Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Guten Tag, liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Internationales Jahr der Frei-
willigen.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Edith Niehuis.
D
Danke schön, Frau Präsidentin. – Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Internationale Jahr der
Freiwilligen 2001 liegt nun hinter uns. Es hat viele Er-
gebnisse mit positiven Auswirkungen auf die Zukunft
unserer Gesellschaft gebracht. Der Abschlussbericht liegt
vor und wurde heute im Kabinett behandelt.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte
1997 beschlossen, das Jahr 2001 zum Internationalen Jahr
der Freiwilligen zu machen. 123 Länder hatten sich in ei-
ner gemeinsamen Erklärung auf vier Ziele zur Förderung
des freiwilligen Engagements verpflichtet: Erstens. Der
wichtige und unverzichtbare Beitrag des freiwilligen En-
gagements für die gesellschaftliche Wohlfahrt sollte grö-
ßere Anerkennung finden. Zweitens. Die Aktivitäten der
Freiwilligen sollten eine stärkere Unterstützung durch
Staat, Gesellschaft und Wirtschaft erfahren. Drittens. Eine
stärkere Vernetzung von Aktivitäten sowie der Wissens-
austausch sollten die Effektivität des bürgerschaftlichen
Engagements erhöhen. Das Zusammenspiel dieser drei
Hauptziele sollte in den Ländern zu einer Stärkung des
freiwilligen Engagements führen.
Wir haben in unserem federführenden Ministerium
eine Projektgruppe gebildet, und es wurde ein Nationaler
Beirat eingerichtet. Träger dieses Nationalen Beirats war
der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge.
In diesem Nationalen Beirat saßen Vertreterinnen und
Vertreter der bundesweiten Träger des freiwilligen En-
gagements und ihrer Zusammenschlüsse, wie zum Bei-
spiel Wohlfahrtsverbände, Jugend- und Frauenverbän-
de, Freiwilligenagenturen, Stiftungen, Kirchen, Medien,
Bund, Länder und Kommunen. Der Nationale Beirat hat
sieben Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen ge-
bildet, wie zum Beispiel Arbeit und Wirtschaft, Öffent-
lichkeitsarbeit, Bildung und Ausbildung.
Der Deutsche Bundestag hat dankenswerterweise be-
reits Ende 1999 entschieden, eine Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ einzu-
richten. Mit ihr haben wir ständig eine intensive Zusam-
menarbeit gepflegt.
Das freiwillige Engagement ist in Deutschland wäh-
rend des Internationalen Jahres zu einer öffentlichen An-
gelegenheit geworden und war Gegenstand vielfältiger
Diskussionen. Für die Verbreitung der Ziele des IJF wurde
vor allem das Internet genutzt. Ende 2001 hatten sich auf
der Website „freiwillig.de“ 365 bundesweite Organisa-
tionen mit ihren Veranstaltungen eingetragen. 2001 gab es
insgesamt 2 398 980 Zugriffe auf diese Website. Debatten
zur Bürgergesellschaft und zur Zukunft des bürgerschaft-
lichen Engagements wurden weitergeführt. Dabei standen
nachhaltige Infrastrukturförderung und neue Kooperatio-
nen mit der Wirtschaft häufig im Mittelpunkt der Diskus-
sionen.
Im Rahmen des Internationalen Jahres der Freiwilligen
wurde vielfach Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Dazu ge-
hörte auch die Wanderausstellung „Freiwillig für mich,
für uns, für andere“. Es gab davon sieben Exemplare;
im Jahre 2001 wurde sie 120-mal eingesetzt. Für das
Jahr 2002 gibt es bereits 60 Buchungen. Ich möchte mich
bei all den Abgeordneten bedanken, die diese Wanderaus-
stellung in ihre Wahlkreise geholt haben. Ich denke, das
hat mitgeholfen, das Internationale Jahr der Freiwilligen
noch bekannter zu machen.
Der im Jahre 2000 veröffentlichte Freiwilligensurvey,
eine von uns finanzierte repräsentative Studie, zeigt, dass
sich 34 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, also rund
22 Millionen Menschen, bürgerschaftlich engagieren.
23789
238. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Beginn: 13.00 Uhr
Nach diesem Survey gibt es neben den 22 Millionen En-
gagierten weitere 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger,
die bereit wären, sich in irgendeinem Bereich zu enga-
gieren. Das heißt, wir können auf das Engagement unserer
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland stolz sein. Das be-
tone ich bewusst, weil viele einen Blick über die Grenzen
werfen und meinen, in anderen Ländern gäbe es ein größe-
res Engagement. Nein, auch bei uns gibt es in nahezu al-
len gesellschaftlichen Bereichen ein vorzeigbares bürger-
schaftliches Engagement. Auf den Bereich Sport und
Bewegung entfallen allein 22 Prozent des Engagements,
auf die drei anderen großen Bereiche Freizeit und Gesel-
ligkeit, Kultur und Musik sowie Schulen und Kindergärten
durchschnittlich 10 Prozent. Insgesamt entfallen auf diese
vier Bereiche rund 55 Prozent des Engagements.
Das Engagement von Kindern und Jugendlichen ver-
dient unter dem Aspekt der Zukunft des bürgerschaftlichen
Engagements besondere Aufmerksamkeit. Kinder und Ju-
gendliche sind eine wichtige Gruppe der Engagierten. Sie
betätigen sich in Vereinen, Verbänden, Projekten und in-
formellen Gruppen und übernehmen dabei Verantwortung
für sich selbst und andere. Engagement und Engagement-
bereitschaft von Kindern und Jugendlichen stellen die Ba-
sis für die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements in
unserer Gesellschaft dar. Nach den Ergebnissen des Frei-
willigensurvey ist die Gruppe der 14- bis 24-Jährigen im
Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit einer Quote von
37 Prozent sogar in überdurchschnittlichem Maße enga-
giert. Jugendliche sind in einem erheblichen Umfang und
mit beachtlicher Intensität in vielfältigen Feldern am bür-
gerschaftlichen Engagement beteiligt. Ich meine, wir soll-
ten uns größere Mühe geben, dieses differenzierte Bild der
Jugendlichen auch in der Öffentlichkeit und in den Medien
offensiver zu transportieren.
In dieser Wahlperiode war es auch ein besonderes An-
liegen der Bundesregierung, die individuellen und insti-
tutionellen Rahmenbedingungen des freiwilligen und
des bürgerschaftlichen Engagements zu verbessern. Ver-
besserte Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tä-
tigkeiten – zum Beispiel die verbesserte Übungsleiterpau-
schale – wurden beschlossen, über die betriebliche
Mitbestimmung das bürgerschaftliche Engagement im Er-
werbsleben verbessert, der freiwillige Einsatz von Ar-
beitslosen, die Selbsthilfe und das bürgerschaftliche Enga-
gement in der Pflege und Hospizarbeit gefördert und die
Vereine steuerlich entlastet. Insbesondere im Bereich der
Stiftungen sind die steuer- und zivilrechtlichen Rahmen-
bedingungen in entscheidender Weise zukunftsorientiert
gestaltet worden. Auch haben wir die Einsatzfelder für das
freiwillige soziale Jahr von jungen Menschen ausgeweitet.
Bevor die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger-
schaftlichen Engagements“ dem Bundestag in der nächs-
ten Woche weitere Handlungsempfehlungen übergeben
wird, ist somit schon vorher in den vergangenen vier Jah-
ren eine Vielzahl von Verbesserungen durch die Bundes-
regierung umgesetzt worden.
Das Internationale Jahr der Freiwilligen 2001 wird erst
dann ein voller Erfolg, wenn es gelingt, die Fortschritte
zugunsten des bürgerschaftlichen Engagements nachhal-
tig zu sichern. Dazu und zur Weiterentwicklung des frei-
willigen Engagements sieht das Bundesminsterium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend folgende Aufgaben
und Ziele als vorrangig an:
Erstens. Wir müssen die Kooperationsstrukturen zur
Vernetzung der bürgerschaftlich Engagierten in Wirt-
schaft, Staat und Gesellschaft weiter verbessern, das Leit-
bild der engagementorientierten Organisationen in mög-
lichst allen gesellschaftlichen Einrichtungen umsetzen
bzw. einführen, Schulen, Hochschulen und das gesamte
Bildungswesen stärker als bisher zur Förderung und An-
erkennung des bürgerschaftlichen Engagements bewe-
gen, die Förderung des freiwilligen Engagements durch
und in Unternehmen dauerhaft und breiter verankern so-
wie die öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung für
freiwilliges Engagement in den Medien über das Interna-
tionale Jahr hinaus erhalten und, wenn möglich, verstär-
ken. Bürgerschaftliches Engagement schafft auf diese
Weise nachhaltig wichtige Grundlagen für die soziale
Bürgergesellschaft und für soziales Kapital und bildet
eine umfassende Diskurskultur für eine funktionsfähige
und starke soziale Demokratie.
Immer wieder wird gefragt, was nach einem Internatio-
nalen Jahr passiert und ob dem, was in einem solchen Jahr
gut gelaufen ist, noch etwas nachfolgt. Ich meine, wir kön-
nen stolz darauf sein, dass der Nationale Beirat über das
Jahr 2001 hinaus Überlegungen angestellt und die Mei-
nung vertreten hat, dass ein Netzwerk bundesweiter Orga-
nisationen für das freiwillige Engagement notwendig ist.
Ich kann Ihnen mitteilen, dass heute die Gründungsver-
sammlung des Netzwerks für freiwilliges Engagement in
der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat. Sei-
tens unseres Ministeriums werden wir uns bemühen, die-
ses Netzwerk auch weiterhin aktiv zu begleiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin. – Ich bitte Sie, verehrte Abgeordnete, zu-
erst Fragen zu dem angesprochenen Themenkomplex zu
stellen.
Erster Fragesteller ist der Kollege Lothar Binding.
Frau Staatsse-
kretärin Niehuis, Sie haben schon sehr viel hinsichtlich
der Arbeitsergebnisse der Enquete-Kommission ausge-
führt. Könnten Sie ein Resümee des Internationalen Jah-
res der Freiwilligen geben,
vielleicht unter Zusammenfassung der für Sie wichtigsten
Ergebnisse dieses Jahres?
D
Herr von Klaeden, das wird in der Tat ein kurzes Resümeewerden, weil ich dazu schon vieles ausgeführt habe.Das wichtigste Ergebnis des Internationalen Jahres derFreiwilligen war, dass es gelungen ist, die Organisationen,die Möglichkeiten für freiwilliges Engagement anbieten,in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu stellen und mitihnen in netzwerkartigen Strukturen zusammenzuarbei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis23790
ten. Herr Kollege Binding, wenn Sie sehen, dass dasim Nationalen Beirat entstandene Netzwerk über dasJahr 2001 hinaus wirkt, dann werden Sie sicherlich mitmir der Meinung sein, dass wir für die Zukunft des frei-willigen sozialen Engagements einiges geleistet haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Maria
Eichhorn, Ihre Frage, bitte.
Frau Staatssekretärin,
die Senioren fühlen sich in dem angesprochenen Bereich
etwas vernachlässigt. Das so genannte Internationale Jahr
der Freiwilligen stand ja überwiegend unter dem Motto
„Engagement von jungen Menschen“. Das wurde me-
dienwirksam immer wieder zelebriert, wozu gerade die
jungen Menschen gesagt haben, sie seien benutzt worden.
Die Senioren kamen jedenfalls kaum vor. Welchen Grund
gab es dafür, dass Sie die Senioren außen vor gelassen ha-
ben? Schließlich sollte man bedenken, dass die Senioren
in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewin-
nen und dass gerade auch die aktiven Senioren im Mittel-
punkt unserer Politik stehen sollten.
D
An meine Ohren ist die Klage nicht gedrungen, dass sich
die Senioren außen vor gefühlt haben. Wenn es so gewe-
sen wäre, würde ich das sehr bedauern.
Wenn man sich die im Internationalen Jahr der Frei-
willigen geleistete Arbeit hinsichtlich der Senioren genau
anschaut, dann stellt man fest, dass mein Ministerium die-
ses Jahr dazu genutzt hat, das Erfahrungswissen der Seni-
oren stärker in die Gesellschaft einfließen zu lassen. Sie
wissen, dass es momentan ein Modellprojekt gibt, bei
dem es um das Erfahrungswissen älterer Menschen geht.
Insofern denke ich, dass das, was Sie vorgetragen haben,
nur ein einzelner und kein allgemeiner Eindruck ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Fragestellerin
ist die Kollegin Ute Kumpf.
Frau Staatssekretärin, im Interna-
tionalen Jahr der Freiwilligen wurde nicht nur gefeiert;
die Bundesregierung und die Enquete-Kommission haben
ja auch gearbeitet. Mich interessiert Folgendes: Können
Sie eine kurze Zusammenfassung der gesetzlichen Rege-
lungen geben, die vor allem in den letzten drei Jahren – im
Unterschied zu der Zeit, als noch die CDU/CSU regiert
hat – zu einer Stärkung des bürgerschaftlichen Engage-
ments geführt haben?
– Das muss man öfter hören. Ich finde, darauf kann gar
nicht genug hingewiesen werden. Die Auflistung der ein-
zelnen Regelungen durch die Frau Staatssekretärin war
noch nicht detailliert genug und beinhaltete nicht alles,
was wir auf den Weg gebracht haben.
D
Frau Kollegin Kumpf, die Opposition hat gut zugehört und
zu Recht bemerkt, dass ich darauf schon stichwortartig
eingegangen bin. Wir haben – diese Forderung gab es
schon lange – die Übungsleiterpauschale von 2 400 DM
auf 1 848Euro aufgestockt. Wir haben außerdem den Kreis
der Anspruchsberechtigten über den klassischen Übungs-
leiter hinaus unter anderem auf Erzieherinnen und Erzie-
her sowie auf Ausbilderinnen und Ausbilder ausgeweitet.
Deswegen profitieren mittlerweile sehr viel mehr Men-
schen, die sich in ehrenamtlich tätigen Organisationen en-
gagieren, von der Übungsleiterpauschale.
Wir haben aber auch darüber hinaus die gesamten Rah-
menbedingungen für freiwilliges Engagement verbessert.
Es ging unter anderem um die Frage, ob diejenigen, die
als Übungsleiter im Sport tätig sind, abhängig beschäftigt
sind. Wir haben dafür gesorgt, dass sie als Selbstständige
anerkannt werden. Damit stellt sich die Frage der Sozial-
versicherungspflicht für diese Gruppe nicht mehr. Wir ha-
ben ferner durch Änderung einer Lohnsteuerrichtlinie im
Jahr 2002 denjenigen ehrenamtlich Tätigen, die Auf-
wandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen beziehen,
eine erweiterte Steuerfreistellung ermöglicht. Das war
insbesondere ein Anliegen der Feuerwehrleute und der
Katastrophenschützer. Insofern haben wir ermöglicht,
dass im Rahmen dieser Neufassung auch geregelt wurde,
dass der Steuerfreibetrag für die aus öffentlichen Kassen
gezahlten Aufwandsentschädigungen auf 154 Euro, also
300 DM, angehoben und damit der neuen Übungsleiter-
pauschale gleichgestellt wird. Weiter haben wir das Stif-
tungsrecht verändert, sodass das Stiften nicht nur für
Reiche interessant ist und überhaupt unbürokratischer ab-
laufen kann. Und schließlich, worauf ich als Vertreterin
unseres Hauses besonders stolz bin: Wir haben die Ein-
satzfelder des freiwilligen sozialen Jahres für junge Leute
erheblich ausgeweitet: vom europäischen nun auch ins
außereuropäische Ausland und vom engeren sozialen Be-
reich auf Kulturpflege und Jugendhilfe.
Ich glaube, dass durch diese Ausweitung der Einsatz-
felder des freiwilligen sozialen Jahres für junge Leute nun
gerade auch Bereiche angesprochen werden, in denen
klassisches bürgerschaftliches Engagement gefordert
wird. Insofern besteht die Hoffnung, jungen Leuten Im-
pulse für die Zukunft zu geben, sich über das freiwillige
soziale Jahr hinaus weiterhin zu engagieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Frage
kommt von der Kollegin Ina Lenke.
Frau Staatssekretärin, was habenSie getan, um die rechtlichen Grundlagen für einen allge-meinen freiwilligen Dienst für Menschen in Deutschlandzu schaffen?Ich habe sehr wohl gehört, was Sie an Einzelmaßnah-men eingeleitet haben. Diese Maßnahmen sind wirklichnur Einzelmaßnahmen. Ein Konzept für einen allgemei-nen freiwilligen Dienst, das Sie zu Beginn Ihrer Legisla-turperiode versprochen haben, ist von Ihnen nicht ge-schaffen worden.Ich bitte Sie, mir darauf zu antworten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis23791
D
Dazu stehe ich hier, Frau Lenke.
Das, was ich zum freiwilligen sozialen und zum frei-
willigen ökologischen Jahr gerade erwähnt habe, ist ein
kleiner Baustein – das gebe ich Ihnen zu – zu einem um-
fassenden Freiwilligengesetz. Wir haben immer gesagt:
Wir warten ab, was die Enquete-Kommission „Bürger-
schaftliches Engagement“, die der Bundestag 1999 einge-
setzt hat, zu diesem Thema hervorbringt. Ich meine, es
wird eine Aufgabe der nächsten Legislaturperiode sein,
die Anregungen und Empfehlungen der Enquete-Kom-
mission hinsichtlich von Möglichkeiten eines Freiwilli-
gengesetzes aufzugreifen. Es ist keine einfache Aufgabe,
ein Freiwilligengesetz in dieser Republik zu machen.
Sie haben so locker gesagt, das seien alles kleine Ein-
zelmaßnahmen, die ich angeführt habe. Ich erinnere daran,
dass es nur durch das Job-AQTIV-Gesetz möglich wurde,
dass Arbeitslose wirklich ordentlich ehrenamtliche Arbeit
leisten können. Bevor es dieses Gesetz gab, wurde diese
Tätigkeit auf 15 Wochenstunden beschränkt, weil darüber
hinaus der Anspruch auf Arbeitslosengeld verloren ging.
Insofern meine ich: Wenn Sie die Addition dieser vielen
Maßnahmen betrachten, stellen Sie fest, dass die Rahmen-
bedingungen für die freiwilligen bürgerschaftlichen Tätig-
keiten in dieser Gesellschaft erheblich verbessert wurden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Noch eine kurze
Nachfrage von Frau Lenke.
Dieser Meinung, Frau Staatssekre-
tärin, bin ich nicht.
Ich habe aber noch eine Frage. Sie haben als Pluspunkt
genannt, dass der freiwillige soziale Dienst auf das außer-
europäische Ausland erweitert wurde. Sie kennen genau-
so wie ich die Ergebnisse der entsprechenden Anhörung.
Die Einrichtungen halten dies für zu teuer; es wird kaum
ein neuer Platz für freiwillige Dienste im außereuropä-
ischen Ausland geschaffen. Was haben Sie in dieser An-
gelegenheit bis heute unternommen?
D
Sie wollen jetzt schon die Zukunft beurteilen. Dieses Ge-
setz ist am 1. Juni dieses Jahres in Kraft getreten. Nun
warten wir doch einmal ab! Sie können nicht die Be-
fürchtungen einzelner Organisationen, dass eventuell
keine zusätzlichen Plätze geschaffen werden, bereits als
gegeben annehmen. In einem Jahr können wir nachsehen,
was sich daraus ergeben hat.
– Auch das meinetwegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt ist der Kollege
Peter Dreßen mit seiner Frage an der Reihe.
Frau Staatssekretärin, es wird bei
der Debatte um das bürgerschaftliche Engagement oft auch
gefordert, dass man finanzielle Förderungen einbauen
sollte. Welche Bedeutung messen Sie dieser Forderung zu?
Was hat die Bundesregierung dazu gegebenenfalls getan?
Und wie kann man zusätzliche Partner für die Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements finden? Ich denke hierbei
an die Wirtschaft, an Unternehmen, Kommunen usw.
