Protokoll:
14218

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 218

  • date_rangeDatum: 21. Februar 2002

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:29 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Otto Bernhardt und Rita Süssmuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21559 A Eintritt der Abgeordneten Amke Dietert- Scheuer, Bärbel Grygier und Wolfgang Bierstedt in den Deutschen Bundestag . . . 21559 A, B Bestimmung der Abgeordneten Katrin Göring- Eckardt als stellvertretendes Mitglied im Ver- mittlungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21559 B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 21559 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 21560 B Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Jahreswirtschaftsbericht 2002 der Bundesregierung: Vor einem neuen Aufschwung – Verlässliche Wirtschafts- und Finanzpolitik fort- setzen (Drucksache 14/8175) . . . . . . . . . . . . . 21561 A b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Jahresgutachten 2001/02 des Sachverständigenrates zur Begut- achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Drucksache 14/7569) . . . . . . . . . . . . . 21561 A c) Antrag der Abgeordneten Matthias Wissmann, Peter Rauen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Rezession überwinden – Wirt- schaftspolitik für mehr Wachstum und Beschäftigung umsetzen (Drucksache 14/8265) . . . . . . . . . . . . . 21561 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dr. Ditmar Staffelt, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz (Leipzig), Andrea Fischer (Ber- lin), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Für eine stetige, verlässliche und beschäftigungsfördernde Wachs- tumspolitik – kein konjunkturpoli- tischer Aktionismus (Drucksachen 14/7808, 14/8148) . . . . 21561 B Hans Eichel, Bundesminister BMF . . . . . . . . 21561 C Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 21565 B Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21570 C Rainer Brüderle FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21572 D Roland Claus PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21576 A Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi . . 21578 A Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 21579 B Matthias Wissmann CDU/CSU . . . . . . . . . . . 21581 C Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 21583 D Gerda Hasselfeldt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 21585 C Joachim Poß SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21587 C Dr. Norbert Wieczorek SPD . . . . . . . . . . . . . 21590 B Tagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Plenarprotokoll 14/218 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 218. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 I n h a l t : Norbert Geis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Kri- minalität wirksamer bekämpfen – Innere Sicherheit gewährleisten (Drucksachen 14/6539, 14/8284) . . . . 21592 C b) Große Anfrage der Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Strafverfolgung in (einem zusammenwachsenden) Europa (Drucksachen 14/1774, 14/4991) . . . . 21592 C Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . 21592 D Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ . . 21595 A Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21596 D Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 21599 A Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 21601 D Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 21603 C Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 21604 D Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21607 A Marion Caspers-Merk SPD . . . . . . . . . . . . . . 21609 A Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 21609 C Ronald Pofalla CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 21609 D Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . . . . . . . . . 21611 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21613 B Erika Simm SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21614 D Tagesordnungspunkt 20: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVorbereitung einer bun- deseinheitlichen Wirtschaftsnummer (Drucksache 14/8211) . . . . . . . . . . . . . 21616 B b) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2001 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Tsche- chischen Republik über soziale Si- cherheit (Drucksache 14/8212) . . . . . . . . . . . . . 21616 B c) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurVereinfachung derWahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat (Drucksache 14/8214) . . . . . . . . . . . . . 21616 C d) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Ju- ni 1999 betreffend die Änderung des Übereinkommens vom 9. Mai 1980 über den internationalen Eisenbahn- verkehr (COTIF) (Drucksache 14/8172) . . . . . . . . . . . . . 21616 C e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundesbesol- dungsgesetzes (Drucksache 14/8045) . . . . . . . . . . . . . 21616 C f) Antrag der Abgeordneten Brigitte Adler, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- Loßack, Hans-Christian Ströbele, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Reformprozess der internationalen Agrarforschung vorantreiben (Drucksache 14/8000) . . . . . . . . . . . . . 21616 D g) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Existenzbedrohende Prüfungs- praxis der Sozialversicherungsträger für kleine und mittelständische Be- triebe unterbinden (Drucksache 14/7155) . . . . . . . . . . . . . 21616 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 20) a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt- auditgesetzes (Drucksache 14/8231) . . . . . . . . . . . . . 21617 A b) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von Kioto vom 11. Dezember 1997 zum Rahmen- übereinkommen der Vereinten Natio- nen über Klimaänderungen (Kioto- Protokoll) (Drucksache 14/8250) . . . . . . . . . . . . . 21617 A c) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen und zur Einrichtung eines Registers über un- zuverlässige Unternehmen (Drucksache 14/8285) . . . . . . . . . . . . . 21617 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002II Tagesordnungspunkt 21: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- men vom 18. April 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über soziale Sicherheit (Drucksachen 14/7046, 14/8146) . . . . 21617 B b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Walter Hirche, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Erd- öl, Erdölerzeugnissen oder Erdgas (Drucksachen 14/7151, 14/8053) . . . . 21617 C c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Fünften Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes über die Land- wirtschaftliche Rentenbank (Drucksachen 14/7753, 14/8169) . . . . 21617 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verord- nung der Bundesregierung: Zweiund- zwanzigste Verordnung zur Durch- führung des Bundes-Immissionsschutz- gesetzes (Verordnung über Immis- sionswerte für Schadstoffe in der Luft – 22. BImSchV) (Drucksachen 14/7831, 14/7874 Nr. 2.1, 14/8261) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21618 A e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verord- nung der Bundesregierung: Zweite Verordnung zur Änderung der Ver- packungsverordnung (Drucksachen 14/7923, 14/8086 Nr. 2.1, 14/8188) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21618 B f) – n) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 347, 348, 349, 350, 351, 352, 353, 354, 355 zu Petitionen (Drucksachen 14/8118, 14/8119, 14/8120, 14/8121, 14/8122, 14/8123, 14/8124, 14/8125, 14/8126) . . . . . . . . . . . . . . . 21618 B Tagesordnungspunkt 13: Unterrichtung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages: Bericht über die Rechenschaftsberichte 1999 sowie über die Entwicklung der Finanzen der Par- teien gemäß § 23 Abs. 5 des Parteien- gesetzes (PartG) (Drucksache 14/7979) . . . . . . . . . . . . . . . 21619 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 21) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem StockholmerÜber- einkommen vom 23. Mai 2001 über per- sistente organische Schadstoffe (POPs- Übereinkommen) und dem Protokoll vom 24. Juni 1998 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüber- schreitende Luftverunreinigung betref- fend persistente organische Schadstoffe (POPs-Protokoll) (Drucksachen 14/7757, 14/8014, 14/8298) 21619 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zu den aktuellen Vorgän- gen um die Vermittlungstätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit . . . . . . . . . . . . 21619 C Klaus Brandner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21619 D Julius Louven CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 21621 A Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21622 C Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21623 D Dr. Klaus Grehn PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21625 B Walter Riester, Bundesminister BMA . . . . . . 21626 B Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . 21628 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21629 A Dr. Norbert Blüm CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 21630 A Erika Lotz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21631 B Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 21632 C Ute Kumpf SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21633 B Gerd Andres SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21634 D Tagesordnungspunkt 5: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 III SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz (Leipzig), Andrea Fischer (Ber- lin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zugang der Zivilgesell- schaft zur WTO-Ministerkonferenz in Doha, Katar gewährleisten (Drucksachen 14/5805, 14/7900) . . . . 21636 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Erich G. Fritz, Gunnar Uldall, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Stärkung des freien Welt- handels durch neue WTO-Runde (Drucksachen 14/5755, 14/7924) . . . . 21636 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- ten Kristin Heyne, Annelie Buntenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sicherung eines fairen und nachhalti- gen Handels durch eine umfassende Welthandelsrunde (Drucksachen 14/7143, 14/7925) . . . . 21636 C d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- ten Ursula Lötzer, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Neoliberale Globalisierung – kein Sachzwang (Drucksachen 14/6889, 14/7899) . . . . 21636 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Entwicklung und Wohlstand durch mehr Mut zur Marktöffnung (Drucksache 14/8272) . . . . . . . . . . . . . . . 21636 C Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi 21636 D Erich G. Fritz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 21638 C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21640 D Gudrun Kopp FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21643 A Ursula Lötzer PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21644 B Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . . . . . . . . . . 21645 A Siegfried Helias CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 21647 C Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dirk Niebel, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Für substanzielle Arbeitsmarktreformen im Niedriglohnsektor (Drucksache 14/8143) . . . . . . . . . . . . . . . 21649 B Dr. Irmgard Schwaetzer FDP . . . . . . . . . . . . 21649 C Andrea Nahles SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21651 A Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 21653 C Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 21656 A Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21657 D Renate Jäger SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21659 A Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) CDU/CSU 21660 D Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21663 A Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Anpassung bestimmter Bedin- gungen in der Seeschifffahrt an den internationalen Standard (Zweites Seeschifffahrtsanpassungsgesetz) (Drucksachen 14/6455, 14/8264) 21665 A – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Seeunfalluntersuchungsgesetzes (SeeUG) (Drucksachen 14/6892, 14/8264) 21665 A b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Annette Faße, Reinhard Weis (Stendal), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Deutschen Bin- nenschifffahrtsfonds (Binnenschiff- fahrtsfondsgesetz) (Drucksachen 14/6159, 14/7882) . . . . 21665 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Kommission für den Europä- ischen Rat von Biarritz über die Gesamtstrategie der Gemeinschaft für die Sicherheit im Seeverkehr (Drucksachen 14/4945 Nr. 2.24, 14/6251) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21665 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002IV d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Optimierung der Ostsee- sicherheit im Bereich der Kadet- rinne (Drucksachen 14/6211, 14/5752, 14/6909) 21665 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Mittei- lung derKommission an das Europä- ische Parlament und den Rat; Ver- besserung der Dienstqualität in Seehäfen: Ein zentraler Aspekt für den europäischen Verkehr; Vor- schlag für eine Richtlinie des Euro- päischen Parlaments und des Rates über den Marktzugang für Hafen- dienste (Drucksachen 14/6214 Nr. 2.2, 14/7890) 21665 C f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- nung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Reinhard Weis (Stendal), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: ILO-Über- einkommen über die soziale Betreu- ung der Seeleute ratifizieren (Drucksachen 14/5247, 14/7898) . . . . 21665 D g) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Untersuchung von Seeunfällen (Seeunfalluntersuchungsänderungs- gesetz) (Drucksache 14/8108) . . . . . . . . . . . . 21666 A Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21666 A Jürgen Koppelin FDP . . . . . . . . . . . . . . . 21667 C Ulrich Adam CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 21668 C Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21668 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . 21669 B Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21672 D Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . . . 21673 D Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 21675 D Annette Faße SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21676 D Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21678 B Dr. Christine Lucyga SPD . . . . . . . . . . . . . . 21679 D Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 21680 D Dr. Margrit Wetzel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 21681 C Konrad Kunick SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21682 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 14/6929, 14/8176) . . . . . . . 21684 D Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes (Drucksache 14/8230) . . . . . . . . . . . . 21685 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zurÄnderung des Gentechnikgesetzes (Drucksache 14/5929) . . . . . . . . . . . . 21685 B c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Zweiter Bericht der Bundes- regierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz (Drucksache 14/6763) . . . . . . . . . . . . 21685 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung: Bericht derBundesregierung überEr- fahrungen mit dem Gentechnikgesetz (Drucksachen 13/6538, 14/272 Nr. 119, 14/6894) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21685 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 V Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Stra- tegie für eine zukünftige Chemi- kalienpolitik (Drucksache 14/8029) . . . . . . . . . . . . . 21685 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine wirksame und vernunftgeleitete Che- mikaliengesetzgebung (Drucksachen 14/5761, 14/6422) . . . . 21685 D Tagesordnungspunkt 10: a) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes (Drucksache 14/7225) . . . . . . . . . . . . . 21686 B b) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Christina Schenk, Rosel Neuhäuser, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes (Drucksache 14/7226) . . . . . . . . . . . . . 21686 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21686 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 21687 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel (SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Anpas- sung bestimmter Bedingungen in der Seeschiff- fahrt an den internationalen Standard – Druck- sache 14/6455 (Tagesordnungspunkt 6 a) . . . . 21687 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung eisenbahnrechtlicher Vorschriften (Zu- satztagesordnungspunkt 6) . . . . . . . . . . . . . . . 21688 A Karin Rehbock-Zureich SPD . . . . . . . . . . . . . 21688 A Georg Brunnhuber CDU/CSU . . . . . . . . . . . 21689 A Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21690 C Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . . . 21691 A Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21691 C Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes – des Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes – der Unterrichtung: Zweiter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu der Unterrichtung: Bericht der Bundes- regierung über Erfahrungen mit dem Gen- technikgesetz (Tagesordnungspunkt 8 a und d) . . . . . . . . . . . 21692 C Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . 21692 C Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 21693 C Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 21695 A Detlef Parr FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21695 C Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 21696 A Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21696 C Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Antrags: Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Strate- gie für eine zukünftige Chemikalienpolitik – der Beschlussempfehlung und des Be- richts: Für eine wirksame und vernunfts- geleitete Chemikaliengesetzgebung (Tagesordnungspunkt 9 a und b) . . . . . . . . . . . 21697 B Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . 21697 B Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 21698 D Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21700 A Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 21701 A Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . 21701 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002VI Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- derung des Unterhaltsvorschussgesetzes – des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschuss- gesetzes (Tagesordnungspunkt 10 a und b) . . . . . . . . . . 21702 B Christel Humme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21702 B Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21703 A Antje Blumenthal CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 21703 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21705 A Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21705 D Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21706 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 VII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer 21686 (C) (D) (A) (B) 1) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21687 (C) (D) (A) (B) Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 21.02.2002** Bierwirth, Petra SPD 21.02.2002 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 21.02.2002 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 21.02.2002** Klaus Friedrich (Altenburg), SPD 21.02.2002 Peter Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 21.02.2002 Günther (Duisburg), CDU/CSU 21.02.2002 Horst Heubaum, Monika SPD 21.02.2002* Höfer, Gerd SPD 21.02.2002** Holetschek, Klaus CDU/CSU 21.02.2002 Imhof, Barbara SPD 21.02.2002 Irmer, Ulrich FDP 21.02.2002 Jung (Düsseldorf), SPD 21.02.2002 Volker Knoche, Monika BÜNDNIS 90/ 21.02.2002 DIE GRÜNEN Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 21.02.2002 Kolbow, Walter SPD 21.02.2002 Kossendey, Thomas CDU/CSU 21.02.2002** Leidinger, Robert SPD 21.02.2002 Matschie, Christoph SPD 21.02.2002 Nolte, Claudia CDU/CSU 21.02.2002 Pfannenstein, Georg SPD 21.02.2002 Philipp, Beatrix CDU/CSU 21.02.2002 Raidel, Hans CDU/CSU 21.02.2002** Rauber, Helmut CDU/CSU 21.02.2002** Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 21.02.2002 Roth (Speyer), Birgit SPD 21.02.2002 Rühe, Volker CDU/CSU 21.02.2002 Schemken, Heinz CDU/CSU 21.02.2002 Schlee, Dietmar CDU/CSU 21.02.2002 Schloten, Dieter SPD 21.02.2002** Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 21.02.2002 Hans Peter Schösser, Fritz SPD 21.02.2002 Dr. Schubert, Mathias SPD 21.02.2002 Schultz (Köln), SPD 21.02.2002 Volkmar Seehofer, Horst CDU/CSU 21.02.2002 Strebl, Matthäus CDU/CSU 21.02.2002 Stübgen, Michael CDU/CSU 21.02.2002 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 21.02.2002** Tappe, Joachim SPD 21.02.2002 Thönnes, Franz SPD 21.02.2002 Volquartz, Angelika CDU/CSU 21.02.2002 Weisskirchen SPD 21.02.2002** (Wiesloch), Gert Wimmer (Neuss), SPD 21.02.2002** Willy Wolf, Aribert CDU/CSU 21.02.2002 Zapf, Uta SPD 21.02.2002** * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarichen Versamm- lung der OSZE Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO derAbgeordneten Dr. Margrit Wetzel (SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Anpassung bestimmter Bedingun- gen in der Seeschifffahrt an den internationalen Standard – Drucksache 14/6455 – (Tagesord- nungspunkt 6 a) An der Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 6 a und g (Drucksachen 14/6455 und 14/8108 sowie Drucksache 14/8264) nehme ich nach § 31 Abs. 2 GO nicht teil. Art. 2 des Zweiten Seeschifffahrtsanpassungsgesetzes war während der Beratungen heftiger Kritik ausgesetzt, die ich in der Sache teile. Die Küstenländer haben in einer entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht gemeinsamen Empfehlung an die Parlamentarier einen Alternativvorschlag vorgelegt, den ich für die bessere Lö- sung halte. Für diese Alternative habe ich in den Koaliti- onsfraktionen keine Mehrheiten erringen können. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- zes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vor- schriften (Zusatztagesordnungspunkt 6) Karin Rehbock-Zureich (SPD): Heute ist der Ein- stieg für mehr Wettbewerb auf der Schiene. Die zweite Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ist dieser Schritt für mehr Wettbewerb. Es ist ein Schritt für mehr Verkehr auf der Schiene. Mehr Verkehr auf der Schiene im Personen- und im Güterverkehr ist ein wichtiges Ziel der Verkehrspolitik meiner Fraktion und ihr wichtigstes Ziel im Bereich der Schienenverkehrspolitik. Die zweite AEG-Novelle verbessert eindeutig die wett- bewerbliche Situation auf dem deutschen Schienennetz. Sie stärkt die Kompetenzen von Eisenbahn-Bundesamt und Kartellamt. Das EBA kann jetzt von Amts wegen er- mitteln, wenn es diskriminierendes Verhalten vermutet. Seine Eingriffskompetenzen werden normiert. Die Geset- zesnovelle sorgt so dafür, dass sich der Wettbewerb der Schiene mit der Straße zunehmend zu einem Wettbewerb von Bahnunternehmen untereinander und mit der Straße ergänzt. Dabei bleiben die hohen Sicherheitsstandards der Schiene erhalten. Die Zuständigkeiten der Aufsichts- behörden werden klar geregelt. Überschneidungen wie bisher wird es nicht mehr geben. Darüber hinaus bringt die Novelle entscheidende Ver- besserungen im Bereich des § 11 AEG. Durch unseren Än- derungsantrag wird aus dem reinen Stilllegungsverfahren ein Verfahren zum Erhalt von Eisenbahninfrastruktur. Die Suche nach möglichen Übernehmern für von Stilllegung bedrohte Strecken wird künftig bundesweit und transpa- rent erfolgen. Die Bestimmungen der abzugebenden Grundstücke und Infrastruktureinrichtungen für Eisen- bahnzwecke müssen künftig bei der Preisbildung ange- messen berücksichtigt werden. Die Chancen für die Über- nahme solcher Streckenteile durch interessierte Dritte steigen dadurch deutlich. Alle Gutachter unserer Ausschussanhörung waren sich einig: Die Novelle muss schnellstmöglich verabschiedet und umgesetzt werden. Die Regelungen der zweiten No- vellierung seien „aufwärtskompatibel“ und ständen wei- tergehenden Regelungen für mehr Wettbewerb auf dem Schienennetz in einem dritten Änderungsgesetz nicht ent- gegen. Oder um es mit einem der Gutachter, stellvertre- tend für alle zu sagen: „Wir brauchen den Gesetzentwurf so bald wie möglich.“ Ich zitiere Herrn Dr. Henke vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmer weiter: „Dieser Gesetzentwurf ist wichtig und bringt uns weiter“. Auch die Bundesländer, und zwar alle, haben längst ihre Zu- stimmung signalisiert. Denn sie brauchen das Gesetz. Was waren also die Gründe dafür, dass Sie seit letztem Herbst versuchen, das Gesetzgebungsverfahren zur zwei- ten Novellierung zu verzögern? Die Regelungen könnten längst in Kraft sein. Welche Gründe also haben gegen eine Verabschiedung der Novelle gesprochen? Sie haben im Ausschuss letztendlich doch zugestimmt. Sie werden heute dann doch der Vernunft folgen und der Novelle zu- stimmen. Verzögerung wichtiger Verbesserungen für den Schienenverkehr aus kurzsichtigen taktischen Erwägun- gen heraus lautet wohl die richtige Antwort. Aber um dies klar zu sagen: Ich freue mich natürlich über die einstim- mige Zustimmung im Ausschuss. Ich freue mich über Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Schritt für den Wettbe- werb auf dem deutschen Schienennetz. Das zweite Änderungsgesetz des AEG ist ein Schritt auf dem Weg voran. Auf dem weiteren Weg zu mehr Ver- kehr auf der Schiene braucht es Augenmaß und vernunft- geleitetes Tempo. Dass dieser Weg hin zu einer Maktöff- nung und hin zu mehr Wettbewerb auf dem Schienennetz führen muss und führen wird, steht außer Frage. Die Er- gebnisse der „Taskforce zur Zukunft der Schiene“ weisen dabei die richtige Richtung. Sie werden einfließen in die dritte Novelle des allgemeinen Eisenbahngesetzes und so die Richtlinien der Europäischen Union 2001/12 bis 2001/14 pünktlich umsetzen. Die Unabhängigkeit des Netzes wird dann vergrößert, die Sicherstellung des diskriminierungsfreien Zugangs zum Netz weiter verbessert werden: durch eine von der Holding getrennte Bilanz-, Gewinn- und Verlustrechnung entsprechend den Vorgaben der EU, durch Unabhängig- keit der Netz AG bei Trassenvergabe und Preisfestset- zung, durch Einrichtung einer Trassenagentur, die konti- nuierlich die diskriminierungsfreie Vergabe von Trassen überwacht, durch Wettbewerbsaufsicht des EBAs und der Kartellbehörden. Wir brauchen diese dritte Novelle für die weitere Ent- wicklung des Schienenverkehrsmarkts unbedingt. Genau deshalb wird diese ja schon vorbereitet. Aber dazu müs- sen wir heute erst einmal den Weg freimachen. Heute kön- nen wir alle zusammen einen wichtigen ersten Schritt zur unmittelbaren Verbesserung der wettbewerblichen Situa- tion im deutschen Schienennetz tun. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass unser Ziel „Mehr Verkehr auf der Schiene“ nicht allein durch die Novellen des AEG er- reicht werden kann. Dazu bedarf es auch vernünftiger Fi- nanzausstattung und vernünftiger Rahmenbedingungen. In beiden Bereichen haben wir bereits deutliche Verbes- serungen für den Schienenverkehr durchgesetzt. Wir haben zuerst für eine ordentliche Finanzausstat- tung der Schieneninfrastruktur gesorgt. Seit Regierungs- übernahme steigen die Investitionen für die Schiene wie- der. In 2002 stehen rund 4,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Noch nie stand so viel Geld für die Schiene zur Verfügung. Wir haben die Wettbewerbsbedingungen für den Verkehrsträger Schiene entscheidend verbessert: Auf europäischer Ebene bringt die Öffnung der europä- ischen Netze den Wettbewerb auf der Schiene und gegen- über der Straße voran. Gerade bei den grenzüberschrei- tenden, lang laufenden Güterverkehren gibt es großes Wachstumspotenzial. Die Entfernungspauschale für alle Verkehrsmittel nützt der Schiene genau wie dem ÖPNV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221688 (C) (D) (A) (B) und dem Fahrrad. Die LKW-Maut beteiligt ab 2003 erst- mals in Deutschland die LKWs an ihren Wegekosten. Ein- nahmen aus der Maut fließen in die Verkehrsinfrastruktur, und zwar in alle Bereiche. Damit machen wir Ernst mit unserem integrierten Ansatz und fördern alle Verkehrsträ- ger – auch die Schiene. Was zählt, ist der Erfolg für das gesamte Verkehrssystem. Das einseitige Setzen nur auf einen Verkehrsträger wäre ein Rückfall in die verkehrspolitische Steinzeit. Da- vor warne ich entschieden. Mehr Verkehr auf der Schiene ist, so meine ich, fraktionsübergreifend das gemeinsame Ziel. Über den richtigen Weg werden wir weiter streiten. Doch die heutige Novelle – das einstimmige Ergebnis im Ausschuss zeigt dies – wird nun von allen als wichtig er- kannt. Machen Sie deshalb mit uns heute den Schritt in die richtige Richtung und unterstützen Sie die vorliegende Novellierung. Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften, den wir heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden sollen, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie beharrlich beratungs- resistent die Bundesregierung im Allgemeinen, hier der Bundesverkehrsminister im Besonderen, bei der Rege- lung von wichtigen Wirtschaftsbereichen ist. Da beteuern die diversen Verkehrsminister dieser Re- gierungskoalition – immerhin haben wir schon den drit- ten – immer wieder, dass sie erstens an einer Vergrößerung des Anteils der Schiene am Güterverkehr interessiert sind, dass dieses Ziel zweitens nur mithilfe eines wettbewerbs- neutralen, diskriminierungsfreien Zugangs von Mitbe- werbern der DB Cargo zu erreichen sein wird, und trotz- dem liegt uns jetzt ein Gesetzentwurf vor, der genau diesen Anforderungen nach der Meinung aller unabhän- gigen Experten nicht gerecht wird. Die vor kurzem an- gekündigte Ergänzung der jetzt vorliegenden Novelle noch in diesem Frühjahr soll nun nicht mehr stattfinden. Das ist eine neuerliche Düpierung des Bundesverkehrs- ministers, denn damit wird noch nicht einmal umgesetzt, was die berühmte Taskforce des Herrn Mehdorn vorge- schlagen hat. Dabei hatte der gegenwärtige Bundesverkehrsminister zwischendurch ja durchaus einmal die richtige Erkenntnis gewonnen. Vor noch nicht einmal einem Jahr, nämlich am 10. März 2001, hat Verkehrsminister Bodewig auf dem Parteitag der Grünen in Stuttgart zutreffenderweise Fol- gendes wörtlich ausgeführt: Unsere Verkehrspolitik muss Wettbewerb für mehr Verkehr auf der Schiene organisieren. Überall, wo Wettbewerb auf der Schiene funktioniert, hat er zusätzlichen Verkehr und Innovationen ausgelöst. Der Netzzugang muss diskriminierungsfrei möglich sein. Die Unabhängigkeit des Netzes ist also längst keine Frage mehr des Ob, sondern eine Frage des Wann und des Wie. Herr Bundesverkehrsminister, mit dieser Aussage ha- ben Sie sich damals als durchaus einsichtsfähig und kom- petent ausgewiesen. Nur, was nützt dies, wenn Sie sofort – die Tinte war noch nicht trocken – wieder umgefallen sind? Und jetzt tun Sie so, als wäre all das gar nicht not- wendig, was Sie selbst seinerzeit für unverzichtbar erklärt haben. Das Ergebnis der von der FDP und uns im Verkehrs- ausschuss herbeigeführten Anhörung zu den vorgeschla- genen Änderungen des Eisenbahngesetzes ist im Hinblick auf die Fragen, ob diese Änderungen den EU-Richtlinien entsprechen und ob dadurch ein fairer und neutraler Zu- gang von Wettbewerbern der DB AG zum Schienennetz gewährleistet werden kann, eindeutig: Keiner der befrag- ten Experten ist der Meinung, dass die Regelungen den Richtlinien 2001 Nummern 12 bis 14 der EG entsprechen. Immer wieder heißt es, dass deren Anforderungen überhaupt nicht erfüllt werden; so etwa der Verband Deut- scher Verkehrsunternehmer. Das Eisenbahn-Bundesamt hat vorsichtig formuliert: Wir halten den Gesetzgebungs- entwurf für richtlinienkonform, aber die neuen Richtli- nien werden nicht umgesetzt. Bemerkenswert eindeutig sind die Antworten auf die Frage, ob mit der Möglichkeit des Eisenbahn-Bundesamts diskriminierende Praktiken der Bahn AG künftig von Amts wegen aufzugreifen, ein diskriminierungsfreier Zu- gang zum Schienennetz für dritte Bewerber gesichert wird. Die Antworten lauten klipp und klar: Nein. Beginnen wir mit dem Bundeskartellamt. Es schreibt: Es bestehen begründete Zweifel, ob die beabsichtigte Regelung geeignet ist, ihre angestrebten Ziele zu errei- chen. Oder zitieren wir den Deutschen Bahnkundenver- band: Nach Auffassung der DBV reicht das Gesetzespa- ket noch nicht aus, um ein wettbewerbsneutrales Verhalten der DB Netz AG zu erzwingen. Auch ein so an- gesehener Managementberater wie Dr. Ilgmann ist in sei- nem Urteil eindeutig. Wörtlich schreibt er: Dies läuft darauf hinaus, dass durch ein Konstrukt vertikaler Inte- gration von Netz und Transport im DB-Konzern per se Wettbewerb auf der Schiene behindert wird. Kein Regulierer – und sei er mit noch so hohen Ein- griffsrechten ausgestattet – kann den Mangel dieser wett- bewerblichen Fehlkonstruktion ausgleichen! Dazu auch der Verkehrsclub Deutschland drastisch: Dass die möglichen Diskriminierungen von einer Regu- lierungsbehörde umfassend aufgedeckt werden können, ist aufgrund deren strategischer Unterlegenheit ein from- mer Wunsch. Und weiter heißt es: Eine wettbewerbsneu- trale Mitwirkung der DB AG ist nicht denkbar. Das bedeutet: Schon der Denkansatz der Bundesregie- rung ist falsch, weil auf diese Weise Diskriminierungen überhaupt nicht wirksam ausgeschlossen werden können. Die Konstruktion ist nicht tragfähig, deshalb sind die vor- liegenden Änderungen im Eisenbahngesetz zwar nütz- lich, aber für das Ganze keine Lösung. Der Verkehrsclub Deutschland e. V. weist weiter darauf hin, dass auch alle Entzerrungsverträge und sonstigen Hürden, die untereinander vereinbart werden, nichts da- ran ändern, dass die Konzerntochter DB Netz der Kon- zernleitung untergeordnet sein wird! Das deutsche Ak- tienrecht erlaubt doch gar nicht, dass die Leitung des gesamten Konzerns den Interessen diesen Konzerns zuwiderhandelt, und Gleiches gilt praktisch auch für die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21689 (C) (D) (A) (B) Konzerntochter! Auch darüber, wohin das Ganze führen wird, sind sich die Sachverständigen im Wesentlichen ei- nig. Der Verkehrsclub Deutschland formuliert es so: Wenn sich weiterhin der Eisenbahnsektor dem Wettbe- werb verschließt, wird dieser seine eigene Antwort fin- den: das Überflüssigwerden des Systems Eisenbahn. In dieser drastischen Feststellung liegt keine Überdra- matisierung der Situation, denn der permanente Rück- gang des Schienengüterverkehrs am Gesamtaufkommen des Güterverkehrs in Europa, zum Beispiel von 21 Pro- zent im Jahr 1970 auf heute 8 Prozent, belegt diesen ne- gativen Megatrend. Schon daraus müsste jeder vernünf- tige Verkehrspolitiker bereits den Schluss ziehen: Wenn die Rahmenbedingungen, die zu diesem Ergebnis geführt haben, nicht drastisch geändert werden, dann wird sich trotz aller Beteuerungen von Rot-Grün an der immer mehr schwindenden Bedeutung des Schienengüterverkehrs nichts ändern. Diese Feststellung beinhaltet zugleich ein vernichten- des Urteil über die rot-grüne Eisenbahnpolitik. Angeblich sollte ja gerade die Schiene von dieser Politik profitieren, aber, wie immer, wenn sich bei Ihnen Ideologie und Wirk- lichkeit nicht in Einklang bringen lassen, muss die Wirk- lichkeit weichen, ersetzen Versprechungen und unbe- gründete Hoffnungen den notwendigen Sachverstand, betreiben Sie reine Klientelpolitik und verlieren das Ge- samtinteresse aus den Augen. Der einzig wirksame und erfolgreiche politische Neuansatz in der Verkehrspolitik stammt daher unverändert von Union und FDP, nämlich in der Bahnreform! Die rot-grüne Koalition hat nichts wirklich Neues zustande gebracht und dabei wird es bis zum Ende der Legislaturperiode leider bleiben. Die heute zur Debatte stehenden gesetzlichen Neure- gelungen sind zwar nicht schädlich und deshalb tragen wir sie mit, aber es ist deutlich zu erkennen, dass Sie kein Konzept haben, um das dahinter stehende, nicht weiter to- lerierbare Problem zu lösen. Sie nehmen die kleinen Ver- besserungen bei den Rechten des Eisenbahn-Bundesam- tes als Alibi für Ihre Handlungs- und Reformunfähigkeit. Die Verantwortung für die daraus resultierenden fatalen Folgen für den Schienenverkehr tragen der Bundesver- kehrsminister, weil er wider besseres Wissen mitmacht, und der Bundeskanzler, weil er kritiklos den Wünschen des Vorstandsvorsitzenden der DB AG, Herrn Mehdorn, folgt. Das Opfer ist der Schienenverkehr. Dass man letztlich nichts Wirksames will, zeigt zudem die magere Personalausstattung des Eisenbahnamtes für diese Aufgabe. Ganze zwölf Mitarbeiter sollen das Marktgeschehen genau beobachten, die Ermittlungen durchführen, um Diskriminierungen rechtzeitig zu erken- nen, und sie dann noch schnellstmöglich beseitigen. Der Sachverständige Dr. Ilgmann hat der Bundesregie- rung zu den Folgen dieser Politik im Anhörungsverfahren ins Stammbuch geschrieben: Wenn der Bund weiterhin seine Ordnungspolitik nach den Bedürfnissen des DB- Konzerns und nicht nach den Bedürfnissen der Wettbe- werbsbranche Schienenverkehr ausrichtet, wird er schei- tern. – Dem ist nichts hinzuzufügen! Beim Bundesverkehrsminister muss man leider kon- statieren: Herr Mehdorn hält das Stöckchen hin und Bodewig springt. Herr Bodewig hat zugelassen, dass die Bahn-AG eine bombensichere Monopolstellung geschaf- fen hat und das tut, was sie will. – Herr Bodewig, Sie sind zum Befehlsempfänger von Herrn Mehdorn geworden. In ganz Europa ist dies eine Einmaligkeit. Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Zweite Änderungsgesetz sichert dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA) zu, als Wettbewerbsauf- sicht bei diskriminierendem Verhalten im Bereich des Netzzugangs von Amts wegen aktiv einzugreifen. Damit stehen dem EBA alle Befugnisse einer Aufsichtsbehörde zu, die mit dem Märchen der angeblichen Parteilichkeit des Eisenbahn-Bundesamtes aufräumt. Es wird Zeit, dass das EBAbereits im Vorfeld einer Trassen-Vergabe mögli- cherweise diskriminierende Verhaltensweisen durch Un- terlassungsverfügungen beseitigen kann. Das EBA verfügt damit über genau geregelte Ein- griffsmöglichkeiten wie Betretungsrechte, Einsicht in Unterlagen, Recht auf Auskunft und die Verhängung eines Zwangsgeldes bis zu Millionen DM. Personell wird das EBA in die Lage versetzt, den Netzzugang wirksam zu kontrollieren. Das Zusammenwirken von EBA und dem Bundeskartellamt wird dazu führen, einen diskriminie- rungsfreien Wettbewerb auf dem Schienennetz zu sichern. Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wird auch die Abgabe von Eisenbahnstrecken besser gere- gelt und öffentlicher gemacht, sodass „kalte“ Stilllegungen künftig vermieden werden und interessierte Infrastruktur- unternehmungen schneller und besser an diesbezügliche Informationen herankommen können. Statt der bisherigen Freiwilligkeit sind Eisenbahninfrastrukturunternehmen künftig verpflichtet, ihre Absicht zur Abgabe oder Stillle- gung von Strecken in allgemein zugänglicher Form, auch über das Internet, bekannt zu machen. Damit ist der § 11 AEG kein reiner Stilllegungsparagraph mehr, sondern kann substanziell zum Erhalt der Eisenbahninfrastruktur beitragen: In der Veröffentlichung müssen nämlich An- gaben für die betriebswirtschaftliche Bewertung der je- weiligen Strecken gemacht werden, und zwar unter Berücksichtigung ihrer Bestimmung, das heißt für den Eisenbahnverkehr und nicht als beliebige Immobile. Die ebenfalls in der Novelle vorgesehene Einführung der netzbezogenen Zuständigkeiten ist ein längst überfäl- liger Schritt. Das Wirrwarr von parallelen Zuständigkei- ten im Netz wird aufgelöst; bei der Nutzung fremder Netze kommt es nicht mehr zu wettbewerbsfeindlichen Überschneidungen von Zuständigkeiten. Der Kern der Si- cherheit sind die infrastrukturellen Bedingungen und das Zusammenspiel zwischen Netz und Betrieb. Es wird da- her grundsätzlich der für die Eisenbahninfrastruktur zu- ständigen Behörde die Aufsicht auch über dasjenige Ei- senbahnverkehrsunternehmen übertragen, das auf dem jeweiligen Netzt fährt. Die Gutachter der am 26. November 2001 durchgeführ- ten Anhörung im Bundestags-Verkehrsausschuss haben eine schnelle parlamentarische Beratung des Zweiten Än- derungsgesetzes empfohlen. Insofern war die Verzöge- rungstaktik der Opposition hier kontraproduktiv. Das Gesetzesvorhaben ist von den Regelungen her aufwärts- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221690 (C) (D) (A) (B) kompatibel zu einem geplanten Dritten Änderungsgesetz für eisenbahnrechtliche Vorschriften, das die Umsetzung der Ergebnisse der Taskforce und die Infrastrukturrichtli- nien der EU beinhalten muss. Das vorliegende Zweite Än- derungsgesetz kann dies nicht ersetzen und ist daher ein qualifizierter Zwischenschritt in diese Richtung. Hans-Michael Goldmann (FDP): Dieses Gesetzes- vorhaben hat ein Gutes. Endlich wird in diesem Hause fest- gestellt, dass die DB AG Wettbwerber diskriminiert. Sonst müsste man dieses Gesetz ja nicht machen. Damit wird in dieser Debatte ein kleiner, aber wesentlicher Fortschritt er- zielt und der Haltung meiner Fraktion in dieser Frage im Grundsatz gefolgt. Allerdings ist es wirklich nur ein kleiner Fortschritt – ich erinnere an die Anhörung des Verkehrs- ausschusses, die wir Liberale hierzu beantragt haben –; denn die Gefahr der Diskriminierung von Wettbewerbern durch die DB AG bei der Benutzung des Netzes ist mit den heute zu beschließenden Regelungen nicht gebannt. Erstens sollte die Wettbewerbsaufsicht nicht beim Ei- senbahn-Bundesamt angesiedelt werden, sondern beim Bundeskartellamt, da das Kartellamt über lange Erfah- rung mit Monopolen, Diskriminierungen und sonstigen Wettbewerbsverzerrungen verfügt, egal in welcher Bran- che. Umgekehrt steht nämlich zu befürchten, dass das im EBA noch vorherrschende Denken im Sinne einer verti- kal integrierten Bahn die Wettbewerbsdiskriminierungen gar nicht so ernst nimmt. Zweitens ist die Vorstellung, man könne „Chinese Walls“ im Bahnkonzern einziehen, sehr naiv. „Chinese Walls“ funktionieren im Finanzsektor, zum Beispiel bei Banken, zur Verhinderung von Absprachen bei sehr kurz- fristigen Geschäften. Eine institutionelle Verständigung zwischen einzelnen Bereichen kann es dann durch den Zeitdruck einfach nicht mehr geben. Hier geht es aber um die Prüfung von Angeboten, die Erstellung von Trassen- fenstern, die Verhandlung von Preisen, was sich nicht wie bei Termingeschäften auf dem internationalen Finanz- markt in Sekundenschnelle, sondern meist in Wochen er- ledigen lässt. „Chinese Walls“ ist zwar ein schönes Wort aus der BWL, bleibt bei der Bahn aber wirkungslos. Drittens unterläuft die Bahn mit Blick auf dieses Gesetz bereits heute diese papiernen chinesischen Wände, indem sie den Schlüsselbereich des Netzes, die Investitions- planung, aus der Netz AG herausnimmt und ganz oben in der Holding, bei dem Bahnchef höchstselbst, ansiedelt. Dies ist ein weiterer Schlag ins Gesicht des Bundesver- kehrsministers, der bei jedem noch so kleinen Versuch, der Bahn Wettbewerbsmanieren beizubringen, durch Struktur- veränderungen bei der Bahn ins Leere läuft. Die Investi- tionsplanung des Netzes ist nämlich der eigentliche Kern des Monopols und Mehdorn weiß das ganz genau. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, wie das funktioniert: Die Netz AG vergibt absolut gesetzestreu Trassen an die Wettbewerber, damit das EBAnicht einschreitet. Wel- che Strecken aber modernisiert, beschleunigt, ausgebaut oder neu gebaut werden, entscheidet dann wieder der Konzernchef. Und niemand sollte glauben, dass allzu viel Investitionsmittel in diejenigen Strecken fließen, die von den Wettbewerbern befahren werden. Welch Zufall! Also: Echter Wettbewerb auf der Schiene und damit mehr Angebote für die Kunden, verschiedene Preissys- teme und insgesamt ein Anstoß zum Wachsen dieses Ver- kehrssektors werden nur durch eine echte Trennung von Netz und Betrieb erreicht. Solange die Netz AG Bestand- teil der DB AG bleibt, gibt es dafür keine Chance. Wie anfangs schon gesagt, wird mit diesem Gesetz nur ein kleiner Fortschritt erzielt. Das Problem ist benannt. Zwar wird im Hinblick auf den angestrebten Wettbewerb das Ziel nicht ereicht, allerdings werden einige Kleinig- keiten im administrativen Bereich geregelt. Daher schadet es insgesamt auch nicht, was bei Ihren Gesetzen aller- dings selten ist, meine Damen und Herren von Rot-Grün. Wir können zustimmen. Angelika Mertens, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen:Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung eisenbahn- rechtlicher Vorschriften werden Probleme gelöst, die sich aus der täglichen Praxis ergeben. Dazu gehören insbeson- dere folgende Punkte: die Zuständigkeit und die Kompe- tenzen der Aufsichts- und Genehmigungsbehörden unter der Bedingung des diskriminierungsfreien Netzzugangs, die Rolle des Eisenbahn-Bundesamtes bei der Überwa- chung des diskriminierungsfreien Netzzugangs, die Rechte und Pflichten von Teilnehmern am Eisenbahnbetrieb, die keine Eisenbahnen sind. Im geltenden AEG ist der Sitz des Unternehmens der Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit der Aufsichts- und Genehmigungsbehörde. Dies führt in der Praxis zu Schwierigkeiten. Ein Beispiel: Fährt ein in Bayern ge- nehmigtes Eisenbahnverkehrsunternehmen in Branden- burg, müsste die bayerische Aufsichtsbehörde, um ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen, regelmäßig nach Bran- denburg fahren und das Eisenbahnverkehrsunternehmen dort kontrollieren. Um zu vernünftigen Ergebnissen zu gelangen, lag es nahe, sich vom Sitz des Unternehmens als alleinigem An- knüpfungspunkt für die Aufsicht zu lösen und als Kriterium auch die konkrete Nutzung des Netzes durch ein Eisen- bahnverkehrsunternehmen einzuführen. Dies führt zu der von allen Praktikern begrüßten Einführung einer netzbezo- genen Zuständigkeit der Eisenbahnaufsichtsbehörden. Eine Aufsichtsbehörde kann sich nicht darauf be- schränken, eine Abweichung vom Sollzustand festzustel- len. Sie muss auch die Möglichkeit haben zu handeln. Dazu sind eine Reihe von Befugnissen erforderlich, zum Beispiel das Recht auf Einsicht in Unterlagen. Die Eisen- bahnen müssen verpflichtet werden können, Auskünfte zu erteilen oder Nachweise zu erbringen. Diese Regelungen sind in § 5 a des AEG-Entwurfs zu- sammengefasst. Sie orientieren sich an den entsprechen- den Regelungen im Güterkraftverkehrsgesetz, § 12 Abs. 4. Die Eisenbahnaufsichtsbehörden können die zur Durchführung ihrer Aufsichtsaufgaben erforderlichen Verwaltungsmaßnahmen nach den allgemeinen Vor- schriften erzwingen. Die Höhe des Zwangsgeldes wird durch die Novellierung auf bis zu 500 000 Euro festgelegt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21691 (C) (D) (A) (B) Ein besonderer Teil der Eisenbahnaufsicht betrifft den Bereich der Netzzugangsstreitigkeiten. Nach der bisheri- gen Rechtslage entscheidet das Eisenbahn-Bundesamt, wenn eine Vereinbarung über den Zugang nicht zustande kommt, auf Antrag eines der beteiligten Unternehmen. Damit ist die Durchsetzung des diskriminierungsfreien Netzzugangs vom Antrag eines Unternehmens abhängig. Diese Regelung ist nicht sehr effizient. Es besteht erhebliches Interesse aufseiten des Bundes, das Recht auf diskriminierungsfreien Netzzugang so wirk- sam wie möglich zu schützen. Es wird daher im Rahmen der Neuordnung dem Eisenbahn-Bundesamt die Kompe- tenz zugewiesen, diskriminierendes Verhalten von Amts wegen im Rahmen der Eisenbahnaufsicht zu untersagen. Da auch das Bundeskartellamt im Rahmen seiner all- gemeinen Missbrauchsaufsicht auf der Grundlage des Ge- setzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gegen die sachlich nicht gerechtfertigte Verweigerung des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur vorgehen kann, ist eine Zu- sammenarbeit der Behörden geboten. Der Gesetzentwurf regelt dies in Anlehnung an das Te- lekommunikationsgesetz. Damit entspricht das Verhältnis Eisenbahn-Bundesamt/Bundeskartellamt dem Verhältnis zwischen Regulierungsbehörde Telekommunikation und Bundeskartellamt. Das Eisenbahn-Bundesamt handelt nur auf der Grund- lage des Eisenbahnrechts im Rahmen der Eisenbahnauf- sicht. Durch die Eisenbahnaufsicht wird die Beachtung des AEG und seiner Vorschriften sichergestellt. Damit können Verstöße gegen § 14 AEG und die Eisenbahn- infrastruktur-Benutzungsverordnung verfolgt werden. Die Kompetenz erstreckt sich insbesondere auf die Untersagung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, in de- nen technische und betriebliche Anforderungen enthalten sind, die das erforderliche Maß überschreiten. Dazu ge- hört auch die Untersagung von Trassenpreissystemen, die den Anforderungen der Eisenbahninfrastruktur-Benut- zungsverordnung nicht entsprechen. Es bleibt als letzter großer Regelungsbereich das Pro- blem von Teilnehmern am Eisenbahnbetrieb, die selbst keine Eisenbahnverkehrsunternehmen sind, beispiels- weise Unternehmen, die Schienenbaufahrzeuge oder Pri- vatgüterwagen einsetzen. Mit der zunehmenden Differen- zierung des Eisenbahnsektors eröffnen sich gerade in diesem Bereich eine Fülle von Möglichkeiten, zum Bei- spiel durch die Vermietung von Lokomotiven durch so ge- nannte Lokpools. Unstreitig ist wohl, dass derartige Unternehmen Eisen- bahnvorschriften unterliegen und von Eisenbahnauf- sichtsbehörden beaufsichtigt werden. Dies wurde im Ge- setz klargestellt. Die Reformgesetzgebung im Eisenbahnbereich ist mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften nicht beendet. Das Dritte Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften – mit der Umsetzung der EU-Richtlinien des „Infrastrukturpaketes“ und der Ergebnisse der Task- force – wird folgen. Das war auch das Ergebnis unserer Ausschussanhörung am 26. November 2001. Die Gutach- ter empfahlen eine schnelle parlamentarische Beratung des Zweiten Änderungsgesetzes, da die neuen Vorschrif- ten unter anderem ein wichtiger Schritt zu mehr Wettbe- werb im Eisenbahnbereich sind. In diesem Sinne bitte ich – jetzt im zweiten Anlauf – um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Gentechnikgesetzes – des Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes – der Unterrichtung: Zweiter Bericht der Bun- desregierung über Erfahrungen mit dem Gen- technikgesetz – der Beschlussempfehlung und des Berichts zur Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über Erfahrungen mit dem Gentechnik- gesetz (Tagesordnungspunkt 8 a und d) Dr. Carola Reimann (SPD): Wir haben seit mehr als zehn Jahren in Deutschland ein Gentechnikgesetz. Dabei hat sich das deutsche Gentechnikrecht bewährt – sowohl unter dem Gesichtspunkt des Vorsorgeprinzips, als auch dem Schutz der Beschäftigten und der Bevölkerung. Bei allen Ängsten, die es vor der Nutzung dieser Technologie gab und die der Gentechnik eine besondere Aufmerksam- keit haben zukommen lassen, muss man sagen: Es ist nichts passiert. Es gab keine Probleme mit Freisetzungen von Mikroorganismen aus Labors und Produktionsanla- gen, die eine Gefährdung für die Bevölkerung dargestellt hätten. Das ist auch ein Verdienst der gesetzlichen Rege- lung und gleichzeitig Beweis dafür, dass sich das Gesetz bewährt hat. Daneben ist dieses Gesetz Beispiel dafür, dass Forschung auch in einem begrenzenden rechtlichen Rahmen sich gedeihlich entwickeln kann. Die deutsche Gesetzgebung beruht dabei auf europä- ischem Gemeinschaftsrecht. Dass das keine Einbahnstraße darstellen muss, sieht man auch an dieser Richtlinie. In der geänderten Richtlinie sind die genetisch veränderten Or- ganismen – wie im deutschen Gentechnikrecht – in vier Gruppen in Abhängigkeit von ihrem Gefährdungspoten- zial eingeteilt. Diese Einordnung der Mikroorganismen in Sicherheitsklassen hat sich bewährt und Brüssel hat dies aus dem deutschen Gentechnikrecht übernommen. Aber auch Bewährtes muss ab und an überprüft und angepasst werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre sind die Regelungen hinsichtlich Anmelde-, Anzeige- und Genehmigungspflichten ange- passt worden. Zu den Anpassungen gehört, dass es keine Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221692 (C) (D) (A) (B) Unterschiede mehr zwischen Forschungs- und Gewerbe- anlagen gibt. Dies ist auch deshalb zu begrüßen, da wir alle hoffen, dass Gentechnik die Basis für eine zuneh- mend produzierende Zukunftsbranche ist. Ich halte es für richtig, dass man sich auf EU-Ebene und auch im eigenen Land bemüht, die Vorschriften bei Genehmigungen und Umgang mit gentechnisch verän- derten Mikroorganismen zu vereinfachen, um die Verfah- ren auch zu beschleunigen – da, wo es verantwortbar ist –, ohne dabei den Schutz der Beschäftigten und der Be- völkerung zu reduzieren. Deshalb sollen die Vorschriften bei Arbeiten mit harmloseren Organismen der Sicher- heitsstufe 1 und 2 vereinfacht und abgebaut werden. Unter die Sicherheitsstufe 1 fallen alle harmlosen Mikroorganismen, von denen keine Gefährdung für Be- schäftigte und Bevölkerung ausgehen. Für den Bau einer Anlage und erstmalige Arbeiten mit diesen Organismen soll zwar wie bisher eine Anmeldung notwendig sein, weitere Arbeiten sollen jedoch nur noch einer Aufzeich- nungspflicht für Forschung und Gewerbe unterliegen. Bisher mussten Arbeiten in gewerblichen Anlagen ange- meldet werden. Damit befreien wir auch die Industrie von überflüssigen bürokratischen Hürden. Zur Risikogruppe 2 gehören so harmlose Erreger wie der Karieserreger Streptococcus mutans, aber auch schon weniger harmlose wie der Eitererreger oder auch einige Salmonellen. Für Anlagen und erstmalige Arbeiten mit Organismen der Stufe 2 soll nicht wie bisher eine Geneh- migung notwendig sein, sondern nur noch eine Anmel- dung mit der Option einer Genehmigung. Für weitere Ar- beiten soll für Forschung wie für Gewerbe in Zukunft eine Anzeige mit Option der Genehmigung ausreichen. Hier galten bisher für Forschung und Gewerbe unterschiedli- che, strengere Regelungen: Anmeldung für die Forschung und Genehmigung für das Gewerbe. Dass bei allen Bemühungen, das Verfahren zu verein- fachen und überflüssige Regelungen abzubauen, der Schutz vor einer möglichen Gefährdung der Beschäftigten und Bevölkerung nicht aus dem Blick gerät, zeigt, dass für Arbeiten mit gefährlicheren Organismen der Gruppe 3 und 4 für den Bau einer Anlage und erstmalige Arbeiten eine Genehmigung erforderlich sein soll und auch weitere Ar- beiten mit diesen Organismen immer einer Genehmigung unterliegen sollen. An dieser Stelle verschärfen sich damit die Anforderungen für die Forschung, da Forschung und Gewerbe jetzt gleich behandelt werden. Der ganz überwiegende Teil der Arbeit wird jedoch mit Organismen der Stufen1 und 2 durchgeführt. Ein Beispiel sind Arbeiten mit dem E. coli-Stamm K 12. E. coli ist ein Darmbakterium und gehört ohne genetische Veränderung in die Risikogruppe 2. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen jedoch – E. coli K12 ist quasi das Haustier des Gentechnikers –, dass für Arbeiten mit diesem veränder- ten Stamm keine erhöhten Sicherheitsanforderungen not- wendig sind, da die genetische Veränderung den Stamm nicht gefährlicher, sondern harmloser macht. Ich begrüße es deshalb an dieser Stelle ausdrücklich, dass der Gesetzesentwurf eine Ermächtigungsgrundlage vorsieht für den Erlass einer Rechtsverordnung, um be- stimmte Mikroorganismen aus dem Regelungsbereich des Gesetzes ganz oder teilweise entlassen zu können, wenn die Erfahrungen dafür sprechen. Gesetzliche Regelungen sind kein Selbstzweck, sie dienen der Wahrnehmung der Verantwortung für Bürge- rinnen und Bürger und dem Schutz der Beschäftigten, müssen aber auch Raum lassen für Kreativität und Eigen- initiative. Deshalb, glaube ich, ist mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf die Balance zwischen „so viel Freiraum wie möglich“ und „so viel Regelung wie nötig“ gefunden. Helmut Heiderich (CDU/CSU): Biowissenschaften und Biotechnologie bilden nach allgemeiner Einschätzung die nächste Phase der technologischen Revolution in der wissensbasierten Wirtschaft. Und sie schaffen neue Möglichkeiten für unsere Gesellschaft und Volkswirtschaft. So formuliert die Europäische Kommission in einer ak- tuellen Vorlage für den Europäischen Rat im kommenden Monat in Barcelona. Gleichzeitig lese ich in der Begrün- dung der SPD zur Beschlussempfehlung des Gesundheits- ausschusses zum heutigen Thema, „dass die anfänglich dynamische Entwicklung im Gentechnikbereich sich auch im Hinblick auf EU-Gentechnikrecht und nationales Gentechnikrecht verlangsamt habe“. Der Gentechnik- bericht solle demzufolge nur noch alle fünf Jahre vorgelegt werden. Welch ein Unterschied in der Beurteilung! Genauso unterschiedlich ist das politische Handeln. „Biowissen- schaften und Biotechnologie entwickeln sich schnell und weltweit weiter“, so Romano Prodi für die EU. Während die Europäische Kommission zu Aktivität und Aufbruch mahnt, hinkt die Bundesregierung der Entwicklung weit hinterher. Die heute vorgelegte Änderung des Gentechnikgeset- zes beruht auf einer europäischen Richtlinie von 1998. Die Frist für die Umsetzung in nationales Recht ist bereits am 5. Juni 2000 abgelaufen, wie der Bundesrat – auf Initiative Bayerns – in seinem Gesetzentwurf zu Recht moniert. Davon aufgeschreckt, hatte die Bundesregierung versprochen, auch die Richtlinie 2001/18-EG vom 12. März 2001 in einen einheitlichen Gesetzentwurf ein- zubringen. Dieser Gesetzentwurf soll noch in der parlamentari- schen Sommerpause vom Kabinett beschlossen werden. Damit war die Sommerpause 2001 gemeint. Eingelöst ist dieses Versprechen, wie so viele andere, bis heute nicht. Obwohl die Bundesregierung so viel Zeit hat verstrei- chen lassen, obwohl sie in ihrem eigenen Gentechnikbe- richt auf Seite 22 mehrfach zu dem Urteil kommt, dass es „keine Hinweise auf unvorhergesehene Ereignisse oder Risiken durch die gentechnischen Veränderungen gebe“, obwohl der Gentechnikbericht weiter feststellt: „Schäden für Mensch oder Umwelt, die auf gentechnische Arbeiten oder gentechnisch veränderte Organismen zurückzu- führen wären, sind der Bundesregierung aus Deutschland Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21693 (C) (D) (A) (B) nicht bekannt“, obwohl alle diese positiven Erfahrungen vorhanden sind, traut die Bundesregierung ihren eigenen Erkenntnissen nicht. Deregulierung und Verfahrensvereinfachungen wer- den nur zum Teil umgesetzt. Obwohl von der EU aus- drücklich eine Sicherheitsstufe 1 geschaffen worden ist, die alle Arbeiten „ohne Risiko oder mit vernachlässigba- rem Risiko“ umfasst, kann sich die Bundesregierung nicht durchringen, dafür ein Anzeigeverfahren, wie von der EU beschlossen, als ausreichend zu akzeptieren. Da Arbeiten nach Stufe 1 laut Gentechnikbericht rund drei Viertel aller Maßnahmen betreffen, wäre hier eine Chance, um die Möglichkeiten der Deregulierung bei unverändert hohem Sicherheitsniveau zu nutzen. Trotzdem besteht die Bun- desregierung weiter auf einem Anmeldeverfahren, was für den Forschungsstandort Deutschland nicht gerade hilfreich ist. Damit wir uns richtig verstehen: Das Gentechnikrecht muss auch weiterhin, wie es in der Verantwortung von CDU/CSU konzipiert worden ist, garantieren, dass die Entwicklung und Anwendung von Biowissenschaft und Biotechnologie sicher für Mensch, Tier und Umwelt sind. Gerade diese Erfahrung wird vom Gentechnikbericht der Bundesregierung durchweg positiv bestätigt, zum Bei- spiel in den jährlichen Zwischenberichten an das Robert- Koch-Institut. Bei den Freisetzungsversuchen ergaben sich „bislang keine Hinweise auf unvorhergesehene Er- eignisse oder Risiken durch die gentechnischen Verände- rungen“. Ganz im Gegensatz dazu wird das Handeln der Bun- desregierung beschrieben: Seit März 1998 wurde trotz zahlreicher vorliegender Anträge keine Produktgenehmigung mehr erteilt. Es ist ein Zulassungsstau entstanden, der zunehmend zu handelspolitischen Spannungen mit Nicht-EU-Part- nern führt. Auch an dieser Stelle passen fachlich-wissenschaftli- che Erkenntnis und politisches Handeln nicht zusammen. Die Bundesregierung hinkt nicht nur an dieser Stelle der europäischen Entwicklung hinterher. Sie hängt nach bei der von ihr selbst versprochenen Umsetzung der Frei- setzungsrichtlinie. Sie hängt nach bei der Anwendung der Kennzeichnungsregeln, die Ministerin Künast beim Eu- ropäischen Agrarrat noch begrüßt hat. Sie hängt nach bei der Festlegung von Schwellenwerten. Das ist ein Ver- säumnis, das jährlich für Negativschlagzeilen sorgt, wenn wieder einmal einige Körner gentechnischen Saatguts an der Nachweisgrenze der technischen Möglichkeiten ge- funden worden sind oder gefunden worden sein sollen. Anstatt die europaweit vorgeschlagenen Toleranzgren- zen von 1 Prozent zu akzeptieren, besteht Künast weiter auf null Toleranz. Doch die gibt es nicht einmal bei Reinstraumproduktionen der Industrie. Die Bundesregie- rung hängt nach bei dem von ihr selbst zugesicherten Drei-Jahres-Anbauprogramm auf landwirtschaftlichen Praxisflächen mit einer Größenordnung von 10 000 bis 15 000 Hektar. Die Bundesregierung hängt nach bei der Zulassung von gentechnisch fortentwickelten Sorten, ob- wohl diese alle Prüfungen einschließlich der Zustimmung der ZKBS, der Zentralen Kommission für Biologische Si- cherheit, erfolgreich durchlaufen haben. Um auch hier allen falschen Argumenten entgegenzu- treten, sei die Bundesregierung selbst zitiert. Sie betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, „dass das In-Ver- kehr-Bringen von Lebensmitteln, die gesundheitlich be- denklich sind, ohnehin und grundsätzlich untersagt ist, ohne Rücksicht auf das Herstellungsverfahren“. Wenn also über Kennzeichnungsverfahren oder Schwellenwerte diskutiert wird, so geht es dabei nicht um gesundheitliche Risiken oder gar Gefährdungen des Verbrauchers, wie dies häufig öffentlich dargestellt wird. Es geht vielmehr einzig um die Frage der Information des Verbrauches und der Öffentlichkeit. Zur Klarstellung dieses Zusammen- hangs könnte sicherlich auch der Diskurs von Ministerin Künast hilfreich sein, wenn er denn nicht nur auf Verzö- gerung angelegt ist. Diese Verzögerungsstrategie von Rot-Grün, wie sie in vielen Bereichen der Biotechnologie erkennbar ist, entmutigt zunehmend öffentliche und pri- vate Forscher, Züchter und Entwickler sowie Geldgeber der Biotechnikbranche in Deutschland. So ist es kein Wunder, dass selbst der Gentechnikbe- richt der Bundesregierung zu der Feststellung kommt, dass in Deutschland ab dem Jahr 2000 ein Rückgang der Freisetzungsvorhaben festgestellt worden sei. So ist es kein Wunder, dass die Bundesregierung in ihrem eigenen Bericht darauf hinweist, dass Freisetzungen in Ländern mit günstigeren Rahmenbedingungen abgewandert sein könnten, wie in den Medien berichtet werde. Zur neuen strategischen Vision der EU für Biowissen- schaften und Biotechnologie, die in wenigen Wochen in Barcelona beschlossen werden soll, hat die Bundesregie- rung bis dato nichts, was erkennbar wäre, beigetragen. Nicht einmal die Regelungen der Zuständigkeiten zwi- schen der angeblich jetzt verantwortlichen Ministerin Künast und dem bisher zuständigen Gesundheitsministe- rium sind nachvollziehbar geklärt. Allerdings hat Minis- terin Künast durch Verzögerungen, rechtsbeugende Ein- griffe und Düpierung der Wissenschaft dafür gesorgt, dass Gutachter und Beiräte reihenweise zurückgetreten sind. Während die Bundesregierung in ihrem eigenen Erfah- rungsbericht von einer „zunehmenden Bedeutung der Gen- und Biotechnologie als Innovationsmotor“ spricht, tut sie mit ihrer praktischen Politik alles, um diesen Mo- tor abzubremsen bzw. abzuwürgen. Der heutige Trippel- schritt, nach mehr als drei Jahren Nichtstun, zeigt, wie sehr die Biotechnologie in unserem Land inzwischen ver- nachlässigt wird. Während sich selbst China in der neuen Ausgabe des „SCIENCE Magazins“ als „Global Leader“ in der Pflanzengentechnik bezeichnet, ist Deutschland drauf und dran, den Anschluss in der europäischen Bio- wissenschaft und Biotechnologie zu verlieren. Fazit: Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung macht durchweg deutlich, dass die Entwicklungen der Gentechnik sicher und ohne Risiko für Mensch, Tier und Umwelt sind. Das Vorsorgeprinzip hat sich bewährt. Nach den durchweg positiven Erfahrungen könnten zahlreiche Vorschriften vereinfacht und Verfahren beschleunigt wer- den. Dies käme dem Forschungsstandort Deutschland sehr zugute. Die aktuelle Politik von Rot-Grün widerspricht jedoch in weiten Bereichen dem Erfahrungsbericht der eigenen Bundesregierung. Während der Europäische Rat Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221694 (C) (D) (A) (B) zu neuen Visionen in der Biotechnologie aufruft, steht Rot- Grün in Deutschland noch immer auf der Bremse. Lassen Sie deshalb endlich die alten verstaubten Einstellungen zurück und nutzen Sie die positiven Erkenntnisse des Gen- technikberichts! Behandeln Sie die Gentechnik als Schlüs- seltechnik der Zukunft und reden Sie nicht nur hinter ver- schlossenen Türen davon! Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei der Gentechnik handelt es sich um eine grundlegend neue Dimension von Eingriffen in die Natur, die weit über eine Weiterentwicklung der Evolution und klassischer Züch- tung hinausweist. Gerade diese grundsätzliche Dimension führt aber dazu, dass immer intensiver geforscht werden wird und mit der notwendigen Vorsicht und Sorgfalt auch geforscht werden muss. Das hat die Debatte um embryo- nale Stammzellen der letzten Monate einer breiten Öf- fentlichkeit klar gemacht. Eine solche Situation erfordert eine Information und Aufklärung aller Menschen in der Gesellschaft, wie sie bislang bei naturwissenschaftlichen Entwicklungen nicht üblich war. Zugleich verlangt sie eine Verständigung der Gesellschaft darüber, welche Chancen sie nutzen, welche Risiken sie vermeiden will und wo Grenzen gesetzt wer- den müssen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass alles getan wird, um die optimale Sicherheit für Mensch und Umwelt unter Vorsorgegesichtspunkten zu wahren. Das gilt glei- chermaßen für Bereiche, in denen in absehbarer Zeit ein breiter gesellschaftlicher Konsens für gentechnische Ver- fahren zu erwarten ist, wie die Herstellung von pharma- zeutischen Produkten, und ebenso für hoch umstrittene Anwendungen wie den Einsatz von Gentechnik in der Le- bensmittelproduktion. Diese optimale Sicherheit zu gewährleisten – bei gleichzeitiger Wahrung der Rechtssicherheit für die For- schung und die Wirtschaft –, das soll die Änderung des Gentechnikgesetzes leisten. Das begrüßen wir ausdrück- lich. Gleichzeitig werden Verfahrensvereinfachungen und -beschleunigungen vorgenommen, wo das möglich und verantwortbar ist. Das entlastet Anwender und Behörden gleichermaßen. Auch das begrüßen wir. Das nun vorgelegte Gesetz wird die Änderung der Richtlinie des Ratens über die Anwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen – die so genannte Systemrichtlinie – vom 26. Oktober 1998 in deutsches Recht umsetzen. Die geplante gleich- zeitige Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie konnte leider nicht realisiert werden, weil es auf EU-Ebene noch keine klare Positionierung in den zentralen Punkten „Rückverfolgbarkeit“ und „Kennzeichnung“ gibt. Des- halb ist es richtig, zum jetzigen Zeitpunkt nur die Vor- schriften der Systemrichtlinie umzusetzen. Wir sehen Änderungsbedarf in zwei Punkten: Zum ersten halten wir eine Verordnungsermächtigung, die gentechnisch veränderte Mikroorganismen aus dem Geltungsbereich des Gentechnikgesetzes herausnimmt, für kontraproduktiv. Sie ist auch überflüssig. Der hohe Si- cherheitsstandard in deutschen Labors hat sich bewährt und soll auf jeden Fall aufrechterhalten bleiben. Schon gibt es erste Forderungen aus Industrieverbänden, auch einzelne Pflanzen und Tiere auszunehmen. Da kann ich nur sagen: Nicht mit uns! Letztlich wird jede Aufwei- chung von Sicherheitsstandards in der Gentechnik auch negativ auf die Forschung und Produktion in diesem Be- reich zurückfallen und die gesellschaftliche Akzeptanz verringert. Zweitens wird der Bundesrat aus der Praxis der Ge- nehmigungsbehörden einige Anregungen geben, welche Vorschriften praktikabel sind und welche weniger. Das werden wir aufgreifen. Insbesondere ist zu hinterfragen, ob das neu eingeführte Anzeigeverfahren der Verfah- renserleichterung dient oder ob der vorgeschlagene Weg nicht neue Unübersichtlichkeiten schafft. Unsere Gesetze sollten doch lesbar und übersichtlich sein und Planungs- sicherheit schaffen. Das ist unser Ziel. In diesem Sinne wünsche ich uns eine konstruktive und zügige Beratung dieses Gesetzes. Detlef Parr (FDP): Die Vereinfachung und Beschleu- nigung von Verwaltungsverfahren im Gentechnikbereich, der führenden Zukunftstechnologie, dulden eigentlich keinen Aufschub. 18 Monate Umsetzungsfrist einer ent- sprechenden EU-Richtlinie sollen eigentlich ausreichend sein. Umso verwunderlicher ist, dass die Bundesregie- rung diese Frist weit überschritten hat und erst nach einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission in die Gänge gekommen ist. Dafür haben wir kein Verständnis. Wir begrüßen den nunmehr vorgelegten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes einer deregulierenden EU-Richtlinie vom Oktober 1998. Die bisherigen Verwaltungsverfahren standen in keiner Relation zum eigentlichen Risiko der Verwendung in ge- schlossenen Systemen. Aber im Beratungsverfahren wird sehr stark darauf zu achten sein, ob die selbst gesetzten Ansprüche durch die vorgelegten Regelungen tatsächlich erfüllt werden. Es reicht nicht, dass wir hier in Berlin Ge- setze mit notwendigen und richtigen neuen Zielsetzungen verabschieden, auf der Länderebene aber von subalternen Beamten die Umsetzung nur schleppend oder widerwillig erfolgt. Ziel muss es sein, den Schutzgedanken für die Menschen mit einer deutlichen Förderung dieser Techno- logie zu verbinden. Im Bereich der roten Gentechnik war- ten viele Patientinnen und Patienten auf Hilfe. Die Ent- wicklung entsprechender Diagnose- und Therapiemög- lichkeiten darf nicht durch überzogene bürokratische Vor- schriften behindert werden. Gleichwohl muss sicher- gestellt werden, dass von der Gentechnik selbst keine un- verantwortlichen Gefahren für die Menschen ausgehen. In der grünen Gentechnik stellt sich die Situation ähn- lich dar. Auf ihr ruhen viele Hoffnungen. Es muss zukünf- tig gelingen, mehr Menschen mit Lebensmitteln zu ver- sorgen. Aber auch die Möglichkeit, zum Beispiel durch den Anbau von gentechnisch verändertem Raps mit einem höheren Eiweißgehalt die Lücke zu schließen, die durch das Verfütterungsverbot von Tiermehl entstanden ist, darf nicht unterschätzt werden. Gentechnisch hergestellte Medikamente machten in Deutschland 1999 7 Prozent des Umsatzes der pharma- zeutischen Industrie aus. Es gab danach 176 deutsche Pa- tentanmeldungen zu Arzneimitteln mit biotechnologi- schem Bezug, ein Anstieg um 3 Prozent. Deutschland Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21695 (C) (D) (A) (B) liegt seither europaweit an der Spitze. Weltweit führend sind die USAmit 660 Patenten. Dort hat die FDA frühzeitig unter der Präsidentschaft von Clinton Deregulierungsinitiativen normativ umge- setzt. Diese Deregulierungen zielten auf eine massive Entlastung der pharmazeutischen Unternehmen in Bezug auf Verwaltungsaufwand und Kosten – ein wichiger Grund für die Spitzenstellung der USA in der Welt. Auch in Großbritannien werden Verfahrenserleichterungen in konsequenter Umsetzung der EU-Richtlinie eingeführt. Wir müssen der europäischen Harmonisierung Rechnung tragen, wollen wir unser Land wettbewerbsfähig halten. Die Bundesregierung muss alles tun, um die Akzeptanz der Gentechnik in der Bevölkerung zu verbessern. Der Aus- führung im Erfahrungsbericht – ich zitiere: „Die Bundes- regierung sieht es weder als ihre Aufgabe an, die Akzeptanz dieser Technik zu fördern noch aus Gründen geringer Akzeptanz Verbote auszusprechen.“ – stimmen wir nur im zweiten Halbsatz zu. Wenn über Annahme oder Ablehnung der Gentechnik und ihrer Produkte nicht zuletzt der infor- mierte und sachkundige Verbraucher entscheidet, darf die Bundesregierung nicht länger „toter Mann“ spielen. Wir brauchen eine Informationsoffensive, wenn wir eine führende Rolle in Europa und weltweit spielen wollen. Kersten Naumann (PDS):Was lange währt, wird gut, heißt es im Volksmund. Mit der Umsetzung der EU-Richt- linie von 1998 zur Anwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen schießt die Bundesregierung mit dem vorliegenden Änderungsgesetz jedoch weit über das Ziel hinaus. Auf Seite 1 der Begründung wird deutlich, worauf es der Bundesregierung ankommt: Es sollen „weitgehend die Regelungen deregulierender Natur“ umgesetzt wer- den. Der Bundesrat formuliert darüber hinaus unmissver- ständlich, dass mit der Novelle vor allem eine Entlastung der Unternehmen von Verfahrensfragen und der Länder- haushalte von Kosten der Behörden vorgesehen ist. Wir fordern, dass die bereits im novellierten Gentech- nikgesetz von 1993 weit abgesenkten Anforderungen be- züglich Anzeige, Anmeldung und Genehmigung vor al- lem in den unteren Sicherheitsstufen S 1 und S 2 nicht weiter abgesenkt werden. Eine Selbsteinstufung durch den Antragsteller in die Sicherheitsstufe S 2 ist prinzipiell abzulehnen. Konkret sollte mindestens dem Gesetzent- wurf des Bundesrates gefolgt werden. Hier ist die Anzeige bei gewerblichen, weiteren gentechnischen Arbeiten in der Sicherheitsstufe S 1 und die Anmeldung mit Option der Genehmigung bei weiteren gentechnischen Arbeiten in der Sicherheitsstufe S 2 vorgesehen. Zudem lehnt die PDS die vorgeschlagenen Änderungen zur Selbstklonierung ab. Das bedeutet doch, dass be- stimmte gentechnisch veränderte Mikroorganismen – wenn auch mit so genannten Erfahrungswerten – nicht mehr als solche betrachtet werden und aus der Richtlinie heraus- fallen. Bezüglich der Neufassung von § 36 zur Deckungsvor- sorge ist anzumerken, dass wie im alten Text das Inver- kehrbringen von GVO und deren Produkte daraus nicht erwähnt ist. Haftungsregelungen samt der notwendigen Deckungsvorsorge müssen aber auf jeden Fall nicht nur für freigesetzte, sondern auch für in den Verkehr ge- brachte GVO gelten. Fallen Anmelde- und Genehmigungsverfahren weg, auch die in geringeren Sicherheitsstufen, kann die Zuläs- sigkeit jedes einzelnen Vorhabens nicht mehr geprüft wer- den. Dabei dürfte das Beispiel aus Australien, wo ein un- gefährlicher Mikroorganismus, der Mäusepockenvirus, mit einem ungefährlichen Gen kombiniert wurde und so ein tödlicher Erreger entstand, gerade aktuellen Anlass für eine Verschärfung der Sicherheitsregeln geben. Das alte Konzept „Ungefährlich und ungefährlich ist gleich unge- fährlich“ stimmt offensichtlich nicht. Mit der Kürzung der Entscheidungsfristen setzen sich Behörden zudem selbst unter Zeitdruck. Intervenierung wird unmöglich. Die vorgesehene Deregulierung des GenTG ist nicht zu akzeptieren. Meines Erachtens wird hier eine Risikovor- sorge dem Sparprinzip geopfert. Wir fordern die Bundesregierung auf, nur die Punkte der EU-Systemrichtlinie in deutsches Recht umzusetzen, die zwingend umzusetzen sind. Die Absenkung des Si- cherheitsstandards, die Herabsetzung der Anforderungen und die Beschleunigung der Verfahren, wie im Gesetzent- wurf vorgesehen, laufen dem Vorsorgeprinzip entgegen. Sie sind nicht zwingend in nationales Recht umzusetzen. Deshalb sollte Deutschland im Sinne des vorsorgenden Verbraucherschutzes handeln und nicht überschnell un- korrigierbare Prämissen setzen. Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit: Die modernen Me- thoden der Bio- und Gentechnik sind in vielen For- schungs- und Anwendungsfeldern etabliert. Als Quer- schnittstechnologie spielt die Gentechnik eine wichtige Rolle. In der Medizin wird sie bei der Bekämpfung be- stimmter Krankheiten sowie bei der Entwicklung neuer Therapie- und Diagnosemöglichkeiten eingesetzt. Aber auch in der Landwirtschaft, der Lebensmittelherstellung und des Umweltschutzes eröffnet die Gentechnik neue Perspektiven, die auch die Chance auf neue, zukunfts- sichere Arbeitsplätze beinhaltet. Wir verkennen aber nicht, dass die Freisetzung gen- technisch veränderter Organismen in die Umwelt mit Risiken verbunden sein kann, die auch heute noch im Einzelfall schwer abschätzbar sind. „Chancen nutzen, Risiken vermeiden“ ist deshalb nach wie vor unsere Ma- xime im Umgang mit der Gentechnik. Wir wollen die ver- antwortbaren Innovationspotenziale nutzen und systema- tisch weiterentwickeln. Gleichzeitig muss der Schutz von Mensch und Umwelt gewährleistet sein. Ausgehend von diesem Vorsorgegedanken hat sich das deutsche Gentechnikrecht, wie im Bericht der Bundes- regierung dargestellt, bewährt. Bei der Novellierung des Gentechnikgesetzes geht es deshalb um die behutsame Fort- entwicklung des vorhandenen Instrumentariums und um die Anpassung an vorliegende Erfahrungen und Erkenntnise, die in langjähriger praktischer Arbeit erworben wurden. Die Grundstrukturen des Sicherheitskonzeptes müssen aber er- halten bleiben. Sie lauten: primäre Verantwortung des Be- treibers, sorgfältige Risikobewertung auf wissenschaftlicher Grundlage in jedem Einzelfall, weitgehende präventive Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221696 (C) (D) (A) (B) behördliche Kontrolle und kontrolliertes, schrittweises Vor- gehen vom Labor bis zur Anwendung im Freiland. Das deutsche Gentechnikrecht beruht im Wesentlichen auf europäischem Gemeinschaftsrecht. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes setzen wir eine Änderungsrichtlinie der EU um (Richtlinie 98/81/EG). Sie regelt den Umgang mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen in geschlossenen Systemen, zum Bei- spiel in Laboratorien oder Produktionsanlagen. Hier geht es vor allem um Maßnahmen zum Schutz der menschli- chen Gesundheit und der Umwelt. Dabei ist die im deut- schen Gentechnikrecht verankerte Unterteilung von vier Sicherheitsstufen bei gentechnischen Arbeiten in die Än- derungsrichtlinie weitgehend übernommen worden. Neben den Regelungen zum Sicherheitsniveau enthält die Änderungsrichtlinie auch Vorschriften zur Deregulie- rung. Durch eine Verordnungsermächtigung soll es mög- lich werden, einzelne Typen gentechnisch veränderter Mi- kroorganismen aus dem speziellen Regelungsbereich des Gentechnikrechts auszunehmen. Voraussetzung ist, dass sie sich als sicher für die menschliche Gesundheit und die Umwelt erwiesen haben. Die neuen Regelungen entlasten damit Unternehmen und Behörden von unnötigen Verwaltungsverfahren. Gleichzeitig wird die präventive behördliche Kontrolle beim Umgang mit riskanten Mikroorganismen entspre- chend dem Vorsorgegrundsatz gestärkt. Die neuen Regelungen tragen so zu mehr Sicherheit bei gentechnischen Arbeiten in gentechnischen Anlagen bei. Im Gegensatz zum Bundesrat nutzt die Bundesregie- rung in ihrem Entwurf den von der EU gesetzten Deregu- lierungsspielraum stärker, ohne dabei unser hohes Sicher- heitsniveau zu ändern. Er umfasst dabei neben der Änderung des Gentechnikgesetzes auch die notwendigen Änderungen in den dazugehörenden Verordnungen. Zu- dem erfolgt eine Anpassung an neuere Entwicklungen im Bereich des Arbeitsschutzes. Schließlich – und das ist uns auch wichtig – wird die ZKBS um einen Vertreter bzw. eine Vertreterin des Ver- braucherschutzes erweitert. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Antrags: Weißbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik – der Beschlussempfehlung und des Berichts: Für eine wirksame und vernunftgeleitete Che- mikaliengesetzgebung (Tagesordnungspunkt 9 a und b) Dr. Carola Reimann (SPD): Das vor gut einem Jahr vorgelegte Weißbuch „Strategie für eine zukünftige Che- mikalienpolitik“ ist – da sind die meisten in diesem Hause einig – ein richtiger Schritt und ein echter Fortschritt im Bereich der Chemikalienpolitik. Es ist die Grundlage und der Orientierungsrahmen für eine umfassende Reform der Chemikalienpolitik, die Umwelt-, Arbeits- und Verbrau- cherschutzinteressen genauso berücksichtigt wie die In- teressen der Industrie. Wir beobachten, dass die Inzidenz einiger Erkrankun- gen wie Krebs und Allergien zunimmt, bei denen die be- rechtigte Sorge besteht, dass Zusammenhänge zwischen Chemikalienexposition und Erkrankung existieren. Wir begrüßen daher die Betonung des Vorsorgeprinzips im Weißbuch, mit dem ein wirkungsvoller Schutz der Ge- sundheit von Verbraucherinnen und Verbrauchern mög- lich wird. Die im Weißbuch vorgeschlagene Strategie ist eine notwendige und überfällige Reaktion auf die festgestell- ten Defizite in der Risikobewertung sowie im Manage- ment von Altstoffen. Bislang besteht die unbefriedigende Situation, dass nur Stoffe, die seit 1981 auf den Markt kommen, einem Zulassungsverfahren unterliegen, das die Gefährdung für Mensch und Umwelt beurteilt. Alle Stoffe jedoch, die schon vor 1981 auf dem Markt waren – das ist die Mehrzahl aller verwendeten Chemikalien –, sind nie- mals einer systematischen Bewertung hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für Umwelt und Gesundheit von Verbrau- cherinnen und Verbrauchern unterzogen worden. Die Datenlage für die circa 30000 Altstoffe am Markt kann man getrost als katastrophal bezeichnen. Von den 2600 HPV-Stoffen – High-Production-Volume-Stoffen mit einer Produktion von mehr als 1 000 Tonnen pro Jahr – sind gerade mal 3 Prozent getestet. Nur für 11 Prozent liegt ein vollständiger Grunddatensatz vor. Für 15 Prozent liegen zwar Daten vor, aber kein vollständiger Grunddatensatz. Für weitere 15 Prozent gibt es aber gar keine Daten. Für den ganz überwiegenden Teil, nämlich 56 Prozent dieser Stoffe mit hoher Produktionskapazität, gibt es nur Daten zur aku- ten Toxizität. Wenn man bedenkt, dass diese Chemikalien- gruppe mit Produktionskapazitäten über 1 000 Tonnen im Jahr 95 Prozent aller Chemikalien am Markt ausmacht, kann einen das schon sehr nachdenklich stimmen. Eine nachhaltige, verbraucherschutzorientierte Chemi- kalienpolitik braucht eine systematische, seriöse Daten- grundlage und ein einheitliches Verfahren für Alt- und Neustoffe. Das sieht das Weißbuch vor. Ein wegweisender Ansatz des Weißbuches ist auch die grundsätzliche Umkehrung der Beweislast. Die Hersteller sollen künftig die Ungefährlichkeit ihrer Produkte nach- weisen. Außerdem sollen die Produzenten von Chemika- lien auch für die Vorlage von Informationen über diese Substanzen verantwortlich sein. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie ha- ben nun einen Antrag eingebracht, in dem Sie die Strate- gie des Weißbuches für eine zukünftige Chemikalienpoli- tik grundsätzlich gutheißen. Daher will ich Sie nicht mit einer Aufzählung weiterer positive Aspekte langweilen. Über vieles haben wir schon gesprochen und über vieles brauchen wir nicht mehr zu sprechen. Das gilt allerdings auch für die Forderungen, die Sie hier beschließen lassen wollen. Ihr Antrag ist ein weiterer Beitrag zur Diskussion um ein Weißbuch, um das die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21697 (C) (D) (A) (B) Debatte im Europäischen Parlament bereits abgeschlos- sen ist. Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird eine Ver- ordnung oder eine Richtlinie auf den Weg gebracht. Eine nachträgliche Diskussion scheint mir da wenig hilfreich. Viele Ihrer Forderungen sind darüber hinaus längst obso- let, manche sind einfach nur unverständlich. Herz des Weißbuches für eine zukünftige Chemikali- enpolitik ist das Reach-Verfahren. R steht dabei für Regis- trierung, E für Evaluierung und A für Autorisierung, also Zulassung von Chemikalien. Das Reach-System bietet eine realistische Perspektive, die enormen Datenlücken und Bewertungsrückstände sowie Managementdefizite bei Altstoffen zu beseitigen. Das System basiert auf Ko- operation der Behörden mit der Industrie, die ich aus- drücklich begrüße. Reach sieht vor, dass alle Substanzen in einer zentralen Datenbank registriert werden und zwar mit abgestufter Priorität. Chemikalien mit einer hohen Jahresproduktion von über 1 000 Tonnen pro Jahr sollen bis Ende 2005 re- gistriert werden. Ihre Forderung, für diese Substanzen eine kurzfristige Regelung zur Registrierung und Eva- luierung zu finden, ist damit hinfällig. Das ist doch er- klärtes Ziel des Weißbuches! Substanzen mit einer Jahres- produktion von 100 Tonnen pro Jahr sollen bis Ende 2008 registriert werden und einer Bewertung unterzogen wer- den. Alle übrigen Substanzen mit geringerer Jahrespro- duktion sollen bis Ende 2012 in die zentrale Datenbank aufgenommen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie schlagen weiter vor, auf europäischer Ebene eine Rechtsverordnung zu erlassen. Der Bundestag sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass er sich selbst um Ge- staltungsspielräume bringt, wenn er eine Rechtsverord- nung fordert. Eine Rechtsverordnung muss punktgenau umgesetzt werden. Eine Richtlinie dagegen bietet uns, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern im Deutschen Bundestag, immerhin noch Gestaltungsspielräume, eigene Vorstellungen einzubringen. Meine Damen und Herren von der Union, außerdem möchten Sie die im Weißbuch konzipierten Zulassungs- verfahren für besonders gefährliche Stoffe durch „un- bürokratische Alternativen“ ersetzt wissen. Worum geht es denn hierbei überhaupt? CMR-Stoffe – also Carcinogene, Mutagene, Reprodutoxische Stoffe – sowie POP-Substanzen – persistierende organische Schad- stoffe – sollen laut Weißbuch ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Dies betrifft voraussichtlich 1 400 Substan- zen. Das sind nun wirklich die Gefährlichen unter den Ge- fährlichen. Man kann ja für den Abbau bürokratischer Hemmnisse streiten, aber den Schutz der Verbraucherinnen und Ver- braucher darf man dabei nicht aus den Augen verlieren. Deshalb können wir auf diese Verfahren nicht verzichten. Abgesehen davon ist die Diskussion um diese Zulas- sungsverfahren längst vom Tisch. Fragen Sie mal das eu- ropäische Parlament! Fragen Sie die Bundesregierung! Ein Weißbuch ist ein politischer Orientierungsrahmen und kein Gesetzesentwurf. Das bedeutet, es bedarf an ver- schiedenen Punkten weiterer Konkretisierungen und De- tailfragen müssen geklärt werden. Aber das ist in vielen Punkten doch schon längst geschehen. So wollen Sie kleine und mittelständische Unterneh- men vor zu hohen Kosten bei den Zulassungsverfahren schützen. Sie sollen nicht unverhältnismäßig belastet und damit in ihren Wettbewerbschancen gegenüber den Großen benachteiligt werden. Das ist in der Sache ja sehr ehrenwert, aber eben nicht gerade neu. Alles das haben wir längst problematisiert, und zwar im Frühjahr letzten Jahres! Sie möchten außerdem eine „Institution zur Beratung und Förderung kleiner und mittelständischer Unterneh- men“ einrichten lassen. Beratung ist aber doch ureigenste Aufgabe der Kammern und Verbände. Ihre Aufgabe ist es doch, Unternehmen in allen Fragen beratend zu unterstüt- zen. Wer soll denn die von Ihnen gewünschte Einrichtung eigentlich bezahlen? Darüber sagen Sie vorsorglich lieber nichts. Letztlich müsste – wenn es nach Ihnen ginge – der Steuerzahler, also der Staat dafür aufkommen. Die Indus- trie verdient und die Kundinnen und Kunden helfen ihr dann noch bei der Prüfung ihrer Produkte. Ich meine dagegen, wir sollten die vorhandenen Insti- tutionen stärken, anstatt aufwendig neue einzurichten. Und es muss – wie im Weißbuch schon festgeschrieben – das Verursacherprinzip auch für diesen Industriebereich gelten: Die chemischen Hersteller müssen selbst dafür Sorge tragen, dass ihre Produkte keine Gefährdung für Mensch und Umwelt darstellen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak- tion, im letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs offenba- ren Sie nun endlich, dass Sie mit Ihrem Antrag vor allem die Interessen der Industrie im Auge haben. Dafür haben Sie zum Teil schon ganz kalten Kaffee aufgewärmt. Sie haben sich Forderungen zu Eigen gemacht, die wir längst behandelt und diskutiert haben. Sie setzen sich damit dem Verdacht aus, diesen Antrag nur eingebracht zu haben, um sich das Image der Wirtschaftsfreundlichkeit anheften zu können, wohlwissend, dass dieser Antrag an sich sub- stanzlos ist. Wir werden Ihren Antrag daher ablehnen. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Die Europäische Kommission hat mit ihrem Weißbuch zur Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik den Anstoß zu einer grundlegenden Neuorientierung der gesamten europä- ischen Chemikaliengesetzgebung gegeben. Das Euro- päische Parlament hat dieser Neuorientierung im Grund- satz und in der Tendenz zugestimmt und damit den Weg frei gemacht für ein europäisches Gesetzverfahren, das die europäische, aber auch ganz besonders die deutsche Chemieindustrie vor neue, große Herausforderungen stellt. Worum geht es? Kernpunkt der Vorschläge ist die Ein- führung eines Systems zur Erfassung, Bewertung und Zu- lassung aller in der EU hergestellten, importierten und verwendeten Chemikalien. Das sind allein 30 000 Alt- stoffe. Nach dem so genannten Reach-System sollen die Hersteller und Importeure von Stoffen innerhalb be- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221698 (C) (D) (A) (B) stimmter Fristen ihre Stoffe in einem zentralen europä- ischen Register melden – unter Angabe von Prüfdaten, Verwendungszwecken, Risikobewertungen und Risiko- managementmaßnahmen. Für Stoffe ab einer gewissen Größenordnung ist darüber hinaus ein Verfahren zur Be- wertung der eingereichten Informationen durch die zuständigen Behörden vorgesehen. Darüber hinaus sollen besonders gefährliche Stoffe nur noch nach einer Erlaub- nis durch die Behörden produziert, importiert oder ver- wendet werden dürfen. Um es klar zu sagen: Meine Fraktion begrüßt diese Ini- tiative der EU und unterstützt die Ziele des Weißbuchs. Das heute existierende Chemikalienrecht zerfällt in viele Einzelrichtlinien, ist unübersichtlich und im Vollzug un- nötig bürokratisch und ineffizient. Mit den Vorschlägen des Weißbuchs soll es zu einer systematischen Überprü- fung neuer und alter Stoffe gleichermaßen und zu einem EU-weit verbindlichen Verfahren kommen; auch dies wäre ein Fortschritt, mit dem Schwächen des geltenden Chemikalienrechts beseitigt werden. Positiv ist auch die feste Terminsetzung, die alle Beteiligten zur Disziplin zwingt. Allerdings ist für uns auch eines sehr deutlich gewor- den: Die Vorschläge des Weißbuchs weisen noch erheb- liche Schwachpunkte und offene Fragen auf, die beseitigt bzw. beantwortet werden müssen, um das Vorhaben zum Erfolg zu führen. Einige wichtige Beispiele möchte ich nennen: Es gibt eine Sicherheitslücke bei importierten Waren, weil für chemische Stoffe in eingeführten Erzeugnissen nicht die gleichen Anforderungen gelten wie für solche, die in Reinform oder Gemischen nach Europa kommen. Doch auch für solche importierten Waren mit unbe- kannten Stoffzusammensetzungen sind entsprechende Regelungen unerlässlich. Viele im Ausland hergestellte Produkte enthalten chemische Substanzen, die in ihrer Auswirkung auf Mensch und Umwelt noch unbekannt sind. Dies ist nicht nur unter Umständen gefährlich, son- dern könnte auch zu Wettbewerbsverzerrungen zulasten europäischer und deutscher Firmen führen. Deshalb muss die Kommission hier nachbessern. Ein weiterer Punkt ist das propagierte Recht der Öf- fentlichkeit auf Information über die chemischen Stoffe. Es ist noch nicht deutlich, wie das Informationsbedürfnis der Verbraucher einerseits mit dem Bedürfnis der Her- steller nach Schutz vertraulicher Informationen anderer- seits verbunden werden kann. Hier brauchen wir noch praktikable Vorschläge, wie Eigentumsrechte und Prüf- daten zu behandeln sind, um Unternehmer vor in- und ausländischen Wettbewerbern fair zu schützen, die den gleichen Stoff vermarkten wollen – aber ohne aufwendige Prüfung und Bewertung. Ungeklärt ist außerdem die Abgrenzung der Hersteller oder Importeure zu den Firmen, die die Produkte weiter- verarbeiten oder für ihre neuen Produkte anwenden. Auch hier fehlen noch eindeutige Kriterien, die jedoch wichtig sind, damit die so genannten „down stream users“ – sehr oft kleine und mittelständische Betriebe – nicht heillos überfordert werden. Der größte Schwachpunkt des Weißbuchs liegt jedoch für mich in dem vorgeschlagenen Zulassungsverfahren für Stoffe mit besonders gefährlichen Eigenschaften. Auch hier ist noch manches unklar, aber das, was bekannt ist, dürfte erneut zu einer gewaltigen Bürokratie, zu erheb- lichen Entscheidungsverzögerungen und zu gewaltigen Kostensteigerungen bei der Industrie führen. Dies be- deutet aber gleichzeitig auch massive Wettbewerbs- nachteile der Europäer zum Beispiel gegenüber den Vereinigten Staaten, die ein relativ schlankes Anzeige- verfahren haben, aber auch gegenüber kleinen und mittel- ständischen Betrieben, die unter der Bürokratie ohnehin am meisten leiden. Gerade beim Zulassungsverfahren, bei dem es um rund 1 500 von 30 000 Stoffen geht, müssen sich alle Beteiligten noch etwas Besseres einfallen lassen. Wir soll- ten zum Beispiel den Vorschlag prüfen, bei diesen beson- ders aufwendigen Zulassungsverfahren die geprüften Stoffe nicht mit einem gigantischen Aufwand einzel- firmenbezogen zu prüfen, sondern stoffbezogen – und mit Verfahren, die dann europaweit einheitlich, zumindest für die wichtigsten Verwendungen, in allgemein verbindliche Verbote führen könnten. Dabei könnten auch Verwen- dungen, die zu besonderen Risiken führen, vorrangig be- wertet werden. Jedenfalls glauben wir, dass die vorgesehene Regis- trierung und Bewertung von Stoffen im Rahmen des Reach-Systems die Datenlage über die gefährlicheren Stoffe soweit verbessert, dass man Verwendungsbe- schränkungen und Verwendungsverbote schneller und ef- fektiver aussprechen kann, als dies bisher vorgesehen zu sein scheint. Es ist für mich klar, dass weltweit und europaweit die Anstrengungen erhöht werden müssen, um gefährliche chemische Rückstände in den Griff zu bekommen und zu vermeiden. Das Weißbuch geht dazu zumindest für die EU in die richtige Richtung. Aber wir müssen auch ökonomisch klug vorgehen. Deutschland ist eine Chemienation; mehr als ein Viertel der Umsätze der EU wird in Deutschland erzeugt. Die Chemieindustrie in un- serem Land ist der fünftgrößte Arbeitgeber des Verarbei- tenden Gewerbes. Sie ist in weitem Umfang mittel- ständisch strukturiert. Auch in den neuen Bundesländern wie in Sachsen und Sachsen-Anhalt hängen Tausende von Arbeitsplätzen von der Chemie ab. Wir müssen deshalb dafür kämpfen, dass die Auswirkungen der europäischen Pläne auf die Innova- tions- und Wettbewerbsfähigkeit unserer chemischen Wirtschaft und auf die kleinen und mittelständischen Un- ternehmen genau geprüft werden. Die Regelungen müssen im Konkreten so ausgestaltet werden, dass sie praxisgerecht und kosteneffizient, das heißt möglichst un- bürokratisch und durchschaubar sind. Bei den Altstoffbewertungen der Vergangenheit gab es für die einzelnen Stoffe Handreichungen bis zu 700 Seiten. Jetzt haben wir die Chance, mittelstands- freundlicher zu handeln, und diese Chance sollten wir nutzen. Wir schlagen auch eine Institution zur Beratung und Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen für das Chemikalienmanagement vor; damit könnten gerade Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21699 (C) (D) (A) (B) kleinere Unternehmen direkt bei der Registrierung und Evaluierung unterstützt werden. Wir fordern auch, dass die umfangreichen Vorarbeiten der deutschen Chemie im Bereich der Altstoffbewertung in das neue europäische Verfassungsverfahren mit einfließen. Man braucht das Rad nicht immer neu erfinden. Für die Umsetzung des Weißbuchs liegen noch keine Rahmenrichtlinien auf dem Tisch. Die deutsche Politik hat noch Zeit und Gelegenheit, ihre Vorschläge einzubrin- gen und auf Schwachpunkte hinzuweisen. Hier ist die rot- grüne Bundesregierung in der Pflicht, die Weichen richtig zu stellen. Es geht einmal mehr darum, umweltpolitische Ziele mit den effizientesten volkswirtschaftlichen Metho- den zu erreichen. Bisher haben Sie sich dabei nicht mit Ruhm bekleckert; aber jetzt haben Sie bei der Umsetzung des Chemikalienweißbuchs eine neue Chance und die sollten Sie nutzen. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zwar gibt es den sprichwörtlich gewordenen Ausspruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer zu früh bellt, der bellt – mangels Baum – ins Leere. Längst hat die EU- Kommission einen Verordnungsentwurf zum Weißbuch angekündigt. Die sollten Sie von der Opposition doch erst einmal abwarten, bevor Sie unseren Unterhändlern In- struktionen mitgeben. Andererseits haben Sie die Frist für eine Stellungnahme zum Weißbuch schon längst ver- säumt. Dort hätten Sie mit einem Beschluss des Bundes- tags tatsächlich in der Substanz etwas ändern können. Für das eine sind Sie zu früh, für das andere ewig zu spät. Politik ist die Kunst des richtigen Zeitpunkts und des richtigen Adressaten. Eines zeigt uns Ihr Antrag aber klar und deutlich: Die Chemiepolitik der Union ist noch im- mer und vor allem ausschließlich marktwirtschaftlich ori- entiert. Arbeitsschutz, Umwelt- und Verbraucherschutz spielen darin keine Rolle. Sie machen sich einfach die Po- sition der Chemieindustrie zu Eigen. Dagegen haben wir nichts; einige Ihrer Punkte sprechen Probleme an, die tatsächlich erst noch gelöst werden müssen. Aber als große Volkspartei müssten Sie wissen: Politik ist mehr als Wettbewerbsfähigkeit, sie ist dem Schutz der Umwelt – sie ist dem Menschen verpflichtet! Und deren Gesundheit ist bedroht – angesichts von 100 000 Chemikalien, deren Risikopotenziale wir gar nicht oder nur unzureichend kennen. Da ist das Weißbuch ein enormer Schritt nach vorne – auch weil es eine Umkehrung der Beweislast enthält. Aber bevor Sie Verantwortungsbereiche abgrenzen wollen – zwischen Herstellern, Weiterverarbeitern und Anwen- dern –, sollten Sie die Verantwortlichkeiten der Chemie- industrie selbst klären. Denn „Umkehr der Beweislast“ er- fordert auch ein Umdenken hin zum Vorsorgeprinzip: Wie kann ich Mensch und Umwelt schützen, ohne Wettbewerb und Arbeitsplätze kaputtzumachen? Statt Antworten auf diese zentralen Fragen des Weißbuchs zu geben, finden wir bei Ihnen nur die diffusen Ängste der Chemieindustrie vor dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Kaum ist das Weißbuch „Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“ auf dem Markt, geht ein Aufschrei durch die Chemieindustrie: Als einer der größten Arbeit- geber sieht sie wieder einmal ihre Innovations- und Wett- bewerbsfähigkeit gefährdet – lapidar ausgedrückt: ihren Umsatz. Und damit seien einmal mehr Zigtausende von Arbeitsplätzen bedroht. Aber: Geht denn die Rechnung „Weniger Umwelt- recht, mehr Umsatz, mehr Beschäftigung“ überhaupt auf? Nein, sie tut es nicht. Seit 1980 hat die chemische Indus- trie ihren Umsatz auf 190 Milliarden DM fast verdoppelt. Nur die amerikanische und japanische Chemieindustrie hat höhere Umsätze zu verzeichnen. Gerade die großen Konzerne im Inland fuhren bis vor wenigen Jahren einen Rekordumsatz nach dem anderen ein. Aber hat sie es den Beschäftigten auch gedankt? Im Gegenteil, noch nie gab es seit über 20 Jahren so wenige Beschäftigte in der Che- mieindustrie wie heute. Gerade einmal 470 000 im Ver- gleich zu den 590 000 vor der Wende oder gar den über 700 000 danach. Also: 100 Prozent mehr Gewinn und 20 Prozent weniger Beschäftigte, so die Bilanz. Waren die Umweltgesetze daran schuld? Mann, müssen das scharfe Umweltgesetze gewesen sein – und das in Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Opposition – Hut ab. Schade nur, dass es keiner gemerkt hat und die Chemieindustrie am allerwe- nigstens. Vielmehr war es doch so, dass in der Zeit Ihrer Regierung das damalige chemische Dreigestirn Hoechst, Bayer und BASF ungeniert bis in das Chemikalien- und Gefahrstoffrecht hineinregierte. Beste Aussichten also für mehr Arbeitsplätze? Seien Sie versichert, wenn es danach geht, wird durch das Weißbuch auf europäischer Ebene kein einziger Ar- beitsplatz verloren gehen. Man sollte also nicht so tun, als wäre das Weißbuch – wie der deutsche Chemieverband gerne in ganzseitigen Anzeigen inseriert – das Ende der chemischen Produktion in Deutschland. Gerade der von Ihnen besonders hervorgehobene Mittelstand – nämlich der Mittelstand der Recyclingwirtschaft – begrüßte das Weißbuch ausdrücklich. Und dennoch: Keine Wirtschaftsbranche hat über ihren Lobbyverband und über deren Interessenvertretung – die Chemiegewerkschaft – eine beständigere Kultur des Jam- merns geschaffen wie die großen Chemiekonzerne. Wir haben nichts gegen Interessenpolitik. Aber wir kennen doch unsere Pappenheimer: Statt Sprachrohr der Chemie- konzerne zu sein, sollten Sie auch Sprachrohr der Men- schen sein. Deren Gesundheit steht beim Umgang mit Chemikalien auf dem Spiel. Dabei sind wir in einigen Punkten doch recht nah bei- sammen. Die Umsetzung des Weißbuchs sollte endlich Anlass zu einer Chemiewende sein. Das heißt: Stärkung von Umwelt- und Verbraucherschutz und gleichzeitig Entbürokratisierung. Wie soll das gehen? Zum Beispiel durch die Schaffung einer einzigen, starken und kompe- tenten Zulassungsbehörde – wie die EPA in den USA. Dafür müssen wir die stoffpolitischen Kompetenzen aller Zulassungsbehörden bündeln. Völlig gleich, ob es sich um die Zulassung neuer Chemikalien, Biozide und Pesti- zide oder um die Prüfung von Altstoffen handelt: Wir brauchen einfache, einheitliche und effiziente Strukturen und Verantwortlichkeiten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221700 (C) (D) (A) (B) Das ist ein Projekt, das wir in der nächsten Legislatur- periode gemeinsam anpacken sollten, dann, wenn die Umsetzung der zu erwartenden Chemikalienverordnung erfolgen muss. Das Motto dieses Projekts muss lauten: Eine Chemiepolitik des „Responsible Care“ kann nur eine Politik für und mit den Menschen sein – er steht im Mit- telpunkt unserer Politik. Birgit Homburger (FDP): Die FDP hat die Bedeu- tung der Chemikaliengesetzgebung und die jüngsten Ent- wicklungen in diesem Bereich frühzeitig erkannt. Als erste Fraktion hat die FDP ihren heute erneut zur Debatte stehenden Antrag zur Chemikalienpolitik dem Deutschen Bundestag vorgelegt. Das war vor beinahe einem Jahr. Die FDP bleibt dabei: Das wichtigste Ziel der Chemi- kalienpolitik ist, für Mensch und Umwelt die Sicherheit im Umgang mit Chemikalien zu gewährleisten. Die FDP nimmt dieses Ziel sehr ernst: Es geht um eine wirksame, praktikable und vernünftige Chemikaliengesetzgebung. Die Gelegenheit, hier endlich ein widerspruchsfreies und transparentes System zu entwickeln, darf nicht versäumt werden. Insoweit teilen wir die Ziele des Weißbuchs der EU-Kommission zur Chemikalienpolitik. Schon vor einem Jahr hat die FDP darauf hingewiesen, dass es Grund zur Sorge gibt; denn die europäischen Be- strebungen schießen weit über das Ziel hinaus. Dieser Re- gulierungseifer wird weitreichende wirtschaftliche Folgen für den Chemiestandort Deutschland haben, ohne um- welt- und gesundheitspolitischen Nutzen. Bundesminister Trittin trägt hier besondere Verantwortung. Bisher sind die Appelle der FDP jedoch auf taube Ohren gestoßen. Nichts hat die Bundesregierung unternommen, um die eu- ropäischen Bestrebungen im Bereich der Chemikaliensi- cherheit in vernünftige Bahnen zu lenken. Im Gegenteil erleben wir mit schöner Regelmäßigkeit, dass Minister Trittin sich von niemandem übertreffen lässt, wenn es um Regulierungswut und Bürokratieverliebtheit geht, schon gar nicht von der EU-Kommission. Das lässt Schlimmes befürchten. Die FDP weist nochmals darauf hin, dass es keinen Sinn macht, ganze Stoffgruppen allein wegen bestimmter gefährlicher Eigenschaften zu verbieten. Dies wäre weder ein Vorteil für die Gesundheit der Verbraucher noch für den Schutz von Umwelt und Natur. Entscheidend für eine Risikobewertung ist neben diesen Eigenschaften aber vor allem die Art der Anwendung von Chemikalien. Eine allein stoffbezogene Risikobewertung kann büro- kratische und kostenträchtige Folgen haben, ohne dass da- mit ein gesundheits- oder umweltpolitischer Nutzen ver- bunden wäre. Eine nachhaltige Chemikalienpolitik muss sowohl den Umwelt- und Verbraucherschutz verbessern als auch die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit die- ser für den Industriestandort Deutschland eminent wich- tigen Branche sichern. Allein in Deutschland beschäftigt die chemische Industrie beinahe eine halbe Million Men- schen. In keinem Land Europas hat die chemische Indus- trie auch nur annähernd eine so zentrale wirtschaftliche Bedeutung wie in Deutschland. Es geht also auch um die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze in einer der wichtigsten Branchen in Deutschland. Zu Recht weist auch der Antrag der Unionsfraktion ausdrücklich darauf hin und beschreibt noch einmal detailliert den dringenden Nachbesserungsbedarf. Der Antrag findet deshalb unsere ausdrückliche Unterstützung. Vor einem Jahr, bei der ersten Beratung des FDP-An- trags zur Chemikalienpolitik, hat sich Herr Kollege Hermann von den Grünen an dieser Stelle noch über den Antrag der FDP lustig gemacht. Die Mahnung der FDP, bei allem Aktionismus und rot-grüner Regulierungswut die wirtschaftliche Existenz auch der kleinen und mittel- ständigen Unternehmen nicht aus dem Auge zu verlieren, trifft bei der Bundesregierung nur auf spöttische Arro- ganz. Hochmütig hat Rot-Grün den FDP-Antrag im Um- weltausschuss abgelehnt. Dem Antrag der Unionsfraktion wird es nicht besser er- gehen. Erst vor wenigen Tagen hat sich derselbe Kollege nämlich wieder lustig gemacht: Die chemische Industrie „heule und jammere“, nach dem Motto: „Stellt euch nicht so an“. Im Angesicht von mehr als 4 Millionen Arbeitslo- sen wird Ihnen das Lachen noch vergehen, Herr Hermann! Die Belastung insbesondere auch der kleinen und mitt- leren Chemieunternehmen darf durch ökologisch sinnlose Anforderungen nicht gefährdet werden. Wenn überzoge- ner Dirigimus zu Standortverlagerungen führt, fügt dies dem Gesundheits- und dem Umweltschutz letztlich Scha- den zu. Dies wäre ein Bärendienst für Mensch und Natur. Eva Bulling-Schröter (PDS): Bei der Gesstaltung der künftigen europäischen Chemikalienpolitik sieht es ganz danach aus, als dass sich diesmal die Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik gegenüber einer der mächtigs- ten Wirtschaftsverbände durchsetzen wird – anders als im Agrarsektor. Natürlich mit Kompromissen und verwäs- serten Umsetzungen, wie stets, aber die neuen Ansätze des Weißbuchs Chemikalienpolitik sind sicherlich ein Umbruch, ein Systemwechsel, hin zu mehr Vorsorge in Umwelt und Gesundheit. Kein Wunder also, dass die Chemieverbände Sturm lau- fen. Der Standortkollaps droht wieder einmal. Das Schreien hat zwar inzwischen etwas abgenommen. Doch in empfindlichen Teilen steht das Weissbuch weiter unter Beschuss. Abgefunden hat sich die Chemielobby – das kann man ja immer ganz gut an den Koalitionsanträgen ablesen – anscheinend mit der Prüf- und Registrierungspflicht für die rund 30 000 Stoffe mit geringen Produktionsmengen. Wir verstehen allerdings nicht, warum die Koalition hier den Schwellenwert zum Registrierungsverfahren von ei- ner Jahrestonne auf das Zehnfache anheben will. Dann würden wohl von den 100 000 bekannten Stoffen nicht mehr knapp ein Drittel, sondern noch deutlich weniger ge- prüft werden. Zudem will die Union teilweise die Kosten des Ver- fahrens den öffentlichen Haushalten aufbrummen. Ich denke aber, wer mit seinen Produkten Geld verdient, der sollte auch den Nachweis dafür finanzieren, was er über- haupt herstellt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21701 (C) (D) (A) (B) Grundsätzlichen Widerstand gibt es wohl auch nicht mehr gegen die erweiterte Evaluierung und die zusätzli- chen Tests bei Stoffen, die mit einer Jahresmenge von mehr als 100 Tonnen produziert werden. Die größten Auseinandersetzungen scheinen leider ausgerechnet bei den Chemikalien zu liegen, die als be- sonders gefährlich gelten. Hier wollen Union und FDPein Verfahren vom Tisch haben, welches diese Stoffe nicht einmal verbietet, sondern nur ein strenges Zulassungs- recht für sie einführt. Nach der EU-Kommission soll der Beweis, dass der Verwendungszweck des jeweiligen Stof- fes in allen Lebenszyklen nur ein zu vernachlässigendes Risiko birgt, vom Hersteller erbracht wird. Eine Beweis- lastumkehr also, weil vorher ja die Behörden gegebenen- falls die Gefährlichkeit der Verwendung nachzuweisen hatten, um diese zu verbieten. Diese Umkehr halten Union und FDP für zu bürokra- tisch. Wir reden hier über Chemikalien, die krebserzeu- gend, erbgutverändernd oder fortpflanzungshemmend sind. Da dürften wohl die Hersteller in der Lage sein nach- zuweisen, was sie da eigentlich produzieren. Es drängt sich ja der Verdacht auf, solche Nachweise könnten teil- weise gar nicht erbracht werden. Die größte Gefahr für die Vorschläge des Weißbuchs scheint aber nicht von der Opposition, sondern, wie bei der Altauto-Richtlinie, von Kanzler Schröder auszugehen. Für ihn führt diese ja „zur Vertreibung der Chemieindus- trie aus Europa“. Ich hoffe aber, das man sich im Kanzleramt noch ein- mal mit den Sachthemen beschäftigt und dass sich da- durch Deutschland nicht wieder so blamiert wie damals. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Unterhaltsvorschussgesetzes – des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Unterhaltsvorschussgesetzes (Tagesordnungspunkt 10 a und b) Christel Humme (SPD): Auch dem Letzten in diesem Hause dürfte mittlerweile klar geworden sein: Die finan- ziellen Ressourcen von Bund, Ländern und Gemeinden sind begrenzt. Vor diesem Hintergrund verwundert mich die Gelassenheit, mit der die PDS-Fraktion für ihr Erstes und Zweites Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvor- schussgesetzes rund 3 Milliarden Euro einfordert, schon sehr. Belassen diese beiden Gesetze gerade die Länder und Kommunen! Sie regieren doch seit einigen Wochen mit in einer Stadt, die von der CDU geführten Regierung nahezu an den finanziellen Abgrund geleitet wurde. Sie müssten doch wissen: Die Lage der öffentlichen Haushalte lässt nur noch eine Politik zu, nämlich eine Politik, die Pro- bleme sehr zielgerichtet löst, und eine Politik, die dabei die knappen finanziellen Mittel sehr effizient einsetzt. Ihre Vorschläge, meine Herren und Damen von der PDS, erfüllen diese Anforderungen nicht. Denn Ihr Kon- zept ist nicht zielgenau genug. Die Armut von Familien würde nicht entscheidend bekämpft. Und Ihr Konzept ist schlicht und einfach zu teuer! Für uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen bedeutet Familienpolitik dreierlei: Erstens die finazielle Stärkung von Familien, insbesondere die Bekämpfung von Kinderarmut, zweitens die Schaffung von Bildungs- chancen für Kinder und Jugendliche völlig unabhängig vom Elternhaus sowie drittens die Schaffung von Rah- menbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Be- ruf. Dies sind sehr ehrgeizige Ziele. Zur wahren Herkules- aufgabe aber wird die Familienpolitik durch die Lage der öffentlichen Haushalte. Von dieser Familien- und Steuerpolitik profitieren auch die Alleinerziehenden. Kritisiert wird in der öffentlichen Debatte der Wegfall bzw. die allmähliche Abschmelzung des Haushaltsfreibetrags. Rund 60 Prozent der Alleiner- ziehenden in Deutschland zahlen – laut Armuts- und Reichtumsbericht – gar keine Steuern. Sie profitieren also nicht von einem steuerlichen Haushaltsfreibetrag. Sie profitieren aber sehr wohl von unseren Kindergelder- höhungen. Außerdem kommen Ihnen weitere Bausteine unserer Familienpolitik zu Gute: die Anhebung der Ein- kommensgrenzen beim Erziehungsgeld, die BAföG- und die Wohngeld-Reform. Jeder, der sich seriös an der Debatte beteiligt, erkennt sofort, dass wir mit unserer Familienförderung auch die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach Gleich- stellung von Alleinerziehenden und Ehepaaren mit Kin- dern erfüllt haben. Unsere bisherige Familienpolitik war und ist richtig. Wir gehen auf dem eingeschlagenen Weg weiter und wer- den die noch anstehenden Probleme Schritt für Schritt lö- sen. Unbestritten gibt es nach wie vor Familien in sehr be- drückenden finanziellen Verhältnissen. Familien sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt – so eine der traurigen Lehren des Armuts- und Reichtumsberichts und eine der traurigsten Erblasten der Regierung Kohl. Diesen Armen oder von Armut bedrohten Familien muss zielge- richtet geholfen werden. Wir müssen vor allem die Kin- der aus der Armut herausholen. Denn Armut und Sozial- hilfebezug bedeuten den Einstieg in einen Teufelskreis aus schlechteren Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und damit der Verfestigung von Armut. Die Diskussion über die anstehende Sozialhilfereform und der 11. Kinder- und Jugendbericht zeigen uns die richtige Lösung. Wir müssen die Vereinbarkeit von Fami- lie und Beruf verbessern und eine Existenzsicherung für Kinder, die der Sozialhilfe vorgelagert ist, schaffen. Vor allem Alleinerziehende würden profitieren. Denn wie soll eine Alleinerziehende einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wenn sie nicht weiß, wie und wo sie ihr Kind betreuen las- sen soll? Außerdem sind Kindertagesstätten und Ganz- tagsschulen die zentralen Voraussetzungen für erfolg- reiches Lernen. Sie eröffnen Kindern und Jugendlichen bessere Zukunftschancen – so ein Ergebnis der PISA- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221702 (C) (D) (A) (B) Studie. Wir haben in Deutschland – verschuldet durch konservative Familienpolitik – jahrzehntelang aufs fal- sche Pferd gesetzt. Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, dass die Betreuungssituation in Deutschland völlig unzu- reichend ist. Deshalb ist eine unserer wichtigsten Aufga- ben, ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot für Kinder aller Altersgruppen im Westen zu schaffen und im Osten zu erhalten. Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept für außerschulische und schulische Beteuungs- und Bil- dungsangebote. Dieses werden wir im Rahmen eines fö- derativen Gipfels unter Beteiligung von Bund, Ländern, kommunalen Spitzenverbänden und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege erarbeiten. Der Armutsprävention dient auch der zweite Baustein, die Einführung einer der Sozialhilfe vorgelagerten Exis- tenzsicherung von Kindern. Mit einer solchen vorgela- gerten Sicherung würde Armut von Familien vermieden, könnten alle Kinder aus der Sozialhilfe herausgeholt wer- den und würden die Selbsthilfekräfte von Familien ge- stärkt. Das ist der richtige Weg. Ich lade Sie ein, uns auf diesem Weg zu begleiten. Rolf Stöckel (SPD): Die Absicht der PDS-Fraktion, Leistungen aus dem Unterhaltsvorschuss-Gesetz und das Anspruchsalter von 12 auf 18 Jahre zu erhöhen, ist auf den ersten Blick und aus fachlicher Sicht betrachtet, ja durch- aus wünschenswert. Tatsache ist aber, dass trotz der An- rechnung der Kindergelderhöhung auf den Unterhaltsvor- schuss unter dem Strich die Hälfte der Erhöhungen bei den Einelternfamilien verbleibt. Sie wissen genau, dass eine dadurch zusätzlich zu erwartende Mehrbelastung in Höhe von mindestens 3 Milliarden Euro im Zusammen- hang mit der angespannten Finanzlage bei Bund, Ländern und Kommunen zurzeit völlig unrealistisch ist. Wenn es eine Forderung der Länder und Kommunen gibt, bei der sich alle über Parteigrenzen hinweg einig sind, dann ist es das Konnexitätsprinzip. Wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch. Selbst wenn wir die 1 Milliarde Euro, die der Bund mehr zu tragen hätte, in einem Kraftakt zusammenbekä- men, spätestens im Bundesrat würde das doch am Wider- stand der Länder scheitern. Und in der Tat, die Kollegin Humme hat völlig Recht, wenn sie hier die Frage nach der Seriosität einer solchen Forderung, angesichts ihrer Regierungsbeteiligung im hochverschuldeten Land Ber- lin aufgeworfen hat. Es läuft doch immer nach demselben populistischem Muster, und einen Finanzierungsvor- schlag, wenn schon nicht für die Länder, zumindest für den Bundeshaushalt, machen sie erst gar nicht. Die Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz stellen eine besondere Sozialleistung für das Kind und den allein erziehenden Elternteil dar, eine Hilfe in beson- ders schwierigen Lebens- und Erziehungssituationen. Der Gesetzgeber, der das Bezugsalter bereits einmal von sechs auf zwölf Jahre erhöht hat, wollte durch die hier in Rede stehende Leistungsbeschränkung auch zum Ausdruck bringen, dass er keine Ausfallgarantie für unterhalts- berechtigte Kinder bis zu deren wirtschaftlicher Selbst- ständigkeit konzipieren wollte. Bei der Gestaltung dieser Sozialleistung ist der Gesetzgeber weitgehend frei. Bei über die Existenzsicherung hinausgehenden staatlichen Leistungen müssen aber neben anderen Aufgaben auch die vorhandenen Mittel berücksichtigt werden. Wir haben in der Tat trotz des Schuldenabbaus im Interesse der Kinder und zukünftiger Generationen in einem Kraftakt 24 Milliarden DM mehr für die Familien zur Verfügung gestellt. Und ich sage es noch einmal: Durch Steuerreform, dreimalige Kindergelderhöhungen, Umgestaltung der Steuerfreibeträge sowie die Absetzbar- keit erwerbsbedingter Betreuungskosten haben wir alle Familien deutlich finanziell entlastet. Von dieser Fami- lien- und Steuerpolitik profitieren auch die Alleinerzie- henden, genauso wie von der Anhebung der Einkom- mensgrenzen beim Erziehungsgeld, und den in Euro und Cent auszurechnenden Verbesserungen bei der BaföG- und Wohngeldreform. Es geht hier nicht darum, über vorhandene Mängel in einzelnen Sozialgesetzen hinwegzureden, die wir auch sehen und anpacken wollen. Aber erst recht angesichts der Versäumnisse der CDU/CSU und der FDP in den 80er- und 90er-Jahren wissen sie doch genau, was wir in drei- einhalb Jahren bereits für Kinder und Familien geleistet haben. Die angespannte Lage der öffentlichen Finanzen im Bund, in den Ländern und Gemeinden, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zum Familienleistungs- ausgleich, selbst die kompliziertesten Leistungssysteme der Welt werden uns nicht davon abhalten, weitere Re- formschritte zugunsten der Kinder und der Familien ein- zuleiten. Gerade weil diese Leistungssysteme den aktuel- len Realitäten nicht immer gerecht werden, nicht immer zielgenau wirken und Selbsthilfe fördern und zudem viel zu viel Bürokratie erfordern, werden wir sie weiter umge- stalten. Anstatt im Namen der Gerechtigkeit mit der Gieß- kanne immer mehr und nichtvorhandenes Geld auch der Länder und Kommunen über Spezialleistungsgesetze wie den Unterhaltsvorschuss auszuschütten, sollten wir im In- teresse der Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut dringend dreierlei tun: Erstens. Im Interesse der Genera- tionengerechtigkeit weiter öffentliche Schulden abbauen, sonst sind alle Leistungssysteme auf Dauer nicht zu- kunftsfähig; zweitens: gemeinsam mit den Ländern und Kommunen über neue Strukturen und Schwerpunkte der staatlichen Finanzen verhandeln, weil das Schwarze- Peter-Spiel den Betroffenen nicht hilft und drittens: un- sere sozialen Leistungssysteme zum Beispiel mit dem Ziel einer sozialen Grundsicherung für Kinder einfacher, bedarfsgerechter und effizienter zu machen. Es bleibt also noch eine Menge zu tun. Und deshalb wollen die Familien auch, dass wir nach dem 22. September weiterregieren. Antje Blumenthal (CDU/CSU): Das Gesetz zur Si- cherung des Unterhalts von Kindern allein stehender Müt- ter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfall- leistungen, kurz: Unterhaltsvorschussgesetz, will die PDS mit zwei Gesetzesentwürfen ändern. Die Drucksache 14/7225 sieht eine deutliche Erweiterung der Ansprüche auf Unterhaltsleistungen durch Ausweitung der Höchst- leistungsdauer vor. Die zweite Drucksache will § 2 des Unterhaltsvorschussgesetzes dahin gehend verändern, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21703 (C) (D) (A) (B) dass die Anrechnung des hälftigen Kindergeldes bei Al- leinerziehenden, deren Kinder Unterhaltsvorschuss be- kommen, aufgehoben wird. Mit dem Titel des Gesetzes ist man bereits mitten in der Sozialproblematik allein erziehender Mütter und Väter. Dabei ist anzumerken, dass die Mehrzahl allein erzie- hende Mütter sind. Für Alleinerziehende erfolgt die Er- ziehung ihrer Kinder unter erschwerten Bedingungen. Die Rate der allein erziehenden Eltern in Deutschland steigt. War noch vor 30 Jahren der Tod des Partners die häufigs- te Ursache dafür, dass ein Elternteil allein erziehend wurde, ist der Hauptgrund heute die Trennung oder die Scheidung. In den allermeisten Fällen bleiben die Kinder bei der Mutter. Der Anteil allein erziehender Mütter steigt ständig. Mehr als 1,8 Millionen Alleinerziehende gibt es mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland. Die wirtschaftliche Situation vieler Alleinerziehender ist angespannt. So leben 15 Prozent der Alleinerziehenden von 715 Euro, weitere 25 Prozent leben von weniger als 1125 Euro monatlich. Für die Mehrzahl der allein erziehenden Mütter ist die Erwerbstätigkeit nach wie vor die wichtigste Einkom- mensquelle. Erst an zweiter Stelle stehen Sozialleistungen. Obwohl die Mehrzahl der allein erziehenden Mütter ge- schieden ist, lebt nur eine geringe Zahl der Alleinerziehen- den von Unterhaltszahlungen des geschiedenen Mannes. Die wirtschaftliche Situation verschärft sich, wenn das Kind nicht den üblichen Regelunterhalt von dem anderen Elternteil erhält oder wenn der Unterhalt nicht rechtzeitig gezahlt wird. Diese besondere Lebenssituation soll mit der Unterhaltsleistung nach dem seit dem 1. Januar 1980 geltenden UVG erleichtert werden. So leistete beispielsweise meine Heimatstadt Hamburg nach dem UVG in 2001 für fast 14 000 Kinder und Ju- gendliche bis zwölf Jahren den Unterhalt. 7,5 Prozent die- ser Altersgruppe beziehen nur deshalb Gelder nach dem UVG, weil der unterhaltspflichtige Elternteil nicht bereit war zu zahlen. Die Ausgaben, mit denen die öffentliche Hand in Vorlage treten musste, beliefen sich dabei allein in Hamburg auf 21,79 Millionen Euro. Bundesweit haben die Jugendämter für 452 000 Kinder Unterhaltsvorschuss als „Ersatzväter“ gezahlt. Das Geld ist nur geborgt, wie es der Name des Gesetzes schon aussagt. Es dient zur Über- brückung für die Alleinerziehenden, bis der andere El- ternteil seiner Unterhaltspflicht nachkommt. Wir wollen alle – davon gehe ich aus – die Situation der Alleinerziehenden verbessern. Doch die Änderungsan- träge der PDS sind unserer Ansicht nach Flickschusterei. Wir von der CDU/CSU-Fraktion wollen ein ganzheitli- ches Konzept für den Gesamtkomplex Familienunter- haltsrecht. An dieser Stelle möchte ich meine Kollegin Wülfing zitieren, die in der Sitzung des Bundestages in der Debatte um das Zweite Gesetz der Familienförderung gesagt hat: Ich finde es immer gut, wenn man seine Kinder er- ziehen kann, ohne daneben einen Steuerberater ste- hen zu haben. Wie Recht sie doch hat. Das Unterhaltsrecht ist teil- weise so unübersichtlich geworden, dass sich Betroffene dort nicht mehr zurechtfinden. Die Situation der Alleinerziehenden hat sich außerdem deutlich einseitig verschlechtert; denn sie werden steuer- lich künftig behandelt wie Singles. Als Antwort auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 wurde durch die Bundesregierung mit dem am 1. Ja- nuar 2002 in Kraft getretenen Zweiten Gesetz der Fami- lienförderung die stufenweise Abschmelzung des Haus- haltsfreibetrages eingeführt. So viel zum Thema Familienförderung! Nur, das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass Alleinerziehende schlechter gestellt werden sollen. Statt einer Abschaffung des Haushaltsfreibetrages hätte die rot-grüne Bundesregierung auch die Möglichkeit ge- habt, die Familien mit Kindern im Sinne des Bundesver- fassungsgerichtes besser zu stellen, ohne dabei die Al- leinerziehenden zu benachteiligen. Das Ergebnis dieses „Zweiten Familienförderungsprogramms“ ist eine Sam- melklage des Verbandes allein erziehender Mütter und Väter beim Bundesverfassungsgericht. Die Familienpoli- tik der Bundesregierung ist – wie Sie auch an diesem Bei- spiel sehen – ungerecht und unsozial. Aber die vorliegen- den Änderungsvorschläge der PDS bieten hierbei keine grundlegende Abhilfe. Mit diesen von der PDS vorgeschlagenen Änderungen des UVG kämen außerdem erhebliche zusätzliche Kosten auf den Bund und die Länder zu. Allein der Änderungs- vorschlag im Zweiten Gesetz, Drucksache 14/7226, sieht eine deutliche Ausdehnung der Leistungszeit vor, was mindestens eine Verdreifachung der Ausgaben bedeuten würde. Weitere Kosten würden wegen des höheren Re- gelunterhaltes der Zwölf- bis Siebzehnjährigen entstehen. Insbesondere die Unterhaltsvorschusskassen der Länder und Kommunen, die nach der neuen geltenden Regelung zwei Drittel des Unterhaltsvorschusses zu leisten hätten, sind nicht in der Lage, diese Mehrkosten zu finanzieren. Aber es gibt auch andere Vorschläge: das Familiengeld! Es ist meines Erachtens dringend notwendig, ein Fami- liengeld nach den Vorstellungen der CDU/CSU einzu- führen; denn nur dadurch wird man eine echte Familien- förderung mit einer Grundsicherung der Kinder erreichen. Mit dieser neuen Basis des CDU/CSU-Konzepts der staatlichen Familienförderung kann auch die Ein-Eltern- Familie, die laut Armutsbericht der Bundesregierung die am stärksten von Armut betroffene Bevölkerungsgruppe ist, aus der Sozialhilfe herausgeholt werden. Die Verfolgung des Unterhaltsrückstandes beim UVG ist unbefriedigend gelöst. Lassen Sie mich auch hier auf Hamburger Erfahrungen zurückgreifen. Lediglich bei rund 17 Prozent lag im Jahr 2001 beispielsweise in Ham- burg die Rückgriffquote durch Erstattung durch die säu- migen Unterhaltspflichtigen, obwohl in Hamburg bereits intensiv versucht wurde, die Quote durch Zwangsmaß- nahmen zu erhöhen. Bundesweit liegt die Rückgriffquote nur geringfügig höher. In Hamburg ist zurzeit angedacht, dank der neuen So- zial- und Familiensenatorin Birgit Schnieber-Jastram, in einem Modellprojekt durch Einschalten von Rechtsan- waltskanzleien eine deutliche Steigerung der Rückgriff- quoten zu erreichen bzw. dadurch die Bereitschaft zur freiwilligen Zahlung bei den Unterhaltspflichtigen zu ver- stärken. Gemeinsames Ziel muss es doch sein, dass sich derjenige, der seiner Zahlungspflicht für Kinder nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221704 (C) (D) (A) (B) nachkommt, nicht in der Sicherheit wiegen darf, dass er nicht belangt werden wird. Hier liegen die wahren Rege- lungsbedarfe und deshalb sind die hier vorliegenden An- träge der PDS nicht der richtige Ansatz Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Vater Staat“ so wird oft der Staat genannt, wenn es um seine Fürsorgefunktion geht. Im wahrsten Sinne des Wortes gilt das, wenn der Staat anstelle der un- terhaltspflichtigen Väter quasi als Ausfallbürge den Un- terhalt für die Kinder von Alleinerziehenden zahlt. Für 450 000 Alimente verweigernde Väter springt der Staat zurzeit ein, Tendenz steigend. Und das kommt ihn teuer zu stehen. 770 Millionen Euro zahlen Bund, Länder und Gemeinden zu je einem Drittel für säumige Väter. Zwar ist die Rückgriffquote seit 1998 von 15 auf 22 Prozent erhöht worden, die Zahl der säumigen Väter steigt jedoch, wie der Deutsche Städettag klagt. Und die Jugendämter der Kommunen erhalten immer häufiger die Antwort: Vater un- bekannt, Vater untergetaucht, Vater zahlungsunfähig, Va- ter zahlungsunwillig. – So wird es immer schwieriger, die als realistisch angesehene Rückgriffquote von 40 Prozent zu erreichen. In den USAwird Unterhaltsentzug radikal bestraft: mit Führerscheinentzug. Sicherlich eine sehr rigide Maß- nahme. Es darf aber bei uns nicht länger ein Kavaliers- delikt sein, sich vor den Unterhaltszahlungen zu drücken. Ich sehe daher mit großem Interesse, dass die Justizminis- terin das Sanktionenrecht erweitern will. Die Leidtragen- den sind aber letztendlich die Betreuungsunterhalt leis- tenden Mütter und ihre Kinder. Denn in dem seit 1980 geltenden Unterhaltsvorschussgesetz ist festgelegt, dass die staatlichen Vorschuss-Zahlungen nur 72 Monate ge- leistet werden; maximal bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes. Insofern ist das Anliegen der PDS, die Zeiten zu verlängern, unterstützenswert. Allerdings, verehrte Kolle- ginnen von der PDS, schießen Sie weit über das Ziel hi- naus. Bis zum 27. Lebensjahr des Kindes einen Unter- haltsvorschuss zu zahlen, das brächte den wolhabendsten Papa Staat wohl in Bedrängnis. Das wären 5,5 Milliarden Euro jährlich für Bund, Länder und Kommunen. Der blaue Brief aus Brüssel wäre wohl garantiert. Ähnlich sieht es bei der Anpassung des Unterhaltsvor- schussgesetzes an das Unterhaltsrecht aus, was wir inhalt- lich begrüßen. Die Grünen werden sich in der nächsten Wahlperiode sowohl für eine angemessene Ausweitung der Anspruchsdauer als auch für effektivere Rückzahlun- gen der Väter stark machen. Wir wollen aber auch insgesamt die Situation der Al- leinerziehenden verbessern. Familienfreundliche Ar- beitszeiten, ganztätige Kinderbetreuungseinrichtungen, Ganztagsschulen, Absetzbarkeit der erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten ab dem ersten Euro – das ist das Gebot der Stunde, um die wirtschaftliche Absicherung von Einelternfamilien zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren haben wir die Leistungen für die Familien bereits deutlich ausgebaut. Über 50 Mil- liarden Euro gehen jährlich in die verschiedenen Formen der Familienförderung von BAFöG über Kindergeld, über Baukindergeld und Erziehungsgeld. 300 DM Kindergeld haben die Grünen ihren Wählerinnen und Wählern 1998 versprochen. Wir haben Wort gehalten. Ab Janaur 2002 beträgt das Kindergelt 154 Euro. Ich komme zu einer weiteren aktuellen Diskussion: Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil eine Besserstellung Alleinerziehender Eltern gegenüber Ver- heirateten untersagt. Dieses Urteil hat die Bundesregie- rung durch einen stufenweisen Abbau des Haushaltsfrei- betrages für Alleinerziehende umgesetzt, was in einigen Fällen trotz der Erhöhung des Betreuungsfreibetrages zu steuerlichen Mehrbelastungen führen wird. Wäre es nach uns gegangen, hätten wir den Haushaltsfreibetrag über- haupt nicht angetastet. Allerdings betrifft das nur 40 Pro- zent der Alleinerziehenden, denn 60 Prozent zahlen keine Steuern. Aber solange das Ehegattensplitting für Verhei- ratete existiert, das zwar den Trauschein subventioniert, nicht aber zwangsläufig Kinder fördert, sehe ich keine Besserstellung von Alleinerziehenden. Wenn wir sagen: „Familie ist da, wo Kinder sind“, dann können wir Al- leinerziehende nicht wie Singles behandeln. Auch aus die- sen Gründen setzen sich Bündnisgrüne für eine weitge- hende Reduzierung des Ehegattensplittings ein, um mit dem Geld das Leben mit Kindern zu fördern, unabhängig davon, ob ihre Eltern verheiratet sind oder nicht. So wol- len wir dieses Geld sinnvoll für eine Kindergrundsiche- rung einsetzen, um Armut und soziale Ausgrenzung von Familien zu verhindern. Es bewirkt, dass über 4 Millionen Kinder in Deutschland eine zusätzliche Förderung von bis zu 100 Euro pro Monat erhalten. Kinder sind unsere Zukunft; die materielle Existenzsi- cherung ist unabdingbar. Aber Kinder brauchen auch die Unterstützung der gesamten Gesellschaft. Lassen Sie uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts die vaterlose Gesellschaft beenden. Ina Lenke (FDP): Die Zahl der Väter, die sich ihren Unterhaltspflichten gegenüber ihren Kindern entziehen, nimmt zu. Mit dem Unterhaltsvorschussgesetz über- nimmt der Staat die Aufgabe eines Ersatzvaters. Im Jahr 2001 tut er das für 450 000 Kinder bei staatlichen Kosten von 1,5 Milliarden DM. Mit dem vorliegenden Entwurf zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes will die PDS erreichen, dass Unterhaltsvorschüsse oder -ausfall- leistungen für Alleinerziehende künftig nicht mehr um die Hälfte des Kindergelds gekürzt werden. Im letzten Jahr trat lediglich eine Neuregelung für Kin- der von getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern in Kraft, nicht für allein stehende Mütter und Väter. Diese Neuregelung war aufgrund eines Bundesverfassungsge- richtsurteils geboten und soll verhindern, dass das säch- liche Existenzminimum des Kindes angetastet wird. Soweit – so gut: Es wurde aber versäumt, auch für Ein- Eltern-Familien im Unterhaltsvorschussgesetz die exis- tenzsichernde Funktion des Kindergelds rechtlich zu schützen. Nach den jetzt geltenden Regelungen ist es fol- gerichtig, alle Kinder im Unterhaltsvorschussgesetz gleichzustellen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21705 (C) (D) (A) (B) Das werden wir im Ausschuss beraten müssen. Wenn die Alleinerziehenden benachteiligt sind, muss eine Kor- rektur erfolgen. Mit dem zweiten Antrag, dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes, will die PDS-Fraktion die Höchstleistungsdauer des Un- terhaltsvorschusses auf den gesamten Zeitraum der Kin- dergeldberechtigung ausdehnen. Das bedeutet eine erheb- liche Ausweitung des finanziellen Sicherungssystems, dessen Funktionsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit ich be- zweifle. Die Bundesregierung hat ihre Zahlung zum Un- terhaltsvorschussgesetz zulasten der Städte und Gemein- den zurückgefahren, die jetzt erstmals ein Drittel der Kosten zu tragen haben. Das ist wieder einmal eine Sa- nierungsmaßnahme im Bundeshaushalt zulasten der Kommunen. Die Kommunen aber haben nicht nur ihr Drittel zu finanzieren, sondern auch den erheblichen Ver- waltungsaufwand zu tragen, der mit der Umsetzung des Gesetzes verbunden ist. Insbesondere die Pflicht zur Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen ist in den Kom- munen äußerst personalintensiv und steht in einem schlechten Verhältnis zu den Erfolgen. Dies gilt umso mehr, als die mühsam eingezogenen Beträge zu je einem Drittel an Bund und Länder weitergegeben werden müs- sen. Liebe Kollegen und Kolleginnen, dass Alleinerzie- hende, die für ihre Kinder nicht regelmäßig Unterhalt vom anderen Elternteil oder Waisenbezüge erhalten, eine be- sondere finanzielle Unterstützung brauchen, steht außer Frage. Aber das derzeitige System des Unterhaltsvor- schusses ist wenig effizient und sehr bürokratisch. Durch die von der PDS geforderte Ausweitung wird das nicht besser, sonder schlechter. Ziel der FDP-Fraktion ist eine insgesamt verbesserte finanzielle Absicherung von Kindern. Unter diesem Aspekt sollten wir uns im Ausschuss das Unterhaltsvor- schussgesetz vornehmen und intensiv beraten. Christina Schenk (PDS): Zur Existenzsicherung von Kindern allein Erziehender gehören monatliche Unter- haltszahlungen des getrennt lebenden Elternteils. So weit die Theorie. Wie viele Kinder ihren Unterhalt tatsächlich erhalten, weiß niemand genau. Die letzte statistische Er- hebung stammt von 1978. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung eine entsprechende Studie in Auftrag gegeben hat. Heute wird geschätzt, dass nur etwa an ein Drittel der Kinder der Unterhalt regelmäßig und in voller Höhe gezahlt wird. Ein weiteres Drittel erhält ihn unre- gelmäßig oder in zu geringer Höhe und das letzte Drittel bekommt ihn selten oder nie. Wird der Unterhalt nicht ge- zahlt, streckt seit 1979 der Staat aus der Unterhaltsvor- schusskasse einen Teil des geschuldeten Betrages vor. Der Unterhaltsvorschuss wird jedoch maximal 72 Monate und längstens bis zum 12. Lebensjahr des Kindes gezahlt. Ge- rade dann, wenn die Kinder teuer werden, bekommen sie nichts mehr. Hier spart der Staat auf Kosten der Kinder. Und er spart auf Kosten desjenigen Elternteils, der mit dem Kind zusammenlebt. Das darf nicht länger so blei- ben. Der Unterhaltsvorschuss muss solange gezahlt wer- den, wie es einen Anspruch auf Kindergeld gibt. Beim Unterhaltsvorschuss erhalten Kinder ohnehin nur den Mindestunterhalt, wovon allerdings wieder die Hälfte des Kindergeldes abgezogen wird. Demgegenüber geht das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts, das zum 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, eindeutig und zu Recht davon aus, dass der niedrigste Mindestunterhalt den Bedarf des Kindes nicht deckt. Seitdem darf der Unterhalt nur dann um die Hälfte des Kindergeldes gemindert werden, wenn er mindestens in Höhe von 135 Prozent des Regelsatzes gezahlt wird. Im Unterschied dazu mindert der Staat den Unterhaltsvorschuss nach wie vor um die Hälfte des Kin- dergeldes – Existenzminimum hin oder her. Hier wird erneut auf Kosten der Ärmsten gespart. Kinder, die den Unterhaltsvorschuss in Höhe des Mindestunterhalts be- kommen, erhalten somit monatlich 77 Euro weniger als Kinder, denen der zahlungspflichtige Elternteil den Min- destunterhalt zahlt. Die PDS-Fraktion hat bei der Reform des Unterhaltsrechts auf diese Ungleichbehandlung hin- gewiesen. Die rot-grüne Mehrheit des Hauses hat diese Ungerechtigkeit billigend in Kauf genommen. Wir wollen sie beenden. Bei Beibehaltung der jetzigen Regelungen zum Unterhaltsvorschuss verfestigt das Armutsrisiko bei allein Erziehenden. Wenn kein Unterhalt gezahlt wird und die Bezugsdauer für den Unterhaltsvorschuss ausge- schöpft ist, muss derjenige Elternteil einspringen, bei dem das Kind lebt. In 85 Prozent der Fälle ist das wegen der in Deutschland noch immer traditionellen Rollenverteilung die Mutter. Sie ist finanziell damit doppelt belastet. Sie versorgt das Kind, hat damit oft genug berufliche und da- mit auch finanzielle Nachteile. Und sie übernimmt noch zusätzlich den Unterhalt, den der Vater zahlen müsste und nicht zahlt. Für sie gibt es – anders als für diesen – keinen Selbstbehalt. Sie kann dem Kind nicht den benötigten Un- terhalt mit dem Argument verweigern, der eigene Bedarf gehe vor. Sie muss mit allem, was sie hat, für den Unter- haltsausfall eintreten – solange, bis sie in die Sozialhilfe fällt. Weil immer mehr Väter und in geringer Zahl auch Mütter ihrer Zahlungspflicht nicht nachkommen, muss der Staat gegenwärtig rund 450 000 Kindern Unterhalts- vorschuss gewähren. Das ist teuer: Allein im vergangenen Jahr beliefen sich die Kosten, die zu jeweils einem Drittel vom Bund, den Ländern und den Kommunen getragen werden, auf etwa 1,5 Milliarden Mark. Die Rückholquote ist erbärmlich gering. Nur etwa ein Fünftel der Väter zahlt das quasi zinslose Darlehen zurück. Für den Rest der Vä- ter ist der Unterhaltsvorschuss praktisch ein Geschenk. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221706 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421800000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Der Kollege Otto Bernhardt feierte am 13. Februar
seinen 60. Geburtstag. Die Kollegin Rita Süssmuth, die
heute nicht anwesend sein kann, feierte am 17. Februar
ihren 65. Geburtstag. Ich gratuliere beiden im Namen des
Hauses sehr herzlich.


