Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
21. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des
Parteiengesetzes
– Drucksache 14/7778 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Achten Ge-
setzes zur Änderung des Parteiengesetzes
– Drucksache 14/7778 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Norbert Röttgen, Manfred Grund,
Norbert Hauser , weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Par-
teiengesetzes
– Drucksache 14/7441 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Evelyn Kenzler, Petra Bläss, Roland
Claus, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnde-
rung des Gesetzes über die politischen Parteien
– Drucksache 14/2719 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 14/8824 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Dr. Hans-Peter Uhl
Dr. Norbert Röttgen
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Dr. Evelyn Kenzler
b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/8825 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Werner Hoyer
Gunter Weißgeber
Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
Dr. Christa Luft
Der Innenausschuss hat in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 14/8824 den Gesetzentwurf der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP auf Drucksache 14/8778 einbe-
zogen, über den jetzt ebenfalls abschließend beraten wer-
den soll. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
ist so beschlossen.
Zu dem soeben genannten Gesetzentwurf liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Harald Friese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ge-ehrten Kolleginnen und Kollegen! Art. 21 Abs. 1 Satz 4unseres Grundgesetzes bestimmt: Parteien „müssen überdie Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihrVermögen öffentlich Rechenschaft geben“. Dies ist einebestechend einfache Vorschrift, deren Umsetzung in diePraxis aber in der Vergangenheit offensichtlich großeSchwierigkeiten bereitet hat. Ich erinnere nur an dieFlick-Affäre, den CDU-Parteispendenskandal und die22971
231. SitzungBerlin, Freitag, den 19. April 2002Beginn: 9.00 UhrVorgänge in Köln, die meine eigene Partei betreffen. Wirsind aber zusammen mit der vom Bundespräsidenten ein-gesetzten Kommission unabhängiger Sachverständiger zuFragen der Parteienfinanzierung der Auffassung: Dasdeutsche System der Parteienfinanzierung und das Partei-engesetz haben sich bewährt. Wenn dagegen verstoßenwurde, geschah das vorsätzlich, mit krimineller Energieund Fantasie. Auch wenn wir heute das Parteiengesetz än-dern, wir sind nicht so naiv, zu glauben, dass ein noch sogutes Gesetz unerlaubtes Handeln und Rechtsverstößeverhindern kann.
Wir müssen uns aber folgende Fragen stellen: Ist esrichtig, dass ein ehemaliger Bundeskanzler, der mit seinerWeigerung, die Namen von Spendern zu nennen, perma-nent gegen die Verfassung und gegen das Parteiengesetzverstößt, straffrei bleibt?
Ist es richtig, dass auch ein ehemaliger Innenminister, deraußerhalb der Kasse seiner Partei 20 Millionen DM in derSchweiz parkte, aller Wahrscheinlichkeit nach straffreibleiben wird?
Es mag gute Gründe geben, Verstöße gegen das Parteien-gesetz nicht zu bestrafen.
Es gibt aber bessere Gründe, Verstöße gegen das Partei-engesetz unter Strafe zu stellen.
Denn es darf in unserem Land keinen strafrechtsfreienRaum für vorsätzliche Verstöße gegen Vorschriften ge-ben, die für die Funktionsfähigkeit einer parlamentari-schen Demokratie von zentraler Bedeutung sind.
Deshalb werden wir heute Verstöße gegen das Parteien-gesetz unter Strafe stellen. Ich möchte an dieser Stelleausdrücklich feststellen: Wer als Kassierer eines Ortsver-eins einen Fehler macht, der hat nichts zu befürchten. Weraber, egal auf welcher Ebene der Partei, vorsätzlich han-delt, verdient keinen Schutz.
Verstöße gegen das Parteiengesetz sind keine Kavaliers-delikte, weshalb wir einvernehmlich den Strafrahmenauf bis zu drei Jahre festgesetzt haben.Um einer Legendenbildung schon im Vorfeld vorzu-beugen: In einigen Tageszeitungen konnte man lesen, dieSPD sei erst nach den Vorgängen in Köln bereit gewesen,einer entsprechenden Strafvorschrift zuzustimmen. Diesist falsch.
Schon im Koalitionsentwurf vom Dezember 2001 wurdeeine Strafvorschrift vorgeschlagen. Von Köln war damalsnoch gar keine Rede.Wir verbessern mit diesem Gesetz weiterhin dieTransparenz der Parteifinanzen; denn Transparenz undÖffentlichkeit der Parteikasse sind zentrale Inhalte vonArt. 21 GG. Wir verdammen keine Spenden, auch nichtvon Firmen. Spenden sind auch ein Zeichen für die Ver-wurzelung der Parteien in der Gesellschaft. Aber: Spen-den können Parteien abhängig machen, nämlich vomSpender. Deshalb muss die Öffentlichkeit erfahren, vonwem die Parteien Gelder erhalten. Wenn das geschieht,dann kann der mündige Wähler feststellen, ob sich dasProgramm der Partei, ob die konkrete politische Arbeitder Partei eine Interessenpolitik ist, die sich sozusagenam Interesse der Spender orientiert.In Zukunft sind Spenden über 50000 Euro dem Bundes-tagspräsidenten unverzüglich mitzuteilen und zeitnah zuveröffentlichen; sonstige Einnahmen sind offen zu legen,wenn sie mehr als 2 Prozent der Einnahmen der jeweili-gen Parteiebene ausmachen oder höher als 10 000 Eurosind;Erbschaften und Vermächtnisse – damit haben wirim Parteispendenausschuss unsere bitteren Erfahrungengemacht – sind zu veröffentlichen, wenn sie im Einzelfallmehr als 10 000 Euro betragen; auch Gewinne und Verlus-te von Unternehmen der Parteien sind getrennt zu veröf-fentlichen und nicht, wie es das bisherige Gesetz vorsah,zu saldieren.Der Gesetzentwurf geht – das will ich ausdrücklich fest-stellen – von der Zulässigkeit wirtschaftlicher Betätigungder Parteien auch bei Medienunternehmen aus. Er befindetsich damit in Übereinstimmung mit den Empfehlungen derParteienkommission. Aber auch hierbei gilt: Wirtschaftli-che Betätigung – ja, aber umfassende Transparenz.Auch an dieser Stelle möchte ich einer Legendenbil-dung gleich vorbeugen: Die SPD hat sich zu keinem Zeit-punkt gegen eine Veröffentlichung ihrer Unternehmens-beteiligungen gewehrt. Die Pflicht zur Veröffentlichungwar Teil des Koalitionsentwurfs vom Dezember letztenJahres. Im Übrigen veröffentlicht die SPD schon seit demRechenschaftsbericht 1999 ihre wirtschaftlichen Beteili-gungen freiwillig, und zwar über das jetzige Parteien-gesetz hinaus.Es ist bekannt: Geld macht leider sinnlich und es stinktnicht.
Bekannt ist auch: Parteifunktionäre sind manchmal lei-der nicht anders als ganz normale Bürger. Deshalb un-terbindet der Gesetzentwurf Begehrlichkeiten im Vor-feld – das halte ich für einen sehr interessanten Ansatzdes Gesetzentwurfs –, sodass Spenden öffentlich-recht-licher Körperschaften, Spenden von Fraktionen, auchauf der kommunalen Ebene, Spenden von Unternehmen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Harald Friese22972
von denen die öffentliche Hand mehr als 25 Prozent be-sitzt, Barspenden über 1 000 Euro oder 500 Euro, wennder Spender nicht bekannt ist, und Spenden, die eine Par-tei erkennbar in Erwartung oder als Gegenleistung füreinen bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Vor-teil erhält, in Zukunft nicht mehr erlaubt sind.Neunmalkluge werden sagen: Das ist in der Praxis al-les gar nicht nachweisbar. Das mag so sein. Aber die Wer-tung des veränderten Parteiengesetzes, dass solche Spen-den moralisch verwerflich sind, ist wichtig. Wenn einePartei eine Spende bekommen soll und die Befürchtunghat, sie sei als Gegen- oder Vorleistung anzusehen, dannist sie übrigens nicht verpflichtet, sie anzunehmen. EineVerpflichtung dafür gibt es im Parteiengesetz nicht.
Wir haben Verstöße gegen das Parteiengesetz mit sehrharten Sanktionen belegt: Eine rechtswidrige Spendenan-nahme wird mit einer Strafe in Höhe des dreifachen Spen-denbetrags bestraft. Eine Spende, die rechtmäßig ist, abernicht im Rechenwerk der Partei auftaucht, muss zurück-gezahlt werden. Außerdem muss man eine Strafe in Höhedes zweifachen Spendenbetrags zahlen. Wenn der Vermö-gensausweis in der Vermögensbilanz nicht richtig ist,dann müssen 10 Prozent des Verkehrswertes des nichtrichtig ausgewiesenen Vermögens als Strafe gezahlt wer-den. – Das sind harte Sanktionen. Dieses konsequente undharte Sanktionensystem, verbunden mit der Strafandro-hung, gibt zu der Hoffnung Anlass, dass Parteispenden-skandale der Vergangenheit angehören.Ich sage hier ganz offen: Es ist bedauerlich, dass wir zusolchen Mitteln greifen müssen, um die Einhaltung desGesetzes zu sichern. Eigentlich müsste man davon ausge-hen, dass sich diejenigen, die die Gesetze machen, auchdaran halten.
Eigentlich müsste man auch davon ausgehen können, dassdiejenigen, die ein öffentliches Amt haben, Rechtstreueals eine selbstverständliche Maxime ihres Handelns an-sehen.
Wenn Politik in den Verdacht gerät, käuflich zu wer-den, hat das verheerende Auswirkungen auf die politischeKultur.
Politische Kultur ist für mich öffentliche Diskussion, kon-troverse Diskussion und Transparenz der Entscheidungs-prozesse. Politische Kultur heißt aber auch: Vertrauen indas Handeln von Politikern haben können. WilhelmHennis, der Nestor der deutschen Politikwissenschaft, hateinmal gesagt: Vertrauen ist die seelische Grundlage derrepräsentativen Demokratie. – Wir müssen dieses Ver-trauen zurückgewinnen. Ich bin der Überzeugung, dassdas Parteiengesetz in seiner neuen Form dafür eine wich-tige Voraussetzung ist.Parteienrecht ist kein Verfassungsrecht; aber es hat ver-fassungsrechtlichen Rang. Solche grundlegenden Gesetzekann man nicht in jeder Legislaturperiode ändern. Ände-rungen sollten zudem mit einer breiten Mehrheit, auf einerbreiten Basis geschehen. Deshalb sind wir froh darüber,dass es gelungen ist, zu einem interfraktionellen Gesetz-entwurf zur Änderung des Parteiengesetzes zu kommen.Im Namen des ganzen Hauses möchte ich meinen Dankan die Kommission unter Vorsitz der damaligen Präsiden-tin des Bundesrechnungshofes, Frau Dr. von Wedel, sagen.Dort sind wichtige Vorarbeiten geleistet worden. Der jetztvorliegende Gesetzentwurf könnte, so glaube ich, auchvon der Kommission stammen.
Ich möchte auch an meine Kolleginnen und KollegenBerichterstatter Dank sagen. Wir haben uns in fünf hartennächtlichen Verhandlungsrunden zu diesem gemeinsa-men Gesetzentwurf durchgerungen. Festzustellen war,dass der Wille zur Einigung vorherrschte.Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass die Parteien inDeutschland in der Lage sind, aus dem Parteispenden-skandal Konsequenzen zu ziehen. Dieser Gesetzentwurfzeigt auch, dass die Parteien willens sind, für eine umfas-sende Transparenz der Parteienfinanzen zu sorgen. DieserGesetzentwurf zeigt des Weiteren, dass es trotz aller par-teipolitischen Auseinandersetzungen vor einer unmittel-bar bevorstehenden Bundestagswahl im Interesse einespolitischen Kompromisses möglich ist, eine solche ge-meinsam getragene Regelung zu finden. Dies sollte eingutes Zeichen für den zukünftigen Umgang mit dem Par-teiengesetz sein.
Meine Damen und Herren, ich muss zum Schluss lei-der noch eine Korrektur ins Verfahren einbringen. Ichhabe sie gestern an die Berichterstatter gefaxt; aber ichmuss sie auch öffentlich im Plenum einbringen. Es gehtum einen Fehler in Art. 1 – Änderung des Parteiengeset-zes – § 24 Abs. 9 Nr. 5. Durch einen Übertragungsfehlerist diese Vorschrift in der Drucksache 14/8778 unrichtigabgedruckt. In der Drucksache heißt es wie folgt:5. Schuldposten der Gesamtpartei gemäß Absatz 6Nr. 2 A I und II und B II und III und deren Summe,Stattdessen muss es richtig heißen:5. Schuldposten der Gesamtpartei gemäß Absatz 6Nr. 2 A I und II und B II bis IV und deren Summe,
Diese Korrektur ist, da ich keine gegenteiligen Äußerun-gen gehört habe, zwischen den Parteien unstrittig.Die SPD-Fraktion wird der Novellierung des Parteien-gesetzes mit Überzeugung zustimmen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Harald Friese22973
Ich erteile dem Kolle-
gen Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Parteispen-denaffären der Vergangenheit und der Gegenwart habenVertrauen gekostet. Wenn wir dieses Vertrauen zurückge-winnen wollen, dann genügen nicht Worte, Rhetorik undGesten, sondern dann müssen Konsequenzen gezogen wer-den.
Ehrliche Konsequenzen zu ziehen ist das Gebot undder Maßstab. Ehrliche Konsequenzen beziehen sich aufzwei Bereiche, erstens auf die Aufklärung von Verstößenund Parteispendenaffären. Das erste Gebot ist also, dasshier Konsequenzen gezogen werden müssen. Weil das soist, bedauern wir die mangelnde Aufklärungsbereitschaftder SPD im Hinblick auf ihre Parteispendenaffäre inNordrhein-Westfalen. Das geht so nicht, meine Damenund Herren!
– Ich weiß nicht, warum Sie sich so empören. Nach allerLebenserfahrung gibt es nämlich nur eine Alternative,was das Verhalten Ihres Generalsekretärs Müntefering an-belangt:
Entweder hat Generalsekretär Müntefering bewusst gelo-gen oder er hat sein Nichtwissen bewusst organisiert.
Zu lügen oder zu vereiteln, dass die Wahrheit ans Lichtkommt, steht politisch, moralisch und rechtlich auf dergleichen Stufe und ist in gleicher Weise verwerflich. Dasmüssen Sie sich vor Augen halten.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen;
denn Herr Müntefering sieht das ja ganz gelassen. Er hatja schon einmal eine Falschaussage gemacht: vor derBundespressekonferenz im Jahre 1998. Diese Falschaus-sage erfolgte nach Auffassung der Mitglieder der Bundes-pressekonferenz entweder wider besseres Wissen oder ausUnkenntnis – eine auffällige Parallele im Verhalten vonHerrn Generalsekretär Müntefering.
Er hat sich, nachdem dies herausgekommen war, wiefolgt geäußert. Er hat der „Hannoverschen Allgemeinen“gesagt:Ich bin eben eine Art Indianer, der manchmal Spurenverwischt.Das ist das Amtsverständnis von GeneralsekretärMüntefering!
Auch Ihr heutiger Fraktionsvorsitzender hat in der„Hessischen Allgemeinen“ Verständnis für die Zwick-mühle, in die sein Genosse unversehens geraten war, ge-zeigt. Zitat Struck:Ein Bundesgeschäftsführer muss auch einmal entge-gen seinen eigenen Erkenntnissen etwas verkünden,was nicht ganz der Wahrheit entspricht, wenn es derPartei dient.Das ist das Amtsverständnis der Herren Struck undMüntefering!
Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Wir weisen den Ver-such der Legitimierung der Lüge als politische Methodezurück. Diese Einstellung steht nämlich dahinter.
Man schafft es durch kein Parteiengesetz, diese Einstel-lung zu sanktionieren; das muss vielmehr der Bürgerübernehmen. Er hat bald Gelegenheit dazu, nämlich am22. September.
Es müssen Konsequenzen aus den Unzulänglichkeitender gesetzlichen Regelung der Parteienfinanzierung gezo-gen werden. Das Parteiengesetz, das wir heute be-schließen, wird dieser Anforderung gerecht. Am Ende ei-nes langen Diskussionsprozesses steht ein gemeinsamerGesetzentwurf. Das heißt nicht, dass wir alle in allenPunkten einer Meinung sind. Es ist aber ein tragfähigerKompromiss. Eben wurde die Parteispendenaffäre inKöln angesprochen. Diese hat die Kompromissfindungerheblich beschleunigt; so sind wir schneller zu diesemErgebnis gekommen.Die erste Konsequenz, die bei diesem Parteiengesetzgezogen wurde, betrifft das Verfahren, in dem dieses Ge-setz auch dem Inhalt nach entstanden ist.
Es war die CDU/CSU-Fraktion, die durch ihre Initiativeim vergangenen Sommer ein parlamentarisches Verfahrenerzwungen hat. Es hat nicht mehr die Schatzmeisterrundehinter verschlossenen Türen gegeben,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 200222974
sondern wir haben ein ordentliches parlamentarischesWettbewerbsverfahren durchgeführt. Diesen Zwang hatdie CDU/CSU-Fraktion in diesem Gesetzgebungsverfah-ren erzeugt. Das war gut so und ist diesem Gesetz gut be-kommen.
Parteiengesetzgebung ist Gesetzgebung in eigener Sache.Da muss die Transparenz im Verfahren beginnen. Das istbesser geworden.
In der Sache ziehen wir Konsequenzen in drei Berei-chen: bei den Spenden, bei den Sanktionen und bei derwirtschaftlichen Betätigung. Ich betone, dass Spendennach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtserwünschte politische Betätigung der Bürger sind. DasVerfassungsgericht wünscht, dass Parteien in der Bevöl-kerung verankert sind, und auch, dass es finanzielle Rück-koppelungen zwischen Parteien und Bevölkerung gibt.Darum ist es ein erwünschtes und legitimes Verhalten,wenn Bürger spenden. Gerade weil das so ist, muss auchMissbrauch verhindert und Transparenz geschaffen wer-den.
Zum Stichwort Transparenz bei den Parteifinanzengibt es übrigens die verfassungsrechtliche Problematikdes Reichtums der SPD. Das Verfassungsgericht sagt, dieParteien müssen darauf angewiesen sein, sich rückzukop-peln. Eine Partei, die über ein milliardenschweres Unter-nehmen gebietet, wie es die SPD tut, hat Parteispendenund Mitgliedsbeiträge gar nicht nötig.
Das ist die verfassungsrechtliche Problematik des Reich-tums der SPD.
Wir haben aber auch bei den Spenden für Transparenzgesorgt:
Barspenden über 1 000 Euro sind verboten, Groß-spenden müssen unverzüglich veröffentlicht werden undParteien ist es in Zukunft verwehrt, über den Umweg öf-fentlicher Unternehmen an Parteien zu spenden.
Hier ist noch mehr Transparenz im Bereich der Spendenerzielt worden.Zweitens. Wir brauchen – auch das ist unsere Forde-rung im Gegensatz zum Koalitionsentwurf – ein lücken-loses Sanktionssystem bei Verstößen gegen das Parteien-gesetz.
– Nein, es ist gut, dass es am Anfang den Gesetzentwurfgegeben hat. In Ihrem Koalitionsentwurf gab es dieseslückenlose Sanktionssystem eben nicht.
Das kann man anhand Ihres Gesetzentwurfes nachweisen.Die Sanktionen reichen von finanziellen Maßnahmenbis zur Strafbarkeit. Die Strafbarkeit unterstreicht die Be-deutung des Rechtsgutes der Transparenz. Sie erfasst prä-zise die schweren Verstöße; das ist auch richtig so. Abersie stellt andererseits sicher, dass nicht ehrenamtliche po-litische Tätigkeit unter Generalverdacht gestellt wird. Esist ein Gebot des Gesetzgebers, das sicherzustellen.Darüber hinaus wird die bisherige rechtmäßige Praxisder Bundestagsverwaltung, dass die Partei, die sich vonsich aus offenbart, sanktionsfrei bleibt, kodifiziert undkonkretisiert. Das ist ein Anreiz für Selbstreinigung; dasist eine vernünftige Regelung.Ich komme zum dritten Punkt, bei dem unbedingt Kon-sequenzen gezogen werden mussten. Es geht um den Be-reich der wirtschaftlichen Betätigung. Die wirtschaftlicheBetätigung der Parteien war bislang völlig ungeregelt.Nichts, kein Absatz, kein Paragraph, kein Halbsatz, keinWort galt der wirtschaftlichen, der unternehmerischenBetätigung von Parteien. Das hat sich grundlegend geän-dert.Allerdings möchte ich betonen: Obwohl wir nun einengemeinsamen Gesetzentwurf haben, haben wir in derGrundsatzfrage keine Einigkeit. Wir sind der Auffassung,dass sich Parteien nicht als Medienunternehmer betätigensollten. Die Presse hat die Funktion öffentlicher Kritikund Kontrolle.
Daher kann es nicht richtig sein, dass die zurzeit größteRegierungspartei einer der größten Medienunternehmerdes Landes ist.
Frau Wettig-Danielmeier hat den Wert allein der Me-dienbeteiligungen der SPD im Untersuchungsausschussmit 750 Millionen DM angegeben. Die Auflage der Ta-geszeitungen, an denen Sie beteiligt sind, beträgt 2,5 Mil-lionen. Es kann doch nicht richtig sein, dass sich die Par-teien, die durch die Presse kontrolliert werden sollen, ihreKontrolleure kaufen! Das ist doch keine Gewaltenteilungund keine öffentliche Kontrolle.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Norbert Röttgen22975
Wir haben zurzeit in diesem Haus noch nicht die Mehr-heit.
Herr Kollege Röttgen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Röttgen, ich habe zwar nachher noch Gelegenheit, darauf
zu antworten; aber das geht mir jetzt über die Hutschnur.
Deswegen frage ich Sie: Warum haben Sie und warum hat
die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf mitgetra-
gen? Wenn Sie dagegen sind, seilen Sie sich doch endlich
ab, damit klare Fronten entstehen!
Herr KollegeSchmidt, diese Frage kann ich Ihnen eindeutig beantwor-ten; ich hatte ohnehin vor, gleich darauf zu kommen. Ichhabe gerade den Dissens in der Grundsatzfrage des Ver-hältnisses von Parteien und Presse betont.
Wir sind der Auffassung, dass hier eine grundsätzlicheTrennung erfolgen muss: Auf der einen Seite sind die Par-teien und auf der anderen Seite kontrolliert die Presse dieParteien. Da darf es keine Verquickung geben.
Ich sage Ihnen – ich erläutere Ihnen das gleich ausführ-licher –, weswegen wir diesen Gesetzentwurf mittragen:weil wir substanziell etwas erreicht haben. Aber dieCDU/CSU und die FDP, die das genauso sieht, haben nichtdie Mehrheit im Parlament. Solange das so ist, appellierenwir an Sie um der eben von Ihrer Fraktion beschworenenpolitischen Kultur in unserem Land willen: Trennen Siesich freiwillig von diesen Medienunternehmen,
legen Sie das Geld bei Daimler-Benz oder sonstwo an,aber nicht in Medienunternehmen!Nun erkläre ich Ihnen, warum wir, obwohl wir in derGrundsatzfrage einen Dissens haben, dem Gesetzentwurfzustimmen können: weil wir, was das Verhältnis von Par-teien, Presse und Öffentlichkeit anbelangt, das Minimumerreicht haben. Das Minimum ist Transparenz; es bedeu-tet, dass Sie wenigstens nicht mehr mit verdecktem Visierarbeiten, dass die Bürger über diesen Sachverhalt infor-miert werden.
Transparenz wird überall beschworen; es ist das wichtigs-te Stichwort der Parteiengesetzgebung und der Parteienfi-nanzierung.
Aber dort, wo die SPD wirtschaftlich massiv engagiert ist,sollen die Bürger nichts erfahren.Was haben wir an Transparenz erreicht?
Erstmalig müssen Einnahmen aus Unternehmensbeteili-gungen angegeben werden. Erstmalig ist im neuen Partei-engesetz eine Vermögensbilanzmit Erläuterungsteil vor-gesehen, den es bislang nicht gegeben hat.
In diesem Erläuterungsteil muss die SPD wie eine Kapi-talgesellschaft Angaben über ihre mittelbaren und unmit-telbaren Beteiligungen machen: Höhe des Anteils und desEigenkapitals und das Ergebnis aus dem letzten Ge-schäftsjahr.
Sie müssen darüber hinaus die Unternehmensbeteili-gungen im Bereich von Medienunternehmen angebenund Sie müssen nach dem neuen Gesetz darlegen, welcheZeitungen die Unternehmen, an denen Sie beteiligt sind,herausgeben. Wir schaffen mit diesem Gesetz also Trans-parenz.
Darüber hinaus muss alle fünf Jahre der wirtschaftlicheWert der Unternehmensbeteiligungen bewertet werden.Das heißt, die Bevölkerung wird nicht mehr mit Angabenüber Buchwerte, die nicht realistisch sind, abgespeist,sondern sie erhält einen Einblick in den wirtschaftlichenWert der Unternehmensbeteiligungen.Letzter großer Fortschritt: Alle diese Angabepflichtensind sanktionsbewehrt. Aber Sie wollten genau dieseSanktionen aus Ihrem Gesetzentwurf herausnehmen.Diese Angaben sind nun durchgehend sanktionsbewehrt.Herr Friese hat eben die entsprechenden Sanktionen ge-nannt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Norbert Röttgen22976
Herr Schmidt, ich komme zur Antwort auf Ihre Frage,warum wir zustimmen.
Weil wir so viel erreicht haben, können wir diesem Gesetzzustimmen.
Herr Kollege Röttgen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-
Bohlig?
Ich bin gerne be-
reit, Ihre Zwischenfrage zu beantworten.
stellen. Ist das, was wir heute gemeinsam verabschieden
werden, nicht Anlass, Selbstkritik zu üben,
und zwar sowohl im Hinblick auf den Umgang zwischen
Parteien und Medien als auch im Hinblick auf den Um-
gang zwischen Parteien und Spendern? Ich glaube, das
sind wir alle am heutigen Tag der Bevölkerung schuldig.
Ich frage Sie daher, ob Sie bereit sind, das ernst zu nehmen.
Mein erster Satz
lautete, dass die Parteispendenaffären und die Verstöße
gegen das Parteiengesetz in der Vergangenheit und in der
Gegenwart Vertrauen gekostet haben.
Der Maßstab unseres Gesetzes ist die Ehrlichkeit der
Konsequenzen.
Aus den erkannten Missständen müssen die Konsequen-
zen gezogen werden. Mit diesem Gesetzentwurf wurde in
puncto Konsequenzen viel erreicht. – Ich darf Sie bitten,
stehen zu bleiben, während ich Ihre Frage beantworte.
Aber es besteht auch Uneinigkeit. Es gibt keine völlige
Übereinstimmung der Meinungen. Wir haben hinsichtlich
des Verhältnisses von Presse und Parteien eine Grund-
satzposition, die nicht die rot-grüne Position ist. Es ist
nicht angebracht, in diesem Fall der Bevölkerung Harmo-
nie vorzuspielen.
Interessanterweise fällt der Wettbewerb unter den Par-
teien beim Parteiengesetz, das uns selber betrifft, aus.
Meiner Meinung nach müssen aber auch die Unterschiede
in den einzelnen Positionen dargelegt werden.
– Dass Sie das nicht gerne hören, glaube ich Ihnen gern.
Aber wir sprechen die Unterschiede dennoch aus.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen, die
wichtig ist.
Das Parteiengesetz ist ein Ordnungsrahmen für die po-
litische Auseinandersetzung. Dieser Rahmen ist besser
geworden und Konsequenzen sind gezogen worden. Da-
rum stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Er entspricht
nicht hundertprozentig unseren Vorstellungen. Aber viele
dieser Vorstellungen sind realisiert worden. Wir wün-
schen, dass die Parteien in dem Geist, in dem dieses Ge-
setz entstanden ist, die Vorschriften befolgen.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wortdem Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/DieGrünen.
Der Kollege Röttgen hat den wahren Grund nicht genannt,warum die CDU/CSU dem Gesetzentwurf doch zu-stimmt. Herr Kollege Röttgen, ich erinnere mich sehr gutan die Verhandlungen und auch an die Entwicklung derVerhandlungen. Am Anfang waren Sie es, der ganz striktgegen jede strafrechtliche Sanktion in diesem Parteienge-setz gewesen ist.
Sie mussten von allen anderen zum Jagen getragen wer-den. Wissen Sie, warum Sie jetzt zustimmen? Weil auchSie festgestellt haben, dass die Bevölkerung wie bei kei-nem Gesetz vorher von uns allen verlangt, dass wir etwastun und alle gesetzgeberischen Möglichkeiten nutzen, umin Zukunft solche Spendenskandale, solche Korruptionund solche Ereignisse der gekauften Politik einer Bun-desregierung zu verhindern.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Norbert Röttgen22977
Das ist die Forderung an uns, den Gesetzgeber. DieserForderung konnten Sie sich nicht entziehen.
Herr Kollege Röttgen, wir haben ja gestern im Aus-schuss dazu noch einmal eine Auseinandersetzung ge-habt. Um es gleich zu Beginn zu sagen: Auch ich bin dafür,dass die Kollegin Wettig-Danielmeier und der KollegeMüntefering noch einmal im Ausschuss gehört werden.Aber verschweigen wir doch nicht, dass bei ihnen niemalsder Verdacht bestanden hat, dass sie von einem Waffen-händler eine Einflussspende in Höhe von 100 000 DM be-kommen haben und dass sie diese 100 000 DM zunächstein Jahr verborgen gehalten haben, bis sie sie aus dem Tre-sor herausgeholt und versucht haben, sie in das Rechen-werk der Partei zu schmuggeln. Da besteht ein entschei-dender Unterschied.
Es gibt Leute, die hier Parallelen ziehen wollen, weil essich auf der einen, aber auch auf der anderen Seite um eineSchatzmeisterin handelt. Bei der SPD besteht jedoch einentscheidender Unterschied zu dem, was wir von derCDU gewohnt gewesen sind.Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ver-sucht, ganz konkret anhand der einzelnen Fälle dieKonsequenzen aus den Parteispendenskandalen derletzten Jahre und auch der letzten Wochen zu ziehen. Ichsage Ihnen: Wenn es das Gesetz in dieser Form bereits1994 gegeben hätte, wenn also bei der letzten Novellie-rung des Parteiengesetzes so etwas beschlossen wordenwäre, dann müssten wir heute nicht darüber rätseln, obFrau Baumeister, Ihre ehemalige Schatzmeisterin, oderHerr Dr. Schäuble Recht hat bzw. welche Variante in Be-zug auf die 100 000-DM-Spende des WaffenhändlersSchreiber stimmt. Wenn das Gesetz schon damals in derheute vorgesehenen Form gegolten hätte, hätten sie eineBarspende, von mehr als 1 000 Euro gar nicht annehmendürfen. Eine Einflussspende hätten sie überhaupt nicht an-nehmen dürfen. Übrigens durften sie das auch schon nachdem alten Gesetz nicht.Wenn ein Betrag von mehr als 50 000 Euro gespendetworden wäre, hätten sie dies sofort und unverzüglich anden Bundestagspräsidenten melden müssen und der hättedies veröffentlichen müssen. Wir hätten dann schon beider Wahl von 1994 von der Schreiber-Spende an Schäublegewusst. Frau Baumeister und Herr Dr. Schäuble hättensich schon 1994, hätte es die neuen gesetzlichen Bestim-mungen bereits gegeben, strafbar gemacht. Wir bringeneinen solchen Gesetzentwurf ein, damit so etwas, wie wires von Ihrer Seite 1994 erlebt haben und jetzt mühsamaufarbeiten, nicht wieder vorkommt.
Wenn dieses Gesetz 1994 gegolten hätte, dann hätte derdamals amtierende Bundeskanzler in seinem Amtszim-mer nicht mit der einen Hand wichtige Gesetze zur deut-schen Einheit unterschreiben können und mit der anderenMillionenbeträge in bar annehmen können. Er wäre dannnämlich nicht straflos geblieben. Wenn dieses Gesetz1994 gegolten hätte, dann hätte Herr Dr. Kohl eineStraferwartung gehabt, die in etwa an die Höchstgrenzevon drei Jahren, die in unserem neuen Gesetz vorgesehenist, gereicht hätte, weil er das Gesetz, wenn es schon da-mals gegolten hätte, mehrfach und beharrlich über Jahrehinweg gebrochen hatte
und die Absicht hatte, die Herkunft dieser Spenden zu ver-schleiern und die Rechenschaftslegung zu umgehen.
Wir haben eine ganze Reihe von Erfahrungen auch ausden letzten Wochen berücksichtigt. Auch die HerrenRüther und Biciste wären nach diesem Gesetz strafbar.Die Staatsanwaltschaft in Köln hätte keine Probleme.Denn die Herren Rüther und Biciste haben vorsätzlich,um die Herkunft der Spenden zu verschleiern, Beträge ge-stückelt und falsch verbuchen lassen. Auch die, die inKenntnis dieses Vorganges mitgewirkt haben, zum Bei-spiel weil sie Spendenquittungen angenommen haben,obwohl sie überhaupt keine Spende gemacht haben,wären im Rahmen der dortigen Vorgänge wegen Beihilfestrafbar. Das heißt, wir haben die Strafvorschriften nochin den letzten Wochen aus den Erkenntnissen heraus, diewir jede Woche neu gewonnen haben, verschärft und eineStrafbarkeit auch auf der untersten Ebene eingerichtet. Dawar die Einsicht da, dass wir uns dem Willen der Bevöl-kerung nicht entziehen können.
Wir haben auch der CSU eine eigene Vorschrift ge-widmet. Wir haben in den Gesetze ntwurf nämlich eineVorschrift aufgenommen, nach der dann, wenn die Werbermehr als 25 Prozent der eingeworbenen Spende erhalten,die Spende nicht angenommen werden darf. Das ist rich-tig und schon deshalb zwingend erforderlich, weil wir wis-sen, dass jede Partei für die eingeworbenen Spenden ei-nen staatlichen Zuschuss in nicht unbeträchtlicher Höheerhält. Das heißt, Sie bei der CSU haben eine Praxis aus-geübt, nach der Spenden eingeworben worden sind, 40 bis60 Prozent davon an Werber abgegeben worden sind, Sieaber dafür die vollen Subventionen aus der Staatskasse, alsoaus Steuermitteln, einkassiert haben. Das war – unabhängigdavon, ob es strafbar ist – nicht in Ordnung.
Wir haben in dem neuen Gesetz, das ab 1. Juli diesesJahres gelten soll, eine Vorschrift, nach der es in Zukunftnicht mehr möglich ist, das zu tun, was Herr Kanther undPrinz zu Sayn-Wittgenstein in Hessen praktiziert haben,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Hans-Christian Ströbele22978
nämlich Gelder in Höhe von mehrstelligen Millionenbe-trägen in der Schweiz zu waschen, sie zurückzuführenund immer vor Wahlkämpfen, immer wenn sie Geldbrauchten, in Deutschland in die Kassen der CDU mit derunverschämten Behauptung hineinzuschmuggeln, es han-dele sich hier um Erbschaften oder Vermächtnisse jüdi-scher Herkunft.
Das wird es in Zukunft nicht mehr geben. Dieser Praxishaben wir einen Riegel vorgeschoben, weil jetzt im Ge-setzentwurf steht, dass Vermächtnisse und Erbschaftenmit dem Namen und der Adresse des Erblassers genanntwerden müssen. Diese Praxis werden Sie nicht mehr fort-setzen können, weder in Hessen noch sonstwo.
Wir haben das Selbstverständliche in den Gesetzent-wurf hineingeschrieben. Wir mussten es hineinschreiben,weil das Verwaltungsgericht in Berlin die Auffassung ver-treten hat, auch ein unrichtiger Rechenschaftsberichtwürde die Voraussetzungen für eine wirksame Einrei-chung eines Rechenschaftsberichtes erfüllen.
Jetzt steht das Selbstverständliche im Gesetzentwurf.Natürlich muss ein Rechenschaftsbericht wahrheitsgemäßsein, nach bestem Wissen und Gewissen der Personen, diediesen Rechenschaftsbericht unterschrieben haben.
Es stimmt zwar, dass das, was die Sozialdemokratenzum Teil praktiziert haben – ich sage das ausdrücklich undhabe es immer wieder gesagt –, nicht gegen das geltendeParteiengesetz verstoßen hat. Aber mit dem Grundgedan-ken des Art. 21 des Grundgesetzes war nicht zu vereinba-ren, dass sie ihre Vermögensverhältnisse und ihre Ein-kommen aus Vermögen nicht schonungslos dargelegthaben, dass sie saldiert haben, sodass die Bürgerinnen undBürger, die diese Rechenschaftsberichte gelesen haben,nicht wissen konnten, wieviel Geld nun tatsächlich derSozialdemokratischen Partei zugewachsen ist. Es ist rich-tig und wichtig, dass in Zukunft jeder Bürger und jedeBürgerin weiß, woher sich eine Partei finanziert, und dasssie diese Kenntnis bzw. dieses Wissen bei ihrer Wahlent-scheidung berücksichtigen können.Die Sozialdemokraten – das muss ich aus meiner Er-fahrung aus allen Verhandlungen sagen – haben sich vonder ersten Minute an, seit wir über dieses Gesetz diskutiertund es beraten haben – lange bevor Sie von der CDU/CSUdabei gewesen sind –, mit dieser Regelung einverstandenerklärt. Ich erinnere mich an eine der Verhandlungen derletzten Tage: Sie haben sich auch damit einverstanden er-klärt, dass nicht nur ihre Beteiligungen an Unternehmen,die Presseerzeugnisse herausgeben, offen gelegt werden,sondern sie haben auch angeboten – von Ihnen kam dieAussage, dass das ein sehr gutes Angebot sei, das Sie er-freut annehmen –, dass die Hauptprodukte dieser jewei-ligen Unternehmen im Rechenschaftsbericht genanntwerden müssen.Damit wird die Forderung, die im Grundgesetz steht,dass die Hintergründe und die Herkunft des Vermögensder Parteien transparent gestaltet werden müssen, sodassalle wissen können, was hinter einer Partei steht, was hin-ter einer Zeitung steht und ob es da Zusammenhänge gibt,tatsächlich erfüllt.
Abschließend stelle ich fest: Die Bündnisgrünen, früherdie Grünen, haben in den 80er-Jahren durch zwei Klagenbeim Bundesverfassungsgericht mit dafür Sorge getragen,dass die Finanzen der Parteien immer mehr so gestaltetworden sind, dass sie der Verfassung, dem Grundgesetz,entsprechen. Zwei Klagen beim Bundesverfassungsgerichtwaren dafür erforderlich.Die Bündnisgrünen haben in der letzten Legislaturperi-ode Vorschläge gemacht, wie man die Transparenz der Fi-nanzen der Parteien verbessern kann. In dieser Legislatur-periode haben die Bündnisgrünen mit dafür gesorgt, dassdie Parteifinanzen transparent sind und die Herkunft derMittel und das Vermögen einer Partei, wie es das Grundge-setz vorschreibt, offen gelegt werden. Wir wollen dort wei-termachen, weil wir natürlich wissen, dass auch die Vor-schriften, die wir heute beschließen, nicht alles verhindernkönnen. Sie können keinen Gesetzesbruch verhindern undkönnen auch nicht verhindern, dass immer wieder neueSchlupflöcher gesucht werden.Wir werden aber wachsam sein und, wenn es erforder-lich ist, erneut einen Untersuchungsausschuss fordern,auch im nächsten Deutschen Bundestag. Dann werden wirNachbesserungen fordern. Wir sehen uns gegenüber derBevölkerung verpflichtet, das Grundgesetz ernst zu neh-men und allen Wählerinnen und Wählern rechtzeitig mit-zuteilen, wer finanziell hinter welcher Partei steckt. Dasist für eine Wahlentscheidung nicht nur wichtig, sondernkann sogar ausschlaggebend sein.
Herr Kollege
Ströbele, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Die Fraktionen des Deut-schen Bundestags waren nach dem Parteispendenskandal
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Hans-Christian Ströbele22979
der CDU und dem jetzigen der SPD entgegen dem Bild,das die heutige Debatte bisher vermittelt hat, durchaus inder Lage, hinter verschlossenen Türen, im Kreise von Ex-perten vernünftig miteinander zu besprechen, wo die Feh-ler der bisherigen Parteiengesetzgebung gelegen sind undwie man dieses Gesetz verbessern kann, damit die verfas-sungsrechtlichen Anforderungen erfüllt werden.
Es war vermutlich ein wenig zu naiv, zu denken, dassalle Diskussionsredner das gemeinsam gefundene Ergeb-nis dieser Beratungen so sachlich darstellen würden wieder Herr Kollege Friese, der die Arbeitsgruppe geleitethat.
Ich sehe auch ein, dass unmittelbar vor einer Bundes-tagswahl in einer solchen Plenardebatte Platz für eine ge-wisse Polemik sein muss. Aber, Herr Kollege Ströbele,Sie haben vorhin den Begriff von der gekauftenBundesregierung gebraucht.
Sie versuchten damit wieder einmal zu insinuieren, dieRegierung Kohl sei korrupt gewesen.
Das machen Sie hier im Plenum des Deutschen Bundes-tages, nachdem sich ein Untersuchungsausschuss diesesHauses zwei Jahre lang mit diesen Vorwürfen befasst hatund das Ergebnis der Untersuchungen eindeutig ist: DerVorwurf der Korruption ist haltlos.
Wenn Sie das in dieser Form einführen, geht das über einezulässige Polemik zum neuen Parteiengesetz hinaus.
Eine verblüffende These hat zuvor der Kollege Röttgenaufgestellt. Er hat gesagt, dass Reichtum zu Volksferneführt. Darüber kann man in der Tat nachdenken. Daswürde bedeuten, dass Minoritenorden bessere Vertreter ineiner Demokratie wären als die Parteien, wie sie sich beiuns herausgebildet haben. Herr Kollege Röttgen, ich darfIhnen aber eines versichern: An dem von Ihnen angeleg-ten Maßstab kann sich mein bayerischer Landesverbandder FDP sehr wohl messen lassen. Wir sind hinreichendarm, um auch noch volksnah sein zu können.
Was Herr Röttgen sagte, hatte aber natürlich einenernsthaften Hintergrund. Er bezog sich auf die Vermö-gensbeteiligungen der SPD. Meine Kolleginnen undKollegen von der SPD, ich finde, Sie machen es sich indiesem Punkt zu leicht. Sie haben mir hier auch eine Spurzu aufgeregt auf die Ausführungen des Kollegen Röttgenreagiert.
Ich sage Ihnen auch, warum.
– Nein. Das ist ein Punkt, über den Sie in aller Ruhe nach-denken müssten. Sie haben schließlich verhindert, dassder Gesetzgeber hier entscheidende Konsequenzen zieht.Sie waren nicht bereit, hier mitzumachen.Sie müssen sich schon die Frage stellen lassen, obes nicht ein ernsthaftes Problem der Gewaltenteilungist, wenn diejenigen, die die Politik kontrollieren sollen,also die so genannte vierte Gewalt, die Presse und dieMedien,
ihrerseits unter der Kontrolle der Politik stehen, und sei esnur über eine Vermögensbeteiligung.
Ich sage Ihnen eines: Dies ist in Wahrheit das moderneProblem der Gewaltenteilung und Gewaltentrennung. DieDiskussion darüber mutet auch oft recht lächerlich an. Wirhatten zum Beispiel im Innenausschuss durch eine Geset-zeskorrektur das Problem zu lösen, dass Feuerwehrleutenicht Mitglieder von Gemeinderäten werden durften, weildies ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung sei. Da fragtman sich in der Tat, ob hier die Relationen noch stimmen.Die Verquickung von Politik und Medienbeteili-gungen ist das Problem, über das in diesem Zusammen-hang zu reden gewesen wäre. Dass Sie hier nicht zu einerechten Lösung bereit waren, führte zu einem wirklichenSchönheitsfehler dieses Gesetzes. Immerhin gibt es in Zu-kunft wenigstens mehr Transparenz.
Kollege Stadler, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Bitte.
Zum Ersten: Kol-lege Stadler, würden Sie mir zustimmen, dass angesichtsder Tatsache, dass Medien heute in erster Linie Wirt-schaftsunternehmen sind, die Diskussion darüber, welcheRolle Medien in einer Demokratie spielen, und über dieKontrollmöglichkeiten der Medien angesichts der Dis-kussion über innere Pressefreiheit, über die Freiheit derJournalisten und ihrer Unabhängigkeit von ihren Bröt-chengebern, für die Demokratie mindestens ebenso wich-tig, wenn nicht wichtiger ist als das, was Sie sagen?Zum Zweiten: Im Grundgesetz ist die Pressefreiheit alseine Ableitung der Meinungsäußerungsfreiheit formuliert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Max Stadler22980
Diese wiederum ist abhängig von der wirtschaftlichenMacht über die Medien. Wenn wir schon darüber reden,würden Sie mir dann darin zustimmen, dass man generelldarüber reden müsste, welche Rolle Medien als immergrößer werdende Wirtschaftsunternehmen in der Demo-kratie und der Gesellschaft spielen, und nicht nur schein-heilig darüber sprechen darf, wer an was beteiligt ist?
Herr Kollege Büttner, Sie ver-
suchen, hier von einem Problem, das bei der Neufassung
des Parteiengesetzes zu lösen gewesen wäre, abzulenken,
indem Sie andere, auch gewichtige Probleme hier in die
Diskussion einführen. Das ist dieser Fragestellung nicht an-
gemessen. Wir als Liberale gehen doch nicht mit Schaum
vor dem Mund an diese Problematik heran. Wir respektie-
ren es, dass die Sozialdemokratie eine bestimmte Historie
hat und früher, in der Kaiserzeit, auf Medienbeteiligungen
angewiesen war, weil sie sonst keine Chance gehabt hätte,
sich darzustellen. Dies liegt aber 100 Jahre zurück.
Jetzt entsteht jedoch ein modernes Problem der Ge-
waltenteilung, das wesentlich gewichtiger ist als viele
Formalismen, die wir unter dem Aspekt der Gewaltentei-
lung diskutieren. Dies müssen Sie erkennen.
Kollege Stadler, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Sehr gerne.
das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht
von vier, sondern von drei Gewalten spricht?
Geben Sie mir auch Recht, dass das hohe Gut der Pres-
sefreiheit keine vierte Gewalt ist, auch wenn es manchmal
von den Medien so bezeichnet wird, und dass die Abhän-
gigkeit der Politik von diesen Medien unabhängig davon,
ob es eine Besitzbeteiligung einer Partei gibt, mindestens
genauso problematisch ist, wenn etwa ein Großverleger
oder Großunternehmer wie Kirch ganze Medienland-
schaften in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt
und mit denen Politik betreibt?
Geben Sie mir auch darin Recht, dass, wenn es überhaupt
einer Einschränkung bedarf, insgesamt eine Neuregelung
bzw. überhaupt eine Regelung auf den Gebieten der Me-
dienbeteiligung und der Ausübung von Medienmacht in der
Bundesrepublik geschaffen werden müsste und dass das mit
dem Parteiengesetz überhaupt nichts zu tun hat?
Herr Kollege Ströbele,zunächst einmal bin ich äußerst erstaunt darüber, dass ge-rade Sie als Linker und 68er hier eine Diskussion über dieBegriffe erste, zweite, dritte und vierte Gewalt führen,
wonach es eine vierte Gewalt angeblich nicht gäbe, weilsie in dem klassischen Schema von Montesquieu nichtvorkommt.
Ich bin wirklich verblüfft darüber, dass Sie an einer solchkonservativen Betrachtungsweise des Demokratieproblemsfesthalten und nicht einen soziologischen Ansatz wählen,nämlich die Gesellschaftswirklichkeit mit einbeziehen.
Die Grünen haben sich ja in vielerlei Hinsicht geän-dert. Es heißt – auch aus unseren Kreisen – immer wieder,dass Ströbele immer derselbe geblieben ist. Ihre Zwi-schenfrage war jedoch ein Beweis dafür, dass auch Siesich ändern. Verblüffenderweise legen Sie jetzt allerdingseine wissenschaftliche Denkweise an den Tag, die ich nurals sehr konservativ bezeichnen kann.In der Sache selbst stimme ich Ihnen nicht zu. Im Rah-men der Diskussion über das Parteiengesetz muss darübergesprochen werden, wie die Parteien, die nach dem Grund-gesetz eine hervorgehobene Rolle bei der politischen Wil-lensbildung innehaben, diese ausfüllen sollen und was ih-nen dabei erlaubt ist und was nicht. Man kann etwa darüberdiskutieren, ob es zur Rolle der Parteien gehört, dass sieein Reisebüro betreiben, durch das nicht etwa nur ver-diente Parteifunktionäre nach Kuba verschickt werden,sondern durch das schlicht und einfach Geld verdient wird.Darüber kann man nachdenken.
Herr Kollege Ströbele, ich bin mit meiner Antwort abernoch nicht fertig.
Noch einmal: Wichtiger ist in der Tat, dass Sie nicht zu ei-ner ehrlichen Diskussion darüber, ob die historisch ge-rechtfertigte und sich entwickelt habende Vielfalt derMedienbeteiligungen der SPD heute noch in das Verfas-sungsgefüge passt, bereit gewesen sind. Dass Sie zuge-stimmt haben, in dem Bereich mehr Transparenz zu schaf-fen, zeigt immerhin, dass Ihnen bei dieser Angelegenheitnicht ganz wohl ist.