D
Grundsätzlich muss man wohl sagen, dass finanzielle An-
reize nicht unbedingt zu mehr freiwilligem Engagement in
einer Gesellschaft führen. Das hat auch unser Freiwilligen-
survey ergeben. Auf der anderen Seite muss Aufwand, der
entsteht, wenn man sich freiwillig engagiert, natürlich steu-
erlich abgesetzt werden können. Dazu haben wir die richti-
gen Schritte schon eingeleitet. Ich weiß, dass die Enquete-
Kommission noch weiter gehende Vorschläge gemacht hat.
Man wird prüfen müssen, ob das der richtige Weg ist.
Darüber hinaus haben Sie gefragt, wie man Partner
finden kann. Das Bild vom aktivierenden Staat bedeutet ja
gerade, dass nicht der Staat allein für das freiwillige En-
gagement in der Gesellschaft zuständig ist, sondern dass
das immer eine Dreifach- oder Mehrfachbeziehung ist:
Staat, Gesellschaft, Wirtschaft usw. Das war ein großes
Thema im Internationalen Jahr der Freiwilligen.
Was Unternehmen anbetrifft, so lohnt es sich, hin und
wieder über die Grenzen zu schauen, weil es durchaus
hervorragende Beispiele von Unternehmen gibt, die sich
im Gemeinwesen engagieren. „Corporate Citizenship“ ist
das Stichwort. Das bedeutet mehrererlei: Unternehmen
ermöglichen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
sich zu engagieren, und sehen das auch als positiv für das
Image des Unternehmens. Aber auch das Unternehmen
selbst sieht sich als Teil des Gemeinwesens. Wenn man in
die Dörfer guckt, stellt man fest, dass sich der kleine
Handwerksmeister durchaus als Teil des Dorfes, des Ge-
meinwesens fühlt; er wird Sportvereinsvorsitzender oder
was auch immer.
Da lässt sich in dem Bereich der Großunternehmen in der
Bundesrepublik Deutschland durchaus noch etwas verbes-
sern. Das wird auch noch die Aufgabe der Zukunft sein.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Dehnel,
ihre Frage, bitte.
Frau Staatssekretä-rin, wie erklären Sie sich die Tatsache, dass gerade Endedes vergangenen Jahres – das war das Internationale Jahrder Freiwilligen – und Anfang dieses Jahres besondersviele Schreiben in unseren Wahlkreisbüros eingegangensind, in denen sich Vereine und Verbände über die ver-schlechterten Rahmenbedingungen beklagen, wenn es umdiese Dienste geht? Das war nicht nur in den Wahlkreis-büros der Opposition so, sondern – das weiß ich – auch indenen der Regierungskoalition. Wie erklären Sie sich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 200223792
also, dass in diesen Briefen verschlechterte Rahmen-bedingungen beklagt werden?D
Herr Dehnel, das ist eine sehr allgemeine Frage. Ich habe
mir doch Mühe gegeben, Ihnen darzustellen, dass wir die
Rahmenbedingungen an vielen Stellen verbessert haben,
und zwar auch für die Vereine. Es hat steuerliche Verbes-
serungen gegeben. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie mir ein-
mal so ein Schreiben geben. Ich gucke dann, was da zur
Klage geführt hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nachfrage, bitte, Herr
Kollege.
Ich habe eine solche
Anfrage schon einmal an die Frau Kollegin Mascher ge-
stellt. Sie hat auch gesagt, es gebe eigentlich keinen An-
lass dafür.
D
Das ist ja gut.
Ich möchte deshalb
nachfragen: Meinen Sie nicht auch, dass zum Beispiel die
kommunalen Finanzen eine große Rolle spielen? Die ha-
ben sich in Ihrer Regierungszeit arg verschlechtert. Das
gilt auch für die Finanzen der mittelständischen Betriebe,
wobei gerade diese Betriebe die Freiwilligendienste so-
wie Vereine und Verbände stark unterstützen.
D
Jetzt machen Sie aber einen großen Bogen, um wieder
zum Thema des freiwilligen Engagements zu kommen.
– Aber Sie müssen mir trotzdem noch irgendwelche
Brücken bauen, damit ich eine Verbindung herstellen kann
zu Ihrer Unterstellung, die kommunalen Finanzen hätten
sich gerade während unserer Regierungszeit erheblich ver-
schlechtert. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass
diese Klage bis 1998 sehr stark geführt wurde. Was die Si-
tuation der mittelständischen Unternehmen anbetrifft, so
sind wir völlig unterschiedlicher Meinung. Ich denke da
nur an die Steuerreform. Herr Dehnel, lassen Sie uns an die-
ser Stelle jetzt keine wirtschaftspolitische Debatte führen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt ist die Kollegin Ilse
Aigner an der Reihe.
Frau Staatssekretärin, ich
will etwas konkreter werden. Es geht um die Auswirkun-
gen des 630-DM-Gesetzes bzw. 325-Euro-Gesetzes auf
das Ehrenamt; in der Enquete-Kommission durften wir
darüber ja nicht diskutieren.
Ich beziehe mich jetzt nicht auf diejenigen, die die
Übungsleiterpauschale oder sogar noch etwas darüber hi-
naus bekommen, sondern ich beziehe mich auf den
Schatzmeister eines Vereins, der vielleicht 80 Übungslei-
ter betreut, die solche Zahlungen bekommen, und der
dann Kleinstbeträge an die Rentenversicherung und an
die Krankenversicherung abrechnen muss. Ich beziehe
mich auf ein Mütterzentrum, das Mütter vielleicht auch
nebenberuflich im Rahmen von 630-DM- respektive 325-
Euro-Verträgen beschäftigt, das einen Riesenbürokra-
tieaufwand hat und keine Mark dafür bekommt; man ist ja
ehrenamtlich tätig. Sind Sie also der Ansicht, dass das
325-Euro-Gesetz ein Positivum war zugunsten des bür-
gerschaftlichen Engagements, zugunsten des Ehrenamtes,
oder meinen Sie nicht auch, dass das Gesetz sehr viel zer-
brochen hat? Sind die Maßnahmen, die Sie im Bereich der
Feuerwehren, im Bereich der Erhöhung der Übungsleiter-
pauschalen durchgeführt haben, nicht sogar eine Reaktion
darauf gewesen, dass Sie festgestellt haben, dass das ein
Schritt in die falsche Richtung war?
D
Ich glaube, das sind zunächst einmal zwei Paar Schuhe.
Das eine Paar ist der Arbeitsmarkt; das sind die
Arbeitsverhältnisse geringfügig Beschäftigter, die Sie an-
gesprochen haben. Da war es uns immer ganz wichtig,
dass auch diese sozialversicherungspflichtig sein können.
Das ist die gesetzliche Änderung. Ich denke, wir haben
durch diese Änderung auch sehr viele neue Arbeitsplätze
geschaffen, neue Jobs geschaffen. Das heißt, 3 Millionen
geringfügig Beschäftigte, die wir haben, sind jetzt auch
sozialversicherungspflichtig. Das wird sich für die nach-
her positiv auswirken, wenn Sie am Ende des Arbeits-
lebens die Rentenlaufbahn dieser Personengruppe be-
trachten. Das ist das eine, nämlich die geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse.
Bei dem anderen, was Sie gesagt haben, nämlich der An-
hebung der Steuerfreistellung für Aufwandsentschädigun-
gen aus öffentlichen Kassen auf 154 Euro, geht es auch um
eine Reaktion auf die Ehrenamtlichen im Bereich der Feu-
erwehr. Nun muss ich Ihnen allerdings sagen, man kann
diese Entlastung finanziell auch nicht bis in jede Höhe trei-
ben, sondern man muss schon weiterhin die Unterschei-
dung pflegen, ob das eine Aufwandsentschädigung für ein
Ehrenamt ist – und das kann man sich immer nur bis zu ei-
ner bestimmten Höhe vorstellen – oder ob das nicht lang-
sam schon ein Einkommen für eine Nebentätigkeit wird.
Da unterscheiden wir uns vielleicht in der Einschätzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Auch hierzu gibt es
eine kurze Nachfrage.
Ich glaube, ich habe meineFrage deutlich gestellt, aber frage Sie trotzdem noch ein-mal. Es geht mir nicht um diejenigen, die dies bekommen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Wolfgang Dehnel23793
sondern es geht mir um den ehrenamtlich tätigen Schatz-meister eines Sportvereins, der vielleicht eine Vielzahlvon Übungsleitern abzurechnen hat, die über der Pau-schale liegen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel –nicht aus Bayern, damit das nicht falsch verstanden wird,sondern von einem Verband in Norddeutschland, inSchleswig-Holstein – –D
Es ist gut, dass Sie darauf hinweisen.
Ich sage das, damit das ein-
mal konkret wird. Denn die haben uns geschildert, dass
sie 80 Übungsleiter haben, die zum Teil auch schon nach
der alten Regelung steuerpflichtig gewesen sind, und dass
sie es damals mit einem Finanzamt und mit einer Kran-
kenversicherung zu tun gehabt haben. Nach der neuen
Regelung waren es vier Finanzämter, 14 Krankenversi-
cherungen und vier Rentenversicherungsträger, und es
waren Kleinstbeträge von 2,30 DM, von 5,30 DM abzu-
rechnen und abzuführen.
Jetzt geht es mir nicht um diejenigen, die dies bekom-
men, sondern es geht mir um den ehrenamtlich tätigen
Schatzmeister, der diesen Verwaltungsbürokratismus zu
bewältigen hat. Nur darum geht es mir.
D
Das waren dann aber geringfügige Beschäftigungsver-
hältnisse; in dieser Kategorie waren die.
Ja, ja.
Meinen Sie, dass es für diesen ehrenamtlich Tätigen
sehr erfreulich war, diese Mehraufwendungen zu bewerk-
stelligen?
D
Nein, das glaube ich nicht.
Meinen Sie, dass er das
künftig auch weiterhin tun wird?
D
Nun, wir sind hier schon wieder genau in der Ecke, in der
man fragen muss: Was ist ehrenamtliche Tätigkeit? Was
sind geringfügige Beschäftigungsverhältnisse? Wir dre-
hen uns hier im Moment im Kreis.
Ich sage Ihnen: Am Anfang, als das neue Gesetz für ge-
ringfügige Beschäftigungsverhältnisse kam, gab es in der
Tat einen bürokratischen Aufwand.
Nach meiner Erfahrung glaube ich, dass sich das mittler-
weile so eingespielt hat, dass die Leute nun auch wissen,
wie es geht.
Es läuft also besser.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Fragestellerin
ist die Kollegin Monika Balt.
Frau Staatssekretärin, ich habe
zwei Fragen. Zum einen: Gibt es in Ihrem Ministerium
Überlegungen, Pflichtdienste schrittweise abzuschaffen
und Freiwilligendienste noch intensiver als bisher zu för-
dern? Gibt es dazu in Ihrem Ministerium Überlegungen?
Zum anderen: Mir ist bekannt, dass die Ministerin für
Soziales und Generationen in Österreich jedes Jahr einen
Preis für Freiwilligenarbeit und Ehrenamt auslobt. Dieser
Preis heißt „Freiwilligen-Oscar“. Könnten Sie sich so et-
was oder Gleiches für die Bundesrepublik vorstellen?
D
Ihre erste Frage habe ich nicht richtig verstanden, weil un-
ser Ministerium keine Pflichtdienste hat. Insofern können
wir Pflichtdienste auch nicht abschaffen. Wenn Sie das
Zivildienstgesetz ansprechen, so ist in dem Gesetz der
Pflichtdienst bei der Wehrpflicht angesiedelt und der Zi-
vildienst eine Folge der Wehrpflicht. Sie wissen, dass die
Frage, ob der Zivildienst weiter bestehen bleibt oder
nicht, von der Wehrpflicht abhängt und insofern keine
Frage ist, die originär unser Haus betrifft.
Darüber hinaus – das haben Sie ja als Mitglied des
Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend sicherlich intensiv verfolgt – ist das Änderungs-
gesetz zum freiwilligen sozialen und zum freiwilligen
ökologischen Jahr schon darauf angelegt, dass diejenigen,
die einen Pflichtdienst ableisten müssen, sich stattdessen
für ein freiwilliges soziales oder ein freiwilliges ökologi-
sches Jahr melden und sich dieses dann statt eines abzu-
leistenden Zivildienstes anerkennen lassen können.
Zur zweiten Frage bezüglich des Oscars: Wir haben an
vielen Stellen kleinere Preise; zum Beispiel der Heinz-
Westphal-Preis beim Bundesjugendring ist ein Preis für
ehrenamtliche Tätigkeit in der Jugendarbeit. Wir haben
keinen allgemeinen Oscar wie in Österreich. Ich halte
aber sehr viel vom Ausloben von Preisen. Das machen wir
ja schon. Insofern halte ich es durchaus für überlegens-
wert, ob das ein Instrument sein könnte, um Engagement
in dieser Gesellschaft zu befördern. Konkrete Überlegun-
gen gibt es dazu aber noch nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich nehme jetzt erst
einmal die Kolleginnen und Kollegen dran, die noch keine
Fragemöglichkeit hatten.
Der nächste Fragesteller ist der Kollege Michael
Bürsch.
Frau Staatssekretärin,zum Fragenkomplex von Frau Aigner.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Ilse Aigner23794
Erstens. Stimmen Sie mir zu, dass die Enquete-Kom-mission ausdrücklich eine Definition des bürgerschaftli-chen Engagements zugrunde gelegt hat, die es folgender-maßen charakterisiert: freiwillig, gemeinwohlorientiertund unentgeltlich? Unter unentgeltlich versteht man be-kanntlich etwas anderes als 630-Mark-Jobs oder ande-re geringfügige Beschäftigungen. Insofern gab es wahr-scheinlich gute Gründe dafür, dass von der Kommissionzum Komplex der 630-Mark-Jobs nichts gesagt wordenist. Selbstverständlich hatte natürlich jedes Mitglied derKommission während der zwei Jahre die Möglichkeit,diese Frage zur Diskussion zu stellen.Zweitens. Stimmen Sie mir zu, dass eine bürokratischeEntlastung bei den 630-Mark-Jobs überaus wünschens-wert wäre? Darüber muss man reden. Dabei handelt essich aber um eine andere Baustelle.Drittens. Stimmen Sie mir zu, dass die Mitglieder derEnquete-Kommission – einschließlich der unionsnahen –immerhin eine kleine Tür geöffnet haben, indem sie emp-fohlen haben, Aufwandsentschädigungen in Höhe von300 Euro pro Jahr vorzusehen, die steuer- und sozialab-gabenfrei zu stellen sind? Genau dadurch kann man sol-che Fälle, wie sie Frau Aigner vorhin geschildert hat, inZukunft vermeiden.Können Sie diesen Feststellungen ausdrücklich zu-stimmen und insofern die Frage von Frau Aigner doppeltund dreifach beantworten?D
Herr Kollege, ich stimme Ihnen gerne zu. Ich möchte
diese Gelegenheit aber nutzen, hier zu unterscheiden.
Auch Sie haben ja gefordert, dass man unterscheiden
muss, auf welcher „Baustelle“ etwas stattfindet.
Bei der gesamten Diskussion über bürgerschaftliches
Engagement müssen wir immer im Auge behalten, dass es
sich hierbei nicht sozusagen um eine Spardose in Bezug
auf Tätigkeiten handelt, die auch ansonsten von Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern wahrgenommen werden
könnten. Das wesentliche Element beim bürgerschaftli-
chen Engagement ist, dass soziales Verhalten in der De-
mokratie gefördert wird und ein Diskurs über unsere De-
mokratie stattfindet. Insofern stimme ich Ihnen zu. Wenn
die Enquete-Kommission das genau so gesagt hat, stimme
ich in dem Fall auch deren Empfehlungen zu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt ist die Kollegin
Ute Kumpf dran.
Noch einmal abschließend zum
Stichwort Nachhaltigkeit, insbesondere was die Förderung
von Strukturen und Leitbildern anbelangt, die vonseiten
der Ministerien entwickelt werden sollen. Wie sieht es da
aus und was sind Ihre wichtigsten Beiträge, die sich auf die
Zukunft richten? Wir hatten ja das Jahr der Freiwilligen
und die Enquete-Kommission. Wie sehen Ihre Vorschläge
und Vorstellungen aus und was wird jetzt vonseiten des
Ministeriums getan, um die Strukturen dieses Netzwerks,
das ja schon gearbeitet hat, zu erhalten und auch die Vor-
schläge der Enquete-Kommission, etwa eine Kommission
ähnlich der Kinderkommission einzurichten, umzusetzen?
D
Frau Kollegin Kumpf, erst einmal ist es, wie ich glaube,
ganz wichtig, noch einmal festzustellen, dass nicht der
Staat im Zusammenhang mit freiwilligem Engagement
der Hauptakteur sein kann. Vor diesem Hintergrund haben
wir die Anregungen des Nationalen Beirats gerne aufge-
nommen. Anders als es bei anderen Internationalen Jah-
ren der Fall war – insbesondere unter der Vorgängerregie-
rung, als wir ein schönes Internationales Jahr hatten und
es einen Bericht gab, dann aber das Thema erledigt war –,
wollten wir in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Bei-
rat diesmal sicherstellen, dass das Positive weiterlebt.
Dafür steht die heutige Gründungsversammlung eines
Netzwerkes bundesweiter Träger von Freiwilligenorgani-
sationen, von Verbänden, von Wohlfahrtsverbänden, die
genau diese Arbeit aufnehmen.
Nun habe ich gesagt, es sei nicht Aufgabe des Staates,
das zu entwickeln. Aber für Rahmenbedingungen zu sor-
gen ist schon Aufgabe des Staates. Insofern wird unser
Haus dieses Netzwerk mit einem Koordinierungsbüro,
das über uns finanziert wird, begleiten, damit es die bun-
desweite Aufgabe, die ein Netzwerk auf Bundesebene hat,
verwirklichen kann.
Die Enquete-Kommission hat einen Strauß von Emp-
fehlungen vorgelegt. Wir haben gerne und intensiv mit der
Enquete-Kommission zusammengearbeitet. Nun wird es
Aufgabe sein, die vielen Empfehlungen, zu denen die
300-Euro-Aufwandsentschädigung gehört, aber auch die
Frage, ob man im freiwilligen Engagement nicht für eine
Haftpflicht- und Unfallversicherung sorgen muss, einzeln
durchzugehen. Wir fühlen uns als Ministerium durchaus
zuständig, weiterhin begleitend tätig zu sein, wenn es da-
rum geht, die eine oder andere Empfehlung der Enquete-
Kommission umzusetzen. Aber wer den Umfang des Bu-
ches kennt, wird sich vorstellen können, dass nicht alles
sofort umgesetzt werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollegin Lenke, Ihre
Frage, bitte, wenn es geht, kurz, weil für die Befragung
nicht mehr viel Zeit ist.
Frau Staatssekretärin, die tragendeSäule von freiwilligen Tätigkeiten sind die deutschen Ver-eine.
Wenn ein deutscher Verein recht groß ist – das kann in ei-nem kleinen Ort sein –, dann braucht er für seine Verwal-tung auch Freiwillige, die er nicht normal bezahlt; denndann wären das 630-Mark-Arbeitskräfte. Wenn ein Kol-lege hier in diesem Zusammenhang von 300 Euro im Jahrspricht,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Dr. Michael Bürsch23795
dann kann ich nur lachen. Das geht bei diesen Vereinennicht, weil so viel Verwaltungsarbeit zu erledigen ist, dassder Aufwand erheblich ist.
Der Verwaltungsbedarf konnte nach dem alten 630-Mark-Gesetz einmal im Jahr mit einer Lohnsteuererklärung er-ledigt werden. Jetzt muss jeden Monat eine U-1- und eineU-2-Umlage und eine Meldung an die Krankenkassen er-folgen. Das kann auch nicht mit 300 Euro im Jahr bzw.25 Euro monatlich abgegolten werden.Ich kann Ihnen nur eines sagen: Was ich mit einerHaushaltshilfe erlebt habe und was Vereine dann erleben,ist eine Katastrophe. Darum geht es. Es geht nicht um einebillige Arbeitskraft, sondern darum, dass die Freiwillig-keit in den Vereinen unterstützt wird. Aber auf diese Weiseentsteht mehr Bürokratie und mehr Aufwand und dann hatfast niemand mehr Lust.
D
Ich stelle fest, das war keine Frage, sondern ein Beitrag.
