ange-
nommen. Bis zum Jahresende werden maximal 10 Pro-
zent der möglichen Kunden dieses Produkt nachgefragt
haben. Man kann zu Ihrer Riester-Rente nur sagen: In ei-
nem Jahr von der Jahrhundertreform zum Ladenhüter!
Das war der Weg der Riester-Rente.
– Sie sollten nicht immer alles auf uns schieben, sondern
auch selber einmal Verantwortung übernehmen, Herr Poß.
Das wäre ganz einfach. Wenn Sie das nicht möchten, soll-
ten Sie bald die Seiten wechseln; wir helfen Ihnen gerne
dabei.
Ich habe gesagt, die Riester-Rente sei der falsche An-
satz, um die Kostenexplosion im öffentlichen Dienst in
den Griff zu bekommen. Was wir in diesem Bereich brau-
chen, sind richtige Reformen und nicht solche Reformen,
wie sie von Ihnen, von Rot-Grün oder von Ihrem Verfas-
sungsexperten Wowereit, neuerdings gefordert werden,
nämlich eine Öffnungsklausel und der Eingriff in das
Weihnachtsgeld. Das sind nichts anderes als Gehaltskür-
zungen, die auf dem Rücken der Bezieher von niedrigen
und mittleren Einkommen ausgetragen werden. Das sind
Ihre Reformvorschläge. Mit uns werden Sie diese nicht
durchbekommen.
Das geht frei nach dem neuesten SPD-Motto: Mehr für
den Staat, weniger für privat! Das können Sie alleine ma-
chen, aber nicht mit uns.
Wie sehr Ihre konzeptionslosen Vorschläge ankom-
men, erkennen Sie an der Heftigkeit der Demonstratio-
nen, die wir ja hier in Berlin sehr häufig haben, und auch
an den Warnstreiks im öffentlichen Dienst.
Wer im Wahlkampf – das fällt auf Sie zurück – so wie Sie,
meine Damen und Herren von der Regierung, die Nähe
und die Wärme der Gewerkschaften sucht, verbrennt sich
bei den notwendigen Reformen sehr schnell die Finger.
Genau das passiert Ihnen im Moment.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, in diesen Tagen
eine kleine Botschaft an die Gewerkschaftsfunktionäre zu
richten; über Sie lässt sie sich sicher schneller transpor-
tieren.
Bei allem Verständnis für Protest möchte ich den Ge-
werkschaftsfunktionären – auch denen von Verdi – sagen:
Was sie im Moment tun, spüren in erster Linie die kleinen
Leute. Ausfälle im öffentlichen Personennahverkehr müs-
sen die kleinen Leute aushalten. Ich empfehle den Ge-
werkschaftsfunktionären:
Artikulieren Sie Ihren Protest dort, wo der Verursacher
sitzt, nämlich hier in Berlin auf der Regierungsbank
– dann wären Sie an der richtigen Adresse – und nicht bei
den kleinen Leuten!
Herr Kollege Schild, ich will gar nicht bestreiten, dass
mit dem Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvorsorge
die richtige Richtung vorgezeichnet wurde. Aber für den
Bereich des öffentlichen Dienstes, wo uns die Kosten-
explosion am meisten zu schaffen macht, halte ich drei
andere Dinge für notwendiger als das, worüber wir im
Moment diskutieren: Punkt eins wäre eine radikale Auf-
gabenkritik.
– Hören Sie mir doch einmal zu! Sie dürfen ja gleich
sprechen. – Punkt zwei wäre eine Umgestaltung unseres
öffentlichen Haushaltswesens mit mehr betriebswirt-
schaftlichen Instrumenten und Punkt drei wäre ein konse-
quenter Bürokratieabbau.
Erster Punkt. Wenn wir nicht in der Lage sind – das be-
trifft uns alle –, konsequenter über einen Abbau derAuf-
gaben des Staates nachzudenken – es geht um folgende
Fragen: „Muss der Staat jede Aufgabe wahrnehmen, und
muss er sie, selbst wenn man daran denken könnte, dass
er sie wahrnehmen muss, in diesem Umfang wahrneh-
men?“ –, werden wir nie die Grundlagen dafür schaffen,
Einsparpotenziale offen zu legen.
Zweiter Punkt: In den öffentlichen Haushalten, also in
den eigenen Haushalten für Personal- und Sachmittel so-
wie Investitionen, werden zig Milliarden bewegt. Wir ma-
chen das nach wie vor mit einem Haushaltssystem, dessen
Wurzeln im Mittelalter liegen. Es wäre höchste Zeit, dass
wir mehr betriebswirtschaftliche Instrumente,Control-
ling, Kennzahlen oder Personalkostenbudgetierung, ein-
führen. Als Bundesregierung wäre es Ihre Pflicht, ent-
sprechende Impulse zu geben, um das eigentliche
Problem, das Problem der Kostenbelastung im öffent-
lichen Dienst zu lösen. Sie tun es aber nicht.
1290
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1291
Der dritte Punkt fällt Ihnen mit Sicherheit am schwers-
ten: der Bürokratieabbau. Wenn wir nicht den Mut ha-
ben, weniger Vorschriften zu erlassen, werden wir keine
Chance haben, Einsparpotenziale zu realisieren.
Ich weiß, Rot-Grün arbeitet seit etwa vier Jahren an einem
Bürokratieabbau. Nach vier Jahren des Bürokratieabbaus
sieht die Bilanz so aus, dass wir etwa 300 Gesetze mehr
haben. Angesichts dessen muss ich Ihre Aussage, dass Sie
weiterhin die Bürokratie abbauen wollen, eher als Dro-
hung empfinden. Man kann feststellen: Sie können keine
Bürokratie abbauen und Sie wollen es auch nicht.
– Was wären Sie ohne diese 16 Jahre? Die würden Ihnen
wirklich fehlen. Seien Sie froh, dass es sie gab!
Wir waren bei diesem Gesetz zur konsensfähigen Zu-
sammenarbeit bereit und haben damit das Signal gesetzt,
dass die CDU/CSU-Fraktion, wenn es um die Sache geht,
bereit ist, im Interesse der Menschen in unserem Land zu-
sammenzuarbeiten. Wir waren bei diesem Gesetz und bei
den Vorschlägen der Hartz-Kommission zur Zusammenar-
beit bereit; wir werden Ihnen das auch bei der Zuwande-
rung zeigen. Auch zukünftig werden wir uns, wenn Sie uns
vernünftige Vorschläge unterbreiten, der Zusammenarbeit
nicht verschließen. Wir sind bereit, im Interesse der Sache
und der Menschen in unserem Land zusammenzuarbeiten.
Ob Sie dazu bereit sind, wage ich zu bezweifeln.
Vielen Dank.
Herr Kollege Binninger, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück-
wunsch!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je später
der Abend, desto schöner die Reden!
Ich will jetzt aber der Versuchung widerstehen, über
Bürokratieabbau im Allgemeinen oder die Riester-Rente
im Besonderen zu reden. Auch wenn ich Ihre Redefreude
durchaus goutiere, denke ich, dass wir das lieber ein an-
deres Mal machen sollten.
Allerdings hätte ich bei Gelegenheit vom Kollegen
Binniger eines gerne gewusst: Was schließen Sie eigent-
lich aus der Tatsache – das haben Sie angesprochen –, dass
die öffentlichen Haushalte durch die zu zahlenden Pen-
sionen bereits derzeit hohe Lasten tragen und diese Be-
lastung in Zukunft sehr stark zunehmen wird? Da besteht
doch ein Reformproblem. Dazu habe ich von Ihnen aber
interessanterweise überhaupt nichts gehört. Liefern Sie
dazu bitte noch etwas nach!