Dieser erste Schritt ist nach unserer Meinung aber nichtausreichend.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Hans Büttner
22981
Herr Kollege Stadler,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Friese?
Bitte sehr.
Herr Kollege Stadler, ich habe
Ihre Auffassung zur Kenntnis genommen. Kennen Sie die
Auffassung der Kommission der unabhängigen Sachver-
ständigen? Diese macht gerade zu diesem Thema fol-
gende Ausführungen:
Einschränkungen eines unternehmerischen Engage-
ments der Parteien im Pressewesen könnten nur mit
Rücksicht auf Art. 21 GG gerechtfertigt sein. Die
Aufgabe der Parteien ist es aber gerade, „auf die Ge-
staltung der öffentlichen Meinung Einfluss neh-
men“ . Es wäre also widersinnig,
Parteien ausgerechnet im Bereich des Pressewesens
eine Betätigung verwehren zu wollen.
Das ist die Position der Kommission. Können Sie dazu
Stellung nehmen?
Lieber Herr Kollege Friese,
Ihre Zwischenfrage gibt mir erstens Gelegenheit, jetzt
eine Mahnung zu beherzigen, die mir von meinen Partei-
freunden für diese Rede mit auf den Weg gegeben worden
war. Mir wurde nämlich gesagt, dass ich auf keinen Fall
vergessen dürfe, der unabhängigen Kommission des Bun-
despräsidenten für ihre verdienstvolle Vorarbeit zu dan-
ken, was ich hiermit tun möchte.
Zweitens hat der einleitende Satz, den Sie zitiert haben,
immerhin das Problembewusstsein der Kommission of-
fenbart. Es wurde in derselben Weise, wie ich es hier for-
muliert habe, als ein verfassungsrechtliches Problem an-
gesehen. Die Parteien sollen selbstverständlich an der
politischen Willensbildung mitwirken. Dazu haben sie
vielfach Gelegenheit, zum Beispiel bei den Debatten in
diesem Haus. Durch Ihre Zwischenfragen erhält man ja
erfreulicherweise Gelegenheit, hier manche Punkte aus-
führlicher zu erörtern, als man das sonst hätte tun können.
Das ist der eine Punkt.
Parteien sollen aber auf die politische Willensbildung
nicht mit Tarnkappen, sozusagen vermummt, Einfluss
nehmen. Zumindest in dem Punkt, dass das künftig nicht
mehr möglich sein soll, sind wir uns einig.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie haben
mich nun daran gehindert, meine Kernthese zu diesem
Gesetzentwurf vortragen zu können. Man überlegt sich ja
immer einen Satz, der vielleicht zitierfähig ist, sei es in der
wirklich unabhängigen Presse,
sei es in der Presse, an der Sie beteiligt sind.
Weil meine Redezeit allmählich zu Ende geht, komme
ich jetzt zu folgender Bewertung. Wir alle wissen – das
war nicht verwunderlich –, dass nach den Spendenskan-
dalen der CDU und jetzt auch der SPD in der Öffentlich-
keit, auch in der Fachöffentlichkeit, der Ruf nach einer
wirklich umwälzenden Neuordnung des Parteiengesetzes
laut geworden war. Gleich wird Frau Kollegin Kenzler
sprechen. Sie wird einige Reformvorschläge vortragen,
die, wie wir aus den Ausschussberatungen wissen, viel
weiter als das gehen, was wir für richtig gehalten haben.
Ich komme zu dem Ergebnis: Das, was wir gemeinsam
gemacht haben – dabei sind Streitpunkte offen geblieben –,
ist keine Revolution des Parteienrechts, aber eine beacht-
liche Reform. Das, was uns aufgegeben ist, nämlich für
mehr Transparenz zu sorgen, den Missbrauch von Spen-
den als Einflussmöglichkeit auf politisches Handeln so
gut es geht zu verhindern, ist durch die vielfältigen Maß-
nahmen, die ich aus Zeitgründen nicht mehr darstellen
kann, in diesem Gesetzentwurf verwirklicht worden.
Wir hatten unter Leitung von Klaus Kinkel eine interne
Arbeitsgruppe, die zu diesem Gesetzgebungsverfahren
27Vorschläge formuliert hat. 23 davon finden sich jetzt in
diesem Gesetzentwurf wieder. Man sieht also: Es ist nicht
etwa alles beim Alten geblieben, sondern es gibt ganz be-
achtliche Änderungen, aber wir sind bei dem Grundprin-
zip geblieben. Ich halte es auch für gut, dass man sich
ganz offen dazu bekennt: Es ist richtig, dass sich Parteien
natürlich durch Mitgliedsbeiträge finanzieren. Sie brau-
chen für ihre vielfältigen Aufgaben aber nach wie vor
staatliche Zuwendungen. Spenden sind ebenfalls legitim,
wenn die Regeln eingehalten werden. Die Regeln haben
wir verbessert. Das machen wir, damit auch das Ansehen
der Politik verbessert wird. Es liegt jetzt an uns, durch
eine sinnvolle und strikte Praktizierung des neuen Rechts
dafür zu sorgen, dass dieses Ziel erreicht wird.
Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Stadler, vielenDank für die freundliche Ansage, auch wenn ich nicht inallen Punkten mit Ihnen übereinstimme. Aber ich mussSie enttäuschen: Ich werde heute nicht die sozialistischeRevolution ausrufen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 200222982
Der interfraktionelle Gesetzentwurf zur Änderung desParteiengesetzes liegt nun nach zähem Ringen auf demTisch. Allenthalben herrscht trotz der heute aufgeregtenDebatte große parteipolitische Erleichterung, aber nichtbei der PDS. Meine Fraktion wird dem Gesetzentwurfnicht zustimmen. Wir werden ihn ablehnen, und zwar ausguten Gründen.Die Ablehnung bedeutet aber nicht, dass die PDS ge-gen eine längst überfällige Reform des Parteiengesetzesist. Es wäre Nonsens, das zu behaupten. Die PDS hatbereits im Frühjahr 2000, das heißt vor über zwei Jahren,einen eigenen Gesetzentwurf zur Reform des Parteien-gesetzes vorgelegt, in dem wir zum Teil viel konsequen-tere und auch weitgehendere Änderungen als im jetzigenEntwurf gefordert haben. Unsere zentralen Forderungenwurden nicht aufgenommen. Das ist zum einen ein gene-relles Verbot von Unternehmensspenden, zum anderendie Einführung einer Obergrenze für Spenden.Das Änderungsgesetz – es gehört zur politischen Ehr-lichkeit, das deutlich zu sagen – enthält durchaus gangbareund praktikable Vorschläge, zum Beispiel mehr Transpa-renz der Rechenschaftslegung, mehr Kontrollen bei denSpendeneinnahmen und auch die Einführung straf-rechtlicher Sanktionen, was wir besonders begrüßen;denn auch dazu haben wir Vorschläge unterbreitet. DerEntwurf enthält also eine Menge kleiner Schritte in dierichtige Richtung. Aber nötig wäre ein richtiger Sprunggewesen. Ein großer struktureller Schnitt, der an den Ur-sachen der beiden großen Spendenaffären von SPD undCDU und nicht erst bei den Spendenmanipulationen an-setzt, fehlt in diesem Gesetzentwurf.
Jetzt sind deutliche Einschnitte in das Parteienrecht un-umgänglich, die über „Knopfloch-Chirurgie“ hinausgehen.Der Gesetzentwurf wird jedenfalls die allenthalben herr-schende Politikverdrossenheit nicht mindern. Die Bekämp-fung von Korruption, Filz- und Vetternwirtschaft ist nichtnur Sache des Strafrechts, sie ist auch Sache des Parteien-rechts.Die Möglichkeiten zur Korruptionsbekämpfung sindim vorliegenden Entwurf bei weitem noch nicht ausge-schöpft, sondern lediglich vorsichtig gestreift worden. Icherläutere das kurz an einem Beispiel: Der Entwurf siehtdas Verbot von Spenden nur für die Unternehmen vor, diesich mit mehr als 25 Prozent in öffentlicher Hand befin-den. Damit wurde auf halbem Wege stehen geblieben.Notwendig wäre ein generelles Verbot von Spenden durchUnternehmen. Die Ursachen der beiden Spendenaffärensind eben nicht schwarze Kassen und Geheimkonten,auch nicht die Stückelung von Spenden oder die Schein-spender. Die Ursache sind vielmehr Unternehmensspen-den mit dem Geruch konkreter politischer Einflussnahmeoder des Danksagens für öffentliche Aufträge, weshalbdie Spenden dann auch verschleiert werden mussten. Sol-che Einflussspenden sind bereits jetzt verboten. Es hat sieaber trotzdem gegeben. Deshalb müssen Unternehmens-spenden grundsätzlich verboten werden; hier hilft leideralles nichts.
Der SPD-Spendenskandal hat beispielsweise gezeigt,dass in der Kölner Müllbranche ein ganzes Netzwerk auf-gebaut wurde, mit dem in der Schweiz gemeinsameSchmiergeldkassen mit Millionenbeträgen aufgebaut wur-den. Damit wurde bewusst und ganz gezielt versucht, Po-litiker und öffentliche Entscheidungsträger zu „beatmen“,wie es heißt. Natürlich sind wir keine Illusionisten undwissen, dass man illegale Geldflüsse mit unseren Vor-schlägen nicht völlig ausschließen kann. Aber man kannsie erheblich erschweren und deutliche öffentliche Signalein diese Richtung aussenden.Aufgrund der Zeit kann ich nicht auf alle unsere Vor-schläge eingehen. Einen muss ich hier aber nennen: Wirfordern, dass bei schweren strafrechtlich sanktioniertenVerstößen gegen das Parteiengesetz die Fähigkeit, öffent-liche Ämter zu bekleiden, sowie das passive Wahlrechtzeitlich befristet aberkannt werden. Die jetzt vorgeseheneweitere Anhebung der absoluten Obergrenze für die staat-liche Parteienfinanzierung – das hat heute noch keineRolle gespielt – ist dagegen zum jetzigen Zeitpunkt einfalsches Signal.Es geht uns nicht um sozialistische Illusionen oder umbilligen Populismus. Nein, wir sind schlicht und einfachfür eine konsequentere und radikalere Reform des Partei-engesetzes, die sich im Konfliktfall auch hart gegen unsselbst richtete.
Mit unseren Forderungen stehen wir nicht allein. In derAnhörung fanden wir Zuspruch von prominenter Seite;ich erinnere an die Professoren Mahrenholz, Schneiderund Naßmacher. Auch in der Politik gibt es eine Reihe vonFürsprechern für unsere Vorschläge. Ich denke hier nur anAltbundeskanzler Helmut Schmidt, der bereits vor zweiJahren das Verbot von Unternehmensspenden geforderthat, oder an Heiner Geißler, der sogar verlangte, „das ganzeUnwesen der Parteienfinanzierung durch Spenden zu ver-bieten“. Die hessischen Grünen haben noch eins daraufgesetzt und im Falle schwerer Verstöße gegen das Partei-engesetz die Streichung von Diäten gefordert. Die FDPhat im Juli 2001 gefordert, dass zusätzlich zur strafrecht-lichen Sanktionierung keine führenden Parteiämter mehrausgeübt werden dürften.Ich kann mich hier nur „Transparency“ anschließen.Diese Organisation äußerte gestern:Das Gesetz zieht nicht die notwendigen Konsequen-zen, die nach den Spendenskandalen der letzten Zeitzu erwarten gewesen sind.Genau so sieht es meine Fraktion. Daher müssen wir denGesetzentwurf ablehnen.
Ich erteile der Kolle-
gin Inge Wettig-Danielmeier, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Eingangs eine Bemerkung,die nicht zum Parteiengesetz gehört, mit der ich aber auf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Evelyn Kenzler22983
Herrn Röttgen eingehe: Sie haben gesagt, Herr Müntefe-ring habe bewusst gelogen oder sein Nichtwissen bewusstorganisiert.
Ich kann das in jedem Punkt widerlegen. Aber das werdenwir dem Untersuchungsausschuss vorbehalten.
– Das dauerte zu lange; dann könnte ich zum Parteienge-setz nicht mehr viel sagen. Außerdem kenne ich all IhreFragen nicht im Einzelnen. Ich bitte Sie daher, noch eineknappe Woche zu warten. Dann werden wir das aufklären.
Unter den heutigen Rednern bin ich wohl die Einzige,die dieses Thema hier schon einmal behandelt hat undschon 1993 die Zusammenarbeit der im Bundestag ver-tretenen Parteien mit organisiert hat. Diesmal war auchdie PDS von Anfang an an den Diskussionen beteiligt.Diese Art der Zusammenarbeit an einem für die Demo-kratie grundlegenden Gesetz ist in öffentlichen Kommen-taren bis hin zu Stellungnahmen der Wissenschaft immerwieder als Kungelei, als politischer Filz denunziert wor-den, manchmal sogar aus diesem Hause, nach dem Motto:Gleiche Brüder, gleiche Kappen.Ich glaube, dass diese Kritik am politischen Konsens,am politischen Kompromiss ein deutscher Grundirrtumist. Die deutsche Geschichte zeigt, wie schwierig es ist,Demokratie durchzusetzen und zu erhalten. Sie zeigtauch, wie wichtig es ist, dass die demokratischen Kräftesich über die zentralen Fragen des demokratischen Sys-tems verständigen.
Die Rede von Herrn Röttgen hat gezeigt, dass zumin-dest er sich mit dieser Konsensfindung und diesem Kom-promiss sehr schwer tut.
Wer ein Gesetz nur als vorläufigen Kompromiss, als ab-geleiteten Schwur mittragen zu können meint, der gefähr-det diesen Kompromiss von Beginn an. Ich muss geste-hen: Wenn ich nicht wüsste, dass eine große Zahl vonMitgliedern der CDU/CSU-Fraktion das nicht ganz so se-hen, wie es hier vorgetragen worden ist, dann würde ichsagen: Das Gesetz muss zurück in die Ausschüsse. Das istnicht der Kompromiss, über den wir wirklich reden kön-nen.Sie wissen, dass zu den für die Demokratie konstituti-ven Gesetzen das Parteiengesetz und die Wahlgesetzegehören. In diesem Zusammenhang sollten wir immerversuchen, große Parteien nicht in die Minderheit zudrängen. Die Großen sollten nicht versuchen, die Kleinenzu umgehen oder gar zu erledigen, wie wir das früherschon erlebt haben,
wie es aber glücklicherweise nie gelungen ist. Ich denkean das Grabenwahlrecht und das Mehrheitswahlrecht. Siesehen, die Demokratie setzt sich auch gegenüber denKleinen sehr positiv durch.Deshalb plädierte ich 1992 sehr nachdrücklich dafür,die Grünen an der Vorbereitung der Novelle zu beteiligenund ihre Vorstellungen und Anregungen aufzunehmen. Eshat diesmal mehr Schwierigkeiten gegeben, alle Fraktio-nen dieses Hauses in die Arbeit einzubeziehen. Ich be-grüße, dass sich schließlich alle an den Tisch gesetzt ha-ben. Der Streit um die richtige Lösung ist in diesen Fragenso notwendig wie das Zusammenfinden in gemeinsamenPositionen.Nach den Eruptionen des Spendenskandals hatten wirdieses Mal allerdings auch Vorschläge der Parteienkom-mission des Bundespräsidenten auf dem Tisch, die jeden-falls praxisnäher waren als die 1993 unterbreiteten. Auchwenn wir sie nicht eins zu eins umzusetzen hatten und um-setzen konnten, sind wir doch dem Geist ihrer Empfehlun-gen und in sehr großem Umfang den Einzelempfehlungengefolgt. Noch nie hat eine Kommission einen so großenEinfluss auf die Gesetzgebung genommen wie dieses Mal.Ich glaube, das kann man ohne Abstriche sagen.Verlangte schon das alte Gesetz mehr Transparenz alsalle anderen Parteigesetze der Welt, so ist infolge der Dis-kussion seit 1999 und als Folge der Empfehlungen derKommission und fast aller Parteien die Transparenz, dieForderung nach Offenlegung der Finanzströme und derFinanzquellen, so umfassend verwirklicht wie nie zuvor.Wir begrüßen, dass Union und FDP trotz der hier vor-getragenen Bedenken auf Forderungen verzichtet haben,die eine kalte Enteignung insbesondere der SPD bedeutethätten, und wir uns stattdessen in § 24Abs. 7 auf eine weit-gehende Offenlegung der Vermögen verständigt haben.Mit dieser Gesetzgebung wird einvernehmlich erreichtwerden, dass auch die mittelbaren Beteiligungen der Un-ternehmen, an denen die Parteien unmittelbar beteiligt sind,aufzuführen sind, und dies zur Klarheit so, dass die Anga-ben aus dem Jahresabschluss des entsprechenden Unter-nehmens übernommen werden, an dem die Partei unmit-telbar beteiligt ist. Damit wird das, was die SPD seit zweiJahren freiwillig tut, zur rechtlichen Pflicht; Herr Friesehat schon darauf hingewiesen.Hinzugekommen ist die Regelung, dass auch dieHauptprodukte von Medienunternehmen benannt werdensollen. Das betrifft die SPD als Partei, die im Übrigen dasvergleichsweise geringste Spendenaufkommen hat. Nurdie SPD liegt hinsichtlich des Spendenaufkommens bei10 Prozent; alle anderen Parteien liegen deutlich höher.Ich werde Herrn Röttgen eine Aufstellung zukommen las-sen. Vielleicht ist das besser, als sich hier mit ihm aus-einander zu setzen. Wenn er die Zahlen hat, wird er sehen,dass das Spendenaufkommen der CDU/CSU unendlichhöher ist
als unsere Zusatzeinnahmen aus den Vermögensbeteili-gungen mit den Spendeneinnahmen zusammengenom-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Inge Wettig-Danielmeier22984
men, dass also die Balance und die Chancengleichheit er-halten worden sind.Ich möchte zu den Medienbeteiligungen festhalten– das habe ich auch schon mehrfach ausgeführt –: Ich habenichts gegen allgemeine Regelungen für alle Medien-unternehmen. Wir werden uns dem nicht nur unterwerfen,sondern sehr konstruktiv daran mitarbeiten. Aber eine Ent-eignung ist auch nach dem Grundgesetz nicht möglich,auch nicht bei Parteien. Sie sind ein Grundrechtssubjektwie alle anderen auch.
Wir haben auch in den Fragen der Grundorganisationder Parteien zusammengefunden. Es ist uns gelungen, densehr unterschiedlichen Organisationsstrukturen gerechtzu werden. Dabei haben bei allen Regelungen der Schutzund die Ermöglichung des politischen Ehrenamts einewichtige Rolle gespielt. Wir wollten weder durch zu kom-plizierte Rechnungslegungsvorschriften noch durch ex-zessive Bestrafung von Fehlern Mitglieder von der Über-nahme eines Ehrenamtes abhalten. Das galt über alleParteien hinweg.Dennoch erschienen uns allen nach den Skandalen, diewir 1993 noch für unmöglich gehalten hätten, Strafandro-hungen bei Verstößen gegen das Transparenzgebot bzw.gegen die Regeln der Rechenschaftslegung zumindest beiabsichtlicher Regelverletzung als unerlässlich. Kern desneuen Parteiengesetzes ist das Strafrecht allerdings nicht,auch wenn das hier einige – ebenso eine Tageszeitung in ih-rer gestrigen Ausgabe – meinen. Kernpunkte bleiben dieArbeitsfähigkeit der Parteien nach innen und der Schutzder ungestörten Arbeit sowie die Transparenz nach außen.Diese beiden Ziele können durchaus in Widerspruch gera-ten. Wer Parteien ausforscht, macht ihre Arbeit unmög-lich. Wer ihre Arbeitsweise, ihre innerparteilichen Struktu-ren, die Einflüsse, unter denen sie stehen, und ihre Finanzennicht offen legt, macht Demokratie unmöglich und er-schwert das Urteil des Bürgers und der Bürgerin. Diese Ba-lance haben wir seit Jahrzehnten nicht erreicht. Ich hoffe,dass wir ihr mit diesem Gesetz deutlich näher kommen.Als wir 1993 die Parteigesetznovelle verabschiedeten,behaupteten Kritiker, sie sei verfassungswidrig und würdekein Jahr überdauern. Selbst der Bundespräsident hatteProbleme und hat lange gebraucht, um sie zu unterzeich-nen. Allen Vorhersagen zum Trotz hat sich dieses Gesetzin den zentralen Punkten erstaunlich gut bewährt und giltim internationalen Vergleich als beispielgebend. Daraufhaben wir jetzt aufgebaut.Ich meine, die Anregungen der PDS, die wir diskutierthaben, sind an einigen Stellen nicht der Praxis förderlich.Ich wünsche dem neuen Gesetz, dass es nicht nur beispiel-gebend ist, sondern auch in der Praxis die Verbesserungenbringt, die wir alle für notwendig halten und ohne die dieAktionsfähigkeit der Parteien nicht gegeben sein kann.
Ich erteile dem Kolle-
gen Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine verehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnenund Kollegen! Ich meine, wir sollten heute mit Ihnen,Frau Wettig-Danielmeier, schonend umgehen und nichtauch noch aus unseren Reihen Angriffe auf Sie starten,nachdem Sie schon in den eigenen Reihen massiv unterBeschuss sind.
Ich finde es nicht gerecht, wenn ausgerechnet Sie in demKonflikt mit Herrn Müntefering – darauf komme ichnachher noch zu sprechen – das Ersatzopfer sein sollenund wenn schon jetzt aus Ihren Reihen genüsslich die Na-men der Nachfolger im Amt des SPD-Schatzmeisters– die Rede ist von Herrn Diller und von Herrn Poß – kol-portiert werden. Das ist nicht fair.Wir haben gut zusammengearbeitet und einen Kom-promiss gefunden, mit dem sich der Reformstau auflösenlässt und sich die Probleme mit dem derzeit geltendenParteiengesetz lösen lassen, obwohl der erste rot-grüneGesetzentwurf bewusst auf die Verschleierung der Unter-nehmensbeteiligungen der SPD abzielte und die CDU/CSU daran hindern sollte, mehr Spenden einzusammeln.
Herr Schmidt, erst nach dem Bestechungs- und Spen-denskandal der SPD in Köln und in anderen nordrhein-westfälischen Städten hat sich Ihre Lage über Nacht dra-matisch verändert. Sonnte sich die SPD anfangs noch inder Rolle des Richters über fremdes Fehlverhalten, wurdeihr die Robe des Richters entrissen und sie musste ertra-gen, dass ihr das hehrende Büßergewand des Angeklagtenübergestülpt wurde.
Erst in dieser Verfassung war die SPD zu einem Kompro-miss mit uns bereit. Die SPD hat erstmals den Verfas-sungsauftrag ernst genommen, der wie folgt lautet – ichzitiere Art. 21 Abs. 1 Satz 4 des Grundgesetzes, HerrStröbele –: Die Parteien „müssen über die Herkunft undVerwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffent-lich Rechenschaft geben“. Das war bisher nicht der Fall.Ich möchte nur eine Kostprobe der bisherigen Ver-schleierungsversuche geben: Während der Wert der Unter-nehmensbeteiligungen im Rechenschaftsbericht der SPDdes Jahres 2000 noch auf knapp 100 Millionen DM he-runtergerechnet wurde, schätzte der „Spiegel“ diesen Wertauf über 500 Millionen DM. Der „Focus“ ging sogar von1 Milliarde DM aus. Im Untersuchungsausschuss sagteFrau Wettig-Danielmeier vage, dass der Wert der Unterneh-mensbeteiligungen der SPD bei ungefähr 750 Millio-nen DM liege. So kann man mit Millionen auch umgehen.
Deswegen bin ich froh darüber, dass ab heute Schluss istmit der Heuchelei vom jahrzehntelang gepflegten Imageeiner bettelarmen SPD.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Inge Wettig-Danielmeier22985
Ständig wurde uns das Bild vorgegaukelt, dass die SPDnur sparsamste Wahlkämpfe finanzieren könne, weil sie janur über die wenigen Groschen verfüge,
die sich ihre Mitglieder, die armen Arbeiter und Rentner,vom Munde absparten. Dieses Image ist nun zerstört.
Herr Kollege Dr. Uhl,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wettig-
Danielmeier?
Eigentlich gerne.Da mir aber meine Redezeit gekürzt worden ist, möchteich im Kontext fortfahren.Wir haben den ersten Schritt in Richtung Transparenzgetan, obwohl die SPD Unternehmensbeteiligungen vonunter 20 Prozent nach wie vor nicht angeben muss.Warum gibt es eigentlich einen so krassen Unterschiedzwischen der Vermögenssituation der SPD und der der an-deren Parteien? Das ist ganz einfach: Die SPD ist deswe-gen so reich, weil sie sowohl nach dem Zweiten Weltkriegals auch nach der Wiedervereinigung ihr altes Vermögenzurückbekommen hat, während die Union und andereParteien nach dem Zweiten Weltkrieg vermögenslos neugegründet wurden.
– So ist es. Das müssen Sie doch zugeben. – Zu dieser er-erbten wirtschaftlichen Macht der SPD kommt noch diepolitische Medienmacht hinzu, die – das wurde bereitsvom Kollegen Stadler sehr treffend dargestellt – verfas-sungsrechtlich sehr problematisch ist. Medien berichtenunter anderem über das Verhalten der Parteien. Deswegendürfen Parteien nicht Eigentümer von Medien sein.Die Kontrollierten dürfen keinen Einfluss auf die Kon-trolleure haben.
Ich dachte, dass wir diesen schlichten Rechtsgedankenseit der Französischen Revolution verinnerlicht hätten.
Eigentlich ist das Ganze ein Verbraucherschutzthema.Ich vermisse es, dass sich Frau Künast in die Diskussioneinschaltet. Sie müsste dafür sorgen, dass ebenfalls im Be-reich der Medienberichterstattung der Satz gilt: Was drinist, muss auch außen drauf stehen.
Wenn innen SPD-Parteipolitik gemacht wird, muss außen„SPD“ stehen. Das ist der Punkt.
Wir werden nicht müde, zusammen mit der FDP, mitHerrn Stadler und, so hoffe ich, auch mit Teilen der Grü-nen für das Presserecht ein Vermummungsverbot einzu-fordern.
Herr Stadler hat darauf hingewiesen: Es darf keine Tarn-kappenpolitik und keine Vermummung von Parteien imPressewesen geben.
Während die Haupteinnahmen der Sozialdemokratietraditionell aus Grundvermögen und Firmenbesitzstammen, haben die bürgerlichen Parteien diese Ein-nahmen typischerweise nicht. Sie leben mehr von denSpenden.
Das heißt, dass jemand, der so reich wie die SPD ist, nichtsammeln gehen muss. Wenn Herr Stadler jetzt das Bild„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Ärmste imganzen Land?“ zeichnet, dann muss ich sagen, dass zwi-schen der sozialdemokratischen Partei und den anderenParteien in Deutschland ein essenzieller Unterschied be-steht. Von der PDS will ich hier aus verständlichen Grün-den nicht weiter reden.
Ihre Probleme und Ihr Vermögen werden im „Spiegel“und anderen Medien sehr dezidiert abgehandelt.
Als Folge verschiedener Spendenskandale ist das Spen-denaufkommen bei allen Parteien dramatisch zurückge-gangen. Das ist kein Wunder; denn welcher Spendermöchte schon das Risiko eingehen, auf dem Medienmarkt-platz an den Pranger gestellt zu werden. Deswegen muss– diese Worte richte ich an Sie von der SPD – mit der ge-nerellen Diskriminierung von Spendern Schluss gemachtwerden.
– Herr Ströbele, zu Ihnen komme ich gleich.Dieses Gesetz, dem Sie zustimmen werden, bekenntsich zum Spenden. Das ist richtig so, obwohl wir alle wis-sen, dass es vonseiten der Wirtschaft immer wieder Ver-suche gab und auch in Zukunft geben wird, auf die politi-sche Macht über Geld Einfluss auszuüben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Hans-Peter Uhl22986
Das ist so banal, dass man es kaum auszusprechen wagt.Deswegen müssen Spenden begrenzt werden und trans-parent sein.
Herr Ströbele, Politik darf niemals käuflich sein. Poli-tik war unter der Regierung von FDP und Union niemalskäuflich!
Es ist eine Ungeheuerlichkeit, dass Sie nicht müde wer-den, diese Behauptung immer wieder als notorischer Ver-leumder aufzustellen. Wenn der Landesverband der Ber-liner Grünen Sie nicht mehr auf einen aussichtsreichenListenplatz gesetzt hat, dann kann ich nur auf den BerlinerLeitsatz hinweisen: Und das ist gut so!
Als der Generalsekretär Müntefering – jetzt komme ichauf Sie, Herr Schmidt, zu sprechen – von dem Beste-chungs- und Spendenskandal der Kölner SPD erfuhr, riefer mit gespielter Naivität aus: Ich dachte, Sozialdemokra-ten machen so etwas nicht.
Der Sozialdemokrat – der höherwertige Mensch! Dashätte Herrn Müntefering so gepasst.
Wo es Menschen gibt, da menschelt es. Fehlverhalten gibtes auch dort, wo Menschen sich in sozialdemokratischenParteien organisiert haben. Wie alt musste Herr Müntefe-ring werden, um diese Binsenweisheit zu erkennen? Nein,auch dort, wo Sozialdemokraten regieren, gibt es kriminel-les Verhalten. Es ist nicht richtig, dass der ScheinaufklärerMüntefering im Untersuchungsausschuss behauptete, erkenne die Liste der Rechtsbrecher nicht, obwohl sie eineWoche lang auf seinem Tisch lag, und der kenne zudemauch niemanden, der diese Liste kenne.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Trotz all dieserScheinaufklärungsbemühungen von Herrn Münteferingwerden wir und wird die Öffentlichkeit nicht darauf he-reinfallen. Das wird ihm noch schwer zu schaffen machen.Ich halte es für ungerecht, dass, weil Herr Münteferingals Knappe von Schröder für den Wahlkampf noch ge-braucht wird, jetzt Sie, Frau Wettig-Danielmeier, als Er-satzopfer über die Klinge springen sollen. Das ist nichtfair.
Trotz alldem können wir diesem Gesetzentwurf zu-stimmen.
Bei allem Kompromiss bringt die Novellierung mehrTransparenz in die Parteienfinanzierung. Erstmals mussauch das wahre Vermögen einer Partei, also auch daswahre Vermögen der SPD, offen gelegt werden.
Ich erteile dem Kolle-
gen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es fällt außerordentlichschwer – das will ich sehr deutlich sagen –, hier noch ei-nen auf Gemeinsamkeit zu machen, die wir über fünf of-fizielle und mindestens ein halbes Dutzend weiterer in-offizieller Verhandlungsrunden miteinander zustandegebracht haben. Ich bin nicht nur tief enttäuscht, sonderngeradezu sauer darüber, wie sich Herr Röttgen und HerrUhl dem Vermummungsverbot entziehen. Sie kommenals Biedermänner und entpuppen sich als Brandstifter.
Unglaublich, was sie hier abgeliefert haben!
Nach den beiden Reden, die offensichtlich der inner-parteilichen Karriere dienen sollen – anders machen sieeigentlich überhaupt keinen Sinn; nur so wird man inIhren Reihen in den nächsten Monaten und Jahren offen-sichtlich etwas –
und von Ihrem Fraktionsvorsitzenden so geduldig an-gehört worden sind, ist nach meiner Einschätzung von Ih-rer Seite eigentlich nur noch eine Konsequenz zu ziehen:Sie sollten sich wirklich überlegen, ob Sie diesem Gesetz-entwurf zustimmen. Ich fordere Sie auf, das zu überprüfen.
Ich finde, dass hier vonseiten der CDU/CSU ein untaug-licher, aber in den letzten Wochen und Monaten leider im-mer wieder festzustellender Versuch unternommen wird,in Angelegenheiten, die alle Parteien treffen, einseitige
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Hans-Peter Uhl22987
Schuldzuweisungen vorzunehmen. Sie haben Ihren Skan-dal. Wir haben unseren Skandal. Daraus ist in dem neu ge-stalteten Parteienrecht die Lehre gezogen worden. Neh-men Sie das doch bitte wenigstens als Grundlage zurKenntnis und versuchen Sie nicht, daraus einseitig Kapi-tal zu schlagen
und damit wiederum einen Beitrag dazu zu leisten, dassdie Parteien insgesamt in diesem Land Schaden nehmen!Durch die Art, wie Sie den Gesetzentwurf behandeln, istdas der Fall.
Ich wende mich jetzt gerade an die Vertreter der FDP,Herr Stadler, und der CDU/CSU. Wir haben uns bei derFrage, wie wir mit der Strafbarkeit bei Verstößen gegendas Parteiengesetz umgehen, die wir neu in das Gesetzhineinnehmen, unglaublich schwer getan, und zwar des-wegen, weil wir nicht das Kind mit dem Bade ausschüt-ten wollten.
Es gibt doch ein unglaublich hohes bürgerschaftlichesEngagement in der Kommunalpolitik.
Da sitzen Tausende und Abertausende von Menschen, diesich mit persönlichem Engagement, zum Teil unter Auf-wendung eigener Finanzmittel, dafür einsetzen, dass dieKommunalpolitik und unser Gemeinwesen funktionieren.Und Sie tun hier so, als wenn über den Kölner Skandal hi-naus alle in der politischen Klasse auf dieser Ebene inDeutschland mit getroffen werden müssten! Nein, das wareine Ausnahme, ebenso wie übrigens auch – das gesteheich Ihnen zu – in Bonn und in Ratingen. Werfen Sie dasbitte nicht als einseitige Verfehlung der SPD in das Feld,um so alle kommunalpolitischen Aktivitäten, gerade beider SPD, zu diskreditieren! Im Interesse der Kommunal-politik lasse ich das nicht zu.
Ich finde es außerordentlich selbstgerecht – ich willmich durchaus ein bisschen zurücknehmen, weil ichnicht in die gleiche Kerbe hauen möchte –, dass Sie, HerrUhl und Herr Röttgen, in den Mittelpunkt Ihrer beidenReden wiederum die Unternehmens- und Medienbetei-ligungen der SPD gestellt haben. Erstens wissen Sie ganzgenau, dass das verfassungsgemäß ist. Zweitens wissenSie, dass wir freiwillig schon seit Jahren mehr offen le-gen und transparent machen, als es das Gesetz bisher ge-fordert hat.
Drittens wissen Sie ganz genau – Herr Merz, Sie auch –,dass wir in unserem Gesetzentwurf von Anfang an einestarke Erweiterung der Transparenz und Offenlegung vor-gesehen haben. Tun Sie nicht so, als wenn Sie uns ersttreiben mussten, um zu diesen Regelungen zu kommen!Das haben wir freiwillig gemacht und das nehmen wirauch ganz bewusst für uns selbst in Anspruch.
Meine Damen und Herren, damit auch das klar ist: Wirwollen – obwohl es uns jetzt nach diesen Reden sehrschwer fällt – die Gemeinsamkeit; denn natürlich kannman das eine oder andere, was sich in den vergangenenJahrzehnten seit Bestehen des Parteiengesetzes ereignethat, ganz unterschiedlich sehen. Müsste nicht tatsächlich,wie von vielen Seiten in der Öffentlichkeit immer wiederins Gespräch gebracht, intensiver – Herr Ströbele hat es,wie ich finde, zu Recht angedeutet – über die Frage dis-kutiert werden, Privatspenden, Unternehmensspendenund das Spendenwesen insgesamt ein wenig mehr mit-hilfe von Obergrenzen oder ähnlichen Regelungen zu ord-nen? Wenn es aber so gekommen wäre, wären dieCDU/CSU und die FDP – auch das will ich hinzufügen –auf einen Schlag pleite gewesen.
Auch an dieser Stelle haben wir also Gemeinsamkeiten imAuge gehabt.Tun Sie also bitte nicht so, als ob irgendwelche Teil-skandale oder Skandale, die nur Sie sehen, im Mittelpunktder Entwicklung dieses Gesetzeswerkes gestanden hätten.
Es gab ein Geben und Nehmen auf allen Seiten. Ich warneSie davor, in den nächsten Wochen und Monaten und kurzvor der nächsten Bundestagswahl die Vorkommnisse zueinem parteipolitischen Getöse auswachsen zu lassen.Das können wir uns in diesem Lande um der Demokratieund des bürgerschaftlichen Engagements in den Parteienwillen nicht leisten. Ich fordere Sie auf, dieses zu lassen.
Zum Schluss, meine Damen und Herren, Herr Präsi-dent, will ich noch einmal ein Dankeschön an die Mit-glieder der unabhängigen Kommission, aber auch an Sie,Herr Bundestagspräsident, sagen. Ich will ausdrücklichdarauf hinweisen, dass Sie als Mittel verwaltende undkontrollierende Instanz Ihre Aufgabe in den vergangenenJahren exzellent wahrgenommen haben. Diese Aufgabewerden Sie auch auf der Basis des neuen Gesetzes wahr-nehmen können; wir setzen auch darauf.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/DieGrünen und der FDP eingebrachten Entwurf eines Achten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Wilhelm Schmidt
22988
Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes auf Druck-sache 14/8778.Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 14/8824, den Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Kor-rektur zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hau-ses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen derPDS-Fraktion angenommen.Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag derFraktion der PDS auf Drucksache 14/8826 ab. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit denStimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abge-lehnt.Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Druck-sache 14/8824 zu dem von den Fraktionen der SPD unddes Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent-wurf zur Änderung des Parteiengesetzes. Der Innenaus-schuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung,den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7778 für erle-digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Druck-sache 14/8824 zu dem von der Fraktion der CDU/CSUeingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Parteien-gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung, den Gesetzentwurf auf Druck-sache 14/7441 für erledigt zu erklären. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Enthaltungen? – Werstimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-mig angenommen.Abstimmung über den von der Fraktion der PDS ein-gebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2719 zurÄnderung des Gesetzes über die politischen Parteien. DerInnenausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 14/8824, den Gesetzentwurfabzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenBernd Neumann , Dr. Norbert Lammert,Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUZukunft des deutschen Auslandsrundfunks– Drucksachen 14/6954, 14/8208 –Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDPvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Bernd Neumann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Zu Beginn der Debatteüber die Deutsche Welle ein paar Fakten, die diese Legis-laturperiode betreffen:Im Koalitionsvertrag von Rot-Grün von 1998 heißt es:„Das Ziel bleibt ... eine Reform der medialen Außenre-präsentanz.“1998 kündigt Staatsminister Naumann unmittelbarnach seinem Amtsantritt eine Reform der DeutschenWelle für die nächsten Wochen an; eine Verbesserung seidringend nötig.In den Jahren 1999 und 2000 herrscht dazu seitens derBundesregierung Funkstille.Im September 2000 bringt das BKM ein so genanntesHanten-Papier zur Neugestaltung des deutschen Aus-landsrundfunks in die Diskussion.In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion in Verbindung mit diesem Papier heißt es im No-vember 2000:Die Bundesregierung beabsichtigt entsprechend derKoalitionsvereinbarung, in dieser Legislaturperiodedie Außendarstellung Deutschlands in den Medienzu reformieren.Dieses Hanten-Papier des BKM stieß allerdings all-seits auf massiven Protest, weil es mit seinen Zielsetzun-gen eindeutig das Gebot der Staatsferne verletzte undzum Teil falsche und widersprüchliche Aussagen enthielt.Deshalb verschwand dieses Papier noch schneller, als esvorher verbreitet worden war, wahrscheinlich im Papier-korb.Wir sind damit im Jahr 2001. Da herrschte zunächstwiederum Funkstille.Im November 2001 schließlich kommt Herr Nida-Rümelin als neuer Staatsminister ins Amt und erklärt, dassdie Reform der medialen Außenrepräsentanz erst in dernächsten Legislaturperiode erfolgen werde.Die groß angekündigte Reform der medialen Außen-darstellung Deutschlands wird also auf die Zeit nach derWahl vertragt. Nun kann man sagen: Gott sei Dank, denndann werden Sie von Rot-Grün dafür wahrscheinlichnicht mehr mehrheitlich die Verantwortung haben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Präsident Wolfgang Thierse22989
Aber es ist festzustellen, dass es innerhalb der Bundesres-sorts kaum einen Bereich gibt, in dem Versprechen undWirklichkeit so auseinander klaffen wie in Ihrer Medienpo-litik. Obwohl im Hinblick auf gravierende Veränderungen inDeutschland und in der Welt eine Reform und Verbesserungder medialen Außenrepräsentanz dringlich geboten wäre,hat die rot-grüne Bundesregierung trotz fester Verspre-chungen konzeptionell nichts zustande gebracht. Wennman bedenkt, dass die Deutsche Welle etwa ein Drittel desgesamten Etats des BKM ausmacht, wird die Dimensiondes Versagens noch deutlicher.Falsch wäre allerdings, zu behaupten, in diesem Be-reich sei gar nichts passiert. Im Gegenteil, beim wich-tigsten Instrument medialer Außendarstellung, bei derDeutschen Welle also, hat die rot-grüne Koalition ohnejedwedes Konzept einen finanziellen Kahlschlag vorge-nommen: Kürzung der Mittel von für 1999 geplanten635 Millionen DM auf jetzt 564 Millionen DM; weitereKürzungen um 20 Millionen DM bis zum Jahr 2004 sol-len folgen. 400 Mitarbeiter der Deutschen Welle verlierendadurch ihre Arbeitsplätze, und dies in einer Zeit, in derder Erklärungs- und Aufklärungsbedarf in Bezug aufDeutschland mit seiner zunehmenden Verantwortung inder Welt dringlicher und größer ist als jemals zuvor. Dasist medienpolitisch wie außenpolitisch unverantwortlich.
In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion, die wir heute debattieren, versucht die Bundesre-gierung vom eigenen Versagen bei der Reform desAuslandsrundfunks abzulenken, indem sie auf den inzwi-schen im Rahmen von Pay-TV installierten gemeinsamenAuslandskanal von ARD, ZDF und Deutscher Welle, das sogenannte German TV, als wichtigen Reformschritt hin-weist.Wer die Hintergründe dieses Vorgangs kennt, musssich schon wundern. Die Idee, ein zusätzliches Pay-TV-Programm durch die Deutsche Welle anzubieten – aller-dings überall nur als Pay-TV–, hatte der frühere Intendantder Deutschen Welle, Dieter Weirich. Er verfolgte sie ziel-strebig. Staatsminister Naumann dagegen hatte währendseiner Amtszeit dieses mehrfach öffentlich kategorischmit der Begründung abgelehnt, man dürfe dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht auf diese Weise den Weg insPay-TV ermöglichen.In Wahrheit hatten Sie, meine Damen und Herren vonden Regierungsfraktionen, bei der Forderung nach einerReform des Auslandsrundfunks natürlich primär nie anein Pay-TV-Informations- und Unterhaltungsprogrammgedacht, sondern natürlich an die originäre DeutscheWelle mit ihren Hörfunkprogrammen in 30 Sprachen so-wie an das 24-stündige Fernsehprogramm. Ich füge hinzu:Wir im Übrigen auch. Das ist richtig; denn der originäreAuftrag der Deutschen Welle im Hinblick auf alle anzu-sprechenden Zielgruppen – weltweit – wird nach wie vordurch diese Programme erfüllt. Deswegen dürfen dieseProgramme finanziell durch das neue Experiment mitPay-TV in den USA nicht gefährdet werden.Leider müssen wir nach der Antwort auf unsere GroßeAnfrage davon ausgehen. Warum? Zum einen ist diefinanzielle Kalkulation bei dem Projekt gewagt, ja,zu gewagt. Es sollen in den nächsten sechs Jahren70 000 Abonnenten in den USA gewonnen werden. Diesemüssen zum Empfangen des Programms circa 400 Dollarfür eine Antenne und dann monatlich 15 Dollar bezahlen.Das ist eine hohe Hürde. Vergleichbare Auslandssender,die seit vielen Jahren entsprechende Pay-TV-Angebotehaben, liegen deutlich darunter.Dann soll German TV nach dem Willen der Bundes-regierung über die USA hinaus weltweit im Wesentlichenim Free-TV-Programm angeboten werden. Dafür fordertdie Deutsche Welle mit Recht zusätzlich 15,4 Milli-onen DM aus dem Bundeshaushalt, um die Anlaufkostenzu finanzieren. Die Bundesregierung lehnt dieses mit demHinweise ab, das sei gegebenenfalls aus eigenen Mittelnder Deutschen Welle zu bezahlen. Woher denn? Im Übri-gen halten Fachleute bei weltweiter Ausstrahlung des Pro-gramms im Free-TV die anfallenden Kosten für deutlichhöher; denn man braucht zusätzliche, teurere Satelliten.Die weltweiten Rechte sind im Free-TV um ein Vielfa-ches höher als im Pay-TV.Zu diesen Fragen erwarten wir eine klare Antwort, HerrStaatsminister. Wie wollen Sie das finanzieren? Oder ha-ben Sie vielleicht vor, das bisherige Fernsehprogramm derDeutschen Welle durch das deutschsprachige Gemein-schaftsprogramm von German TV zu ersetzen? Wenn dasso wäre: Mit welchem Fernsehprogramm sollen dann dienicht deutsch sprechenden Multiplikatoren in der Welt,die als Zielgruppe für Deutschland am wichtigsten sind,erreicht werden? Angesichts Ihrer Antwort unter 4.8.könnte man meinen, Sie wollten diese Gruppe nur mit ei-nem Onlineangebot bedienen. Das wäre inakzeptabel. EinOnlineangebot ist zwar wichtig. Aber es kann zu einemFernsehprogramm immer nur ergänzend sein, zumal aufabsehbare Zeit nur ein Bruchteil der Menschen in der Welterreicht werden kann.
Alle diese Fragen werden in der Antwort der Bundes-regierung offen gelassen. Ich sage Ihnen: Sie haben bisheute kein finanziell und inhaltlich seriöses Konzept. Sokann man keine Medienpolitik machen.
Im Übrigen darf bei allen notwendigen Diskussionenüber das Fernsehen der Hörfunk nicht vergessen werden.Er ist das eigentliche Flaggschiff der Deutschen Welle.Mit einem Programmangebot in 29 Sprachen erreicht derHörfunk wirklich flächendeckend fast alle Regionen inder Welt. Die immens wichtigen Sprachkurse sind nurüber Hörfunk möglich. Hier steht die Digitalisierung vorder Tür. Sie wird viel Geld kosten, aber die Qualität desHörfunkprogramms entscheidend verbessern. Sie ist des-halb unvermeidbar.Durch den finanziellen Kahlschlag, den Sie bei derDeutschen Welle vorgenommen haben, ist auch für denHörfunk der Deutschen Welle das Ende der Fahnenstangepraktisch erreicht. Finanzielle Spielräume für zusätzliche,möglicherweise aus politischen Gründen notwendige Pro-grammangebote in Krisenregionen der Welt sind nichtmehr vorhanden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Bernd Neumann
22990
Meine Damen und Herren, zu der sowohl von derCDU/CSU als auch vom neuen Intendanten gestelltenForderung, für die Deutsche Welle eine verlässliche,mehrjährige finanzielle Planungssicherheit zu schaffenund damit Staatsferne zu sichern, äußern Sie sich nebulös.Sie wollen dies prüfen, obwohl dieses Thema schon seitzwei oder drei Jahren auf der Agenda steht.
Herr Staatsminister Nida-Rümelin, welche Meinunghaben Sie selbst als Medienminister dazu? Können Siesich wie wir vorstellen, eine Art KEF, also eine politischunabhängige Kommission, zu installieren, die dem Parla-ment bei der Ermittlung des Finanzbedarfs einen Vor-schlag unterbreitet? Auch hierzu erwarten wir eine klareAussage.Abschließend beziehe ich mich auf die Aussage derBundesregierung, nach der ein im Rahmen des Pro-gramms der Deutschen Welle vorgesehener interkulturel-ler Dialog durch eine neue Definition des Programmauf-trages auch im Inland möglich sein sollte. Dies hat zuIrritationen geführt. Für die CDU/CSU-Fraktion ist klar:Der Bund hat ausschließlich die Kompetenz für den Aus-landsrundfunk.
Damit kann sich der Programmauftrag der DeutschenWelle nur auf das Ausland beziehen. Rundfunk im Inlandist Ländersache. Die Bundesregierung erweist sich mitsolchen Forderungen einen Bärendienst und belastet dasnotwendigerweise gute kooperative Verhältnis zwischenBund und Ländern sowie zu ARD und ZDF.
Herr Staatsminister, ich wäre dankbar, wenn Sie zu denvon mir gestellten Fragen konkrete Antworten geben.Vielen Dank.
Ich erteile Staatsmi-
nister Julian Nida-Rümelin das Wort.
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Heute früh zwischen 9 und 10.30 Uhr haben
wir das – jedenfalls für mich – merkwürdige Schauspiel
erlebt, dass eine Änderung des Parteiengesetzes – diese
Änderung wurde einstimmig vorgenommen;
sie beruhte, wenn man den Rednerinnen und Rednern
glauben kann, auf sehr konstruktiven Beratungen – zu ei-
ner heftigen und zum Teil sachlich schwer nachvollzieh-
baren Polemik in diesem Hohen Hause geführt hat.
Mein persönlicher Eindruck ist: Wir tun den Bürgerinnen
und Bürgern mit diesem Stil der Schauspielerei, die durch
den Wahlkampf veranlasst ist, keinen Gefallen.
Meine Empfehlung ist, dass wir – jedenfalls im Kulturbe-
reich – das fortsetzen, was wir zum Beispiel im Kultur-
ausschuss vorbildlich praktizieren, nämlich sehr sachlich
zu beraten und keine Nebelkerzen zu werfen.