(Beifall)

Für die verstorbene Kollegin Kristin Heyne hat die

Abgeordnete Amke Dietert-Scheuer, die uns aus der
13. Wahlperiode bekannt ist, am 5. Februar 2002 die Mit-
gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Herzlich
willkommen!


(Beifall)

Sodann teile ich mit, dass Gregor Gysi am 1. Februar

auf seine Mitgliedschaft im Bundestag verzichtet hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Als seine Nachfolgerin hat die Abgeordnete Bärbel
Grygier am 8. Februar 2002 die Mitgliedschaft im Deut-
schen Bundestag erworben. Herzlich willkommen!


(Beifall)

Für die ehemalige Kollegin Heidi Knake-Werner, die

am 17. Februar 2002 auf ihre Mitgliedschaft im Deut-
schen Bundestag verzichtet hat, hat der Kollege
Wolfgang Bierstedt, der uns ebenfalls aus der 13. Wahl-
periode bekannt ist, am 18. Februar die Mitgliedschaft im
Bundestag erworben. Willkommen!


(Beifall bei der PDS und der SPD)

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt als Nach-

folgerin für die verstorbene Kollegin Heyne die Kollegin
Katrin Göring-Eckardt als stellvertretendes Mitglied im
Vermittlungsausschuss vor. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kolle-
gin Göring-Eckardt als stellvertretendes Mitglied im Ver-
mittlungsausschuss bestimmt.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte

sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufge-
führt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung
der Bundesregierung zu der von Bundesfinanzminister
Hans Eichel abgegebenen Erklärung, bis 2004 einen
„nahezu ausgeglichenen Gesamthaushalt“ vorlegen zu kön-
nen

2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 20)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umweltaudit-
gesetzes – Drucksache 14/8231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

b)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von Kioto vom
11. Dezember 1997 zum Rahmenübereinkommen der Ver-
einten Nationen über Klimaänderungen (Kioto-Protokoll)

– Drucksache 14/8250 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur tariflichen Entlohnung bei öf-
fentlichen Aufträgen und zur Einrichtung eines Registers
über unzuverlässige Unternehmen – Drucksache 14/8285 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss

21559


(C)



(D)



(A)



(B)


218. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002

Beginn: 9.00 Uhr

3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 21)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stockholmer
Übereinkommen vom 23. Mai 2001 über persistente orga-
nische Schadstoffe (POPs-Übereinkommen) und dem Pro-
tokoll vom 24. Juni 1998 zu dem Übereinkommen von 1979
über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreini-

(POPsProtokoll)

212. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)

– Drucksache 14/8298 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Paul Laufs
Sylvia Voß
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundes-
regierung zu den aktuellen Vorgängen um die Vermitt-
lungstätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit

5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer
Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Entwicklung und Wohlstand durch mehr
Mut zur Marktöffnung – Drucksache 14/8272 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

6. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
eisenbahnrechtlicher Vorschriften – Drucksache 14/6929 –

(Erste Beratung 190. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen (15. Ausschuss) – Drucksache
14/8176 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)


7. Vereinbarte Debatte zur Einsetzung des EU-Verfassungs-
konvents

8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zu aktuellen Drohungen des Präsi-
denten der USA gegen den Irak

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Weiterhin ist vereinbart worden, die Tagesordnungs-
punkte 6 und 7 zu tauschen sowie den Tagesordnungs-
punkt 13 ohne Debatte aufzurufen.

Des Weiteren mache ich auf nachträgliche Ausschuss-
überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk-
sam:

Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur Mit-
beratung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-
rung schadensersatzrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 14/7752 –
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Die in der 212. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit zur Mitberatung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Dr. Margit Wetzel,
Dr. Ditmar Staffelt, Dr. Axel Berg, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Werner Schulz (Leipzig), Hans-
Josef Fell, Andrea Fischer (Berlin), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN: Nationales Luftfahrtfor-
schungsprogramm fortsetzen – Drucksache
14/8027 –
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Antrag der Abgeordneten Max Straubinger,
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Ilse Aigner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Luftfahrtforschung voranbringen – Drucksache
14/7439 –
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss

Der in der 215. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur Mitbera-
tung überwiesen werden.

Antrag der Abgeordneten Jörg Tauss, Harald
Friese, Ludwig Stiegler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Grietje Bettin, Cem Özdemir, Kerstin Müller

(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: E-Demokra-
tie: Onlinewahlen und weitere Partizipations-
potenziale der neuen Medien nutzen – Drucksa-
che 14/8098 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien




Präsident Wolfgang Thierse
21560


(C)



(D)



(A)



(B)


Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis d auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-

regierung
Jahreswirtschaftsbericht 2002 der Bundesregierung
Vor einem neuen Aufschwung – Verlässliche
Wirtschafts- und Finanzpolitik fortsetzen
– Drucksache 14/8175 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Jahresgutachten 2001/02 des Sachverständi-
genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung
– Drucksache 14/7569 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
Wissmann, Peter Rauen, Dagmar Wöhrl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Rezession überwinden – Wirtschaftspolitik für
mehrWachstum und Beschäftigung umsetzen
– Drucksache 14/8265 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Ditmar Staffelt, Dr. Axel Berg, Rolf
Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner
Schulz (Leipzig), Andrea Fischer (Berlin),

Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Für eine stetige, verlässliche und beschäfti-
gungsfördernde Wachstumspolitik – kein kon-
jukturpolitischer Aktionismus
– Drucksache 14/7808, 14/8148 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias Wissmann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.


(Zurufe von der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1421800100
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werden
Sie doch nicht schon zu Beginn meiner Rede unruhig, Sie
aufseiten der Opposition werden gleich noch genug Gele-
genheit dazu haben.

Wir diskutieren heute den letzten Jahreswirtschafts-
bericht


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ihr letzter, ja!)

in dieser Wahlperiode. Wir stehen vor einem neuen Auf-
schwung,


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


wie übrigens 1998 auch. Die entscheidende Frage ist: Wie
ist die Ausgangslage vor diesem Aufschwung und wie war
sie am Ende der vorigen Wahlperiode, am Ende Ihrer Re-
gierungszeit?

Wir hatten im Januar dieses Jahres 4,3 Millionen
Arbeitslose – zweifelsfrei viel zu viele. Wir hatten aber
vor vier Jahren 4,85Millionen Arbeitslose – 500 000 mehr.
Das ist die höchste Zahl von Arbeitslosen, die wir in der
Bundesrepublik Deutschland je hatten. Das heißt, die
höchste Arbeitslosigkeit, die wir in der Bundesrepublik
Deutschland je hatten, fiel in Ihre Regierungszeit, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)

Zum ersten Mal überhaupt kommen wir in der Bun-

desrepublik aus einer konjunkturellen Talfahrt mit einer
deutlich niedrigeren Arbeitslosigkeit als beim vorigen
Mal heraus.


(Lachen bei der CDU/CSU)

– Ich weiß, dass Sie jetzt unruhig werden, weil Sie die
ganze Zeit über versuchen, eine Wahlkampagne aufzuzie-
hen, die mit den Fakten in diesem Lande nichts zu tun hat.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ihr Ansatz ist verständlich! Der überzeugt aber nicht!)


1,1 Millionen Beschäftigte mehr, 39,1 Millionen im
vergangenen Jahr – das war die höchste Beschäftigung,




Präsident Wolfgang Thierse

21561


(C)



(D)



(A)



(B)


die es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg über-
haupt gegeben hat. Das fällt in unsere Wahlperiode.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Gegensatz zu Ihnen haben wir es auch erreicht, dass
alle jungen Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen,
einen solchen bekommen. Es war eine Schande, dass Sie
das dafür erforderliche Geld nicht in die Hand genommen
haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn?)


Des Weiteren haben wir eine ganz andere Situation des
Bundeshaushaltes als noch vor vier Jahren.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Allerdings!)

Hätten wir noch den Haushalt des Jahres 1998, dann hät-
ten wir jetzt ein Staatsdefizit von über 4 Prozent. Wie die
90er-Jahre zeigten, hatten Sie im Reißen der Latte gute
Übung. Wir machen das nicht!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das zeigt aber schon, wie schwer Sie sich tun!)


Lassen Sie mich Ihnen das ganz klar machen: Wenn
man den Haushalt des Jahres 2002 mit dem Haushalt des
Jahres 1998 vergleicht, dann stellt man fest, dass wir ei-
nen Konsolidierungserfolg von 15 Milliarden Euro er-
reicht haben. Außerdem haben wir den Bürgern 15 Milli-
arden Euro an Steuern zurückgegeben. Insgesamt macht
der Konsolidierungserfolg beim Haushalt 2002 im Ver-
gleich zum Haushalt 1998 also 30 Milliarden Euro aus.

Dazu, dass wir im vergangenen Jahr Probleme bekom-
men haben, sage ich: Ich nehme jedenfalls keinen blauen
Brief dafür entgegen, dass im Bundeshaushalt die Neu-
verschuldung systematisch reduziert wird – wir gehen den
Weg zum ersten ausgeglichenen Haushalt nach Jahrzehn-
ten, den wir 2006 erreichen wollen, konsequent weiter –,
während sich zugleich die Defizite in den Länderhaushal-
ten verdreifachten. Ich sage das übrigens ohne Vorwurf.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die haben Sie doch als Sparschwein missbraucht!)


– Mit diesem Zwischenruf wäre ich vorsichtig, Herr
Michelbach, weil Sie mit ihm die Position des Bundes ka-
puttmachen und im Übrigen erkennen lassen, dass Sie gar
nicht wissen, wie die Verfassungsordnung funktioniert.
Bund und Länder hängen nämlich von denselben Steuern
ab. Die Behauptung, der Bund könne die Länder einseitig
bei der Einnahmeseite oder bei der Ausgabeseite drangsa-
lieren, ist durch das Verfassungsrecht in Deutschland
schlicht widerlegt, weil es keine die Länder und Kommu-
nen belastenden Gesetze geben kann, die nicht der Zu-
stimmung des Bundesrates bedürfen.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)

Ich erinnere daran, dass diese Bundesregierung und die

sie tragende Koalition davor gewarnt haben, unerfüllbare
Versprechungen bei den Steuersenkungen zu machen.

Wer wollte denn die Steuern noch viel mehr senken? Kam
das nicht aus Ihren Reihen, zum Beispiel aus München?
Wie sähe denn unser Staatsdefizit aus, wenn wir Ihren
Vorschlägen gefolgt wären?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Kamen denn nicht laufend neue Vorschläge für zusätzli-
che Ausgaben? Noch bei den Beratungen des Haushalts
2002 gab es doch überhaupt keinen Einzelplan, für den
Sie nicht zusätzliches Geld gefordert hätten. Wo stünden
wir denn heute, wenn wir Ihren Vorstellungen gefolgt
wären? Selbst als die Diskussion um den blauen Brief
schon eingesetzt hatte, hat es Herr Stoiber bei seinem
klassischen Fehlstart fertig gebracht, zu erklären, es gebe
doch zwischen 2,7 und 3 Prozent noch eine Marge, die ein
zusätzliches Programm zulasse.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Wo ist denn der Herr Stoiber?)