Ansonsten ist der Sachverhalt, um den es hier geht, hin-
reichend beschrieben worden: Es geht um die Schließung
einer Gerechtigkeitslücke, damit auch die 40 000 beur-
laubten Beamtinnen und Beamten, deren Beurlaubungs-
zeit ruhegehaltsfähig ist, in den Genuss der Riester-För-
derung kommen. Wir sind uns alle einig, dass dies so sein
soll. Schuldzuweisungen dienen den Betroffenen nicht.
Ich freue mich, wenn das ganze Haus zustimmt, und
möchte Sie dazu auffordern.
Danke schön.
Vielen Dank für Ihre kurze Rede. Auf diese Weise ho-
len wir etwas von der Zeit auf, die wir heute schon über
die Maßen verbraucht haben.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Ernst Burgbacher von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! In der Sache sind wir uns wirklich einig. Da nächste
Woche Weihnachten ist, könnte man sagen: Sogar Rot-
Grün macht nicht nur schlechte Dinge.
Dass wir uns in der Sache einig sind, zeigt sich daran,
dass die Union damit einverstanden war, beide Gesetz-
entwürfe zusammenzuführen. Es ist völlig richtig, dass in
diesem Zusammenhang eine Gruppe vergessen wurde. Ei-
nes müssen Sie sich daher vorhalten lassen: Wenn in dem
Versorgungsänderungsgesetz, das am 20. Dezember 2001
beschlossen wurde, ebendiese Gruppe nicht berücksich-
tigt wurde, dann ist das wieder ein Beispiel dafür, wie Sie
Gesetze quasi hopplahopp machen, ohne sie wirklich zu
durchdenken. Nachher merkt man dann, dass man korri-
gieren muss. Wenn Sie sich das genauer anschauen, dann
sehen Sie, welchen Bürokratieaufwand allein die Korrek-
tur mit sich bringt. Deshalb schreibe ich Ihnen in Ihr
Stammbuch: Bitte künftig vorher überlegen, was sein
muss, und nicht ständig nachbessern!
Clemens Binninger
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Ernst Burgbacher
Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zur Riester-
Rente machen. Lieber Herr Schild, Riester wird vielleicht
mit dem Begriff Riester-Rente im Gedächtnis bleiben, al-
lerdings nicht sehr positiv.
Im nächsten Jahr wird wahrscheinlich das Wort „verries-
tern“ in den Duden aufgenommen. Riester hat den Ar-
beitsmarkt verriestert, und das auch mit der Riester-
Rente; denn sie ist doch viel zu bürokratisch, viel zu
kompliziert.
Das ist doch exakt der Grund dafür, warum sie längst nicht
so angenommen wird, wie es sein sollte.
Lieber Herr Schild, wir haben damals in der Diskus-
sion betont, dass die Richtung stimmt – das haben wir
nie bestritten – und dass wir endlich in die kapitalge-
deckte Altersversorgung einsteigen müssen. Dass wir
das aber auf diese Weise machen, dass Sie der Mut ver-
lässt und dass Sie vor den Gewerkschaften einknicken,
das war der Grundfehler. Den spüren wir heute noch
ganz deutlich.
Ihr Modell ist nicht zukunftsfest; wir werden das se-
hen. Die nächsten Reformen stehen an. Generationenge-
rechtigkeit ist keinesfalls erreicht. Wir werden Beiträge
weit über der Marke bekommen, die wir vertreten können.
Ihr Modell ist in Teilen so kompliziert und unpraktikabel,
dass die Menschen das Instrument, das sie dringend brau-
chen würden, nicht nutzen.
Das ist unser Vorwurf.
Auch wenn der heutige Gesetzentwurf richtig ist
– natürlich werden wir ihm zustimmen –: Das Konzept
muss dringend überdacht und neu gestaltet werden. Dazu
sind wir bereit. Wir bitten Sie, dazu endlich Ihre Bereit-
schaft zu zeigen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Eine Erklärung der Kollegin Petra Pau nach § 31 der
Geschäftsordnung nehmen wir zu Protokoll.1
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 15/97 zur Einbeziehung beurlaubter
Beamter in die kapitalgedeckte Altersversorgung und
über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/45 zur Korrektur des Versorgungsände-
rungsgesetzes 2001. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/214, die
genannten Gesetzentwürfe zusammenzuführen und als
Entwurf eines Gesetzes zur Einbeziehung beurlaubter Be-
amter in die kapitalgedeckte Altersversorgung in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Leo
Dautzenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung des Vermögen-
steuergesetzes
– Drucksache 15/196 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Dr. Michael Meister von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Wir diskutieren heute über das Gesetz zur Aufhebung
des Vermögensteuergesetzes. Nachdem der Bundeskanz-
ler am Montag angekündigt hat, die seitherige Zinsab-
schlagsteuer in eine Zinsabgeltungssteuer umzuwandeln,
und damit die Beendigung der Debatte über die Vermö-
gensteuer verkündet hat, könnte man denken, es sei ei-
gentlich überflüssig, an dieser Stelle weiter über dieses
Thema zu debattieren. Allerdings sollte man, wenn man
vom Bundeskanzler ein Basta hört, immer überdenken,
wie lange denn die Halbwertzeit dieses Basta ist, wann
wieder eine Kehrtwende kommt und eine Vermögensteuer
möglicherweise doch wieder Konjunktur hat.
Es gab auch nach dieser Äußerung des Bundeskanzlers
Aussagen von drei durchaus namhaften Ministerpräsiden-
ten zu diesem Thema, zum einen von Herrn Steinbrück,
dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, der
angekündigt hat, dass er von seiner Forderung nach einer
Vermögensteuer nur dann abrücken will, wenn die Abgel-
tungsteuer für die Bildung, für die die Länder verantwort-
lich sind, mobilisierbar ist.
1292
1 Anlage 5
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1293
Diese Konditionierung sollte man im Ohr haben, wenn
man diese Feststellung hört.
Auch der niedersächsische Ministerpräsident Gabriel
hat nach dem Basta des Bundeskanzlers zur Vermögen-
steuer gesagt, die Vermögensteuer sei für ihn nur vom
Tisch, wenn durch die Abgeltungsteuer genügend Geld
für Bildung in die öffentlichen Kassen fließt. Hierdurch
wurde das Ende der Debatte zur Vermögensteuer, was uns
der Bundeskanzler glauben machen will, ebenso relati-
viert wie durch die Feststellung von Frau Simonis, die
auch erklärt hat, dass sie an der Vermögensteuer als Steu-
erart festhalten will, und die darüber nachdenkt, diese ein-
zuführen.
Das heißt, es gibt nach wie vor ein vielfältiges Stim-
mengewirr bei den Sozialdemokraten: der Bundesvorsit-
zende, der die Debatte für beendet erklärt und sagt, eine
Vermögensteuer wolle er nicht, und drei Ministerpräsi-
denten, nämlich die von Schleswig-Holstein, Niedersach-
sen und Nordrhein-Westfalen, die erklären, wir brauchen
diese Steuerart doch.
Deshalb möchten wir an dieser Stelle Klarheit schaf-
fen. Wir starten diese Initiative, um deutlich zu machen:
Wir wollen die Vermögensteuer nicht. Sie haben die Ge-
legenheit, zu belegen, dass Sie hinter Ihrem Bundeskanz-
ler stehen, indem Sie diese Initiative unterstützen und dies
auch bei der Abstimmung im Hohen Hause zum Ausdruck
bringen.
Nebenbei: Im Hinblick auf die Bildungsdebatte sollte
man einmal darauf hinweisen, dass Steuern der allgemei-
nen Finanzierung des Staates dienen. Eine Zweckbindung
gibt es bei Steuern nicht.
Deshalb geht auch die Argumentation, man benötige Geld
für die Bildungspolitik, am Thema vorbei. Die Aussagen
von Herrn Gabriel sind auch ein bildungspolitisches Ar-
mutszeugnis für die niedersächsische Landesregierung.