Herr Julian Nida-
Rümelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lammert?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Staatsmi-
nister Nida-Rümelin, könnten Sie mir und dem Hohen
Hause vielleicht einmal erläutern, was Sie als jemand, der
nicht Mitglied des Deutschen Bundestages ist, veranlasst,
als Zensor einer gerade zu einem anderen Tagesord-
nungspunkt geführten Debatte aufzutreten?
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich beteilige mich hier an einer Debatte umdie Reform der Deutschen Welle. Ich plädiere dafür, dasswir diese Debatte so führen, wie wir es gegenüber denBürgerinnen und Bürgern verantworten können. Das,denke ich, kann ich hier tun.
Die Reform der Deutschen Welle, des deutschen Aus-landsrundfunks – dazu gehört vor allem das Radio, aberauch das Fernsehen; das haben Sie, Herr Neumann, zuRecht betont – ist ein großes Projekt. Es kann keine Rededavon sein, dass wir in der Zeit, in der ich dafür Mitver-antwortung trage, von der Zeitplanung abgegangen sind.Ich habe noch einmal nachgesehen: Im November 2000wurde in der Antwort auf eine damalige Kleine Anfrageder Union nicht angekündigt, dass ein Entwurf zur Re-form des Deutsche-Welle-Gesetzes noch in dieser Legis-laturperiode eingebracht wird, sondern dass die Reform-schritte beraten werden und man dann sehen wird, was indieser Legislaturperiode verwirklichbar ist.Seit Oktober des vergangenen Jahres haben wir einenneuen Intendanten. Ich persönlich hätte es als keinenguten Stil empfunden, wenn wir eine grundlegende Reformder Deutschen Welle, des deutschen Auslandsfernsehens
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Bernd Neumann
22991
und -hörfunks, durchgeführt hätten, bevor der neue Inten-dant sein Amt angetreten und sich ein Bild von der Deut-schen Welle gemacht hat.
Deswegen war meine Empfehlung, dass in klarer Verant-wortungsteilung der Intendant für sein Haus, auch für dasProgramm zuständig ist. Herr Neumann, Sie fragen mich:Wie stellen Sie sich das vor? – Das ist eine Verwechslungder Zuständigkeiten.
Das Programm der Deutschen Welle wird vom Intendan-ten verantwortet, von niemandem sonst.
Was wir zu verantworten haben – ich bitte sehr darum,dass das in den weiteren Beratungen genau auseinandergehalten wird –, ist der Rahmen, innerhalb dessen der In-tendant auf der Basis der von der Verfassung garantiertenPressefreiheit agieren und seine eigenen Akzente setzenkann. Deswegen habe ich mich unmittelbar nach demAmtsantritt von Herrn Bettermann – er sitzt ja hier auf derZuschauertribüne – mit ihm zusammengesetzt und michmit ihm sehr intensiv über die Zukunftsperspektiven derDeutschen Welle beraten.Die Reform des deutschen Auslandsfunks ist eingroßes Projekt. Es hat überhaupt keinen Sinn – ich ver-wende jetzt einmal einen bayerischen Ausdruck –, zu hu-deln und in dieser Legislaturperiode womöglich nochschnell unseriöse Vorschläge zu unterbreiten.
Ich habe in der Antwort auf die Frage 4 Ihrer GroßenAnfrage detailliert dargelegt, wie ich mir in etwa den in-haltlichen Rahmen, den Auftrag der Deutschen Welle vor-stelle. Dazu gehört zweierlei: nämlich einerseits klareZielgruppen und regionale Schwerpunkte sowie anderer-seits ein finanzieller Rahmen. Sie haben Recht: Die Deut-sche Welle ist aufgrund des verengten finanziellen Rah-mens in keiner einfachen Situation. Er entspricht übrigensdem generellen Konsolidierungsziel.
– Nein, nein. Das sind 12,5 Prozent in vier Jahren, die ge-nau dem entsprechen, was damals als generelles Konsoli-dierungsziel formuliert worden ist. Es stimmt: Es ist einegroße Belastung für die Deutsche Welle. Das ist uns allenbewusst. Gleichzeitig gibt es einen großen Reformbedarf.Es werden aber auch die Leistungen anerkannt, die dieDeutsche Welle in Bereichen erbringt, die vom bisherigenProgrammauftrag, der ja übrigens erst 1997 formuliertwurde, gar nicht abgedeckt sind: Beispielsweise ist dieDeutsche Welle besonders erfolgreich bei Suchprogram-men für Kosovo-Albaner. Diese Programme haben einegroße Akzeptanz bei den Albanerinnen und Albanern imKosovo.
Das ist eine bedeutende Leistung. Auch wurde jetzt in Af-ghanistan rasch reagiert. Die Wahrnehmung von Angebo-ten des Radioprogramms der Deutschen Welle in Afrikaist, wenn man den sehr spärlichen Daten glauben darf, re-lativ gut.Ich schlage vor – da gehe ich etwas über die Formulie-rung hinaus, die ich in der Antwort auf Ihre Frage 4 ge-wählt habe –: Wir sollten die Zielgruppen in zwei großeGruppen unterteilen. Die eine Zielgruppe bilden Deutsch-sprachige, die keine Touristen sind, sondern auf längereZeit im Ausland leben und die auf deutschsprachige An-gebote der Deutschen Welle angewiesen sind. Ihnen soll-ten wir ein möglichst attraktives Programm bieten. Daswar ja die Idee, die hinter dem Pilotprojekt Pay-TV für dieUSA stand. Mit diesem Pilotprojekt sollte auch eine Re-form des Fernsehens der Deutschen Welle getestet wer-den. Ich hoffe, es hat Erfolg. Wenn die Berechnungen, diedie Deutsche Welle angestellt hat, zutreffen, müsste es einErfolg werden.Die zweite Zielgruppe bilden diejenigen Adressaten,die zwar Interesse an deutscher Politik, Kultur und Gesell-schaft haben, die aber nicht deutschsprachig sind, die alsomit deutschsprachigen Angeboten gar nicht erreicht wer-den können. Da hat sich in den letzten Jahren viel durchdas Internet verändert. Wir müssen uns sehr genau überle-gen, was die Deutsche Welle auch in Form von Online-diensten anbieten muss, um diese spezifische Zielgruppeanzusprechen. – Diesen ersten Bereich kann man als„deutsche mediale Außenrepräsentanz“ zusammenfassen.Es gibt einen zweiten Bereich, der nach meiner festenÜberzeugung damit zu tun hat, dass wir in der auswärti-gen Kulturpolitik generell und in der auswärtigen Me-dienpolitik speziell das Ziel verfolgen müssen, einen Bei-trag zu einer zivil verfassten globalen Gesellschaft zuleisten,
also einer Gesellschaft, die ihre Konflikte unterhalb derSchwelle der Gewalt austrägt. Dazu dienen zum Beispieldie Angebote der Deutschen Welle in Krisengebieten. Siekönnen dort zu einem zivilen Austragen von Konfliktenbeitragen und dafür sorgen, dass sich auch in Krisenre-gionen ein Bild von der tatsächlichen Lage gemacht wer-den kann.Zur Zielsetzung „globale Zivilgesellschaft“ gehörtauch, dass wir dort, wo es Informationsmängel gibt, denAuftrag haben, Angebote zu unterbreiten, die diesem De-fizit etwas entgegensetzen. Hier ist das Ziel nicht in ersterLinie die mediale Außenrepräsentanz Deutschlands, son-dern der Beitrag zu einer globalen Zivilgesellschaft. Ichpersönlich wünsche mir in diesem zweiten Bereich „Bei-trag zur globalen Zivilgesellschaft“ mehr innereuropäi-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Staatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin22992
sche Zusammenarbeit, mehr Koordination, auch im Sinnedes Maastrichter Vertrags.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion.
Herr Staats-
minister Professor Nida-Rümelin, Ihre wohlgesetzten
Worte können nicht verleugnen, dass die Deutsche Welle
so etwas wie der verlorene Sohn der rot-grünen Bundes-
regierung ist.
In der Koalitionsvereinbarung hieß es zwar noch so
schön, Sie wollten eine Verbesserung der medialen
Außenrepräsentanz Deutschlands, doch dann begann der
private Rachefeldzug des Michael Naumann gegen die
Deutsche Welle und ihren damaligen Intendanten.
Im Zuge dieses – jetzt wollen wir uns an die Zahlen
halten – parteipolitischen Kreuzzuges
wurde der Bundeszuschuss – –
– Hören Sie mal den Zahlen zu.
– Sie wollen es offensichtlich nicht hören, deshalb wie-
derhole ich es:
Im Zuge dieses parteipolitischen Kreuzzuges wurde der
Bundeszuschuss von geplanten 635 Millionen auf ge-
plante 551 Millionen heruntergefahren. Das ist nach mei-
ner Rechnung deutlich mehr als der sonstige Kürzungs-
aufwand der Bundesregierung. Die Zahl der Stellen wurde
von geplanten 1 726 auf 1 329 im Jahr 2004 gekürzt.
Lieber Herr Nida-Rümelin, wenn Sie, was sich ja schön
anhört, der Deutschen Welle die Aufgabe zumessen wollen,
die Sie gerade beschrieben haben – nämlich einen Beitrag
zu einer zivilen Weltgesellschaft zu leisten –, dann müssen
Sie für diesen Sender schon ein bisschen mehr tun, damit er
in die Lage versetzt wird, diese hehren Ziele zu verfolgen.
In der Zeit, in der diese Kürzungen erfolgt sind, sind
die Zuwendungen, also die Gebührengelder, für ARD und
ZDF um rund 30 Prozent angestiegen, und zwar mit dem
Hinweis auf die medialen Preissteigerungen. Man muss
sehen, dass es hier überdurchschnittliche Preissteigerun-
gen gegeben hat.
Meine Damen und Herren, wie sehr der Bundesregie-
rung die Deutsche Welle am Herzen liegt, wird auch in ei-
nem Papier des Bundespresseamtes von vor einigen Jah-
ren deutlich, in dem der Deutschen Welle sogar die
verfassungsrechtlich gesicherte Rundfunkfreiheit abge-
sprochen wurde. Auch das lässt sich nicht verleugnen.
Deshalb möchte ich es in Ihre Erinnerung zurückrufen.
Man zitiert sich ja selbst ungern, aber ich habe einmal
eine Dokumentation zusammengestellt, in der alle Staats-
eingriffe bei der Deutschen Welle zusammengestellt wor-
den sind.
– Wenn meine Vorsitzende fragt!
Dann unterbrechen
Sie schon wie von allein?
Kollegin Griefahn, bitte schön.
Herr Otto, der Staatsminis-
ter hat gerade darauf hingewiesen, dass das Programm
vom Intendanten und nicht von der Politik – es ist also
nicht unsere Aufgabe – gestaltet wird. Meinen Sie nicht,
dass das wirklicher Ausdruck von Staatsferne ist, über die
wir gerade diskutieren und die wir alle wollen?
Ich bedankemich ausdrücklich für diese Frage, liebe Frau Griefahn.Schauen Sie sich das „Hanten-Papier“, das aus den Rei-hen der Regierung kam, an. Damit sollten die Journalistender Deutschen Welle an die Leine gelegt werden, indemihnen Vorgaben – man muss sich das vorstellen: Unab-hängigen Journalisten sollten Vorgaben gemacht werden,wohlgemerkt von der Bundesregierung – hinsichtlich derSchwerpunktsetzung und der Zielgebiete gemacht wur-den.Meine liebe Kollegin Griefahn, Sie sind nach IhremVorschlag zu einer staatlichen Sperrminorität für dieKirch-Gruppe Spezialistin für Staatsferne. Ich möchte Siedoch etwas fragen: Halten Sie das, was hier im Namen desBundeskanzleramtes veröffentlicht wurde und womit dieJournalisten an die Leine gelegt werden sollten, für staats-fern? Ich habe mit dieser Auffassung von Staatsferne, diedie Koalitionsfraktionen hier immer vertreten, Probleme.
Noch immer hat die Bundesregierung trotz ihrer viel-fältigen Ankündigungen kein schlüssiges Konzept odereinen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Antwort der Bundes-regierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU, über diewir heute reden, erinnert in ihrer belletristischen Präzisionstreckenweise an Hedwig Courths-Mahler. Nur an einerStelle wird die Bundesregierung konkret, wenn es näm-lich um die Haushaltsrisiken für das neue Projekt GermanTV geht. In der Antwort auf die Frage 17 der CDU-Frak-tion schreibt die Bundesregierung:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Staatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin22993
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Aus-weitung des Programms über die USA hinaus ... ausErträgen des Programms und ggf. aus eigenen Mit-teln der Deutschen Welle finanziert werden soll.
– Damit ist die Katze aus dem Sack.Als uns das neue Auslandsprogramm mit solchen Qua-litätsbeiträgen wie „Forsthaus Falkenau“ und „UnserCharly“ vorgestellt wurde, hat die Bundesregierung aus-drücklich mehrfach versichert, dass dieses Experimentnicht zulasten des ohnehin geschrumpften Haushalts derDeutschen Welle gehen dürfe.
Diese haushaltstechnische Brandmauer war für alleFraktionen – ich gehe davon aus, dass dies auch für dieKoalitionsfraktionen gilt – die Geschäftsgrundlage dafür,dass wir uns auf dieses Experiment eingelassen haben.
Ich empfinde es als Täuschung des Parlaments, wenndiese finanzielle Brandmauer jetzt eingerissen werdensoll.Über diese Täuschung könnte ich leichter hinwegse-hen, wenn das Konzept des German TV Erfolg verspre-chend wäre. Jedoch ist das Gegenteil der Fall. Bisher hatGerman TV trotz großen Werbeaufwandes – immerhinist der Intendant mit großer Korona nach Washington ge-reist und hat dort Veranstaltungen gemacht – nur rund900 Abonnenten werben können. Dies sind deutlich we-niger Abonnenten, als die private Konkurrenz Channel Dmit ihrem Minietat in Höhe von nur einem Bruchteil desEtats, über den wir jetzt reden, hat und die von derBundesregierung immer als „Garagensender“ verhöhntwurde. Der Flop des German TV war leider vorherzuse-hen. Der Bundesrechnungshof hat die Bundesregierungeindrücklich davor gewarnt, aber man hat sich darüberhinweggesetzt und hat jetzt den Schlamassel.Die 15 Dollar – der Kollege Neumann hat darauf hin-gewiesen – Miete pro Monat mögen vielleicht für Freundevon „Forsthaus Falkenau“ und „Unser Charly“ noch einbezahlbarer Betrag sein. In den USA sind die Menschenganz ausgehungert nach solchen Qualitätsbeiträgen. DasProblem liegt aber darin, dass man nicht einen Transpon-der auf einem der in den USA üblichen Satelliten gemie-tet hat, wie zum Beispiel Direct-TV oder Eco Star, woraufalle ihre Schüsseln ausgerichtet haben. Man hat sich statt-dessen einen neuen Satelliten ausgesucht, über den bei-spielsweise auch das irakische Fernsehen – das ist auchsehr interessant – verbreitet wird. Deswegen muss jederAbonnent, der GermanTVbeziehen will, zunächst einmal400 US-Dollar bezahlen. Dies erinnert mich fatal an died-box, für die man zuerst einmal 800 DM bezahlenmusste, um Premiere beziehen zu können, und die späterdem Herrn Kirch das Genick gebrochen hat.Ich will hier noch ein weiteres Problem ansprechen,das uns noch großes Kopfzerbrechen bereiten wird: Welt-weit wird Free-TV über analoge Satelliten verbreitet, weilviele Länder noch nicht so weit sind und dies über digi-tale Satelliten verbreiten. In den USA wird jetzt aber dasPay-TV über digitale Satelliten verbreitet. Es müssen alsoneue Satelliten angemietet werden. Es muss technischumgerüstet werden. Das alles kostet Geld und soll alleszulasten des ohnehin gebeutelten Etats der DeutschenWelle gehen.
Ich spreche hier für die FDP-Fraktion, hoffe aber, dasssich alle Fraktionen dieses Hauses dem Appell anschlie-ßen können. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Die DeutscheWelle, dieser wichtige Beitrag für die AußendarstellungDeutschlands, braucht jetzt die Fürsorge des gesamtenHauses, des deutschen Parlaments. Sie braucht vor allenDingen eines: Planungssicherheit. Weil die Deutsche WellePlanungssicherheit braucht, fordere ich Sie auf und bitteSie, dem Entschließungsantrag der FDP Ihre Zustimmungzu erteilen.Vielen Dank.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Grietje Bettin.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus meinerSicht eignet sich die Deutsche Welle für den Wahlkampfnur denkbar schlecht. Unsere Welt wird immer globaler.Dies hat selbstverständlich auch erhebliche Konsequen-zen für die Medienlandschaft. Daran sollten wir alle ge-meinsam arbeiten. Ein nationaler Rundfunk kann viel-leicht noch bestimmte Zielgruppen im Ausland erreichen,als eigenständige Stimme geht er aber unter, wenn seinProgramm nicht mit den entsprechenden europäischenAngeboten abgestimmt bzw. koordiniert wird.Auslandsrundfunk ist immer noch ein Privileg. DieDeutsche Welle, BBC World und Radio France sind quali-tativ hochwertige Programme, die eine wichtige Rolle inder Außendarstellung Europas spielen und zukünftig nochstärker spielen werden. Deshalb sagen wir ganz klar: DieZukunft des deutschen Auslandsrundfunks ist eng mit demZusammenwachsen Europas verbunden. Sicherlich machtes Sinn, der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik ei-nen entsprechenden Raum im Programmangebot der Deut-schen Welle zu geben. Wir Bündnisgrüne lehnen jedochalle Pläne, aus der Deutschen Welle eine Art Deutschland-kanal oder – auf das Internet bezogen – Deutschlandportalzu machen, ab. Versuche, einen Staatsrundfunk in Deutsch-land einzuführen, sind bisher zu Recht – spätestens beimVerfassungsgericht – immer gescheitert.Wir sind uns mit der Bundesregierung vollkommendarin einig, dass eine grundlegende Reform des deutschenAuslandsrundfunks wichtig und notwendig ist. Ein ent-scheidender Grund für den Vorschlag der Bundesregie-rung, zukünftig verstärkt auf den Online-Auftritt derDeutschen Welle zu setzen, ist sicherlich die – nieman-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Hans-Joachim Otto
22994
den wird es überraschen – Finanzknappheit des Bundes.Die bereits erfolgten und noch folgenden Kürzungenbeim Bundeszuschuss für die Deutsche Welle sind sicher-lich schmerzhaft und werden zukünftig noch ein-schneidender sein. Gerade durch die weltweit gestiegeneBedeutung des Internets liegt aber auch eine Chance indiesen Einschnitten. Im Übrigen – das betone ich immerwieder gerne – kosten nicht alle sinnvollen ReformenGeld. Das Online-Angebot der Deutschen Welle ist be-reits heute hervorragend und kann zukünftig aufgrund derDialogfähigkeit des Internets noch erheblich an Bedeu-tung gewinnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich dasinterkulturelle Potenzial der Deutschen Welle noch stär-ker nutzbar machen würde – immerhin kommt die Beleg-schaft der Deutschen Welle aus 69 Nationen –, könnteman mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Dannwürden nämlich nicht mehr nur Ausländer etwas überDeutschland erfahren, sondern auch mehr Deutsche etwasüber das Ausland. Dies ist schon mit einfachen Mittelnmöglich. So hat zum Beispiel Hans Kleinsteuber, Mit-glied im Rundfunkrat der Deutschen Welle, vorgeschla-gen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Wissenin Form von kommentierten Links in das Internetangebotder Deutschen Welle einbringen sollten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist aber natürlichganz klar, dass nicht das gesamte Angebot des deutschenAuslandsrundfunks in das Internet verlagert werden darf.Nach Angaben der Deutschen Welle nutzen heute nuretwa 4 Prozent der Adressaten das Internet, über 70 Pro-zent empfangen die Sendungen aber über die Kurzwelle.Auch wenn sich diese Zahlen langfristig sicherlich ändernwerden: Das Internet wird die Kurzwellenempfängerkaum vollständig verdrängen können,
schon gar nicht in jenen Ländern der Welt, in denen dasRadio allein aus Kostengründen das wichtigste Mediumbleiben wird und der Zugang zum Internet schwierig odergar nicht möglich ist.
Die Ausgewogenheit der verschiedenen Programm-säulen ist auch zukünftig einer der wichtigsten Punkte imProgrammauftrag für den deutschen Auslandsrundfunk.Neue Schwerpunkte müssen aber offen diskutiert und be-rücksichtigt werden. Eine der wichtigsten Funktionen ei-nes fremdsprachigen Programms ist nach wie vor, objek-tiven Journalismus in Ländern ohne Pressefreiheit zuverbreiten. Herr Nida-Rümelin hat es angesprochen.In zwei Dritteln der Welt existieren nach wie vor keinefreien Medien und auf dem Markt der globalen Auslands-sender etablieren sich zunehmend besonders autoritäreund demokratiefeindliche Staaten wie Saudi-Arabien,China oder der Iran mit propagandistischen Angeboten.Deshalb begrüße ich den Vorschlag meiner Kollegin ausdem Berliner Abgeordnetenhaus, Alice Ströver, die Deut-sche Welle nicht nur in schon bestehenden Krisensituatio-nen vermehrt als eine Art Kompensationsmedium einzu-setzen, sondern sie auch als Frühwarnsystem für Krisenzu nutzen.
Ich denke aber nicht nur an fundamentalistischenDruck von außen, sondern auch an berechtigte Bedenkenund Ängste über eine zunehmend auch von Europa aus-gehende Globalisierung. Für diese Fragen steht mit derDeutschen Welle sicherlich ein großes aufklärerischesund präventives Potenzial zur Verfügung, wobei ich aller-dings keine zu hohen Erwartungen bezüglich der Chancenwecken will.Grundsätzlich gilt: Wir wollen der Welt ein weltoffenestolerantes Deutschland als Teil eines ebenso weltoffenenund toleranten Europas präsentieren. Dafür brauchen wirden deutschen Auslandsrundfunk. Daran sollten wir ge-meinsam weiterarbeiten.Danke für die Aufmerksamkeit.
Liebe Kol-
leginnen! Liebe Kollegen! Auf der Besuchertribüne des
Deutschen Bundestages hat eine Delegation des Parla-
ments der Republik Malta Platz genommen. Ich heiße die
Kolleginnen und Kollegen herzlich willkommen.
Ich wünsche Ihnen erfolgreiche und fruchtbare Gespräche
in unserem Lande und eine gute Heimkehr in Ihr schönes
Land.
Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe nunmehr
der Kollegin Angela Marquardt das Wort. Sie spricht für
die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Im Rahmen der Aktuellen Stundezur Kirch-Pleite haben alle Fraktionen im Hause festge-stellt, wie wichtig die Staatsferne von Medien und wieschändlich der politische Einfluss ist.
Trotzdem reden wir heute über einen Staatssender, der ausdem Bundeskanzlerhaushalt finanziert und dessen Pro-grammauftrag hier im Parlament festgelegt wird.Die Geschichte der Deutschen Welle geht auf den Kal-ten Krieg zurück. Sie war damals ein Instrument der Bun-desregierung. Die ursprüngliche Aufgabe hat sich logi-scherweise verändert. Sie ist in den letzten Jahren diskutiertworden und muss auch weiterhin diskutiert werden. Aberin der Antwort auf die Anfrage der Union fehlt mir dieheutige Aufgabe des Auslandsrundfunks. Wo soll es hin-gehen? Ich möchte nicht bezweifeln, dass es für einen Aus-landsrundfunk sinnvolle Aufgaben gibt. Es geht also nichtdarum, ihn abzuschaffen. Aber wir brauchen eine Neufas-sung des Programmauftrages. Ich denke, dass die Novel-lierung des Deutsche-Welle-Gesetzes längst überfällig ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Grietje Bettin22995
Ich glaube, dass es unverantwortlich gewesen ist, GermanTV einzuführen, bevor diese Grundsatzdebatte geführtworden ist.
Die jüngsten Entwicklungen bei der Deutschen Wellefinde ich dennoch nicht alle verkehrt. Wenn German TV,das eine produktive Konkurrenz zum jetzigen DeutscheWelle TV sein kann, mittelfristig als Free-TV empfangbarist, kann das eine irgendwann das andere ersetzen; dennbeide Sender parallel laufen zu lassen, kann ich mir alsDauerlösung nicht vorstellen.
Was die Bundesregierung und der Intendant zum neuenProfil und zum interkulturellen Dialog gesagt haben,klingt in meinen Ohren vernünftig. Dialog statt Monolog,Multikultur statt Monokultur halte ich für richtig. DerDialog ist natürlich eine Voraussetzung für das vomStaatsminister angesprochene Ziel, über die globale Zi-vilgesellschaft und über Werte zu diskutieren. Aber ichmöchte Sie fragen: Wer hört denn hierzulande Radiosen-der aus Kenia oder Japan?
Wer diesen Dialog ernst meint, muss sich Gedankendarüber machen, wie man das Interesse an ausländischenSendern und ausländischen Kulturen fördert. Wenn dieBundesregierung die Idee ins Spiel bringt, dass die Deut-sche Welle diesen Auftrag eventuell im Inland überneh-men könnte, oder, wie Kollegin Griefahn gesagt hat, ausder Einbahnstraße eine Zweibahnstraße gemacht wird,dann ist die Kritik der Union an einer Expansion desRundfunks im Inland durchaus berechtigt, weil wir damiteinen staatsfinanzierten Sender hätten, der im Inland tätigwäre, was wir – das ist heute angeklungen – so nicht alsZielstellung haben.Das ist das Dilemma dieser ganzen Diskussion und derDeutschen Welle. Ich halte den Programmauftrag dann fürfortschrittlich und sinnvoll, wenn er darauf hinausläuft,dass das Leitmotiv der Deutschen Welle der Dialog derKulturen ist. Aber dies würde gleichzeitig bedeuten, dasssie im Inland tätig würden. Dies ist aber eine Aufgabe, diekeinesfalls von einem staatsfinanzierten und damit not-wendigerweise abhängigen Sender übernommen werdensollte. Dafür haben wir das große Angebot der privatenSender bzw. das des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.Ohne die Deutsche Welle an sich infrage zu stellen,will ich deutlich machen, dass die grundsätzliche Fragenach den Aufgaben und der Notwendigkeit des Auslands-rundfunks nicht beantwortet ist.
Wir führen diese Diskussion nicht zum ersten Mal, son-dern haben uns auch schon im Ausschuss darüber unter-halten. Diese Grundsatzdebatte über den Programmauf-trag muss geführt werden. Bevor über weitere Verände-rungen und über die Finanzen diskutiert wird, müssen wirüber die Inhalte diskutieren. An den Inhalten müssen sichdie Finanzen entlanghangeln.
– Und entlang des Auftrags.In diesem Punkt – in anderen nicht so sehr – stimme ichdem Entschließungsantrag der FDP ausdrücklich zu: Wirbenötigen so schnell wie möglich einen Entwurf für einneues Deutsche-Welle-Gesetz. Am liebsten wäre es auchmir – ich habe leider nicht so viel Einfluss darauf –, wennwir noch in dieser Legislaturperiode über einen solchenEntwurf debattieren könnten. Wir werden diese Diskus-sion weiterführen. Es wäre aber schade, wenn weiterhinTatsachen geschaffen würden, ohne dass die Debatte umdie Inhalte geführt worden ist. Lassen Sie es uns umge-kehrt machen; dann kommen wir vielleicht auch zu einemguten Ergebnis.
Ich erteile
dem Kollegen Dr. Joseph-Theodor Blank für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
Herr Prä-sident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! DiesesHaus hat mich vor vielen Jahren in den Rundfunkrat derDeutschen Welle entsandt, dessen stellvertretender Vor-sitzender ich seit dieser Zeit bin. Im Rundfunkrat wie auchim Verwaltungsrat der Deutschen Welle sitzen Mitgliederder Bundesregierung – nicht Beamte, sondern Bundes-minister und Staatsminister. Auch ist der Bundesrat imRundfunkrat und im Verwaltungsrat vertreten.Rundfunkrat und Verwaltungsrat der Deutschen Wellehaben vor wenigen Wochen, nämlich am 15. März, in ei-ner gemeinsamen Beratung – hier kann ich nahtlos an dasanschließen, was die ganze Zeit über angesprochen wor-den ist – ein Unternehmensprofil der Deutschen Welleformuliert. Ausgehend von der Überlegung, dass dieDeutsche Welle ein elektronisches Informationsportal fürMenschen in aller Welt sein soll, die einen Zugang zu un-serem Land suchen, lege ich die sieben Zielsetzungenstichpunktartig dar, die von den beiden Gremien vor we-nigen Wochen verabschiedet worden sind:als „Stimme Deutschlands in der Welt“ durch unab-hängigen Journalismus mit pluralistischer Pro-grammgestaltung das Ansehen Deutschlands zu för-dern;in Ländern mit eingeschränkter oder fehlender Infor-mations- und Medienfreiheit unabhängige und un-zensierte Informationen zur Verfügung zu stellen;die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen In-teressen Deutschlands zu flankieren – auch indemdeutsche Interessen in und Beziehungen zu den Ziel-gebieten eingehend dargestellt und erläutert werden;
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Angela Marquardt22996
die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik jour-nalistisch zu begleiten; als Kulturträger weltweitDeutschland im Ausland als Kulturnation zu vermit-teln; ...einen Bildungsauftrag wahrzunehmen durch die Ver-mittlung von Werten wie Toleranz, von demokra-tischen Grundsätzen, von gesellschaftlichen Freihei-ten;den Prozess der europäischen Einigung zwischenden westeuropäischen Staaten und jenen Mittel-,Ost- und Südosteuropas intensiv zu begleiten.Herr Staatsminister, meine lieben Kolleginnen undKollegen, das sind sieben Zielsetzungen, die in die Über-legungen einfließen könnten, wenn man über den Pro-grammauftrag der Deutschen Welle bei einer künftigenNovellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes nachdenkt.Die Crux ist, dass die Deutsche Welle zwar mit denVertretern von Bundesregierung und Bundesrat hehreZielvorstellungen formulieren kann, dass sie aber nichtwie die anderen Rundfunkanstalten agieren kann, sondernals bundesfinanzierter Sender von den Haushaltsbe-schlüssen des Deutschen Bundestages abhängig ist. HerrStaatsminister, es wäre ein erheblicher Fortschritt, wennman sich vor weiteren Finanzentscheidungen
auf Erfordernisse und Rolle, Funktion und Selbstver-ständnis des deutschen Auslandsrundfunks einigenkönnte
und nicht, wie unter Ihrem Vorgänger erwiesenermaßengeschehen, einfach Budgetkürzungen vornimmt, ohne je-mals auch nur ansatzweise den Versuch gemacht zu ha-ben, eine solche Debatte zu führen oder gar zu gemeinsa-men Ergebnissen zu kommen. Eine erfolgreicheUnternehmenspolitik setzt verlässliche Planung und an-gemessene, funktionsgerechte Finanzierung voraus.Hierzu gehört unabdingbar die Verstetigung der Finanzie-rung des deutschen Auslandsrundfunks.
In § 44 des Deutsche-Welle-Gesetzes wird der Deut-schen Welle eine Finanzierungsgarantie eingeräumt, dienach übereinstimmender Auffassung von Verwaltungs-und Rundfunkrat verfahrensrechtlich durch eine eindeu-tige Regelung ergänzt und damit abgesichert werdenmuss. Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrer Antwort aufdie Anfrage meiner Fraktion gesagt, die Bundesregierungwolle „zu verlässlichen mehrjährigen finanziellen Pla-nungsgrundlagen“ für die Deutsche Welle kommen. Ge-statten Sie mir, erhebliche Zweifel daran zu äußern, obdiesen schönen Worten auch Taten folgen werden.
Herr Staatsminister, in der jüngsten Rundfunkrats-sitzung, von der ich gerade mehrfach berichtet habe, frag-ten wir nach dem Stand der bisherigen vorbereitendenVerhandlungen mit der Bundesregierung im Hinblick aufdie finanzielle Seite; das ist die Aufgabe des Rundfunk-rats. Ich unterstelle einmal, dass Ihnen die Ergebnisse derBesprechung auf Arbeitsebene jedenfalls im Groben be-kannt sind.Ich habe deswegen Zweifel an der Absicht der Bun-desregierung, zu „verlässlichen mehrjährigen finanziellenPlanungsgrundlagen“ für die Deutsche Welle zu kommen,wie Sie als Antwort auf diese Anfrage geschrieben haben.Auf Arbeitsebene ist mitgeteilt worden, dass die bei derDeutschen Welle in der mittelfristigen Finanzplanung fürdas nächste Jahr prognostizierte Unterdeckung von 4Mil-lionen Euro nicht ausgeglichen werden soll.
Es gibt keine Bereitschaft, die Finanzierung für den deut-schen Auslandskanal um ein Jahr zu verlängern.
Es gibt keine Bereitschaft, durch Verpflichtungsermäch-tigungen zu einer Absicherung der Finanzierung übermehrere Jahre zu kommen. Es gibt keinerlei finanzielleMittel für die Ausweitung von German TV nach Südame-rika über die USA hinaus. Der Leertitel „Krisenradio“bleibt ein Leertitel, denn es gibt keine Bereitschaft einerfinanziellen Honorierung zum Beispiel für die Tätigkeitder Deutschen Welle für Afghanistan, um ein aktuellesBeispiel zu nennen, oder zum Beispiel für die Aktivitätenim Zusammenhang mit der Berichterstattung nach dem11. September 2001.Ich komme zum letzten Punkt. In der mittelfristigenFinanzplanungwird ein Anstieg der Investitionen für dieJahre 2005 und 2006 zwar vorgesehen und heute nochnicht bestritten, aber nicht durch Verpflichtungsermächti-gungen abgesichert.Herr Staatsminister, ich denke, Sie haben eine schöneAufgabe, dazu beizutragen, dass die Schizophrenie in derPolitik begrenzt bleibt.
– Das ist nicht so einfach; das habe ich nach 20 Jahren Zu-gehörigkeit zu diesem Haus an der einen oder anderenStelle, um es ganz vorsichtig auszudrücken, immer wie-der erlebt.Aber jetzt ernsthaft: Wenn in den Gremien der Deut-schen Welle wie Rundfunkrat und Verwaltungsrat, diehierzu berufen sind, gemeinsame Beschlüsse und Ent-schlüsse zustande kommen, die nach Vorbereitung durchden neuen Intendanten diesen Gremien vorgelegt werden,und wenn sich an diesen Beratungen und BeschlüssenMitglieder der Bundesregierung beteiligen, dann erwarteich eigentlich, dass die Konsequenz daraus auch eine ein-heitliche Antwort der Bundesregierung ist und nicht dieeinen, die in diesen Gremien sitzen, so reden und die an-deren anders handeln. Deswegen haben Sie die schöneAufgabe, Äußerungen und Taten zusammenzuführen.Herzlichen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Joseph-Theodor Blank22997
Nun spricht
die Kollegin Monika Griefahn für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen De-
batte sprechen wir über die Inhalte, und das ist auch gut
so.
Herr Neumann und Herr Otto, wenn Sie von Staatsfunk
und davon reden, dass die bestehenden Besitzverhältnisse
gleich Staatsfunk bedeuten, gebe ich Ihnen zu bedenken:
Die Deutsche Welle ist ein Sender, der zu 100 Prozent
vom Bund finanziert wird, aber mitnichten ein Staatsfunk
ist. Das haben wir immer wieder deutlich gemacht.
Vielmehr ist die Deutsche Welle ein Sender, der mit seinem
im Gesetz festgelegten Programmauftrag, mit einem Inten-
danten und einer Redaktion eigenständige redaktionelle Ar-
beit leistet. Das geht sogar so weit – das haben wir manch-
mal leidend feststellen müssen –, dass in unterschiedlichen
Sprachregionen gegensätzliche Auffassungen transportiert
werden. Wir haben gerade in der Debatte über Kosovo er-
lebt, dass der serbische und der kosovarische Teil unter-
schiedlich berichtet haben. Insofern kann man hier mit-
nichten von Staatsfunk reden. Herr Neumann, deshalb ist
auch mit der kurzfristigen Übernahme des Besitzes nicht
automatisch die Tatsache verbunden, dass es sich um ei-
nen Staatsfunk handelt.
Bei der Deutschen Welle geht es nicht nur um die Frage,
wie wir uns darstellen, sondern sie ist auch ein Element der
internationalen Kulturbeziehungen Deutschlands. Bekannt-
lich werden in 30 Sprachen Online-Dienste und Radiopro-
gramme und in drei Sprachen Fernsehprogramme gesendet.
Außerdem gibt es ab 1. Juli eine, wie ich meine, tolle Neue-
rung: Über Nilesat werden deutschsprachige Fernsehsen-
dungen mit arabischen Untertiteln ausgestrahlt, sodass dann
auch Länder von Marokko bis Oman über andere Informa-
tionsmöglichkeiten verfügen als bisher. Das entspricht dem,
was die Frau Kollegin eben gesagt hat, nämlich dass es sehr
wichtig ist, einen Zugang zu anderen Informationsmöglich-
keiten zu schaffen.
Nach dem 11. September 2001 stehen wir vor neuen
Herausforderungen. Das heißt, der Programmauftrag im
geltenden Deutsche-Welle-Gesetz, das Bild von Deutsch-
land in die Welt zu transportieren, reicht nicht mehr aus.
Deswegen sind bereits in den vergangenen Jahren das Kri-
senradio und das Kompensationsradio hinzugekommen.
Ich meine, wir haben die Deutsche Welle auch immer als
Mittel der deutschen auswärtigen Kulturpolitik diskutiert
und sie in dieses Konzept mit eingebunden. Durch die
„Konzeption 2000“, das neue Konzept der auswärtigen
Kulturpolitik, wird die Zweibahnstraße besonders forciert.
Daraus folgt auch – das finde ich sehr positiv; das sollte
man auch zur Kenntnis nehmen –, dass in den Sendungen
vor Ort eben nicht mehr ausschließlich das Bild von
Deutschland in der Welt transportiert wird, sondern dass
Informationen aus den Regionen in die Regionen ge-
sendet werden. Das ist das Positive, wodurch die Men-
schen überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, sich zu
informieren, und ihnen deutlich gemacht wird, dass es
auch andere Meinungen gibt als die, die zum Beispiel über
den Staatsrundfunk, den es tatsächlich in vielen Ländern
gibt – auch Frau Marquardt hat das angesprochen –, ver-
breitet werden. An dieser Stelle setzen wir an. Dabei haben
wir natürlich ein Credo, das auch in dem Auftrag enthalten
ist, nämlich das Weltbild der Aufklärung, Menschenrechte
und Demokratie zu vermitteln, und zwar in allen Teilen
der Welt. In diesem Zusammenhang ist es besonders
wichtig – das muss zusätzlich aufgenommen werden –,
Jugendliche anzusprechen und Informationen nicht nur an
Multiplikatoren in schon gesetzteren Positionen zu ver-
mitteln. Es muss ein Programmtyp entwickelt werden, der
Jugendliche anspricht und ihnen ermöglicht, gar nicht erst
in Gewalt und Terror zu verfallen, sondern durch einen
anderen Zugang zu Informationen zu Demokratie und
Menschenrechtsentwicklung in ihren Ländern beizutra-
gen.
Die Deutsche Welle hat finanzielle Einschränkungen
durchführen müssen. Sie hat aber mitnichten so umfang-
reiche Entlassungen vornehmen müssen, wie es vorher
angekündigt bzw. angedroht worden war, sondern sie ist
kreativ mit der Situation umgegangen, was ich für sehr
positiv halte.
Wir haben es heute mit Konflikten in der Welt zu tun,
auf die flexibel reagiert werden muss. Deswegen schlage
ich vor, bei der zukünftigen Finanzierung tatsächlich ein
zweigeteiltes Konzept aufzulegen, nämlich zum einen ei-
nen Sockelbetrag im Haushalt festzulegen, damit die
Deutsche Welle planen und auch ihre Strukturen halten
kann, aber ihr zum anderen auch einen bestimmten Anteil
an der Finanzierung zu gewähren, damit sie flexibel rea-
gieren kann, um zum Beispiel in Krisensituationen nicht
erst dann aktiv zu werden, wenn der Konfliktfall schon
eingetreten ist.
Frau Kolle-
gin Griefahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Otto?
Ja.
Frau Kolle-gin Griefahn, ich habe durchaus mit Freude und Zustim-mung gehört, dass Sie den Programmauftrag der Deut-schen Welle über Multiplikatoren hinaus auf die Jugenderweitern wollen. Damit sind Sie schon weiter als dieBundesregierung, in deren Papier die Jugend noch nichtaufgeführt war.Teilen Sie meine Auffassung, dass jede Erweiterungdes Programmauftrags konsequenterweise auch mit einerfinanziellen und materiellen Besserstellung dieses Sen-ders verbunden sein muss?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 200222998
Herr Otto, ich bin gerade da-bei, mein Konzept für den zukünftigen Haushalt vorzu-stellen.
Ich führe nämlich gerade aus, dass ich eine Grundfinan-zierung auf der Basis des am Ende der Konsolidierungs-phase abgeschmolzenen Betrages möchte und dass dannMittel gewährt werden, die flexibel zu gestalten sind undinsofern für Kriseninterventionen eingesetzt werden kön-nen.
Das ist im Übrigen in Einzelfällen auch so geschehen. DasAuswärtige Amt hat zum Beispiel für den Kosovo zusätz-liche Mittel zur Verfügung gestellt. Ich würde mir wün-schen, dass wir sozusagen zu einem flexiblen Betrag kom-men, damit nicht in jedem Einzelfall einzelne Dingehinzugefügt werden müssen. Das sollte in das Deutsche-Welle-Gesetz eingestellt werden. Für welche Projekte dieMittel verwendet werden, muss man dann sehen. Wir müs-sen – darüber sind wir uns alle sicherlich einig – durch dasEinstellen entsprechender Mittel in den Haushalt der Deut-schen Welle Planungssicherheit garantieren. Nur dannkönnen entsprechende Perspektiven erarbeitet werden.Wir müssen im Rahmen der Novellierung des Deut-sche-Welle-Gesetzes über die Ausweitung des Programm-auftrags, die Dialogfunktion, die Krisenfunktion und dieKompensationsfunktion diskutieren. Vor diesem Hinter-grund finde ich es richtig – um noch einmal auf Ihren Bei-trag einzugehen, Herr Otto –, zusammen mit dem Aus-wärtigen Amt und der Ministerin für wirtschaftlicheZusammenarbeit schon jetzt zu überlegen, wo die Schwer-punkte gesetzt werden sollen; denn man kann sicherlichnicht in allen Krisenherden der Welt präventiv tätig sein.
Wir haben – das haben Sie selber mitgetragen – zumBeispiel zusätzliche Mittel aus dem Etat des AuswärtigenAmts für die Berichterstattung im Kosovo zur Verfügunggestellt, damit die Menschen vor Ort eine zusätzliche In-formationsquelle haben. Ich bin sehr froh, dass der Inten-dant und die Redaktion selber veranlasst haben, dass abMitte Mai zusätzlich Fernsehsendungen in Paschtu undDari übersetzt werden und dem afghanischen Fernsehenzur Verfügung gestellt werden, damit die Bevölkerung vorOrt breit informiert werden kann.
Wie gesagt, dieser Vorschlag kam aus der Intendanz selber.Es ist unsere Aufgabe, solche Vorschläge aufzugreifen.Man kann aber natürlich auch im Parlament wie imAusschuss eine politische Diskussion darüber führen, wowir uns engagieren sollen. Es ist ja schließlich auch unserJob, über den Programmauftrag zu diskutieren. Nur, lie-ber Herr Otto, eine seriöse Diskussion über haushalts-rechtliche Fragen, über den Programmauftrag und überdie Frage, welche Medien welche Zielgruppen am bestenansprechen – diese Frage hat auch schon der Herr Staats-minister angesprochen –, ob man zum Beispiel nur deutsch-sprachige Multiplikatoren oder nur Jugendliche erreichenwill – sicherlich erreicht man Jugendliche eher mit Inter-netangeboten; diese sind aber nicht in allen Ländern vor-handen; die Deutsche Welle, die auch auf Kurzwelle sen-det, wird also ein wichtiges Medium bleiben –, erfordert eintieferes Verständnis. Deswegen müssen wir den Ent-schließungsantrag Ihrer Fraktion – so gut ich auch seinenInhalt finde – leider ablehnen; denn wenn man ehrlich ist,muss man zugeben, dass das, was dort gefordert wird, indieser Legislaturperiode nicht mehr umgesetzt werdenkann. Herr Otto, in den verbleibenden fünf Sitzungswo-chen können wir Ihrem eigenen Anspruch, seriös über dasDeutsche-Welle-Gesetz und den Programmauftrag zu dis-kutieren, nicht gerecht werden.
Ich möchte noch einmal kurz auf das German TVzurückkommen. Sie sprachen immer nur von „ForsthausFalkenau“. Ich habe mir die Programme genau ange-schaut und festgestellt: Es ist mitnichten so, dass es nurSerien gibt. Diese gibt es natürlich auch. Es werden aberauch Dokumentationen, politische Magazine und
– das schaut wahrscheinlich Herr Otto auf dem Kanal derDeutschen Welle, weil er es zu Hause nicht sehen darf –
Kindersendungen wie zum Beispiel „Der Tigerentenclub“und „Die Sendung mit der Maus“ angeboten. Das findeich sehr wichtig; denn das zeigt die Vielfalt und die Qua-lität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutsch-land, den wir erhalten wollen. Herr Otto ist ja hier ande-rer Meinung.
Wir halten das breite Angebot des öffentlich-rechtlichenRundfunks für sehr wichtig.
Sie wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf einpaar Kernkompetenzen reduzieren. Wir dagegen wollenein breites Spektrum. Ein solches Spektrum wird auch inGerman TV angeboten.German TV ist ein Pilotprojekt in den USA. Wir wer-den in den nächsten vier Jahren eine Anschubfinanzierungin Höhe von 5,113 Millionen Euro pro Jahr leisten. Wirwerden dann sehen, ob ein solcher Sender in einem Land,in dem Pay-TV etwas Normales ist, ankommt. Wir woll-ten keinen Pay-TV-Sender in einem Land einrichten, indem es sonst nur Free-TV-Kanäle gibt. Wir müssen ab-warten, wie German TV in einem Land ankommt, in demdie Menschen sagen: Weil wir im Free-TV durch Werbe-angebote zugemüllt werden, kaufen wir Pay-TV. Es gibtja in Deutschland die Angst, dass es auch bei uns einmal
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002 22999
so sein könnte. Darüber müssen wir als Medienpolitikernoch einmal diskutieren.Wir werden der Entwicklung des German TVden Raumgeben, den es braucht. Eine gewisse Anlaufzeit muss ein-geräumt werden. Man kann nicht erwarten, dass man nachzwei Monaten 70000 Abonnenten hat. Wenn man in zweiMonaten 900 Abonnenten gewinnt, ist das schon ganzordentlich. Andere Firmen würden sich darüber freuen.Meiner Ansicht nach befinden wir uns auf dem richti-gen Weg, um in Zukunft innerhalb der internationalenKulturbeziehungen zu leisten, was nötig ist. Deutsch-land und deutsche Außenpolitik stehen für Weltoffenheitund Toleranz. Wir machen eine internationale Kultur- undMedienpolitik, die für den Austausch auf der Basis be-stimmter Werte steht. Die Deutsche Welle ist ein unver-zichtbarer Teil der Beziehungen. Sie wird auch in Zukunft,gerade wenn sich die neuen Medien so weiterentwickeln,unverzichtbar sein.Das Internetangebot der Deutschen Welle ist schonheute ein hochqualitatives Einfallstor zur deutschen Kultur,Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir entwickeln dasProgramm der Deutschen Welle weiter, um auch zukünftigeine angemessene Außenrepräsentanz zu haben und einenBeitrag zur Konfliktprävention zu leisten. Wir verfahrennach dem Motto: Informieren statt missionieren. Das istdie wesentliche Grundlage.
Ich schließedie Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache14/8819. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSUund FDP abgelehnt.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 24 auf:Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauf-tragtenJahresbericht 2001
– Drucksache 14/8330 –Überweisungsvorschlag:VerteidigungsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – DasHaus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Ich begrüße den Wehrbe-auftragten des Deutschen Bundestages, Dr. WillfriedPenner, und gebe ihm das Wort.Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestagesist nicht gehindert, neben kritischen Bemerkungen zumThema Bundeswehr auch solche anderer Art zu machen.Das soll geschehen. Also denn: Die Bundeswehr funktio-niert, jedenfalls alles in allem – wie denn auch nicht? Dasmacht die Bundeswehr im Einsatz besonders sinnfällig.Soldaten der Bundeswehr leisten guten, auch erstklassi-gen Dienst. Im Einsatz wird das besonders deutlich. Siebrauchen den internationalen Vergleich mit anderen nichtzu scheuen. Ganz im Gegenteil: Zu Hause müssen Solda-ten mit den Schwierigkeiten des Umbaus der Bundeswehrebenso zurechtkommen wie mit den Lücken, die der mi-litärische Einsatz zur Folge hat. Sie tun dies mit viel En-gagement und gutem Erfolg.
Das ist aber nur die eine Seite.Es gibt knapp 5 000 Eingaben von Soldaten an denWehrbeauftragten, weitere Befunde aus vielen Gesprä-chen mit Soldaten und Informationen anderer Art, nachdenen die Armee auch in erheblichen Schwierigkeitenist. Das schlägt sich auf die Einstellung von Soldatennieder.