Ich bin anderer Meinung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die letzte Frage
kommt vom Kollegen Lothar Binding. – Bitte.
Ich soll es kurz
machen; das will ich tun. Zivilgesellschaft bedeutet Ei-
genverantwortung, Eigenverantwortung bedeutet mehr
Teilnahmemöglichkeiten. Welche konkreten Schritte wur-
den zur stärkeren Partizipation und Teilnahme von Orga-
nisationen und Menschen, die sich bürgerschaftlich enga-
gieren, unternommen?
D
Das ist ein großer Strauß, Herr Kollege Binding. Ich
glaube, dass die Arbeitsgruppen – ich habe die sieben Ar-
beitsgruppen des Nationalen Beirats mit ihren Themen
hier nur kurz erwähnt; sie haben nicht nur Broschüren,
Empfehlungen usw. herausgebracht, sondern auch ihr
Know-how einfließen lassen – dazu beigetragen haben,
dass überall in der Republik gute Veranstaltungen statt-
gefunden haben. Ich zum Beispiel habe in Bonn bei der
Veranstaltung Corporate Citizenship mitgewirkt. Von da-
her weiß ich, dass sich nicht nur die Unternehmen en-
gagieren, die das schon immer getan haben. Dort waren
im Publikum auch Unternehmen, die sich eventuell betei-
ligen würden oder sich dafür interessieren.
Ich glaube, dass mit dem Netzwerk viele Erfahrungen
in die Organisationen hineingetragen werden. Ich wün-
sche es mir, weil unsere Zivilgesellschaft bürgerschaft-
liches Engagement hervorragend gebrauchen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Fragen an die
Bundesregierung liegen nicht vor. Ich bedanke mich, Frau
Parlamentarische Staatssekretärin.
Die Regierungsbefragung ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/9188 –
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-
kanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminis-
ter Hans Martin Bury zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Jürgen Koppelin auf:
Trifft es zu, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröder am
13. Mai 2002 auf einer Funktionärskonferenz der SPD sagte: „Wir
werden es nicht zulassen, dass dieses Europa Leuten wie
Berlusconi, Haider, Le Pen oder sonst wem in die Hände fällt.“
?
H
Herr Kollege Koppelin, Ihre Frage bezieht sich auf
eine interne Funktionärskonferenz der SPD. Der Vorsit-
zende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
Bundeskanzler Gerhard Schröder, hat dort vor rechtspo-
pulistischen und nationalistischen Strömungen in einigen
europäischen Ländern gewarnt und deutlich gemacht, dass
die Sozialdemokratie in guter Tradition und Verantwor-
tung für unser Land solchen Bestrebungen entgegentritt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Koppelin
zu einer ersten Nachfrage, bitte.
Ich stelle erst einmal fest,
Herr Staatsminister, dass Sie meine Frage überhaupt nicht
beantwortet haben. Ich habe konkret gefragt, ob der Bun-
deskanzler dieses gesagt hat, und Sie haben sich hier in
Allgemeinplätze hineingesteigert. Lesen Sie bitte noch
einmal meine Frage! Ich habe konkret gefragt, ob der
Bundeskanzler einen bestimmten Satz gesagt hat, der
übrigens – vielleicht können Sie das auch bestätigen – so-
gar im Internet bei der SPD abrufbar war. Ist es auch
richtig, dass der Bundeskanzler für den Satz, den ich in
meiner Frage zitiert habe, auf dieser Funktionärsver-
sammlung sehr viel Beifall bekommen hat?
H
Herr Kollege Koppelin, um Ihre Frage zu beantwor-
ten: Der Bundeskanzler stellt den italienischen Minister-
präsidenten nicht auf eine Stufe mit Herrn Haider oder
Herrn Le Pen. Bei der in Ihrer Frage nach Presseberichten
zitierten Aussage handelt es sich nicht um ein vom Bun-
deskanzler autorisiertes Zitat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Koppelin,
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Da Sie wieder ausweichen,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hat der Bun-deskanzler diesen Satz auf der Funktionärskonferenz gesagtund war dieser Satz im Internet bei der SPD abrufbar?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Ina Lenke23796
H
Herr Kollege Koppelin, ich habe bereits in meiner ers-
ten Antwort darauf hingewiesen, dass sich Ihre Frage
auf eine nicht öffentliche Konferenz der SPD bezieht. Ich
darf in diesem Zusammenhang an die Fragestunde vom
24. April 2002 und die Erörterung im Ältestenrat am
25. April 2002 erinnern, wonach parteiinterne Vorgänge
grundsätzlich nicht Gegenstand der Befragung der Bun-
desregierung bzw. der Bewertung durch die Bundesregie-
rung sind.
Da einzelne Veröffentlichungen ohne den erforder-
lichen Kontext ein unzutreffendes Bild ergeben könnten,
fragen Sie jedoch zu Recht nach. Ich betone nochmals,
dass der Bundeskanzler den italienischen Ministerpräsi-
denten nicht auf eine Stufe mit Herrn Haider oder Herrn Le
Pen stellt. Sehr wohl hat der Bundeskanzler jedoch heute
in der Sitzung des Bundeskabinetts darauf hingewiesen,
dass die aus Ihren Reihen ausgelöste Debatte offenkundig
bestimmte europäische Entwicklungen kopieren wolle.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frage 2 des Kollegen
Koppelin wird schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht die Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-
Wolgast zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Ursula Lietz auf:
Wie funktioniert die Briefwahl für Soldaten, die sich zum Zeit-
punkt der Bundestagswahl am 22. September 2002 oder auch zum
Zeitpunkt einer Landtagswahl im Auslandseinsatz befinden?
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Lietz,
die Antwort lautet: Im Rahmen besonderer Auslands-
einsätze in das Ausland kommandierte oder abgeordnete
Angehörige der Bundeswehr sind während ihres Ein-
satzes noch für eine Wohnung in der Bundesrepublik
Deutschland gemeldet und werden deswegen bei Bundes-
tagswahlen und grundsätzlich auch bei Landtagswah-
len nach den in die Zuständigkeit der Länder fallenden
landesrechtlichen Regelungen von Amts wegen in ein
Wählerverzeichnis ihrer Wohngemeinde eingetragen. Bei
Bundestagswahlen erhalten sie von dort spätestens am
21. Tag vor der Wahl eine Wahlbenachrichtigung. Wenn
der Auslandseinsatz vor diesem Zeitpunkt eingetreten ist
oder anzutreten ist, kann der Antrag auf Ausstellung eines
Wahlscheins und Zusendung von Briefwahlunterlagen
entsprechend früher gestellt werden.
Grundsätzlich werden die Wahlunterlagen durch die
zuständigen Gemeinden direkt in das Einsatzland über-
sandt. Durch organisatorische Maßnahmen der Einheiten
und Dienststellen kann jedoch auch sichergestellt werden,
dass sie jeweils zunächst an die Einheit oder Dienststelle
in Deutschland und von dort auf dem Feldpostwege ge-
sammelt in das Einsatzland geschickt werden.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat durch
Erlass vom 9. April dieses Jahres zur Durchführung der
Wahl zum 15. Deutschen Bundestag veranlasst, dass alle
Einheitsführer und Dienststellenleiter aufgefordert wer-
den, ihre Soldaten über die Möglichkeit der Briefwahl zu
unterrichten und durch geeignete organisatorische Maß-
nahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Soldaten ihr Wahl-
recht ausüben können.
Wahlberechtigte Soldaten, die auf Anordnung des
Dienstherrn außerhalb der Bundesrepublik Deutschland le-
ben und deshalb in der Bundesrepublik Deutschland keinen
Wohnsitz gemeldet haben, sowie Angehörige ihres Haus-
standes können ihr Wahlrecht ebenfalls durch Briefwahl
ausüben. Diese Wahlberechtigten werden auf Antrag in ein
Wählerverzeichnis der Bundesstadt Bonn eingetragen und
erhalten die Briefwahlunterlagen von dort übersandt. Das
Bundesministerium der Verteidigung hat den entsprechen-
den Erlass vom 19. April 2002 zur Wahl des 15. Deutschen
Bundestages mit den notwendigen Erläuterungen zur
Durchführung der Briefwahl an alle Auslandsdienststellen
versandt. Die Teilnahme an Landtagswahlen setzt nach den
in die Zuständigkeit der Länder fallenden landesrechtlichen
Regelungen grundsätzlich einen Wohnsitz im jeweiligen
Bundesland voraus. – So weit die Antwort zu dieser Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt gibt es die erste
Nachfrage. Bitte, Frau Kollegin Lietz.
Vielen Dank, Frau Staats-
sekretärin. – Meine erste Frage lautet: Ist Ihnen bekannt,
wie lange Post im Rahmen der Feldpost nach Afghanistan
unterwegs ist, bzw. können Sie abschätzen, wie lange die
Versendung von Briefwahlunterlagen vom Eintreffen an
der Wohnortadresse bis zum Einsatzort und zurück dauert?
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das lässt sich nicht
exakt einschätzen. Aber es besteht natürlich das Risiko,
dass ein Transport nicht pünktlich ankommt. Es ist dafür
Vorsorge getragen, dass der Antrag zur Ausübung der
Briefwahl, der im Rahmen der Wahlbenachrichtigung, die
diesem Personenkreis eventuell zu spät zugestellt wird,
gestellt werden kann, nicht abgewartet wird. Dieser Fall
der Verzögerung wird mit einbezogen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite Nachfrage.
Vor meiner zweiten Nach-
frage noch etwas zur Information: Ich habe gehört, dass
die Feldpost nach Afghanistan auf einer Strecke bis zu
drei Wochen benötigt. Insofern sollte man darauf wirklich
Rücksicht nehmen.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich finde es gut, dass
wir dieses Thema ansprechen. Wir alle wollen ja, dass
möglichst viele von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen
können.
Meine zweite Nachfragelautet: Haben Sie sich darüber informiert, wie das Wahlver-fahren bei den Armeen, die traditionell in anderen Ländern
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002 23797
stationiert sind, zum Beispiel bei den Armeen der Verei-nigten Staaten und Großbritanniens, gehandhabt wird?Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schlage vor, dass
wir diesen Punkt, der nicht Gegenstand der gestellten
Frage war, in einer nächsten Fragestunde noch einmal
aufgreifen. Ich biete Ihnen auch an, Ihnen diese Frage,
wenn Sie es wünschen, schriftlich zu beantworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben aber noch
die Frage 4. Hatten Sie die schon mit beantwortet?
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, die hatte ich
noch nicht beantwortet. Das kommt extra.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir bleiben aber bei
dem gleichen Thema. Deshalb habe ich nachgefragt.
Dann rufe ich jetzt die Frage 4 der Abgeordneten Lietz
auf:
Wie hoch war die Wahlbeteiligung von Soldaten bei der Bun-
destagswahl am 28. September 1998 oder auch bei diversen Land-
tagswahlen, die sich zum Zeitpunkt der Wahl im Auslandseinsatz
befanden?
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Über die Höhe der
Beteiligung von Soldaten, die sich in besonderen Aus-
landseinsätzen befinden, bei der Wahl zum 14. Deutschen
Bundestag, also im September 1998, oder auch bei Land-
tagswahlen liegen dem Bundesministerium der Verteidi-
gung keine Erkenntnisse vor.
Einen Anhaltspunkt will ich Ihnen aber nennen: Von
den circa 5 000 Beamten, Soldaten, Angestellten und Ar-
beitern der Bundeswehr und ihren circa 3 000 volljährigen
Angehörigen mit Wohnsitz im Ausland wurden für die
Wahl zum 14. Deutschen Bundestag 4 001 Anträge zur
Aufnahme in ein Wählerverzeichnis und zur Teilnahme
durch Briefwahl fristgerecht gestellt. Geht man davon
aus, dass diese Personen dann auch tatsächlich von ihrem
Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, dann lag die Wahl-
beteiligung bei circa 50 Prozent.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Nachfrage,
bitte.
Frau Staatssekretärin, hat
die Bundesregierung Möglichkeiten der Gestaltung des
Wahlverfahrens in Betracht gezogen, um eine möglichst
hohe Wahlbeteiligung zu erzielen. – Frau Präsidentin,
vielleicht darf ich meine zweite Nachfrage gleich an-
schließen? – Haben Sie in Erwägung gezogen, Wahlhel-
fer in die Einsatzgebiete zu schicken, um die Briefwahl-
unterlagen dort einzusammeln? Denn fast täglich gehen ja
Transportflugzeuge zwischen den Einsatzgebieten und
Deutschland hin und her. Insofern gäbe es die Möglich-
keit, derartiges Personal mitzuschicken.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Solche Überlegun-
gen sollte es erst dann geben, wenn zunehmend Klagen
darüber auftauchen, dass das Ausüben des Wahlrechts
nicht klappt. Bisher liegen unserem Ministerium wenig
bzw. gar keine Klagen darüber vor. Wenn solche kämen,
dann würden sie wohl am ehesten bei unserer zuständigen
Abteilung eingehen, vielleicht auch beim Bundesministe-
rium der Verteidigung. Ich habe mich erkundigt: Klagen
dieser Art sind bei uns nicht eingegangen.
Inwieweit in der jetzigen prekären Situation Wahlhelfer
eingesetzt werden können, ist zu überprüfen. Wir haben
– das möchte ich betonen – ein großes Interesse daran,
dass möglichst viele Menschen ihr Wahlrecht ausüben
können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Wir kommen heute ziemlich schnell voran. Es sind re-
lativ wenig Abgeordnete im Saal. Wir werden die Sitzung
auf jeden Fall unterbrechen und die Aktuelle Stunde
pünktlich um 15.35 Uhr aufrufen.
Die Frage 5 zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums der Finanzen, die Frage 6 zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie so-
wie die Fragen 7 und 8 zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesmini-
steriums für Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Detlef Parr auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der
Regelung, dass ab 1. Januar 2003 bestimmte medizinische Leis-
tungen – so genannte KO-Leistungen – wie Koloskopien, Gastro-
skopien, Sonographien usw. nur noch von nicht hausärztlich täti-
gen Gebietsfachärzten abgerechnet werden dürfen, nicht jedoch
von Hausärzten, und zwar selbst in den Fällen, in denen diese
Hausärzte solche Leistungen jahrelang erbracht haben, insbeson-
dere im Hinblick auf die Kontinuität der gesundheitlichen Versor-
gung der Patientinnen und Patienten?
G
Sehr geehrter Herr
Kollege Parr, die Fragen 9 und 10 möchte ich gerne zu-
sammen beantworten, weil sie in einem sehr engen Zu-
sammenhang stehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann rufe ich auch die
Frage 10 des Kollegen Parr auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag einer Be-
sitzstandsregelung, im Interesse der Patienten den Internisten, die
sich für die hausärztliche Tätigkeit entschieden haben, auch über
den 31. Dezember 2002 hinaus bis zum Ende ihrer Tätigkeit die
Möglichkeit zu geben, diese medizinischen Sonderleistungen zu
erbringen und abzurechnen?
G
Die angesprochene
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Ursula Lietz23798
Regelung ist eine Übergangsbestimmung zu der vom Ge-setzgeber im Rahmen des am 21. Dezember 1992, alsowährend der christlich-demokratischen Regierungsver-antwortung, verabschiedeten Gesundheitsstrukturgeset-zes eingeführten Funktionsteilung der vertragsärztlichenVersorgung in einen hausärztlichen und einen fachärztli-chen Versorgungsbereich.Die mit Wirkung zum 1. Januar 1993 in Kraft getreteneRegelung des § 73 Abs. 1 c SGB V schreibt vor, dass dieSpitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenärztli-che Bundesvereinigung Inhalt und Umfang der haus-ärztlichen Versorgung gemeinsam und einheitlich zu be-stimmen haben. Die Vertragspartner haben zu diesemZweck den so genannten Hausarztvertrag geschlossen unddort unter anderem vereinbart, dass Vertragsärzte, die imhausärztlichen Versorgungsbereich tätig sind, bestimmtespezialärztliche Leistungen, zu denen die „KO-Leistun-gen“ Gastroskopie und Koloskopie gehören, nicht mehrabrechnen können.Die Vertragspartner des Hausarztvertrages haben da-mals allerdings für die bereits im Jahre 1993, also vor dergesetzlichen Einführung der Funktionsteilung, tätigenVertragsärzte eine Übergangsregelung vereinbart. Siesieht vor, dass diese Vertragsärzte die Leistungen aus dem„KO-Katalog“, die sie vor dem 1. Januar 1994 regelmäßigabgerechnet haben, weiterhin – allerdings längstens biszum 31. Dezember 2002 – erbringen und abrechnen dür-fen. Den Vertragsärzten wurde also eine achtjährige Über-gangszeit zur Anpassung ihrer Praxis an den von ihnenwahrgenommenen Versorgungsbereich eingeräumt.Wenn diese Übergangsregelung nunmehr ausläuft,wird lediglich der Zustand hergestellt, den der Gesetzge-ber mit der Funktionsteilung in die hausärztliche und diefachärztliche Versorgung im Rahmen des Gesundheits-strukturgesetzes herbeiführen wollte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Parr,
bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie weisen zu
Recht auf den Ursprung dieses Gesetzes hin. Das macht die
Problematik, der sich die Bundesregierung heute stellen
muss, aber nicht geringer. Mir wird berichtet, dass durch die
Regelung, die wir damals getroffen haben, wegen der lan-
gen Übergangsfrist Versorgungslücken drohen. Es drohen
längere Wartezeiten für Patientinnen und Patienten, weil die
Kapazitäten in den Bereichen, in die diese Leistungen jetzt
einfließen, nicht ausreichen. Von Hausärzten werden jetzt
Überweisungen in Krankenhäuser vorgenommen. Es ent-
stehen längere Fahrzeiten. Als Folge dieses Gesetzes wer-
den die Patienten in erheblicher Weise zusätzlich belastet.
Meine Frage lautet: Wie beurteilen Sie diese Problema-
tik angesichts der von der Bundesregierung zu Recht be-
tonten Bedeutung der Präventionsmaßnahmen und des
Vorsorgeverhaltens der Menschen? Das wird jetzt sehr viel
schwieriger. Können Sie Wege aufzeigen, wie die drohen-
den Versorgungslücken geschlossen werden können?
G
Wir haben uns noch
einmal mit dem Gesetz, das unter Ihrer Regierungsverant-
wortung eingeführt worden ist, und seinen Folgen ausei-
nander gesetzt. Wir haben bei der Überprüfung feststellen
können, dass wir gerade im internistischen und fachärztli-
chen Bereich eine sehr viel größere Arztdichte haben, als
das im hausärztlichen Bereich der Fall ist. Außerdem gibt
es die Möglichkeit, dass, wenn in einem Teilbereich Un-
terversorgungsprobleme auftreten, sich weiterhin Inter-
nisten und Kinderärzte an dieser Form der hausärztlichen
Versorgung beteiligen.
Sie haben mit der Prävention und der Qualität einen
zweiten Punkt angesprochen. Der Bundestag hatte vor ei-
nigen Wochen die Gelegenheit, sich die Möglichkeiten
neuer medizinischer Spezialgeräte anzuschauen. Es ist
unter Umständen lohnend, einen etwas längeren Weg in
Kauf zu nehmen, wenn dafür Sorge getragen wird, dass
komplizierte Untersuchungen mit einer sehr hohen Aus-
sagekraft von erfahrenen Spezialisten, die eine hinrei-
chende Anzahl von Untersuchungen durchführen, vorge-
nommen werden. Unter Qualitätsgesichtspunkten ist das
eigentlich wünschenswert.
Die apparative Ausstattung ist ein wichtiger Punkt. Es
handelt sich dabei um Geräte, die kompliziert zu bedienen
und sehr teuer sind. Wir haben ein Interesse daran, dass
diese Geräte entsprechend gut ausgelastet sind und dieje-
nigen, die damit umgehen, erfahren sind. Das setzt eine
bestimmte Anzahl von Untersuchungen voraus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite Nachfrage,
bitte.