Ich komme aus Hessen. Roland Koch hat es in dieser
Wahlperiode geschafft, 100 000 Stunden Unterrichtsaus-
fall pro Woche in Hessen zu beseitigen, ohne eine Vermö-
gensteuer einzuführen.
Was wir brauchen, ist Priorität für Bildung.Wir brau-
chen aber keine Vermögensteuer für die Bildung. Fangen
Sie also an, der Bildungspolitik höhere Priorität zu geben!
Dann brauchen Sie nicht länger über eine Vermögensteuer
zu debattieren.
Sie tragen in der Debatte um die Vermögensteuer die
Aussage von der steuerpolitischen Gerechtigkeit wie eine
Monstranz vor sich her. Ich will Ihnen zunächst einmal sa-
gen, was wir als gerecht ansehen. Gerecht ist nach unse-
rer Meinung ein Steuersystem, das transparent ist, das ein-
fach ist, das für die Menschen begreifbar ist, das niedrige
Steuersätze und eine breite Bemessungsgrundlage hat und
das dazu anleitet, Steuerhinterziehung zu vermeiden. Das
ist genau der Ansatz, den auch Ihr Bundeskanzler
– ich sage nicht: die Koalition – jetzt verfolgt, indem er
eine Abgeltungsteuer für Zinseinkünfte vorsieht. Wir
würden uns freuen, wenn er auch bei anderen Steuerarten
in diese Richtung gehen und nicht nur bei der Abgeltung-
steuer für Zinseinkünfte diesen Weg einschlagen würde.
Nach Ihrer bisherigen Argumentation soll es gerecht
sein, wenn die Reichen einen zusätzlichen Beitrag zur Fi-
nanzierung des Staates leisten. Das war Ihre Aussage zur
Gerechtigkeit. Bei der Abgeltungsteuer tun Sie jetzt aber
genau das Gegenteil. Sie entlasten hohe Kapitalerträge
und lassen die Besteuerung von niedrigen Kapitalerträgen
unverändert. Das heißt, was Ihr Kanzler verkündet, wi-
derspricht dem, was Sie bisher in der Steuerpolitik als ge-
recht dargestellt haben. Ich begrüße ausdrücklich, dass
zumindest beim Bundeskanzler endlich die Einsicht ge-
wachsen ist, dass wir niedrige Steuersätze und nicht
höhere Belastungen in diesem Land brauchen.
Ich glaube nur nicht, dass diese Botschaft und diese Ein-
sicht bei Ihnen in der Fraktion schon angekommen sind.
Zurück zur Vermögensteuer. 8 bis 9 Milliarden Euro
wollten die beiden Ministerpräsidenten Gabriel und
Steinbrück aus dieser Steuer zusätzlich mobilisieren. Da-
bei sollte man einmal darauf hinweisen, dass die Vermö-
gensteuer zu 100 Prozent den Ländern zusteht. Wenn jetzt
argumentiert wird, die Abgeltungsteuer biete dafür einen
Ersatz, sollten Sie sich einmal klar machen, dass vom
Aufkommen der Abgeltungsteuer nur 42,5 Prozent an die
Länder fließen.
Wenn die Länder dauerhaft 8 bis 9 Milliarden Euro aus
einer Abgeltungsteuer vereinnahmen wollen, dann heißt
das, dass etwa 80 Milliarden Euro an Zinserträgen vor-
handen sein müssen, die mit einem Steuersatz von 25 Pro-
zent belegt werden.
Wenn 80Milliarden Euro Zinserträge erreicht werden sol-
len, müssen etwa 1,5 bis 1,6 Billionen Euro an Kapital
vorhanden sein. In diese Größenordnung gehen Ihre
Wahnvorstellungen. Niemand glaubt daran, dass Sie die-
ses Ziel erreichen. Selbst Ihr Bundeskanzler glaubt nicht,
dass 1,5 bis 1,6 Billionen Euro zurückfließen; er spricht
nur von 100 Milliarden Euro.
Sie können natürlich auch nicht sagen: Die einmalige
Abgeltung für zurückliegende nicht gezahlte Steuern in
Höhe von 25 bzw. 35 Prozent, die Sie vorschlagen, ist ein
Ersatz für die Vermögensteuer. Denn diese Zahlung er-
folgt nur einmal und nicht dauerhaft. Sie können nicht
Äpfel mit Birnen vergleichen, indem Sie dauerhafte Ein-
nahmen neben einmalige Einnahmen stellen und sagen:
Wir behandeln das gleich.
Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Dr. Michael Meister
Ich frage Sie, den Bundeskanzler und Ihre Minister-
präsidenten: Wo soll das Kapital in den Jahren danach –
nicht im ersten Jahr, in dem das Kapital zurückfließt, son-
dern in den Folgejahren –, das Sie über die Vermögen-
steuer aktivieren wollen, herkommen? Ich glaube Ihnen
nicht, dass Sie es auf diesem Wege leisten können. Auch
der Weg, den Sie bei der Abgeltungssteuer ankündigen,
steht vollkommen im Widerspruch zu Ihrer Philosophie
der Steuerpolitik. Herr Müntefering hat uns noch vor we-
nigen Tagen gesagt, dass die Menschen etwas weniger
konsumieren sollen und der Staat dafür etwas mehr Geld
bekommen soll.
Sie haben in den letzten fünf Jahren eine Politik be-
trieben, mit der Sie deutlich machen, dass Haushalts-
konsolidierung für Sie heißt, Steuereinnahmen des Staa-
tes zu erhöhen. Es heißt für Sie nicht, die Ausgaben
dauerhaft zu senken, und auch nicht, strukturelle Verbes-
serungen im Bundeshaushalt vorzunehmen. Für Sie be-
deutet Konsolidierung eine Erhöhung der Steuereinnah-
men.
Ich glaube Ihnen nicht, dass in Ihrem Innern tatsächlich
ein Meinungsumschwung eingetreten ist. Denn das ist
nach wie vor das, was Sie vorhaben. Ich sage Ihnen klar
und deutlich: Wir wollen keine Vermögensteuer. Deshalb
schlagen wir Ihnen heute die Abschaffung des Vermögen-
steuergesetzes vor.
Erster Punkt. Wenn wir dem Steuerbürger tatsächlich
8 bis 9 Milliarden Euro zusätzlich entziehen, dann erhöht
das die Staatsquote, die Steuerquote und die Belastung der
Menschen. Das ist fatal für unser Land. Das wollen wir
nicht.
Zweiter Punkt. Die Vermögensteuer ist eine Substanz-
steuer. Sie sagen zwar, dass es einen Freibetrag in Höhe
von 2,5Millionen Euro für Unternehmen geben soll. Aber
was ist heute bei einem modernen Unternehmen mit mo-
dernen Maschinen ein Freibetrag von 2,5Millionen Euro?
Der ist rasch aufgebraucht. Damit greifen Sie vor dem
Hintergrund von Basel II in die Substanzbesteuerung die-
ser mittelständischen Unternehmen ein. Wir alle sagen:
An der Stelle muss mehr Eigenkapital gebildet werden.
Dritter Punkt. Als die Vermögensteuer nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts von 1995 nicht mehr er-
hoben wurde, wurde vom Gesetzgeber die Grunderwerb-
steuer um 75 Prozent erhöht. Auch die Erbschaftsteuer
wurde erhöht. Das heißt, man hat den Ausfall bei der Ver-
mögensteuer mit diesen beiden Steuereinnahmen kom-
pensiert.
Wenn Sie jetzt nicht zu einer höheren Belastung kommen
wollen, müssten Sie diese beiden Steuern gleichzeitig
wieder senken.
Warum schlagen Sie das nicht vor? Es geht Ihnen allein
um eine Einnahmeverbesserung und um eine höhere
Besteuerung der Bürger. Sie wollen doppelt abkassie-
ren.