Das bringt mehr als nur schlechte Laune mit sich; das gehteher in Richtung Groll und Hader und mündet auch in Re-signation und Gleichgültigkeit. Das Ergebnis ist: Der sol-datische Dienst kann zum ungeliebten Job werden.Das hat handfeste Gründe:Schmälerungen bei der Besoldung und Versorgung inder letzten Zeit, aber auch weit in die 90er-Jahre hinein-reichend, werden bei einer zunehmenden Anzahl vonEinsätzen und damit verbundenen zusätzlichen Belastun-gen auch im Inland überhaupt nicht verstanden. Sie wer-den ganz scharf kritisiert.
Der Beförderungs- und Verwendungsstau ist für diedavon betroffenen Soldaten ein bitteres Thema – hoffent-lich gewesen. Es geht den Soldaten übrigens nicht nur ummehr Geld, sondern auch um das berufliche Selbstver-ständnis und die Anerkennung beruflichen Könnens. Esist zu hoffen, dass sich die durchgesetzten Verbesserungenlindernd auswirken und auch zur Kenntnis genommenwerden.Die Soldaten beklagen sich über Handfestes im tägli-chen Umgang mit Ärzten, über Mangel an eingehendenUntersuchungen, über Mangel an verantwortungsvollerBeratung und über Mangel an sachgerechten Diagnosen.Überlastung im Dienst wird von Soldaten immer wie-der angesprochen. Eine Ursache dafür sind die häufigenAuslandseinsätze und die damit verbundene Wahrneh-mung von Zusatzaufgaben bis hin zu Dritt- und Viert-funktionen durch einsatzbedingte Lücken. Weitere Belas-tungen sind die häufige Abwesenheit vom Heimatstandortdurch Teilnahme an Lehrgängen und Übungen sowie Per-sonalabstellungen zu unterschiedlichen Zwecken.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Monika Griefahn23000
Den Befunden des Löchel-Berichtes, insbesondere zuSchwächen im Führungsverhalten, muss nachgegangenwerden.
Es kann kein Zufall sein, dass das SozialwissenschaftlicheInstitut der Bundeswehr im Herbst vergangenen JahresÄhnliches vermerkte. Ich füge hinzu: Äußerungen vonSoldaten an die Adresse des Wehrbeauftragten gingen indieselbe Richtung. Es wäre grundverkehrt, dies als Bös-willigkeiten abzutun. Das Problem ist da und muss gelöstwerden. Weginterpretieren oder leugnen hilft nicht.
Die weiterhin unterschiedliche Besoldung in Ost undWest wirkt sich zunehmend gegen die Idee von der Armeeder Einheit aus. Ich habe an anderer Stelle schon einmalgesagt – ich wiederhole es hier vor dem Plenum des Deut-schen Bundestages –: Ich werde das Thema immer wiederansprechen, bis es gelöst ist.
Der Zustand von Truppenunterkünften und Küchen imWesten verschlechtert sich weiter. Die Material- und Er-satzteillage bleibt ein Dauerbrenner, auch wenn sie nachunseren Feststellungen nicht so kritisch ist, wie manchmalbehauptet wird. Manche Geräte sind aber tatsächlich älterals manche Soldaten. Die diesbezügliche Ersatzteillage istentsprechend.
Nach wie vor bestehen Ungewissheiten über diezukünftigen Verwendungen aus Anlass der Bundeswehr-strukturreform.„Bundeswehr im Einsatz“ bedeutet die Einhaltunghoher Qualitätsstandards für die eingesetzten Truppen-teile und Soldaten. An dieser Stelle muss einmal gesagtwerden dürfen, und zwar auch durch den Wehrbeauftrag-ten: Ein lückenlos positives Bild gibt die Bundeswehrauch insoweit nicht ab. Wie denn auch? Es gibt gravie-rende infrastrukturelle Mängel im Feldlager Rajlovac imSFOR-Einsatz, die hoffentlich demnächst mit Begleitungdes Parlaments beseitigt werden.
Es gibt einzelne Unzulänglichkeiten bei Sicherheitsvor-kehrungen zugunsten von Soldaten in Kabul. Damitsind nicht nur Umstände bei der Entschärfung vonSprengkörpern gemeint. Es gibt Mängel bei der klima-gerechten Ausstattung von Schnellbooten am Horn vonAfrika.Aus der Sicht von Soldaten sind folgende Sachverhalteim Auslandseinsatz besonders belastend:Erstens. Die Kontingentdauer von sechs Monaten istfür die Soldaten ein wichtiges Thema geblieben. Das giltinsbesondere für Soldaten mit jungen Familien und nochjungen Partnerschaften. Die diesbezüglichen Belastungenwerden dadurch verstärkt, dass die zugesagte einsatzfreieZeit von zwei Jahren nicht durchweg eingehalten werdenkann.
Außerdem kritisieren Soldaten, dass sie im Anschluss anihren Einsatz nicht die angekündigte Übungspause vonsechs Monaten gehabt hätten.Zweitens. Wiederholt gab es Unsicherheiten über denEinsatzbeginn – mit besonders negativen Auswirkungenzum Jahreswechsel. Auch ließen diesbezügliche Informa-tionen zu wünschen übrig.Drittens spreche ich den Auslandsverwendungszu-schlag an. Die Höhe dieses Zuschlages für den Einsatz amHorn von Afrika wird scharf kritisiert. Der Einsatz findetin einer der heißesten Zonen der Welt mit extrem hoherLuftfeuchtigkeit statt.Viertens. Die administrative Überprüfung der Höhe desAuslandsverwendungszuschlages mit der Möglichkeit derHerabsetzung in einer besonders kritischen Zeit beim Ein-satz in Mazedonien stieß auf völliges Unverständnis.Letztens. Das Fehlen einer politischen Perspektive beilängeren Einsätzen nährt Zweifel an deren weiteren Sinn.Die Soldaten sind zu Recht, so meine ich, der Überzeu-gung, dass militärisches und humanitäres Engagementeine fehlende politische Perspektive nicht ersetzen kann.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Zahl derbesonderen Vorkommnisse mit Verdacht auf rechtsex-tremistischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund ent-spricht in etwa der des Vorjahres. Im Berichtsjahr warenes 186 gegenüber 196 im Vorjahr. Es handelt sich durchwegum Äußerungsdelikte ohne – das betone ich – begleitendeGewaltanwendung wie entsprechende Schmierereien, dasHören und Verbreiten von Musik mit rechtsextremisti-schen und fremdenfeindlichen Texten und das Grölen na-zistischer Grußformeln. Verstöße gegen das Betäubungs-mittelgesetz sind mit 1 444 gegenüber 1 544 im Vorjahrleicht rückläufig.Abschließend ein Wort, gewissermaßen in eigenerSache: Der Zugang zum Intranet – ein Thema, das unsauch letztes Jahr beschäftigt hat – ist jetzt auch dem Wehr-beauftragten möglich,
verbrieft durch ein Schreiben des Bundesministers derVerteidigung vom 22. März 2002. Der Wehrbeauftragteist damit wieder auf gleicher Augenhöhe mit der Militär-seelsorge; diese hat einen entsprechenden Zugang. Wenndas kein Fortschritt ist!Vielen Dank für die Geduld.
Nun eröffneich die Aussprache über den Bericht und gebe das Wort
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner23001
dem Kollegen Bernd Siebert für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr WehrbeauftragterDr. Penner, Sie haben soeben in Ihrer Rede, aber insbe-sondere auch in Ihrem Bericht für das Jahr 2001 genausowie im vergangenen Jahr auf eine ganze Menge von De-fiziten in der Bundeswehr hingewiesen, ja hinweisenmüssen. Ich will Ihnen an dieser Stelle ganz persönlich fürdie Offenheit Ihrer Worte danken und bitte Sie, diesenDank meiner Fraktion für die Erarbeitung des Berichtesauch an Ihre Mitarbeiter weiterzugeben.
– Mitarbeiterinnen selbstverständlich auch, Herr KollegeTappe.Trotz meines Lobes für Ihre offenen Worte und Ihrerdeutlichen Kritik zu einigen Punkten, die wir eben klargehört haben, wäre ich zufriedener gewesen, wenn SieIhre realitätsbezogenen und kritischen Darlegungen auchauf den Gesamtzustand der Bundeswehr ausgeweitet hät-ten.
Sie sind als Wehrbeauftragter dem gesamten DeutschenBundestag verantwortlich; Ihre bisherige Arbeit hat diesauch bewiesen. Ihre kritischen Formulierungen eben ma-chen deutlich, dass Sie als Sozialdemokrat hier so wie wirauch Defizite sehen. Aber die Realität stellt sich in eini-gen Punkten vielleicht noch schlimmer dar, als sie ebenbeschrieben worden ist.Bei meinen kurzen Bewertungen werde ich nicht nurauf den hier vorliegenden Jahresbericht 2001, sondernauch auf den Jahresbericht 2001 des Beauftragten für Er-ziehung und Ausbildung beim Generalinspekteur, näm-lich den Bericht des Brigadegenerals Löchel, eingehen.
Ich werde zusätzliche Informationen aus der Komman-deurstagung der vergangenen Woche einbeziehen undmeine persönlichen Informationen aus zahlreichen Besu-chen bei der Truppe in die Bewertung einfließen lassen.
Drei wesentliche Punkte sind nach Ihrem Bericht fest-zuhalten: Erstens. Die Lage der Bundeswehr ist schlim-mer, als es die politische Führung wahrhaben will und alssie der Öffentlichkeit vorzugaukeln versucht.
Zweitens. Die Soldaten sind verunsicherter als je zuvor.Drittens. Trotz dieser beiden Sachverhalte schaffen es dieeinzelnen Soldaten und die einzelnen militärischen Füh-rer immer wieder, durch ihre beispielhafte Leistungs-bereitschaft und durch Improvisation ihre konkreten Auf-gaben zu meistern.
– Dies hat der Wehrbeauftragte eben sogar so formuliert.Trotz Ihrer deutlichen Worte beschreibt der schon er-wähnte Bericht des Beauftragten für Erziehung undAusbildung, der in der Öffentlichkeit intensiv diskutiertworden ist, noch wesentlich deutlicher die Stimmung inder Truppe. Ich zitiere deshalb:Die Truppe steht nicht mehr vorbehaltlos hinter dermilitärischen Führung.
Geglaubt wird dem Führer, der durch seine persönlichePräsenz vor Ort greifbar für die Männer ist. Der politi-schen Leitung wird mit starken Vorbehalten begegnet.Treffender kann man die Stimmung in der Truppe, diemeinen Kollegen und mir auch bei zahlreichen Besuchenvon und Gesprächen mit Soldaten deutlich beschriebenwurde, nicht darstellen. Das wissen Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Sozialdemokraten, genauso, dennSie haben die gleiche Informationsbasis.Dies alles ist ein Armutszeugnis für die politischeFührung, aber auch für die Führung der Bundeswehr ins-gesamt.DieUrsachen für die Lage der Bundeswehr lassen sichneben anderen Faktoren sehr leicht ausmachen: erstens derWandel von einer reinen Verteidigungsarmee zu Streit-kräften, die im Rahmen friedensbewahrender oder frie-densschaffender Maßnahmen zunehmend auch im Auslandeingesetzt werden, und zweitens eine dramatische Unter-finanzierung unserer Streitkräfte, die allein Sie zu verant-worten haben. Ich hätte Herrn Minister Scharping an die-ser Stelle gern persönlich angesprochen, wenn er beidiesem wichtigen Bericht heute anwesend gewesen wäre.
Was unsere Soldaten und Zivilbediensteten unter denderzeitigen Bedingungen im Ausland, aber auch in derHeimat zu leisten in der Lage sind, kann gar nicht hochgenug eingeschätzt werden. Dafür gebührt jedem einzel-nen Soldaten und Zivilbediensteten unser aller Dank undAnerkennung.
Ist es aber wirklich Dank und Anerkennung, wenn denin Bosnien, Mazedonien und im Kosovo eingesetztenSoldaten zum 1. Juli 2002 der Auslandsverwendungs-zuschlag gekürzt wird, nachdem man in dieser Legisla-turperiode bereits die Stehzeit für den Einsatz der Solda-ten von vier Monaten auf sechs Monate verlängert hat?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters23002
Dies empfinden die Soldaten im Einsatz als Unver-schämtheit. Es beeinträchtigt natürlich die Motivationunserer Soldaten in den Auslandseinsätzen. Konsequen-terweise wird das Problem in aller Deutlichkeit – wir ha-ben es eben vom Wehrbeauftragten gehört – dargestellt.Die Zeit verbietet es mir, hier weitere Einzelpunktedarzustellen. Ich will sie nur stichwortartig nennen;
wir werden im Verteidigungsausschuss sicherlich weiterdarüber diskutieren. Die Punkte sind: Nichteinhaltung derangekündigten Übungspause nach einem Auslandsein-satz, gerechtfertigte Bemängelung der Unterbringung derSoldaten im Einsatz – der Wehrbeauftragte hat darauf hin-gewiesen –, Finanzierung der Betreuungseinrichtungenim Einsatz; sie werden teilweise von den Soldaten selbstfinanziert anstatt von der Bundeswehr. Die Einsatz-medaille, die wir alle für richtig gehalten haben, wird nurverzögert den eingesetzten Soldaten verliehen.Ich will an dieser Stelle meine Aufzählung beenden.Wir werden, wie gesagt, sicherlich noch das eine oder an-dere im Verteidigungsausschuss und in der zweiten unddritten Lesung vertiefen.Die dargestellten Fälle sind Auswüchse, die allein aufder Unterfinanzierung der Bundeswehr gründen. Auchdieser Bericht des Wehrbeauftragten beweist: Die Mate-rial- und Ersatzteillage, die Unterbringung unserer Solda-ten und die Infrastruktur in den Kasernen sind in vielenFällen katastrophal; die Tendenz ist steigend. Aufgrundfehlender Finanzmittel kann allenthalben nur noch impro-visiert werden. Geplante Verbesserungen der Infrastrukturin den Kasernen werden zeitlich immer weiter nach hintenverschoben. Dies ist nicht nur ein Schreckensgebilde derOpposition, sondern dies ist in der vorigen Woche bei derKommandeurstagung in Hannover sehr deutlich gewor-den, als die militärischen Führer ihre kritischen Positio-nen auch Bundesverteidigungsminister Scharping darge-stellt haben.Darüber hinaus gibt es erhebliche Zweifel an ScharpingsAnsicht, dass die geplanten Privatisierungen und Erlöseaus dem Verkauf von Liegenschaften und Material dienotwendigen Mittel zur Modernisierung freisetzen. Wennwir uns die Haushaltsabfolge 2001 und 2002 anschauen,stellen wir fest, dass die kritische Haltung, die wir hatten,bestätigt worden ist.Scharpings Reform der Streitkräfte ist wegen der dra-matischen Unterfinanzierung der Bundeswehr geschei-tert. Diese Bundesregierung sieht in der Bundeswehr seit1998 leider nur eine finanzielle Verfügungsmasse.Für unser Land und die Bundeswehr entsteht ein großerSchaden, wenn die so genannte Reform der Bundeswehrnicht korrigiert wird und die Finanzausstattung nichtdeutlich verbessert wird.
Hierzu ist ein neues Gesamtkonzept erforderlich, das dieOrganisation der inneren und äußeren Sicherheit unterBeibehaltung der Wehrpflicht miteinander verbindet.Dazu sind Sie nicht mehr in der Lage. Dies werden wirnach dem 22. September verwirklichen müssen.Herzlichen Dank.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Wehrbeauf-tragter! Herr Kollege Siebert, ich hatte bei Ihren Aus-führungen das Gefühl, dass ich in den 16 Jahren vor 1998in einem anderen Land gelebt habe.
Denn der Zustand, den sie geschildert haben, ist mitnichtendurch Sozialdemokraten, sondern durch Ihre Regierungherbeigeführt worden. Es ist unglaublich, dass Sie hier denBericht des Wehrbeauftragten zum Anlass nehmen, um Ihrepolemische Kritik vorzutragen und um sich nicht auf dasbeziehen zu müssen, worum es heute wirklich geht.
Ich will aber auch ganz deutlich sagen: Es liegt natür-lich in der Natur der Sache, dass der Bericht des Wehr-beauftragten – wer wollte das bestreiten? – kein bloßerZustandsbericht ist. Hier werden ganz bewusst Mängeldargestellt.
Dieser Bericht ist eben nicht schöngefärbt, sondern ernimmt die Soldatinnen und Soldaten ernst. Ich möchtemich daher an dieser Stelle ganz ausdrücklich bei demHerrn Wehrbeauftragten für diesen offenen und detaillier-ten Bericht bedanken.
Wir kennen natürlich aus unserer Arbeit – auch das istuns nicht neu – die Sorgen und Klagen der Soldatinnenund Soldaten gut.
Aber erst durch den Bericht des Wehrbeauftragten, derwesentlich auf Eingaben der Betroffenen sowie auf Besu-chen des Wehrbeauftragten in der Truppe beruht, werdendiese Mängel öffentlich. Man kann es gar nicht oft genugsagen: Im internationalen Vergleich ist die Institution desWehrbeauftragten einzigartig. Sie gewährt unseren Solda-ten eine ganz wichtige Rechtsschutzgarantie.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Bernd Siebert23003
Bei allen Mängeln bleibt als erstes festzuhalten, dass esim Jahre 2001 weniger Beschwerden gab als im Vorjahr.Das heißt, die rückläufige Tendenz bei den Eingaben setztsich fort. Ich sage ganz deutlich: Wir reden hier über denBericht aus dem Jahr 2001. Seit dem – das wissen auchSie – hat sich die Situation der Bundeswehr noch einmalentscheidend verändert.
Durch zusätzliche Auslandseinsätze sind alle Kapazitä-ten gebunden. Es ist keine Frage, dass die Bundeswehr inihren derzeitigen Strukturen an der Grenze ihrer Belast-barkeit angelangt ist.
Trotzdem erfüllt die Bundeswehr ihre schwierigen Auf-gaben – auch das sagt der Bericht sehr deutlich – mit ei-nem bemerkenswert hohen Qualitätsstandard. Das ist hof-fentlich unumstritten.Der größte Konzern in Deutschland steht vor großenHerausforderungen, die er nicht im Schnelldurchgang vonheute auf morgen bewältigen kann. Aber das Entschei-dende ist doch – Herr Siebert, jetzt hören Sie einmal zu –,dass Sozialdemokraten diese Reform angepackt habenund die Bundeswehr auf ihre neuen Aufgaben hinsichtlichder Struktur und der Ausrüstung ausgerichtet haben.
Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität und Initia-tiven zur Qualifizierung werden gerade umgesetzt. DieGrundlagen bilden das 6. Besoldungsänderungsgesetzund das Gesetz zur Neuausrichtung der Bundeswehr.Diese Gesetze sind seit dem 1. Januar 2002 in Kraft. Dasist wichtig im Hinblick auf die Nachwuchsgewinnung.In diesem Bereich haben wir ein Problem; da müssen wiretwas tun. Wir handeln dementsprechend. Dazu will icheinige Beispiele nennen:Erstens. Wir haben die Eingangsbesoldung nach A 3angehoben. Bisher lag sie zwischen A 1 und A 2.
– Ich wollte das ebenfalls sagen: Das haben Sie nicht hin-bekommen.
Die Bundeswehr schafft damit neue Perspektiven für dieLaufbahnen und neue Aufstiegschancen.Zweitens. Zur Umsetzung der Besoldungs- und Struk-turverbesserungen werden zusätzliche Planstellen imHaushalt bewilligt.Drittens. Es wurde mit mehr als 100 Handwerks- bzw.Industrie- und Handelskammern eine umfangreiche Ini-tiative zur Qualifizierung gestartet.
Das ist im Hinblick darauf, dass junge Menschen nachihrem Dienst in der Bundeswehr in beruflicher Hinsichteine Perspektive haben, ganz wichtig.
Auch wir können nicht zaubern. Wer wollte das leug-nen? Das verlangt auch niemand. Die Umsetzung von Ge-setzen, die gerade in Kraft getreten sind, benötigt Zeit;Reformen – das wissen auch die Kolleginnen und Kolle-gen von der Opposition – können erst in einigen Jahrengreifen. Wenn wir uns im Verteidigungsausschuss ernst-haft darüber unterhalten, dann bestreiten auch Sie dasnicht. Deswegen ist Ihre heutige Kritik überzogen undmaßlos.
Die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf istdurch zahlreiche Wegmarken gekennzeichnet; auf einigebin ich bereits eingegangen. Zwei, drei Punkte möchte ichnoch nennen: Bereits im Dezember 1999 ist mit der Wirt-schaft der Rahmenvertrag „Innovation, Investition undWirtschaftlichkeit in der Bundeswehr“ mit mehr als600 Partnerunternehmen abgeschlossen worden.
Im August 2000 ist die Gesellschaft für Entwicklung, Be-schaffung und Betrieb gegründet worden. Das alles istdoch kein Selbstzweck. Wir tun das doch nicht deshalb,weil wir so gerne experimentieren. Wir tun das vielmehrim Sinne der Soldatinnen und Soldaten. So erhalten wirMittel, die wir auf andere Weise nicht erwirtschaften kön-nen.
Die Reform ist auf einem guten Weg. Wir können inden kommenden Jahren erhebliche Mittel einsparen, umdaraus die Mittel zu gewinnen, die wir für die dringendbenötigten Investitionen einsetzen können.Ich habe Ihnen einige Punkte genannt, die im Berichtdes Wehrbeauftragten Gegenstand der Unzufriedenheitwaren. Zusammenfassend will ich aber sagen: Die Bun-deswehr wird von Grund auf erneuert. Sie investiert ziel-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Ulrike Merten23004
gerichtet in Menschen, Ausrüstung sowie in Maßnahmenzur Steigerung von Wirtschaftlichkeit und Effizienz.
Das bedeutet für die Menschen: Etwa 42 000 Soldatenkönnen im Jahre 2002 mit Beförderung oder Besoldungs-verbesserungen rechnen. Für die Ausrüstung heißt daskonkret: Seit Ende 1998 sind Verträge über Rüstungsin-vestitionen in Höhe von fast 23 Milliarden DM abge-schlossen worden. Das ist eine ganze Menge.Was ich in meinen Ausführungen habe sagen wollen,ist Folgendes: Es gibt Probleme, Schwierigkeiten undauch Unzufriedenheiten; wer wollte das leugnen. Nichtalle werden wir kurzfristig beheben können. Aber ebensorichtig ist, dass wesentliche Themenfelder, die jetzt Grundfür Unzufriedenheit sind und in dem Bericht angespro-chen worden sind, in die laufenden Maßnahmen ein-fließen. Dann wird hoffentlich in naher Zukunft derGrund für solche Unzufriedenheiten behoben sein.
Ich finde, das sollte man berücksichtigen. Zudem solltenSie zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren.Herzlichen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hildebrecht Braun von der FDP-
Fraktion.
Wertes Präsi-dium! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir spre-chen heute nicht über irgendein Thema, sondern über dieinnere Befindlichkeit der Bundeswehr. Wer ist wiedernicht anwesend? Der Herr Bundesverteidigungsminister.
Wir sollten ihm einmal eine Ansichtskarte aus dem deut-schen Parlament schicken und ihm mitteilen: Hier wirdüber die Situation unserer Soldaten gesprochen.
Wir erwarten, dass er anwesend ist und mit uns über dieSituation der Soldaten in der Bundeswehr diskutiert.
Fünf Anmerkungen will ich zum Bericht des Wehrbe-auftragten machen.Erstens. Ich freue mich sehr, dass Besuchergruppen ausdem In- und Ausland in großer Zahl das Büro des Wehr-beauftragten aufsuchen und sich dort über seine Arbeitund über die Situation der Bundeswehr informieren. Be-sonders freue ich mich über die Besucher aus den Staaten,die früher zum Warschauer Pakt gehörten. Sie habengroßes Interesse an der Institution des Wehrbeauftragten,weil sie die Notwendigkeit sehen, dass ihre Wehrpflicht-armeen das, was Gorbatschow ehemals Glasnost nannte,nämlich die Auseinandersetzung und den offenen Um-gang mit den Missständen im eigenen Bereich, dringendnötig haben. Denn niemand sorgt effizienter für die Ein-haltung der Menschenrechte und der Grundsätze der in-neren Führung als der Wehrbeauftragte.Zweitens. Im Jahresbericht des Wehrbeauftragten wirdschonungslos auf Unzulänglichkeiten und Missstände inden Streitkräften hingewiesen. Angeführt wird auch dasBeispiel der Fernmeldeschule Feldafing, ohne dass Sie esbeim Namen genannt hätten. Dort wurde bei der Veröffent-lichung der Planung der Bundeswehr am 31. Januar 2001mitgeteilt, dass die Fernmeldeschule am Ort bleibe, ja so-gar aufwachse – oder auf Hochdeutsch: vergrößert werde.Dann hat wohl jemand dem Minister einige Dummheitenins Ohr geflüstert. Denn 14 Tage später wurde entschie-den: Die Schule wird verlegt – wie es wörtlich heißt: ir-gendwohin in Bayern.
Noch immer ist nicht entschieden, ob sie wegkommtund, wenn ja, wohin. Ich danke Ihnen, Herr Penner, dassSie diesen Beschluss und seine Auswirkungen aufgegrif-fen haben. Eineinviertel Jahre nach dem damaligen unse-ligen Beschluss gibt es noch keine Klarheit. Ich hoffe, dassder Bundesverteidigungsminister einmal Souveränität zei-gen und den damaligen Beschluss rückgängig machenwird. Jeder weiß, dass der Verbleib am Ort mindestens100 Millionen DM – oder 50 Millionen Euro – Steuergel-der billiger ist, als die Verlegung an einen anderen Ort.Geld sparen und Mitarbeitern der Bundeswehr und ihrenFamilien einen Zwangsumzug mit Verlust der Jobs derEhefrauen, mit Schulwechsel für die Kinder und mit Ver-lust des Familienheims zu ersparen, das wäre wahrhafteine gute Sache. Herr Scharping, zeigen Sie einmalGröße, indem Sie einen Fehler korrigieren!
Drittens. Im Bericht kritisiert der Wehrbeauftragte dieeine oder andere disziplinare Entscheidung. Völlig un-kommentiert berichtet er von einem Vorgang, der abernicht unkommentiert bleiben darf. Im Kapitel über dieFrauen in den Streitkräften heißt es wörtlich:Ein Zugführer forderte einen weiblichen Sanitätssol-daten– Sie hätten schreiben können: eine Soldatin –auf, einen Soldaten oral zu befriedigen. Dieser könnehinterher berichten, wie es gewesen sei. Im Rahmendes disziplinaren Ermittlungsverfahrens ergab sich,dass der Zugführer auch eine andere Soldatin unmiss-verständlich zum Geschlechtsverkehr aufgefordert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Ulrike Merten23005
hatte. Gegen den Zugführer wurde eine Disziplinar-buße von– sage und schreibe –1 000 DM auf Bewährung verhängt.Herr Penner, das kann es ja wohl nicht gewesen sein.Die Macht eines Vorgesetzten bei der Bundeswehr ist un-gleich größer als die eines Vorgesetzten in einem zivilenBeschäftigungsverhältnis. Das Prinzip Befehl und Gehor-sam zeichnet die Beziehung zwischen Vorgesetzten undUntergebenen in den Streitkräften aus. Wer einer Auffor-derung – wie es in dem Bericht heißt – nicht Folge leistet,muss mit Problemen rechnen. Ich halte die disziplinare Re-aktion auf diesen Vorfall für völlig unzureichend. 1 000DMund dann auch noch zur Bewährung ausgesetzt – da wirdein gravierender Eingriff in die sexuelle Selbstbestim-mung als Lappalie abgetan. Ich will wissen, ob der Zug-führer noch Angehöriger der Bundeswehr ist. Ich will wei-ter wissen, ob Strafanzeige erstattet wurde und, wenn ja– wovon ich ausgehe –, welchen Verlauf das Strafverfah-ren genommen hat. Es ist völlig unakzeptabel, wenn jungeFrauen, die zur Bundeswehr gehen wollen, durch diesenBericht den Eindruck bekommen müssen, sie würden dortsexuelles Freiwild werden. Das kann nicht sein. Bittekümmern Sie sich darum, Herr Penner.
Sie sprechen viertens das Thema Gesundheitsbeschä-digungen von sehr vielen Soldaten durch Radarstrahlenan. Nach meinem Dafürhalten zeigen Sie viel zu viel Ver-ständnis für eine Bundeswehrverwaltung, die statt der vomMinister versprochenen großzügigen Behandlung und Be-wertung der Vorgänge in unerträglicher Weise mauert.Wenn von über 2 000 gemeldeten Fällen bisher, seit Be-kanntwerden dieser Problematik, nur vier anerkannt wur-den, dann riecht das sehr nach einem Skandal.
Ich habe vor eineinhalb Jahren gefordert, dass in die-sen Fällen eine Umkehr der Beweislast eintreten müsse.Nicht der an Krebs erkrankte Radarsoldat – er kann inzwi-schen verstorben sein – oder seine Witwe sollen beweisenmüssen, dass die Radarstrahlen zur Krebserkrankung ge-führt haben, sondern die Bundeswehr soll beweisen, dassdies nicht der Fall war.
Die Soldaten mit ihren zum Teil gravierenden Schäden al-lein zu lassen und ihnen mit auf den Weg zu geben, siemüssten eben einwandfrei nachweisen, dass die Erkran-kung durch ihre Tätigkeit als Radarsoldaten verursachtworden sei, dass die Bundeswehr hier Fehler gemachthabe und dass die Soldaten selbst alle Schutzvorschrifteneingehalten hätten, wird dem schlimmen Sachverhaltnicht gerecht.
Fünftens. Lassen Sie mich abschließend von einemFall berichten, der im Bericht des Wehrbeauftragten nichtenthalten ist, der aber leider nicht als untypisch bezeich-net werden kann. Ein Bataillonskommandeur, der inBosnien eingesetzt war, sah die Unterversorgung der ein-heimischen Kinder mit Spielplätzen. Er wollte Abhilfeschaffen und schaffte es tatsächlich, in Deutschland einenagelneue Ausstattung für einen Kinderspielplatz im Wertvon 18 000 DM zu organisieren. Er fand auch eine Spedi-tion, die diese Spielplatzeinrichtung kostenlos nach Bos-nien transportierte.Daraufhin wurde er vom Kommandanten des amerika-nischen Headquarters in Sarajevo eingeladen, bei derÜbergabe des Spielplatzes persönlich anwesend zu sein.Er fand die Gelegenheit, mit einem NATO-Shuttle nachBosnien zu fliegen; wohlgemerkt: 40 Plätze blieben imFlieger frei. Er machte aber den Fehler, sich in seinemDienstfahrzeug zum Flugplatz fahren und auch wieder ab-holen zu lassen. Er trat in Sarajevo in Uniform auf, um zuzeigen, dass die Bundeswehr hinter diesem Geschenk andie Kinder steht. All das führte zu Ärger ohne Ende.Dieser Soldat trug durch sein persönliches Engage-ment dazu bei, dass die Beziehung der Bevölkerung zurdeutschen Bundeswehr in geradezu vorbildlicher Weisegefördert wurde. Hätte er sich eine Dienstreisegenehmi-gung beschafft – die ihm wohl jederzeit gegeben wordenwäre – wäre alles in bester Ordnung. Dass eine solche nichtvorlag, mag auch mit einer Rüge geahndet werden, abereine Versetzung von seinem Dienstposten und die Einlei-tung eines Verfahrens im August 2001 ohne Entscheidungbis heute sind nicht in Ordnung.Wir sollten solche Vorbilder der Bundeswehr ermuti-gen und sie nicht durch Verfahren entmutigen, wie es indiesem Fall geschehen ist.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lie-ber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirals Deutscher Bundestag sind, glaube ich, zu Recht stolzauf die Institution des Wehrbeauftragten. Jedes Jahr dan-ken wir dem Amtsinhaber und seinen Mitarbeitern – soauch dieses Jahr – voller Überzeugung für ihre Arbeit.Die Institution des Wehrbeauftragten ist beispielhaftfür eine Haltung kritischer Loyalität und konstruktiverKritik. Von daher haben wir ein besonderes Interesse anguten Arbeitsbedingungen des Wehrbeauftragten. Ichdenke, wir alle müssen mit Missfallen wiederum zurKenntnis nehmen, dass Überprüfungsersuchen des Wehr-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Hildebrecht Braun
23006
beauftragten weiterhin gelegentlich fehlerhaft und verzö-gert bearbeitet werden.An dieser Stelle wollte ich auf den bisherigen Aus-schluss des Wehrbeauftragten vom Intranet der Bundes-wehr eingehen. Zum Glück hat sich dieses Problem endlichgelöst. Der erstgenannte Mangel muss jedoch unbedingtabgestellt werden.Der Bericht des Wehrbeauftragten – das wissen wiroder sollten wir zumindest wissen – ist ein Mängelbericht,der nicht beansprucht, ein Gesamtbild der inneren Lageder Bundeswehr zu zeichnen. Umso wichtiger ist deshalbdie eindeutige Feststellung in diesem Bericht:Die Bundeswehr duldet rechtsextremistisches undfremdenfeindliches Verhalten nicht und geht dage-gen konsequent vor.Das können längst nicht alle Institutionen unserer Gesell-schaft so von sich behaupten.Seit Anfang des letzten Jahres sind alle Verwendungenund Laufbahnen grundsätzlich für Frauen zugänglich. DerBericht des Wehrbeauftragten bringt in diesem Zusam-menhang zwei Anregungen, die von uns intensiver – überdiese Stunde hinaus – verfolgt werden sollten.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nurin der zivilen Gesellschaft eine ganz zentrale Herausfor-derung, auch in den Streitkräften gewinnt diese Frage einimmer stärkeres Gewicht. Der Wehrbeauftragte regt an,die Möglichkeit von Teilzeitregelungen unter Berück-sichtigung der Einsatzbereitschaft und der Gleichbehand-lung der Soldaten genauer zu prüfen.Etliche Frauen fühlten sich durch die Wehrdienstbera-ter nur unzureichend über die Anforderungen des Solda-tenberufs und den Truppenalltag informiert. Diese Erfah-rung liegt in einer Linie mit den Erkenntnissen, die imBericht des Beauftragten für Erziehung und Ausbildungbeim Generalinspekteur, dem vorhin schon angesproche-nen Löchel-Bericht, zum Ausdruck kommen, wonach man-che Bewerber „völlig falsche Vorstellungen“ hätten und dieArbeit der Kreiswehrersatzämter und Zentren für Nach-wuchsgewinnung unter Bundeswehrangehörigen hart kriti-siert wird.Der Wehrbeauftragtenbericht gibt den Wunsch vonFrauen wieder, die Bundeswehr zunächst einmal unver-bindlich über eine Art Praktikum kennen lernen zu können.Diese Anregung trifft sich mit den immer stärker werden-den Forderungen von Bundeswehrangehörigen, vor allemauch die Innenwerbung der Bundeswehr zu verbessern, fürdie zufriedene Mitarbeiter die besten Werbeträger sind.Es gibt – wenn wir ehrlich sind – in der Bundesrepu-blik bekanntermaßen des Öfteren ein Jammern auf hohemNiveau. Auch ist Stimmungsmache aus parteipolitischemInteresse und Medienverkaufsinteresse gang und gäbe.Der Bericht des Wehrbeauftragten und vor allem auch derLöchel-Bericht belegen aber, dass es auch dann, wennman das Obige abzieht, in der Bundeswehr nichtsdesto-weniger verbreitete und vielfältige Unzufriedenheitengibt. Ich nenne dafür Beispiele.Vorhin hat schon der Wehrbeauftragte auf den Berichtdes Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehrhingewiesen, wonach Soldaten im Einsatz ihre unmittel-baren Vorgesetzten überwiegend positiv beurteilen,während gegenüber höheren Vorgesetzten „vielfach eingravierender Vertrauensverlust zu verzeichnen“ sei.
Der Löchel-Bericht fasst die Stimmungslage vonGrundwehrdienstleistenden so zusammen – daran sehenSie, dass das Problem viel weiter geht –: Weiterhin sei derAnteil der Wehrpflichtigen, die ihren Dienst positivsehen, relativ hoch. Allerdings mache sich das fast nur ander Grundausbildung fest. Von den drei Schlüsselfragenzur subjektiven Sinnhaftigkeit des Wehrdienstes – wurdeich gebraucht, wurde ich gut behandelt, konnte ich meineKenntnisse und Lebenserfahrungen einbringen? – konntezu häufig nur die zweite Frage positiv beantwortet wer-den. Hieran sehen Sie – diejenigen, die länger mit derBundeswehr zu tun haben, wissen das genau –, dass diesoffensichtlich ein schon lange bestehendes Problem istund nicht erst in den letzten zwei Jahren entstanden ist.Dies zu behaupten wäre unsinnig.
In demselben Bericht heißt es zu Einheitsführern, dassdiese sich zunehmend aus einer Führungsverantwortung„stehlen“ würden, die ihnen „ad personam“ aufgetragensei. Schließlich heißt es, das Vertrauen zur militärischenFührung sei nicht mehr vorbehaltlos, der politischen Lei-tung werde mit starken Vorbehalten begegnet.Ich muss dazu anmerken, dass in diesen Berichtenkeine Aussage zur Vertrauensstellung von uns, also desParlaments und der Fraktionen, in der Bundeswehr ge-troffen wird. Wir sind aber schlichtweg die Auftraggebervon Auslandseinsätzen.Diese Aspekte zusammen sind nach meiner Auffas-sung äußerst beunruhigende Signale, die wir sehr ernst zunehmen haben. Beschönigungen und Verdrängungen sindgenauso fehl am Platz wie parteipolitische Instrumentali-sierungen und einseitige Schuldzuweisungen.
Ich betone das, auch wenn es angesichts des beginnendenWahlkampfes wahrscheinlich ein frommer Wunsch ist.
Eine letzte Anmerkung zur Wehrpflicht: Das Bundes-verfassungsgericht hat die Pflicht der gesetzgebenden undexekutiven Gewalt betont, die Wehrform zu bestimmenund überzeugend wie plausibel zu begründen. An dieserStelle möchte ich nur auf einen Vorschlag zur allgemeinenDienstpflicht eingehen, der unter anderem von dem Herrn,der sonst hier vorne sitzt, nämlich dem Vorsitzenden derCDU/CSU-Fraktion, gemacht wurde. Dieser immerwieder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Winfried Nachtwei23007
auftauchende Vorschlag ist wirklich rundum undurch-dacht.
Er steht erstens im Widerspruch zum InternationalenRecht. Zweitens würde die Umsetzung dieses Vorschlagsmehrere Hunderttausend Einsatzplätze im Jahr erfordern,was selbstverständlich nicht arbeitsmarktneutral durchzu-führen wäre. Die Folge davon wäre eine breite Entprofes-sionalisierung vor allem im sozialen Bereich. Es würdeden Bund einige Milliarden mehr kosten. Und schließlich:Wer einen allgemeinen Pflichtdienst erwägt, sollte sichzunächst einmal die Situation von freiwilligen Dienstenansehen.Tatsache ist, dass sich bisher pro Jahr erheblich mehrjunge Leute für den freiwilligen sozialen Dienst melden,als aufgenommen werden können. Eine selbstverständli-che Aufgabe in unserer demokratischen Gesellschaft ist,zunächst einmal die freiwilligen Potenziale in der Gesell-schaft zu fördern, wozu wir jetzt einen wichtigen gesetz-lichen Schritt gemacht haben. Darauf kommt es an undnicht darauf, als erstes auf Pflichtdienste zu setzen.Ich fasse zusammen: Die politische Debatte um dieWehrpflicht wird selbstverständlich weitergehen. Lassenwir aber bitte die Idee der allgemeinen Dienstpflicht bei-seite. Ansonsten würden wir nur in eine Sackgasse geraten.Alle Wohlfahrtsverbände, die davon ein bisschen mehrverstehen, sagen seit vielen Jahren, dass das Unsinn wäre.Danke schön.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Heidi Lippmann von der PDS-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Lieber Herr Penner, ich möchte Ihnenganz herzlich für den vorliegenden Bericht und für Ihreheute gehaltene Rede danken. Das Gleiche gilt auch fürIhre Mitarbeiter, die Sie bei der Erstellung des Berichtsunterstützt haben.Ich denke, dieser Bericht zeigt mehr denn je, wie sichdie Bundeswehr verändert hat und dass es sich längstnicht mehr um eine Manöverarmee mit dem Auftrag derLandes- und Bündnisverteidigung handelt, sondern umeine Armee mit vielfältigen Einsätzen. Das geht hin bis zuden Kampfeinsätzen, die die KSK seit Ende letzten Jah-res in Afghanistan durchführt.Sie haben richtig bemerkt, dass die Soldaten den man-gelnden Primat der Politik immer mehr kritisieren. Dieserwird als sehr fragwürdig angesehen. Viele Soldaten be-trachten ihren Einsatz sogar als sinnlos. Zum einen wirdmoniert, dass bei den Einsätzen keine politischen Lösun-gen erkennbar sind, und zum anderen, dass es insbeson-dere an einer Exit-Strategie fehlt.In der „Frankfurter Rundschau“ von heute wird der In-spekteur des Heeres, Herr Generalleutnant Gudera, mitden Worten zitiert, dass die hohe Belastung der Truppezwingend dauerhaft gemildert werden müsse. Das Heersei mit den zugestandenen Kräften, Mitteln und Umfän-gen auf Rand genäht und zum Teil überdehnt. Weiterhinführt Herr Gudera aus – mit seinen Tönen gegenüber demMinister war er ja bisher eher leise –, dass sich die alsgrößer werdend empfundene Schere zwischen Auftragund Mitteln als negativ für die Stimmung auswirke.
Genau darüber muss hier und heute geredet werden.Das habe ich in den Reden der Kolleginnen und Kollegenvermisst. Der Auftrag lautet, immer mehr Auslands- undKampfeinsätze zu leisten. Dieser kann natürlich nicht mitden desolaten Strukturen, die in der Bundeswehr vorhan-den sind, einhergehen.
Wer außen- und sicherheitspolitisch um die Weltmeister-schaft spielen will – das will diese Bundesregierung ganzeindeutig –, die Bundeswehr letztendlich aber gerade ein-mal auf dem Niveau der dritten Kreisklasse ausstattet,sollte sich ernsthaft überlegen, wo er etwas falsch macht.Die PDS fordert nicht die Anhebung der Ausstattungauf das Niveau, das es ermöglichen würde, die sicher-heitspolitische Weltmeisterschaft zu gewinnen,
sondern wir fordern ganz eindeutig, den Auftrag der Bun-deswehr so zu interpretieren, wie er im Grundgesetz ver-ankert ist, das heißt, ihn auf die Landes- und Bündnisver-teidigung zu reduzieren.
Ich denke, die fehlende Anwesenheit des Herrn Minis-ters spricht für sich. Die Soldaten haben sich von der heu-tigen Debatte eine ganze Menge erhofft. Die Defizite, dieder Herr Wehrbeauftragte im Einzelnen angeführt hat, soll-ten offen ausgesprochen werden. An Herrn ScharpingsStelle wäre ich allerdings auch nicht erschienen. Ich denke,dass er sich die schallende Ohrfeige, die Herr Penner ihmversetzt hat, mehr als verdient hat.
Kritik gibt es nicht nur im Bericht des Wehrbeauftrag-ten. Des Weiteren gibt es Kritik vom BEA, von HerrnLöchel, und – wie eben zitiert – von Herr Gudera. Außer-dem haben sich die Kommandeure auf der Komman-deurstagung kritisch geäußert. Ich hoffe nur, dass die Ge-neralität, die bisher schon oft gejammert hat, dass das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Winfried Nachtwei23008
Ende der Fahnenstange erreicht sei, nicht wieder ein-knicken wird, wenn der nächste Auslandseinsatz vor derTür steht. Der Vertrauensverlust innerhalb der Truppekann nur aufgefangen werden, indem der Auftrag derBundeswehr endlich wieder auf die gesetzliche Grund-lage zurückgeführt wird und nicht länger über einen Aus-landseinsatz nach dem anderen nachgedacht wird.Wir fordern ganz klar das, was der Herr Wehrbeauf-tragte angesprochen hat, zwölf Jahre nach der deutschenEinheit endlich die Anpassung der Besoldung in Ostund West vorzunehmen.
Frau Kollegin Merten, Sie haben angeführt, dass seit 199823 Milliarden Euro Neuinvestitionen im Rüstungsbereichgetätigt wurden. Was alles auf der Wunschliste von HerrnScharping steht, wissen wir. 50 Millionen Euro im Jahrwürde die Angleichung, also gleicher Wehrsold in Ost undWest, kosten. Dass Sie dazu zwölf Jahre nach der Einheitnicht bereit sind, bewerten die Soldaten in der Truppedementsprechend.
Das führt natürlich dazu, dass die Nachwuchsgewinnungimmer schwieriger wird.
– Es gibt viele andere Punkte, Herr Kollege Zumkley, dieich noch gerne ansprechen würde.
Zum Schluss möchte ich einen ganz wichtigen Punktansprechen. Statt öffentlich über die Unverfrorenheitnachzudenken, ob und wie Soldaten mit deutschem Ho-heitsabzeichen künftig eventuell bei einem Einsatz imNahen Osten israelischen Soldaten und der israelischenZivilbevölkerung gegenüberstehen oder bei einem An-griff auf den Irak mitwirken sollen, fordern wir Sie ganzklar auf: Ziehen Sie alle Truppen aus der Golfregionzurück! Schaffen Sie mit Beginn der nächsten Legislatur-periode die Wehrpflicht ab! Denken Sie nicht länger überdie Einführung weiterer Zwangsdienste nach!
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz, Herr Prä-
sident.
Setzen Sie sich dafür ein, dass die Soldaten gemäß dem
Auftrag, der im Grundgesetz verankert ist, ausgerüstet sind!
Reduzieren Sie die Bundeswehr auf das Ausmaß, das für
diesen Auftrag erforderlich ist! Dann können Sie die Bun-
deswehr finanziell adäquat ausstatten.
Danke schön.
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Walter Kolbow.
W
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich möchte zunächst dem Herrn Wehr-beauftragten für seinen Bericht, die klare Zielanspracheund seine bewährten Bemühungen im Jahre 2001 sehrherzlich danken. Diesen Dank möchte ich ebenfalls sei-nen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch im Namenvon Bundesminister Scharping aussprechen. Herr Bundes-minister Scharping ist im Zusammenhang mit internatio-nalen Verpflichtungen leider verhindert. Sie können je-doch versichert sein – diejenigen, die mich kennen, wissendas –, dass der Inhalt dieser Debatte den Bundesministerder Verteidigung unmittelbar erreicht.
Der Wehrbeauftragte hat auch im Jahr 2001 eine Reihevon berechtigten Unzulänglichkeiten, individuelles Fehl-verhalten und andere Defizite in seinen Bericht aufneh-men müssen. Aber ich möchte schon darum bitten, dassman diesen Bericht – der, wie Herr Nachtwei zu Recht ge-sagt hat, keine Zustandsbeschreibung der Bundeswehrist – nicht zum politischen Schwarz-Weiß-Malen nutztund auch nicht politisch instrumentalisiert.
Das hat die Opposition im Übrigen heute Morgen beider Debatte zum Parteiengesetz gemacht. Wenn sich dasauch bei objektiven Berichten über Einrichtungen unseresStaates wie ein roter Faden durch Ihr politisches Handelnzieht, ist die Glaubwürdigkeit der Beteiligten ein weiteresMal auf den Prüfstand gestellt.
Ich sage dies auch im Zusammenhang mit den Berich-ten, die wir heute debattieren. Der Kollege Siebert hat hiereinseitige Beurteilungen vorgenommen und sich dabeiunter anderem auch auf den Löchel-Bericht bezogen, derhier eingeführt wurde und ein bewährtes Instrument dermilitärischen Führung ist. Wenn dies medial in der Weisegenutzt wird, dass sich diejenigen, die darauf vertrauen,dass sie sich beschweren können, ohne als Quelle identi-fiziert zu werden, hintergangen fühlen, dann erweisen Sieder inneren Führung in unserem Lande und unseren Sol-datinnen und Soldaten keinen guten Dienst.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Heidi Lippmann23009
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Rechtsetzt der Wehrbeauftagte einen Schwerpunkt beim Einsatz.Dies entspricht den aktuellen Herausforderungen. Zurzeitbefinden sich über 10 000 deutsche Soldatinnen und Sol-daten zusammen mit den Streitkräften unserer Partner imEinsatz. Zu Recht hat der Herr Wehrbeauftragte die Leis-tungen und das Engagement der Soldatinnen und Soldatender Bundeswehr im Einsatz, aber auch hier in Deutsch-land als sehr bemerkenswert herausgestellt und gelobt.Im Zusammenhang mit diesen schwierigen Einsätzen istnatürlich jeder Soldat und jede Soldatin nicht nur berech-tigt, sondern auch von uns aufgefordert, das, was ihm bzw.ihr auffällt und ihn oder sie beschwert, aufzuschreiben unddem Wehrbeauftragten, also dem bewährten Mann für dieseFälle, zu übermitteln, auch wenn es gegenüber dem direktenoder auch indirekten militärischen Führer im Moment nichtopportun erscheint. Deswegen gehe ich davon aus, dass wiruns immer – nicht nur dann, wenn wir uns über einen Be-richt des Wehrbeauftragten unterhalten, sondern auch dann,liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir darüber reden,wie es der Truppe im Einsatz geht – mit solchen Anmer-kungen und wichtigen Beschwerden auseinander setzenwerden. Das gilt natürlich auch für das Jahr 2002.Die Einsätze werden politisch und militärisch ständigüberprüft. Die Belastungen werden nicht nur im Hinblickauf ihre Verhältnismäßigkeit untersucht, sondern es wirdin der Wirklichkeit darauf abgestellt. Es wird von den Sol-datinnen und Soldaten nur das verlangt, was wir aufgrundder politischen Entscheidungen von ihnen auch verlangenmüssen. Bestmögliche Schutzmaßnahmen sind garan-tiert. Im Übrigen habe ich von Herrn Merz und von HerrnGlos nach ihrem Besuch in Afghanistan nicht gehört, dasses dort an Schutzmaßnahmen oder an anderen Dingen fürunsere Soldaten fehle. Das ist gut so.