Frau Präsidentin, ich muss Sie bit-
ten, zu prüfen, ob das, was ich jetzt sage, richtig ist. Die
Frau Staatssekretärin hat gesagt, dass beide Fragen zu-
sammen beantwortet werden können. Das ist auch richtig,
aber die zweite Frage – akzeptieren Sie die Alternative,
dass die hausärztlich tätigen Internisten diese Untersu-
chungen durchführen, damit das Vertrauensverhältnis zwi-
schen Arzt und Patient nicht unterbrochen wird und Warte-
und Fahrzeiten vermieden werden? – ist leider noch nicht
beantwortet worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie dürfen aber auch
vier Nachfragen stellen, das wissen Sie.
Das ist nett.
G
Ich hatte gesagt, dass die
Spezialisten durchaus die Möglichkeit haben, über einen
bestimmten Zeitraum an der hausärztlichen Versorgung
teilzunehmen, wenn tatsächlich ein Versorgungsdefizit be-
steht. Dieses Versorgungsdefizit wird nicht von der Bun-
desregierung festgestellt, sondern von der Selbstverwal-
tung. Diese hat im Rahmen des Zulassungsverfahrens die
Möglichkeit, eine Verlängerungsfrist zu gewähren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die dritte Nachfragebitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Parl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch23799
Genau diese Möglichkeit der Er-
mächtigungsentscheidung ist das Problem. Es gibt näm-
lich Beispiele, dass Anträge von hausärztlich tätigen
Internisten, die weiter behandeln wollen, von den zu-
ständigen Krankenversicherungen mit dem Hinweis auf
anfechtbare Präzedenzfälle abgelehnt werden. Ich habe
die große Sorge, dass wir patientenunfreundliche Lösun-
gen vorfinden, die ab dem 1. Januar zu einer erheblichen
Beunruhigung innerhalb der Bevölkerung führen werden.
Wie können wir diese Probleme in den Griff bekommen?
G
Herr Parr, ich habe
eine Bitte: Wenn Sie einen solchen Präzedenzfall kennen,
sollten Sie ihn uns zuleiten. Dann werden wir ihn der Auf-
sichtsbehörde des Landes zuleiten, damit sie prüft, ob sich
die KV gemäß Recht und Gesetz verhalten hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt gibt es noch eine
letzte Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, haben Sie
von den Krankenkassen Rückmeldungen bekommen,
dass sie sich dieser Probleme bewusst sind? Ihnen ent-
stehen ja durch längere Fahrzeiten und Ähnliches zusätz-
liche Kosten, die man durch die Kompromisslösung
vermeiden könnte, die ich in meiner zweiten Frage vor-
geschlagen habe. Ist Ihnen die Position der Krankenkas-
sen bekannt und wissen Sie, ob ihnen bewusst ist, was ab
1. Januar 2003 auf sie zukommt?
G
Ich gehe davon aus,
dass sich die Selbstverwaltung dessen bewusst ist, nehme
es aber gern als Anregung für ein Gespräch auf, um die
Krankenkassen und KVen für diese Frage zu sensibilisie-
ren. Gleichwohl bin ich nach wie vor der Überzeugung,
dass wir einen gewissen zusätzlichen Aufwand für den
Patienten in Relation zu dem angestrebten Ziel einer qua-
litativ hochwertigen Untersuchung sehen müssen. Fahrt-
kosten kommen auf die Krankenkassen nur dann zu, wenn
der Patient überhaupt nicht in der Lage ist, die ärztliche
Untersuchung ohne Unterstützung wahrzunehmen. Das
heißt, die Fahrtkosten müssen von dem Arzt, der die Un-
tersuchung angeordnet hat, verordnet werden. In der Re-
gel handelt es sich aber um Vorsorgemaßnahmen, wie Sie
selbst sagten. Hier sollte der Patient in der Lage sein, auch
einen etwas längeren Weg zurückzulegen. Das dient auch
dem Ziel, die technisch möglichen Ressourcen in unserem
Gesundheitssystem auszunutzen. Diese Güterabwägung
müssen wir den Selbstverwaltungspartnern, den Kassen-
ärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen, nach
wie vor überlassen. Dessen ungeachtet sichere ich Ihnen
zu, dass ich Sie noch einmal auf den Termin 31. Dezem-
ber 2002 hinweisen werde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes und zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums der Verteidigung werden ebenfalls schriftlich be-
antwortet.
Ich rufe daher als letzten Geschäftsbereich den des
Bundesministeriums der Justiz auf. Zur Beantwortung der
Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Dr. Eckhart Pick zur Verfügung.
Da auch die Frage 14 schriftlich beantwortet wird1),
rufe ich die Frage 15 des Kollegen Dr. Ilja Seifert auf:
Welche Bedenken haben Verbände, Organisationen und Kör-
perschaften des öffentlichen Rechts gegenüber der Bundesregie-
rung dagegen geltend gemacht, dass die Bundesregierung noch
in dieser Legislaturperiode ein Zivilrechtliches Antidiskriminie-
rungsgesetz auf der Grundlage eines Diskussionsentwurfs
des Bundesministeriums der Justiz vom Dezember 2001 in den
Deutschen Bundestag einbringt, und welche Bemühungen hat
die Bundesregierung unternommen, um diesen Bedenken zu be-
gegnen?
D
Herr Kollege Dr. Seifert, bereits in
der Fragestunde am 17. April hatte ich Ihnen ausführlich
auf Ihre Fragen geantwortet. Der zentrale Punkt der aktu-
ellen Diskussion ist, dass sich die Kirchen für eine He-
rausnahme der Merkmale Religion und Weltanschauung
aus dem Katalog der Diskriminierungsverbote des Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminie-
rungen im Zivilrecht ausgesprochen haben. Demgegen-
über fordert der Zentralrat der Juden eine Beibehaltung
dieserMerkmale. Bislang sind verschiedene Lösungsmög-
lichkeiten entwickelt und den Beteiligten nahe gebracht
worden. Der gesellschaftliche Diskurs muss aber nach un-
serem Eindruck noch intensiv weitergeführt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Dr. Seifert, Ihre
erste Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, vielen Dank
für die Antwort. Lassen Sie mich vorausschicken, dass ich
Ihre Antwort auf meine damaligen Fragen anders verstan-
den hatte. Wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie gesagt,
die Bundesregierung tue alles, um das Zivilrechtliche Ant-
idiskriminierungsgesetz noch in dieser Wahlperiode zu
verabschieden. Heute höre ich von Ihnen ebenso wie von
den Medien etwas anderes. Wenn ich das richtig verstan-
den habe, läuft es ausschließlich darauf hinaus, dass zwei
große Kirchen die Diskriminierung wegen religiöser Ori-
entierung nicht in das Gesetz aufgenommen haben wollen,
in dessen Entwurf es heute heißt, dass Menschen wegen ih-
rer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft
und ihrer Behinderung nicht diskriminiert werden dürfen.
Ist dies tatsächlich der einzige Grund, an dem dieses wich-
tige Gesetz in dieser Legislaturperiode scheitern soll?
D
Herr Kollege Dr. Seifert, dies ist ei-ner der zentralen Punkte, die wir in dieser Diskussion zubeachten haben. Wie Sie wissen, gibt es darüber hinaus
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 200223800
1) Antwort lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.eine Reihe anderer Vorbehalte. Aber auf diesen Bereichkonzentriert sich im Moment die Problemlage ganz be-sonders. Richtig ist, dass wir uns eigentlich vorgestellthatten, dass das Projekt in dieser Legislaturperiode zuEnde gebracht werden könne. Wir hoffen, dass wir demnoch möglichst nahe kommen, indem wir den Diskurs mitden Betroffenen – vor allen Dingen den Kirchen, aberauch den Verbänden – weiterführen.Wir haben sicher nicht resigniert. Eine ganze Reihevon Punkten, deren Aufnahme in das Antidiskriminie-rungsgesetz wir vorgesehen hatten, haben wir bereits um-gesetzt: Wir haben heute im Rechtsausschuss etlichePunkte, die wir für wichtig halten, in das OLG-Vertre-tungsänderungsgesetz aufgenommen. Dabei geht es ins-besondere darum, dass Menschen mit Behinderungen allemögliche Unterstützung erhalten müssen, um am Prozess-geschehen teilnehmen zu können, also Übersetzer, Ar-tikulationshilfen usw. Wir haben heute außerdem be-schlossen, eine neue Vorschrift ins BGB einzuführen, dieerwachsene Geschäftsunfähige in die Lage versetzt, Ge-schäfte des täglichen Lebens mit den ihnen zur Verfügungstehenden Mitteln bewirken zu können. Auch das ent-spricht einer von den Behindertenverbänden seit vielenJahren erhobenen Forderung.Wir sind hier auf dem richtigen Wege. Das, was wir nochohne größeren Diskussionsbedarf umsetzen können, reali-sieren wir ohne Rücksicht darauf, wie die große Lösung– die wir auch lieber erzielten – letztlich aussehen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite Nachfrage,
Herr Kollege Seifert, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn ich
das richtig verstehe, haben Sie jetzt bereits auf meine
zweite Frage geantwortet. Ich möchte doch aber gern auf
die erste zurückkommen. Sie sagten, das Hauptargument
sei das Argument der beiden großen Kirchen. Ich habe
zunächst einmal danach gefragt, welche Gründe Sie da-
von abhalten, den Gesetzentwurf auch gegen den Wider-
stand bestimmter gesellschaftlicher Gruppen – in diesem
Fall also der beiden Kirchen – einzubringen, und welche
weiteren Argumente es von welchen Interessengruppen
auch immer gibt. Ich habe bis jetzt kein einziges gehört.
Auf die Dinge, die Sie gerade gesagt haben, würde ich
gern im Zusammenhang mit der Beantwortung der zwei-
ten Frage eingehen wollen.
D
Herr Dr. Seifert, ich glaube, ich habe
Ihnen schon am 17. April auf Ihre Frage nach den Stel-
lungnahmen einzelner Verbände, unter anderem der Ar-
beitgeber, eine Antwort gegeben. Es ist richtig, dass viele
Verbände – dazu gehören zum Beispiel die Vermieterver-
bände und die wohnungspolitischen Verbände – mit die-
sem Gesetz Probleme haben. Ein Gesetz, das in manchen
Bereichen so tief in die Vertragsfreiheit eingreift, kann
man nicht mit der Brechstange durchsetzen.
Vielleicht können Sie uns vorwerfen, wir hätten nicht
abgesehen, dass der Diskussionsbedarf – Sie können ihn
auch Widerstand nennen – so intensiv sein würde. Wir
wollen überzeugen; das dauert eine gewisse Zeit. Insofern
ist das ganze Verfahren natürlich nicht so schnell abge-
laufen, wie wir es uns eigentlich vorgestellt hatten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt rufe ich die
Frage 16 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert auf:
In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung, den nach-
drücklichen Forderungen von Sozialverbänden – so zum Beispiel
am 15. Mai 2002 auf dem Bundesverbandstag des Sozialverban-
des VdK gegenüber dem Bundeskanzler Gerhard Schröder – und
von Betroffenenorganisationen, zum Beispiel von Menschen mit
Behinderungen, von Migrantinnen und Migranten, von Lesben
und Schwulen und anderen, deren Diskriminierungen ja geächtet
und geahndet werden sollen, nach Verabschiedung eines umfas-
senden Antidiskriminierungsgesetzes noch in dieser Legislatur-
periode Rechnung zu tragen?
D
Herr Dr. Seifert, die Bundesregie-
rung hält es für sehr wichtig, dass ein breit angelegtes
Diskriminierungsverbot geschaffen wird, das neben den
Merkmalen der ethnischen Herkunft oder der sexuellen
Identität auch das Merkmal einer Behinderung umfasst,
damit den Belangen von Menschen mit Behinderungen
angemessen Rechnung getragen werden kann. Sie würde
dies gern in dieser Legislaturperiode verwirklichen.
Wie ich Ihnen sagte, haben wir schon begonnen, eine
ganze Reihe von Forderungen umzusetzen. Sie erkennen
daraus, dass der Bundesregierung dieses Anliegen wirk-
lich wichtig ist. Die Punkte, die wir jetzt ohne großen Dis-
kussionsbedarf in unsere Gesetzgebungsvorhaben aufge-
nommen haben, sind bereits ein wesentlicher Beitrag, mit
dem die Diskriminierung gerade der Behinderten verhin-
dert werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Seifert,
bitte stellen Sie auch hierzu Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, selbstver-ständlich liegen mir die Interessen von Menschen mit Be-hinderungen besonders am Herzen. Dafür engagiere ichmich auch am meisten. Daher ist es mir auch so wichtig,dass die Gruppen, die unter verschiedenen Diskriminie-rungen leiden, nicht länger auseinander dividiert werden.Sie haben gerade gesagt, dass zum Beispiel Vermieterver-bände gegen eine solche Regelung auftreten. Wollen siekeine Menschen mit Behinderungen in ihren Wohnungenhaben? Und das Antidiskriminierungsgesetz wollen Sie,die Regierung, nicht gegen die Interessen dieser Gruppendurchsetzen? Es kann doch nicht sein, dass man, wennman ein Diskriminierungsverbot durchsetzen will, dieje-nigen, die diskriminieren, mit ins Boot hineinholt undsagt: Wenn ihr einverstanden seid, machen wir mit, wennnicht, machen wir nicht mit.Die Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen,die Sie jetzt genannt haben, hätten Sie ohne weiteres bereitsim Rahmen des Gleichstellungsgesetzes vornehmen kön-nen. Das haben Sie aber bewusst und mit der Begründungabgelehnt, dass Sie ja das ZAG machen wollen. Erklären Siemir bitte diesen Widerspruch! Das Gleichstellungsgesetz ist
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick23801
jetzt seit genau einem Monat in Kraft. Dies muss man fürdiejenigen, die sich nicht jeden Tag mit dem Thema be-fassen, vielleicht einmal sagen.D
Herr Dr. Seifert, Sie wissen, dass wir
uns entschieden haben, neben dem Gleichstellungsgesetz
ein Zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz zu erar-
beiten. Sie wissen, dass das Bundesministerium der Justiz
im Dezember letzten Jahres einen entsprechenden Ent-
wurf vorgelegt hat und dieser Grundlage der Diskussion
sein soll und auch ist.
Dass die Diskussion so schwierig werden würde – das
habe ich vorhin schon ausgeführt –, konnten wir nicht
voraussehen. Deswegen haben wir uns für einen anderen
Weg entschieden, den Sie möglicherweise nicht mitgehen
wollen: Wir wollen die Teile aus diesem Antidiskriminie-
rungsgesetz herauslösen, die wir jetzt auf die Schnelle und
sehr bald Gesetz werden lassen können. Ich denke, dies ist
ein zumindest plausibles Vorgehen. Wir wollen, dass ins-
besondere Menschen mit Behinderungen möglichst schnell
besser gestellt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine letzte Nachfrage
des Kollegen Dr. Seifert. Bitte.
Wenn ich mich recht entsinne,
hat das BMJ im Dezember vergangenen Jahres keinen Ge-
setzentwurf, sondern nur ein Eckpunktepapier vorgelegt.
Wenn ich mich recht entsinne, besteht dazwischen doch
ein kleiner Unterschied; dies wollen wir aber dahinge-
stellt sein lassen.
Trotzdem: Die Pünktchen, die Sie jetzt genannt haben,
sind für diejenigen, die sie betreffen, wichtig – das ist
keine Frage und ich bin selbstverständlich dafür, dass eine
entsprechende Regelung getroffen wird –, aber es sind
marginale Pünktchen im Verhältnis zu einem wirklichen
Diskriminierungsverbot, das mit Ahndungen für diejeni-
gen verbunden wäre, die dieses Verbot brechen. Warum
haben Sie diese für Menschen mit Behinderungen wichti-
gen Punkte nicht gleich in das Bundesgleichstellungsge-
setz aufgenommen? Jeder von Ihnen wusste genauso gut
wie ich, dass es erheblichen Widerstand geben würde, und
zwar genau von den Gruppen, die Sie genannt haben, und
dass die Punkte, die Sie jetzt ändern wollen, auch damals
schon regelbar waren.
D
Herr Dr. Seifert, es ist damals so ent-
schieden worden. Die Bundesregierung hat diesen Weg
eingeschlagen. Die Bundesregierung – und nicht nur das
Bundesjustizministerium – ist nach wie vor der Meinung,
dass das Zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz kom-
men muss, insbesondere mit seinen allgemeinen Vor-
schriften und auch den Sanktionsmöglichkeiten, die wir
vorgesehen haben. Insoweit haben wir einen ausformu-
lierten Entwurf vorgelegt.
Die Bundesregierung wird auf diesem Weg weiterma-
chen. Wir hoffen, dass dieser Diskurs, von dem ich sprach
und der in unserer Gesellschaft offensichtlich notwendig
ist, stattfindet. Wir wollen das, was wir uns vorgenommen
haben, auch durchsetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr
Staatssekretär. Damit ist die Fragestunde beendet und ich
unterbreche an dieser Stelle die Sitzung. Sie wird mit der
Aktuellen Stunde um 15.30 Uhr wieder eröffnet. Dies war
interfraktionell so abgesprochen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist
wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen, als
antisemitisch bewerteten öffentlichen Äuße-
rungen
Ich eröffne die Aussprache. Für eine der Antrag stel-
lenden Fraktionen gebe ich zunächst dem Kollegen
Michael Müller, SPD, das Wort.
Meine Damen undHerren! Ein Blick auf die Einfärbung der europäischen Par-teienlandschaft zeigt, worum es bei dieser Debatte heutegeht. Die Kernfrage lautet: Wie reagieren die Demokratieund die Politik in einer instabilen Situation auf wachsendeautoritäre und rechtspopulistische Strömungen, die sich inEuropa zeigen? Es geht gerade bei dieser Frage darum, obwir bereit sind, den Konsens in der Demokratie und denKonsens in einer wertorientierten Politik zu suchen oder obwir mit dem Zeitgeist des Populismus mitschwimmen.
In den letzten Tagen haben wir von Herrn Westerwellegehört, dass die heutige Debatte purer Wahlkampf sei.Meine Damen und Herren, hier wird Ursache mit Wir-kung verwechselt.
Deshalb: Im engeren Sinne geht es uns nicht umMöllemann gegen Friedman. Das ist zwar wichtig und indiesem Zusammenhang auch besonders perfide, es gehtaber um sehr viel mehr. Es geht um die Frage, ob die FDPauf das Kalkül setzt, den Rechtspopulismus hemmungs-los als Wahlkampfmittel einzusetzen.
Ist Ihnen von der FDP in einer instabilen Zeit jedesMittel recht? Wir wissen, was in einer solchen Zeit ausdiesen Strömungen werden kann; das erkennt man, wennman den Blick auf andere europäische Länder richtet. Auf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Dr. Ilja Seifert23802
diesen entscheidenden Punkt sind Sie bis heute nicht ein-gegangen. Auch Ihre wachsweiche „Berliner Erklärung“,die die „Süddeutsche Zeitung“ als „Armseligkeitser-klärung“ bezeichnet hat, reicht dafür nicht aus.Noch einmal: Es geht um die Wirkung und nicht nurum einen einzelnen Satz. Es geht um die Äußerungen unddie Strategie des stellvertretenden Vorsitzenden der FDP.Ein Hinweis auf die ungeschickte Wortwahl reicht dabeinicht aus.
Es geht darum, ob mit dem Populismus nicht Türen geöff-net und die Geister der Vergangenheit wieder gerufenwerden. Diese Frage muss gestellt werden, weil alle zen-tralen Fragen der nächsten Jahre nur mit einem Grund-konsens der Demokraten zu bewältigen sind. Sie alle, obGlobalisierung, Europäisierung oder die Neuordnung derSozialsysteme, sind nicht mit der Beliebigkeit des Popu-lismus zu bewältigen.
Uns ist bekannt, dass die FDP gute liberale Traditionenbesitzt. Dafür stehen Namen wie Ralf Dahrendorf, Karl-Hermann Flach, Burkhard Hirsch, Hildegard Hamm-Brücher und andere. Und wir wissen, dass unser Land ei-nen solchen liberalen Geist braucht. Deshalb stellen wirdie folgenden Fragen: Ist der heutigen FDP im Zweifels-fall jedes Mittel recht, um die „Strategie 18 %“ umzuset-zen? Was bedeutet die Aussage von Jürgen Möllemann zudem gegenwärtigen Konflikt: „Der Gesamtvorgang warnotwendig, damit wir nach vorne kommen“?Wir stellen die Frage, ob das, was bisher Konsens undkollektive Vernunft in unserem Land war, nunmehr demtaktischen Spiel um die Zahl 18 untergeordnet wird. Nichtwir, sondern Herr Döring war es, der die Attacken desstellvertretenden FDP-Vorsitzenden als strategischeÜberlegungen im Hinblick auf den Wahlkampf gezeich-net hat.