Der vierte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist das
Thema Bewertung von Grundstücken. Schauen Sie
einmal in die neuen Bundesländer und in die Republik
insgesamt! Sie müssten eine komplette Neubewertung
der Immobilien bezüglich der Grund- und Bodenwerte
vornehmen. Diesbezüglich wurde noch nichts unter-
nommen. Sie brauchten mehrere Tausend Finanzbe-
amte, um das nachzuholen. Dann würde auch keine ein-
malige Bewertung reichen, sondern Sie müssten die
Bewertung in der Zukunft auf einem aktuellen Stand
halten.
Damit wird eine riesige Bürokratie – wir haben eben da-
rüber debattiert – geschaffen, die mehr Staatsausgaben
produziert. Aber es wird an dieser Stelle nicht dafür ge-
sorgt, dass wir Bürokratie abbauen und einen schlanken
Staat bekommen.
Als fünften Punkt möchte ich darauf hinweisen, dass
wir mit Blick auf die private AltersvorsorgeMenschen
Anreiz geben wollen, Vermögen für die private Alters-
vorsorge aufzubauen. Jetzt stellen Sie sich einmal eine
Familie vor – ich habe das Beispiel schon einmal ge-
bracht –, die das tatsächlich tut. Eine Familie baut Kapi-
tal auf, schafft sich ein eigenes Haus an, in dem sie lebt,
und spart ein bisschen für das Alter. Dann tritt die Situa-
tion ein, dass die Kinder aus dem Haus sind und nur noch
ein Ehepartner lebt. Dann verlangen Sie in dieser Kon-
stellation nach Ihren Vorstellungen von dem Ehepartner
Vermögensteuer.
Das ist etwas, was wir nicht wollen. Wir wollen die pri-
vate Altersvorsorge, aber wir wollen sie nicht besteuern,
sondern die Menschen dazu aktivieren, für das Alter vor-
zusorgen.
Das Bundesverfassungsgericht hat beim Thema Be-
steuerung der Einkünfte der Menschen den Halbtei-
lungsgrundsatz angesprochen. Wenn Sie sich den Halb-
teilungsgrundsatz einmal anschauen, dann wird klar, dass
Sie die „echten Reichen“, die Sie meinen und die errei-
chen zu wollen Sie vorgeben, mit der Vermögensteuer
nicht erreichen werden, weil sie bei den heutigen Steuer-
sätzen plus Soli plus Kirchensteuer weit über 50 Prozent
liegen. Sie dürfen auch nicht von dem 1 Prozent Vermö-
gensteuer reden, sondern Sie müssen diesen Satz in Er-
träge umrechnen. Bei einem 5-prozentigen Kapitalertrag
ist es eine zusätzliche Ertragsteuer von 20 Prozent. Das
heißt, Sie liegen bei 48,5 Prozent plus 20 Prozent plus Soli
plus Kirchensteuer, also bei weit über 70 Prozent. Das
1294
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1295
wird beim Verfassungsgericht niemals durchgehen. Des-
halb müssen Sie das obere Band herausnehmen und das
untere Band durch Freibeträge herausnehmen. Sie belas-
ten die mittelständischen Unternehmen und den Mittel-
stand unserer Gesellschaft. Das wollen wir eindeutig
nicht.
Nun kann man gegen unsere Initiative Folgendes ein-
wenden: Wenn der Bund auf seine Gesetzgebungskompe-
tenz verzichtet, dann könnten ja die Länder diese Steuer
in eigener Kompetenz erheben. Ich darf Ihnen sagen: Kei-
nes der von uns regierten Länder will eine Vermögen-
steuer. Sie wird es mit uns weder als Bundes- noch als
Landessteuer geben.
Wenn Sie die Befürchtung haben sollten, dass es ei-
nige sozialdemokratisch regierte Länder gibt, die, wenn
wir dieses Gesetz beschließen, diese Steuer erheben
würden, wenn Sie also wirklich Angst haben, dass Ihre
eigenen Ministerpräsidenten die Vermögensteuer als
Landessteuer einführen, dann biete ich Ihnen an, dass
wir gemeinsam das Grundgesetz ändern und die Ver-
mögensteuer als Steuerart aus dem Grundgesetz strei-
chen. Dies wäre die Gewähr, dass es weder eine Bun-
desvermögensteuer noch eine Landesvermögensteuer
geben wird.
Dieses Angebot steht. Wenn Sie in Ihre eigenen Minister-
präsidenten kein Vertrauen haben, heiße ich Sie herzlich
willkommen, das Problem auf diese Art zu regeln.
Ich darf Sie herzlich einladen, unserem Gesetzentwurf
zuzustimmen, damit die Bürger draußen im Lande sicher
sein können, dass sie Kapitalvermögen ohne Angst vor ei-
ner Vermögensteuer zurück nach Deutschland transferie-
ren können. Denn das ist ja das Ziel, das wir mit der Zins-
abgeltungsteuer erreichen wollen: das Schaffen von
Sicherheit für den Kapitalmarkt und für den Finanzplatz
Deutschland. Lassen Sie uns gemeinsam einen Beitrag
zur Stärkung des Vertrauens in den Finanzplatz Deutsch-
land leisten!
Vielen Dank.
Herr Grund, wollen Sie sich zur Geschäftsordnung
melden?
Ja, Herr Präsident.
Bitte schön.
Da während der Rede unseres Kollegen Meister nie-
mand aus dem Finanzministerium auf der Regierungs-
bank Platz genommen hat,
möchte ich dem Hohen Haus empfehlen, den Beschluss
zu fassen, dass der zuständige Staatssekretär aufgefordert
wird, die Rede wenigstens nachzulesen,
damit das, was hier an Argumenten vorgetragen worden
ist, auch beherzigt werden kann.
Herr Kollege Grund, Sie haben jetzt einen kleinen
Schock verursacht. Aber das Ende Ihres Beitrags war
dann doch einigermaßen akzeptabel.
Der zuständige Staatssekretär wird also aufgefordert, die
Rede nachzulesen.
Nun darf ich dem Kollegen Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion das Wort geben.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Meister, ich glaube, so gut war Ihre Rede nun
auch wieder nicht, dass man darauf bestehen müsste, dass
der Staatssekretär sie nachliest.
Das ist ein Fall von Selbstüberschätzung.
Herr Meister, ich möchte zwei Vorbemerkungen zu Ih-
rer Rede machen. Erste Vorbemerkung: Das Marken-
zeichen dieser Bundesregierung ist Steuersenkungs-
politik.
Da können Sie lachen und gegen diese Aussage polemi-
sieren: Dies ist das Markenzeichen der Bundesregierung.
Wir haben das geschafft, was Sie in 16 Jahren nicht ge-
schafft haben.
Wir haben die Steuersätze gesenkt, und zwar in allen Be-
reichen.
Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Bernd Scheelen
Bei der Einkommensteuer zum Beispiel haben wir von Ih-
nen einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent übernom-
men. Jetzt liegt er bei 48,5 Prozent und er wird bis zum
Jahre 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Dies entspricht einer
Senkung um 11 Prozentpunkte.
Dasselbe gilt für den Eingangssteuersatz. Dieser betrug
zu Ihrer Regierungszeit – das war ein historischer Höchst-
stand in der Bundesrepublik – 25,9 Prozent. Diese Erblast
haben Sie uns hinterlassen. Jetzt beträgt er 19,9 Prozent und
wir werden ihn bis zum Jahre 2005 auf 15 Prozent senken.
Dasselbe gilt für die Körperschaftsteuer. Der Satz, den
wir von Ihnen übernommen haben, betrug 45 Prozent.
Jetzt beträgt er 25 Prozent. Ähnliches gilt auch für Grund-
freibeträge und andere Bereiche.
Auf diesen Punkt komme ich gleich noch zu sprechen.