Herr
Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
W
Immer.
Bitte
schön.
Herr Staatssekretär Kolbow,
sind Sie der Meinung, dass es dem Soldaten, der sich an den
Wehrbeauftragten oder an andere wenden soll, in besonde-
rer Weise Mut macht, sich überhaupt zu äußern, wenn der
Verteidigungsminister nach einer Kommandeurstagung,
auf der Kritik geäußert wurde, Bandmitschnitte abholen
lässt, um sich dann diejenigen vorzunehmen, die kritisiert
haben?
W
Frau Kollegin, ich bin der Mei-
nung, dass die Abläufe einer Kommandeurstagung, die
natürlich auch einen internen Wert haben, so genutzt wer-
den sollen, dass man die Informationen bekommt, die
man braucht. In diesem Falle sind die Dinge auch öffent-
lich überpointiert und überbewertet worden. Schaut man
genau hin, stellt man fest, dass dort nichts Kritisches und
Auffälliges passiert ist.
Herr
Staatssekretär Kolbow, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage der Kollegin Lietz?
W
Ja, bitte schön.
Frau
Lietz, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wenn
Sie es so sehen, dass man eine Kommandeurstagung nur
auf diese Weise im Verteidigungsministerium dokumen-
tieren kann, dann frage ich Sie, ob vom Verteidigungsmi-
nister in der Vergangenheit regelmäßig Bandmitschnitte
solcher Kommandeurstagungen angefordert wurden.
W
Liebe Frau Kollegin, Sie gehenvon der irrigen Annahme aus, dass nur eine Komman-deurstagung die Informationsdichte für den Bundesminis-ter der Verteidigung, die politische Leitung und die mi-litärische Führung herstellt. Wir sind im intensiven Dialogmit allen, die uns Informationen geben können. Deswe-gen wird natürlich auch der Inhalt der Kommandeursta-gung benutzt. Aber dies ist nur eine Möglichkeit unter vie-len, um das richtige Bild über die Lage zu gewinnen.
Das richtige Bild haben wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Auslandsverwen-dungszuschlag, AVZ, wurde ebenso wie die Dauer derAuslandseinsätze angesprochen. Im Hinblick auf den AVZweise ich darauf hin, dass wir durch unsere Besuche natür-lich immer im Dialog mit den Soldaten stehen und mit dermilitärischen Führung zusammenarbeiten. Insoweit müs-sen wir auch auf Anraten der militärischen Führung die po-litische Verantwortung für die Einsatzdauer von sechsMonaten übernehmen. Deshalb musste der DeutscheBundestag den FDP-Antrag hierzu ablehnen.
Wir wissen, dass wir zwar durch Flexibilität und dieAnwendung von Splitting-Verfahren insbesondere in Här-tefällen individuelle Erleichterungen erzielen, dass die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Parl. StaatssekretärWalter Kolbow23010
Überprüfung der Dauer dieser Auslandseinsätze jedocheine ständige Aufgabe ist. Das ist für uns selbstverständ-lich. Lassen Sie uns auch über Ihre Erkenntnisse hierzu imDialog bleiben. Sie wissen, dass dies im Zusammenhangmit unseren internationalen Partnern notwendig ist.Hinsichtlich des Auslandsverwendungszuschlagessind wir darauf angewiesen, Recht und Gesetz sowie dieVerwaltungsregelungen einzuhalten. Auch sollten wir unsdarüber im Klaren sein, dass wegen der Unterschiedlich-keit des individuellen Einsatzortes das Gute der Feind desBesseren ist.
Herr Kol-
lege Kolbow, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Braun?
W
Herr Kollege Braun hat vorhin
zwei Aussagen gemacht, die ich individuell mit ihm erör-
tern möchte.
– Nein, dazu habe ich jetzt keine Lust.
Sie erlau-
ben also keine Zwischenfrage?
W
Nein, weil ich mich mit Ihnen
über zwei Äußerungen in Ihrer Rede auseinander setzen
möchte, auf die ich hier nicht eingehen will. Dies würde
meine Redezeit in empfindlicher Weise tangieren, weil
ich dazu länger bräuchte. Ob Sie mir dann aufgrund der
öffentlichen Situation zu diesem Gespräch zur Verfügung
stehen, weiß ich nicht.
Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Mertens hat
auf die Tatsache hingewiesen, dass wir seit diesem Jahr ein
Attraktivitätsprogramm haben – ich will es auch als Fair-
nessprogramm gegenüber Soldaten bezeichnen –, bei des-
sen Umsetzung wir auf einem guten Weg sind. Wir haben
eine Reihe von Maßnahmen ergriffen; sie sind erwähnt
worden. Ich darf mich inhaltlich voll darauf beziehen.
Die 42 000 Beförderungen, die wir in diesem Jahr vor-
nehmen können, geben eben auch Ihnen von der Opposi-
tion Gelegenheit, dies aufzunehmen, es mit zu vertreten
und sich hierzu zu äußern. Damit können Sie eine Wie-
dergutmachung im Hinblick auf Ihre jahrelangen Ver-
säumnisse betreiben,
als Sie nicht für Attraktivität gesorgt und damit der jetzi-
gen Regierung das hinterlassen haben, was wir mit dieser
Reform von Grund auf zu bewältigen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Ende will
ich mich noch einmal sehr herzlich bei dem Herrn Wehr-
beauftragten bedanken, insbesondere für seine Bewertung
der Öffnung aller Laufbahngruppen für Frauen. Dies
ist ein Meilenstein, mit dem wir sorgfältig umgehen soll-
ten und der uns bei der Erfüllung unserer Aufgaben einen
guten und zusätzlichen Dienst erweist. Auf diesem Weg
wollen wir insgesamt weitergehen, wobei wir die Kritik
an bestimmten Punkten anerkennen, an denen wir arbei-
ten, um sie zu bewältigen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort
hat der Kollege Benno Zierer von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! MeineDamen! Meine Herren! Ich weiß nicht, warum der Hin-weis des Kollegen Siebert auf den Löchel-Bericht denHerrn Parlamentarischen Staatssekretär so in Rage ge-bracht hat.
Ich meine, es war ein gewisser Hilfeschrei, der hier zuvernehmen war. Hierfür ist ein offenes Ohr notwendig. Esgeht nicht darum, diese Dinge unter Verschluss zu brin-gen. Es betrifft schließlich die Befindlichkeit unserer Sol-daten.
Zunächst stelle ich fest, dass der Bericht dem Bundes-tag innerhalb von vier Wochen nach Erscheinen zugelei-tet wurde. Das ist im Vergleich zu den Vorjahren also sehrrechtzeitig erfolgt. Dafür darf ich dem Büro von HerrnDr. Penner und Herrn Ministerialdirigenten Dr. Seidel undseinen Mitarbeitern sehr herzlich danken.
Die Bundeswehr befindet sich, wie eingangs des Berich-tes konstatiert wird, in einer Phase des Umbruchs, und dasseit Jahrzehnten. Mit der deutschen Einheit und dem Endedes Warschauer Paktes kam der ganz große Knall, nämlichdie Abwicklung der Nationalen Volksarmee und die Ver-schmelzung ihrer Reste mit der Bundeswehr, die Truppen-reduzierungen auf 370000, auf 340000, auf 310000 Mannund der Paradigmenwechsel von der Abschreckungs- undTerritorialverteidigungsarmee zur Interventionstruppe mitweltweitem Einsatzhorizont.Genau genommen ist die Bundeswehr seit 20 Jahrennicht mehr zur Ruhe gekommen. Was das für eine Armeebedeutet, muss wohl nicht eigens betont werden: ständigeVerunsicherung, keinerlei Planungssicherheit, Demotiva-tion und Skepsis in der Truppe. Die Soldaten fühlen sichvon der politischen Führung im Stich gelassen. Sie sollenimmer mehr leisten und finden immer weniger Gehör fürdie großen strukturellen Probleme, aber auch für ihre all-täglichen großen und kleinen Sorgen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Parl. StaatssekretärWalter Kolbow23011
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Stand-orte geschlossen, Verbände und Einheiten aufgelöst, zusam-mengelegt oder umgegliedert und Dienststellen abgeschafft.Viele Angehörige der Streitkräfte mussten im Gefolge derständigen Umstrukturierungen ihren Wohnort wechseln,manche sogar mehrmals hintereinander. Oft wurden Trup-penteile oder militärische Einrichtungen zunächst für denErhalt oder sogar für einen Aufwuchs vorgesehen unddann doch plötzlich verringert oder ganz abgebaut. Dasalles hat der Truppe geschadet.Vor diesem Hintergrund muss der Bericht des Wehrbe-auftragten gesehen werden und darum wiegen jede Klageund jede Beschwerde doppelt schwer.
Dazu kommen die chronische Unterfinanzierung und dasFehlen eines verbindlichen, gesellschaftlich geklärtenmilitärischen Leitbildes, das zukunftsorientiert und alsGrundlage für eine mittel- und langfristige Streitkräftepla-nung tauglich ist.Zusammenfassend muss ich feststellen, dass die Bun-desregierung die Bundeswehr sträflich vernachlässigt hat.
– Wir reden von der Zukunft von heute an. Ein Blickzurück bringt uns nicht mehr viel. – Sie hat sich weder umdie Befindlichkeit der Soldaten gekümmert noch darum,wie diese ihren Auftrag erfüllen sollen, wenn es an allenEcken und Enden brennt.
Der Bundesminister der Verteidigung weigert sich, denTatsachen ins Auge zu sehen und faselt,
wie jüngst auf der Kommandeurstagung, von einem gutenZustand der Truppe.Das Versagen der politischen Führung dokumentiertsich auch in der nach wie vor ungelösten Frage, welcheBundeswehr wir wollen. Wie soll eine deutsche Armee derZukunft aussehen?
Welche Aufgaben hat sie zu bewältigen? Welchen Beitragwollen wir im Bündnis leisten? – Meine Damen, meineHerren, wir können diese Fragen nicht länger vor uns her-schieben.Die Frage nach der Wehrform der Zukunft kann auchnicht aus dem Blickwinkel des zivilen Ersatzdienstes be-antwortet werden. Auch die derzeit laufende so genannteStrukturreform, die ohnehin als gescheitert betrachtetwerden darf, formuliert keine Antworten, sondern ver-sucht, sich mit einem kräftigen Sowohl-als-auch daranvorbeizumogeln.Das Reservistenwesen, das anerkanntermaßen ein be-währtes Bindeglied zwischen Armee und Bevölkerungdarstellt und auch gesellschaftspolitisch ein relevanterFaktor ist, bedarf einer Neuausrichtung. Aber die an-gekündigte neue Reservistenkonzeption lässt noch immerauf sich warten.
Auch sie muss sich an der Frage orientieren, welche Bun-deswehr wir für die Zukunft wollen.
– Zurückzuschauen bringt uns nicht viel. Ich habe das vor-hin schon gesagt.Ein weiterer wunder Punkt ist die Material- undErsatzteillage. Der permanente Investitionsstau hat – auchin manchen Kasernen insbesondere im Westteil unseresLandes – zu höchst unerfreulichen Zuständen geführt. Diebaulichen Anlagen sind vielerorts bereits in den Verfallübergegangen.
Die sanitären Verhältnisse spotten in vielen Fällen jederBeschreibung. Ich meine, das ist nicht nur einer modernenArmee, sondern auch unseres ganzen Landes unwürdig.Es ist unerträglich, dass die drittmächtigste Wirtschafts-nation der Erde in ihren Streitkräften teilweise Zuständewie in einem Drittweltland duldet.Nur kurz geht der Bericht auf das Problem der Wehrge-rechtigkeit ein. Dennoch darf ich an dieser Stelle anmer-ken – dies ist eine Tatsache –: Wir alle wissen, dass nur nochein Viertel aller wehrtauglichen jungen Männer tatsächlicheingezogen wird. Tatsache ist auch, dass die Verkürzungdes Wehrdienstes auf neun Monate die Verwendungfähig-keit der Wehrpflichtigen weiter einschränkt und ernst-hafte ökonomische Fragen aufwirft.
Wollen wir uns künftig mit einem „soldier light“ zufrie-den geben? Welchen Dienst soll dieser „soldier light“ ver-sehen? Will man allen Ernstes den seit Gründungszeitenverrufenen Gammeldienst weiterpflegen?Der Bericht stellt viele Mängel fest, die einer Kom-mentierung wert wären, etwa den Beförderungs- undVerwendungsstau oder die Mängel bei der Auszahlungder Auslandsverwendungszulage. Darüber ist schon ge-sprochen worden. Der Bericht vermerkt zwar, dass diePersonalsituation unbefriedigend ist, meidet aber die lo-gische Schlussfolgerung, dass dies auch eine Konsequenzdes lädierten Ansehens unserer Armee und ihrer Einrich-tungen ist. Der Imageverlust der Bundeswehr, den ihr diepolitische Führung durch ihr Versagen zugefügt hat, führt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Benno Zierer23012
dazu, dass sich viele junge Menschen trotz ihrer positivenGrundeinstellung und ihres beruflichen Wunschbildes ge-gen eine Verpflichtung entscheiden.
Denn wer bei einem ersten Informationsbesuch ineiner Kaserne nahezu russische Zustände sowie miserablehygienische und sanitäre Verhältnisse antrifft, der hat– ich darf das einmal ganz salopp sagen – vom Bund dieSchnauze voll.
Herr Kol-
lege Zierer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Frage der Besoldung
ist das eine. Sie ist aber nicht das einzig Wichtige. Ebenso
stimmig müssen Ansehen, Selbstverständnis und inneres
Gefüge der Streitkräfte sein. Ich appelliere daher an alle
Verantwortungsträger: Kümmern Sie sich um Ihre Solda-
ten, ehe Sie sie in alle Winkel der Welt schicken! Geben
Sie der Bundeswehr das, was sie jetzt dringend braucht:
Konsolidierung und ein zukunftsfestes Leitbild! Verzö-
gern Sie nicht länger eine überfällige Wehrreform, die die-
sen Namen auch verdient!
Vielen Dank.
Als letzter
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort
der Kollege Gerhard Neumann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussprache überden Jahresbericht 2001 des Wehrbeauftragten nehme ichzum Anlass, einige meiner persönlichen Gedanken in dieDiskussion einzubringen. Als Thüringer Abgeordneterhabe ich drei Legislaturperioden im Verteidigungsaus-schuss sowohl in der Opposition als auch in der Regie-rungsverantwortung mitgewirkt.
– Danke. – Meine Position zur Bundeswehr ist eindeutig:Die Bundeswehr ist so, wie sie sich entwickelt hat, einewertvolle, unverzichtbare und tragende Stütze unseresLandes.
Ich appelliere an alle Abgeordneten, diese Tradition zupflegen und die Bundeswehr mit kleinkariertem Tagesge-zänk zu verschonen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt wie der ausdem letzten Jahr die inneren Probleme der Bundeswehr ingroßer Sachlichkeit auf. Dafür bedanke ich mich ganzherzlich bei Herrn Penner und seinen Mitarbeitern. SeinBericht unterscheidet sich wohltuend von den Aufgeregt-heiten und den in das Persönliche gehenden Entgleisun-gen Einzelner, die dann genüsslich durch die Medien ver-breitet werden.Der Bericht lässt in seiner Gesamtheit folgende Aussa-gen zu. Erstens. Die Bundeswehr hat im Jahr 2001 ihreAufgaben erfüllt. Die Auslandseinsätze haben das inter-nationale Ansehen der Bundeswehr und der Bundes-republik spürbar erhöht.
Zweitens. Die Bundeswehrreform ist in der Zielrich-tung richtig. Die Reform nimmt immer mehr Gestalt an.Drittens. Die Bundeswehr steht trotz aller Unkenrufeaus dem Wald nicht vor dem materiellen Aus. Die Moralder Truppe ist gut.
Viertens. Es gibt zwar Negativvorkommnisse. Aber siesind nicht das Bestimmende, das Charakteristische.Millionen von jungen Männern, zunehmend auchFrauen, wurden in einem wichtigen Lebensabschnitt vonden Verhältnissen in der Bundeswehr mitgeprägt. Vieleverfolgen mit Kopfschütteln und mit Unverständnis dieArt der öffentlichen Auseinandersetzung, die sich öfternahe an der persönlichen Beleidigung befindet. Hinsicht-lich der Interessenvertretung ist es notwendig, persön-liche Profilierungsversuche zulasten des Ansehens derBundeswehr gemeinsam zu verurteilen.
Die ständige Neuausrüstung der Bundeswehr in Ab-leitung der äußeren und inneren Entwicklungen war, istund bleibt zu allen Zeiten eine unverzichtbare Aufgabe.Das zehnjährige Aussetzen dieses Prozesses in einer sichrasant verändernden Welt schafft heute einen erhöhten Fi-nanzbedarf und zusätzlichen Zeitdruck im Hinblick aufden Abbau der aufgestauten notwendigen Reformen.Spannungen sind dadurch vorprogrammiert. Spannungensind nichts Außergewöhnliches. Spannungen sind Aus-druck für das Ringen, Versäumtes aufzuholen.Uns Abgeordneten sollte in der täglichen Arbeit stärkerbewusst sein, dass Strukturveränderungen dieser Dimen-sion Zeit bedürfen, weil viele Familien einzubeziehensind und weil Ausrüstung sowie komplizierte Technik inHöhe vielfacher Milliarden betroffen sind, bei denenmeist ein zeitlicher Abstand von vielen Jahren zwischenBedarfsspezifikation, Auftragsauslösung und tatsächli-cher Bereitstellung in der Truppe besteht. Die Zeitspannefür die vorgeschalteten politischen Entscheidungspro-zesse sollte hierbei bitte nicht vergessen werden. DasDenken in Legislaturperioden ist wenig hilfreich; ange-messene Kontinuität ist gefragt.Was bedeutet das für unsere Arbeit?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Benno Zierer23013
Erstens. Der Ansatz der Bundeswehrreform ist lang-fristig ausgerichtet und richtig. Sie muss zügig fortgeführtund darf nicht kurzatmig zerredet werden.
Zweitens. Die Bereitschaft der Bundesrepublik, die Bun-deswehr international einzusetzen, muss zwingend an dietatsächlichen Fähigkeiten der Bundeswehr gekoppelt sein.Die Fähigkeiten der Bundeswehr werden als Ergebnis derReform wachsen. Eine Überforderung der Bundeswehr– auch wenn sie nur zeitweilig stattfindet –, sei sie politisch,personell oder durch die Ausrüstung bedingt, hat katastro-phale Folgen und ist unter allen Umständen zu vermeiden.Ich denke in diesem Zusammenhang an das Beispiel ausHolland. Wir kennen den Bericht aus Srebrenica.Drittens. Die Welt richtet sich nicht ausschließlichnach unseren Terminen. Wenn sich die Welt schneller oderanders entwickelt, als wir heute denken, dann ist die jet-zige Reform trotzdem nicht falsch. Nein, dann müssenTempo und Inhalte der Bundeswehrreform vielmehr er-neut auf den politischen Prüfstand und den verändertenWeltbedingungen angepasst werden. Das ist die vor-nehmste Pflicht des Bundestages, also unser aller Pflicht.Zum Schluss komme ich zu einem Punkt, der mich im-mer wieder bedrückt: Der Wehrbeauftragte, Herr Penner,hat in seinem Bericht die Angleichung der Einkommenin der Bundeswehr zwischen West und Ost erneut, alsozum wiederholten Male, dringend angemahnt. Wir müs-sen uns einmal vorstellen, dass junge Männer und Frauen,die 1990, im Jahr der Einheit, eingeschult wurden undjetzt Dienst in der Bundeswehr leisten können, schon wie-der bestraft werden. Sie haben die DDR gar nicht kennengelernt und sie spielt in ihren Köpfen keine Rolle. Den-noch werden sie immer noch bestraft.
– Doch, es ist eine Bestrafung.
– Gut, sie werden nicht gleich behandelt. Darauf gehe ichgerne ein.
Wenn ich aus diesem Parlament ausscheide, werde ichfeststellen müssen, dass das ein Punkt ist, den wir zwölfJahre lang angegangen sind. Wir haben zwar einiges er-reicht; aber es muss ein Umdenken in den Köpfen derBundes-, aber auch der Landespolitiker geben. Es mussein Umdenken stattfinden.
Ich spreche alle Abgeordneten dieses Parlamentes querdurch die Parteien an: Vielleicht sollten wir dieses Pro-blem für die Bundeswehr lösen, weil ihr Einsatz ein be-sonderer Einsatz ist.Ich bedanke mich für das Zuhören.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Jahresbe-
richtes des Wehrbeauftragten auf Drucksache 14/8330 an
den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 25 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Abschaffung der Budgets in der gesetz-
– Drucksache 14/5225 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit
– Drucksache 14/8793 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten WolfgangLohmann (Lüdenscheid), Horst Seehofer, Dr. WolfBauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU
Abschaffung der sektoralen Budgets in der ge-setzlichen Krankenversicherung
– Drucksachen 14/4604, 14/8793 –
Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Lohmann
Der Ausschuss für Gesundheit hat in seine Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 14/8793 den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4604 einbe-
zogen, über den jetzt ebenfalls abschließend beraten wer-
den soll. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
ist es so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch hier-
gegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Klaus Kirschner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Kirschner.
So ist das bei uns.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beratenjetzt einen Gesetzentwurf und einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion, die beide von der Realität längst überholtsind.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Gerhard Neumann
23014
– Hören Sie doch mal zu! – Sowohl der Gesetzentwurf alsauch der Antrag sind nichts anderes als Rosstäuscherei.Sie wollen den Ärzten suggerieren, Sie würden die Bud-gets mit den Regelleistungsvolumina abschaffen, damitdie Ärzte in Erwartung höherer Honorarzuwächse Siedann im Wahlkampf unterstützen. Der Präsident der Bun-desärztekammer, Professor Hoppe, die Bundeszahnärzte-kammer und die Apothekerkammer haben am Dienstagbereits indirekt den politischen Schulterschluss mit Ihnengeübt. Ausgerechnet diese Lobbyisten warnen vor einemausschließlich an ökonomischen Interessen ausgerichte-ten Gesundheitswesen.
Ihr eigener Gesetzentwurf allerdings – das will ichschon verdeutlichen – führt Ihre propagierte Absicht adabsurdum. Sie halten an den Gesamtvergütungen fest.Sie wollen, dass es im Vorhinein Budgets auf der Grund-lage fester Punktwerte für Leistungen gibt. Gleichzeitigsollen für die einzelnen Ärzte Regelleistungsvoluminavereinbart werden. Das bedeutet: Übersteigt die vomeinzelnen Arzt abgerechnete Leistungsmenge diesesRegelleistungsvolumen, werden die darüber hinausge-henden Leistungen mit abgestuft fallenden Sätzen ver-gütet.
Das ist der Versuch der Quadratur des Kreises mit festemPunktwert und Budget. Das ist der Inhalt Ihres Gesetz-entwurfes.Auch der Berufsverband derAllgemeinärzte hat diesdurchschaut. Ich darf an die Stellungnahme erinnern, dieer zu Ihrem Gesetzentwurf abgegeben hat. Darin heißt es:Der Grundsatz der Budgetierung wird damit nicht aufge-geben, sondern nur transformiert auf die Ebene starrer in-dividueller Praxisbudgets.
Budgets sind Budgets, Herr Kollege Lohmann, auchwenn Sie es anders nennen und das nicht zugeben wollen.Auch Sie wissen aus Erfahrung – Sie sind in diesem poli-tischen Bereich lange genug dabei –: Ohne Budgets ist dieKrankenversicherung nicht zu steuern.
– Aber kein Euro-Glanz wie vielleicht bei einigen Leis-tungserbringern, wenn sie Ihren Gesetzentwurf lesen.Im Übrigen: Ein Blick in das Gesetz – –
– Genau. – Ich erinnere an §85 im SozialgesetzbuchV. Darinist den Kassenärztlichen Vereinigungen im Rahmen der Ho-norarverteilung die Möglichkeit der Regelleistungsvoluminagegeben. Was soll eigentlich Ihr Gesetzentwurf? DieRegelung wird nicht angewandt, da Praxisbudgets imRahmen des EBM, des Einheitlichen Bewertungsmaßsta-bes, medizinisch nicht begründeten Mengenausweitungenwesentlich besser entgegenwirken. Spätestens bei IhremBekenntnis – das ist auch Teil Ihres Gesetzentwurfes – zurstringenten Beitragssatzstabilität nach § 71 Sozialge-setzbuch V werden die Ärzte aus ihren Honorarträumengerissen und wieder hellwach sein. Das prophezeie ich Ih-nen.
Mit Ihrem eindeutigen Bekenntnis zu § 71 bekennen Siesich endlich schwarz auf weiß dazu,
dass ausreichend Geld für die Vergütung der ärztlichenBehandlung vorhanden ist.
Wenn das so ist, erklären Sie aber auch den Patienten,warum Sie in Ihrem Wahlprogramm die Einführung so ge-nannter Grund- und Wahlleistungen einfordern. Das istdoch nichts anderes, als über Leistungskürzungen undVerlagerung von der Solidargemeinschaft auf den Geld-beutel des Einzelnen mehr Geld von den Kranken zu ver-langen.
– Lieber Kollege Lohmann, man muss diese Dinge ja ein-mal zusammensehen.
Anstatt die Qualität der Leistungen und damit dieEffizienz zu steigern – darum muss es doch eigentlich ge-hen –, wollen Sie Geld zugunsten der Leistungserbringerumschichten. Das ist Ihre Botschaft. Bei Ihnen steht nichtder Patient im Mittelpunkt, sondern sein Geldbeutel undletzten Endes die Einkommensinteressen der Leistungs-erbringer.
Meine Damen und Herren, damit komme ich zumzweiten Teil Ihres merkwürdigen Gesetzentwurfs, zurForderung nach Abschaffung der Arznei- und Heilmit-telbudgets. Ist Ihnen eigentlich noch nicht aufgefallen,dass das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz in Kraftist? Welches Budget wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurfeigentlich abschaffen? Es ist doch lächerlich und eine Zu-mutung für den Bundestag, dass wir heute über einen Ge-setzentwurf zur Abschaffung von etwas nicht mehr Vor-handenem abstimmen sollen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Klaus Kirschner23015
– Nein, das ist kein Quatsch. Das ist nun einmal Fakt.
– So ist es.Hätte man die Arzneimittelbudgets gemäß Ihrem Vor-schlag aufgehoben, wären die Kassenärztlichen Vereini-gungen aus der Verantwortung für die Arzneimittelaus-gaben entlassen. Liest man dazu die Begründung in IhremGesetzentwurf, dann kann ich nur sagen: Widersprüch-licher geht es nun wirklich nicht mehr. Sie weisen auf diehohen Ausgabenzuwächse von 1999 bis 2000 im Arznei-mittelbereich hin, beklagen aber gleichzeitig eine angeb-liche Rationierung in der Arzneimitteltherapie. Was giltnun eigentlich? Der Kollege Dr. Bauer, den ich ja sonstsehr schätze, hat sich in der Aktuellen Stunde in einer derletzten Sitzungswochen am 13. März – ich habe das extranoch einmal im Protokoll nachgelesen – zu der Behaup-tung verstiegen: Die rot-grünen Gesundheitspolitikerhaben den sozial Schwachen die Möglichkeit ge-nommen, die Medikamente zu bekommen, die siebrauchen.
Das wird vor dem Hintergrund einer Aktuellen Stunde zuden Ausgabensteigerungen im Arzneimittelbereichvon 11,2 Prozent im Jahre 2001 gesagt!Einerseits prangern Sie also Ausgabensteigerungen an,andererseits stellen Sie Rationierung fest. Ich frage Sie:Was gilt denn nun eigentlich? Sind im vergangenen Jahr,wo Arzneimittel in Höhe von 43,8 Milliarden DM bzw.22,3 Milliarden Euro zulasten der gesetzlichen Kranken-versicherung verordnet wurden, nun zu viel oder zu we-nig Arzneimittel verordnet worden? Irgendwo müssen Sieschon einmal sagen, was nun eigentlich gilt.
Sonst werden Sie letzten Endes nicht mehr ernst genom-men.Sie spielen sich in Ihrem Gesetzentwurf als Hüter vonPatienteninteressen auf. In der Begründung schreiben Sienämlich:Patienten, die eine hochpreisige Arzneimitteltherapiebenötigen, haben es zunehmend schwerer, einen Arztzu finden, ...Sie verweisen auf eine Umfrage des Verbandes der For-schenden Arzneimittelhersteller, wonach angeblich chro-nisch Kranken in 15 Prozent der Fälle die notwendigenArzneimittel verweigert wurden.Nur noch 10 Prozent der Tumorpatienten erhalteneine adäquate Schmerztherapie.So steht es in Ihrer Begründung.Sollten Sie nicht vor allem fragen, ob wir nicht eher einFehlversorgungs- statt ein Unterversorgungsproblem ha-ben? Wir haben zwar auch Unterversorgung, aber vor al-len Dingen Fehlversorgung. Meine Damen und Herren,ich will dies am Beispiel Diabetesversorgung verdeutli-chen. Der Verband der Forschenden Arzneimittelherstel-ler – Sie müssen auch einmal andere Aussagen von demlesen – kommt zu dem Ergebnis, dass die gesamtwirt-schaftlichen Kosten in Höhe von 31 Milliarden DM fürdie Behandlung des Typ-2-Diabetes vor allem durchKomplikationen verursacht werden, die nicht rechtzeitigerkannt oder nicht adäquat behandelt werden.Eine frühzeitige und konsequente Behandlung desTyp-2-Diabetes würde der Volkswirtschaft Kosten inMilliardenhöhe ersparen.So die Aussage des Verbandes der Forschenden Arznei-mittelhersteller.Ich füge ein Zitat von Professor Berger von der UniDüsseldorf – ich denke, von einem von uns allen sehr ge-schätzten Experten – hinzu:Wie vorrangig im Bereich der Diabetologie inDeutschland immer noch die als „Erfahrungsmedi-zin“ beschönigte „non evidence based medicine“ ist,zeigt sich unter anderem in dem Verordnungsvolu-men an Medikamenten ohne gesicherten klinischenWirksamkeitsnachweis. Für das Jahr 1994 haben wirauf dieser Grundlage eine Mittelverschwendung inHöhe von 1 Milliarde DM– das sind 1 000 Millionen DM –aufgrund von Verschreibungen unwirksamer Medi-kamente bei Patienten mit Diabetes mellitus inDeutschland errechnet.1 Milliarde DM allein im Bereich Diabetesversorgung!
Solche Beispiele, die sich beliebig erweitern lassen,belegen: Wir haben erhebliche Versorgungs- und Qua-litätsdefizite mit gravierenden Folgen für die Lebensqua-lität und mit einer hohen Zahl an verlorenen Lebensjahrenfür die betroffenen Bürger. Gleichzeitig haben wir Men-gen- und Ausgabenentwicklungen, die medizinisch nichtzu begründen sind. Mit Ihrem Gesetzentwurf würde diesalles noch wesentlich erhöht.Augenfälligstes Beispiel sind – auch dies will ich Ihnennicht ersparen – die großen Differenzen bei den Arz-neimittelausgaben pro Versicherten bei den einzelnenKassenärztlichen Vereinigungen. Bei den Arzneimittelnreicht die Spanne der Verordnungen und Umsätze vonJanuar bis November des vergangenen Jahres nach denVergleichszahlen in einer Untersuchung des Wissenschaft-lichen Instituts der Ortskrankenkassen von 309 000 de-finierten Tagesdosen im Bereich der Kassenärztlichen Ver-einigung Nord-Württemberg bis zu 423 000 bei derKV Saarland. Das heißt, dort finden 36 Prozent mehr Ver-ordnungen statt. Glauben Sie allen Ernstes, dass die Pa-tienten in Nord-Württemberg untertherapiert sind?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Klaus Kirschner23016
Bevor Sie wieder einen solchen Gesetzentwurf in denBundestag einbringen, lesen Sie den Arzneiverordnungs-report des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskranken-kassen. Dort ist nachzulesen, dass insgesamt ein Trend zuteureren Verordnungen zu beobachten ist. Dies widerlegtdie Behauptung der pharmazeutischen Industrie von einerdrastischen Unterversorgung mit innovativen Arzneimit-teln, die Sie kritiklos übernehmen. Gerade in den Berei-chen, für die ein therapeutischer Zusatznutzen belegt ist,ist es zu deutlichen Verordnungszuwächsen gekommen.Die 1 191 Millionen verordneten Tagesdosen an Antidia-betika reichen aus, um täglich 3,3Millionen Diabetiker zubehandeln. Anhand von Bevölkerungsstudien wird dieZahl der Diabetiker in Deutschland auf 3,1 Millionen ge-schätzt. Das heißt, die Versorgung ist deutlich höher; voneiner Unterversorgung kann überhaupt nicht die Redesein.Das gilt auch für die Behandlung von Tumorpatientenmit stark wirksamen Schmerzmitteln. Die verordneteMenge an Tagesdosen reicht zur Behandlung von 96 Pro-zent der geschätzten Zahl der Tumorpatienten aus. Dabeihandelt es sich nicht, wie Sie behaupten, um eine Unter-versorgung.
– Das mag Ihnen alles nicht gefallen, Herr Kollege Parr.Das Schreckgespenst einer medikamentösen Unterversor-gung in Deutschland, das Sie, genauso wie die CDU/CSU,ständig anführen, entspricht nicht der Realität in diesemLand.
– Wie gesagt, das mag Ihnen alles nicht gefallen. Aberschauen Sie in den Arzneiverordnungsreport hinein; die-ser belegt, dass nicht von einer Unterversorgung, sondernvon einer Fehlversorgung und damit einer Verschwen-dung von Beitragsgeldern gesprochen werden kann.
Verehrter Herr Kollege Lohmann, in der vorgestrigenAusschusssitzung haben Sie angemerkt, dass der Arznei-verordnungsreport für manche nicht nur wie die Bibel sei,sondern sie würden sich ihn vor den Kopf halten, um nichtweiter nachdenken zu müssen.
– Sie haben gemeint: wie die Bibel. Erst einmal, lieberHerr Kollege Lohmann: Als Mitglied einer christlichenPartei tragen Sie die Bibel ja sicherlich nicht nur vor demKopf, sondern schauen auch regelmäßig hinein; davongehe ich aus.
Als Gesundheitspolitiker sollten Sie genauso mit demArzneiverordnungsreport umgehen, denn dort werden Sieund die CDU/CSU Wort für Wort widerlegt. Das gilt auchfür die FDP; aber Sie wollten ja sogar schon die Kirchen-steuer abschaffen.
– Ich wollte nur im Zusammenhang mit dem KollegenLohmann darauf hinweisen, weil Sie ständig das Gleichewie die CDU/CSU betonen.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es wirdSie deshalb sehr betrüben
– es wird Sie auch überraschen –, wenn ich im Auftragmeiner Fraktion ankündige: Wir werden sowohl Ihren An-trag als auch Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich bitteSie im Übrigen, uns solche überflüssigen und fundamen-tal unsinnigen Gesetzentwürfe in Zukunft zu ersparen.
Ich bin mir sicher, die Wählerinnen und Wähler geben Ih-nen weitere vier Jahre Zeit, Gesetzgebung in der Opposi-tion fleißig zu üben.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der KollegeKirschner hat, was die Stimmlage anbelangt, eine fürseine Verhältnisse moderate Rede gehalten. Wenn Sie ge-nau aufgepasst haben, dann haben Sie gemerkt, dass eraber ganz laut geworden ist, als er versuchen wollte, denMenschen weiszumachen, dass es keine Unterversor-gung in Deutschland gebe.
Genau das ist aber der Fall, was ich Ihnen auch nachwei-sen kann.
Ich werde nachher nicht Statistiken, sondern Aussagenvon Personen zitieren, die befragt worden sind. Was manmit Statistiken machen kann, das weiß Ihre Fraktion ja ambesten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Klaus Kirschner23017
Wir befassen uns heute mit zwei Vorlagen derCDU/CSU-Fraktion, die auf die Beendigung der Budge-tierung in allen Leistungsbereichen zielen. Denn – ichsage es ganz ruhig – Budgetierung führt zur Rationie-rung medizinischer Leistungen. Das heißt Vorenthaltungvon Leistungen, auf die die Patienten einen Anspruch ha-ben, weil sie medizinisch notwendig sind und weil wiralle – und Sie im besonderen Maße – sie ihnen verspro-chen haben.
Fortdauernde Budgetierung ist der Weg in eine Zwei-klassenmedizin; denn nur Gutverdienende können sichdurch private Zahlungen eine medizinisch notwendigeVersorgung leisten.
– Sie haben doch vorhin in der verteidigungspolitischenDebatte genug geschrien.
– Ich meine Ihren Kollegen. Sie sollten uns Gesundheits-politiker einmal in Ruhe lassen. Wir sind froh, wenn wiruns in angemessener Form auseinander setzen können.Wir wollen nichts mit Schreihälsen zu tun haben.Die Union greift mit ihren Initiativen ein Kernelementrot-grüner Gesundheitspolitik an. Die Budgetierung istnämlich wie die Reglementierung, die Bürokratisierungund die Bevormundung ein typisches Markenzeichen vonRot-Grün.
Die Union dagegen setzt auf Deregulierung, Ent-bürokratisierung und auf mehr Freiheitlichkeit.
Wir wollen in der gesundheitlichen Versorgung mehrmenschliche Zuwendung, als heute teilweise möglich ist,und keinen Bürokratismus. Wir wollen die freie Arztwahlunbedingt aufrechterhalten, statt Staatsmedizin einzu-führen. Wir wollen Therapiefreiheit statt Listenmedizin.Frau Schmidt-Zadel, Sie können nicht bestreiten, dass Siedas Letztgenannte wollen. Wir wollen außerdem mehrWettbewerb und Vielfalt, statt den Weg in die Einheits-versicherung fortzusetzen.
Wir wollen eine Gesundheitsreform, in deren Mittel-punkt die Interessen von Patienten und Versichertenstehen.
Das steht im Gegensatz zu der Behauptung, die Sie ebenaufgestellt haben, Herr Kirschner. Diese Interessen derVersicherten sind in den letzten Jahren auf der Strecke ge-blieben, was Sie gar nicht gemerkt haben. Als Abgeord-neter merkt man das natürlich nicht; denn man ist in allerRegel umsorgter Privatpatient.
Sie sollten sich um die Menschen kümmern, die nicht diePrivilegien haben wie wir. Dann würden Sie wissen, washeute los ist.
Unter Ihrer Regierung sind die Interessen der Versicher-ten auf der Strecke geblieben.
Vor allem die SPD ist im Verbund mit dem DGB geis-tiger Urheber der Budgetierung. Es war doch RudolfDressler – –
– Jetzt wollen Sie mich zwingen, genauso laut zu redenwie Herr Kirschner, damit Sie behaupten können, ichwürde immer dann laut werden, wenn es sich um Dingehandelt, die nicht wahr sind.
Ich werde also in der gleichen Lautstärke weitersprechen.Es war doch Rudolf Dressler, der 1992 in Lahnstein aufder Einführung dieses Instruments beharrt und gemein-sam mit Oskar Lafontaine und dem DGB dafür Sorge ge-tragen hat, dass es 1998 als ein Kernelement der Gesund-heitspolitik im Koalitionsvertrag seinen Niederschlagfand.
Dressler und Lafontaine sind überholt. Da Sie sich,Herr Kirschner – wir kennen uns ja schon lange –, nachwie vor nicht in der Lage sehen, aus diesen einbetonier-ten Denkschablonen herauszukommen, werden auch Sie– das würde ich bedauern – über kurz oder lang überholtsein.Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich Sie auf eineUmfrage des Allensbach-Institutes vom 17. April diesesJahres – sie ist also ganz aktuell – hinweisen: 24 Prozentder Gesamtbevölkerung haben bereits persönlich die Fol-gen der Budgetierung zu spüren bekommen und erlebt,dass ihnen der Arzt ein bestimmtes Medikament oder einebestimmte Behandlung verweigern musste, weil das ihmzugebilligte Budget erschöpft war. 32 Prozent berichtenvon allgemeinen Leistungseinschränkungen.Besondersbetroffen sind davon die ohnehin gesundheitlich Ange-schlagenen. Jetzt kommt es – Frau Schmidt ist nicht an-wesend; aber Frau Staatssekretärin Schaich-Walch –: Vondiesen kranken Menschen haben in den letzten ein bzw.zwei Jahren 43 Prozent quasi am eigenen Leibe erfahren,was Ihre Politik, was Rationierung bedeutet.Herr Kirschner, jetzt kommen Sie doch nicht mit demEinwand, Sie hätten bei den Arzneimitteln die Budgetsabgeschafft. Sie haben das Budget lediglich durch Arznei-mittelzielvereinbarungen ersetzt. Um es mit den Worten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Wolfgang Lohmann
23018
des Sachverständigenrates für die Beurteilung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung, der ja von der Minis-terin berufen worden ist, zu sagen
– Frau Schmidt-Zadel, hören Sie sich das erst einmal an –:Sie haben ein untaugliches Steuerungsinstrumentdurch ein anderes ersetzt.
Genauso ist es. Die Zuwachsraten bei den Arzneimittel-ausgaben, die Sie soeben angesprochen haben, bestätigen,dass entsprechende Steuerungselemente nicht mit einge-baut worden sind.
Frau Ministerin Schmidt hat ihren politischen Fehlererkannt. Denn sie hat in ihrer Neujahrspost, wie das inletzter Zeit häufiger vorkommt, die Selbstverwaltung un-ter Druck gesetzt, getreu dem Motto: Die Gesetze sindzwar schlecht; aber die Verantwortung schieben wir aufdie Selbstverwaltung.In ihrem Brandbrief an die Spitzenverbände der Kran-kenkassen und an die Kassenärztliche Bundesvereinigungstellt sie fest, dass die Zielvereinbarungen „offenbar vorOrt beim einzelnen Vertragsarzt nicht hinreichend grei-fen“. Wieder einmal ist also der Arzt schuld. Wieder ein-mal werden die Ärzte bei den Arzneimittelausgaben zu ei-nem eisernen Sparkurs angehalten.So müssen die Ärzte in Nordwürttemberg, Herr baden-württembergischer Abgeordneter Kirschner, beim Arznei-mittelbudget im Vergleich zum Vorjahr mehr als 5 Pro-zent einsparen. Für sie und ihre Patienten hat sich durchdas Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz der Bundesre-gierung nichts, aber auch gar nichts geändert. Nach wievor erleben die Menschen Rationierung und erfahren tag-täglich, dass ihnen medizinisch notwendige Leistungennicht mehr verordnet werden.
Die Schwäche Ihres Gesetzes liegt darin, dass das Ge-samtbudget – das ist doch der entscheidende Punkt – dieRichtgrößen präjudiziert und damit eine an medizinischenErfordernissen ausgerichtete Verschreibung von Arznei-mitteln unterbindet.Diese Schwäche – wenn wir vertieft diskutieren wür-den, würden Sie das einsehen – hat unser Entwurf nicht.Er stellt die Entwicklung von Richtgrößen nicht unterdas Diktat eines Gesamtbudgets.
– Das war ein Zuruf eines hoch qualifizierten Fach-manns. – In unserem Gesetzentwurf wird vermieden,dass durch die Hintertür wieder eine Kollektivhaftungder Ärzte eingeführt wird. Im Gesetzentwurf der Unionist die Ersetzung des Budgets durch Richtgrößen vorge-sehen.
Diese ermöglichen eine flexible, am tatsächlichen Bedarfausgerichtete Ausgabensteuerung.
Sie setzen am Verordnungsverhalten des einzelnen Arztesan und geben ihm damit die Möglichkeit, persönlich Ver-antwortung zu übernehmen und aus der früheren Kol-lektivhaftung herauszukommen. Welcher Anreiz, sichpersönlich wirtschaftlicher oder kostenbewusster zu ver-halten, gibt es denn für einen Arzt, wenn die anderen Kol-legen über die Stränge schlagen dürfen, weil es eine Kol-lektivhaftung gibt? Die Antwort sollte doch völlig klarsein.
Nach unserer Überzeugung wird Ministerin Schmidtmit ihrem bürokratischen Instrumentarium die Problemeauf dem Feld der Arzneimittelausgaben nicht lösen. Jüngs-tes Beispiel ist das Arzneimittel-Ausgabenbegrenzungs-gesetz.Meine Damen und Herren, lieber Herr Kirschner, ichzitiere jetzt einmal aus einem Brief eines Bürgers:Mit dem Arzneimittel-Ausgabenbegrenzungsgesetzsetzen Sie– dieser Brief ist an Sie, aber auch an Frau Schmidt ge-sendet worden –den Höhepunkt unter eine chaotische Gesundheits-politik, zu deren Beendigung wir– es waren mehrere –Sie hiermit auffordern! Anstatt endlich die Verschie-bebahnhöfe zu beenden,– da haben auch wir früher Sünden begangen,
die Sie sehr gegeißelt haben –sparen Sie mit Ihrem letzten Gesetz die Patienten imwahrsten Sinne des Wortes zu Tode.
– Das sind mehrere Patienten.Sie wollen, dass Kassenpatienten nur noch Medika-mente des unteren Preisdrittels bekommen.Das ist das Entlarvende.Aber anstatt dies offen und ehrlich öffentlich zu be-kennen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Wolfgang Lohmann
23019
verlangen Sie, dass entweder die Ärzte primär solcheMedikamente verordnen
oder, wenn die Ärzte dies nicht tun, die Apothekersolche Medikamente ausgeben sollen.Diese Bürger, von denen Sie vorhin nicht gesprochenhaben,
bringen zum Ausdruck, was inzwischen drei Viertel derdeutschen Bevölkerung denken: Rot-Grün will eine Bil-ligmedizin für die Kassenpatienten.
Das mag man wollen; es ist nicht unsere Meinung. Aberanstatt nun hierfür wenigstens die Verantwortung zu über-nehmen und zu sagen: „Jawohl, wir wollen das“, versu-chen Sie immer wieder, die Verantwortung auf Ärzte undApotheker zu schieben – mit diesem Gesetz auf jedenFall.Frau Staatssekretärin, die Bevölkerung hat Ihnen ja in-zwischen die Gefolgschaft längst versagt, weil Ihre Ge-sundheitspolitik nicht an den Bedürfnissen der Menschenausgerichtet ist. Ihre Gesetze sind das Produkt von Büro-kraten und von im Elfenbeinturm sitzenden Wissen-schaftlern. Da wir ja inzwischen wissen, dass es für so gutwie jede erdenkliche Idee wissenschaftliche, gutachterli-che Unterstützung gibt, müssen Sie sich nach meiner Auf-fassung wohl die falschen Wissenschaftler ausgesucht ha-ben. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.
Nun wollen Sie die Bürokratie noch weiter ausbauen.
So sollen ein neues Zentrum für Qualität in der Medizinund ein neues Institut zur Bewertung des Nutzens vonMedikamenten gegründet werden und es soll ein Arznei-mittelinspekteur eingestellt werden. Ich war mit Blickauf den Generalinspekteur der Bundeswehr, der vorhinhier gesessen hat, geneigt, zu sagen: Das wird hoffentlichnicht einen solchen Aufwand mit sich bringen, wie es inder Bundeswehr teilweise der Fall ist. Wie dem auch sei:Jedenfalls soll eine neue Institution geschaffen werden.Schließlich – das haben wir ja in dieser Woche festge-stellt – ist der Apparat im Bundesministerium für Ge-sundheit im Vergleich zur Zeit von Horst Seehofer umsage und schreibe ein Drittel angewachsen.Über 70 Prozent der Bevölkerung sind laut Allensbach– das ist übrigens das Institut, das in den vergangenen Jah-ren, auch zu unserem Leidwesen, immer am nächsten ander Meinung der Bevölkerung dran war –
der Meinung, dass Sie auf dem Weg der Zweiklassenme-dizin sind
und dass sie so hohe Beiträge wie noch nie zahlen müss-ten.
– Nun hören Sie doch auf!
– Hören Sie doch auf, auf die alten Kamellen zu verwei-sen. Ich frage Sie: Wie lange sind Sie denn schon in derRegierung?
„Aufhören“ ist
das Stichwort.
Ich
sehe zwar, wie die Sekunden weiter gezählt werden. Aber
hier steht: 41 Sekunden sind noch da.
Nein, nein, Sie
sind im Minus.
Wenn Sie uns und vielen anderen Wissenschaftlern schon
nicht glauben, dann sollten Sie vielleicht jemandem zu-
stimmen, der für die Abschaffung der Budgets ist – das hat
er auch in der öffentlichen Anhörung gesagt –, der nun
wirklich – nach seiner eigenen Aussage – in der Wolle ge-
färbter Sozialist ist: Professor Azzola. Er hält das, was Sie
in Bezug auf die Budgetierung gemacht haben, für un-
denkbar und hält die damit verbundenen Probleme für
nicht lösbar.
Er bittet Sie herzlich, das abzuschaffen.
Vielen Dank.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Wolfgang Lohmann
23020
gen! Auch mir ist aufgefallen, dass ausgerechnet HerrLohmann Herrn Azzola erwähnt. Wenn man weiß, wie ersonst zu dessen Auffassungen steht,
dann kann man nur sagen: Sie suchen sich heraus, was Ih-nen gerade in den Kram passt, und erwähnen den Restnicht.