Bis heute haben Sie sich von diesem Populismus nichtdistanziert, meine Damen und Herren von der FDP. Washeißt es, wenn Herr Möllemann erklärt: „Jetzt war es dasNahost-Thema; nun müssen wir in einem anderen Themapopularisieren“?Wird erstmalig eine Partei, die die vergangenen fünfJahrzehnte entscheidend mitgeprägt hat, zu einer inhalts-leeren Stimmungspartei? Diese Frage stellen wir uns, weilnämlich diese Veränderung fundamental an den Konstan-ten der Demokratie rüttelt.
Herr Spiegel hat Recht damit, dass Herr Möllemannund Herr Westerwelle es sich zu leicht machen, wenn siedies als missverständliche Aussage hinstellen.Wir können nicht verschweigen, dass Herr Goergen,der Berater von Herrn Möllemann, auch der Berater vonHerrn Westerwelle ist. Sie müssen Klarheit darüber schaf-fen, welche Strategie sie vertreten. Ist es die Haiderisie-rung Deutschlands oder ist sie es nicht?
Herr Möllemann ist viel zu lange im politischen Ge-schäft, um die Wirkungen seiner Aussagen nicht zu ken-nen. Er weiß, was er tut. Zurzeit ist er dabei, braune Kli-schees salonfähig zu machen. Dies ist ungeheuerlich.
Deshalb fragen wir die FDP, wie sie Klarheit schaffenwill. Eine liberale FDP ist wichtig, weil sie gut für unserLand wäre.
Aber diese Entscheidung liegt bei Ihnen.
Bisher haben Sie sich anders entschieden. Das wird da-raus ersichtlich, dass Sie zu den Vorgängen sehr lange ge-schwiegen haben. Nicht von sich aus, sondern erst, alsGott sei Dank der öffentliche Druck der Medien funktio-niert hat, haben Sie sich bewegt.
Nach Theodor Adorno muss die Politik die Anstren-gung sein, der Suggestion, der fragwürdigen Beeinflus-sung zu widerstehen, um zur Freiheit fähig zu sein. –Meine Damen und Herren, wir fragen die FDP, ob sie zurFreiheit fähig ist.
Für die
FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Dr. Guido Wester-
welle das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin-nen und Kollegen, Ihre Rede eben hat eines gezeigt: DieseAktuelle Stunde soll nicht der Demokratie dienen, son-dern Ihrem Wahlkampf.
Dieses Thema ist zu ernst, als dass Sie es zu einem billi-gen Wahlkampfmanöver verkommen lassen sollten.
Man macht in Deutschland keinen Wahlkampf mit Anti-semitismus, aber auch nicht mit dem Vorwurf des Antise-mitismus gegenüber Demokraten, erst recht nicht in die-sem Hause.
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Michael Müller
23803
Wenn Sie davon sprechen, es ginge meiner Partei darum,braune Klischees salonfähig zu machen, dann ist das ehr-verletzend und charakterlos. Sie legen die Axt an die Wur-zeln der Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Lande.
Sie sollten sich schämen, den Wahlkampf in dieser Artund Weise fortzuführen.
Wir stehen als Freie Demokraten seit Jahrzehnten fürKontinuität in der Außenpolitik und in der Innenpolitik. WirFreien Demokraten haben mit Persönlichkeiten wieTheodor Heuss, Thomas Dehler und Reinhold Maier die de-mokratische Tradition in der Bundesrepublik mit begründet.
Unsere Außenminister Walter Scheel, Hans-DietrichGenscher und Klaus Kinkel haben unserer Demokratieeine in der Völkergemeinschaft allseits geachtete Stimmegegeben. Es wird Ihnen nicht gelingen, die FDP als libe-rale Partei der Mitte in ein rechtsradikales Feindbild zuverwandeln. Wir bleiben die Partei der Mitte, so wie wires stets waren.
Was ich mit meinem Stellvertreter Jürgen Möllemannauszumachen habe, werde ich innerparteilich tun.
Es ist aber nicht in Ordnung, dass Sie einen Demokraten,der Jahrzehnte dem Deutschen Bundestag angehört hat,zu einem braunen Feindbild erklären. Das ist unanständig.Wenn Sie das weiter versuchen, werden Ihnen die FreienDemokraten in diesem Haus und in dieser von Ihnen ini-tiierten Wahlkampfdebatte stets geschlossen die entspre-chende Antwort geben.
Wir sind der Meinung, dass Weltoffenheit und Toleranzdie Geisteshaltung des Liberalismus sind. Freiheit ist diewichtigste liberale Botschaft. Freiheit heißt stets auchVielfalt und Vielfalt heißt auch immer Toleranz. Wir Li-berale sind eine Partei, die nicht irgendwelche Vorurteileund Stimmungen bedienen will.
Wir Liberale sind vielmehr eine Partei, die Vorurteile stetsmit ganzer Kraft bekämpfen wird, weil wir die liberalePartei der Aufklärung in diesem Hause sind.
Den eigentlichen Tabubruch, den Sie an dieser Stelle be-gehen,
liegt vor allem darin, dass Sie in einer aufgeheizten Debattenicht einmal vor dem schlimmsten Vorwurf zurück-schrecken, nämlich dass ein Mitglied dieses Hauses, alsojemand aus der demokratischen Gemeinschaft, allen Erns-tes daran denken würde, mit irgendwelchen antisemitischenRessentiments Wahlkampf zu betreiben. Sie wissen, dassdas nicht stimmt. Wir verwahren uns gegen diesen Vorwurf.
Wir finden es auch nicht in Ordnung, dass Sie auf dieseArt und Weise die jetzige Debatte prägen wollen.
Zu der einen Äußerung von Jürgen Möllemann
wiederhole ich das, was ich stets gesagt habe: JürgenMöllemann hat seinen Fehler öffentlich eingeräumt. Erhat seine entsprechende Äußerung zurückgenommen.Das war auch notwendig. Er hat in einem Brief an PaulSpiegel geschrieben, dass seine entsprechende Äußerungein Fehler gewesen sei, dass er diese Äußerung nicht hättemachen dürfen. Der Bundesvorstand meiner Partei hat er-klärt, dass wir die entsprechende Äußerung von JürgenMöllemann missbilligen und dass wir sie ausdrücklichbedauern. Ich finde, wenn Möllemann erklärt: „Das warein Fehler; ich hätte das nicht sagen sollen“, und wenn dieliberale Partei sagt: „Wir missbilligen diese Äußerungund wir bedauern sie“, dann wäre es an Ihnen, IhreAttacken gegen die FDP nicht weiter zu reiten.
In Wahrheit ist so, dass sich die Menschen in Deutsch-land darauf verlassen können: Wir Liberalen sind einePartei der Mitte und bleiben eine Partei der Mitte. DieMenschen werden übrigens nicht auf Ihre Leimruten ge-hen, weil sie genau wissen, dass die rot-grüne Regierung– darum geht es eigentlich – keine inhaltlichen Erfolgevorzuweisen hat und dass Sie jetzt verzweifelt versuchen,ein Feindbild zur Motivation der eigenen Leute aufzu-bauen, damit sie vorangehen. Dieses Manöver ist zudurchsichtig. Wenn Sie schlechte Politik gemacht haben,dann werden Sie aus der Defensive auch nicht durch Dif-famierung der liberalen Partei herauskommen.Wir wehren uns gegen diese Ehrverletzungen mit allerEntschiedenheit.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letztenTagen gibt es keine Nachrichtensendung in dieser Repu-
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Dr. Guido Westerwelle23804
blik, die nicht mit der Nummer-eins-Geschichte beginnt,der Antisemitismusdebatte in der FDP, dem Streit zwischenMöllemann und Westerwelle usw., damit, wie man mit denantisemitischen Äußerungen von Herrn Möllemann um-geht. Und dazu, sagen Sie, soll der Bundestag schweigen,wenn sich das Land draußen fragt: Was machen die da inBerlin eigentlich? Wieso lassen die so etwas zu? Dazu sol-len wir schweigen, wenn sich der Zentralrat der Juden inDeutschland zunehmend allein fühlt in dieser Republik?Dazu können wir als Deutscher Bundestag nicht schwei-gen, sondern wir müssen das zum Thema machen,
aber nicht zum Thema eines Wahlkampfes. Wir müssenuns vielmehr vergewissern, dass der innere Zusammen-halt dieser Republik auf einer klaren Absage an Anti-semitismus und auch an das Spielen mit antisemitischenRessentiments begründet ist. Diese Klarheit brauchen wir,weil Sie daran zu wünschen übrig lassen.
In Berlin werfen Unbekannte im März einen Brandsatzauf die Kreuzberger Synagoge. Funktionsträger der jüdi-schen Gemeinden berichten von zunehmenden antisemi-tischen Schmähanrufen und Schmähbriefen. Auf demKu’damm werden im April zwei orthodoxe Juden undzwei Frauen, die einen Davidstern tragen, von Jugendli-chen angegriffen. Das Bundesinnenministerium regis-triert für das Jahr 2001 über 1 600 Straftaten, die anti-semitisch motiviert waren. Vor diesem Hintergrund stelltebereits vor Ihrer Debatte Salomon Korn die Frage, die unsallen zu denken geben muss, ob es richtig war, dass dieJuden in Deutschland geblieben sind und wieder nachDeutschland gekommen sind.Vor diesem Hintergrund führen Sie eine Debatte, in derSie den Antisemiten das Wort reden. Das ist ungeheuer-lich. Wir alle müssen uns doch fragen: Wie kann es kom-men, dass Antisemitismus in dieser Gesellschaft so brei-ten Rückhalt hat? Wir müssen ihn zurückweisen unddürfen ihn nicht, gleich welcher politischen Couleur, fürden Wahlkampf instrumentalisieren.
Denn der Antisemitismus hat keine politische Heimat; ihngibt es links, ihn gibt es rechts. Aber demokratische Par-teien dürfen ihn niemals für ihren Wahlkampf nutzen.
Deshalb appelliere ich an Sie, Herr Westerwelle: Ma-chen Sie da einen klaren Schnitt, und zwar nicht um desWahlkampfs und um der Parteipolitik willen, sondern umdes Klimas in unserem Land willen, damit Juden inDeutschland wissen, dass sie weiterhin hier gut aufgeho-ben sind, und sich nicht die Frage stellen müssen, wieRalph Giordano unlängst in einem Artikel, ob es wiedergefährlich ist, als Jude in Deutschland zu leben.
Deshalb: Stoppen Sie diese Debatte, stoppen Sie HerrnMöllemann! Setzen Sie an dieser Stelle einen klarenSchnitt!Was da geäußert wurde, war nicht nur eine Sache vonMissverständnissen. Am 4. April sagte Herr Möllemannin einem Interview der „taz“ – damals hat sich noch nie-mand richtig darüber aufgeregt – zu Israels Politik:Was würde man denn selber tun, wenn Deutschlandbesetzt würde?Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren. Undich würde es nicht nur im eigenen Land tun, sondernauch im Land des Aggressors.Und das vor dem Hintergrund von fast täglichen Selbst-mordanschlägen in Israel! Wie kann man diese Äußerun-gen eigentlich missverstehen?
Wenn man sie richtig versteht, muss man erschrecken.
– Drei Minuten später klargestellt worden? Das ist ein au-torisiertes Interview in der „tageszeitung“ gewesen.
Herr Möllemann hat in öffentlichen Äußerungen HerrnScharon und in Deutschland Herrn Friedman wegen sei-ner angeblichen gehässigen Art für den Antisemitismus indiesem Land verantwortlich gemacht. Das ist das klassi-sche Stereotyp: Der Jude soll selber schuld sein an seinemUnglück.Frau Leutheusser-Schnarrenberger aus Ihren eigenenReihen hat gesagt, Herr Möllemann versuche eine diffuseSammlungsbewegung aus der FDPzu machen und rechts-populistische Signale auszusenden. Dieses Manöverscheint wohl unbestritten zu sein.Meine Damen und Herren, jeder sagt einmal etwasDummes, das er hinterher bereut. Aber hier ist ja nichts be-reut worden. Wochenlang wurde nun an mannigfaltigenhistorischen Beispielen gezeigt: Es handelt sich um eineDenkfigur in der Tradition des Antisemitismus. HerrMöllemann weigert sich dennoch, sich bei Herrn Friedmanfür diese Äußerungen zu entschuldigen. Das ständigeSpielen an dieser Grenze – zurücknehmen, aber sich docheher als Opfer darstellen – schürt weiter die antisemiti-schen Ressentiments.Die Verteidigungsstrategie, die Sie, Herr Westerwelle,tagelang gewählt haben – Sie haben behauptet, man müssedoch auch in Deutschland einmal einen Juden oder Israelkritisieren dürfen –, setzt voraus, dass Sie meinen, das Pu-blikum denke, eigentlich sei die Israelkritik von einer zio-nistischen Weltverschwörung in der Presse verhindert wor-den und wir könnten hier nicht offen darüber reden. Wirreden in Deutschland aber doch immer schon offen überunsere Besorgnis über eine falsche israelische Politik vonScharon. Diese Politik muss man und darf man kritisieren,
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Volker Beck
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aber man darf seine Kritik nicht antisemitisch begründen;das ist das Problem. Damit muss jetzt von Ihrer Seite end-lich Schluss gemacht werden.
Ich erteile
für die Fraktion der CDU/CSU dem Kollegen
Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir ist indiesen aktuellen Debatten – es gibt in diesen Tagen nichtnur eine – ein bisschen zu viel Aufgeregtheit. Wir solltenuns gerade bei diesem Thema vor Übertreibungen hüten.In diesem Hause braucht man nicht lange zu betonen,dass die FDP eine demokratische Partei ist, dass sie esbleibt und dass sie des Antisemitismus unverdächtig ist.
Ich glaube übrigens nicht, dass der Antisemitismus inDeutschland eine Chance hat, aber er darf auch niemalswieder eine Chance bekommen.
Das sind wir gar nicht in erster Linie unseren jüdischenMitbürgern schuldig, sondern das sind wir uns selbst, un-serer Vergangenheit und unserer Zukunft schuldig.
Man kann über die Politik der israelischen Regierungstreiten. Die Israelis tun dies selbst. Israel ist übrigens dieeinzige Demokratie in dem Raum dort und die Israelisstreiten kräftig.
Dass Deutschland eine besondere Verantwortung dafürhat, dass Israel in Sicherheit und in sicheren Grenzen le-ben kann, muss aber unstreitig sein.
Es muss nicht jeder in Deutschland jeden sympathischfinden. Dass einer Christ, Jude, Muslim oder Atheist ist,macht ihn noch nicht zu etwas Besonderem. Aber dass esin Deutschland wieder jüdisches Leben gibt, ist nachHitler und Auschwitz etwas Besonderes.
Es ist etwas Kostbares. Deswegen müssen wir alle sorg-sam damit umgehen.Herr Kollege Westerwelle, deswegen begrüße ich, dassSie Klarheit schaffen, dass Sie mit Ihrer Ankündigung – –
– Entschuldigung! Ich bin nicht der Sprecher der FDP,aber ich habe gelesen, dass der FDP-Vorsitzende an-gekündigt hat, dass, wenn Herr Karsli bis Montag nichtals Mitglied der Landtagsfraktion ausgeschieden ist, erkeine Grundlage mehr für die vertrauensvolle Zusam-menarbeit mit seinem Stellvertreter sieht.
– Verzeihen Sie! Ich darf das trotzdem sagen. Ich habe eszur Kenntnis bekommen. Ich habe die Meldung gelesen.Ich begrüße es und ich finde es richtig.
Das ist übrigens für einen Parteivorsitzenden keine einfa-che Entscheidung. Man kann eine Landtagsfraktion nichtzwingen. Aber Herr Möllemann, von dem auch ich nichtglaube, dass er antisemitisch ist, hat nun zu viel dazu bei-getragen, dass Zweifel gewachsen sind. Man kann nichtrechts blinken und links abbiegen. Das geht in der Politikgenauso schief wie im Straßenverkehr. Wenn man sagt,Herr Karsli könne nicht in der FDP sein, was richtig ist,dann ist auch richtig, dass er nicht in der Landtagsfraktionder FDP sein soll. Ich begrüße es, dass Klarheit geschaf-fen wird.Aber – das füge ich gleich hinzu – wir sollten auchnicht mit zweierlei Maß messen. Solange Herr Karsli Mit-glied der Fraktion der Grünen war, hat es keine Aufregunggegeben – und bei Rot-Grün schon gar nicht.
Es tut mir Leid.Im Übrigen, wenn wir schon dabei sind: Sie solltennicht so selbstgerecht sein.
Herr Karsli hat alle diese Äußerungen als Mitglied derGrünen gemacht. Es hat keinen Aufschrei gegeben.
Damit Sie sich nicht allein ärgern müssen, Herr KollegeSchlauch: Die Spatzen pfeifen es doch von den Dächern,dass bis vor kurzem ausgerechnet der Kollege Möllemanndie Haupthoffnung von Herrn Schröder wie von HerrnClement auf eine Koalition mit der FDP gewesen ist. Dasist doch die Wahrheit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Juni 2002
Deswegen sage ich Ihnen, Sie sollten wirklich auch denVerdacht meiden, Sie wollten mit dieser Debatte vonIhren eigenen Problemen ablenken.
Unsere Verantwortung aus unserer Vergangenheit istfür uns alle zu wichtig, als dass wir sie zu leicht und zubillig in die kleine Münze parteitaktischer Vorteile um-münzen sollten.
Ich bleibe dabei, dass der Antisemitismus in Deutschlandkeine Chance hat. Vielleicht nährt sich die Gefahr populisti-scher Bewegungen in Deutschland und in anderen europä-ischen Ländern eher daraus, dass viele Menschen den Ein-druck gewinnen, die politische Klasse, einschließlich derMedien, beschäftige sich mit vielen Problemen nicht soernsthaft, wie sie die Menschen in ihrem Alltag real erle-ben und erfahren.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns nicht in Schein-debatten aufregen, sondern dass wir uns mit den wirkli-chen Problemen wie Arbeitslosigkeit, innere Sicherheit,Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürgerbeschäftigen.
Je bessere Lösungen dafür gefunden werden, umso weni-ger werden die Populisten eine Chance haben. Die Populis-ten von rechts nicht und die von links übrigens auch nicht.