Zweite Vorbemerkung. Sie haben das Bewertungs-
gesetz angesprochen. Ich möchte Ihnen nur eines raten:
Kümmern Sie sich auch darum, dass das Bewertungsge-
setz an die Notwendigkeiten angepasst wird. Denn wenn
in diesem Bereich nichts passiert, dann wird auch die Erb-
schaftsteuer in Kürze verfassungswidrig sein. Ich weiß
nicht, wie die Länderhaushalte dann aussehen werden.
Auch Sie als Opposition sollten sich intensiv um diese
Frage kümmern.
Eigentum verpflichtet. Das bestimmt unser Grund-
gesetz in Art. 14 Abs. 2. Der Gleichheitsgrundsatz in
Art. 3 Abs. 1 bildet die Basis für die Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit, also nach Einkommen, Vermögen und
Nachfragekraft. Derjenige, der ein höheres Einkommen
hat, der eine höhere Nachfragekraft hat, der ein Vermögen
hat, wird stärker zur Finanzierung unseres Gemeinwesens
herangezogen als derjenige, der ein niedriges Einkom-
men, geringe Nachfragekraft und kein Vermögen hat.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil, das zur Aus-
setzung der Vermögensteuer geführt hat und um das es
deshalb heute auch geht, sagt:
Die Steuer ist eine Gemeinlast, die alle Inländer je
nach ihrem Einkommen,
– jetzt kommt das Wort, um das es geht –
Vermögen und ihrer Nachfragekraft zur Finanzie-
rung der allgemeinen Staatsaufgaben heranzieht.
Das heißt, dass es einen verfassungsrechtlichen Rahmen
für eine Vermögensteuer immer gegeben hat und dass es
ihn auch heute nach wie vor gibt. Trotz dieses verfas-
sungsrechtlichen Rahmens wird die Vermögensteuer seit
dem 1. Januar 1997 nicht mehr erhoben.
Ich hatte gedacht, es säßen noch ein paar Bürger hier,
die sich nicht jeden Tag mit Steuerrecht beschäftigen.
Aber möglicherweise gibt es den einen oder anderen un-
ter Ihnen, der das auch nicht tut.
Deswegen will ich noch einmal kurz erläutern, um was es
da im Einzelnen geht.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 festgestellt,
dass Kapital- und Grundvermögen mit dem damals gülti-
gen Vermögensteuergesetz unterschiedlich belastet wur-
den: Kapitalvermögen wurde mit dem aktuellen Wert zu
100 Prozent berücksichtigt, Grundvermögen wegen der
Bewertung nach den früheren Einheitswerten nur anteilig.
Das Bundesverfassungsgericht sah deshalb den Gleich-
heitsgrundsatz verletzt und hat dem Gesetzgeber eine
Frist eingeräumt, dieses Gesetz verfassungsfest zu ma-
chen. Die Frist lief am 31. Dezember 1996 ab. Da regierte
noch Schwarz-Gelb unter dem Bundeskanzler Helmut
Kohl.
– Das waren furchtbare Zeiten für die Republik. Des-
wegen sind Sie abgewählt worden. Genau so war es.
Mit dieser Steuer haben Sie gemacht, was Sie auch in
allen anderen Bereichen gemacht haben. Sie haben näm-
lich nichts getan, rein gar nichts.
Dieses Nichtstun machte die Vermögensteuer verfas-
sungsrechtlich untragbar. Deswegen durfte und konnte sie
ab dem 1. Januar 1997 nicht mehr erhoben werden. Sie
werden für dieses Nichtstun Ihre Gründe gehabt haben;
darauf komme ich gleich noch zurück.
Die Vermögensteuer war – das wissen Sie – eine reine
Ländersteuer und würde das auch in Zukunft sein, wenn es
eine gäbe. Sie steht nämlich den Ländern zu. Die Bundes-
regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben in der 14. Wahl-
periode des Deutschen Bundestages keinerlei Initiativen
ergriffen, die Vermögensteuer wieder einzuführen. Wir
werden das auch in dieser Legislaturperiode nicht tun.
Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, ist kein Gesetzentwurf zur Abschaffung der
Vermögensteuer, sondern zur Wiedereinführung der Ver-
mögensteuer durch die Hintertür.
– Ich werde Ihnen gleich erläutern, wieso das so ist.
Auch Sie wissen, dass das so ist.
Der Titel Ihres Gesetzentwurfs lautet zwar „Entwurf
eines Gesetzes zur Aufhebung des Vermögensteuergeset-
1296
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1297
zes“ und Sie schlagen einen sehr kurzen und knappen Text
vor, der lautet:
Das Vermögensteuergesetz in der Fassung der Be-
kanntmachung vom 14. November 1990 ... wird auf-
gehoben.
Aber Sie liefern eine Begründung mit, die schon sehr in-
teressant ist. In dieser Begründung lassen Sie nämlich die
Maske fallen. Sie wollen mit dem Aufheben des Bundes-
gesetzes die Möglichkeit eröffnen, die Vermögensteuer
auf Länderebene wieder einzuführen. Das ist doppelzün-
gig und infam.
– Natürlich ist das so. – Meine Damen und Herren, eine
solche Politik werden wir nicht mitmachen.
Herr Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Meister?
Aber gerne.
Bitte schön, Herr Meister.
Herr Kollege, ich habe am Ende meiner Rede darauf
hingewiesen, dass unsere Länder nicht beabsichtigen,
eine solche Vermögensteuer als Landessteuer einzu-
führen. Haben Sie bemerkt, dass ich Ihnen das Angebot
gemacht habe, dass wir, wenn die Befürchtung bestehen
sollte, dass nach Abschaffung der Vermögensteuer als
Bundessteuer diese als Landessteuer wieder auftaucht,
gemeinsam das Grundgesetz ändern, die Vermögensteuer
als Steuerart aus dem Grundgesetz streichen und damit
ausschließen könnten, dass es die Vermögensteuer als
Bundessteuer oder als Landessteuer gibt? Ist Ihnen auf-
gefallen, dass ich dies in meiner Rede so vorgetragen
habe?
Das ist mir zwar aufgefallen. Aber es steht so nicht in
Ihrem Gesetzentwurf. Er ist dazu angetan, die Vermögen-
steuer auf Länderebene wieder einzuführen. Ich kenne die
Äußerungen Ihrer Repräsentanten, zum Beispiel die von
Herrn Stoiber.
– Ist das Ihr Repräsentant? Wenn er Sie mit repräsentiert,
ist es wunderbar.
Ich spreche jetzt zum Beispiel von Herrn Stoiber.
Herr Stoiber hat gesagt, er sei dafür, dass den Ländern
eine entsprechende Möglichkeit eröffnet wird. – Sie
können sich gern hinsetzen, Herr Meister. Das ist kein
Problem.
Nur solange Sie auf die Frage antworten, halte ich die
Redezeit an, Herr Kollege Scheelen.
Ich wollte in meiner Antwort auf den Kollegen Stoiber
zu sprechen kommen. Er hat in verschiedenen Interviews
kundgetan, dass er den Ländern die Möglichkeit eröffnen
möchte, in eigener Verantwortung die Vermögensteuer
einzuführen. Er hat aber gleichzeitig gesagt,
Bayern werde diesen Weg – ich glaube, er sagte: Irrweg –
nicht mitgehen.
Ich frage Sie: Wo ist denn da Ihre christliche Nächsten-
liebe? Sie eröffnen Menschen Wege, von denen Sie glau-
ben, dass es Irrwege sind. Sie schicken Sie bewusst auf
diese Wege, um sich hinterher selbstgerecht darzustellen
und sagen zu können: Ihr seid selber schuld, dass ihr den
falschen Weg gegangen seid. Was hat das mit christlicher
Nächstenliebe zu tun?
– Leo, vorsichtig! Keine Beleidigung heute.
Sie locken Leute bewusst auf Wege, um sie hinterher
dafür zu kritisieren. Das ist pharisäerhaft und das ist aus
meiner Sicht infam.