Wenn für Sie, Herr Lohmann, die Wissenschaftler, dievorgeschlagen haben, ein Institut einzurichten, das sichmit der Frage der Qualität in der Medizin befassen soll,die falschen Wissenschaftler sind, dann zeigt das aus mei-ner Sicht, dass Sie es nicht ernst meinen, wenn Sie sagen,dass bei Ihnen die Interessen der Patienten und der Versi-cherten im Mittelpunkt stehen.
Das wirkliche Manko, mit dem wir es im Gesundheitssys-tem zu tun haben, betrifft die Frage der Qualität. Ich findees richtig, wenn hier angesetzt wird.Jetzt fordern Sie wieder einmal die Abschaffung derHeilmittelbudgets und ihre Ersetzung durch Richtgrößen.
– Vielen Dank, Herr Kirschner. Das könnte man ja heuteschon machen. Es macht aber deswegen keiner, weil esnicht umsetzbar und praktikabel ist.
Wenn das anders wäre, Herr Lohmann, dann würde dasheute schon geschehen und man könnte Ihrem Anliegennachkommen.
Da es sich aber nicht bewährt hat und nicht angewendetwird, sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen, dass esnicht der richtige Weg ist.
Wie sehr die Interessen der Versicherten und Patientenbei Ihnen im Mittelpunkt stehen, sieht man an Ihren Vor-schlägen. Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, bezie-hen sich in erster Linie auf den Geldbeutel der Versicher-ten und Patienten, so beispielsweise bei den Zuzahlungenund vielem anderen mehr.Sie haben uns hier vorgeworfen, die freie Arztwahlsolle eingeschränkt werden. Dazu sage ich Ihnen, HerrLohmann: Damit betreiben Sie Angstmacherei, die nichts,aber auch gar nichts mit der Realität zu tun hat.
Zu Ihrem Vorwurf, es gehe um die Einschränkung derTherapiefreiheit, kann ich auch nur sagen: Auch das istAngstmacherei, die die Patientinnen und Patienten in die-sem Land einfach nicht verdient haben.Sie sagen, mit Ihren Vorschlägen wird es kein Budgetmehr geben. Dazu möchte ich Sie einfach fragen, was dasin der Realität bedeutet. Heißt das: Die Ausgaben im Ge-sundheitssystem sind freigegeben und jeder kann so vielausgeben wie er will?Bei jeder Regelung, auch bei Ihrer, wird es am Endedabei bleiben, dass wir nicht mehr ausgeben können, alswir einnehmen. Da ich jetzt bei der Einnahmeseite bin,will ich auch gleich sagen, dass wir uns zusätzliche Ein-nahmen im Gesundheitswesen nicht dadurch verschaffenkönnen, dass wir die Beiträge heraufsetzen.
Möglicherweise müssen wir über die Finanzierungs-grundlagen reden, wir können aber nicht darüber reden,bevor nicht klar ist, wie die Strukturen und die Qualitätdes Systems verbessert werden können. Dazu machen Siebedauerlicherweise keinen Vorschlag.Ich will gern etwas zu Ihrem Vorwurf sagen, notwen-dige Arzneimittel würden nicht mehr ausgegeben. Ichkann mir vorstellen, dass falsche Arzneimittel ausgegebenwerden. Herr Kirschner hat hier bereits auf die Fehlver-sorgung hingewiesen. Dass aber nicht genug ausgegebenwird, kann ich mir nicht vorstellen.
– Ich will es Ihnen einfach ganz logisch erklären. Ichstreite nicht ab, dass Einzelne sagen, sie bekommen einArzneimittel nicht. Das hat etwas mit Fehlversorgung,aber nicht mit dem Umfang zu tun.
Die Menschen sind heute nicht kränker als in den letztenJahren, und trotzdem haben wir eine Steigerung der Aus-gaben für Arzneimittel um 11,2 Prozent im letztenJahr, die nicht unwesentlich zum Defizit der Kassen von2,8 Milliarden Euro beigetragen haben. Wir haben imJanuar dieses Jahres noch einmal eine Steigerung von6,6 Prozent zu verzeichnen. Es kann also nicht am Ge-samtvolumen liegen, es kann höchstens an der Fehlver-sorgung liegen. Ich glaube, Sie sind mit Ihrem Gesetzent-wurf auf dem falschen Dampfer.
Herr Kirschner, lassen Sie mich das am Schluss zumThema Arzneimittelreport und Bibel anmerken: MeinePartei hat das C nicht im Namen, aber ich erlaube mir
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002 23021
trotzdem, häufiger in die Bibel als in den Arzneimittelre-port zu schauen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Mich stört eines an der Art der heutigen De-batte: Das Thema ist zu ernst, um sich gegenseitig auszu-lachen. Das tut diesem Hause nicht gut.
– Sie krakeelen trotzdem weiter; dabei habe ich versucht,eine Brücke zu bauen.Ich erinnere mich, lieber Kollege Kirschner, an dieletzte Sitzung des Gesundheitsausschusses. Da haben Siemit Glanz in den Augen eine minutenlange vehementeRechtfertigungsrede zur Budgetierung gehalten; einenZuruf habe ich dazu schon gemacht. Ein Blick in das Pro-tokoll der Anhörung vom 27. Juni hätte Sie ein wenignachdenklicher machen sollen. Da ist zu lesen – ich gebeunterschiedliche Sachverständige wieder –: Die Wirksam-keit von Budgets hat sich in letzter Zeit abgeschwächt. Eshat sich herumgesprochen, dass diese Budgets keineSteuerungswirkung mehr haben.
– Jetzt hören Sie zu, jetzt kommt der entscheidende Satz:Budgets sind eine ökonomische Größe, die nichts überden Versorgungsbedarf aussagt. Budgets, die in derWirtschaft funktionieren, sind hier gescheitert.Meine Damen und Herren, die Patienten – das weisenneueste Umfragen, die nicht aus der Pharmaindustrie kom-men, nach – spüren in den Arztpraxen, dass sie nicht mehrmit allem versorgt werden, was medizinisch notwendig ist.Ärzte überlegen sich mittlerweile sehr genau, ob und inwelchem Umfang sie Arzneimittel, Massagen, Kranken-gymnastik oder Logopädie verordnen. Das hat teilweisegravierende Konsequenzen für die Betroffenen. MS-Krankeerhalten keine neuen Präparate mehr. Krebskranke Patien-ten bekommen nach einer Brustamputation nur noch zweiStunden Krankengymnastik verordnet. Nur ein geringerProzentsatz der Demenzkranken wird medikamentös op-timal betreut. Die höheren volkswirtschaftlichen Kosten,die zum Beispiel durch eine frühzeitige Einweisung in Pfle-geheime entstehen, scheren die Bundesregierung nicht.
Es geht offensichtlich nach der Devise: Was nicht seindarf, das nicht sein kann!Mit zunehmender Budgetierung ist zu beobachten,Frau Schmidt-Zadel, dass ärztliche Leistungen nicht mehrerbracht werden, weil sie den Rahmen des Budgets spren-gen, oder die Patienten werden ins Krankenhaus überwie-sen. Dies dürfen und können Sie doch nicht übersehen!Als letzte Zuflucht – schauen wir in Ratingen in die Pra-xen – wird Budgeturlaub gemacht, das heißt, die Praxisbleibt geschlossen – das sind Tatsachen –,
weil niemandem zugemutet werden kann, ab einem ge-wissen Zeitpunkt im Quartal zum Nulltarif zu arbeiten,was Sie den Ärztinnen und Ärzten aber zumuten.
Das ist in vielen Städten und Gemeinden Alltag.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, neh-men Sie deshalb die neueste im Auftrag der „FrankfurterAllgemeinen Zeitung“ durchgeführte Allensbach-Um-frage ernst. Danach sorgen sich 53 Prozent der GKV-Ver-sicherten, nicht mehr ausreichend geschützt zu sein. Beiprivat Versicherten sind dies nur 28 Prozent. – Nun willdie Ministerin durch Anhebung der Versicherungspflicht-grenze auch noch den Zugang zur Privatversicherung er-schweren. Welch ein ordnungspolitischer Unsinn!
Von den von uns vorgeschlagenen Lösungsansätzenmöchte ich aus Zeitgründen nur zwei nennen:Erstens. Um vernünftig planen zu können, brauchen dieÄrzte feste Preise für die Leistungen, die ihnen bekanntsein müssen, bevor sie mit einer Behandlung beginnen.Zweitens. Optimal wäre der Übergang zu einem Sys-tem der Kostenerstattung.
Der Arzt stellt diese Preise in Rechnung und der Patientrechnet sie dann mit seiner Krankenkasse ab.Solange man sich jedoch im Sachleistungssystem be-wegt, muss zumindest sichergestellt werden, dass hiervonkeine Anreize zu einer Rationierung von Leistungen aus-gehen, denn das ginge zulasten der besonders betroffenenPatienten, die nicht in der Lage sind, sich zu wehren. Manmuss eine vernünftige Balance finden, wie sie der Gesetz-entwurf der Union mit Regelleistungsvolumina vorsieht.
Grundsätzlich erhält der Arzt für seine Leistungen festePreise, die aber ab einer bestimmten Menge niedriger aus-fallen. Damit wird der Anreiz zur Leistungsausweitunggemindert. Genauso braucht man im Arzneimittelbereichein gewisses Regulativ über auf valider Datenbasis fest-gesetzte Richtgrößen. Es ist nicht so – wie Sie das heuteglauben machen wollen –, dass das ABAG darauf eineAntwort gibt.Die FDPbegrüßt den Gesetzentwurf der Union. Er gehtin die richtige Richtung. Eine Alternative zur Abschaf-fung der Budgets gibt es nicht, wenn man weiterhin ga-rantieren will, dass jeder Bürger im Krankheitsfall mitdem medizinisch Notwendigen versorgt wird.Ich stelle zum Schluss fest: Die Ärzte, Zahnärzte undApotheker in unserem Land sind es Leid, vor ihren Patien-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Katrin Göring-Eckardt23022
ten die Folgen Ihrer kurzatmigen und selbstgefälligen Poli-tik – so Bundesärztekammerpräsident Professor Hoppe –auszubaden.
Die Attacken auf Ihre staatliche Zuteilungsmedizin wer-den heftiger, Herr Kirschner. Lösen Sie sich endlich vonRegelungswut, Listenmedizin, Überbürokratisierung undStandardisierung. Jeder Patient ist ein Individuum undwill auch so behandelt werden. Dies geht nur in einemfreiheitlichen System. Nur wenn wir die Freiberuflichkeiteinerseits und die Patientensouveränität andererseits stär-ken, können wir das Ziel einer durchgreifenden langfris-tigen Gesundheitsreform erreichen.
Ich hoffe, dass wir dies gemeinsam tun werden, ähnlichwie es in der Vergangenheit schon einmal versucht wor-den ist, aber hoffentlich mit besseren Ergebnissen. Wir la-den Sie zu diesen Gesprächen ein und führen die Diskus-sion ernsthaft. Niemand, der hier darüber diskutiert, hat esverdient, ausgelacht zu werden.Danke.
Die Abgeord-
nete Ruth Fuchs hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll ge-
ben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? – Dann
verfahren wir so.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Abschaffung der
Budgets in der gesetzlichen Krankenversicherung auf
Drucksache 14/5225. Der Ausschuss für Gesundheit emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/8793, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abge-
lehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss für Gesundheit die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4604 mit dem
Titel „Abschaffung der sektoralen Budgets in der gesetz-
lichen Krankenversicherung“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu weiteren
Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transpa-
renz und Publizität
– Drucksache 14/8769 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier bitten alle Rednerinnen und Redner, näm-
lich die Kolleginnen und Kollegen Lösekrug-Möller,
Tiemann, Fischer , Funke, Rössel und der Parla-
mentarische Staatssekretär Pick, ihre Reden zu Protokoll
geben zu dürfen.2) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann verfahren wir so und kommen gleich zur
Überweisung.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs zur federführenden Beratung an den Rechtsaus-
schuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie vorgeschlagen. Gibt es andere
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tarifzwang im öffentlichen Vergaberecht ver-
hindern
– Drucksache 14/8510 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. – Ich sehe keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Abge-
ordnete Dr. Heinrich Kolb von der antragstellenden FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! In einer Woche, am nächstenFreitag, will die rot-grüne Koalition in diesem Hause einso genanntes Tariftreuegesetz verabschieden.
Bis dahin soll verschleiert bleiben und möglichst nicht andie Öffentlichkeit gelangen, was sich Rot-Grün zu diesemThema ausgedacht hat. Wir haben die Aufsetzung unseresAntrages auf die heutige Tagesordnung beantragt, weilwir wollen, dass die Menschen und insbesondere der Mit-telstand in Sachsen-Anhalt wissen, was auf sie zukommt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Detlef Parr23023
1) Anlage 2 2) Anlage 4Es geht nicht an, dieses Thema totzuschweigen; denn ge-rade die ostdeutschen Bauunternehmen werden von dem,was Sie mit dem Tariftreuegesetz vorhaben, betroffensein. Deswegen haben wir unseren Antrag „Tarifzwangim öffentlichen Vergaberecht verhindern“ eingebracht.Wir müssen darüber reden, wie dreist und unverblümtsich die Bundesregierung zum Erfüllungsgehilfen einerIG Bauen-Agrar-Umwelt macht, deren Vorsitzender Mit-glied der größten Fraktion ist.
Herr Wiesehügel, ein Tariftreuegesetz, das die öffentli-chen Arbeitgeber verpflichtet, Aufträge nur noch an sol-che Unternehmen zu vergeben, die die am Ort der Leis-tungsausführung gültigen Tarifverträge einhalten, istnichts anderes als ein von Ihnen ja schon lange geforder-tes staatliches Verbot echten Wettbewerbs zwischen tarif-gebundenen und nicht tarifgebundenen Unternehmen undBetrieben. Im Kern geht es Ihnen darum, der Macht desTarifkartells wieder zum Durchbruch zu verhelfen und da-mit vielleicht auch die Existenzberechtigung Ihrer Ge-werkschaft ein Stück weit zu sichern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade von dem Hin-tergrund der aktuell laufenden Tarifverhandlungen undder absehbaren Ergebnisse wird deutlich, dass es einenSpielraum für Unternehmen geben muss, sich gegebenen-falls auch die Entscheidung zur Nichttarifbindung offenzu halten.
Sie wollen heute nicht ins Detail gehen. Die ver-schämte Presseerklärung, die Sie zu diesem Thema he-rausgegeben haben, macht sehr deutlich, dass Sie keineFakten nennen wollen. Sie sagen den Menschen alsonicht, was auf sie zukommt. Es wird ein weiterer Bausteinin einer Kette kontraproduktiver Gesetze und Entschei-dungen sein. Der Bausektor ist geradezu ein Parade-beispiel für die dirigistische und mittelstandsfeindlichePolitik von Rot-Grün. Die Bauabzugsteuer, die General-unternehmerhaftung, die Mindestlöhne, die Allgemein-verbindlicherklärung und das Gesetz gegen die Schein-selbstständigkeit sind Maßnahmen, die für eine in derStrukturanpassung befindliche Bauwirtschaft Gift sind.Damit werden die notwendigen marktwirtschaftlichenStrukturveränderungen in der Baubranche aufgeschoben.Herr Wiesehügel, Sie sollten aber wissen: Auf Dauer kannman keine Politik gegen den Markt machen. SpätestensHolzmann müsste Sie das doch eigentlich gelehrt haben.
Aufgabe der Politik ist es nach unserer Auffassung,günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Dafür mussman auch das Steuersystem verändern. Man muss dafürsorgen, dass die Lohnnebenkosten wirklich sinken. Manmuss bessere Arbeitsmarktbedingungen schaffen.Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung jedenfalls gibt ein sehrdeutliches Urteil ab. Er erklärt:Für völlig verfehlt halten wir die Absicherung des Ta-rifvertrages durch sanktionierende Regulierungen ...,indem die Tariftreue zur Bedingung für die Vergabevon öffentlichen Aufträgen gemacht wird ... Wir raten– so der Sachverständigenrat –von diesem Gesetz ab, hoffentlich nicht wieder um-sonst.Mir stellt sich wirklich die Frage, warum Sie sich einenSachverständigenrat leisten. Erst gestern Abend mussteich in einem anderen Zusammenhang deutlich machen,dass Sie immer und immer wieder gegen die Empfehlun-gen dieses Sachverständigengremiums verstoßen. Soauch hier. Die Wirkungen für die Bauwirtschaft werdenfatal sein.
Sie verkennen – das haben Sie in früheren Debattenund auch im Ausschuss schon deutlich gemacht –, dassdann, wenn ein solches Gesetz kommt, Bauaufträge undnatürlich auch der Nahverkehr für die Kommunen spür-bar teurer werden. Das Bundesministerium für Wirtschaftund Technologie – leider gibt es nur inoffizielle Zahlen –geht von bis zu 2,5 Milliarden Euro an zusätzlicher Be-lastung für die Kommunen aus. Weil die finanziellenMöglichkeiten nichts anderes zulassen, werden sie insbe-sondere an ihren öffentlichen Aufträgen sparen müssen.Es wird insgesamt ein geringeres Bauvolumen geben. Eswird zu einer Vernichtung von Arbeitsplätzen im Bausek-tor kommen. Das wollen wir nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derzeit ist vor demBundesverfassungsgericht ein Verfahren anhängig, indem ein Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs zu Ta-riftreueklauseln vorliegt. Das zeigt: Ihr Vorhaben, ein Ta-riftreuegesetz zu verabschieden, erfolgt zur Unzeit. Esdarf nicht kommen. Wir wollen, dass alle Menschenschon heute über das Bescheid wissen, was Sie in dernächsten Woche an Maßnahmen auf den Tisch legen wol-len. Wir von der FDP werden uns auf jeden Fall deutlichgegen dieses Gesetz stellen.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Wiesehügel.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich habe viel Verständnis dafür, dass die Oppositionversucht, Themen auszuschlachten, die keine richtigenThemen sind. Aber das, was Sie hier treiben, verstehe ichnun wirklich nicht, Herr Kolb. Wir haben einen Gesetz-entwurf in erster Lesung in den Deutschen Bundestag ein-gebracht. Wenn es für Sie Verschleierung ist, einen Ent-wurf in erster Lesung in dieses Haus einzubringen, dannbegreife ich das nicht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Heinrich L. Kolb23024
Sie wissen, was wir wollen. Rot-Grün hat einen Ge-setzentwurf in erster Lesung eingebracht. Er wird innächster Zeit in zweiter und dritter Lesung beraten wer-den. Das ist ein normaler Vorgang, wie er jeden Tag pas-siert. Dies kann man nicht als Verschleierung bezeichnen.Es ist klar, dass es Ihnen politisch nicht passt, Herr Kolb,dass ein solcher Gesetzentwurf von Rot-Grün auf denWeg gebracht wird. Das liegt nicht in der Logik IhresDenkens; deswegen sind Sie ja auch in der Oppositionund haben keine Mehrheit in der Bevölkerung. Sie sehendie Dinge nun einmal falsch, Rot-Grün sieht die Dingemit der Unterstützung dieses Volkes richtig. So ist dieLage zurzeit nun einmal.
Lassen Sie mich inhaltlich nur kurz auf einige Punkteeingehen, da wir diese Debatte spätestens bei der zweitenund dritten Lesung des Tariftreuegesetzes noch intensiverführen werden. Ich muss Ihnen heute erneut vorwerfen,dass die Krise der deutschen Bauwirtschaft von Ihnen völ-lig falsch eingeschätzt wird, auch die Ursache dafür. InIhrem Antrag schreiben Sie, dass diese Regierung für dieKrise der deutschen Bauwirtschaft verantwortlich sei. Ichhabe an dieser Stelle schon einmal deutlich gemacht, dassdiese Probleme seit 1995 vorhanden und konjunkturellerund struktureller Natur sind, was nachweislich vor allenDingen auf eine falsche Steuerpolitik der ehemaligen Re-gierung und nicht auf die Politik, die wir in den letztenvier Jahren gemacht haben, zurückzuführen ist. Dafür,dass Sie versuchen, das in der Öffentlichkeit so darzustel-len, habe ich Verständnis. Die meisten kapieren schon,dass Sie völlig falsch liegen.
Wegen meiner Redezeit, die bei einer Debattendauervon 30 Minuten nicht allzu lang ist, gehe ich in diesemZusammenhang nur noch auf einen Punkt ein, der Sie et-was mehr beeindrucken sollte als das, was Sie sich da-rüber bisher haben sagen lassen oder selbst ausgedachthaben, Herr Kolb. Das, was wir planen, nämlich ein Ge-setz, in dem bei der öffentlichen Vergabe auf die Spielre-geln geachtet wird – es geht nicht um das Eingreifen inden Markt, sondern um das Vergeben von öffentlichenAufträgen, die ausschließlich aus Steuergeldern finanziertwerden –, ist nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches inder Welt. Viele Bundesstaaten der USA haben positive Er-fahrungen mit vergleichbaren Gesetzen gemacht. Wir ha-ben festgestellt, dass sich die Preise für die Bauwirtschaftin den Ländern, in denen es ein solches Vergabegesetzgibt, erheblich besser stabilisiert haben und dass die Un-ternehmen dort froh sind, dass der Staat die Vergabebe-dingungen schützt.Sie schreiben in Ihrem Antrag etwas von einer Verfas-sungsproblematik.
– Es ist doch in der Anhörung klargestellt worden, dassunser Gesetz europakonform sein wird.Die grundsätzliche Überlegung ist: In unserem Landwill der Staat den Arbeitnehmern nicht vorschreiben, wiehoch ihr Lohn ist, und auch nicht den Arbeitgebern vor-schreiben, wie hoch der Lohn ist, den sie zu zahlen haben.Vielmehr sagt das Grundgesetz, dass Arbeitgeber undGewerkschaften die Löhne aushandeln. Das heißt, eineAufgabe, die anderenorts vom Staat selbst wahrgenom-men wird, ist bei uns den Tarifvertragsparteien übertragenworden. Angesichts dieser Vorschrift im Grundgesetz istder Gesetzgeber meiner Meinung nach dann aber ver-pflichtet, zu überprüfen, ob sein Auftrag auch eingehaltenwird. Das ist doch keine privatrechtliche Veranstaltung,bei der sich ein paar Leute zusammensetzen und einenVertag zulasten von wem auch immer abschließen. In un-serem Land haben wir uns darauf geeinigt, dass die Tarif-vertragsparteien, also Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände, die Arbeitsbedingungen regeln. Dann habenwir doch auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit,darauf zu achten, dass das gilt, was sie miteinander gere-gelt haben, zumindest dann, wenn Aufträge aus Steuer-geldern vergeben werden.
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen, auch wennIhnen das wegen Ihrer Denke schwer zu vermitteln ist. Ichbedaure das außerordentlich, hoffe aber, dass sich dieserAnsatz bei Ihnen festsetzt.Dann sprechen Sie immer vom Diktat des IG-BAU-Vorsitzenden. Dass man hier differenzieren muss, wird Ih-nen in dieser Legislaturperiode nicht mehr beizubringensein, vielleicht – ich weiß nicht, ob Sie in den Bundestagzurückkommen – auch in der nächsten nicht. Es ist nichtmein Herzensanliegen, sondern es ist das Herzensanlie-gen von 70 000 Bauunternehmern und von 700 000 Bau-arbeitnehmern.
– Hören Sie einmal zu: Es geht nicht um die Arbeitneh-mer allein. Fragen Sie einmal Tausende von Arbeitgebernin diesem Bereich, die keine Rendite mehr haben undnicht mehr wissen, wie der Wettbewerb funktionierensoll und wie sie bei der gegebenen Dumpingsituationüberhaupt noch rentierliche Geschäfte machen können.
Wenn der Markt absolut ungeregelt ist, wie es Ihrer Ideo-logie und Philosophie entspricht, ist dies nicht zum Vor-teil, sondern zum Nachteil des Arbeitgebers. Das ist in derStatistik der deutschen Bauwirtschaft nachzulesen und hatnichts mit den Interessen eines Gewerkschafters, sondernmit dem realen Funktionieren des Marktes zu tun. Ich bitteSie einfach, das zur Kenntnis zu nehmen.Darüber hinaus muss ich noch einmal deutlich machen,dass es nicht der Wunsch des Vorsitzenden der Gewerk-schaft, sondern der des Abgeordneten Wiesehügel ist. Ersteht vehement dahinter, weil er von Arbeitgebern undvon Arbeitnehmern aus der Baubranche angesprochen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Klaus Wiesehügel23025
wird. Er wird auch von Arbeitgebern und Arbeitnehmernaus dem öffentlichen Personennahverkehr angesprochen.
Es ist also keine nur auf den Bau bezogene Angelegen-heit, wie Sie denken, sondern es handelt sich um einbreites Problem, das viel mehr Menschen als nur dieje-nigen betrifft, die im Baugewerbe tätig sind. Deswegenhat es mit mir persönlich nichts zu tun. Hier geht es umein dringendes Bedürfnis, das diese Regierung erfüllenmuss.Herr Kolb, lassen Sie es sich von mir gesagt sein:Nichts ist so dringend wie dieses Gesetz. Mit der heutigenShowveranstaltung werden Sie es auch nicht verhindern.Wir werden den Gesetzentwurf, sobald er endgültig for-muliert ist, rechtzeitig in den Deutschen Bundestag ein-bringen.
Dann können wir uns im Rahmen der zweiten und drittenLesung dieses Gesetzes noch einmal darüber unterhalten.Sie werden sich wundern, welch hervorragendes GesetzRot-Grün hier einbringen wird. Mit diesem Gesetz wer-den die meisten Menschen in diesem Land nicht nur ein-verstanden sein, sondern sie werden froh sein, dass esendlich kommt, denn es wird heiß ersehnt.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Verehrter Herr Kollege Wiesehügel, Siehaben die Thematik des Tarifzwangs aus der Sicht einesGewerkschafters beurteilt, der natürlich auch die Flächen-tarifverträge im Auge hat. Sie müssen einfach zur Kennt-nis nehmen, dass die Unternehmen der Baubranche inOstdeutschland nur zu 10 Prozent in diese Flächentarif-verträge eingebunden sind.
90 Prozent der Unternehmen arbeiten vernünftig mit ihrenBetriebsräten zusammen; dort besteht ein ordentlichesVerhältnis in der Übereinkunft, im Hinblick auf die Be-triebsphilosophie die Karten klar auf den Tisch zu legen.Sie wissen, wie bescheiden die Auftragslage im Bereichder Bauwirtschaft in Ostdeutschland ist.
Deshalb kann ich Ihnen, Herr Kolb, nur zustimmen:Das Tariftreuegesetz ist das falsche Signal zum falschenZeitpunkt. Es geht zulasten derjenigen, die schon jetzt inwirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken.
– Das können Sie aber annehmen. Ich war Bürgermeisterund Landrat. Ich kenne die Vergabekriterien nach VOBund VOL und all das, was notwendig ist.Wenn ich meine Leute schützen will, dann muss ichüberlegen, ob ich nicht einen öffentlichen Teilnehmer-wettbewerb durchführe, damit ich nicht immer die GUs,also die großen Unternehmen, bevorteile, sondern die klei-nen und mittelständischen Unternehmen ganz speziell för-dern kann. Achten Sie deshalb doch lieber darauf, dass derMindestlohn von 16,47 DM, den die Leute auf dem Bauunbedingt brauchen, eingehalten wird! Kämpfen Sie ge-gen Schwarzarbeit.Wenn Sie den Tarifzwang durchsetzen wollen, dannmüssen Sie in den Verordnungen zu den Ausschreibungs-unterlagen weitere zehn Blätter vorsehen. Das muss alleskontrolliert werden. Wir müssen hinter jeden einzelnenArbeitnehmer noch jemanden stellen, der aufpasst, dassalle Bedingungen eingehalten werden.Ursache für die Lage in der Bauwirtschaft ist nicht nurdie von Ihnen immer wieder gegeißelte, angeblich verfehlteSteuerpolitik der Bundesregierung von 1990 bis 1998. Wirhaben damals mit den Mitteln der steuerlichen Bevortei-lung erst einmal das Kapital in Richtung Ostdeutschlandgebracht. In diesem Zusammenhang waren das Bauen unddie Immobilien sehr wichtig. 80 Prozent dessen sind unsgeglückt.Herr Schulz, Sie äußern auch immer wieder, es gebe soviele leer stehende Wohn- und Büroräume. Wir haben ganzeIndustriezweige wie die Landwirtschaft und den Metallbau,in denen sich die Auftragslage 1990 stark verschlechterte,umstrukturiert und deren frühere Beschäftigte in die Bau-wirtschaft gelenkt. Die jetzige Bundesregierung aber hates versäumt, eine solche Rückführung und Umstruktu-rierung und eine Überprüfung in neue Berufsgruppenüberhaupt in Angriff zu nehmen. Deshalb haben wir jetztdieses Desaster.Mit der Verabschiedung Ihres Tariftreuegesetzes wer-den Sie erreichen, dass ostdeutsche Bauunternehmenüberhaupt keine Chance mehr haben, sich am öffentlichenWettbewerb in den alten Bundesländern zu beteiligen;das bedeutet für sie eine echte Wettbewerbsbenachteili-gung. Insofern kann ich dem Antrag der Kollegen derFDP nur zustimmen: Dem muss endlich ein Riegel vor-geschoben werden, damit wieder vernünftige Verhältnisseder Marktwirtschaft eintreten.
Die Auftragslage in den neuen Bundesländern ist nichtnur deshalb so schlecht, weil das Gros der Bauaufträge ab-gearbeitet wurde, sondern auch, weil die Bundesregierungbei den Förderungen gemäß ihrem Investitionsprogrammdie Schraube weiter heruntergedreht und Einsparungen inOstdeutschland verordnet hat. Das können Sie nachlesen.In den 90er-Jahren gab es im Bereich der öffentlichen Auf-träge viel mehr Möglichkeiten, Infrastruktur zu schaffen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Klaus Wiesehügel23026
angefangen vom Feuerwehrhäuschen über Straßen undFußwege bis hin zu den Möglichkeiten, das Wohnumfeldin den Plattenbausiedlungen zu verbessern, weil diese Maß-nahmen mit finanziellen Programmen unterfüttert wurden.Das hat sich mittlerweile in eine ganz andere Richtung ent-wickelt. Die entsprechende Auftragsdecke ist sehr geringgeworden.Die Steuerreform von Herrn Eichel hat insbesondereostdeutsche Städte und Gemeinden getroffen; sie habennun keinen Finanzspielraum mehr und können dadurchauch keine öffentlichen Aufträge mehr vergeben. Die Un-ternehmer stehen in den dortigen BürgermeisterämternSchlange und fragen nach Aufträgen. Der Bürgermeisteroder der Landrat muss sagen: Es tut mir Leid; mir sinddurch die jetzt beschlossene widerliche Steuerreform
praktisch alle Einnahmen aus der Gewerbesteuer wegge-nommen worden. Ich habe keinen Finanzspielraum undkann deshalb nicht mehr agieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich unsereBauunternehmen am freien Markt in die Richtung bewe-gen müssen, wo sich Arbeit findet, aus Mecklenburg-Vor-pommern und der Lausitz nach Nordrhein-Westfalen oderHamburg gehen und dort Aufträge von der freien Wirt-schaft gewinnen, soll in Ordnung sein. Dafür erfüllen siealle Bedingungen, die notwendig sind, und liefern die rich-tige Leistung zum richtigen Zeitpunkt und der Auftragge-ber ist zufrieden. Aber bei der öffentlichen Auftragsver-gabe soll das nicht der richtige Weg sein? Das ist eineWettbewerbsbehinderung, mit der wir uns ebenso wie dieUnternehmen in Ostdeutschland nicht einverstanden erklä-ren können. Wir werden zusammen mit der FDP für diesenAntrag streiten, damit endlich Chancen- und Wettbewerbs-gleichheit entsteht.
– Ja, in Bayern war das auch so. Jetzt fängt diese Litaneiwieder an, verehrter Herr Wiesehügel.
Das war ein zentraler Punkt, als der Großflughafen„Franz-Josef-Strauß“ in München gebaut worden ist unddie europäische Harmonisierung im Bereich der Bauwirt-schaft noch nicht so weit fortgeschritten war, dass Chan-cengleichheit erreicht war. Das ist mittlerweile längst aufein vernünftiges Niveau gebracht worden, sodass solchedirekten Regulierungen nicht mehr unbedingt benötigtwerden. Sie gehören insgesamt abgeschafft, damit derfreie Wettbewerb wieder eine vernünftige Chance hat.
Diesbezüglich gibt es, weil die Menschen hinter derArbeit herziehen, in den neuen Bundesländern ein massi-ves Abwanderungsproblem. In der Bauwirtschaft zeigtsich das eindeutig. 50 Prozent der Firmen im Bauge-werbe in Ostdeutschland – sowohl im Bauhaupt- als auchim Baunebengewerbe – sind längst in Insolvenz gegangenund vom Markt verschwunden.
Jetzt müssen wir darauf achten, wenigstens die restlichenFirmen in ein vernünftiges wirtschaftliches Fahrwasser zubringen. – Vielleicht sind es sogar noch mehr als 50 Pro-zent, Herr Wiesehügel.Ich danke all denen, die als Betriebsräte mit den Un-ternehmern zusammen die Firmenphilosophie ihrer Bau-unternehmen vernünftig begleiten und sagen: Jawohl, soweit können wir die Lohnforderungen gemeinsam einhal-ten. Denn der Unternehmer ist meist mit seiner Familie,seinem Haus und seiner Lebensversicherung im Unter-nehmen verschuldet. Wenn das den Bach heruntergeht,hat er auch persönlich ein Riesenproblem. Die Unterneh-mer sind aber die Pioniere des Aufbaus in Ostdeutschland.
Wir können sie nicht so behandeln, wie Sie das derzeittun. Wir müssen zu ihnen stehen. Deshalb stimmen wirdem Antrag zu.
Jetzt hat der Ab-geordnete Werner Schulz das Wort.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kol-lege Kuhn, vielleicht denken Sie noch einmal darübernach, ob Sie damit etwas Gutes tun, wenn Sie diesem An-trag zustimmen. Vielleicht sollten Sie es davon abhängigmachen, wie der Gesetzentwurf, den wir als Koalition ein-gebracht haben, in der nächsten Woche bei der zweitenund dritten Lesung aussieht.
Ich gebe Ihnen Recht, Kollege Kolb, dass man keinePolitik gegen den Markt betreiben kann, aber ich meine,man kann auch keine Politik gegen die Beschäftigten ma-chen. Das ist ein anderer Grundbestandteil der sozialenMarktwirtschaft.
Wenn Ihre Kollegin Pieper verbreitet – so wie sie dasgestern getan hat –, dass den ostdeutschen Bauunterneh-men durch das Tariftreuegesetz eine große Pleitewelledrohe, dann handelt die resignierte Ministerpräsidentin inspe falsch.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Werner Kuhn23027
Sie verbreitet zwar Stimmungen, aber nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit ist, dass Sie mit dieser Resignation, mitMissmut, Verzweiflung und dergleichen mehr eben nichtdie Stimmung in Sachsen-Anhalt kippen können. Ichhoffe, dass nach Ihrem möglichen Wahlerfolg nicht ein fa-der Nachgeschmack bleiben wird, ein liberaler Abgangà la Rexrodt, nämlich dass zwar im Wahlkampf großeSprüche geklopft werden, dem aber dann klammheimlichund leise weinend der Abgang folgt.Entscheidend ist die Eigenverantwortung – das kommtin Ihrem Antrag auch nicht zur Sprache – hinsichtlich derFrage, warum die Krise in der Bauwirtschaft eigentlichbesteht. Es sind nicht nur die Überkapazitäten, KollegeKuhn, die durch großzügige Steuerabschreibungen geschaf-fen worden sind. Natürlich ist nicht jedes Bauvorhaben ver-fehlt gewesen, aber es gibt im Osten eine ganze Menge vonInvestitionsruinen und Bürogebäuden, die niemand sorichtig braucht und die durch Steuermittel finanziert wordensind. Wir haben eine überdimensionierte Bauindustrie, diein dem Maße heute niemand mehr braucht. Der Gesund-schrumpfungsprozess lässt sich aber nicht einfach gestalten.Genauso schwierig ist das Problem der Schwarzarbeitam Bau zu lösen. Dieses Problem ist einer der Haupt-gründe dafür, warum es der Baubranche schlecht geht.Das hängt mit den hohen Lohnnebenkosten zusammen.Der Anteil der Lohnnebenkosten ist im Übrigen in IhrerRegierungszeit von 34 Prozent auf 43 Prozent gestiegen.
– Während unserer Regierungszeit sind sie – das wissenSie doch – durch die Ökosteuer im Grunde genommeneingefroren worden. Sie haben die Kosten der deutschenEinheit über die Lohnnebenkosten finanziert. Das hat inder Baubranche mächtig zu Buche geschlagen.Ich möchte Ihnen ganz klar sagen – daraus habe ich nieein Geheimnis gemacht –, dass meine Fraktion mit demTariftreuegesetz, so wie es in erster Lesung eingebrachtworden ist, nicht zufrieden war. Wir haben deshalb in Ge-sprächen mit der SPD-Fraktion – Sie werden das im Detailnächste Woche erfahren – eine Lösung gefunden: Durchein Stufenmodell wird das Gefälle zwischen den Ost- undden Westtariflöhnen schrittweise ausgeglichen. DiesesModell sieht auch einen etwas höheren Auftragswert vor,als wir das ursprünglich geplant hatten.Wir werden darüber hinaus die Bundesanstalt für Ar-beit von den Kontrollpflichten entbinden, weil solcheKontrollen zweckfremde Aufgaben für die Bundesanstaltfür Arbeit wären. Wir werden auch ein so genanntes Sün-denregister auflegen, in dem künftig Betriebe, die mitLohndumping, Billigangeboten und anderen unfairen Me-thoden operieren, registriert werden. Ich glaube, wir habeneine Lösung gefunden, die der ostdeutschen Bauwirtschaftden Übergang sehr einfach machen wird. Das ist ein gutesAngebot an die ostdeutsche Bauwirtschaft; denn im Grundegenommen werden die tariflich nicht gebundenen Betriebeauch davon profitieren. Diese werden künftig bei der Ver-gabe öffentlicher Aufträge besser zum Zuge kommen. Wirleisten damit einen echten Beitrag zur Liberalisierung desWettbewerbes, der nicht nur aus Lohndumping und dembilligsten Angebot besteht. Im Wettbewerb muss sich inerster Linie besserer Service und besserere Qualität be-haupten können. Das Ganze muss allerdings entsprechendsozial eingebunden werden.Sie wissen, Fakt ist, das Tariftreuegesetz ist nicht nureine Angelegenheit des Bundes. Solche Gesetze gibt esauch in Bayern, im Saarland und in Sachsen-Anhalt. DasTariftreuegesetz ist also keine rot-grüne Erfindung. Wirwollen lediglich dafür sorgen, dass in der ganzen Bundes-republik in etwa vergleichbare Kriterien bei der Vergabeöffentlicher Aufträge berücksichtigt werden.Ich hoffe, dass das, was wir erarbeitet haben, nächsteWoche Ihre Zustimmung finden wird.
Zu einer Kurz-
intervention gebe ich das Wort dem Kollegen Wiesehügel.
Herr Kuhn, Sie haben vor-
hin gesagt, dass die Hälfte der Baufirmen in Ostdeutsch-
land bereits in Konkurs gegangen sei. Ich habe Ihnen an
dieser Stelle lautstark zugerufen – das war sicherlich un-
gebührlich; deswegen möchte ich es jetzt in der richtigen
parlamentarischen Form tun –, dass das nicht der Wahrheit
entspreche. Ich bitte Sie, das, was Sie gesagt haben, noch
einmal zu überprüfen. Dann werden Sie nämlich feststel-
len, dass sich die Zahl der Bauunternehmen in den neuen
Bundesländern seit 1995 erhöht hat, wenn auch nur ge-
ring. Halbiert hat sich die Zahl der Arbeitnehmer, nicht die
der Betriebe. Die Zahl der Betriebe hat sich im gleichen
Zeitraum um 46 erhöht. Ich bitte, das zur Kenntnis zu neh-
men und sich demnächst sachkundig zu machen, bevor
man hier etwas behauptet.
Danke.
Das Wort zur Er-
widerung hat der Kollege Kuhn.
Herr Kollege
Wiesehügel, in statistischen Dingen sind Sie sicherlich
sehr bewandert und wissen auch, sie entsprechend darzu-
stellen. Ich sage nur: Die Unternehmen, die Sie gerade an-
gesprochen haben und deren Zahl nach Ihren Worten ge-
stiegen ist, bestehen aus Auffanggesellschaften. Es handelt
sich also um Unternehmen, die nach der Liquidation bzw.
der Insolvenz neu aufgebaut worden sind. Aber die Hälfte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – da haben Sie
völlig Recht – stehen mit leeren Händen da. Damit nicht
genug: Sie wollen nun diejenigen, die noch Arbeit haben,
benachteiligen. Das wollte ich Ihnen bloß sagen.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Ulla Lötzer.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Werner Schulz
23028
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kolb, auch wenn Sie gerade nicht
zuhören: In vielen Ihrer Programme, in vielen Ihrer Reden
treten Sie von der FDP für die direkte Demokratie ein und
Sie fordern möglichst viele Chancen für die Bürgerinnen
und Bürger zur Gestaltung ihres Lebens. Dass die Demo-
kratie für Sie allerdings spätestens vor dem Betrieb Halt
macht, das verschleiern Sie sowohl in Ihrer Rede als auch
in Ihrem Antrag.
Für uns gilt das nicht: Demokratie darf gerade nicht vor
den Werkstoren Halt machen; deshalb ist die Tarifauto-
nomie ein Grundbestandteil sozialer Demokratie und
nicht das von Ihnen eben wieder beschimpfte Tarifkartell.
Deshalb ist ein Tariftreuegesetz längst überfällig. Ein sol-
ches Gesetz wäre nicht die Instrumentalisierung des Ver-
gaberechts für vergabefremde Zwecke.
Statt demokratische Gestaltungszwecke auch da einzu-
fordern, wo sie gefährdet sind, setzen Sie mit Ihrem An-
trag auf nichts anderes als auf Verdrängungswettbewerb,
Tarifflucht und die Ausweitung illegaler Beschäftigung.
– Das tue ich.
Das führt zu Arbeit auf oder unter dem Sozialhilfeniveau
und es ist nicht gerade familienfreundlich, zuzusehen, wie
Familien durch diese Entwicklung zunehmend in die Ar-
mut getrieben werden. Auch das muss man deutlich sa-
gen.
Dass Dumpingkonkurrenz weder die zukünftige Wirt-
schaftsentwicklung fördert noch Arbeitsplätze sichert, ge-
rade das zeigt das Beispiel Ostdeutschland.
– Auch dazu komme ich gleich. – Im Gegenteil: Die Bin-
nennachfrage und die Entwicklungschancen überlebens-
fähiger Baubetriebe, gerade im Osten, werden zerstört.
Unternehmen durch wirksame Kontrollen vor Schmutz-
konkurrenz zu schützen, die sie in den Ruin treibt, ist für Sie
wuchernde Kontrollbürokratie und ein Versuch der Krimi-
nalisierung von Wettbewerbern. Erpresserische Ausbeu-
tung illegal in die Bundesrepublik gekommener Menschen,
dadurch erlangte unlautere Wettbewerbsvorteile und Ver-
stöße gegen Arbeits- und Sozialgesetze sind nach Ihrem
Antrag dagegen Kavaliersdelikte, in die sich die Politik
nicht einmischen soll. Das heißt nichts anderes als Berei-
cherung der Skrupellosen und Ruinierung der Betriebe,
die sich an Tarife halten. Ein demokratischer und sozialer
Rechtsstaat ist das nicht.
Herr Schulz, noch ein Wort zu Ihnen: Dass die FDP ei-
nen solchen Antrag heute einbringt, hat natürlich auch mit
Ihrer Blockadehaltung gegen das Tariftreuegesetz zu tun;
denn die Verpflichtung – das sage ich Ihnen schon einmal
im Hinblick auf die Auseinandersetzung in der kommenden
Woche – müsste den Punkt einschließen, Lohndumping so-
fort und zu 100 Prozent zu verhindern. Tariftreue auf Ra-
ten, wie Sie sie in das Gesetz einbringen, darf es nicht ge-
ben; denn das heißt Tarifdumping und Elend auf Raten.
Deshalb hoffen wir, dass Sie Ihre Haltung bis zur Ausei-
nandersetzung in der nächsten Woche noch ändern.
Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Weiermann.
Frau Präsidentin!Meine Damen! Meine Herren! Eines muss man der FDPan dieser Stelle einmal deutlich sagen:
– Ja, konsequent sind Sie. –
Bei Ihnen geht es in der Tat um Deregulierung um jedenPreis. Das zeigt sich nicht nur in diesem Antrag, sondernauch bei Ihrer Haltung zur Reform der Betriebsverfas-sung, die erst vor wenigen Monaten beschlossen wordenist.
Wir kennen Ihre Anträge gegen den Flächentarifvertragund wir kennen Ihre Anträge zu betrieblichen Bündnissenfür Arbeit. Das ist nichts anderes als der Abbau von Rech-ten.
Das ist Ihre Linie. Vor diesem Hintergrund kann man Ih-nen an dieser Stelle auch sagen: Sie greifen die Wirt-schafts- und Sozialpolitik der Koalition pauschal an undSie haben es eigentlich darauf abgesehen, die eben ge-nannten Rechte zu tangieren und am besten abzuschaffen.
Im Grunde genommen verfolgen Sie dieses Ziel mit derheutigen Debatte und mit diesem Antrag.In diesem Antrag ist die Rede von einem weiterenRückgang des öffentlichen Auftragsvolumens.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002 23029
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ja, bitte.
Ich mache es auch ganz
kurz.– Herr Kollege Weiermann, ich habe Ihnen doch vor-
gelesen: Ihr Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-
samtwirtschaftlichen Entwicklung empfiehlt Ihnen drin-
gend, das Tariftreuegesetz nicht zu realisieren. Wollen Sie
dann, wenn Sie schon uns beschimpfen und nicht auf
mich hören, bitte wenigstens auf Ihren Sachverständi-
genrat hören?
Ich sage Ihnen an die-ser Stelle, dass das Tariftreuegesetz im Rahmen des Verga-berechts den Sinn hat, genau die Unternehmen in der Bun-desrepublik Deutschland zu schützen, die sich an Gesetzeund Tarifverträge halten und damit ihren Beitrag zu einemWettbewerb leisten, der in normalen Bahnen verläuft.
Dazu stehen wir und das werden wir in der nächsten Wo-che auch durchbringen.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von „wuchernder Kon-trollbürokratie“ und „Kriminalisierung von Wettbewer-bern“. Herr Kolb, das klingt alles so fürchterlich, dass sichdie Haare sträuben, nur ist das schlicht und einfach nichtwahr. Es ist falsch. Was Sie hier betreiben, ist unseriös.
Sie führen sich als selbst ernannte Hüter des Wettbewerbsauf,
wollen aber nicht zur Kenntnis nehmen, dass das Prinzipder Tariftreue im öffentlichen Vergaberecht eine unver-zichtbare Bedingung für fairen Wettbewerb ist, wie ichvorhin schon einmal gesagt habe.Ihr Antrag ist kein Beitrag zur Sicherung der Wettbe-werbschancen. Er ist ein Beitrag zur Festschreibung vonWettbewerbsverzerrungen. Genau das Gegenteil von dem,was Sie uns hier sagen, tritt bei einer solchen Entwicklungein. Grauzonen im Tarifrecht, geduldete Verstöße gegengeltende und akzeptierte Normen höhlen den Wettbewerbaus. Genau das wollen wir als Grüne und Sozialdemokratenmit unserem Gesetzentwurf, der in der nächsten Wochebehandelt wird, verhindern. Das ist der elementare Unter-schied zu Ihnen.
Öffentliche Auftraggeber haben letztlich eine Vorbild-funktion bei der Auftragsvergabe. Die Deregulierung, wel-che die FDP in diesem Bereich fordert, zerstört jedochüber kurz oder lang das Tarifrecht. Das wollen Sie auch.
Das ist das Ziel, welches die FDP wohl langfristig imAuge hat und für dessen Erreichung sie anscheinend auchbereit ist, den lauteren, den vernünftigen, den fairen Wett-bewerb zu opfern. Sehr geehrter Herr Kolb, was Sie hiervortragen und was Sie geschrieben haben, ist geradezuabenteuerlich. Wir werden diesen abenteuerlichen Wegnicht mitgehen.
Der Wettbewerb darf nicht zulasten der Lohn- und Ar-beitsbedingungen, der Beschäftigten und der Qualität derLeistung gehen. Nach dem FDP-Antrag wäre dies aber so.Im Baubereich ist es in den letzten Jahren mit demmassiven Einsatz von Billiglohnkräften zu starken Wett-bewerbsverzerrungen gekommen. Für den Bereich desöffentlichen Personennahverkehrs ist angesichts der be-vorstehenden Liberalisierung auf europäischer Ebene eineähnliche Entwicklung zu erwarten. Gerade in mittelständi-schen Unternehmen sind aufgrund der Wettbewerbsver-zerrungen Arbeitsplätze in hohem Maße gefährdet. Mit-telständische Unternehmen leiden besonders unter denstarken Wettbewerbsverzerrungen.Durch die Tariftreueverpflichtung im Vergaberechtwerden Wettbewerbsnachteile gesetzes- und tariftreuerUnternehmen gegenüber den Billiglohnkonkurrenten ver-mindert.