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Petra Pau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich bitte Sie, ein wenig zurückzublickenund sich mit mir zu erinnern. Im Juli 1999, also vor knappdrei Jahren, brachte der „Stern“ ein Interview mit IgnatzBubis. Damals wussten wir noch nicht, dass es mehr alsein Interview war. Es war ein Lebensresümee, denn we-nig später verstarb der damalige Präsident des Zentralra-tes der Juden in Deutschland. Auf die Frage: „Was habenSie bewirkt?“, sagte er resigniert: „Nichts, fast nichts!“Ich räume gern ein: Damals empfand ich seine Ein-schätzung als zu resignierend, als zu düster und zu hoff-nungslos. Dabei kannte ich die Zahlen; denn die PDS-Fraktion erfragt sie regelmäßig und seit Jahren.So wurden allein im Zeitraum 1998 bis 2001, also bin-nen nur vier Jahren, 3 473 antisemitische Straftaten regis-triert, das heißt, Tag für Tag zweieinhalb. Wir alle wissen:Antisemitismus misst sich mitnichten an der amtlichenStatistik; diese schönt in diesem Fall eher, was schlimmist, und sie unterschlägt, was unterhalb von Straftaten undStrafmaßen liegt, was aber den Nährboden für Exzessebietet.Ich las unlängst Günter Gaus; er schrieb – nicht ohnezu stocken, wie er meinte – von einer „arglosen Grenz-nähe zum gewöhnlichen Antisemitismus“, der sich weitverbreite.Erinnern wir uns weiter: Nachdem Ignatz Bubis ver-storben war, mangelte es nicht an guten Worten – und anschlechten. Damit meine ich nicht jene, die aus der ganzrechten Ecke kamen, sondern Nachrufe, selbst aus Regie-rungsstuben, die missverständlicher gar nicht sein konn-ten. So lobte der damalige Regierungssprecher: Bubishabe mit nie versiegender Kraft dazu beigetragen, dass dieSchatten der Vergangenheit kleiner werden. – Ich denke,gründlicher kann man ein Lebenswerk nicht ins Gegenteilverkehren; denn Bubis mahnte gegen das Vergessen, ge-gen das Verdrängen, gegen das Verkleinern dessen,
was verharmlosend heute oft Schatten genannt wird. Erbeklagte sich bitter, dass ein Großteil der Bevölkerungwie Martin Walser denke: Ende, Schlussmachen, nurNach-vorne-Schauen. Was ist denn dieses Da-Vorne,wenn die Schatten kleiner geworden sind? Da gibt es deneinen, der meint, die Bundeswehr solle in Palästina undIsrael eingreifen. Ist das etwa das normale Da-Vorne?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich heuteIgnatz Bubis in Erinnerung rufe, dann auch, weil jene Jü-dinnen und Juden, die in Alltagsangst leben, deren Ge-betsstätten und Schulen mit Sperrzäunen und Maschinen-gewehren geschützt werden müssen, kaum noch Gehörfinden. Dass auf dem Berliner Ku’damm jüngst Judenüberfallen wurden, weil sie Juden sind, war kaum mehrals eine kurze Meldung wert. Deshalb greift es, wie ichfinde, wieder einmal viel zu kurz, wenn der Eindruck er-weckt und verstärkt wird, es ginge aktuell um eine Ausei-nandersetzung zwischen dem Zentralrat der Juden inDeutschland und den Exponenten einer anderen Meinung.Es geht um ein gesellschaftliches Problem, das nicht de-legierbar ist.
Vielleicht hätten wir ohnehin öfter zuhören sollen,wenn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger Wider-spruch anmeldeten oder Vorschläge äußerten, Wider-spruch beispielsweise bei der De-facto-Abschaffung desGrundrechts auf Asyl. Vorgeschlagen, aber nie beschlos-sen wurde, den Antifaschismus als Wert ins Grundgesetzaufzunehmen. Wir haben das aufgegriffen; Sie wissendas. Im Moment läuft parallel im Rechtsausschuss die An-hörung zu diesem Thema.Dennoch will ich uns auch diese Replik nicht ersparen.Ignatz Bubis sagte in dem erwähnten „Stern“-Interview,er wolle nicht in Deutschland beerdigt werden. Das ist,wie ich finde, ein beschämendes Urteil über das Deutsch-land, in dem Ignatz Bubis lebte und in dem wir leben. Ersagte auch, warum: Ich will nicht, dass mein Grab in dieLuft gesprengt wird wie das von Heinz Galinski. – Auch
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Dr. Wolfgang Schäuble23807
das war kurz vor seinem Tod. Ich weiß, dass die Witwevon Heinz Galinski damals auf ein gesellschaftlichesSignal wartete und dass sie heute auf ein gesellschaft-liches Signal wartet.Es geht nicht darum, ob wir dem Zentralrat der Judenetwas sagen, sondern man schaut um unserer selbst willenund dieser Menschen willen darauf, was wir heute hiertun, aber auch, was da draußen tatsächlich passiert. Ichfinde es schon schwierig, dass der Zentralrat heute zu ei-ner Demonstration gegen diese Entwicklung in der Ge-sellschaft aufrufen muss und dieser Aufschrei nicht ausder ganzen Gesellschaft kommt.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Da muss man schon tief be-troffen sein, finde ich, wenn man die Ablenkungsmanövervon Herrn Westerwelle und Herrn Schäuble hier zu hörenbekommt, die allein dazu dienen, von der Schuld und derMitschuld abzulenken, die in diesen Tagen aufgehäuftworden ist. Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.
Hier wird nach dem Motto operiert: Haltet den Dieb –als ob diejenigen, die sich jetzt schützend vor die jü-dischen Gemeinden und die jüdischen Menschen inDeutschland stellen, die Schuldigen der Debatte wären.Dies darf nicht sein.
Wenn Sie, Herr Westerwelle, hier Altliberale wieTheodor Heuss zitieren,
dann kann ich Ihnen nur sagen: Die würden sich im Grabeherumdrehen, wenn sie das verfolgen könnten, was in Ih-rer Partei passiert.
Nein, die FDPverfolgt mit dem durch Herrn Möllemannferngelenkten Vorsitzenden Westerwelle zielstrebig undunverhohlen eine Hinwendung zum rechten Wählerrand.Wer mitten in der Zeit dieser Entwicklungen in einem In-terview das gesamte Protestwählerpotenzial von angeb-lich 25 Prozent ohne jedes Tabu ins Visier nimmt, istwahrhaftig und endgültig – ich habe das heute Morgenin meiner Pressekonferenz so gesagt – durchgeknallt,Herr Westerwelle.
Ich will, weil Sie dieses Ablenkungsmanöver nicht ha-ben dürfen, auch das zitieren, was die Agenturen zu Ihrem„Stern“-Interview schreiben:Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle will die Li-beralen zur Protestpartei umwandeln und dabei auchbisherige Wähler rechts- oder linksradikaler Parteiengewinnen.
„Uns ist jeder willkommen ...
Jetzt geht doch die Hälfte der Bürger nicht mehr zurWahl. Das kann nicht so bleiben“ ... Wähler von PDSoder DVU hätten „früher nicht zwangsläufig mitrechtsradikaler oder kommunistischer Gesinnung“so entschieden, sondern „weil ihr Frust ein Ventil ge-sucht hat“.Das ist Rechtspopulismus reinsten Wassers.
Herr Westerwelle, wer im Container startet, die Schuh-größe 18 hat,
mit der Recht brechenden CDU in Hessen koaliert
und in Hamburg ohne Probleme mit Herrn Schill koaliert,der hat die Wende zum Rechtspopulismus längst hintersich. Das ist doch nichts Neues!
Von daher glaube ich, dass das eine ganz zielgerichteteAktion ist, eine Aktion, die ihre Grundlagen immer wie-der findet, mit der Sie abzulenken versuchen. Dies lassenwir nicht mit uns machen.Interessant ist natürlich auch, dass Sie dabei diefreundliche Unterstützung der Fraktion in diesem Hausehaben, mit der Sie angeblich eine Koalition anstreben.Wenn hier ausgerechnet Herr Schäuble seine Giftpfeileerneut verschießt,
dann haben Sie gerade den richtigen Partner an IhrerSeite. Auch in diesem Punkt werden wir Ihnen immerwieder klar sagen: Natürlich gehören sie zusammen: die-jenigen, die den Rechtspopulismus zu kultivieren versu-chen, nämlich die FDP, und die anderen, die das dulden,um die Mehrheit in diesem Lande irgendwann und ir-gendwie für sich einzunehmen.
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– Herr Schmidt, bleiben Sie mal ganz ruhig!Die Frage ist doch beispielsweise auch, warum HerrSchäuble hier zum Pressesprecher der FDP werdenmusste und konnte.
Warum haben Sie uns eigentlich nicht selber gesagt, HerrWesterwelle, dass Sie den Versuch gemacht haben, so et-was wie ein Ultimatum zu stellen? Aber Sie wissen selbst,dass Ihre Ultimaten und Ihre Machtworte in diesem Landund in Ihrer Partei überhaupt nichts wert sind. Nichts ha-ben sie gegolten! Drei-, viermal haben Sie es versucht; da-rauf muss man hinweisen.
Dass wir – auch das will ich an dieser Stelle sehr deut-lich sagen – die Gemeinsamkeit eines ursprünglich frak-tionsübergreifenden Antrags zum jüdischen Leben inDeutschland aufgekündigt haben, war deswegen nur kon-sequent. Ich finde, meine Damen und Herren von der FDPund der CDU/CSU, die Sie hier im Schulterschluss han-deln, dass Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, solcheEntwicklungen aufzunehmen und zu sagen: Jawohl, wirstoppen das in unseren eigenen Reihen, wir sorgen für dieEntschuldigung von Herrn Möllemann beim Zentralratder Juden in Deutschland und damit vor den jüdischenMenschen in Deutschland. – Dann hätte man über Ge-meinsamkeiten zu diesem Punkt in diesem Hause wiedersprechen können. Aber dazu sind Sie nicht fähig. Sie sindauch nicht in der Lage, das Herrn Möllemann beizu-biegen. Wir bedauern das zutiefst, weil wir das für einenVerfall der parlamentskulturellen Sitten halten.
Lassen Sie sich wirklich ins Stammbuch schreiben: Siemüssen umkehren. Stoppen Sie das, was Sie da auf denWeg gebracht haben! Wir haben uns das Ganze ja nichtaus den Fingern gesogen. Sie haben Interviews gegeben,die von Ihnen überarbeitet und abgesegnet worden sind.Sie sind auf dem falschen Weg. Kehren Sie um!Wir sagen heute: Dass die jüdischen Gemeinden inBerlin eine Kundgebung durchführen, um gegen dieseTendenzen öffentlich zu Felde zu ziehen, findet unseretiefste Solidarität. Ein großer Teil unserer Fraktion wirddaran teilnehmen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass man ausdiesem wichtigen Thema aufseiten der SPD kleinlicheparteipolitische Münze zu schlagen versucht: VielenDank für Ihre Rede, Herr Kollege Schmidt!
Meine Damen und Herren, die FDP ist keine rechtspo-pulistische Partei.
– Und sie will es auch nicht werden.
Zu dieser selbstverständlichen Erkenntnis ist ja auch dieSPD-Parteiführung am letzten Wochenende gekommen.
Sonst hätte sie auf ihrem Autosuggestionsparteitag in dervergangenen Woche nicht alles unternommen,
um eine Koalitionsabsage an die FDP zu verhindern. Siewollten doch gerade diesen Beschluss verhindern.
1991 hat der heutige Kollege Ströbele laut „Spiegel“im Zusammenhang mit dem Golfkrieg gesagt:Wenn ich eine Eskalation des Krieges damit verhin-dern könnte, dass 1 Million Juden sterben müssten,würde ich das in Kauf nehmen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der damalige Mi-nisterpräsident Gerhard Schröder seinen damaligen Ko-alitionspartner auf einem Parteitag so getadelt hat, wie erdas mit der FDP getan hat.
Bei der Frage, ob Herr Möllemann sich bei HerrnFriedman entschuldigen soll oder nicht, handelt es sichum eine Stil- oder Charakterfrage, aber nicht um einenAusweis latenten Antisemitismus. Die Frage der Glaub-würdigkeit der FDP steht und fällt aber damit, ob HerrKarsli Mitglied der FDP-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen bleibt oder nicht. Karsli hat behauptet, die isra-elische Armee wende als rücksichtslose MilitärmachtNazi-Methoden an;
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Wilhelm Schmidt
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der Einfluss der zionistischen Lobby sei sehr groß; siehabe den größten Teil der Medienmacht in der Welt inneund könne jede auch noch so bedeutende Persönlichkeitkleinkriegen; vor dieser Macht hätten die Menschen inDeutschland selbstverständlich Angst.Damit hat sich Karsli der uralten Verschwörungstheoriebedient, die hinter der angeblichen Oberfläche der politi-schen Auseinandersetzung geheime Mächte vermutet, dieauf der Welt die Strippen ziehen. Je nach ideologischer Her-kunft heißt es entweder von rechts jüdisch-bolschewistischeoder von links jüdisch-kapitalistische Weltverschwörung.Nicht jeder Deutsche, der noch nie zuvor in seinem Le-ben bewusst einem Juden begegnet ist und der unsicherist, ob und wie er mit ihm über den Holocaust, den StaatIsrael oder jüdisches Leben in Deutschland sprechen soll,ist automatisch ein Antisemit. Verantwortungslos wird esdann, wenn diese Unsicherheit von denjenigen, die es bes-ser wissen, politisch instrumentalisiert wird,
wenn man versucht, den Menschen zu suggerieren, anihrer Unsicherheit seien die Juden schuld. Wer so redet– und so tut es Herr Karsli –, benutzt die klassischen Mus-ter des Antisemitismus und hat auch keine zweite Chanceverdient, sei er nun ehemaliges Mitglied der Grünen oderparteiloses Mitglied der FDP-Fraktion desselben Landtags.
Wir sollten uns alle vor zu großer Scheinheiligkeit hü-ten. In Wirklichkeit hat es das Spiel mit antisemitischenRessentiments auf beiden Seiten des politischen Spek-trums gegeben. Ich habe ein Zitat von Herrn Ströbeleschon genannt und auch das andere Zitat ist allen bekannt:Die irakischen Raketenangriffe sind die logische,fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.Herr Ströbele ist zwar als Bundessprecher der Grünen da-mals zurückgetreten; aber Sie haben ihm mehr als nur eineneue Chance eingeräumt. Er ist ja auch heute noch so et-was wie eine moralische Instanz in Ihrer Fraktion.Auch die PDS muss nach ihrer 50-jährigen Parteige-schichte – sie hat es ja ausdrücklich abgelehnt, sich auf-zulösen oder neu zu gründen – auf eine lange antisemi-tische Tradition hingewiesen werden,
die sich mühsam antizionistisch oder antiisraelisch ver-brämt gegeben hat.
Möllemann muss sich vorwerfen lassen,
an diese Gefühle mit seiner martialischen, hirnverbrann-ten Äußerung gegenüber der „taz“, die der Kollege Beckheute schon zitiert hat, appelliert zu haben. Diese Äuße-rung kann man nicht durch den Appell rechtfertigen, auchin Deutschland müsse Kritik an Israel erlaubt sein. DieserAppell ist mindestens in doppelter Hinsicht missver-ständlich: Erstens suggeriert er, dass Möllemanns Kritikan Israel seriös gewesen sei. Das ist sie nicht gewesen. Sieist alles andere als seriös gewesen.Zweitens unterstellt dieser Appell, dass in DeutschlandKritik an Israel nicht möglich sei. Das ist nun wirklich einvölliger Unsinn. Insbesondere auf der politischen Linkengibt es eine lange Tradition der Kritik an Israel. Daraufmöchte ich hier zwar nicht weiter eingehen; aber mansollte sich nur einmal die entsprechenden „Spiegel“-Titelder letzten Jahrzehnte ansehen oder sich vor Augenführen, dass die Kombination von Jeans, Parka und Paläs-tinensertuch in den 70er-Jahren eine Art Modekleidunggewesen ist.Heute besteht das Problem, dass diejenigen, die mit ge-schwellter Brust behaupten, Kritik an Israel müsse mög-lich sein, schon dies für ein seriöses Argument halten.
Dabei hat seriöse Kritik mit dieser Banalität noch nichteinmal begonnen.Die Konsequenz dieser selbstbezogenen und neuroti-schen Erklärungen ist, dass die öffentliche Debatte inDeutschland über den Nahostkonflikt in Wirklichkeit zu-lasten Israels und zugunsten der PLO und insbesonderevon Yassir Arafat geführt wird. Kaum jemand redet inDeutschland öffentlich darüber, dass Arafat ein Mann mitzwei Gesichtern ist, dass er auf Englisch vom Friedenspricht und auf Arabisch den Hass predigt, dass er mitAussprüchen wie „Eine Million Märtyrer marschieren aufJerusalem“ oder: „Ich will ein Märtyrer, ein Märtyrer, einMärtyrer sein!“ kaum verhüllt zu Selbstmordattentatenaufgerufen hat.
Es ist an der Zeit, dass wir diese Debatte durch die un-missverständliche Feststellung und Erfahrung beenden,dass in Deutschland unabhängig von der Frage, wie langeder Holocaust her ist, mit antisemitischen Ressentimentskein erfolgreicher Wahlkampf gemacht werden kann, undwir uns auf unsere weiteren Aufgaben besinnen.
Herr Kollege von
Klaeden, Sie müssen zum Ende kommen.
Ein letzter Satz,bitte. – Ich glaube, dass Ignatz Bubis mit seinem Satz „Ichhabe in meiner Amtszeit nichts bewirkt“ geirrt hat. Wirmüssen dafür sorgen, dass es ein Irrtum bleibt.Vielen Dank.
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Eckart von Klaeden23810
Zu einer persönlichen
Erklärung erteile ich dem Kollegen Ströbele das Wort.
lich von mir stammende Äußerung aus dem „Spiegel“ zi-
tiert. Ich stelle zu diesem Zitat fest:
Erstens. Ich habe gegen den Urheber dieses Zitats beim
Landgericht Berlin geklagt. Das Landgericht Berlin hat
dem Urheber dieses Zitats unter Androhung einer Geld-
strafe in Höhe von 500 000 DM verboten, es weiterhin zu
verbreiten. Das Urteil ist rechtskräftig.
Zweitens. Ich habe eine solche Äußerung zu keinem
Zeitpunkt getan und sie auch niemals in meinem Kopf ge-
habt. Ich führe es auf Ihre Jugend zurück, dass Sie damals
den Prozess vielleicht nicht mitverfolgen konnten.
Ich bitte Sie, in Zukunft, bevor Sie so etwas in diesem Ho-
hen Hause erklären, Kontakt aufzunehmen und sich zu
vergewissern, ob eine Äußerung, die Sie zitieren wollen,
richtig ist.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Meine Damen und Herren! Bislang haben wireine sehr bemerkenswerte Aktuelle Stunde erlebt: DieFDP hatte vier Redebeiträge und die CDU/CSU hat of-fensichtlich ihre Redebeiträge zugunsten der FDP abge-geben. Das kann ich nur damit erklären, dass sie ihrenmöglichen Koalitionspartner FDP vor dem Irrweg be-wahren will, auf den sich die FDP selber begeben hat,bzw. ihn retten muss. Rational erklären kann ich mir dieseAngelegenheit nicht.
Auch wundere ich mich über den Kollegen Schäuble, derin diesem Hause zweifelsohne ein hohes Ansehen genießt.
Zu Beginn seiner Rede hat er Aussagen gemacht, denensicherlich wir alle zustimmen können. Aber bei den Aus-führungen über Herrn Karsli und dessen Mitgliedschaftbei den Grünen hat er es mit der Wahrheit nicht so genaugenommen.
Ich möchte es hier ein für alle Mal klarstellen: HerrKarsli ist dem Ausschluss aus der Partei der Grünen zu-vorgekommen.
Hören wir doch in diesem Zusammenhang auf jemanden,der ganz unverfänglich ist, auf Herrn Karsli selber. HerrKarsli schreibt in seiner Austrittserklärung – ich zitierewörtlich –:Der Grund meines Austritts ist die Nahostpolitik vonBündnis 90/Die Grünen.Diese Nahostpolitik ist die Politik des Außenministers derBundesrepublik Deutschland. Er zitiert ihn ausdrücklich,kritisiert ihn und wirft ihm vor, dass er eine einseitige Po-litik betreibe. Wir stehen zur Politik von Joschka Fischer.Die Mehrheit dieses Hauses tut das ebenso. Ich hoffe, dassauch Sie das tun. Für diese Politik haben Ihre Vorgängerin der Bundesrepublik Deutschland den Kopf hingehal-ten. Sie haben eine richtige Politik gemacht. Davon soll-ten Sie sich heute nicht abwenden.
Die Politik Joschka Fischers ist die Politik von WalterScheel, von Hans-Dietrich Genscher und von KonradAdenauer.
Diese Politik war in der Bundesrepublik bisher Konsens.Ich fordere Sie auf, zu diesem Konsens zurückzukehren.Ihnen wird es mit Sicherheit nicht gelingen – ein ent-sprechender Versuch zeichnet sich ab aus dem, was Siehier öffentlich sagen –, mit einem Bauernopfer Karsli dieAngelegenheit zu beenden. Wenn sich Herr Westerwelleirgendwann einmal gegen Herrn Möllemann durchsetzenkann, wird Herr Karsli vielleicht aus der Fraktion ausge-schlossen. Vielleicht geht er auch freiwillig. Das Problemist aber nicht Herr Karsli, sondern das Problem sind HerrMöllemann und Herr Westerwelle.