Es ist auch deshalb infam, weil das, was Sie vorschlagen,
Folgen für Länder hätte, die wirtschaftlich nicht so leis-
tungsfähig sind, wie zum Beispiel Sachsen-Anhalt. Man
kann ja überlegen, warum Sachsen-Anhalt diesen Antrag
im Bundesrat mitgetragen hat. Wenn ein solches Land we-
gen der schwierigen Haushaltslage dazu gezwungen
wäre, eine Vermögensteuer einzuführen, würde folgender
Effekt eintreten: Dieses Land würde wegen der Mehrein-
nahme
auf der Vermögensteuerseite weniger aus dem Länder-
finanzausgleich bekommen. Das würde bedeuten, dass
die reichen Südländer wie Bayern, Baden-Württemberg,
Hessen und auch Hamburg als Nordland sich zulasten der
Ärmsten in der Republik entlasten. Das ist eine Politik,
die wir nicht mitmachen.
Das ist eine sehr paradoxe Wirkung. Aber ich nehme
an, dass Sie sie beabsichtigt haben, weil sich dann die rei-
Bernd Scheelen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Bernd Scheelen
chen Länder nicht die Hände schmutzig machen müssen.
Sie profitieren von der Einführung der Vermögensteuer in
den ärmeren Bundesländern.
Das ist ein weiterer Beleg für die Entsolidarisierung, die
Sie mit Ihrer Politik betreiben. Das ist eine Politik, die wir
nicht mitmachen werden.
Wir werden sie auch deshalb nicht mitmachen, weil
sie ein Anschlag auf die Verfassung ist. Sie haben in
Ihrer Begründung zum Gesetzestext auf Art. 72 und
Art. 105 des Grundgesetzes verwiesen und führen aus,
das Gesetz werde die Einheitlichkeit der Lebensver-
hältnisse in der Republik nicht beeinträchtigen. Sie soll-
ten sich vielleicht noch einmal mit dem Bundesrat ab-
stimmen, denn Sie haben auf unterschiedliche Artikel
verwiesen. In Ihrem Gesetzentwurf rekurrieren Sie auf
Art. 72, der Bundesrat bezieht sich auf Art. 70. Sie soll-
ten sich einig werden, welchen Artikel Sie wirklich mei-
nen.
Keine der Begründungen trifft wirklich zu; sie sind
beide falsch. Was zutrifft, hat der Bochumer Verfassungs-
rechtler Helmut Siekmann in einem renommierten Kom-
mentar zum Grundgesetz geschrieben:
Der Landesgesetzgeber ist nicht berechtigt, Steuern
einzuführen, die der Bundesgesetzgeber ersatzlos
aufgehoben hat.
Nachzulesen im „Handelsblatt“ vom 6. Dezember dieses
Jahres.
Statt sich für die Wiedereinführung der Vermögen-
steuer durch die Hintertür einzusetzen, sollten Sie lieber
unser Vorhaben unterstützen, eine Abgeltungsteuer auf
Zinserträge einzuführen. Da eiern Sie im Moment ziem-
lich herum. Wir haben Sie offensichtlich auf dem falschen
Fuß erwischt.
– Genau so ist es und Ihr Lachen bestätigt das. – Wir wol-
len mit dieser Steuer erreichen, dass die Steuerehrlichen
in diesem Lande, die bisher ihre Zinserträge immer ord-
nungsgemäß angegeben haben, eine Entlastung erfahren.
Das ist ein weiterer Beleg für die Steuersenkungspolitik
dieser Regierung.
Außerdem soll Vermögen, das bisher der Besteuerung
entzogen wurde, nun der Besteuerung unterliegen. Es soll
die Chance geben, dass Kapital nach Deutschland zurück-
kehrt. Sie sollten uns bei diesem Vorhaben massiv unter-
stützen, auch angesichts der bevorstehenden Weihnachts-
zeit.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Scheelen, ich glaube
schon, dass das Markenzeichen dieser Bundesregierung
im Wesentlichen Chaos ist.
Im Bereich Steuern ist es das Erfinden neuer Steuern,
eben Steuerchaos. Wir diskutieren demnächst über die
Wertzuwachssteuer – eine erste Lesung hat dazu schon
stattgefunden –, und wir haben eine Ökosteuer, die es vor-
her nicht gegeben hat. Eines tut diese Regierung aber auf
keinen Fall: Sie betreibt keine Politik der Planbarkeit und
der Verlässlichkeit.
Es ist eine Politik der permanenten Verunsicherung und
der Steuererhöhungen.
Sie sollten sich mit den Reaktionen in unserem Land
und in der Wirtschaft – eine Reaktion spiegelt sich in der
Hitparade wider; denn der Steuersong ist nicht grundlos
ein Hit; dafür hat es einen Anlass gegeben – in der Vor-
weihnachtszeit auseinander setzen. Natürlich verfolgt
auch Ihre Politik einen Kurs, aber er führt nicht zum Ziel.
Deshalb begrüßen wir von der FDP den eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Vermögen-
steuergesetzes.
Im Juni 1995 hat das Bundesverfassungsgericht den
Gesetzgeber aufgefordert, die Vermögensteuer bis spätes-
tens 31. Dezember 1996 neu zu regeln. Da dies nicht er-
folgte, ist die Vermögensteuer ab 1. Januar 1997 ausge-
setzt, aber nicht abgeschafft.
Die Diskussion in der letzten Woche hat gezeigt, dass
insbesondere die Ministerpräsidenten Niedersachsens
und Nordrhein-Westfalens die Vermögensteuer wieder
einführen wollten.
Bei dieser Diskussion stand nicht die sachliche Notwen-
digkeit, auch nicht eine angebliche Gerechtigkeitsdis-
kussion im Vordergrund; bei dieser Diskussion ging es
ausschließlich darum, Neidgefühle für eine Umvertei-
lungsdiskussion gegen jeden wirtschaftspolitischen Sach-
verstand zu mobilisieren.
Das Aufkommen der Vermögensteuer sollte doppelt so
hoch sein wie vor ihrer Aussetzung. In der damaligen Dis-
kussion wurde aber auch schon von dem einen oder ande-
ren Finanzpolitiker der SPD darauf hingewiesen, dass
eine Vermögensteuer auf Betriebsvermögen zu erheb-
lichen Problemen führt; denn eine Vermögensteuer ist un-
abhängig vom Ertrag eines Unternehmens zu zahlen. Sie
ist auch dann zu zahlen, wenn Betriebe Verluste machen.
Eine Vermögensteuer auf Betriebsvermögen ist nicht
sachgerecht, da sich die steuerliche Leistungsfähigkeit ei-
nes Unternehmens nur am Gewinn oder Ist-Ertrag messen
1298
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1299
lässt und nicht am Betriebsvermögen. Eine Vermögen-
steuer auf Betriebsvermögen als Soll-Ertragsteuer ver-
fehlt die wirkliche Leistungsfähigkeit umso mehr, je mehr
der Soll-Ertrag vom Ist-Ertrag abweicht. Eine Soll-Er-
tragsteuer mag zur Planwirtschaft passen, zur Marktwirt-
schaft passt sie auf keinen Fall.
Wie kann man auf der einen Seite – auch im Hinblick
auf Basel II – eine höhere Kapitalausstattung für die Be-
triebe in Deutschland fordern, wenn gleichzeitig ein Teil
des gebildeten Vermögens sofort als Vermögensteuer wie-
der abgeführt werden soll? Wie kann man in wirtschaft-
lich schwierigen Zeiten, in denen ein Betrieb rote Zahlen
schreibt, den Betrieb dadurch zusätzlich schwächen, dass
auch in diesen Zeiten Vermögensteuer zu zahlen ist?
Da vor der Aussetzung circa 60 Prozent des Vermögens
in Form von betrieblichem Vermögen vorhanden waren,
würde also das Hauptaufkommen der Vermögensteuer die
Kapitalausstattung der Betriebe betreffen.