Das ist die Linie, die wir verfolgen sollten. Es kann dochletztlich nicht schlecht sein, wenn es einem vernünftigenWettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland dient.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das Gesetzauch die sozialen Auswirkungen der Wettbewerbsver-zerrungen bekämpfen soll. Dies scheint ein Aspekt zusein, der die FDP in besonderem Maße irritiert. Mit demVergabegesetz werden die Belastungen für die Arbeitslo-senversicherung und die Beitragszahler verringert und dieSozialkassen stabilisiert. Für die Arbeitnehmer werdenein angemessenes Einkommensniveau und der notwen-dige Schutz, den der Flächentarifvertrag bietet, gewähr-leistet. Das ist auch gut so, Herr Kolb; wir werden davonnicht ablassen.
Dies ist für uns ein enorm wichtiger Punkt: Arbeitneh-mer wären eine beliebige Manövriermasse in einem dere-gulierten Wettbewerb, wie ihn sich die FDP vorstellt. Dasmachen wir nicht mit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 200223030
Das Ziel des Vergaberechts, wie es die FDP formuliert,nämlich „wirtschaftliche Beschaffung zu organisieren“,kann und darf nicht über der Sicherung der sozialen Maß-stäbe stehen, die eine gerechte und soziale Politik aus-machen. Der soziale Friede in unserem Land ist ein zu ho-hes Gut, als dass man ihn auf dem Altar der Deregulierungopfern dürfte. Fairer Wettbewerb ist nicht identisch mitdem Recht des Stärkeren und bedeutet schon gar nicht,dass Arbeitnehmer vogelfrei sind.
Was sind denn konkret die Kritikpunkte im Antrag derFDP? Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass dieendgültige Fassung des Gesetzentwurfs der Koalitions-fraktionen noch nicht erstellt ist. Hier werden mit Sicher-heit noch die Erkenntnisse der Anhörung vom 25. Februar2002 eingehen.
Dazu gehören die Bedenken hinsichtlich der Vereinbar-keit mit den Vorschriften der EU sowie verfassungsrecht-liche Bedenken. Frau Professor Rust und Herr ProfessorDäubler haben diese Bedenken jedoch in der Anhörungsozusagen ausgeräumt und deutlich gemacht, dass dassehr wohl mit europäischem Recht vereinbar ist.
Herr Kollege,
achten Sie bitte auf die Zeit.
Darüber hinaus bein-
haltet der Antrag nur pauschale Vorwürfe und die schon
hundertmal gehörten Vorstellungen – man möchte fast sa-
gen: Zwangsvorstellungen – der FDP. Dass Sie auf dem
von Ihnen reklamierten Gebiet des Wettbewerbsrechts so
eklatant versagen, ist schon sehr bemerkenswert. Überra-
schen tut es uns allerdings nicht.
Sie werden erleben, dass die Koalition in der nächsten
Woche ein Gesetz auf den Weg bringt, das uns allen dient,
den Wettbewerb stabilisiert und die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer vor solchen Wünschen schützt, wie Sie
und Ihre Partei sie in den vergangenen Jahren mehrfach
geäußert haben.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/8510 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert,Dr. Christa Luft, weiteren Abgeordneten und derFraktion der PDS eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Beseitigung der steuerlichen Dis-kriminierung Alleinerziehender– Drucksache 14/8274 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 14/8807 –Berichterstattung:Abgeordnete Nicolette KresslElke WülfingCarl-Ludwig ThieleDr. Barbara Höll
– Drucksache 14/8809 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerJürgen KoppelinDr. Uwe-Jens Rösselb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Ab eordneten Dr. Barbara Höll,Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der PDSGerechtigkeit im Familienlastenausgleich her-stellen– Drucksachen 14/8273, 14/8808 –Berichterstattung:Abgeordnete Nicolette KresslElke WülfingCarl-Ludwig ThieleDr. Barbara HöllNach interfraktioneller Vereinbarung ist eine halbeStunde für die Aussprache vorgesehen, die Fraktion derPDS wird fünf Minuten erhalten. Kein Widerspruch? –Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Dabei möchte ich erwäh-nen, dass die Abgeordnete Ina Lenke bittet, ihre Rede zuProtokoll geben zu dürfen1). Das machen wir dann so.Die Aussprache wird nun von Simone Violka eröffnet.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Wolfgang Weiermann23031
1) Anlage 3
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familien sind ein wich-
tiger Teil unserer Gesellschaft. Deshalb stehen sie und
ihre Belange auch im Mittelpunkt unserer Politik. Die Fa-
milienpolitik, die wir 1998 vorgefunden haben, war die-
ses Namens nicht würdig. Das hat ja nicht zuletzt auch das
Bundesverfassungsgericht der ehemaligen CDU/CSU-
und FDP-Regierung ins Stammbuch geschrieben.
Wir haben die Wichtigkeit der Familien nicht erst im
Wahlkampf entdeckt,
sondern seit unserem Regierungsantritt gezeigt, was sie
uns wert sind. So haben wir allein im Rahmen des Fami-
lienlastenausgleichs die Aufwendungen für Familien um
8Milliarden Euro erhöht. Damit nicht genug: Im Vergleich
zu 1998 hat heute eine durchschnittliche Arbeitnehmerfa-
milie jährlich bereits 1 800 Euro mehr zur Verfügung. Das
ergibt sich aus der Kindergelderhöhung von insgesamt
80 DM pro Monat und der Steuerreform, die vor allen
Dingen die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen
entlastet.
Geld allein reicht nicht, wenn man Familien fördern
will. Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
müssen stimmen.
Wir haben, wo es im Rahmen unserer politischen Mög-
lichkeiten lag, zukunftsweisende Neuerungen eingeführt.
Ich nenne nur die Elternzeit für Väter und Mütter, den Ge-
waltschutz, den Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende,
mehr Chancengleichheit für Frauen im Beruf, Verbesse-
rungen beim BAföG und Programme gegen Jugend-
arbeitslosigkeit, um nur einige Punkte zu nennen.
Nicht alles kann man aber politisch regeln. Vieles muss
sich auch im Verständnis der Gesellschaft ändern. An die-
ser Stelle möchte ich deshalb an die Bürgerinnen und Bür-
ger appellieren, sich dieser Verantwortung bewusst zu
werden. Dazu gehört auch der Umgang miteinander, der
Umgang mit Familien und vor allem mit Kindern, die viel
zu häufig als störend empfunden werden, wenn sie durch
die Wohnung oder den Garten toben.
Ansprechen will ich noch ein anderes Problem, das sich
ebenfalls nicht politisch klären lässt, sondern ein Umden-
ken erfordert. Wenn ein Mann beim Vorstellungsgespräch
nach Frau und Kindern gefragt wird und diese Frage bejaht,
dann ist das häufig für ihn ein Pluspunkt, weil er damit
zeigt, dass er bereit ist, Verantwortung für eine Familie zu
übernehmen. Wenn aber eine Frau auf die gleiche Frage
mit Ja antwortet, dann ist das häufig ein Grund, sie nicht
einzustellen, denn sie könnte ja wegen der Kinder häufi-
ger ausfallen.
Diese Einstellung ist falsch, sie ist frauen- und fami-
lienfeindlich. Es muss unser aller Anliegen sein, diese An-
sicht zu ändern.
Der PDS-Antrag birgt den Vorwurf, dass unsere Fami-
lienpolitik Alleinerziehende benachteiligt. Auch in den
Medien wurde das immer mal wieder suggeriert. Das muss
ich an dieser Stelle schlicht und einfach zurückweisen. Das
Kindergeld in Höhe von 300 DM ist eine Vorauszahlung
für viele kindbezogene Steuerfreibeträge und bei einkom-
mensschwachen Familien gleichzeitig eine Förderung.
Kindergeld erhält aber nur, wer auch Kinder hat. Nicht die
Politikerinnen und Politiker, sondern das Bundesverfas-
sungsgericht hat im Haushaltsfreibetrag und damit in der
Steuerklasse II einen ungerechtfertigten Vorteil der Al-
leinerziehenden im Vergleich zu verheirateten Eltern ge-
sehen und die Gleichstellung gefordert.
Der Gesetzgeber hat deshalb mit Wirkung zum 1. Ja-
nuar dieses Jahres eine stufenweise Abschmelzung des
Freibetrages bis zum Jahr 2005 vorgesehen, parallel zur
Einführung des neuen Freibetrages für Betreuung, Erzie-
hung und Ausbildung. Wir schmelzen den umstrittenen
Freibetrag also langsam ab, um den Betroffenen einen sanf-
ten Übergang in ein neues, verfassungskonformes System
zu ermöglichen.
Diese Regelung galt bislang allerdings nicht für Steu-
erpflichtige, die erst ab dem Jahr 2002 Alleinerziehende
werden, so genannte Neufälle, weil man glaubte, die ver-
fassungsrechtlich problematische Gewährung der Steuer-
klasse II nicht auf Neufälle ausdehnen zu können. Die
Regierungskoalition hat jetzt beschlossen, diese Neufälle
rückwirkend in die Abschmelzungsregelung einzubezie-
hen. Damit wird in den Jahren bis zum vollständigen
Wegfall des Haushaltsfreibetrages nicht mehr zwischen
alten und neuen Alleinerziehenden unterschieden.
Allerdings will ich an dieser Stelle auch noch einmal
darauf hinweisen, dass der Haushaltsfreibetrag eben nicht,
wie oftmals fälschlich behauptet, ersatzlos gestrichen
wird. Mit dem zum 1. Januar in Kraft gesetzten Freibetrag
für Betreuung, Erziehung und Ausbildung in Höhe von
2 160 Euro pro Kind haben wir eine Regelung geschaffen,
die das Kind im Vordergrund sieht und nicht den Haushalt.
Während der abgeschaffte Haushaltsfreibetrag nur einmal
pro Haushalt galt, wird der neue Freibetrag pro Kind be-
rechnet.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Wir haben im Ausschuss ge-nug darüber diskutiert.Außerdem besteht die Möglichkeit, erwerbsbedingteBetreuungskosten geltend zu machen. Das zeigt, dass wirSozialdemokraten den Anforderungen der Gesellschaft ge-recht werden und es uns wichtig ist, die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf politisch zu unterstützen.Weil die PDS in ihrem Antrag die Chancengleichheitanspricht, möchte ich noch auf ein weiteres Thema zusprechen kommen, das auch etwas mit Chancengleichheitzu tun hat, nämlich die Konsolidierung des Haushaltes.Dieses Thema wird von der Opposition immer wieder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 200223032
gern infrage gestellt, indem sie unbezahlbare Forderun-gen aufmacht oder den Bürgerinnen und Bürgern unbe-zahlbare Dinge verspricht.
Aber auch die Konsolidierung des Haushalts, von der dieRegierungskoalition nicht abgeht, hat etwas mit Chancen-gleichheit zu tun. Würden wir sie nicht vornehmen, wiesähen dann die Chancen der zukünftigen Generationenaus? Immer mehr Geld müsste für Zinsen aufgebrachtwerden und immer weniger Geld würde dann der Gesell-schaft, also auch den Familien, zur Verfügung stehen. Ichhalte es für unverantwortlich, das Geld heute auf Pumpmit vollen Händen auszuteilen und es der zukünftigen Ge-neration zu überlassen, mit den Schulden und allen damitverbundenen Problemen fertig zu werden. Wir wollen,dass auch die nachfolgenden Generationen die Möglich-keit haben, eine fortschrittliche und vernünftige Fami-lienpolitik zu gestalten.
Deshalb scheidet für uns eine Familienpolitik aus, die dienachfolgenden Generationen finanzieren müssen. Schnell-schüsse vor der Wahl, wie sie CDU/CSU und auch FDPschon des Öfteren praktiziert haben – ich erinnere nur an dieberühmten Wahlkampf-ABM –, lehnen wir ab. Damals wa-ren es die ABM-Mittel, heute ist es das von Ihnen so ge-nannte Familiengeld; mit beiden wollen Sie den Bürge-rinnen und Bürgern vorgaukeln, Sie hätten etwas für sieübrig. Aber das hat Ihnen schon damals nichts geholfenund wird es auch heute nicht.Sie sind sich ja noch nicht einmal in den eigenen Rei-hen darüber einig, wie das Konzept dazu aussehen sollund wie Sie es überhaupt finanzieren wollen. Umvertei-lung scheint da das Zauberwort zu sein. Herr Merz hat jagestern ein wenig die Katze aus dem Sack gelassen, wiediese Umverteilung aussehen soll.
Bei der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe soll gespartwerden. Weil das nicht reicht, wie Sie eigentlich selberwissen sollten, werden Sie wahrscheinlich auch wiederalte Kamellen aus der Tüte holen. Ich bin sicher, dass Sieheimlich schon an Konzepten arbeiten, in denen steht, dassÜberstunden und Nachtzuschläge besteuert werden müs-sen. Wahrscheinlich haben Sie Frau Nolte eingeschärft,vor der Wahl diesmal nicht zu sagen, dass Sie die Mehr-wertsteuer erhöhen wollen.
Das würde nämlich bedeuten, dass die Krankenschwester,die Kinder hat, einen Teil ihres so genannten Familien-geldes selber bezahlen muss, weil sie für ihre ZuschlägeSteuern zahlen soll.Aber damit nicht genug. Sie schweigen sich auch da-rüber aus, was bei der Umsetzung Ihres Vorschlags mitdem Kindergeld passieren soll. Wollen Sie es abschaffen?
Was ist mit dem Freibetrag für Betreuung, Erziehung undAusbildung? Wollen Sie den abschaffen? Was ist mit demBAföG? Wollen Sie es abschaffen? Was ist mit dem kos-tenlosen Zahnersatz für Jugendliche? Wollen Sie ihn, wieSie es schon einmal getan haben, erneut abschaffen? Ichkann die Liste meiner Fragen noch verlängern. Aber daswürde meine Redezeit nur sprengen.Ich garantiere Ihnen, die Bürgerinnen und Bürger wer-den die entsprechenden Antworten bekommen wollenund nicht blind Ihren vollmundigen Versprechen auf denLeim gehen.Für die SPD-Fraktion jedenfalls gilt: Wir machen Fa-milienpolitik mit Herz und Verstand
und nicht – wie die CDU/CSU – mit Merz ohne Konzeptund leerer Hand.
Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Elke Wülfing.Elke Wülfing (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Frau Violka, dieser Strauß vonMerkwürdigkeiten, den Sie gerade präsentiert haben, hatmich wirklich nachdenklich gemacht. Um Ihre Verfeh-lungen in der Familienpolitik zu beschönigen, haben Sieversucht, alles Mögliche anzuführen.Sie haben von Haushaltskonsolidierung gesprochen.Eines ist richtig: Herr Eichel hat den Haushalt nicht kon-solidiert, sondern er hat weiter Schulden aufgehäuft.
Trotzdem hat er die Familien nicht entlastet.
Jetzt plötzlich, kurz vor dem 22. September, entdeckenSie – wie die Grünen, die PDS und die FDP – das ThemaFamilie.
Da Sie an diesem Thema offensichtlich interessiert sind,werden Sie sicherlich wahrgenommen haben, dass dieCDU im Dezember 1999 auf der Tagung ihres Bundes-ausschusses ein familienpolitisches Konzept auf den Tischgelegt hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Simone Violka23033
– Frau Kressl, ich darf hier zumindest darauf hinweisen,dass wir das Thema Familienpolitik nicht erst am Vor-abend der Wahl entdeckt haben. Die Union, also CDUund CSU, nimmt dieses Thema länger ernst, als Sie estun.
Wir haben 1999 ein Familienförderkonzept auf denTisch gelegt. Es beinhaltete ein Familiengeld und Rege-lungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf,um die Erziehungsfähigkeit der Familien zu stärken. Jetzthat Herr Schröder entdeckt, dass dieses Thema mög-licherweise für ihn wichtig ist.Was ich Ihnen, Frau Höll – jetzt sind Sie an der Reihe –,heute besonders übel nehme, ist, dass die PDS zwei Tagevor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt meint, sie müsseihr Fähnchen noch für die Alleinerziehenden heraushän-gen. Sie werden wissen, dass die SPD im vorigen Jahr vonder Opposition vorgetragene Kritikpunkte zur Ungleich-behandlung von Alleinerziehenden aufgegriffen und ihreHaltung revidiert hat, ausgerechnet – das muss man sicheinmal vorstellen – im Steuerbeamten-Ausbildungsgesetz!Ich weiß nicht, was die Familie damit zu tun hat.
Ich denke, die Alleinerziehenden in Sachsen-Anhaltsind so intelligent, dass sie diesen Vorschlag als Wahl-kampfparole erkennen.
Sie hätten genauso gut auf die Anhörung und auf dienächste Sitzungswoche warten können. Ich denke, jederkann Ihre Taktik durchschauen.
SPD und Grüne haben – ich habe es eben schon gesagt –ausgerechnet mithilfe des Steuerbeamten-Ausbildungsge-setzes versucht, die Situation von Alleinerziehenden einklein wenig zu verbessern. In einer Sonderregelung des sogenannten 2. Familienfördergesetzes war vorgesehen, dassnur Alleinerziehende den abgeschmolzenen Haushalts-freibetrag bekommen sollen, die bereits im Veranlagungs-zeitraum 2001 die Voraussetzungen dafür mitbringen. DieseRegelung bedeutete zum Beispiel, dass eine Alleinerzie-hende, deren Kind Ende 2001 geboren ist, steuerlich andersbehandelt wird – ihr wird ein abgeschmolzener Freibetragzugesprochen – als diejenige Alleinerziehende, deren Kindnach 2001 geboren wurde. Letztere stand nämlich plötz-lich im Regen.Nun ist es natürlich durchaus richtig, dass man inner-halb der Gruppe der Alleinerziehenden eine Gleichstel-lung vornimmt. Darüber lässt sich allerdings nicht disku-tieren, ohne gleichzeitig zu sagen, dass die Kritik derAlleinerziehenden daran, dass der Haushaltsfreibetrag bis2005 abgeschmolzen wird, massiv ist. Über dieses Themakann auch nicht diskutiert werden, ohne Kritik daran zuüben, was im ersten und zweiten Familienfördergesetz er-folgt ist: eine Minimallösung der Umsetzung des Bundes-verfassungsgerichtsurteils.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Be-schluss vom 10. November 1998 zu Recht die steuerlicheBenachteiligung von Ehepaarfamilien im Vergleich zu Al-leinerziehenden festgestellt. Es gab dem Gesetzgeber vor,ab dem Jahr 2000 für alle Eltern zusätzlich zum sächli-chen Existenzminimum den Betreuungsbedarf steuerfreizu stellen und ab dem Jahr 2002 den Ausschluss der Ehe-paarfamilien vom Abzug eines Haushaltsfreibetrages zukorrigieren. Dies sollte durch die steuerliche Berücksich-tigung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs erfolgen,der sich in der Höhe – nicht in der Form – am Haushalts-freibetrag der Alleinerziehenden orientieren sollte. FrauKressl, Sie haben dies am letzten Mittwoch in der An-hörung zur Steuerreform noch einmal von Herrn Profes-sor Kirchhoff, der an diesem Urteil beteiligt war, gehört.Er hat dies ausdrücklich bestätigt. Diese Entscheidung desBundesverfassungsgerichts ist nicht zu rügen. Zu rügensind allenfalls Sie und die rot-grüne Bundesregierung, dieauf diese Verfassungsvorgaben mit einer in sich schiefenund völlig ungenügenden Billiglösung auf niedrigstemNiveau reagiert haben.
Insbesondere sind natürlich der zu geringe Betreuungs-freibetrag und das zu geringe Existenzminimum, aber auchdas zu geringe Kindergeld zu nennen.
Sie wissen ganz genau, dass in der BundesrepublikDeutschland die Drei-, Vier- und Mehrkinderfamilien einbesonderes Armutsrisiko haben. Die lassen Sie vollkom-men im Regen stehen.
Die Konsequenz aus Ihren Gesetzen ist, dass heute zumBeispiel Alleinerziehende mit einem bestimmten Einkom-men schlechter gestellt sind, als das vorher der Fall war.
Das haben in der Anhörung der DGB, der Bund der Steu-erzahler und der Familienbund sehr deutlich gemacht. Ichdenke, die haben nicht ganz Unrecht. Das, was die PDSvorschlägt, ist wirklich nur eine Minimallösung und, weilnicht ausreichend, für uns leider nicht akzeptabel.Es gibt wirklich genug weitere Kritikpunkte in den bei-den so genannten Familienfördergesetzen. Zum Beispieldie Höchstbeträge für aufgewendete Kinderbetreu-ungskosten ab 2002
sind mit 1 500 Euro allzu kläglich bemessen. Sie sind rea-litätsfern und verfassungsrechtlich zu beanstanden. Eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Elke Wülfing23034
individuelle Fremdbetreuung kann ohne weiteres zu Auf-wendungen führen, die den Höchstbetrag von 1 500 Eurobei weitem übersteigen.Zusätzlich muss man sehen: Die willkürliche Begren-zung des Alters auf 14 Jahre – ich weiß nicht, wie manauf diese Idee kommen konnte – ist allenfalls vom Diktatdes Bundesfinanzministers bestimmt. Aber Herr Eichel istund bleibt – das wissen auch Sie – der Feind der Familie.
– Ich habe nicht Sie, Frau Dr. Hendricks, sondern IhrenChef angesprochen, denn er gibt Ihnen die Zahlen vor. –Die Altersgrenze lag vorher bei 16 Jahren. Ich denke, zu-mindest diese sollte man wieder aufnehmen.
Ich möchte einmal den ernst zu nehmenden ProfessorDr. Hans-Joachim Kanzler zitieren, der in der Wochen-schrift „Deutsches Steuerrecht“ vom 15. März 2002 sehrdeutlich zum Thema „Die einkommensteuerliche Berück-sichtigung von Kinderbetreuungskosten als Betreuungs-fall“ Stellung genommen hat:Die Rechtsentwicklung der Steuerermäßigung fürKinderbetreuungskosten zeigt, dass das Problem desAbzugs erwerbsbedingter Aufwendungen in der Ver-gangenheit durchaus schon ernster genommen wurdeals derzeit.Frau Kressl, hören Sie bitte zu!Dies sage nicht ich, das sagt nicht die Opposition,
sondern das sagt jemand, den man, wenn es um das Steu-errecht geht, sehr ernst nehmen muss. Ich darf weiterzitieren:In diesem Zusammenhang kann die Aufhebung des§ 33 c Einkommensteuergesetz alter Fassung durchdas 1. Familienfördergesetz nur als empfindlicherRückschlag angesehen werden, der mit der Neurege-lung der Kinderbetreuungskosten durch das 2. Fami-lienfördergesetz mit seinen realitätsfernen Mindest-und Höchstbeträgen keineswegs ausgeglichen wurde.
Es geht im Zitat weiter – hier wird beurteilt, was Sie ge-macht haben –:Sowohl die Streichung der Kinderbetreuungskostenfür die Jahre 2000 und 2001 als auch die Neurege-lung bergen reichlich verfassungsrechtlichen Kon-fliktstoff, sodass die Kinderbetreuungskosten wohlauch weiterhin ein Betreuungsfall bleiben werden.Dieses Zitat stammt, wie gesagt, aus der Wochenschrift„Deutsches Steuerrecht“ vom 15. März. Ich kann es Ihnengleich geben; lesen Sie es bitte nach. Dort wird ganz ein-deutig festgestellt: Die rot-grüne Familienpolitik ist undbleibt ein „Betreuungsfall“.
Ich denke, dass das von CDU und CSU im September1999 vorgelegte Familienförderkonzept mit einem ver-nünftigen Familiengeld,
mit der Berücksichtigung von Kinderbetreuungskostenbis zu einer Höhe von 5 000 Euro im Jahr beweist, werwirklich der Anwalt der Familien in der BundesrepublikDeutschland ist.Deswegen lehnt die CDU/CSU-BundestagsfraktionIhren Gesetzentwurf ab. Den zweiten Gesetzentwurf leh-nen wir unter anderem auch deswegen ab – ich habe es Ih-nen bei der Einbringung auch schon gesagt –, weil wir dasInstitut der Ehe auf gar keinen Fall aus der Verfassungstreichen wollen und weil wir auf gar keinen Fall damiteinverstanden sind, dass das Ehegattensplitting gestrichenwird, Frau Höll.
Das unterscheidet CDU/CSU von der PDS, der SPD, derFDP und von den Grünen. Ich denke, das muss man hiernoch einmal deutlich sagen. – Das steht sehr wohl da drin.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Wülfing, es ist wirklich immer wieder verwunderlich, wie
kurz das Gedächtnis der Union ist. Ich kann mich gut er-
innern, dass die vom Bundesverfassungsgericht zugelas-
senen Klagen aus Ihrer Regierungszeit stammen
und dass wir als rot-grüne Regierung es gewesen sind, die
die Mittel für die Familienförderung im Gesamtetat auf
über 50 Milliarden Euro erhöht haben. Das ist ein Drittel
mehr für die Familien, als wir 1998 in Ihrem Haushalt
vorgefunden haben.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Gerne.
Frau Scheel, Sie wissendoch ganz genau, dass sich das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts auf den Zeitraum bis 1996 bezog, dass 1996
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Elke Wülfing23035
die vorige Bundesregierung von CDU/CSU und FDP dieFamilienförderung vollkommen umgestellt hat, dass siedas Existenzminimum erheblich erhöht hat, dass sie dasKindergeld erheblich erhöht hat. Das sagen Sie nur nie inder Öffentlichkeit.
– Die Frage ist, ob sie das weiß.
Frau Wülfing, das Bundesverfassungsgericht hat da-mals Vorgaben gemacht, die Sie von der Union gemein-sam mit der FDP in Ihrer Regierungszeit umsetzenmussten, weil Sie sich ansonsten gesetzeswidrig verhal-ten hätten.
Diese Klagen sind, wie gesagt, während Ihrer Regie-rungszeit eingereicht worden. Die Urteile hat das Verfas-sungsgericht erst gesprochen, als Rot-Grün die Regierungübernommen hatte. Das war am Anfang unserer Regie-rungszeit; wir hatten uns gerade einigermaßen „sortiert“,hatten die Ressortverteilung geregelt und hatten die erstenGesetzentwürfe diskutiert, als diese Urteile kamen. Wirmussten daraufhin Ihr Versagen in der Familienpolitik ei-nigermaßen abfedern.
Das haben wir in zwei Stufen umgesetzt. Das VolumenderKindergelderhöhung allein hat über 8MilliardenEuroausgemacht. Wir haben – das muss man den Menschenauch sagen – einen Schuldenberg übernommen, der nochunseren Kindern die Hände bei der Gestaltung bindet. Ob-wohl wir diesen Schuldenberg abbauen,
haben wir es geschafft, die Mittel für die familienpoliti-schen Maßnahmen um ein Drittel zu erhöhen. Das ist vordem Hintergrund der Situation in diesem Staat eine wun-derbare familienpolitische Leistung.
– Sie wissen genau, dass wir die Neuverschuldung abge-baut haben, meine Güte!
Anscheinend müssen Sie noch einmal einen Grundkursüber Haushaltskonsolidierung und über die Entwicklungder Neuverschuldung machen.
– Dass die FDP keine Ahnung von Geld hat, wissen wir.Sonst hätten wir eine andere Situation 1998 vorgefunden.
Frau Wülfing, ich bin wirklich überrascht, dass es derUnion immer wieder gelingt, zum Thema Familienpolitiktäglich neue Überlegungen einzubringen, die in keinerWeise innerhalb der Unionsfraktion und anscheinend auchnicht mit Ihrem Kanzlerkandidaten, mit Herrn Stoiber, ab-gesprochen sind.
Denn er hat etwas ganz anderes gesagt.
Wir konnten mit großer Überraschung lesen, dass dieUnion jetzt davon abgeht, ab dem nächsten Jahr, wie es ur-sprünglich angekündigt war, für Kinder unter drei Jahren600 Euro pro Monat ausgeben zu wollen. Auch ist siedavon abgerückt, den Betrag danach gestaffelt bis zum27. Lebensjahr des Kindes – hier hört die Kindergeld-berechtigung auf – abschmelzen zu lassen.
Man hat jetzt festgestellt, dass das überhaupt nicht fi-nanzierbar ist, und musste zugeben, dass diese Forderungnicht haltbar ist. Ich finde das sehr peinlich, deswegen hates mich als Mitglied einer Regierungspartei gefreut, als eshieß: Stoiber stolpert über Familiengeld. Jetzt kommtnämlich langsam die Ehrlichkeit zutage, und es wird klar,dass man mit Forderungen, die nicht zu finanzieren sind,versucht hat, den Familien die Augen zuzukleistern.Die Union fordert Familiengeld für das erste Lebens-jahr des Kindes in einer Größenordnung von 600 Euro.Wenn wir uns anschauen, wie heute die Leistungen beimKinder- und Erziehungsgeld im ersten Lebensjahr derKinder aussehen, muss ich sagen: Das ist keine Verbesse-rung für Familien mit niedrigem Einkommen, sondern dasist das, was sie schon jetzt erhalten. Dabei suggerieren Sie,Sie würden eine mordsmäßige familienpolitische Leistungerbringen.
Das, was Sie von der Union für die nächsten Jahre vor-schlagen – wann immer das kommen soll, wissen wir bisheute nicht, es wird von 2004, 2005 und 2006 geredet –,soll aus der Arbeitslosen- und Sozialhilfe finanziertwerden. Wenn wir wissen, dass dieses Projekt, wie es HerrStoiber und Herr Merz zugegeben haben, zwischen20 und 25 Milliarden Euro kostet und die Sozialhilfe nurAusgaben in Höhe von 19 Milliarden Euro beinhaltet,dann bedeutet das faktisch die vollständige Abschaffungder Sozialhilfe.Im Umkehrschluss heißt das, dass Sie genau den Kin-dern, die zu den ärmsten der Gesellschaft gehören, auf der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Elke Wülfing23036
einen Seite alles wegnehmen, um es ihnen dann zurück-zugeben. Das ist doch keine Familienpolitik, sondern eineVerschleierungstaktik auf Kosten der Kinder in dieser Ge-sellschaft.
Frau Dr. Höll, wir diskutieren in der nächsten Wocheüber einen Gesetzentwurf, mit dem wir die echten und un-echten Neufälle von Alleinerziehenden lösen, sodass allein den „Genuss“ einer Entlastung kommen können. DerHaushaltsfreibetrag wird im nächsten Jahr nicht abge-schafft, er wird aufgrund des Verfassungsgerichtsurteilslangsam abgeschmolzen und gilt bis zum Jahr 2005.Ich gehe davon aus, dass wir über weitere Maßnahmenin der Familienpolitik wie Kindergelderhöhung, Kinder-grundsicherung, mit der wir ganz zielgenau fördern wol-len, und einen weiteren Ausbau der Betreuungseinrich-tungen die Situation in den nächsten Jahren verändern.Deswegen gehe ich auch davon aus, dass wir den Weg,den wir angefangen haben zu beschreiten, nämlich Fami-lien in ihrem Umfeld, in ihrer Lebenssituation zu stärken,weitergehen und dies auch finanzierbar sein wird.Wir sollten nicht auf Forderungen aus Fraktionen he-reinfallen, von denen jeder weiß, dass sie nicht finanzier-bar sind. Es trägt zum Politikverdruss bei, wenn man denMenschen suggeriert, man könne etwas tun, was man inWirklichkeit nicht kann. Man muss ehrlich sagen, wasmachbar ist. Genau das tut Rot-Grün in dieser Situation.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Zurück zum Thema: Wir beratenheute den Gesetzentwurf der PDS, der sicherstellen soll,dass noch bis zum Jahre 2005 alle Alleinerziehenden denabgeschmolzenen Haushaltsfreibetrag in Anspruch neh-men können und damit eine Gleichbehandlung aller El-tern wieder hergestellt wird.Dass dies nur eine Beseitigung der gröbsten Unge-rechtigkeit ist, Frau Wülfing, ist uns natürlich bewusst.Deshalb haben wir gleichzeitig einen Antrag eingebracht,der einen gerechten Familienlastenausgleich fordert. Ge-rade das Beispiel der Alleinerziehenden verdeutlicht dieSchieflage bei der rot-grünen Familienbesteuerung.Die Änderung, die wir vorschlagen, betrifft die Strei-chung einer Formulierung in § 32 Abs. 7 des Einkommen-steuergesetzes, die dazu geführt hat, dass bereits ab Januardieses Jahres die Alleinerziehenden den Haushaltsfrei-betrag nicht mehr geltend machen können, die diesennicht auch schon im vergangenen Jahr geltend machenkonnten. Dies betrifft aber nicht nur Menschen, die erst abJanuar ihr Kind bekommen haben, sondern auch Verwit-wete und Geschiedene, also so genannte unechte Neu-fälle.Die Koalition wird in der nächsten Woche im Nach-gang dasselbe beantragen. Ich bin froh, dass dies ge-schieht, auch wenn Sie zur Streichung dieses einen Satzesvier Monate benötigt haben. Dies ist das Ergebnis desDrucks durch die Verbände, aber auch des Drucks, den diePDS hier im Bundestag gemacht hat. Sie können nicht be-gründen, warum Sie unseren Antrag heute ablehnen undnächste Woche einem inhaltsgleichen Antrag zustimmenwerden. Dies ist eigentlich etwas traurig. Ich habe Ihnenauch angeboten, dass wir einen gemeinsamen Antrag ein-bringen. Dazu konnten Sie sich aber nicht einmal im In-teresse der Alleinerziehenden aufraffen.Allerdings wird die Situation der Alleinerziehendentatsächlich nur zeitweilig verbessert. Ab dem Jahre 2005werden Alleinerziehende – auch wenn die SPD das weiterbestreitet – wie Alleinstehende ohne Kinder veranlagt.Der Haushaltsfreibetrag – ich bitte auch Frau Kressl, ge-nau zuzuhören – wird allein erziehenden Steuerpflichti-gen deshalb gewährt, weil sie allein mit mindestens einemKind in ihrem Haushalt zusammenleben und in ihremHaushalt aufgrund dessen Mehrausgaben entstehen.
Der Haushaltsfreibetrag soll also die besondere Haus-haltssituation gegenüber Alleinstehenden ohne Kinderbzw. Paaren oder Ehepaaren berücksichtigen.
WirdderHaushaltsfreibetraggestrichen,werdenAllein-erziehende natürlich in Bezug auf ihre besondere Haus-haltssituation wie Alleinstehende veranlagt. Dies ist völ-lig unabhängig von Kinderfreibetrag und Kindergeld, dieallen Eltern zugute kommen. Dies sollten Sie endlich ein-mal zur Kenntnis nehmen.Das Hauptproblem an der Streichung des Haushalts-freibetrages liegt jedoch woanders: Durch seine Abschaf-fung und die gleichzeitige Beibehaltung des Ehegatten-splittings wird sich die Diskriminierung Alleinerziehenderzukünftig verstärken, der Einkommensabstand wirdgrößer. Alleinerziehende erhalten künftig nur noch denKinderfreibetrag bzw. das Kindergeld. Verheiratete Elternund kinderlose Ehepaare werden dagegen auch weiterhinvom Finanzminister für ihre Art des Zusammenlebens zu-sätzlich belohnt. In der Konsequenz zahlen Alleinerzie-hende höhere Steuern als alle anderen Eltern und sogarKinderlose, insbesondere kinderlose Ehepaare.Nun äußerte Bundeskanzler Schröder in seiner gestri-gen Regierungserklärung, dass ihm diese Ungerechtigkeitauch nicht gefalle, die Regierung aber nach dem Urteil desBundesverfassungsgerichts leider keine andere Wahl gehabthätte: entweder gänzliche Abschaffung des Haushaltsfrei-betrages mit den bekannten Problemen oder Gewährung desHaushaltsfreibetrages an alle Eltern. Letzteres, so der Kanz-ler, hätte die Haushaltslage nicht zugelassen. Darin stimmeich ihm zu.Ichmöchte jedoch ergänzen:DieGewährung desHaus-haltsfreibetrages an alle hätte zwar die Situation der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Christine Scheel23037
Alleinerziehenden nicht weiter verschlechtert, wie diesnun geschieht, ihre materielle Benachteiligung gegenüberverheirateten Eltern und kinderlosen Ehepaaren hätte diesjedoch auch nicht aufgehoben.Die derzeit bestehende Gerechtigkeitslücke bei der Be-steuerung von Familien kann nur durch die Abschaffungdes Ehegattensplittings und die massive Anhebung desKindergeldes für alle geschlossen werden. Diese Mög-lichkeit hat der Bundeskanzler in seiner Regierungser-klärung jedoch gänzlich verschwiegen, obwohl man ins-besondere seit Anfang des Jahres wieder Stimmen aus derKoalition gehört hat, wonach über eine Reform des Ehe-gattensplittings und die Verlagerung der Förderung vonder Ehe auf die Familie nachgedacht werden müsse. HerrPoß und Frau Scheel haben sich entsprechend geäußert.Heute haben Sie die Chance, zu zeigen, dass dies keineLippenbekenntnisse sind. Stimmen Sie unserem Antrag„Gerechtigkeit im Familienlastenausgleich herstellen“ zu.Hier haben wir unsere langjährigen Forderungen – FrauWülfing, wenn Sie die noch nicht gehört haben, müssenSie oft nicht aufgepasst haben – nach einer grundlegendenReform der Familienbesteuerung bekräftigt.Im Sinne einer sozial gerechten Weiterentwicklungdes Familienlastenausgleichs fordern wir von Ihnen ers-tens die Reform des Ehegattensplittings und eine von derLebensweise bzw. Lebensform unabhängige Einkom-mensbesteuerung, zweitens die sofortige und nachhaltigeErhöhung des Kindergeldes und seine schrittweise Um-wandlung in eine soziale Grundsicherung
und drittens die Entlastung der Eltern von den Kosten derKinderbetreuung. Langfristig muss ein bedarfsdeckendesund kostenfreies Betreuungsangebot realisiert werden.Kurzfristig fordern wir, dass alle Eltern die Kosten derKinderbetreuung zu einem einheitlichen Steuersatz von45 Prozent absetzen können.Frau Präsidentin, ich möchte keine Kurzinterventionmehr machen. Wenn Sie gestatten, möchte ich zu FrauWülfing – sie hat mich vorhin direkt angesprochen – nochetwas sagen.
Das geht nun
wirklich nicht. Sie hatten eine fünfminütige Redezeit. Es
ist nicht möglich, eine Kurzintervention an eine Rede an-
zuschließen. Sie sind Parlamentarische Geschäftsführerin
und wissen, dass das nicht geht.
Ich wollte Frau Wülfing nur
gesagt haben, dass wir nicht die Abschaffung der Ehe,
sondern nur die Abschaffung des Ehegattensplittings for-
dern.
Nur um die Re-
geln klarzustellen: Wer noch Redezeit hat und auf etwas
eingehen will, hat nicht das Recht auf eine Kurzinterven-
tion im Anschluss an die Rede. Wenn man auf Äußerun-
gen einer Kollegin bzw. eines Kollegen eingehen will,
nimmt man die Redezeit in Anspruch. Im Übrigen wurde
die Redezeit in diesem Falle schon überschritten.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der PDS eingebrachten Gesetzentwurf zur Beseiti-
gung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerziehender
auf Drucksache 14/8274. Der Finanzausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/8807, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD
und der CDU/CSU gegen die Stimmen der PDS bei Ent-
haltung der FDP abgelehnt worden. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses auf Drucksache 14/8808 zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Gerechtigkeit im Fami-
lienlastenausgleich herstellen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/8273 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung wurde
mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zum Waldakti-
onsplan im Übereinkommen über die biologi-
sche Vielfalt anlässlich der 6. Vertragsstaaten-
konferenz in Den Haag
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Steffi Lemke.
FrauPräsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In dieserWoche tagt in Den Haag die 6. Vertragsstaatenkonferenzzur biologischen Vielfalt, auf der ein Aktionsprogramm zurRettung der letzten Urwälder verabschiedet werden soll.Die Ziele dieser Konferenz sind erstens die Verabschie-dung eines konkreten aktionsorientierten Arbeitspro-gramms zum Schutz der Wälder, zweitens die Annahmekonkreter Leitlinien über den Zugang zu genetischen Res-sourcen und über einen gerechten Vorteilsausgleich bei derNutzung dieser genetischen Ressourcen, drittens die Ver-abschiedung eines strategischen Plans zur Festlegung vonArbeitsschwerpunkten im Rahmen der Biodiversitätskon-vention bis 2010 und viertens die Verabschiedung vonMaßnahmen gegen das ökologisch problematische Ein-schleppen von gebietsfremden Arten.Wir haben heute die Aktuelle Stunde beantragt, umüber den Schwerpunkt der Konferenz, den Aktionsplanzur Rettung der letzten Urwälder, zu diskutieren. Allezwei Sekunden verschwindet auf dieser Erde eine Fläche
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Barbara Höll23038
von der Größe eines Fußballfeldes an Urwald. Weltweitgibt es zurzeit noch 3,8 Milliarden Hektar Urwälder. Wennman das zusammenrechnet, werden davon 15 MillionenHektar jährlich abgeholzt. Das heißt, dass die letzten Ur-wälder bedroht sind. Dies ist eine Debatte, die in Mitte-leuropa schon seit langer Zeit geführt wird, aber seit eini-gen Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehendverschwunden ist.Ein Kollege von der CSU hat mir in einer Debatte zumThema Wald vorgeworfen, die Grünen hätten in den 80er-Jahren mit ihrer „Baum ab? – Nein danke“-Kampagne ei-nen vollkommen falschen Schwerpunkt gesetzt und derTropenholzboykott hätte damals kontraproduktiv gewirkt.Wir müssen heute aber konstatieren, dass trotz der Tatsa-che, dass nicht mehr über die Kampagne „Baum ab? –Nein danke“ von den Grünen aus den 80er-Jahren disku-tiert wird, das Abholzen der Tropenwälder und damit dieVernichtung bisher nicht gestoppt werden konnte.Deshalb ist die 6. Vertragsstaatenkonferenz, die zurzeittagt, ein wirklicher Erfolg, weil sie erstens mit dieserSchwerpunktsetzung stattfindet und zweitens Fortschrittebei der Rettung der letzten Urwälder erreicht. Zum einenwerden heute auf der Konferenz die konkreten Leitlinienüber den Zugang zu den genetischen Ressourcen ange-nommen. Dies ist ein wichtiger Schlüsselpunkt, weil in denUrwäldern die größte biologische Vielfalt weltweit vorhan-den ist. Wenn wir sie schützen wollen, dann muss den Län-dern, in denen sich diese biologische Vielfalt befindet, einökonomischer Nutzen in ihrem Lande und nicht nur dieNutzung durch europäische, US-amerikanische und kana-dische Konzerne, die aus dieser biologischen Vielfalt he-raus Gewinn erwirtschaften, ermöglicht werden. Deshalbist es ein so wichtiger Schlüsselpunkt, dort einen Interes-sensausgleich herbeizuführen.
Zweitens wird heute ein konkretes Waldarbeitspro-gramm verabschiedet. Es wird eine Arbeitsgruppe, kleineExpertengruppe, eingesetzt, die die Umsetzung diesesWaldarbeitsprogramms beobachten wird. Sie wird eineWeiterentwicklung vorbereiten, um konkret zu kontrollie-ren, wie dieses Arbeitsprogramm in den einzelnen Staatenumgesetzt wird. Es bleibt nicht nur bei Worten – diese Ex-pertengruppe werden wir unterstützen müssen –, sonderndie nächsten Jahre werden zeigen, wie weit wir mit demSchutz in der Praxis vorankommen. Die Notwendigkeithierfür ist in diesem Hause wohl unumstritten.Es wird eine Erklärung geben, dass bis 2010 der Ver-lust der biologischen Vielfalt gestoppt werden soll. Auchwenn dieser Zeitraum schon extrem lang ist, so ist außer-dem zu kritisieren, dass dies auf der Vertragsstaatenkon-ferenz in das Waldarbeitsprogramm nicht konkret einge-arbeitet, sondern in einer Ministererklärung als eine ArtProtokollerklärung verabschiedet werden wird. Das heißt,die Rangstufe wird niedriger sein. Obwohl sich Umwelt-minister Trittin mit seinem französischen Amtskollegenvon den Grünen sehr darum bemüht hat, konnten wir hiernur einen Teilerfolg erreichen. Die Ministererklärung wirdmit dieser Formulierung abgeschlossen. Es wird weitererDruck notwendig sein, um dies in der Praxis tatsächlichwirksam werden zu lassen.
Das Instrument, das ich von deutscher Seite aus für dasbedeutendste halte, um neben solchen Regierungsver-handlungen beim Tropenschutz Erfolge zu erzielen, ist dieZertifizierung von Holz nach den FSC-Kriterien. FSC-Holz ist zurzeit als einziges Holz weltweit auf dem Markt,das auf internationaler Ebene und im weltweiten Maßstabvergleichbar Tropenholz aus nachhaltiger Waldnutzungglaubwürdig zertifiziert. Ich halte dies für so wichtig, weiles das einzige Instrument ist, das es den Verbrauchern er-möglicht, beim Kauf von Holz auf ökologische Verträg-lichkeit zu achten.
Wir haben in den letzten Jahren in Deutschland einenrasanten Wiederanstieg der Nutzung von Holz aus Tro-penwäldern erlebt. Zum Teil handelt es sich um Holz ausillegalem Einschlag, zum Teil trägt es das Etikett „Planta-gennutzung“, das gelegentlich illegal verwendet wird;auch dann ist das Holz ökologisch bedenklich.Ich möchte, dass wir in Deutschland eine Debatte da-rüber führen, in die wir die Verbraucher einbeziehen, in-dem wir ihnen sagen: Nehmt FSC-Holz, dann können wirauch Tropenholz in Deutschland verwenden. Diese De-batte sollten wir gemeinsam mit den Verbrauchern ausdem Deutschen Bundestag heraus neu aufgreifen, damitwir keine neue Kampagne „Baum ab? – Nein danke“ brau-chen, sondern im Interesse der Tropenwälder und der nachuns folgenden Generationen einen Schritt vorankommen.Danke.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/
CSU.
Herr Präsident! Ichwar als einziger Abgeordneter, wenn ich es richtig sehe,bei der Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag anwesend.Vieles hat mich dort beeindruckt, zum Beispiel der Auf-tritt der Kinder, die den Politikern und Beamten im Ple-narsaal zugerufen haben: Ihr habt nichts getan, die Biodi-versitätskonvention ist zehn Jahre alt und die Artenvielfaltseither um 10 Prozent geschrumpft. Dieser Vorwurf istzwar übertrieben, da sich im letzten Jahrzehnt viel Positi-ves getan hat. Gerade die Bundesrepublik Deutschland hatsich etwa in der Entwicklungszusammenarbeit sehr enga-giert. Dennoch ist die Lage dramatisch: Die Vielfalt derSchöpfung nimmt rapide ab und die Zerstörung der Ur-wälder geht mit einer Rate von über 10 Millionen Hektarpro Jahr unvermindert weiter.Die Konferenz in Den Haag sollte die Weichen füreine Trendumkehr stellen. Zwar fallen die endgültigen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Steffi Lemke23039
Beschlüsse des Plenums erst nach dieser Aktuellen Stunde.Aber nach dem Konferenzverlauf bin ich optimistisch, dassdie Verhandlungen zu einem guten Ergebnis kommen wer-den. Der Kompromiss über den Zugang zu genetischenRessourcen und die gerechte Verteilung der Benefits istein großer Erfolg; Gleiches gilt für die Einigung über dieVerantwortlichkeit für eingeschleppte und schädlichefremde Arten.Ich bin froh, dass trotz mancher Verwässerungen, dieschon angesprochen wurden, wohl auch der Waldaktions-plan verabschiedet wird. Ich bedanke mich ausdrücklichbei unseren Beamten von BMU, BMZ, Bundesamt für Na-turschutz und anderen Einrichtungen dafür, dass sie pau-senlos Tag und Nacht verhandelt haben. Sie haben wirk-lich wie die Löwen gekämpft und es ist vor allem ihrErfolg, der zu vermelden ist.
Für uns alle stellt sich nun die entscheidende Frage, ob wirdiesen Waldaktionsplan mit Leben erfüllen und umsetzenkönnen.Die fortschreitende Vernichtung der Primärwälder undihrer Artenvielfalt trägt hohe ökologische Risiken und ver-ursacht riesige, kaum quantifizierbare ökonomische Schä-den. Gewaltige Mengen CO2werden freigesetzt und ganzeLänder wie Haiti werden zur Wüste. Die Zerstörung derWälder vernichtet Zukunftschancen für die Wissenschaftund macht unseren Planeten auch für unsere Nachkommenärmer. Wollen wir eine Trendumkehr erreichen, müssenwir viel stärker als bisher die Solidarität der gesamtenVölkergemeinschaft einfordern; denn die bisher unternom-menen Anstrengungen sind zu lasch.Für mich gibt es sechs entscheidende Hebel, um denVerlust an Artenvielfalt in den Griff zu bekommen:Erstens. Erforderlich ist die Durchsetzung einer anNachhaltigkeit und ökologischer Tragfähigkeit orientier-ten Landnutzung nicht allein, aber vor allem in Entwick-lungsländern. Dies setzt jedoch nicht nur den guten Wil-len der jeweiligen Regierungen voraus, sondern auch einegut ausgebildete, gut ausgerüstete und motivierte Admi-nistration, die in der nötigen Geschwindigkeit ohne mas-sive Hilfe von außen in vielen Ländern nicht zustandekommt.Zweitens. Es muss gelingen, die riesigen Flächen, diebereits verwüstet und zerstört sind, wieder einer vernünf-tigen Nutzung zuzuführen. Dies kann zum Beispiel mit ei-ner vernünftigen Aufforstungspolitik gelingen, die durchdas Kioto-Protokoll Rückenwind bekommen sollte.Drittens. Wir brauchen die weltweite Durchsetzung ei-ner nachhaltigen Forstwirtschaft; dies allein ist eine Jahr-hundertaufgabe. Aus der deutschen Entwicklungszusam-menarbeit haben wir aber Modelle für eine nachhaltigeNutzung auch tropischer Primärwälder entwickelt. Dieglobale Umsetzung solcher Modelle steckt bisher zwarnoch in den Kinderschuhen. Aber es muss gelingen, einesolche nachhaltige Nutzung in den Tropenländern durch-zusetzen. Dabei haben auch wir in den entwickelten Län-dern eine große Verantwortung: Wir in Deutschland, inKanada, in Frankreich und in Japan haben es selbst in derHand, nur zertifiziertes Tropenholz einzuführen und zuverwenden. Wenn ich sehe, mit welcher Zielstrebigkeitgerade ostasiatische Länder und vor allem Japan ihren un-bändigen Holzhunger in einem weltumspannenden Netzvon Aktivitäten stillen, dann wird klar, dass ein ganz ent-scheidender Schlüssel zur Erhaltung der Schöpfung beiwichtigen Importländern wie Japan zu finden ist.