Das Problem ist mittlerweile die FDP selbst, weil sie nichtdie Kraft und den Mut hat, einen Strich zu ziehen. Damitkönnte sie ohne jedes Wenn und Aber klar machen, wo dieGrenze ist.Damit wir wissen, worüber wir reden, möchte ich einZitat der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, dessen Präsi-dent Herr Möllemann ist, anführen. Auf der Website stehtunter der Überschrift „Beiträge aus dem Spiegel-Diskus-sionsforum ... statt eines eigenen D-A-G-Kommentars“:Auf einen praktisch hilflos am Boden Liegendeneinzuschlagen ist völlig sinnlos. Wenn es dem so
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Gedemütigten dann wirklich reicht und er nichtsmehr zu verlieren hat, wird er zurückschlagen.Jetzt erfährt man, wer damit gemeint ist:Da der Irak gegen das Arsenal der USA und der Bri-ten nicht antreten kann, wird er zuschlagen, wo eswirklich weh tut: Wir werden in Zukunft rauchendeUS-Botschaften sehen. Dies ist eine ganz logischeKonsequenz und den Schuldigen müssen wir dannwohl im Weißen Haus suchen.Eine solche Position ist nicht tragbar. Es reicht nichtaus, zu fordern, dass Herr Möllemann diese Dinge klar-stellt. Das war nicht nur ein Ausrutscher Möllemanns;seine Äußerungen sind allesamt Ausrutscher – ob es zumThema Nahost oder zum Thema Israel ist.
Es reicht nicht aus, nur so zu tun, als habe man das Pro-blem gelöst, wenn man die Angelegenheit mit HerrnKarsli geregelt habe.Herr Westerwelle, Sie hätten hier die Gelegenheit ge-habt, Ihre eigenen Äußerungen zu korrigieren. Sie habenden folgenden Satz aus der ddp-Presseerklärung unwider-sprochen zur Kenntnis genommen:FDP-Chef Guido Westerwelle will ungeachtet desAntisemitismusstreits am Ziel der Öffnung seinerPartei auch für Wähler von den Rändern des politi-schen Spektrums festhalten.Wer diese Position vertritt, der darf in Deutschland nicht re-gieren. Mit dieser Position darf man in dieser Republik we-der Innen- noch Außenpolitik machen. Vor solchen Posi-tionen muss diese Republik in Schutz genommen werden.
Lassen Sie mich zum Schluss – meine Redezeit istgleich abgelaufen – zu der Position, die in dem Gewande„Man darf Israel doch wohl einmal kritisieren“ wohlfeildaherkommt, klar sagen: Niemand hat das jemals abge-stritten – am wenigsten die Juden, die hier leben. Sie übenselbst häufig Kritik an der Politik Scharons. Eines mussallerdings klar sein: Der Ton macht die Musik. Die Art,wie wir über dieses Thema reden, lässt tief blicken undverrät den Geist, der dahintersteckt. Wer die israelischeRegierung kritisieren will, der muss nicht auf antisemiti-sche Ressentiments zurückgreifen oder den Terrorismusgegen Israel in Form von Selbstmordattentaten rechtferti-gen. Dafür besteht keine Veranlassung. Es reicht völligaus, die frei gewählten Abgeordneten der Knesset zu zi-tieren, die ihre Kritik im frei gewählten israelischen Par-lament jeden Tag zum Ausdruck bringen.
Als säkularisierter Muslim möchte ich noch bemerken:Herr Möllemann hat gesagt, dass die Muslime jetzt prak-tisch die FDP wählen könnten. Dahinter steckt die fol-gende Gleichung: Muslim gleich antiisraelisch und po-tenziell antisemitisch; irgendwann wird er FDP wählen.Nein, meine Damen und Herren, ich möchte hier klar sa-gen: Die Mehrzahl der Muslime ist nicht antisemitisch.Ich verwahre mich ausdrücklich als säkularisierter Mus-lim gegen den Eindruck, der hier erzeugt wird. Auch dassollten Sie korrigieren.Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer per-
sönlichen Erklärung erteile ich dem Kollegen von
Klaeden.
Herr Ströbele, ich
habe zwei Zitate von Ihnen verwandt. Das eine, auf das
Sie hingewiesen haben, habe ich heute bei der Quelle re-
cherchiert. Ich wurde auf die Entscheidung des Landge-
richts, die Sie zitiert haben, dabei nicht hingewiesen. Es
tut mir Leid. Ich nehme das mit dem Ausdruck des Be-
dauerns zurück.
Ich will aber gleichzeitig auf das andere Zitat, zu dem
Sie nichts gesagt haben, dass nämlich die Angriffe auf Is-
rael die zwingend logische Konsequenz der israelischen
Politik gewesen sind, hinweisen. Wenn Sie eine persönli-
che Erklärung abgeben, hätten Sie auch dazu etwas sagen
können.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich ausdrück-lich bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion,
dass ich die Gelegenheit erhalte, hier zu sprechen; denn daSie die Aktuelle Stunde nicht nutzen, um die Haltung derBundesregierung zu erfahren – so haben Sie es angekün-digt –, sondern um uns anzugreifen, gehört es zu den Re-geln in einer Demokratie, denjenigen zuzuhören, die an-gegriffen werden. Deshalb möchte ich jetzt Stellungnehmen.
Es ist die eine Seite, Äußerungen von HerrnMöllemann zu kritisieren; das habe auch ich getan. IhreVorwürfe finden allerdings da eine Grenze – und müssensie auch finden – wo Sie leichtfertig den öffentlichen Ein-druck erwecken, die demokratische, liberale Partei sei aufAbwegen, gehe ab von dem Stil, den sie in der Bundes-
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Cem Özdemir23812
republik Deutschland geprägt hat, und nähere sich in ge-fährlicher Weise antisemitischen Tendenzen.
Das kann unter Demokraten nicht akzeptiert und zugelas-sen werden.
Mitglieder politischer Parteien müssen sich, wenn siesich zum Nahostkonflikt äußern, präzise äußern, den Stilbeachten und die Worte in Kenntnis der deutschen Ge-schichte wählen. – Das ist die eine Sache.Mitglieder demokratischer Parteien müssen sich in un-serem Land mit seiner dramatischen Geschichte aber auchhüten, anderen leichtfertig Antisemitismus vorzuwerfen.
Wir sind und bleiben eine Partei der politischen Mitte.Das ist unsere Beschlussgrundlage, unsere Haltung undunser Charakter. Die Geschichte der FDP durchzieht dieAuseinandersetzung, die Bundesrepublik Deutschlanddavor zu bewahren, von den Rändern her regiert zu wer-den. Guido Westerwelle ist mit der klaren und ehrenhaf-ten Absicht in den Landesvorstand Nordrhein-Westfalensgegangen, das Thema Karsli zu verbalisieren,
das die Grünen jahrelang nicht verbalisiert hatten.
Er ist unterlegen; aber er hat sich gestellt.Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder hat groß an-gekündigt, dass er gegen Koalitionen seiner Partei mit derPDS in ostdeutschen Bundesländern sei. Er hat allerdingsnoch nicht mal die Courage gehabt, die dortigen Führungs-gremien aufzusuchen und sich den Debatten zu stellen.
Nein, meine Damen und Herren, wenn man inDeutschland vor Antisemitismus warnen will, was unsergemeinsames Anliegen ist, dann gehören die Mindestvo-raussetzungen, dass sich Demokraten zuhören und anderenicht leichtfertig diffamieren, sondern ihre Argumente ab-wägen, dazu.Ich möchte Ihnen sehr persönlich sagen, dass ich nichtmit Herrn Möllemann befreundet bin, wie Sie alle wissenund vielleicht auch nachfühlen können.
Ich erinnere mich aber an Zeiten, als ich Bundesvorsitzen-der der FDPwar und Ihr Bundeskanzler Herrn Möllemannzum großen Liberalen erklärt und über mich ganz abfälligeWorte verloren hat. So ändern sich die Zeiten.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie wissen es doch selbst:Wenn die Führung einer Partei in einer Klarheit,
wie es Guido Westerwelle getan hat und ich es als Frakti-onsvorsitzender tue – –
– Ich möchte Gelegenheit erhalten, zu sprechen. Ich findenämlich Ihr Verhalten in der Debatte unangemessen. Sieerheben Vorwürfe gegen uns, wir betrieben Antisemitis-mus. Zu einem toleranten Umgang miteinander gehörtauch die Fähigkeit, den anderen ernst zu nehmen und ihmzuzuhören.Im Übrigen: Wenn Sie die Haltung der Bundesregierungzu diesen Tendenzen erfragen wollen, dann muss der Bun-deskanzler in einer Debatte, die Sie als so problematisch fürDeutschland bezeichnet haben, hier anwesend sein.
Nein, unsere Partei bleibt ganz klar in der Spur. Dieüberwiegende Mehrheit in ihren Führungsgremien undihrer Mitglieder weiß ganz genau, um was es in Deutsch-land geht, wenn man über Nahostfragen debattiert. Un-sere Partei hütet sich davor, auf falsche Wege zu kommen,und sie läuft in der aktuellen politischen Diskussion wirk-lich nicht Gefahr, woanders hinzugehen. Wir wollen mitunserer Position Wähler werben.
Wir hören den Menschen zu, reden ihnen aber nicht nachdem Munde; denn wir nehmen den Verfassungsauftragernst, dass Parteien an der politischen Willensbildung desVolkes mitwirken.In der Nahostpolitik hält die gesamte Freie Demokra-tische Partei an der Freundschaft mit Israel fest, die ganzunbestritten einen der Grundpfeiler der Außenpolitik derBundesrepublik Deutschland darstellt. Die FDPwill, dassdiese einzige politische Demokratie in jener Region auchim Interesse der Sicherheit des israelischen Volkes eineZukunft hat. Dies ist ohne einen Staat Israel in sicherenGrenzen nicht möglich; darüber gibt es keinen Streit.
Diese Position haben wir nie als eine dem palästinensi-schen Volk feindliche Position verstanden. Vielmehr müs-sen wir unseren israelischen Freunden eindringlich sagen,dass ein palästinensischer Staat zugleich die beste Sicher-heitsgarantie für Israel selbst sein kann. Daraus legitimiert
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Dr. Wolfgang Gerhardt23813
sich eine Kritik an der Regierung Scharon, die aber nichtals Antisemitismus angesehen werden kann. Daraus legi-timieren sich auch kritische Bemerkungen an die Adresseanderer Freunde.
Das ist und bleibt die Position der FDP. Auch wenn sichder stellvertretende Bundesvorsitzende Möllemann soausdrückte, dass wir alle es bedauern mussten, so giltdoch das Wort der überwiegenden Mehrheit meiner Kol-leginnen und Kollegen aus der FDP-Fraktion.
Herr Kollege
Gerhardt, Sie müssen leider zum Ende kommen. Sie ha-
ben Ihre Redezeit schon sehr deutlich überschritten.
Ein letztes Wort:
Überlegen Sie sich genau, ob Sie wirklich klug beraten
sind, wenn Sie eine gemeinsame Resolution zur Bekämp-
fung des Antisemitismus mit uns nicht mehr fassen wollen.
Ich halte das, was Sie beabsichtigen, für einen gravieren-
den politischen Fehler. Gehen Sie noch einmal in sich!
Ich erteile dem Kolle-
gen Sebastian Edathy für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herr Gerhardt, es geht indieser Debatte nicht darum, eine Partei zu beschädigen– das macht die Partei, um die es geht, schon selbst –, son-dern darum, hier im Bundestag klarzustellen, dass Demo-kraten in Deutschland nicht schweigen dürfen und kön-nen, wenn der demokratische Grundkonsens Schaden zunehmen droht.
In dieser Hinsicht gibt es aber leider Grund zur Sorge.Schlechte Politik muss man kritisieren können, auchschlechte Politik in Israel. Ebenso muss man Fernsehmode-ratoren kritisieren können, auch solche, die jüdischen Glau-bens sind. Wer aber sagt, israelische Politik sei gewisser-maßen jüdische Politik und trage dann, wenn sie schlechtsei, zu Antisemitismus bei, der bedient sich einer infamenArgumentation, die eines Demokraten unwürdig ist.
Wer eine Person des öffentlichen Lebens auf ihre Zu-gehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft redu-ziert und dann behauptet, diese Person schüre mit ihremVerhalten Antisemitismus, der trifft eine bösartige und– ich sage das bewusst – böswillige Aussage.
Die Behauptung, es seien letztlich Juden, die für Anti-semitismus sorgten, ist eine antisemitische Aussage – da-mit ist nicht gesagt, dass ihr Autor zugleich ein Antisemitist –; denn sie entschuldigt und verharmlost Vorurteileund Vorbehalte gegenüber jüdischen Bürgerinnen undBürgern und beleidigt diese, indem sie ihnen attestiert,sie seien an dem vorhandenen Antisemitismus mitschuld.Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass eine sol-che Aussage von einem führenden demokratischen Politi-ker getätigt werden könnte. Für die SPD-Fraktion sage ichan dieser Stelle in aller Deutlichkeit: Antisemitismus kannman nicht begründen, man kann ihn nur verachten.
Hinsichtlich dieser Frage darf es – jedenfalls unter De-mokraten – weder Halbherzigkeiten noch Zweideutigkei-ten geben.
Es stimmt mehr als nachdenklich, wenn Herr Döring,immerhin FDP-Landesvorsitzender in Baden-Württem-berg und wie Herr Möllemann stellvertretender Bundes-vorsitzender der FDP, in dieser Woche über die Aussagenvon Herrn Möllemann wörtlich erklärt:Das ist ja nicht etwas, was irgendwo spontan ent-standen ist, sondern das ist eine strategische Überle-gung.
Es stellen sich in der Tat folgende Fragen: Wieso hältdie FDP in Nordrhein-Westfalen an der Fraktionsmit-gliedschaft eines Abgeordneten fest, der sich in unerträg-licher Form antisemitisch geäußert hat? Wie kann es an-gehen, dass mit Herrn Möllemann ein Spitzenvertreterder demokratischen Partei FDP in einer Zeitung am letz-ten Montag erklärte, dass die Erfolge rechtspopulisti-scher Parteien in Europa Beweis für die „Emanzipationder Demokraten“ seien? Wie ist es einzuschätzen, dassnach einer Agenturmeldung von heute Herr Westerwellein einem morgen erscheinenden „Stern“-Interview er-klärt, dass die FDP künftig eine „Heimat“ für den „Pro-test gegen das etablierte politische Parteiensystem“ seinwill?
Künftig heißt es wahrscheinlich nicht mehr FDP gleich li-beral, sondern FDP gleich völlig egal.Meine Damen und Herren, es sollte Ihnen zu denkengeben, wenn heute im „Tagesspiegel“ zu lesen ist, derfrühere Berliner Bürgermeister und FDP-Bundestagsab-geordnete Wolfgang Lüder warne wegen MöllemannsAktivitäten und Westerwelles Schwächen davor, FDP zuwählen. Wer liberal eingestellt sei, müsse seine Stimmeeiner anderen Partei geben.
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Dr. Wolfgang Gerhardt23814
Dem ist wenig hinzuzufügen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wennSie sich zur politischen Beliebigkeit bekennen, dann istdas Ihre Sache. Wenn Sie aber vorhaben sollten, durch dasAussenden von rechtspopulistischen Signalen und durchdas Instrumentalisieren von Vorurteilen gegen Minderhei-ten Stimmen zu gewinnen,
dann ist das nicht mehr Ihre Sache allein, sondern aucheine Sache aller Demokraten, denn dann kündigen Sie ei-nen Konsens auf, den dieses Land braucht und der gut fürdieses Land ist.
Konsens ist, dass Antisemitismus in Deutschland kei-nen Raum haben darf und die gut 95 000 Bürgerinnen undBürger jüdischen Glaubens ein Recht auf ein Leben ohneAngst und ohne Ausgrenzung haben. Deshalb, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der FDP, sollten Sie überle-gen, ob Sie künftig nicht lieber mit uns gemeinsam dasFeuer löschen, anstatt mit ihm zu spielen, wie es in denletzten Tagen und Wochen der Fall gewesen ist.
Die SPD-Bundestagsfraktion und die Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen haben gestern beschlossen, ei-nen Antrag mit dem Titel „Antisemitismus ächten, Zu-sammenhalt in Deutschland stärken“ in das Parlamenteinzubringen. Über diesen Antrag werden wir in Kürzeberaten. Ich hoffe, dass wir ihn einvernehmlich und frak-tionsübergreifend beschließen können.Zum Schluss: Ich habe zur Kenntnis genommen, dass diedeutsche Nationalmannschaft heute leider nicht gewonnenhat. Für uns in Deutschland ist wichtig, dass wir, wenn wirdie Beratungen über das Thema Antisemitismus zu einemguten Ende gebracht haben werden, sagen können: Die De-mokratie in Deutschland hat gewonnen. Mit Blick auf diefünf hier im Haus vertretenen Fraktionen muss die Demo-kratie in Deutschland 5 : 0 und nicht 4 : 1 gewinnen.
Vielen Dank.
Ich erteile Kollegen
Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!Streit muss manchmal sein und Probleme müssen ausge-tragen werden. Die Art und Weise, wie sich manche Strei-tigkeiten weiterentwickeln, zeigt dann allerdings, ob wirin der Lage sind, diese Probleme einzukapseln.Solche Auseinandersetzungen, wie wir sie gegenwär-tig führen, können auch dazu dienen, sich der eigenenGrundlagen zu vergewissern und nochmals festzuhalten,was uns eint. Für die Union waren das immer die beson-deren Beziehungen zum Staat Israel vor dem Hintergrunddes Geschehenen. Dabei eint uns viel mit den Positionenanderer Parteien, auch denen der FDP, wie sie hier in Ber-lin formuliert worden sind, etwa in den Stellungnahmendes Kollegen Gerhardt oder in den mir sehr gut bekanntenPositionen des in deutsch-israelischen Beziehungen sehraktiven Kollegen Niebel und anderer. Darin wird deutlich,dass sich die FDPals Partei auf dem Boden dessen bewegtund bewegen will, was seit David Ben Gurion und KonradAdenauer Teil der Staatsräson der BundesrepublikDeutschland geworden ist und bleibt.Aus unserer Geschichte ist uns die Verpflichtung zuge-wachsen, das Existenzrecht und die Lebensfähigkeit desStaates Israel und seiner Bürger zu fördern, wo immer esgeht. Diese Position muss immer wieder erneuert werden.Mit dieser Position spaßt man nicht.Wir sollten der Versuchung widerstehen, aus diesemvon Herrn Möllemann angezettelten Streit parteipoliti-sches Kapital schlagen zu wollen. Weder der Landespoli-tiker Möllemann mit seinen völlig inakzeptablen Äuße-rungen
noch der Landespolitiker Karsli mit seinen antiisraeli-schen, antisemitischen, antizionistischen oder wie auchimmer genannten Äußerungen legen Gott sei Dank dieGrundlinien der deutschen Politik fest – und wohl auchnicht die der FDP.Es wäre schon interessant, sich doch noch einmal an-zusehen, was Herr Karsli – Sie haben dies etwas wegge-wischt – in den vergangenen Jahren gesagt hat. Ichmöchte dies nicht auf parteipolitische Themen reduzieren,sondern auf die Frage: Wie gehen wir mit solchen Äuße-rungen – woher auch immer sie kommen – in der Öffent-lichkeit um? Es kommt nämlich darauf an, dass wir sol-che inakzeptablen Grenzüberschreitungen nicht tolerierenund sie zumindest einkapseln. Der Kollege Ströbele hat– ungeachtet des Disputs – am eigenen Leibe erfahren,wie es ist, wenn man solch eine Grenzüberschreitung be-gangen hat und dafür büßen muss. Ich sage noch einmal:Wir müssen sie zumindest einkapseln, wenn wir sie schonnicht verhindern können.Ich will uns allen und dem Hohen Hause noch einmalvor Augen führen, jedoch die Zitate ersparen, was geradein den 80er-Jahren in linken und alternativen Kreisendurchaus nicht nur als Einzelstimme erhoben, sondern all-gemein als salonfähig angesehen worden ist. Äußerun-gen, die vor 20 Jahren – davon kann ich die grüne Parteinicht ausnehmen, ganz im Gegenteil – beispielsweise beider Hamburger GAL gefallen sind, will ich als Zeichendes Respekts vor unseren israelischen Freunden hier garnicht zitieren. Sie würden einen Aufschrei hervorrufen.Deswegen empfehle ich Frau Roth als Vorsitzende derGrünen, diese Äußerungen und Positionen zum Zionis-mus und zur PLO, die in den 80er-Jahren geboren und ge-dacht worden sind, noch einmal in aller Ruhe zu lesen, sie
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Sebastian Edathy23815
dann in den Papierkorb zu werfen und nicht gleich die Jus-tiz zu bemühen. Hier geht es um eine Auseinanderset-zung, die wir politisch führen müssen und auf Konsensund nicht auf Streit ausrichten müssen.