Damit wird ein weiteres Mosaiksteinchen zum steuer-
lichen Chaos von Rot-Grün hinzugefügt, welches dazu
führt, dass noch weniger in Deutschland investiert wird,
noch weniger Arbeitsplätze geschaffen und noch mehr
Arbeitsplätze abgebaut werden.
Der Steuererhöher Gabriel will uns jetzt glauben ma-
chen, dass durch den Steuersenker Gabriel mehr Gelder in
die öffentlichen Haushalte fließen. Wenn dieses gleich-
zeitig mit Kontrollmitteilungen und Heranziehung von
Zinseinkünften zu Sozialversicherungsbeiträgen verbun-
den ist, dürfte dieses Modell der Zinsabgeltungssteuer
nicht zu mehr, sondern zu weniger Steuereinnahmen
führen.
Herr Kollege Thiele, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Ende.
Die FDP würde es begrüßen, wenn dieser Gesetzent-
wurf zur Klarstellung der Position der rot-grünen Mehr-
heit vor den Landtagswahlen in Niedersachen und Hessen
im Deutschen Bundestag verabschiedet wird.
Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst habe ich mich gewundert, Herr Thiele: Mir war
bislang nicht klar, dass wir bis 1996 in den westdeutschen
Bundesländern eine Planwirtschaft gehabt haben. Wenn
Ihre Argumentation stimmt – Sie haben 29 Jahre mit-
regiert –, dann kann man schließen, dass Sie 27 Jahre lang
dafür gesorgt haben, dass die Vermögensteuer als Soll-Er-
tragsteuer erhoben worden ist.
Ich möchte daher wissen, wie Sie so argumentieren kön-
nen.
Ein zweiter Punkt ist mir aufgefallen. Ich frage mich:
Warum ist die FDP nicht an dem Gesetzentwurf beteiligt?
Haben Sie irgendwelche Probleme mit dem ehemaligen
Koalitionspartner?
Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten untereinander?
Dass die Union kein Interesse mehr daran hat, gemeinsam
mit der FDPauf Anträgen und Gesetzentwürfen zu stehen,
das kann ich gut verstehen, denn Sie haben im Moment ja
einen ziemlichen Sauladen.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass die Bayeri-
sche Staatskanzlei anscheinend immer noch als Opposi-
tionszentrale fungiert.
Dies haben wir in Wahlkampfzeiten erlebt und dies erle-
ben wir heute leider immer noch.
Die Überlegung, das Vermögensteuergesetz auf Bundes-
ebene auszusetzen und den Ländern zu sagen, das könn-
ten sie so machen, wie sie wollen, ist wirklich blanker Po-
pulismus aus dem Hause Stoiber.
Es gibt klare Positionen von verschiedenen Steuerjuris-
ten. So haben zum Beispiel nach Meinung des Steuer-
rechtlers Georg Crezelius die Länder überhaupt keine
Möglichkeit, eigene Vermögensteuergesetze zu erlassen.
Den Ländern – ich zitiere –
Carl-Ludwig Thiele
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002
Christine Scheel
steht dafür keine Gesetzgebungskompetenz zu – und
zwar auch dann nicht, wenn der Bund das noch exis-
tente, aber nicht mehr anwendbare Bundesvermö-
gensteuergesetz förmlich abschaffte.
Der Verfassungsrechtler Helmut Siekmann schreibt in
einem renommierten Kommentar zum Grundgesetz – ich
zitiere –:
Der Landesgesetzgeber ist nicht berechtigt, Steuern
einzuführen, die der Bundesgesetzgeber ersatzlos
aufgehoben hat.
Denn mit der Aufhebung gebe der Bund seine Gesetzge-
bungskompetenz nicht auf, sondern übe sie nur negativ
aus, indem er feststelle, dass er nichts regeln wolle. Dies
ist die derzeitige Einschätzung der Verfassungslage, wie
sie von renommierten Verfassungsjuristen in diesem Land
formuliert wird. Deswegen sage ich noch einmal: Dieser
Antrag ist purer Populismus.
Ich frage mich auch, warum denn CDU-regierte Län-
der und auch die CSU noch im letzten Jahr das Bewer-
tungsgesetz in der derzeitigen Fassung um fünf Jahre ver-
längert haben. Die Frage der ungleichen Bewertung von
verschiedenen Vermögensarten, wie zum Beispiel von
Geld- und Immobilienvermögen, wird derzeit vom Bun-
desverfassungsgericht nach Anrufung durch den Bundes-
gerichtshof erneut geklärt. Im Jahre 2003 soll dazu ein Ur-
teil gesprochen werden. Dann wird es eine Novellierung
des Bewertungsgesetzes geben müssen; sie ist fällig. Es
wird dann neue Bemessungsgrundlagen für die Erb-
schaftsteuer und wohl auch für die Grundsteuer geben
müssen. Auch Herr Scheelen hat darauf hingewiesen.
Für uns ist klar, dass wir eine Substanzbesteuerung
durch eine Vermögensteuer nicht wollen.
– Ich bin ja Grüne, oder?
Wir wollen dies nicht, weil die Erträge für den Vermö-
gensaufbau bereits besteuert wurden. Allein der Erbfall ist
für uns der richtige Zeitpunkt, um einen Beitrag für Zu-
kunftsinvestitionen der Gesellschaft aus der Vermögens-
substanz zu leisten. Dies ist unsere Position. Diese ist ein-
deutig und klar.
Ich bitte Sie, die CDU/CSU, aber auch die FDP: Hören
Sie jetzt auf, diese Debatte weiterzuführen, denn auslän-
dische Investoren schauen sehr genau, ob diese Debatte
immer weiter fortgeführt wird. Wenn Sie beklagen, dass
wir in diesem Land wirtschaftliche Probleme haben – was
ja stimmt –, dann fordere ich Sie auf: Beginnen Sie hier
im Deutschen Bundestag nicht immer solche Debatten, ir-
ritieren Sie die ausländischen Anleger nicht noch mehr,
indem Sie behaupten, dass die die Regierung tragenden
Parteien die Vermögensteuer einführen wollen! Dies wol-
len wir nicht und dabei bleiben wir auch.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Über-
weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/196 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Be-
rufe in der Krankenpflege sowie zur Änderung
des Krankenhausfinanzierungsgesetzes
– Drucksache 15/13 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Monika Brüning von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig und auch notwendig, das Krankenpflegegesetz
zu novellieren. Die demographische, medizinische und
technische Entwicklung stellt die Krankenpflegeaus-
bildung vor neue Herausforderungen. Diesen Herausfor-
derungen müssen wir, der Gesetzgeber, uns stellen. Aus
diesen Gründen begrüßt die CDU/CSU-Fraktion die Ge-
setzesinitiative der Bundesregierung.
Aber auch dieses Gesetzeswerk ist – wie viele andere
Gesetzentwürfe dieser Regierungskoalition – völlig unzu-
reichend.
Einige wichtige Punkte möchte ich nennen.
Erstens. Die besondere Betonung der Kinderpflege ist
sinnvoll. Warum wird aber nicht ebenso die Pflege der äl-
teren Menschen im Krankenhausbereich hervorgehoben?
Was ist mit den Besonderheiten der geriatrischen Versor-
gung?
Zweitens. Zweifellos muss die Ausbildung der Kran-
kenschwestern und Krankenpfleger den neuen Anforde-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Dezember 2002 1301
rungen angepasst werden. Nicht akzeptabel ist jedoch,
dass die Ausbildung am zu pflegenden Menschen, also die
Umsetzung des ausschließlich in der Theorie erlernten
Stoffes, in der Realität zu kurz kommt.
Wie anders als in der Praxis können Auszubildende die
notwendige Routine im Umgang mit den zu pflegenden
Menschen erlangen? Praxisnähe ist das A und O für hu-
mane Pflege.