Viertens: Erhaltung des Weltnaturerbes. Um die Vielfaltder Schöpfung über die Zeiten zu retten, brauchen wir einrepräsentatives Netz von Schutzgebieten. Diese Schutzge-biete existieren bereits in großem Umfang, aber sie sindteilweise in miserablem Zustand. Gerade in vielen Ent-wicklungs- und Transformationsländern sind nämlichSchutzgebiete ohne Schutz gegenüber Korruption, Wilde-rei und Holzeinschlag. Entscheidend ist auch hier, die Ad-ministration zu stärken. Noch wichtiger ist es, zum Bei-spiel Nationalparks so zu organisieren, dass auch dieBevölkerung der umliegenden Gebiete davon profitiert.Die Armutsbekämpfung durch Schutz der natürlichen Res-sourcen ist möglich; das zeigen wiederum unsere deut-schen Entwicklungsprojekte.Fünftens. Wir brauchen eine neue Kampagne für Um-welterziehung und Umweltbildung in allen Ländern.Sechstens. Wir als Industrieländer müssen die Zusam-menarbeit mit den Entwicklungs-, Schwellen- und Trans-formationsländern verstärken und vertiefen, denn auch beigutem Willen werden viele ärmere Länder ihre reichen Na-turschätze ohne ein stärkeres Engagement der reicherenLänder nicht bewahren können. Das wäre zum Schadenaller. Das ist auch ein Auftrag an uns; mit Blick auf denWeltgipfel in Johannesburg sind noch viele Hausaufgabenzu erledigen, vor allem auch seitens der Bundesregierung.Dazu zählt zum Beispiel die Aufgabe, die Schwerpunkt-setzung im Entwicklungsbereich wieder zugunsten vonForstwirtschaft und Schutz der natürlichen Ressourcen zukorrigieren.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Diese Hausaufga-
ben sind noch zu machen; dazu fordern wir Sie auf. Wir
sind bereit, Sie dabei konstruktiv zu unterstützen.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Jutta Müller von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sagt uns eineFlächenangabe wie 2,5 Millionen Hektar? Groß wird essein, aber wohl jenseits unserer Vorstellungskraft. Das je-doch ist die Fläche Wald, die wir in der Geschichte der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Dr. Christian Ruck23040
Menschheit bereits verloren haben. Schätzungen zufolgeist seit den 60er-Jahren fast die Hälfte aller Tropenwäldervernichtet worden; jeden Tag verlieren wir mehr, mehrereFußballfelder täglich – die Kollegin Lemke hat schon da-rauf hingewiesen –, die Hälfte der Fläche der Bundesrepu-blik pro Jahr.Sollten wir uns nicht mit den Ländern, die von der Ver-nichtung der Urwälder profitieren, auf die von uns und vonFrankreich vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schutz derWälder einigen können, wird in zehn bis 15 Jahren der ge-samte Bestand der Urwälder unwiederbringlich vernich-tet sein.
Zwar gab es in Europa einen jährlichen Zuwachs, aber wirhaben natürlich bis auf ein paar wenige Flecken keine rei-nen Urwälder mehr.Bereits seit Jahren fördert Deutschland die Zielsetzungzur Erhaltung der biologischen Vielfalt der Wälder. Ver-schiedene Projekte werden teils in technischer und teils infinanzieller Zusammenarbeit mit einem Gesamtvolumenvon 125 Millionen Euro jährlich unterstützt. Dabei hatsich die Bundesregierung auch sehr für die Umsetzungdes Arbeitsprogrammes in Den Haag eingesetzt.Bisher scheiterten internationale Vereinbarungen, wiewir sie uns wünschten, aber auch an dem Veto der Staaten,die durch die Vernichtung der Urwälder große ökonomi-sche Vorteile haben. Es muss erlaubt sein, hier einmal Län-der wie Kanada und Brasilien zu nennen. Trotzdem wer-den wir uns weiterhin auf internationaler und bilateralerEbene für den nachhaltigen Schutz der Urwälder starkmachen.Vor allem im Bereich der Zertifizierung müssen schnellFortschritte erzielt werden. Öffentliche Beschaffungsstel-len sind bereits angewiesen, künftig nur noch solche Holz-produkte zu verwenden, die nach den international aner-kannten Normen des Weltforstrates zertifiziert sind. DieWirtschaftlichkeit des illegalen Holzeinschlages könntedadurch empfindlich geschwächt werden, vorausgesetzt,dass diese Praxis weltweit um sich greift. Das Bundesum-weltministerium hat vor wenigen Wochen im HamburgerHafen bereits eine illegale Ladung Mahagoniholz be-schlagnahmen lassen.
Für einige arme Länder dieser Welt ist das Holz jedochdas einzige Kapital. Andere benötigen die Flächen, aufdenen jetzt noch Wald steht, um agrarische Ausgleichs-flächen zu schaffen. Illegaler Holzeinschlag und Handelmit illegalen Ressourcen unterminiert das Interesse vielerLänder an der Zertifizierung ihres Holzes und an der nach-haltigen Forstwirtschaft. Dieser Raubbau bedroht nichtnur den Wald und seine Bewohner. Die illegale Holzwirt-schaft ruiniert auch Betriebe, die sich bemühen, nachhal-tig zu wirtschaften, die Steuern bezahlen und Umwelt- undSozialauflagen einhalten. Der größte Feind der Urwälderist die Rodung, um großflächige Anbaumöglichkeiten fürdie Futtermittelerzeugung zu Weltmarktpreisen zu schaf-fen. Die kurzfristigen finanziellen Gewinne stehen vor al-lem in den Entwicklungsländern den Schutzzielen für denTropenwald im Wege.Man sollte aber das Problem nicht ausschließlich aufdie Entwicklungsländer reduzieren. Ich möchte Ihre Auf-merksamkeit an dieser Stelle auf einen Report vonGreenpeace lenken, der die Überschrift „Etikettenschwin-del in Finnlands Wäldern“ trägt. Ich meine, wir müssen indiesem Zusammenhang auch über die Qualität von Zerti-fikaten sprechen. Es gibt mittlerweile Ökolabel für Holz.Sie sollen den Verbraucher darüber aufklären, dass Holzaus nachhaltigem Waldbau zur Produktion eines Stuhlsoder eines Blattes Papier verwendet wurde. Doch der Wett-bewerb der unterschiedlichen Ökolabel ist für den Ver-braucher eher verwirrend. Es gibt das international ver-wendete FSC-Siegel des Weltforstrates, das europäischePEFC, darüber hinaus länderbezogene Siegel wie SCA inSchweden und FFC in Finnland. Dass es hierbei auch er-hebliche Qualitätsunterschiede gibt, ist für den Verbrau-cher im Einzelfall nur schwer abschätzbar. EinheitlicheZertifizierungen, zum Beispiel nach den FSC-Normen,könnten hier zu mehr Klarheit für den Verbraucher führen.Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser. Ich möchte zumSchluss nur noch auf eines hinweisen, weil die Zeit sehrschnell verrinnt. Wichtig ist auch, dass die Einhaltung dergetroffenen Vereinbarungen kontrolliert werden kann.Seit dem 1. März dieses Jahres befindet sich der Umwelt-satellit Envisat im Orbit. Ungefähr zehn Jahre Entwick-lung und Ausgaben von insgesamt 2,3Milliarden Euro ha-ben ein Mess- und Kontrollinstrument hervorgebracht,das die Umsetzung von Umweltprogrammen ebenso vo-ranbringen kann wie die Umweltforschung.Durch die Kombination verschiedener Daten kann eingenaues Bild der Waldbeschaffenheit der Erde erhoben wer-den. Das elektrische Auge Envisats sieht die Unterschiedezwischen dichtem Wald, Kahlschlag und Agrarflächenebenso wie Veränderungen in der Qualität der Wälder.Selbst für schwer zugängliche Stellen können alle drei Tageaktuelle Daten erhoben werden. Die Unabhängigkeit vonTageslicht und die optische Durchdringung der Wolken-decke erlauben es, jederzeit Veränderungen in den Wäl-dern festzustellen.Mit einem derartigen Kontrollinstrument und demWaldaktionsplan, der die Gegebenheiten der betroffenenLänder berücksichtigt und der ausreichend finanziell un-terfüttert ist, sollte es möglich sein, die letzten Urwälderund zwei Drittel der gesamten Flora und Fauna unsererWelt zu retten. Denn wir tragen die Verantwortung für dieLebensgrundlagen auf unserem Planeten und für die nach-folgenden Generationen. Wir stellen uns dieser Heraus-forderung.Danke.
Alsnächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun vonder FDP-Fraktion das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Jutta Müller
23041
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Er-
haltung des Waldes in unserem Land, aber noch viel mehr
in der Welt ist nicht nur ein Thema für Umweltpolitiker.
Der Wald bildet den Lebensraum für eine ungeheure Viel-
falt von Arten, für Millionen von Ureinwohnern und er ist
für unser Klima von überragender Bedeutung. Kurz: Der
Wald ist unsere Zukunft.
Die Abholzung riesiger Flächen – nach der Welternäh-
rungsorganisation FAO handelt es sich jährlich um eine
Fläche in der Größe von Bayern, Baden-Württemberg und
Niedersachsen zusammengerechnet – aus vordergründi-
gen, oft aber nachvollziehbaren Gründen stellt eine riesige
Gefahr für die Zukunft der Welt und natürlich auch der
Menschheit insgesamt dar.
Es ist schlimm, zu erfahren, dass im Jahr des Umwelt-
gipfels von Rio, 1992, ebenso viel Wald zerstört wurde
wie im Jahr 2001. Durch Rio haben sich also keinerlei
Verbesserungen ergeben. Aber die Ressourcen, innerhalb
derer diese ungeheure Zerstörung stattfindet, sind deut-
lich geringer geworden.
Wir können nur darauf dringen, dass auf dem VN-
Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg
im August/September dieses Jahres das dringende Inte-
resse all derer, denen die Zukunft der Erde am Herzen
liegt, zu Ergebnissen zum Schutze des Waldes führt.
Die Bundesregierung muss in der Lage sein, dieses
Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Es wäre absurd,
das Thema „nachhaltige Entwicklung“ zum zentralen
Thema eines Weltgipfels zu machen und dabei das Thema
„Gefahr für den Bestand der Wälder“ außen vor zu las-
sen.
Man muss wirklich nicht mit allen Aktionen, nicht ein-
mal mit allen Zielsetzungen, von Greenpeace einverstan-
den sein. Aber der Einsatz dieser Organisation für die
Wälder ist in hohem Maße lobenswert. Natürlich hilft die
Blockade eines Schiffes nicht beim Erreichen des Ziels,
die Wälder zu erhalten. Aber eine solche Aktion gibt ein Si-
gnal, das für jedermann verständlich ist, und weist darauf
hin, wie notwendig es ist, dass wir unsere Aufmerksamkeit
diesem Thema widmen. Wir Politiker sollten hinter dem
Engagement der Umweltverbände nicht zurückbleiben. Je-
der, der nachts über Urwaldgebiete speziell in Südamerika
fliegt, kennt das grauenvolle Bild der vielen von Brand-
rodungen herrührenden Feuer, die meist illegal stattfin-
den, die aber offensichtlich von den Regierungen der be-
troffenen Länder hingenommen werden.
Natürlich sind wir nicht blind und naiv. Wir kennen die
Probleme der örtlichen Bevölkerung, die aus bitterer Ar-
mut heraus Land zu gewinnen versucht, indem sie Urwald
durch Brände rodet. Dass dies oft mit ungelösten
Verteilungskämpfen in den betreffenden Ländern zu tun
hat, wissen wir. Wir wissen aber auch, dass Ländern wie
Brasilien, Indonesien, Malaysia, der Demokratischen Re-
publik Kongo und auch Russland geholfen werden muss.
Wir dürfen nicht den Zeigefinger erheben und Forderun-
gen stellen. Wir müssen diesen Ländern vielmehr bei der
Lösung ihrer Probleme helfen.
Es gibt aber auch Länder wie Kanada, in denen das Be-
wusstsein für die Wertigkeit der vorhandenen Wald-
flächen unterentwickelt ist, während der Erwerbssinn
durchaus Weltspitze ist.
Waldschutz – das ist die Forderung an die Bundes-
regierung – muss zur Chefsache werden. Die Grünen ha-
ben die heutige Aktuelle Stunde beantragt. Sie besetzen
mit dem Außenministerium und dem Umweltministerium
zwei entscheidende Ressorts, in denen aktive Wald- und
Urwaldpolitik gemacht werden könnte. Auch das Ent-
wicklungshilfeministerium hat große Möglichkeiten, eine
gemeinsame, aktive und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete
Politik zu machen und in der Welt durchzusetzen. Es fragt
sich nur, ob die Bundesregierung wirklich alles tut, was in
diesem Zusammenhang notwendig und möglich ist. Ist
Minister Trittin auf der Konferenz in Den Haag, um ein
Zeichen zu setzen?
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Sie kommen
doch gleich noch dran.
Hat Minister Fischer angekündigt, dass er durch seine An-
wesenheit die Bedeutung der Konferenz in Johannesburg
und insbesondere des deutschen Wunsches nach Schutz
der Wälder unterstreichen will? Sind die Botschafter in
den betreffenden Ländern angewiesen, durch stetes „ce-
terum censeo“ vorzubringen: „Wenn ihr mit Deutschland
zusammenarbeiten wollt, dann sorgt euch um den Wald“?
Das sind die Fragen, die ich heute stellen will. Ich bin
gespannt, ob die Vertreterin der Grünen darauf eine ver-
nünftige Antwort geben kann.
Das Wort
hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-Frak-
tion.
Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Thema „Schutz des Urwaldes“ ist ziemlichin den Hintergrund getreten. Wir reden zwar ständig überdie Klimapolitik. Aber heute ist es das erste Mal seit lan-ger Zeit, dass wir wieder über die Wälder diskutieren. DieKlimaschutzdebatte betrifft Deutschland zwar unmittel-bar. Aber langfristig hat auch die Abholzung der letztenPrimärwälder dramatische Klimaauswirkungen, undnicht nur das: Wir brauchen hier sicherlich nicht über dieBedeutung der hohen Biodiversität in den Primärwäldernzu reden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 200223042
Die dritte Säule beim globalen Waldschutz ist sozialerArt. Holz ist ein wichtiges Exportgut. Es ist zudemEinkommens- und Ressourcenquelle für die ansässigeBevölkerung sowie leider auch Quelle für Profite meistinternationaler Holzfirmen. Gerade dieses Beziehungsge-flecht macht den Kampf gegen die Abholzung so schwer.Mit Zertifizierungsinitiativen, mit der Unterstützungvon scheinbar nachhaltigen Forstmanagementplänen undmit Selbstverpflichtungen kommunaler Unternehmen,kein Tropenholz zu verwenden, wurden hierzulande diegroßen Proteste durch die Kleinarbeit auf Beamten- undNGO-Ebene abgelöst. Greenpeace und andere Organisa-tionen versuchen nun, eine Zäsur zu machen. Das ist si-cherlich sehr gut; denn die Erwartungen in die Klein-arbeit, die ich auf keinen Fall kleinreden möchte, habensich leider nicht erfüllt. Die Abholzraten steigen in denmeisten Gebieten der Erde, und zwar sowohl beim lega-len als auch beim illegalen Einschlag. Von nachhaltigerForstwirtschaft kann bei den Primärwäldern allenfallspunktuell geredet werden. Dafür schafft die Entwick-lungszusammenarbeit oft mehr Probleme, als sie löst.Wenn ich mir eine Presseerklärung der Initiative „ProRegenwald“ anschaue, dann muss ich leider feststellen,dass das BMZ seit dem Jahr 2000 ein Projekt finanziert,in dem eine Tochterfirma der Bremer Feldmeyer-Gruppeim Urwald der Republik Kongo-Brazzaville jährlich über100 000 Kubikmeter wertvoller Tropenhölzer wie Sipo-und Sapelli-Mahagoni abholzt. In der Erklärung stehtweiterhin geschrieben, dass der deutsche Steuerzahler40 Prozent der Kosten für eine Aufgabe trägt, zu derenDurchführung nach kongolesischem Forstrecht eigentlichdie Holzfirma verpflichtet ist. Aufgrund dessen halte ichIhr Engagement auf dieser Konferenz für fragwürdig.Nehmen wir das Beispiel Kamerun. Der mit EU-Gel-dern unterstützte Ausbau des Straßennetzes in den Ur-waldregionen im Südosten des Landes hat schwerwie-gende Folgen für die Region. Der Buschfleischhandelblüht wie nie zuvor: Für Sägewerke wurden Pygmäen-dörfer platt gemacht und die Ureinwohner entlang derStraße angesiedelt. Es hat sich eine unheilvolle Allianzgebildet, die auf den ersten Blick sogar fortschrittlich zusein scheint. An den Einnahmen der französischen Kon-zerne im Zusammenhang mit der Holzentnahme sind nun-mehr auch die Gemeinden beteiligt. Der kamerunischeStaat ist an diesen Unternehmen mittlerweile direkt betei-ligt. Allesamt haben nun ein nachhaltiges Interesse daran,so viel Tropenholz wie möglich einzuschlagen. Das liegtnatürlich nicht im Interesse des Ganzen.Wir wissen noch nicht genau, was die Biodiversitäts-konferenz in Den Haag beschließt. Wir warten aufdiese Ergebnisse. Auf alle Fälle wissen wir, dass die deut-sche WestLB ihr Engagement in Höhe von 900 Milli-onen US-Dollar als federführende Bank für die Finanzie-rung einer Erdölleitung durch den Dschungel im OrienteEcuadors nicht aufgeben will. Die Trasse und der durchsie ausgelöste Ölboom in den letzten AmazonaswäldernEcuadors werden zu irreparablen Umweltschäden in deneinzigartigen Ökosystemen führen.Betroffen sind vor allem die Lebensräume vieler indi-gener Völker, die zum Teil noch sehr isoliert leben. Ichdenke, wenn Deutschland beim Schutz der Wälder ernstgenommen werden will, dann muss wenigstens das ver-hindert werden. Wir haben die dringende Aufgabe, eineLösung für dieses Problem zu finden. Ich hoffe, dass eseine Antwort auf die Frage der Finanzierung durch dasBMZ gibt, das mit Verantwortung dafür trägt, dass Wäl-der abgeholzt werden.Danke.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Unsere Aktuelle Stunde,heute am letzten Tag der Den Haager Konferenz, hatte ichmir in gutem Optimismus schon als Stunde des Jubelsüber einen erfolgreichen Urwaldgipfel vorgestellt. Mankann den langen Titel dieser Konferenz ganz einfach um-benennen: Urwaldgipfel.Ich wollte die teilnehmenden Vertragsstaaten, die sichaufgrund der jedem bekannten dramatischen Situationder Urwälder in politischer Vernunft zusammengefundenhaben, loben. Leider ist das wohl nicht so: Der nationaleEgoismus scheint wieder einmal die politische Vernunftbesiegt zu haben. Die Tatsache, dass 2 000 Delegierte aus182 Regionen zusammenkamen, die 270Anträge, ergänztum weitere 130 Anträge, stellten, zeigt sicherlich dieKomplexität des Themas. Ohne eine klare Richtschnurmuss man sich im Unverbindlichen verlieren. Das zeich-nete sich in Den Haag ab. Es wurden keine Prioritäten ge-setzt.Ich kann mich zwar darüber freuen, dass Deutschland,wie in Kioto, auch in Den Haag die Vorreiterrolle über-nommen hat und dass Frankreich – sicherlich haben dasauch andere Mitgliedstaaten getan – mächtig mitgekämpfthat. Von NGO-Teilnehmern der Konferenz in Den Haagweiß ich das positive Engagement Deutschlands aus-drücklich bestätigt. Wirklich viel konnten wir aber nichtdurchsetzen.Ich habe mich in den letzten Jahren für die Etablierungeines Handelszertifikats für Holz sehr stark gemacht. Be-reits Anfang der 90er-Jahre haben internationale Umwelt-verbände und NGOs erkannt, dass die Etablierung einesHandelszertifikates für Holz ein Mittel für einen besserenSchutz vor Raubbau und für bessere Forstwirtschaft seinkann.Deutschland ist nicht nur ein großer Holzlieferant, son-dern auch ein großer Importeur von Holz- und Zellstoff-produkten aus Urwaldholz. Eigenes deutsches Holz,europäisches oder russisches Holz, Übersee- und Tropen-holz, das ist ein gutes und ein wichtiges Handelsgut. Holz-konsum ist gut, wenn das Holz aus nachhaltiger Forstwirt-schaft stammt. Zertifizierung schlägt eine direkte Brückevom Hersteller zum Verbraucher und kann deshalb auch inRegionen ohne ausgeprägte Kontrollmechanismen Wir-kung entfalten. So lautet eine Antwort aus dem BMVEL.Ich kann dies hier nochmals ausdrücklich unterstreichen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Eva Bulling-Schröter23043
Ich freue mich daher auch darüber, dass die Bundesre-gierung in ihrem eigenen Geschäftsbereich die Beschaf-fung von Tropenholz mit der Vorlage eines glaubwürdi-gen Zertifikats verknüpft.Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Deshalb kannich von hier aus nur nochmals gegen den Fatalismus an-reden, der darin zum Ausdruck kommt, dass man sagt,man könne ja doch nichts tun. Doch, man/frau kann zu-mindest die Kennzeichnung von Tropenholz- und Holz-produkten überhaupt mit in die Kaufentscheidung einbe-ziehen. Ich will auch ausdrücklich das unterstützen, wasdie Kollegin Steffi Lemke zu dem glaubwürdigen Zertifi-kat von FSC gesagt hat.Gerade junge Leute, Schulklassen befassen sich oft mitder Thematik der Waldzerstörung und der Situation derUrwälder. Herr Dr. Ruck, sie rufen uns zu: Was habt ihrgetan? Wir müssen dieses Zurufen ernst nehmen. Es istauch unsere Aufgabe, dieses Engagement nicht in der Pro-jektbearbeitung stecken zu lassen, sondern glaubhaft zuvermitteln: Deutsche und internationale Politik überneh-men für den Schutz des Ökosystems Wald Verantwortung.Die Erkenntnis, dass die biologische Vielfalt der Erdevon Tag zu Tag abnimmt, und die Tatsache, dass die Kon-vention über die biologische Vielfalt diesen negativen Trendbislang nicht umkehren konnte, müssen uns aufschreckenund uns zu noch stärkeren Anstrengungen bringen.Zehn Jahre im Leben eines Menschen – eine lange Zeit,eine kurze Zeit? Es kommt darauf an, wie wir diese zehnJahre in unserem Leben nutzen. Wir werden heute älter alsfrüher. Zehn Jahre im Leben eines Baumes – eine langeZeit, eine kurze Zeit? Bäume werden heute nicht mehr soalt wie früher. Sie sind durch Umweltbelastungen, Raub-bau, Rodung für Siedlungs-, Agrar- und Wirtschafts-zwecke bedroht. Zehn Jahre internationale Umweltpoli-tik – eine gute Zeit, eine genutzte Zeit? Ich fasse mir daeinfach einmal an die eigene Nase. Den Haag war nichtganz der Erfolg, den ich mir versprochen habe. Es gehtnun zum nächsten Gipfel nach Johannesburg. Lassen Sieuns die Zeit bis dahin gemeinsam nutzen! In den zehn Jah-ren von Rio bis Johannesburg ist mehr Biodiversität verlo-ren gegangen, als in Hunderten von Jahren vorher entstan-den war. Unseren Kindern schulden wir es, in nationalerund internationaler politischer Verantwortung die Biodi-versität zu sichern. In Den Haag war es ein kleiner Schritt.In Johannesburg muss es ein Meilenstein werden.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Lamp von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Seltene Harmonie im Par-lament, viele Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist uns allen,dass wir das Problem erkannt haben, dass wir begrüßen,dass die biologische Vielfalt der Wälder Schwerpunkt-thema der 6. Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag ist,und dass wir nicht ganz genau wissen, wie sie heute aus-geht. Weil wir das nicht wissen, halte ich den Zeitpunkt derheutigen Diskussion für ungeeignet. Weder können wirjetzt noch Einfluss auf die deutsche Verhandlungsführungin Den Haag nehmen, noch können wir das Ergebnis kom-mentieren, hieraus unsere Schlüsse ziehen und Strategienentwickeln. Es wäre also sinnvoller gewesen, dieses Themain der nächsten Woche zu diskutieren. Wir haben kaum Un-terlagen zu der Problematik und zum Verhandlungsstand inDen Haag bekommen.
Es ist so gut wie nichts gekommen, was wir nicht schonkannten. Nichts Aktuelles! Ich hätte mir schon gewünscht,dass wir in der nächsten Woche darüber konstruktiver mit-einander diskutiert hätten.Ich muss allerdings die Harmonie noch weiter trüben.Der Kollege Ruck hat ja davon gesprochen, dass auch wirunsere Hausarbeiten machen sollten. Es geht ja nicht nurum die Primär- bzw. Urwälder, deren Wert hier so ein-drucksvoll geschildert wurde, sondern auch um die Wäl-der bei uns zu Hause mit dem ihnen eigenen Wert. Da istin den letzten Jahren doch erheblich gesündigt worden.Manchmal kommen mir Zweifel, ob wir überhaupt dierichtigen Anwälte zur Lösung diesbezüglicher Problemein Den Haag sitzen haben.Die rot-grüne Landesregierung von Schleswig-Holstein hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, einensich selbst verjüngenden Mischwald anzustreben. Einsich selbst verjüngender Mischwald wäre in Schleswig-Holstein in kurzer Zeit kein Mischwald mehr, sonderneine Buchenwaldmonokultur, neben der nichts anderesmehr bestehen würde.Die Kollegin Lemke sprach völlig zu Recht davon,dass in den Staaten, die Primär- bzw. Urwälder haben,auch das ökonomische Moment eine Rolle spielen muss.Die dort Ansässigen sollen natürlich auch am Wald ver-dienen können. Das Gleiche gilt, wie ich denke, aber auchbei uns. Wenn niemand mehr am Wald verdienen kann,wird der Wald vernachlässigt werden. Die Politik von Rot-Grün in Schleswig-Holstein zeigt wiederum, dass mit ei-ner überzogenen, sich nachhaltig nennenden Forstwirt-schaft in staatlichen Wäldern kein Geld zu verdienen ist.Mit den Wäldern in Schleswig-Holstein wird kein Gewinnerzielt, sondern die Verwaltung der Staatswälder setzt Jahrfür Jahr 300 bis 350 DM pro Hektar zu.Wir sollten uns also schon auch Gedanken über den öko-nomischen Nutzen machen, den wir durch einige – sicher-lich gut gemeinte – Maßnahmen erheblich eingeschränkthaben, auch durch die Vorgaben des Bundesnaturschutzge-setzes: Die 10 Prozent Totholz, die dort gefordert werden,bilden den Nährboden für den Borkenkäfer, der unsere auchdurch Umwelteinflüsse geschwächten Bäume vernichtet.Auch eine in manchen Regionen übermäßige Kormoran-population vernichtet Waldteile oder gar ganze Flächen,auch geschützte, durch Verkotung. Sämtliche Vegetationist dort tot. Die Untersagung von Kahlschlag, der nie einenganzen Wald, sondern immer nur eine Fläche innerhalb ei-nes Waldes betrifft, auf der Platz für Erstbesiedler ge-schaffen wird, führt zu einer geringeren Artenvielfalt bzw.Biodiversität in unseren Wäldern.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Heidemarie Wright23044
Zurück zum Gipfel von Den Haag. Wir dürfen wirklichnicht länger mit ansehen, dass Jahr für Jahr 9 MillionenHektar Urwald vernichtet werden. Sie haben die südlichenBundesländer genannt. Ich könnte genauso gut Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommernnennen, wo Jahr für Jahr Flächen vernichtet werden.Wir haben heute unterschiedliche Prognosen zum Aus-gang des Gipfels gehört: von Dr. Ruck eine eher optimis-tischere und von Frau Wright eine eher pessimistischere.Wir dürfen uns in der heutigen Debatte nicht einfach miteiner pessimistischen Sicht zufrieden geben und dann da-rauf hoffen, dass in Johannesburg alles anders und besserwird. Ich glaube, dass wir – ich komme jetzt wieder aufdie zu Anfang meiner Rede beschworene Gemeinsamkeitzurück – in dem Fall, dass das Ergebnis unbefriedigendist, gemeinsam eine europäische Initiative ergreifen unduns mit einem eigenen Konzept bereits vor Johannesburgmit den betroffenen Staaten in Verbindung setzen sollten.Danke.
Das Wort
hat jetzt für die Bundesregierung die Parlamentarische
Staatssekretärin Gila Altmann.
G
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrLamp, es drängt mich doch, Ihnen zu Anfang meiner Redezu sagen, dass wir nicht ausgerechnet die Kormorane füreine jahrzehntelang fehlgeleitete Umwelt- und Natur-schutzpolitik verantwortlich machen sollten,
sondern wir sollten genau nach den Gründen schauen unddie richtigen Konsequenzen daraus ziehen.
Herrn Braun möchte ich sagen: Sie bekommen nichtnur eine Antwort von einer Grünen, sondern sogar eineAntwort von einer Grünen in der Bundesregierung.
Urwälder sind die Schatzkammern der Erde: Sie be-herbergen zwei Drittel der auf dem Land lebendenTiere und Pflanzen, sie sind Lebensraum für rund150 Millionen Menschen indigener Völker. Urwäl-der sind einmalig und lebensnotwendig zur Stabili-sierung der Lebensgrundlagen dieses Planeten.So steht es auf der Website der Kids for Forests, die aufdem Weg zur Haager Umweltkonferenz zahlreiche Minis-terien, Abgeordnetenbüros und Botschaften besucht ha-ben, um damit ihr Recht auf eine Zukunft mit Urwäldernzu beanspruchen. Sie tun das zum Beispiel an über400 Schulen „für den Urwald“ – so nennen sie sich –, andenen zukünftig Holz- und Papierprodukte aus Urwald-zerstörung nicht mehr benutzt werden sollen.Seit der Klimawette 1998, die auf Initiative derBUND-Jugend zwischen 200 Schulen und der Bundesre-gierung geschlossen wurde – da ging es um CO2-Reduk-tion; die Bundesregierung hat die Wette verloren und iststolz darauf –, wissen wir, dass Jugendliche es ernst mei-nen und handeln und dies auch von Politik und Wirtschafterwarten. Für die Jugendlichen wird noch immer zu vielgeredet und viel zu wenig getan.Sie sind mit ihrem Handeln erfolgreich: Erstmals gibtes in Den Haag ein eigenes Jugendforum, dessen Ergeb-nisse im Ministersegment eingebracht wurden.Urwälder gehören zu den bedeutendsten Naturressour-cen der Erde. Sie sind komplexe Ökosysteme von lokalerund globaler Bedeutung und der Schlüssel zur Bewahrungder biologischen Vielfalt. Wälder liefern alles, was derMensch zum Leben braucht. Noch immer gibt es Völker,die ausschließlich im oder vom Wald leben. Sie könnendies, ohne ihn zu zerstören. Wälder beeinflussen dasKlima und den Wasserhaushalt und sind wesentliche Koh-lenstoffspeicher.Aber – das ist die Krux – sie sind auch ein Wirtschafts-faktor, mit dem bisher rücksichtslos umgegangen wurdeund auch weiterhin wird. Besonders dramatisch ist derRückgang bei den Primärwäldern mit ihrer einzigartigengenetischen Vielfalt und zum Teil noch unentdecktem Ar-tenreichtum. Die Zeit drängt: 80 Prozent des Primärwald-bestandes sind bereits zerstört. Das wurde hier schon ge-sagt, aber das kann man gar nicht oft genug wiederholen.Deutschland ist zwar zu 30 Prozent von Wald bedeckt,vollkommen naturbelassene Waldökosysteme gibt es je-doch nur als versprengte Reste – wenn überhaupt.Weltweit beträgt die Waldfläche gerade noch 3,8 Milli-arden Hektar. Die Zerstörung vor allem des Tropenwaldesbeträgt jährlich 15 Millionen Hektar. Das ist das Andert-halbfache dessen, was wir in Deutschland an Sekundär-wäldern haben. Besonders in Afrika ist der jährliche Ver-lust mit 5,3 Millionen Hektar dramatisch; das ist nämlichfast so viel wie der Verlust in Lateinamerika und Asien zu-sammen.Und warum das Ganze? Für viele Entwicklungsländerist der Export von Tropenholz eine wichtige, oft die wich-tigste Einnahmequelle. Hinzu kommt, dass zum Beispielim Kongobecken große Waldgebiete von Flüchtlingenfür ihr Überleben übernutzt und damit zerstört werden.Hauptverursacher sind jedoch die internationalen Firmenmit ihren Profitinteressen. Dafür werden jahrhundertealteBaumriesen zu Sperrholzplatten und Zellstoffbrei verhäck-selt.Auch Deutschland gehört zu den Importländern vonTropenhölzern. Aus dieser Tatsache ergibt sich unserebesondere und vor allen Dingen unsere gemeinsame Ver-antwortung. Wenn wir die letzten Primärwälder – sie wer-den von Greenpeace die „fantastischen Sieben“ genannt –für die kommenden Generationen erhalten wollen, dannmüssen wir es als Dienstleistung verstehen und müssen esuns auch etwas kosten lassen.Ich komme nun zu den Ergebnissen von Den Haag. Ichkann die gedrückte Stimmung in diesem Zusammenhang
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Helmut Lamp23045
überhaupt nicht verstehen. Was wir nämlich aus Den Haaghören, klingt recht optimistisch. Es gibt berechtigte Hoff-nungen, dass die Konferenz nach schwierigen Verhand-lungen das von Deutschland und Frankreich geforderte Ar-beitsprogramm zur Waldbiodiversität heute Nachmittagannehmen wird. Die Konferenz beginnt in einer halbenStunde. Herr Ruck hat schon eine positive Bewertung ab-gegeben. Seine Auffassung wird vom Bundesumweltmi-nisterium geteilt.
Es ist besonders wichtig, dass ein effektiver und aktions-orientierter Umsetzungsmechanismus mit einer Ad-hoc-Expertengruppe beschlossen werden wird, die ihre Arbeitvor der übernächsten Vertragsstaatenkonferenz in 2006 be-endet haben soll. Bis zur 7. Vertragsstaatenkonferenz sollein Themenbericht zur Waldbiodiversität vorgelegt wer-den.Das Waldarbeitsprogramm umfasst insgesamt 130 Ein-zelaktivitäten. Ich will nicht alle referieren, sondern nurzentrale Punkte nennen. Es geht um die Schaffung einesglobalen Netzes von geschützten Primärwäldern, ein-schließlich der Wiederherstellung degradierter Wälder.Die nachhaltige Nutzung, einschließlich der Zertifizie-rung von Waldprodukten – Herr Lamp, dies ist möglich;im BNatG machen wir den Anfang, nach dem Prinzip „vorder eigenen Haustür kehren“ vorzugehen –, ist der einzigeWeg, um Schutz und Nutzung in Einklang zu bringen. Ichnenne weiterhin den Abbau von nicht nachhaltigen Sub-ventionen und schließlich die Integration von Waldpolitikin alle anderen Politikbereiche.Ich komme nun zum Engagement von Herrn Trittin.Herr Braun, für diese Punkte hat Deutschland mit HerrnTrittin an der Spitze zusammen mit Frankreich erfolgreichgekämpft, unterstützt durch Belgien und die Niederlandeund gegen die Widerstände aus Brasilien, Malaysia,Kanada und anfangs auch einigen europäischen Ländern.Herr Trittin war bis Mittwochabend in Den Haag. Er hatzuvor mit den USA verabredet, dass die Waldpolitik auchin Johannesburg einen zentralen Punkt der Verhandlungenbildet. Er hat für sein Engagement in Den Haag eine wich-tige Sitzung mit den NUS ausfallen lassen.Bei den Verhandlungen über die Ministererklärung istes gelungen, festzuschreiben, dass der Verlust an Biodi-versität bis 2010 gestoppt wird. Dieser Punkt ist deswe-gen in der Ministererklärung enthalten, Frau Lemke, weildie Befürchtung bestand, dass es zu einer Verwässerungkommt, wenn er im Arbeitsprogramm steht. Sicher istauch, dass die in den Bonn Guidelines vom August 2001festgelegten Bestimmungen über den Zugang genetischerRessourcen und über einen gerechten Vorteilsausgleichangenommen werden.Über Den Haag hinaus gibt es noch weitere Initiativender Bundesregierung. Gemeinsam mit Frankreich werdenwir auf Grundlage des verabschiedeten Wahlprogrammsein gesondertes Programm zum Kongobecken starten.Der Initiative der Kids in den Schulen will die Bun-desregierung nicht nachstehen. Das Umweltministeriumsetzt sich dafür ein, dass die Beschaffungsstellen des Bun-des Produkte aus Primärwäldern nur noch verwenden,wenn sie den Anforderungen des FSC entsprechen. Wirwerden auch weiterhin mit allen Möglichkeiten, die unszur Verfügung stehen, gegen die Einfuhr von illegalenHolzimporten vorgehen, wie kurz vor Ostern im Hambur-ger Hafen mit einer Ladung Mahagoni geschehen.Wie schrieben uns die Kids?
– Die „Kids for Forests“. Das ist ein feststehender Name.Wie schreiben also die Kids?Wir, die Generationen auf der ganzen Welt, wollenuns mit Ihnen gemeinsam anstrengen und in Zukunftauf Produkte aus Urwaldzerstörung verzichten. Bittegeben Sie ein gutes Beispiel und stoppen Sie mit Ih-rer ganzen Kraft den Import von Holz und Produktenaus Urwaldzerstörung.Ich finde, wir sollten die jungen Leute nicht enttäuschen.Herzlichen Dank.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dassHelmut Lamp Recht gehabt hat. Diese Feststellung giltauch nach Ihrer Rede, Frau Altmann, der ich sehr wohl zu-gehört habe. Sie haben jetzt etwas intensiver über die Er-gebnisse der Konferenz von Den Haag berichtet. Zu An-fang dieser Debatte hat dies Christian Ruck getan. DieseErgebnisse stehen aber noch nicht fest. Wir konnten sienicht mit Experten und Nichtregierungsorganisationenabgleichen. Dass diese Debatte wichtig ist, ist, so glaubeich, jedem klar. Aber hätten wir mit dieser Debatte nichteine Woche warten können?
– Frau Lemke, ich meine das ernst, was ich hier sage.Auch Sie sollten das tun.Auch in den Koalitionsfraktionen kam es zu unter-schiedlichen Beurteilungen. Heidi Wright hat hier einepessimistischere Beurteilung abgegeben, möglicherweisedeshalb, weil sie nicht alles wusste. Wir haben gestern ersteinmal durch Herrn Wettengel nachfragen lassen, welcheErgebnisse diese Konferenz eigentlich zeitigt.
Ich gehe einmal davon aus, dass es wirklich positive Er-gebnisse sind. Wenn dies so ist, dann wäre es doch wichtiggewesen, in der nächsten Woche weiter gehende Konse-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Parl. Staatssekretärin Gila Altmann23046
quenzen zu beraten, die aus diesen positiven Ergebnissenabzuleiten sind.
Ich glaube, dass wir damit den Urwäldern auf dieser Weltund möglicherweise auch der Konferenz von Den Haaggerechter geworden wären.Denn es gibt doch folgendes Problem – das wird auchbei einem positiven Konferenzergebnis so sein –: Wir müs-sen – wenn die von Ihnen zitierten Kinder auf Produkte ausUrwaldzerstörung verzichten wollen, dann ist das etwassehr Wertvolles; Frau Altmann, darin stimme ich mit Ihnenüberein – vielen Vertragsstaaten weiterhin klar machen,dass das, was wir ihnen bezüglich der Erhaltung der Ur-wälder abverlangen, auch ihnen längerfristig nutzen wird.Es geht dabei um das Problem der Nachhaltigkeit. ImGrunde genommen müssen diejenigen, die eine falscheNutzung tätigen, damit rechnen, dass sie ihre Wälder nichtnachhaltig nutzen können. Wir sollten ihnen das in ihremInteresse sagen und das noch stärker, als das bisher derFall gewesen ist, verdeutlichen. Es gilt natürlich, bei allenProzessen, die auf dieser Welt stattfinden, über dieses Pro-blem zu diskutieren. Denn auch die Mentalitäten müssensich ein Stück weit verändern.Ich halte es allerdings für verkehrt, dass jetzt alles aufdieser Welt miteinander abgeglichen wird. In unserenBreiten ist eine andere nachhaltige Waldbewirtschaftungnotwendig. Denn wir kämpfen nicht mit den Problemen,mit denen man in Urwäldern am Äquator kämpfen muss.Hier bestehen Unterschiede. Von daher glaube ich nicht,dass es sehr sinnvoll ist, wenn wir für alle Bereiche derWelt ein Zertifizierungssystem empfehlen. Wenn uns diehier den Wald Bewirtschaftenden sagen, dass sie auf einanderes Zertifizierungssystem setzen, dann sollten wir dasernst nehmen. Wir sollten es aber genauso ernst nehmen,wenn Zertifizierungssysteme in Bezug auf die Urwälderan anderer Stelle entwickelt werden, weil wir sonst derVielfalt der Wälder und der Waldbewirtschaftung auf un-serem Globus nicht gerecht werden würden. Ich wollteauch darauf aufmerksam gemacht haben.Ich sehe ein weiteres Problem, das wir lösen müssen;es ist hier mehrfach angesprochen worden. Es geht darum,dass wir den Ärmeren auf dieser Welt nicht abverlangenkönnen, was die reicheren Staaten bei der Waldbewirt-schaftung nicht bereit sind zu tun. Der eigentliche Skan-dal ist, dass es in reicheren Ländern immer noch keinenachhaltige Forstwirtschaft gibt. Dies müssen wir deut-lich machen und wir müssen auch die ärmeren Länder indie nachhaltige Waldbewirtschaftung einbeziehen.Es ist ganz wichtig, dass wir diesen Skandal deutlichmachen. Deswegen müssen wir uns auch mit Finnland,Kanada und solchen Ländern auseinander setzen, die denUrwald nicht nachhaltig nutzen und die eine Kahlschlag-politik alleine dadurch betreiben, dass sie häufig dieBäume, die sie eingeschlagen haben, mit einer ungeheu-ren Brutalität gegen jegliche Natur und den Wald bergen.Es gilt, auch in dieser Hinsicht weitere Diskussionen zuführen. Das Ziel, glaube ich, teilen wir ja alle. Wenn DenHaag auf dem Weg dorthin ein Erfolg sein könnte, dannwürde ich das sehr begrüßen. Aber ich kann zurzeit nicht al-les, was in Den Haag beschlossen worden ist – manchesmuss ja erst noch beschlossen werden –, so richtig nach-vollziehen.Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKollegen und Kolleginnen! Der Bundestag drückt nichtzum ersten Mal seine Besorgnis über die dramatische Zer-störung der Urwälder aus und das wird auch nicht dasletzte Mal sein. Insofern ist diese Debatte – ob sie nun indieser Woche oder in der nächsten Woche stattfindet – et-was daneben. Heute ist nun eine Aktuelle Stunde zu die-sem Thema beantragt worden. Wenn es entsprechend be-antragt wird, kann über das Thema in der nächsten Wocheoder zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal diskutiertwerden. Über dieses Thema muss auch diskutiert werden.Ich will daran erinnern, dass bereits in der 11. Wahlpe-riode die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmo-sphäre“ im Jahre 1987 den Auftrag bekam, sich mit demEinfluss der Tropenwälder auf das Weltklima zu befassen.Ich habe dieser Enquete-Kommission angehört und hattedie Gelegenheit, auf Delegationsreisen einen Eindruckvon dem Zustand und der dramatischen Gefährdung vonUrwäldern zu bekommen. Ich war im waldreichen Ka-nada – Sie haben das eben angesprochen –, in Atlanta, wodie Wälder in der gemäßigten Zone sind, aber auch in Bri-tish Columbia, wo es Regenwald gibt. Ich habe an einer De-legationsreise nach Malaysia teilgenommen und habe imSarawak die großen Tropenwälder gesehen. – Ich weiß jetztnicht, was Sie murmeln. Ich kann nur sagen: Wenn man soetwas mit eigenen Augen gesehen hat, bekommt man einenganz anderen Eindruck. Wir sollten so etwas häufiger nut-zen, um uns einen eigenen Eindruck zu verschaffen.Ich habe gesehen, welche Verwüstungen und Zerstö-rungen Rodungen mit schwerem Gerät an Wald und Bo-den verursachen. Ich muss sagen: Wir waren alle entsetzt,welche Rolle da die Kettensägen der Firma Stihl ausDeutschland spielten. Dieses große und gefährliche Gerätwurde dort eingesetzt.
Wir haben in der darauf folgenden Legislaturperiodeeinen weiteren Bericht verfasst, der sich nicht nur mit denTropenwäldern, sondern auch mit den borealen Wäldernbefasst hat. Sie müssen sich das einmal vorstellen. Man istin diesen Wäldern unter einem dichten Blätterdach, durchdas kaum Licht eindringt. Es gibt nur Dämmerlicht; mannimmt Geräusche und Gerüche wahr. Man merkt, dassdort ein geheimnisvolles Leben, Atmen und Wachsen vonunendlich vielen Pflanzen und Tieren stattfinden. Wenn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 231. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. April 2002
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr23047
man einen Tropenbaum, einen jahrhundertealten Baum,sieht, dann weiß man: Tropenwälder und Regenwäldersind nicht nur CO2-Senken oder Pumpen für das Welt-klima. Sie sind nicht nur ein Reservoir für die biologischeVielfalt. Urwald ist ein einmaliger Schatz der Menschheitund die Länder, die solche Urwälder, solche Tropenwäl-der haben, könnten und sollten stolz sein und sollten allestun, sie zu erhalten. Wir müssen ihnen dabei helfen.Leider ist es so, dass viele der alten großen Bäume inden Industrieländern landen: in Japan als Stäbchen zumEssen, bei uns als Zellstoff, als Spanplatten oder Sperr-holz, bestenfalls als Möbel. Wir sind ein Teil des Systemsder Zerstörung der Wälder.Die Enquete-Kommission hat im Mai 1990 ihren Be-richt „Schutz der Tropenwälder“ dem Bundestag über-reicht. Über ihn wurde hier diskutiert und ich möchte dieNamen einer Kollegin und eines Kollegen erwähnen, dieintensiv an diesem Thema gearbeitet haben. Das warenDr. Liesel Hartenstein von der SPD und Wilhelm Knabevon den Grünen. Sie haben intensiv an dem Bericht gear-beitet und danach immer wieder dafür gesorgt, dass imBundestag über Anträge und Anfragen zu dem Themadiskutiert wurde. Das blieb leider ohne Erfolg, denn un-sere Anträge wurden zu dieser Zeit immer niederge-stimmt.Deswegen bin ich sehr froh, dass wir jetzt eine Ge-meinsamkeit haben und feststellen, dass das, was 1992auf dem Erdgipfel von Rio mit der Konvention über diebiologische Vielfalt angefangen hat und jetzt umgesetztwerden soll, vom Parlament unterstützt wird.Ich bin auf unseren Minister stolz, der, soweit ichgehört habe, in Den Haag eine hervorragende Rolle ge-spielt hat. Deutschland hat wichtige Impulse gegeben undkonstruktiv dazu beigetragen, dass die Konferenz ein Er-folg geworden ist. Aber machen wir uns nichts vor: Es istnicht das letzte Mal, dass wir hier darüber diskutieren.Auch mit der erfolgreichen Konferenz in Den Haag ist dasProblem noch lange nicht gelöst. Sie ist ein weitererSchritt auf dem Weg, der notwendig ist, um diesen Schatz,diesen Reichtum der Menschheit auch für die nachfol-genden Generationen zu erhalten.Schönen Dank.
Die Wort-
meldung des Kollegen Obermeier ist von der Frau Kolle-
gin Vollmer zu Protokoll genommen worden. Ich frage:
Gibt es dagegen Bedenken?
– Dann darf ich diejenigen, die Bedenken haben, bitten,
die Hand zu heben. – Gegenstimmen?
Wenn die Mehrheit Bedenken hat, kann die Rede nicht zu
Protokoll genommen werden. Ich sage nur: In der Ge-
schäftsordnung ist das nicht ausdrücklich geregelt. Das
kann dann nur das Parlament beschließen.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 24. April 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.