Ein entscheidender Punkt, der in dieser Debatte völligverloren geht, ist: Wir reden darüber, dass einige in unseremLande völlig falsche Vorstellungen haben und meinen, siemüssten Israel im gegenwärtigen Konflikt auf die Anklage-bank setzen. Es kommt aber gerade darauf an, dass der Kriegin den Köpfen aufhört, damit der Krieg auf den Straßen auf-hört. Wir debattieren heute an einem Tag, an dem wieder16 unschuldige Menschen, israelische Bürger, durch einenpalästinensischen Selbstmordattentäter zu Tode gekommensind. Dazu muss ich sehr deutlich sagen: Solange weiteKreise bei den Palästinensern der Meinung sind, sie könn-ten ihre Ziele – es ist eine ganz andere Frage, über deren Le-gitimität zu reden; das hat der amerikanische Präsident vor-letzte Woche hier an dieser Stelle deutlich gesagt –
nur mit Gewalt, Terror und Blutvergießen erreichen, solange bleiben alle Diskussionen müßig.
Es kann nicht sein, dass hier eine Diskussion auf die-ser Ebene geführt wird. Es muss reagiert werden. Deswe-gen müssen wir unsere Diskussionskräfte eigentlich inRichtung Nahen Osten lenken. Die Frage, wie man denAnliegen der Palästinenser gerecht werden kann, halte ichnur dann für lösbar, wenn die Palästinenser selbst wissen,dass Gewalt kein Weg ist.Ist das eine Utopie? Ist dies eine Vison? Natürlich wis-sen wir, wie schwierig es ist, jetzt einen Friedensprozessin Gang zu bringen. Manche sagen, solche Visionen wür-den für den Nahen Osten nichts taugen und SchimonPeres hätte – visionär wie er ist – dies vielfach bitter er-fahren müssen. Ich bin aber davon überzeugt, dass dieserVersuch gemacht werden kann und gemacht werdenmuss, und zwar nicht nur am Verhandlungstisch.
Kollege Schmidt, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen, weil Sie Ihre Rede-
zeit bereits deutlich überschritten haben.
Herr Präsi-
dent, einen Satz noch: Man darf den Terror nicht ermutigen,
man darf ihn nicht als Mittel der Politik einsetzen, man darf
ihn nicht schönreden und man darf nicht sagen, dass man
ihn akzeptiert. Das muss für uns alle klargestellt sein.
Ich erteile der Parla-
mentarischen Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast
das Wort.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Kol-legen und Kolleginnen! Vor etlichen Jahren erlebte ich dieBeisetzung eines Hamburgers jüdischen Glaubens. Eswaren nur sehr wenige gebrechliche alte Männer als Ver-treter der Gemeinde erschienen. Sie erzählten mir hinter-her, wie mühselig es sei, in einer so mitgliederschwachenOrganisation wirkliche Aktivitäten zu entfalten. Es warbeklemmend und traurig.Heute hat sich die Lage geändert: Viele jüdische Ge-meinden entstehen, man sieht wieder mehr junge Leuteund nicht zuletzt dank des Zuzugs aus Osteuropa leben in-zwischen immerhin 95 000 Menschen jüdischen Glau-bens in der Bundesrepublik. Ihre Kultur und ihre Traditionwerden wieder wahrnehmbar und erfahrbar für all dieje-nigen, die in der Nachkriegszeit überhaupt keine Chancehatten, sich damit zu befassen. Die Repräsentanten derJuden in Deutschland – im Zentralrat und in den Gemein-den – schalten sich gottlob in die öffentliche Debatte einund beziehen deutlich Stellung.Meine Damen und Herren, was kann eine demokrati-sche Gesellschaft eigentlich anderes tun, als sich darüberzu freuen und daran mitzuwirken, dass daraus eine Selbst-verständlichkeit wird?
Offenbar ist diese Selbstverständlichkeit längst nicht inallen Köpfen verwurzelt. Manche denken oder reden etwaso: Klar, sie leben hier und wir tun ihnen auch nichts, siemögen sich aber bitte zurückhalten. Gar nicht so wenigenicken dazu Beifall. Das macht die aktuelle Debatte überAntisemitismus so bedrückend.„Der legt es richtig darauf an, dass man zum Antisemi-ten wird.“ Sprüche wie diese leuchten in den Bodensatzunterschwelliger Feindseligkeiten und Vorurteile hinein.Wenn dazu dann per Brief, Telefon oder E-Mail noch Zu-spruch kommt, ist es umso schlimmer.
Antisemitismus kann man nicht begründen, weil eine Be-gründung relativieren und sogar rechtfertigen kann. Anti-semitismus kann man nur mit aller Schärfe ablehnen undächten.
Jeder einzelne Fall von Antisemitismus bedeutet nichtnur eine Bedrohung für die jüdischen Bürger und Bürge-rinnen in Deutschland, sondern gefährdet zugleich unsselber, unsere Demokratie und unsere Gesellschaft alsGanzes, weil auch wir betroffen sind. Das Bekenntnis zurbesonderen historischen Verantwortung Deutschlands,aber auch der erklärte Wille, alles daranzusetzen, dass dieErinnerung an den Holocaust nicht verblasst, war bisherunstrittiger Grundkonsens deutscher Politik. Das soll undmuss auch so bleiben.
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Christian Schmidt
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Wer dagegen meint, ein Tabu brechen zu müssen, oderdavon redet, geht einen gefährlichen Weg.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade aufgrund derZuspitzung im Nahostkonflikt und der in der Debattegeübten Kritik an dem Verhalten sowohl der israelischenals auch der palästinensischen Seite muss peinlich genauzwischen dieser Auseinandersetzung und unserem Ver-hältnis gegenüber den jüdischen Bürgern und Bürgerin-nen, die in unserem Lande leben, unterschieden werden.Das muss ganz klar werden.
In unserer Gesellschaft gibt es wahrhaftig kein Über-maß an Beteuerungen gegen Rechtsextremismus, Intole-ranz und Antisemitismus. Leider gibt es immer noch einÜbermaß an ziemlich fatalen Äußerungen, aus denen sichRassismus speist. Wir leiden auch immer noch darunter,dass viele wegschauen, wenn Menschen wegen ihrerHautfarbe, Religion oder Herkunft beleidigt und ange-griffen werden. Die Bundesregierung tut viel, um zu er-reichen, dass die Gesellschaft hinschaut, handelt und hilft.Im Bündnis für Demokratie und Toleranz bündeln wir alleKräfte, die sich gegen fremdenfeindliche, rassistische undantisemitische Bestrebungen engagieren. Zum Beispielzeichnen wir junge Leute aus, die den Alltag der Judenwährend der NS-Zeit oder auch den Leidensweg ins KZnachzeichnen. Der Victor-Klemperer-Wettbewerb zumBeispiel dient demselben Ziel. Programme wie Civitas,Xenos und Entimon leisten Aufklärung und unterstützenProjektgruppen. Es ist wahrhaftig ein langer und müh-seliger Weg, Jugendliche gegen braune Einflüsse resistentzu machen und ihnen Geschichtsbewusstsein zu vermit-teln. Dabei haben wir noch nicht das erreicht, was wir er-reichen wollen. Die Bundeszentrale für politische Bil-dung legt deswegen einen besonderen politischenSchwerpunkt auf diese Arbeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe mit ei-nem Zitat:Endlich muss die Pest ja doch einmal erschöpfen.Vielleicht verschwindet der Wahn, der so vieleGemüter betört und unsere ganze Kultur um100 Jahre zurückgeworfen hat.Diese Sätze stammen nicht aus diesen Tagen, sondern vondem Historiker Theodor Mommsen gegen Ende des19. Jahrhunderts. Sie nehmen Stellung zu dem damaligenAntisemitismusstreit. Ihre beklemmende Aktualität gut100 Jahre später sollte uns wohl nachdenklich stimmen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, in einer Berliner Tageszeitung ist heute von der „li-beralen Meinungsdiktatur“ die Rede. Gemeint ist damitwohl, dass es in unserer Gesellschaft Themen gibt, überdie man geflissentlich schweigt – Themen, die tabuisiertsind. Damit kommen wir zu dem eigentlichen Problemder heutigen Debatte. Denn Möllemann und die FDP-Spitze bemühen sich, diesen gesellschaftlich geführtenAntisemitismusstreit als mehr oder minder inszenierten„Tabubruch“ schönzureden. In diesem Zusammenhangkann auch ich Herrn Möllemann zitieren:Wir müssen Dinge aussprechen, die von anderen Po-litikern, aus welchen Gründen auch immer, tabuisiertwerden.Über diesen Zusammenhang reden wir hier. HerrMöllemann verbindet seine Äußerung mit der Nahostpo-litik. Es ist kein Tabu in unserer Gesellschaft, die israeli-sche Regierung zu kritisieren, Herr Kollege Schmidt, aberes ist ein Tabu – darum haben Sie sich herumgemogelt,wie übrigens die anderen Rednerinnen und Redner IhrerFraktion auch –, mit antisemitischen Ressentiments Wahl-kampf zu betreiben. Darum geht es in der Debatte, die wirhier zu führen haben.
Dabei haben Herr Westerwelle und auch Herr Gerhardt zumeinem großen Bedauern heute ihre Chance vertan.Ich möchte noch einmal auf Herrn Möllemann zu spre-chen kommen. Er sagte – das ist die Ursache der Debatte –,jüdische Mitbürger seien selbst die Verursacher oder trü-gen sogar selbst Schuld am Anwachsen des Antisemitis-mus. Das ist kein Tabubruch und wir sollten an dieserStelle Tabubruch auch nicht mit Antisemitismus ver-wechseln. Dieses Zitat ist Antisemitismus.
Der Kollege Beck hat völlig zu Recht das Aggressor-Zitat gebracht:Ich würde mich auch wehren ... Und ich würde dasnicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Landdes Aggressors.Was heißt das denn? Henryk M. Broder hat es sehr gut aufden Punkt gebracht mit seiner Feststellung, nach diesemVerständnis handelten deutsche Antisemiten und palästi-nensische Terroristen immer in Notwehr, egal, wie vieleUnbeteiligte sie mit in den Tod nähmen.Nein, Widerstandsrecht anzuerkennen kann nichtheißen, Selbstmordanschläge mit unschuldigen Opfern zulegitimieren, und Widerstandsrecht darf nicht mit Terrorund Massenmord verwechselt werden. Auch hierzu hättenSie heute klare Aussagen treffen können.
Wenn es aber einen Tabubruch gegeben hat, dann, wiegesagt, nicht den, dass die israelische Regierung oder HerrFriedman nicht kritisiert werden könnten. Zu sagen, dassman dies nicht könne, ist falsch. Das Problem liegt darin,dass behauptet wird, man dürfe die israelische
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Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast23817
Regierung oder Herrn Friedman nicht kritisieren, obwohlman es in dieser Gesellschaft durchaus darf. Aus diesemGrunde irrt Möllemann und aus diesem Grunde ist sein Ver-halten so problematisch. Es scheint Kalkül dahinter zu ste-hen. Wer nach einigen Wochen der Diskussion nur noch voneinem Missverständnis redet, irrt sicherlich. Es geht in derTat um Populismus. Der Populist, so möchte er gesehenwerden, sagt frei heraus, was viele denken, sich aber nichtzu sagen trauen. Was gesagt ist, bleibt gesagt. Darauf scheintdie Fußsohlenstrategie 18 zu setzen, nach der potenzielleRechtsliberale unterstellen, dass er, Möllemann, noch nichtsagen darf, was er denkt, und ihn eben dafür wählen.Möllemann kann man an dieser Stelle eigentlich vergessen;denn Enzensberger hat es auf den Punkt gebracht: „Mittel-maß und Wahn verhalten sich komplementär zueinander.“Damit ist zu Möllemann als Person eigentlich alles gesagt.Es geht aber über Herrn Möllemann hinaus. Es geht da-rum, dass Herr Möllemann nicht nur dem Ansehen seinerPartei, sondern auch dem unseres Landes geschadet hat.Ich möchte einmal ein Beispiel bringen: Seit einigen Jah-ren lade ich israelische und deutsche Jugendliche nachBerlin ein. Es waren jedes Mal spannende und interes-sante Begegnungen. Das Bedrückendste bei den letzt-jährigen Gesprächen war übrigens, dass die Jugendlichendie Allgegenwärtigkeit ihrer Angst beschrieben haben,dass sie geschildert haben, dass sie in keine Diskothekmehr gehen können, dass sie kein normales Leben führenkönnen. Schon aus diesem Grunde gibt es keine Recht-fertigung für den Terror. Ich frage mich, wie ich diesenjungen Menschen – in zwei Wochen wird wieder eineGruppe in Berlin sein – die Debatte, die wir jetzt führen,und die Rechtfertigungen, die in dieser Debatte abgege-ben werden, erklären soll. Wie soll ich erklären, dass sieselbst schuld daran sein sollen, dass sie kein normales Le-ben führen können und dass palästinensische Selbstmord-attentäter Unschuldige mit in den Tod reißen?Salomon Korn hat Recht, wenn er feststellt, dass derTabubruch inszeniert sei. Leider muss man das um Fol-gendes ergänzen: Der Tabubruch ist inszeniert, um den ei-gentlichen Tabubruch, den Sie, meine Damen und Herrenvon der FDP, begangen haben, zu verdecken. Deswegenbleibt die Frage an Sie, Herr Westerwelle, bestehen – dieAntwort steht noch aus –: Handelt es sich bei diesem Ta-bubruch tatsächlich um eine persönliche Auseinanderset-zung bzw. um Missverständnisse oder handelt es sich umeine Strategie, die in Ihrer Wahlkampfzentrale – so kannman es in der „Zeit“ nachlesen – sorgfältig geplant wor-den ist? Diese Frage haben Sie nicht beantwortet.
Im Gegenteil: In einem Interview, das morgen im „Stern“erscheint, haben Sie, Herr Westerwelle, gesagt: „Tabu-wächter können mir gestohlen bleiben.“
Das heißt, Sie setzen auf die jetzige Debatte noch einendrauf. Diesmal werden wir Ihnen die entsprechenden Fra-gen nicht ersparen.Auch Herr Westerwelle steht übrigens in einer Tradi-tion interessanter Zitate. Er hat im Zusammenhang mit derDebatte über unsere Geschichte gesagt, die Jugend müssevom Zwang befreit werden, mit gebeugtem Gang durchdas Leben zu laufen. Lieber Herr Westerwelle, ich bin alsAngehöriger der Nachkriegsgeneration mein ganzes Le-ben noch nicht gebeugt durch das Leben gelaufen. Aberich habe immer versucht, mich an das zu halten, was Herrvon Weizsäcker in seiner tollen Rede vom 8.Mai 1985 ge-sagt hat:Bei uns ist eine neue Generation in die politischeVerantwortung hereingewachsen. Die Jungen– das gilt übrigens auch für viele alte Menschen –sind nicht verantwortlich für das, was damals ge-schah. Aber sie sind verantwortlich für das, was inder Geschichte daraus wird.Vor diesem Hintergrund kann man im Zusammenhang mitdem, was wir in den letzten Tagen erleben, nur von zen-tralem Versagen sprechen.
Sie versuchen, die deutsche Politik aus der historischenVerantwortung herauszureißen und darauf Ihren Wahl-kampf zu begründen.
Herr Westerwelle, distanzieren Sie sich von HerrnMöllemann! Bringen Sie die FDPauf ihre traditionelle Li-nie zurück! Das, was im Moment geschieht, hat mit einerliberalen Partei nichts zu tun, in deren Namen Sie nochheute zu reden glauben.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochenkonnte man immer wieder beobachten, wie sich die FDPgefreut hat, da sie – angeblich – so viel Zuspruch ins-besondere von jüngeren Menschen in Deutschland be-kommen hat, und zwar deshalb, weil endlich jemand freiüber das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichtespricht. Es sei als Belastung empfunden worden, dass dasvorher niemand getan habe. Hier genauso wie in der De-batte über das deutsch-israelische Verhältnis inszeniertsich Möllemann als großer Tabubrecher. Ich sage dazu:Wir brauchen Herrn Möllemann nicht. Wir brauchen auchkeine Enttabuisierung. Wir brauchen vielmehr eine ver-antwortliche Erinnerungskultur in Deutschland. Wer alsJugendlicher oder junger Erwachsener in 20 oder 30 Jah-ren politische Verantwortung in Deutschland übernimmt,kann dies nicht ohne Erinnerung und Wissen über den Ho-locaust und seine Folgen tun.
Dies gilt übrigens für junge Menschen nicht nur inDeutschland, sondern auch in jedem anderen Land der
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Jörg Tauss23818
Welt. Es geht nämlich nicht um eine Schulddebatte. Vielejüngere Menschen können mit einer solchen Debatte – be-rechtigterweise – gar nichts mehr anfangen. Es geht viel-mehr darum, zu verstehen, was passiert ist, den Wertunserer heutigen demokratischen Grundordnung zu er-kennen und unsere Demokratie zu verteidigen.
Es geht außerdem darum, Vorurteile sowie rassistischeund antisemitische Strömungen als gefährliche Irrwege zuerkennen, ihnen entgegenzutreten und einer Politik, diediesen Strömungen Vorschub leistet, nie wieder auch nurdie leiseste Chance in Deutschland zu geben.
Genau deshalb ist es unverantwortlich und unent-schuldbar, dass Möllemann mit antisemitischen Denk-schablonen hantiert. Er manipuliert Erinnerung, er ver-wischt Unterschiede und er deutet Geschichte um. Daskönnen wir nicht akzeptieren.
Herr Westerwelle, Sie haben sich heute hier darüberempört, dass dies eine Wahlkampfveranstaltung sei. Werden Wahlkampf als inhaltsleeres Projekt „18 Prozent“ ins-zeniert, wie Sie das tun, hat nicht die Legitimation, hiermit dem Finger auf andere zu zeigen. Das will ich ganzdeutlich sagen.
Sie tun mir im Übrigen auch fast Leid: erst großspurigKanzlerkandidat und dann ohne Übergang Zaunkönig,
das ist schon ein schwerer Absturz, Herr Westerwelle.
Aber Leid tun Sie mir wirklich nur fast. Denn wenn manden „Stern“ liest, stellt man fest, dass Sie sich sogar damitbrüsten – ich zitiere –:Es ist der FDP zu verdanken, dass die Schill-Parteinicht im Landtag von Sachsen-Anhalt sitzt.
– Ja, das steht wortwörtlich darin.Die FDP will Protestpartei sein. Ich sage Ihnen etwas:Protest ohne eigenen Standpunkt ist Populismus,
ein Populismus, der die Tür für mehr öffnet. Eine Partei,die sich unter ihrem Vorsitzenden Westerwelle hem-mungslos dem Populismus öffnet, darf sich nicht wun-dern, wenn Möllemann mit Rechtspopulismus aufWählerfang geht.
Es geht heute nicht um Wahlkampf
– lassen Sie mich das zum Schluss sagen –, es geht um dieFDP. Sie sind der Vorsitzende der FDP. Er muss Richtungvorgeben und er muss auch Mehrheiten für seine Richtungorganisieren können. Bis heute ist offen geblieben, HerrWesterwelle, ob Sie das einfach nicht können oder ob Siees nicht wollen. Auf diese Klarstellung wartet das gesamteHaus.
Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, 6. Juni 2002, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.