Regeln Sie die Darstellung und Bewertung der erfor-
derlichen Praxisanleitung besser, damit eine klare Wei-
chenstellung vorgenommen wird. Hier muss die Frage der
Finanzierung der Mehrkosten für die Ausbildung der Pra-
xisanleiterinnen und Praxisanleiter noch geklärt werden,
damit es eine ausreichende Anzahl an Ausbildern für qua-
lifizierte praktische Anleitungen gibt.
Drittens. Die praktische Ausbildung außerhalb des
Krankenhauses wird deutlich ausgeweitet. Dies ist aus
Sicht der Praxis vernünftig. Diese Ausbildung muss aber
nicht zum Nulltarif stattfinden. Wo bleibt die Beteiligung
derjenigen an den Kosten der Ausbildung, die vom Ein-
satz der Krankenpflegeschülerinnen und -schüler in ihren
Einrichtungen direkt profitieren?
Ich sage ganz klar: Die CDU/CSU-Fraktion vertritt die
Auffassung, dass durch eine Anhebung des Anrechnungs-
schlüssels von sieben Schülern zu einer Krankenpflege-
stelle auf neuneinhalb zu eins kein ausreichender Aus-
gleich der Belastungen erreicht werden kann.
Denn eine Verringerung von insgesamt 500 Stunden für
die praktische Ausbildung und ein höherer Anteil an
außerklinischen Einsätzen werden die ohnehin brisante
personelle Situation der Pflege in den Kliniken weiter
verschärfen. Dies will die Union vermeiden.
Schon heute beklagen Fachverbände wie der Deutsche
Pflegeverband, dass in den vergangenen zehn Jahren
mehr als 20 Prozent der Ausbildungsplätze verloren ge-
gangen sind. Sollte der Gesetzentwurf im Punkt Finan-
zierung nicht nachgebessert werden, wird der Faktor Aus-
bildung mehr und mehr zum Wettbewerbsnachteil der
ausbildenden Krankenhäuser. Diese Situation verschärft
sich durch die Ankündigung einer Nullrunde für die Kran-
kenhäuser.
Die ersten Konsequenzen daraus sind einer Studie des
Deutschen Krankenhausinstitutes zu entnehmen. Danach
ist im kommenden Jahr zu befürchten, dass pro Kranken-
haus durchschnittlich 15 Mitarbeiter entlassen werden.
Damit werden mehr als 27 000 Klinikarbeitsplätze verlo-
ren gehen. In diesem Fall hätte der Pflegebereich die
Hauptlast bei dieser Entlassungswelle zu tragen.
Viertens. Die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts zum Altenpflegegesetz vom 24. Oktober dieses Jah-
res und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die
Krankenpflege zwingen uns auch hier zum Handeln. Es
wird aufgrund dieses Urteils deutlich, dass die Regelun-
gen für den Beruf der Gesundheits- und Krankenpflege-
helferin sowie des Gesundheits- und Krankenpflegehel-
fers, die in § 8 des Gesetzentwurfs definiert sind, keiner
richterlichen Überprüfung standhalten werden. Unser
Auftrag lautet nun, die Aufgaben der Gesundheits- und
Krankenpflegerin bzw. des Gesundheits- und Kranken-
pflegers deutlich von denen des Helfers abzugrenzen.
Meine Damen und Herren, mit der Novellierung des
Krankenpflegegesetzes drehen Sie allerdings nur an ei-
nem kleinen Stellrad bei der gesundheitlichen Versorgung
der Bevölkerung. Massive Auswirkungen auf die Versor-
gung der Bevölkerung wird dagegen das Beitragssatzsi-
cherungsgesetz haben. Der Krankenhausbereich soll mit
einem Beitrag in Höhe von rund 340 Millionen Euro be-
teiligt werden. Am Beispiel dieser Nullrunde wird Ihre
verfehlte Gesundheitspolitik besonders im Krankenhaus-
bereich deutlich.
Hätte die Bundesregierung keine Ausnahmen zugelassen,
wäre das im Januar startende Fallpauschalensystem bei-
nahe torpediert und versenkt worden.
Es ist gefährlich und unsinnig, eine Ausnahme von der
Nullrunde mit einer Last-Minute-Teilnahme am DRG-
Optionsmodell zu koppeln.
Eine Nullrunde blockiert jegliche Strukturveränderung im
Gesundheitswesen. Daher ist es für Krankenhäuser öko-
nomisch lebenswichtig, davon ausgenommen zu werden.
Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass der überwiegende Teil
der Krankenhäuser noch gar nicht sinnvoll mit Fallpau-
schalen arbeiten kann? Das vorliegende System bietet
nicht in allen Fällen eine solide Kalkulationsgrundlage.
Das wird eine nach medizinischen und ökonomischen
Gesichtspunkten unzulängliche Versorgung nach sich zie-
hen. Rot-Grün ruiniert Stück für Stück die hohe Qualität
unseres Gesundheitswesens.
Insbesondere das Abrechnen von Leistungen für schwer-
wiegende Sonderfälle, zu denen zum Beispiel schwer
Brandverletzte, Querschnittsgelähmte, polytraumatisierte
Patienten und Palliativpatienten zählen, ist beim gegen-
wärtigen DRG-Optionsmodell nicht möglich. Abrech-
nungschaos, Motivationsverlust, zunehmender Arbeits-
druck und eine schlechtere Patientenversorgung sind
vorprogrammiert. Wollen Sie das wirklich?
Meine Damen und Herren, Sie stehen den Herausfor-
derungen konzeptionslos gegenüber. Der Schätzerkreis
der Kassen hat ein Defizit von 3,2 Milliarden Euro ermit-
telt. Als Folge wird der durchschnittliche Beitragssatz An-
Monika Brüning
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Custode
fang des kommenden Jahres mindestens um weitere
0,3 Prozentpunkte steigen.
Sie verschließen die Augen vor dem riesigen Loch zwi-
schen Einnahmen und Ausgaben der Krankenkassen:
Während die Einnahmen im Schnitt um nur 0,6 Prozent
gestiegen sind, betrug das Ausgabenwachstum in 2002
fast 3,5 Prozent.
Die Belastungen werden ferner durch die Umsetzung der
Hartz-Vorschläge noch weit höher ausfallen.
Wie sich auch heute gezeigt hat, ist es für eine gute Ge-
setzgebung äußerst hilfreich, auf die Union zuzugehen.
Dies kann ich Ihnen, liebe Vertreterinnen und Vertreter
der Koalition, im weiteren Gang des Verfahrens bei der
nun vorliegenden Novellierung des Krankenpflegegeset-
zes nur empfehlen.
Herzlichen Dank.
Frau Kollegin Brüning, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück-
wunsch!
Ich kann Ihnen mitteilen, dass die Reden der Parla-
mentarischen Staatssekretärin Marion Caspers-Merk, der
Kollegin Dr. Margrit Spielmann von der SPD, des Kolle-
gen Detlef Parr von der FDP und der Kollegin Petra Selg
von Bündnis 90/Die Grünen zu Protokoll genommen wer-
den sollen.1 Sind Sie damit einverstanden?
– Das ist sichtlich der Fall. Dann schließe ich die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/13 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än-derung des Gesetzes zur Neuregelung des Ener-giewirtschaftsrechts
– Drucksache 15/197 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es ist vorgesehen, folgende Reden zu Protokoll zu neh-
men: die des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ditmar
Staffelt, des Kollegen Rolf Hempelmann von der SPD, der
Kollegin Michaele Hustedt von Bündnis 90/Die Grünen,
der Kollegin Gudrun Kopp von der FDP und des Kollegen
Dr. Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion. Sind
Sie damit einverstanden? – 2
– Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/197 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend
von der Tagesordnung soll der Gesetzentwurf nicht an
den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
jedoch zusätzlich an den Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft und an den Aus-
schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 20. Dezember 2002, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.