Angesichts Ihrer bisherigen steuerpolitischen Vor-
schläge habe ich gedacht, Sie hätten die Zeit dazu genutzt,
neue Konzepte zu entwickeln, und kämen jetzt mit ausge-
reiften Plänen. Es war einmal die Rede davon, die Pläne
würden Anfang März vorgestellt. Jetzt lese ich, dass sie
Anfang April kommen sollen.


(Joachim Poß [SPD]: Ende April!)

Wenn Sie so weitermachen, wird Ihr Konzept erst nach
der Bundestagswahl erscheinen. Das macht aber auch
nichts, weil Sie dann wieder nicht gefragt werden und an-
dere die Regierung bilden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich freue mich, dass es inzwischen positive Reaktionen
aus den Ländern zu der Notwendigkeit, einen nationalen
Stabilitätspakt zu schließen, gibt,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Den Sie abgelehnt haben!)


und zwar quer durch die Parteien, inzwischen auch aus
München. Ich kann übrigens den Kollegen Waigel gut
verstehen; denn als er das zum ersten Mal versucht hat,
kam das größte Sperrfeuer auch damals zuverlässig aus
München.


(Widerspruch von der CDU/CSU)

Auch diesmal hat es dort wieder angefangen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Bleiben Sie doch bei der Wahrheit! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unangenehme Dinge werden von Ihnen immer bestritten!)


Ihr Kanzlerkandidat hat aber gemerkt, dass er mit dieser
Verweigerungshaltung keine Punkte machen kann, und
hat Herrn Glück und Herrn Faltlhauser inzwischen
zurückgepfiffen. Ich finde das in Ordnung.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was? Es gibt nichts zurückzupfeifen! Er pfeift selber!)





Bundesminister Hans Eichel
21562


(C)



(D)



(A)



(B)


Denn wir werden nur europatauglich sein, wenn nicht nur
der Bund eine europataugliche Finanzpolitik macht, son-
dern wenn auch die Länder das tun. Genau darum geht es.
Deswegen sage ich: Jawohl, in einer fairen, offenen De-
batte muss das zu Ende gebracht werden. Den ersten Ein-
stieg haben wir im vergangenen Jahr geschafft. Das müs-
sen wir jetzt konkretisieren, weil wir andernfalls in der Tat
in Europa nicht bestehen können.

Wir haben den Haushalt konsolidiert. Wir sparen ja
nicht um des Sparens willen, sondern um den Bürgerin-
nen und Bürgern deutliche Steuernachlässe auf die bisher
hohe Steuerlast geben zu können. Die ersten, die das ge-
spürt haben – auch deswegen ist die Situation Anfang des
Jahres 2002 ungleich besser als Anfang des Jahres 1998 –,
sind die Familien. Wir haben drei Mal das Kindergeld er-
höht, in diesem Jahr noch einmal um 30 DM, also um
mehr als 15 Euro. Das bedeutet für eine vierköpfige Fa-
milie – ich weiß ja, dass Sie das nicht gern hören – über
1 800 Euro netto mehr im Jahr. Das ist für Familien mit
kleineren Einkommen das 13. Monatsgehalt!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus Ihren unerfüllbaren Versprechungen, die Sie jetzt
machen, quillt doch richtig das schlechte Gewissen heraus,
dass Sie sich in Ihrer Regierungszeit das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts eingefangen haben, weil Sie die
Familien verfassungswidrig hoch besteuert haben. Dass
Sie an dieser Stelle nichts getan haben, das wollen Sie jetzt
durch unerfüllbare Vorschläge vergessen machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist heiße Luft. Davon kann keine Familie leben.
Die Arbeitnehmer merken es: Der Grundfreibetrag

steigt Schritt um Schritt alle zwei Jahre. Wir liegen dabei in
Europa, was die steuerliche Entlastung der unteren Ein-
kommen angeht, jetzt mit den Finnen an der ersten Stelle.
Der Eingangssteuersatz, den wir von Ihnen mit 25,9 Pro-
zent übernommen haben, liegt inzwischen bei 19,9 Prozent
und geht in weiteren Stufen bis auf 15 Prozent herunter.


(Beifall bei der SPD)

Das haben Sie in den vergangenen 16 Jahren und in den
50er- und 60er-Jahren, als Sie regiert haben, nie zuwege
gebracht.


(Beifall bei der SPD)

Das stärkt – und das soll auch so sein – die Nachfrage.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Warum merken das die Leute eigentlich nicht?)


Auf der anderen Seite ist der Mittelstand jetzt die Ge-
werbesteuer los. Das wurde 50 Jahre gefordert, von Ihnen
nie realisiert, von uns mit der Steuerreform mit Wirkung
zum 1. Januar 2001 umgesetzt. Der Mittelstand, die vie-
len kleinen und mittleren Betriebe, von denen übrigens
viele ein so geringes Einkommen haben, dass sie gar keine
Gewerbesteuer zahlen,


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Sie alle nicht mehr wählen!)


werden genauso wie die Arbeitnehmer durch die niedrige
Einkommensteuer entlastet. Wenn Sie vom Mittelstand
reden, reden Sie immer nur vom Spitzensteuersatz und
somit nur von einer ganz kleinen Gruppe. Selbst dort ent-
lasten wir; der Satz geht von 53 Prozent, die wir bei Ihnen
vorgefunden haben, jetzt auf 48,5 Prozent und bis 2005
auf 42 Prozent herunter.

Das ist übrigens Politik zur Stärkung der Investitions-
kraft der Unternehmen – die zweite Seite, um nachhalti-
ges Wachstum in diesem Land zu bekommen. Unsere Po-
litik ist, wie die Haushaltskonsolidierung auch, langfristig
angelegt und hat auch die künftigen Generationen im
Blick. Was ist das denn für eine Schuldenwirtschaft, die
Sie gemacht haben, heute auf Kosten unserer Kinder zu
leben und die künftig das bezahlen zu lassen, was wir
heute „verwirtschaften“? Das ist nicht christlich, das ist
nicht sozial, meine Damen und Herren, sondern das ist un-
solidarisch. Deswegen beenden wir das.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weil ich von der Gewerbesteuer sprach: Wir werden
eine Gemeindefinanzreform machen und machen müs-
sen, weil die großen Städte mit der völlig ungleichmäßig
eingehenden Gewerbesteuer ein riesiges Problem haben.
Deshalb müssen wir sie durch eine verlässliche Einnah-
mequelle ersetzen, die insbesondere die Kommunen nicht
dazu bringt – was konjunkturpolitisch völlig widersinnig
wäre –, eine prozyklische Finanzpolitik zu machen, das
heißt, in Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums Inves-
titionen zu kürzen und in Zeiten starken Wirtschafts-
wachstums diese zu erhöhen. Es liegt eine wirtschafts-
und finanzpolitische Aufgabe vor uns und wir werden sie
lösen.

Im Übrigen will ich bei dieser Gelegenheit deutlich
machen: Deutschland liegt – entgegen mancher Debatte,
die öffentlich geführt wird – mit seiner gesamtwirtschaft-
lichen Investitionsquote im europäischen Vergleich über
dem Durchschnitt und vor allen großen Ländern in der
Europäischen Union sowie auch vor den Vereinigten Staa-
ten. Das ist die Kenngröße, auf die es tatsächlich an-
kommt.

Wir sparen, weil wir an anderer Stelle für eine wirkli-
che Zukunftsvorsorge, die Sie vernachlässigt haben, mehr
Geld brauchen. Zunächst möchte ich einen Satz über den
Investitionsbegriff verlieren: Nicht alles, was Beton und
Asphalt ist, ist schon Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Am wichtigsten für die Zukunft ist, was unsere jungen
Leute in ihren Köpfen haben, was sie an Fertigkeiten in
ihren Händen haben. Das bedeutet, wir müssen in unsere
jungen Leute investieren. Wenn ich mir Ihre Politik an-
sehe, muss ich feststellen: Es ist unverzeihlich, wenn der
Finanzminister das BAföG als Sparkasse betrachtet. Bei
der Wiedervereinigung – Sie hatten zu diesem Zeitpunkt
das BaföG bereits abgebaut – wurden 650 000 junge
Leute durch BAföG gefördert, weil deren Elternhäuser
alleine das Studium nicht hätten finanzieren können.
Am Ende Ihrer Regierungszeit waren es noch ganze




Bundesminister Hans Eichel

21563


(C)



(D)



(A)



(B)


340000 junge Leute, weil Sie trotz der Inflationsrate die
Grundlagen für die Anspruchsberechtigung nicht verän-
dert haben. Das war Investitionsstau, das war unterlassene
Zukunftsvorsorge.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sparen, damit wir dafür mehr Geld haben. Die
BAföG-Reform hat zur Konsequenz, dass in diesem Jahr
bereits 450 000 junge Leute mithilfe von BAföG studie-
ren können. Wir können nicht in ein, zwei Jahren alles
wieder aufarbeiten, was Sie in 16 Jahren abgebaut haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben aber die Weichen in die richtige Richtung um-
gestellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir finanzieren es nicht über neue Schulden, Herr
Repnik. Das ist der Ausweg, den Sie immer finden, und
diesen Ausweg können Sie in diesem Wahlkampf nicht
mehr beschreiten. Deswegen müssen Sie so lange nach-
denken, weil Ihnen was anderes, als Geld auszugeben, nie
eingefallen ist. Jetzt sind Sie zum ersten Mal in der Sache
gefordert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP– Michael Glos [CDU/CSU]: Karneval ist vorbei!)


Wir haben bei den Verkehrs- und Bauinvestitionen
einen historischen Höchststand. Diesen wollen und wer-
den wir verstetigen. Es macht aber keinen Sinn, auf einem
Wohnungsmarkt, der in größten Teilen dieser Republik
gesättigt und der in Ostdeutschland durch Leerstände ge-
kennzeichnet ist, zusätzliche Wohnungsbauinvestitionen
zu tätigen. Im Gegenteil: Wir müssen mit dem Programm
„Stadtumbau Ost“ – wir sind bereits dabei – dafür sorgen,
dass Gebäude, die leer stehen, nicht ganz und gar verfal-
len. Darin liegt eines unserer großen Probleme und das
kommt von Ihrer Seite.

Wir sparen, damit wir im Hinblick auf das große
Thema Klimaschutz investieren können, und zwar in das
100 000-Dächer-Programm, in die Wärmedämmung an
Gebäuden usw. Man kann doch nicht nur das Kioto-Pro-
tokoll unterzeichnen; man muss es auch umsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das gilt auch in Bezug auf die Ökosteuer.
Schließlich sparen wir, um den Aufbau Ost verlässlich

finanzieren zu können: Solidarpakt II – 156 Milliar-
den Euro bis 2020 –, „Stadtumbau Ost“, das neue Pro-
gramm, das in diesem Jahr mit dem neuen Haushalt in
Gang gesetzt worden ist – das ist der richtige Weg, der
langfristig solide und zuverlässig ist.

Es liegt noch Reformarbeit vor uns, und zwar nicht we-
nig. Ich rate Ihnen, meine Damen und Herren von der Op-
position – auch im Hinblick auf den Bundesrat –, sich
nicht in die Meckerecke zurückzuziehen, sondern kon-
struktiv mitzuarbeiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


Ich sage das zum Beispiel mit Blick auf das Zuwan-
derungsgesetz. Es wird Ihnen nicht bekommen, in die-
sem Lande auf alles Mögliche zu spekulieren. Ich sage das
mit Blick auf die Gesundheitsreform.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wo ist die Gesundheitsreform?)


Ich sage das mit Blick auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
die wir zusammenführen werden.

Wenn Sie eine Debatte über die Schlusslichtposition in
Europa führen wollen, dann führen wir sie eben. Von wem
haben wir sie denn übernommen? – Von Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch von der CDU/CSU)


Seit wann ist das so? Seit 1993 bzw. seit 1995 in West-
deutschland. Wenn Sie eine derartige Realitätsverweige-
rung betreiben, werden Sie in jeder Versammlung unter-
gehen, wenn Sie mit Fakten konfrontiert werden.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen sollten Sie diese Realitätsverweigerung auf-
geben.

Meine Damen und Herren, am Anfang dieses Jahres
sind alle Fundamentaldaten für den Aufstieg besser als
vor vier Jahren. Die Beschäftigungssituation ist besser;
die Haushaltslage ist weitaus besser;


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

die Arbeitnehmer und ihre Familien haben durch unsere
Steuerpolitik weitaus mehr Geld in ihrem Portemonnaie;


(Lachen bei der CDU/CSU)

der Mittelstand kann investieren. Das alles können Sie
übrigens im Gutachten des Sachverständigenrates und im
letzten Monatsbericht der Bundesbank nachlesen.

Zudem haben wir den Haushalt auf die Zukunft um-
strukturiert. Der niedrige Ölpreis ist ein eigenes Kon-
junkturprogramm; die Preisstabilität und die niedrigen
Zinsen sind es ebenfalls.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der Junge ist ja völlig von der Rolle!)


Letztere gäbe es nicht, wenn wir keine Haushaltskonsoli-
dierung betrieben hätten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen wissen
das und sind wieder zuversichtlicher. Alle Umfragen zei-
gen das. Der Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt das. Der In-




Bundesminister Hans Eichel
21564


(C)



(D)



(A)



(B)


dex des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung
zeigt das ebenfalls. Die Industrieaufträge im Dezember
und die Produktion sind stark angestiegen. Die Weltwirt-
schaft springt wieder an – in Südostasien und in Amerika
noch verhalten, aber auch in Russland. Wir sind deswegen
noch nicht über den Berg. Darin bin ich als Bundes-
finanzminister vorsichtig. Die von Ihnen betriebene Rea-
litätsverweigerung und Schwarzmalerei geht vielleicht
noch zwei oder drei Monate gut; aber auf dieser Basis
trägt Ihre Kampagne nicht bis zum Herbst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Gegenteil: Es wird ein Jahr des Aufschwungs, an des-
sen Ende wir – wie die europäischen und die internatio-
nalen Institutionen derzeit voraussagen – wieder den
Wachstumspfad von 2,5 bis 3 Prozent erreicht haben wer-
den. Nach Angaben der Europäischen Kommission und
der OECD werden es im nächsten Jahr 2,8 oder 2,9 Pro-
zent sein. Das liegt oberhalb des Durchschnitts der Euro-
Group und der Europäischen Union. Das allein sagt mehr
über die Einschätzung Deutschlands aus als Ihre wahl-
kampfbedingte Schwarzmalerei.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen meine ich: Es geht aufwärts. Das Einzige,
was wir nicht brauchen können, ist schwarzes Meckern;
wir brauchen vielmehr einen realistischen Optimismus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Realitätsverlust!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421800200
Ich erteile dem Kolle-
gen Friedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Um Gottes willen! Der kann doch nicht rechnen!)



Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1421800300
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den niveau-
vollen Gehalt der Rede des Bundesfinanzministers wirk-
lich erfassen will, dann muss man einen Blick in die Rede
werfen, die er im vergangenen Jahr zum selben Thema,
dem Jahreswirtschaftsbericht, gehalten hat. In dieser
Rede hat er gesagt:

Unsere Erfolgsformel lautet: Höheres Nettoeinkom-
men dank Steuersenkung multipliziert mit höherer
Beschäftigung gleich mehr Kaufkraft.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ein Jahr später stelle ich fest, dass sich die Realität in

Deutschland auf eine andere Formel bringen lässt: Sin-
kende Realeinkommen der Arbeitnehmer dank steigen-
der Abgaben


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Das ist doch absolut gelogen!)


multipliziert mit höherer Arbeitslosigkeit gleich explodie-
rende Staatsverschuldung bei Bund, Ländern und Ge-
meinden. Das ist die Wirklichkeit ein Jahr später.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Typischer Täuscher!)


Angesichts Ihrer Rede, Herr Eichel, haben wir uns die
Frage gestellt, warum Sie – wenn das, was Sie hier vor-
getragen haben, die Wirklichkeit wäre – eigentlich nicht
von der Europäischen Kommission vor zwei Wochen die
Goldmedaille umgehängt bekommen haben.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Eichel, was Sie heute Morgen zum Besten gege-
ben haben, war eine verspätete Karnevalsrede, die mit der
Wirklichkeit in Deutschland nichts mehr zu tun hat.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ein Blech!)


Wer etwas von den Reaktionen sehen wollte, der
musste sich die Gesichter des Bundeskanzlers, des Bun-
desinnenministers und des Bundeswirtschaftsministers
anschauen, als Sie Ihre Rede gehalten haben. Das hat et-
was darüber ausgesagt, wie es wirklich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht

der Bundesregierung möchte ich nun auf die Daten und
die Fakten zu sprechen kommen, die zeigen, wie die Lage
des Landes zu Beginn des Jahres 2002 wirklich ist. Die
Überschrift, die Sie über den Jahreswirtschaftsbericht ge-
setzt haben, dürfte nicht lauten: Deutschland an der
Schwelle eines neuen Aufschwungs. Sie müsste vielmehr
lauten: Deutschland, der kranke Mann Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: In welcher Welt lebt der Mann eigentlich?)


Sie haben Deutschland mit Ihrer Politik, die Sie in den
letzten dreieinhalb Jahren gemacht haben, so weit herun-
tergewirtschaftet, dass dieses Land bei fast allen wichti-
gen ökonomischen Indikatoren Schlusslicht in der Euro-
päischen Union ist.

Ich möchte nun auf die Bekämpfung der Arbeitslosig-
keit, das wichtigste Thema, zu sprechen kommen. Herr
Bundesfinanzminister, Sie haben darauf hingewiesen,
dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland vor vier Jahren
höher gewesen sei als im Januar dieses Jahres. Das ist
richtig.


(Zuruf von der SPD: Sonst haben Sie aber das Gegenteil behauptet!)


Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen
damals und dem Januar 2002: Im Jahr 1997/98 nahm die
Beschäftigung kontinuierlich zu und die saisonbereinigte
Arbeitslosigkeit nahm kontinuierlich ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sind dafür verantwortlich, dass die saisonbereinigte
Zahl der Arbeitslosen seit Dezember 2000 kontinuierlich




Bundesminister Hans Eichel

21565


(C)



(D)



(A)



(B)


steigt. Sie ist also bisher 14 Monate nacheinander gestie-
gen. Herr Bundesfinanzminister, die einzelnen Monats-
zahlen sind relativ uninteressant. Entscheidend ist die
Entwicklung der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit.
Diese sinkt nicht. Sie steigt vielmehr seit Dezember 2000.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie manipulieren ohne Ende! – Michael Glos [CDU/ CSU]: Sie vergessen die demographische Entwicklung! – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei welcher Zahl sind Sie denn ausgestiegen?)


– Der Bundesaußenminister ist von der Regierungsbank
auf die Abgeordnetenbank gewechselt.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wird man doch wohl dürfen!)


So schließt sich der Lebenskreis. Wahrscheinlich hat er
deshalb gewechselt, weil er sich auf der Abgeordneten-
bank rüpelhafter benehmen darf als auf der Regierungs-
bank. Es geht wieder los. So kennen wir ihn aus früheren
Zeiten. Ich sage dazu nur eines: Nach der Bundestagswahl
wird der Bundesaußenminister wieder auf der Abgeord-
netenbank Platz nehmen müssen, und zwar für immer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sonst haben Sie nichts zu bieten, Herr Merz?)


Herr Bundesfinanzminister, Deutschland ist das ein-
zige Land in der Europäischen Union, das sich in der Re-
zession befindet. Ich bin sehr dafür, Herr Bundeskanzler,
dass differenziert argumentiert wird.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ausgerechnet sie! – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der differenzierte Merz! Ich lache mich tot! Meine Güte! Sauerland, ach Sauerland! 4,8 Millionen Arbeitslose 1998!)


Ich bin sehr dafür, dass auch die unterschiedliche Lage der
einzelnen Bundesländer berücksichtigt wird. Zwischen
diesen gibt es in der Tat große Unterschiede. Deutschland
hat allenfalls ein kleines, schwaches Wachstum im Jahr
2002 zu erwarten. Wenn es ein solches Wachstum über-
haupt geben wird, Herr Bundeskanzler, dann nur aufgrund
der wirtschaftlichen Entwicklung in den unionsregierten
Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und
Saarland; denn nur diese Bundesländer weisen ein Wirt-
schaftswachstum auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


– Ich kann Ihnen die Zahlen vortragen, wenn Sie wollen.
Dramatisch ist die Lage aber in den Bundesländern

– damit komme ich auf das Thema „Neue Mitte“ zu spre-
chen –, in denen die Sozialdemokraten zusammen mit den
Grünen regieren. Noch dramatischer ist die Lage in den
Bundesländern, in denen die Sozialdemokraten zusam-
men mit der PDS regieren. Mecklenburg-Vorpommern

und Sachsen-Anhalt befinden sich seit über einem Jahr
knietief in der Rezession. Wenn es in ganz Deutschland so
wäre wie in diesen beiden Bundesländern, dann hätten
Sie, Herr Bundeskanzler, überhaupt keine Chance, die
Probleme zu lösen, die Sie selbst verursacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Weiermann [SPD]: Was war mit Berlin?)


Herr Bundesfinanzminister, Sie verweisen immer
gerne wortreich – Herr Bundeswirtschaftsminister, ich
weiß nicht, ob Sie sich für dieses Thema noch interessie-
ren – auf die Direktinvestitionen aus dem Ausland. Ich
sage Ihnen – vielleicht ist Ihnen das entgangen –:
Deutschland ist nach Frankreich das Land mit der nied-
rigsten Direktinvestitionsquote aller europäischen Län-
der. Sie können also nicht einfach behaupten, Deutsch-
land stehe an der Schwelle eines neuen Aufschwungs;
es sei alles in Ordnung; nur die Opposition sei an dem
Dilemma schuld. Herr Bundesfinanzminister, nicht die
Opposition, nicht wir, sondern Sie tragen seit dreieinhalb
Jahren Verantwortung für Deutschland. Sie haben den
Karren in den Dreck gefahren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vielleicht bleiben wir einen kurzen Augenblick bei der

wahren Lage der mittelständischen Unternehmen in
Deutschland. Es ist ja ganz wunderbar, dass Sie so viel für
den Mittelstand tun wollen.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das mit dem Investitionsstandort 98? Ohne Konjunkturkrise!)


Aber seitdem Sie die Regierungsverantwortung inne
haben, Herr Bundeskanzler, ist die Zahl der mittelstän-
dischen Unternehmen, die in Deutschland Pleite gegan-
gen sind, rapide angestiegen. Es ist ja ganz schön, mal et-
was für Philipp Holzmann vor den Fernsehkameras zu
tun,


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Jetzt fängt er damit wieder an! Das sind alles alte Kamellen!)


es ist ja ganz schön, bei Bombardier im laufenden Land-
tagswahlkampf in Sachsen-Anhalt den Eindruck zu er-
wecken, als ob man noch etwas für Arbeitnehmer übrig
hätte. Die Wahrheit sieht ganz anders aus: In Deutschland
haben im letzten Jahr 36 000 Unternehmen des Mittel-
standes Pleite gemacht, in diesem Jahr werden es vermut-
lich 38 000 sein. Es ist ein Rekordjahr für Pleiten im Mit-
telstand. Das ist die tatsächliche Lage der Volkswirtschaft
in Deutschland;


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herr Kirch kommt noch dazu!)


die hat mit Ihren beschönigenden Zahlen überhaupt nichts
zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Mittelständler Kirch? Auch ein Familienunternehmen, das demnächst Pleite machen wird!)





Friedrich Merz
21566


(C)



(D)



(A)



(B)


Reden wir jetzt einmal über die Staatsverschuldung,
Herr Bundeskanzler, damit hier gar keine falschen Zahlen
im Raum stehen bleiben.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kirch! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Dazu kann Glos was sagen!)


– Ich vergleiche, meine Damen und Herren, nur Ver-
gleichbares miteinander. – Nach neuer volkswirtschaft-
licher – –


(Zurufe des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und von der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Fischer raus!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421800400
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte, den Redner zu Wort kommen zu
lassen.


(Lachen bei der SPD – Josef Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird er sensibel!)



Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1421800500
Es hat ja schon Me-
thode, dass der Herr Fischer wieder da vorne sitzt und
ganz gezielt stört. So ist er halt, so war er immer und so
kann er in Zukunft auch wieder sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, reden wir über die Staats-
verschuldung in Deutschland.


(Joachim Poß [SPD]: Darin sind Sie Experte!)

Wir haben im Jahre 1998 nach neuer volkswirtschaft-
licher Gesamtrechnung einen Haushalt mit einer Defizit-
quote von 2,2 Prozent übergeben. Auf dieser Basis haben
Sie im Jahre 1998 die Regierungsverantwortung über-
nommen. Diese Defizitquote lag drastisch und deutlich
unter dem 3-Prozent-Kriterium des Maastricht-Vertrages.
Sie erwarten jetzt für dieses Jahr im günstigsten Falle
2,6 oder 2,7 Prozent, wahrscheinlich wird sie darüber lie-
gen. Der blaue Brief aus Brüssel wäre vollkommen ge-
rechtfertigt, richtig und notwendig gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was haben Sie davon, wenn Sie die Erkenntnis selber haben?)


Es waren doch nicht wir, Herr Bundeskanzler, die Sie
als Erste für Ihr Verhalten gegenüber der Europäischen
Union kritisiert haben; das war doch der Kollege Metzger
aus der Fraktion der Grünen, der von einem Amoklauf ge-
gen die Europäische Union gesprochen hat. Recht hat er
mit der Formulierung. Was Sie da gemacht haben, schä-
digt das Vertrauen in den Euro und in die Zuständigkeit
der Europäischen Kommission.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Reden wir doch einmal darüber, wie die Zahlen wirk-
lich sind. Natürlich haben wir im Jahre 1998 eine relativ
hohe Bundesschuld gehabt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nicht relativ, sondern absolut!)


– Mal langsam, bevor Sie hier wieder mit Zwischenrufen
anfangen! – Sie war so hoch, weil wir das Ziel der deut-
schen Einheit gewollt haben,


(Zurufe von der SPD: Ja, ja!)

sie verwirklicht haben und 900 Milliarden DM zur Über-
windung der Teilung Deutschlands aufgewendet haben.
Dazu haben wir uns bekannt, das haben wir gewollt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Immer die alte Leier!)


Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Jahresabschluss für
das Jahr 2002 erstellen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Denken Sie einmal an Ihre Schattenhaushalte!)


dann werden Sie bekannt geben müssen, dass die Bun-
desschuld in Deutschland um etwa 40 Milliarden Euro
höher als im Jahre 1998 liegt. Wenn Sie nicht Erlöse von
rund 100 Milliarden DM aus dem Verkauf der UMTS-Li-
zenzen gehabt hätten,


(Zuruf von der SPD: Nur kein Neid!)

dann hätte sie noch einmal um 100 Milliarden DM höher
gelegen. Eigentlich hätte sich die von Ihnen nach vier Jah-
ren Amtszeit hinterlassene Bundesschuld auf 1,7 Billio-
nen DM belaufen. Sie sind falsch am Platz, um uns Rat-
schläge zu erteilen, wie man mit den Bundesfinanzen
ordentlich umgeht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber ausgerechnet Sie!)


Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine Be-
merkung zum Thema nationaler Stabilitätspakt. Dieser
ist doch keine Erfindung dieser Bundesregierung. Die alte
Bundesregierung hat unmittelbar nach dem Zustande-
kommen des europäischen Stabilitätspakts im Deutschen
Bundestag, damals noch in Bonn, unterstützt von den Ko-
alitionsfraktionen – das war damals insbesondere Theo
Waigel –, an die Adresse der Bundesländer gesagt: Wir
müssen einen nationalen Stabilitätspakt schaffen und uns
gemeinsam darum bemühen, die Defizitziele einzuhalten.


(Joachim Poß [SPD]: Herr Stoiber war darüber ganz begeistert!)


Es sind damals die Ministerpräsidenten von Hessen und
von Niedersachsen, Hans Eichel und Gerhard Schröder,
gewesen, die das Zustandekommen eines solchen natio-
nalen Stabilitätspaktes verhindert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Und Herr Stoiber!)





Friedrich Merz

21567


(C)



(D)



(A)



(B)


Damit an dieser Stelle überhaupt kein Missverständnis
entsteht: Ein nationaler Stabilitätspakt ist heute viel not-
wendiger als vor vier Jahren.


(Joachim Poß [SPD]: Das sind aber Erkenntnisse!)


Aber Sie, Herr Bundesfinanzminister, werden die Län-
der und die Gemeinden doch nie dazu bekommen, bei
einem nationalen Stabilitätspakt mitzumachen, wenn
Sie weiterhin versuchen, den Bundeshaushalt auf Kos-
ten der Länderhaushalte, der Gemeindehaushalte und
der Haushalte der sozialen Sicherungssysteme zu sanie-
ren.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann soll er doch einmal sagen, wie er es gern hätte! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch einmal raus aus Ihrer Pirouette! Sagen Sie einmal, was Sie gern wollen!)


Länder, Gemeinden und soziale Sicherungssysteme ma-
chen da nicht mit. Wenn Sie die Lasten des Bundes wei-
terhin den Ländern, den Kommunen und den Sozialver-
sicherungen zuschieben, dann bekommen Sie einen
nationalen Stabilitätspakt nie, Herr Bundesfinanzminis-
ter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich zum Arbeitsmarkt zurückkommen.
Sie haben offensichtlich im Präsidenten der Bundes-
anstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, dessen CDU-Mit-
gliedschaft von Ihnen in den letzten Wochen plötzlich
entdeckt wurde, nach tagelangem Mobbing das ent-
sprechende Bauernopfer für Ihre Politik gefunden.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch nicht zu fassen, was Sie hier für Lügen in die Welt setzen! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Übel ist das!)


Aber der eigentlich Verantwortliche für den Skandal bei
der Bundesanstalt für Arbeit – Herr Bundeskanzler, wir
führen eine Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht der
Bundesregierung; zu diesem Zeitpunkt hält es der Bun-
desarbeitsminister noch nicht einmal für notwendig, auf
der Regierungsbank zu sitzen –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


ist nicht der Präsident dieser Behörde, sondern der Bun-
desminister für Arbeit und Sozialordnung. Er trägt die
Verantwortung, er hat die Rechtsaufsicht über die Bun-
desanstalt und er hat nach dem Sozialgesetzbuch die Zu-
ständigkeit für die Statistik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Weiermann [SPD]: Wer hat denn den ganzen Mist vorher gemacht?)


Wo ist er eigentlich? Herr Bundeskanzler – Sie schauen
gelangweilt in die Zeitung –:


(Joseph Fischer, Bundesminister: Das ist kein Wunder bei der Rede! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind wir hier in der Grundschule oder wo sind wir?)


Wo ist eigentlich Ihr Bundesarbeitsminister? Warum ist er
nicht anwesend, wenn wir heute über Arbeit und Wirt-
schaft diskutieren? Sie haben in einem ganz anderen Zu-
sammenhang „den Aufstand der Anständigen“ von
Deutschland verlangt. Vielleicht gibt es in Ihrer Bundes-
regierung noch einen Rest von Anstand der Zuständigen.
Wenn es den nicht mehr gibt, dann gibt es bald die Abwahl
der Unfähigen in diesem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Berg [SPD]: Was würden Sie besser machen, Herr Merz?)


Der Bundesfinanzminister hat uns die Frage gestellt
– wohl eher rhetorisch als ernst gemeint –, wo die öffent-
lichen Finanzen in Deutschland ständen, wenn die steu-
erpolitischen Vorschläge der Union Wirklichkeit ge-
worden wären.


(Joachim Poß [SPD]: Welche denn?)

Wir haben Ihnen im Jahre 2000 gesagt, dass die mittel-
ständischen Unternehmen, die Personengesellschaften in
Deutschland mindestens den gleichen Anspruch wie die
großen Kapitalgesellschaften darauf haben, entlastet zu
werden.


(Joachim Poß [SPD]: Das werden sie nachweislich! – Gegenruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]: Wann? Am Sankt-Nimmerleins-Tag!)


Wenn Sie unseren Vorschlägen im Jahre 2000 gefolgt
wären, auch für die mittelständischen Unternehmen nicht
erst im Jahr 2005, sondern sofort eine steuerliche Entlas-
tung zu verwirklichen, dann ständen wir heute in der Tat
anders da: Dann gäbe es weniger Pleiten, dann gäbe es
mehr Wachstum und dann gäbe es vor allen Dingen mehr
Beschäftigung in den mittelständischen Unternehmen und
die öffentlichen Haushalte hätten nicht diese Probleme,
die Sie zu verantworten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Die alte Legende! Ihnen fällt nichts ein außer Legendenbildung)


Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch ein
ganz offenes und klares Wort zu dem Thema Zuwande-
rung sagen. In den letzten Tagen wurde mit vielen Ne-
belkerzen geworfen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Nur, von wem?)


Herr Bundesinnenminister, schön, dass Sie heute Morgen
da sind. Sie haben ein Gesetz vorgelegt, dessen Über-
schrift mit dem Inhalt nicht übereinstimmt.


(Otto Schily, Bundesminister: Nein, das stimmt nicht!)





Friedrich Merz
21568


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie haben ein Gesetz vorgelegt, durch das die Anzahl der
Asylgründe erhöht wird, durch das das Ausmaß des Fa-
miliennachzugs – das gilt auch für diejenigen, die in
Deutschland nur auf Zeit geduldet sind – erheblich aus-
geweitet wird und durch das zusätzliche Einwanderung in
den Arbeitsmarkt nach Deutschland in großem Umfang
ermöglicht wird.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben überhaupt gar keine Ahnung! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben das abgesenkt! Vorher war es auf 16, jetzt auf 15!)


Das ist die Wahrheit über den Inhalt dieses Gesetzes.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger Unsinn!)

Ich sage Ihnen deswegen noch einmal ganz ruhig: Wir

sind bereit, mit Ihnen ein Gesetz zu machen, das die Zu-
wanderung regelt und begrenzt.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben aber auch nur Sie selbst! – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen gar kein Gesetz!)


Wir sind bereit, mit Ihnen ein Gesetz zu machen, dass die
Integrationsprobleme der schon in Deutschland lebenden
Ausländer löst oder zumindest einen Teil der Lösung die-
ser Probleme ermöglicht. Wir sind bereit, mit Ihnen wei-
terhin zu sprechen.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Sehr gnädig!)

Aber eines machen wir nicht mit: Sie loben ständig öf-
fentlich die ausformulierten Vorschläge, die wir Ihnen zu
diesem Gesetz seit Monaten machen; Sie sagen, diese
Vorschläge seien gut, sie wiesen in die richtige Richtung
und man könne über sie reden – und gleichzeitig legt uns
die rot-grüne Koalition Tag für Tag, Woche für Woche und
Monat für Monat einen unveränderten Gesetzentwurf vor.
Das geht nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Entweder akzeptieren Sie wenigstens den Teil unserer
Vorschläge, der dieses Gesetz vom Kopf auf die Füße
stellt, oder es wird keine gemeinsame Verabschiedung
eines solchen Gesetzes geben. Dann werden wir uns zum
Ende des Jahres über das Gesetz oder über das, was Sie
vorgehabt haben, zu unterhalten haben. Eines geht nicht,
nämlich dass wir bei 4,3 Millionen Arbeitslosen in
Deutschland in großem Umfang Einwanderung in den
deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen, bevor wir nicht
die Arbeitsmarktprobleme in Deutschland aus eigener
Kraft gelöst haben. Das geht nicht, meine Damen und
Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch überhaupt gar nicht der Fall! Lügen Sie doch hier nicht das Blaue vom Himmel herunter! Das ist doch unglaublich! Die Öffentlichkeit wird in einem Maße getäuscht, das unerträglich ist!)


Da wir solche Probleme haben, hätte ich mir bei der
Vorlage des Jahreswirtschaftsberichtes


(Zurufe von der SPD: Den sollten Sie mal lesen! – Haben Sie den überhaupt gelesen?)


durch die rot-grüne Bundesregierung zumindest ge-
wünscht, dass auf einen Teil Deutschlands in besonderer
Weise Bezug genommen worden wäre, der erhebliche
strukturelle Probleme hat, in dem es erheblichen Nach-
holbedarf in vielfältiger Hinsicht gibt – das sind die neuen
Länder.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine ganz neue Erkenntnis! – Simone Violka [SPD]: Seit wann interessieren Sie die neuen Länder? Das ist ja was ganz Neues!)


Herr Bundeskanzler, von einer Chefsache Ost zu reden,
aber in einer Aussprache über den Jahreswirtschafts-
bericht der Bundesregierung, den der Bundesfinanzmi-
nister hier mit einer Fiskalrede vorgestellt hat, kein einzi-
ges Wort zu den neuen Ländern und ihren Problemen zu
verlieren – das ist ein unglaublicher Vorgang.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt ja nicht! Sie haben wieder nicht zugehört! Das ist doch unglaublich! Es wird schon wieder gelogen von Ihnen!)


Sie können noch so viele Reisen durch die neuen Länder
machen, noch so schöne Fernsehbilder bringen – wenn
Sie in der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht
der Bundesregierung nichts zum Thema neue Länder sa-
gen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]:Schauen Sie sich das Protokoll an! Das ist unfassbar! Sie lügen!)


ist das ein Armutszeugnis für dieses Land, ein Armuts-
zeugnis für diese Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zumindest die großen Probleme des Ausbaus der Infra-
struktur, also der Straßen- und Schienenwege und auch
der Flughäfen in den neuen Ländern, hätten eine Rolle
spielen müssen. Der thüringische Ministerpräsident
Bernhard Vogel hat von dieser Stelle aus schon vor einem
Jahr konkrete Vorschläge gemacht, wie man hier zu einer
entsprechenden Infrastrukturoffensive kommen kann,
und er hat auch Finanzierungsvorschläge gemacht. Alles
wurde von Ihnen abgelehnt.

Ich hätte auch ein Wort erwartet – falls der Bundes-
finanzminister dazu nicht in der Lage ist, dann vielleicht
vom Bundeswirtschaftsminister, wenn er sich in dieser
Debatte noch zu Wort meldet – zu den erheblichen Pro-
blemen beim Saldo in Bezug auf die Abwanderung aus
den neuen Ländern.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Dieses Thema hat er jetzt entdeckt!)


Wenn die jungen Leute, die Leistungsträger und die Fa-
milien aus den neuen Ländern wegziehen und in den Wes-
ten gehen, wenn wir erhebliche Probleme durch die




Friedrich Merz

21569


(C)



(D)



(A)



(B)


Abwanderung aus den neuen Ländern haben, ist dies auch
ein Thema für die Chefsache Ost. Dann können wir von
Ihnen erwarten, dass Sie in der Aussprache über den Jah-
reswirtschaftsbericht dazu Stellung nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Daten der Volkswirtschaft der Bundesrepublik
Deutschland sind so schlecht, wie sie seit Jahrzehnten
nicht gewesen sind.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Noch eine Superlüge! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Sie sollten in die Klippschule!)


Wir stehen vor einem Riesenberg ungelöster Probleme. In
einer solchen Lage müsste ein Regierungschef eine Rede
halten, die eine wirklich schonungslose Bilanz und eine
schonungslose Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten
der Volkswirtschaft und des Landes vornimmt,


(Joachim Poß [SPD]: Was Sie da machen, ist schonungslose Dummheit! – Simone Violka [SPD]: Was ist mit der schonungslosen Aufklärung?)


und er müsste anschließend den Menschen sagen, dass ein
sehr schwerer Weg vor uns liegt, dass viele Veränderungen
und tief greifende Reformen notwendig sind, dass Besitz-
stände gerade dort, wo sie von Ihnen verfestigt werden,
beispielsweise in der Bundesanstalt für Arbeit, infrage ge-
stellt werden müssen. Dort wird die Arbeitslosigkeit auf
hohem administrativen Niveau bewirtschaftet und nicht
bekämpft.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Das ist eine Frechheit, was Sie sagen!)


Lassen Sie mich noch diese Bemerkung machen: Sie re-
krutieren bei DGB und SPD einen großen Teil des mitt-
leren Funktionärskorps aus dieser völlig verfilzten Sozial-
bürokratie, die sich dort entwickelt hat.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was macht die Arbeitgeberseite? Das ist eine paritätisch mitbestimmte Einrichtung!)


Deswegen werden Sie ganz sicher keine Reformen ma-
chen, durch die den Arbeitsmarkt in Deutschland wieder
vom Kopf auf die Füße gestellt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, Sie dürfen die Konjunktur nicht
beschwören und nicht nach Amerika blicken und erwar-
ten, dass von dort etwas kommt, was Sie im eigenen Land
nicht leisten wollen. Sie müssten sich hier hinstellen und
sagen, was die Probleme sind, wie Sie sich eine Lösung
vorstellen und was die langfristige Perspektive für
Deutschland ist.


(Joachim Poß [SPD]: Wo sind denn Ihre Vorschläge? Sie haben noch keinen einzigen gemacht!)


Dazu sind Sie zu schwach. Würden Sie es machen, wür-
den Sie die Mehrheit dafür in den eigenen Reihen, bei den
Sozialdemokraten, nicht mehr bekommen. Deswegen hat
dieses Land eine bessere Regierung und eine bessere Po-
litik verdient.


(Zurufe von der SPD: Ja, ja!)

So kann es nicht weitergehen.

Deutschland muss seine Reformen wirklich durch-
führen und den Arbeitsmarkt wieder auf die Füße stellen.
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, Ihnen
trauen wir das nicht mehr zu.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Amateur!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421800600
Ich erteile dem Kolle-
gen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Weiermann [SPD]: Ihr seid vielleicht feine Demokraten da drüben! Das hört man an eurem Aufschrei!)



Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421800700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Merz, Sie
haben über fast alles geredet, aber nicht


(Zuruf von der SPD: Über die Wahrheit!)

darüber wie Sie die Steuerreform und die Konsolidierung
wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Schrei nicht so! So ein Brüllaffe!)


Hier war totale Fehlanzeige. Mir ist wohl bekannt, dass
eine Opposition natürlich vom Angriff lebt. Einer Oppo-
sition aber, die kein Gegenkonzept zu bieten hat


(Zuruf von der FDP: Noch lauter!)

und sich trotzdem anheischig macht, die Regierung zu
übernehmen, können wir gelassen zuschauen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Herr Merz, wenn Sie von einem Steuerprogramm der
Union reden, dann müssen Sie auch dazu sagen, welches
Steuerprogramm Sie meinen. Meinen Sie Ihres, das von
Frau Merkel, das von Herrn Stoiber oder das von wem
auch immer?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Wo bleibt Ede?)


Ich kann nur sagen: Es war diese rot-grüne Koalition,
die den von Ihnen aufgetürmten Schuldenberg abgetragen
hat.


(Lachen bei der CDU/CSU)





Friedrich Merz
21570


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Zahlen sprechen für sich. Wir haben in unserer bisher
vierjährigen Verantwortung 39 Milliarden Euro auflaufen
lassen,


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: „Auflaufen lassen“!)


während Sie in vier Jahren 141 Milliarden Euro haben
auflaufen lassen. Da kann ich nur sagen: Dies ist eine sehr
deutliche Zahl. Sie waren die Schuldentreiber und wir
sind diejenigen, die Ihre Schulden – mühsam genug – ab-
tragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir werden Finanzminister Eichel selbstverständlich
nach Kräften unterstützen, wenn es darum geht, die Ziele
des Stabilitätspaktes auch angesichts der neuen Finanz-
daten und der Steuereinnahmeentwicklung zu erfüllen.
Wir wollen den nachfolgenden Generationen einen größt-
möglichen Freiraum für ihre Leistungs- und Gestaltungs-
fähigkeit einräumen und die Stabilität des Euro gewähr-
leisten.

Wenn wir uns im Vergleich dazu die Landesfürsten der
CDU-regierten Ländern anschauen, dann sehen wir, dass
sie diese Stabilitätsvorgaben allesamt nicht ernst genom-
men haben. Das Land Berlin – die legendäre Berliner
Bankgesellschaft und Herr Diepgen –, Hessen, Baden-
Württemberg und auch Bayern, das Land des Kandidaten,
haben die Grenzen nach oben bei weitem überzogen. Ich
bin mir sicher – vorhin kam das Stichwort –, dass Herr
Stoiber jeden Tag ein Stoßgebet in den weiß-blauen Him-
mel schickt,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Oh Gott!)

dass ihm die abenteuerlichen Kredite an Kirch nicht um
die Ohren fliegen mögen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind ein Abenteurer!)


Dann könnte Stabilität nämlich überhaupt nicht mehr er-
reicht werden. Auch Bayern würde dann nichts mehr ge-
backen bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn ich höre, dass Herr Stoiber sagt, dass er zwischen
2,7 und 3 Prozent einen Spielraum hat – das wären 8 Mil-
liarden, die er in Beschäftigungsprogramme oder was
auch immer stecken will –, und wenn ich die diversen
Ausgabenprogramme aus Ihren Reihen, etwa die von
Herrn Merz und Frau Merkel, dazurechne,


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das hätten Sie gerne!)


sehe ich, dass wir dann nicht mehr bei 3 Prozent lägen.
Herr Merz, dann hätte uns nicht nur ein blauer Brief aus
Brüssel gedroht, wir hätten ein blaues Päckchen bekom-
men, was auf Ihre Kosten und auf Ihr Konto gegangen
wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Von der FDP hört man, sie wolle die Verpflichtungen
suspendieren, das heißt, sie will sich nicht mehr daran hal-
ten. Deshalb brauchen wir darüber gar nicht zu diskutieren.

Für uns sind ausgeglichene Staatsfinanzen der beste
Beitrag und die erste Voraussetzung dafür, dass Wachstum
und Beschäftigung wieder anziehen.

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft im Euro-
raum und steht mit seiner Finanzpolitik in der gemeinsa-
men Verantwortung. Die Bundesregierung ist, soweit ich
das sehe, das einzige Organ in Deutschland, das dieser
Verantwortung nachkommt und für Stabilität sorgt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Präsident, machen Sie doch einmal eine Dopingkontrolle! Bei jeder Olympiade gibt es eine Dopingkontrolle!)


– Herr Glos, zu Ihnen komme ich noch.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wir haben richtig Angst!)

Nun zum Thema Arbeitsmarkt. Wir müssen die

schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt im Kontext
sehen. In unserer Regierungszeit, Herr Merz – vielleicht
ist Ihnen das entgangen –, haben wir gegenüber Ihrem
Stand von 1998 einen Zuwachs von 1,1 Millionen Er-
werbstätigen erreicht; das ist eine relevante Zunahme der
Erwerbstätigkeit. Ein großer Brocken in Bezug auf die
Beschäftigungswirksamkeit ist die von uns eingeleitete
Energiewende mit insgesamt 120 000 neuen Arbeitsplät-
zen durch das Voranbringen der regenerativen Energien,
deren Wertschöpfung übrigens nicht in die großen Kon-
zerne fließt, sondern beim Mittelstand und beim Hand-
werk in den Regionen bleibt. Das wollten wir erreichen.
Wir wollen die Wertschöpfung durch die regenerativen
neuen Energien in den Regionen belassen. Das ist eine
Jobmaschine und das tut dem Handwerk und dem Mittel-
stand in den Regionen gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deswegen sind die auch so begeistert!)


Sie hingegen wollen das Rollback in die Atomenergie.
Gott sei Dank hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen in
den letzten Tagen gleich zweimal einen Strich durch die
Rechnung gemacht, nämlich in Sachen Gorleben und in
Sachen Biblis. Rechtlich kommen Sie da überhaupt keinen
Schritt weiter, auch nicht – dafür werden wir sorgen – po-
litisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn ich mir dann die steuerpolitische Diskussion in
derCDU/CSU ansehe – Herr Merz, Sie haben keinen Ton
dazu gesagt, wie Ihre konkreten Vorschläge aussehen –,
stelle ich fest, dass da alles im Angebot ist, was das Herz
begehrt. Frau Merkel will die letzte Stufe der Steuer-
reform von 2005 vorziehen. Kosten: schlappe 25 Milliar-
den Euro.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Rezzos Märchenstunde!)





Rezzo Schlauch

21571


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Kandidat aus Bayern sagt darauf: So nicht! – Auch
Merz will vorziehen. Jetzt kommen Sie, Herr Glos, und
sagen: Weitere Steuersenkungen – wo Sie Recht haben,
haben Sie Recht; da gebe ich Ihnen auch ex cathedra
Recht –


(Lachen bei der CDU/CSU)

sind zurzeit seriöserweise nicht zu finanzieren. – Genau
das ist unser Kurs. All das, was von Ihnen oder von der an-
deren Seite zum Thema Steuersenkung kommt, sind Sei-
fenblasen, sind Luftblasen, die morgen schwarz werden
und zerplatzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: So wie Sie! Alles gedopt!)


Aber es geht ja noch weiter. Ich habe mir verwundert
die Augen gerieben, als ich gelesen habe: „Union plant“
– nicht Steuersenkungen, wie man es bisher überall lesen
konnte – „höhere Unternehmensteuern“.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Herr Rauen, was ist denn das wieder? Was sagt denn Edi dazu?)


Was meinen Sie, was der Mittelstand dazu sagen wird,
wenn Verlustvorträge und Verlustverrechnungen gekappt
werden, die einzige Möglichkeit für den Mittelstand in
Krisenzeiten, Liquidität wieder zu mobilisieren? Es kön-
nen nur Investitionen getätigt und Arbeitsplätze geschaf-
fen werden, wenn Liquidität im Mittelstand vorhanden
ist. Das wird aber – was habe ich da gelesen? – mit Ihren
Vorschlägen gefährdet, Herr Rauen. Sie erzählen den
Menschen ständig, Sie wollten die Steuern senken. Aber
gemäß dem „Handelsblatt“ wollen Sie die Unternehmen-
steuern erhöhen.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Hört! Hört!)

Das wäre Gift für unsere Wirtschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich kann die alte Leier nicht mehr hören, dass der Mit-
telstand gegenüber den Kapitalgesellschaften benachtei-
ligt werde.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Jetzt hören Sie einmal zu: Selbst der Steuerexperte des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages sagt, dass
inzwischen eine Gleichstellung in der Besteuerung von
Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften festzu-
stellen sei. Wir haben bei den Personengesellschaften eine
progressiv ausgestaltete Einkommensteuer, wir haben die
Gewerbesteuer, wir haben ein Anrechnungsverfahren be-
züglich der Gewerbesteuer, wir haben die Reinvestitions-
rücklage und wir haben ein Paket geschnürt, das nur auf
den Mittelstand orientiert ist. Damit wurden die Perso-
nengesellschaften bezüglich der Steuerbelastung mit den
Kapitalgesellschaften gleichgestellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aus dem dissonanten Chor der CDU ist nicht heraus-
zuhören, was bezüglich der Konsolidierung und der Steu-

erreform geschehen soll. Man hört aus dem Off vom ehe-
maligen CDU-Vorsitzenden Schäuble, man solle doch
erst einmal überlegen. Dazu kann man sagen: Recht hat
auch er. – Ich höre aber auch, dass man erst zu Ostern mit
dem endgültigen finanzpolitischen Konzept aufwarten
will,


(Joachim Poß [SPD]: Es kann aber auch Juli werden!)


quasi die finanzpolitische Auferstehung des Kandidaten
Stoiber und der CDU.

Für mich ist die Auferstehung eine Frage des Glaubens.
Die Steuerpolitik ist aber real. Wir haben die ambitionier-
teste Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik
in die Wege geleitet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Wir werden sie über den 22. September hinaus erfolgreich
fortsetzen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421800800
Ich erteile nun dem
Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion, das Wort.


(Zuruf von der SPD: Jetzt kommt der Scheckverteiler! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau! Schecks für alle!)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1421800900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Herr Kollege Schlauch, ich hatte bei Ih-
rer Rede wirklich Sorge um Ihre Gesundheit.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich habe eine gute Kondition! Ich hänge nicht so oft auf Weinfesten herum wie Sie!)


Ich hatte mir schon überlegt, ob ich nicht die Parlaments-
ärztin anrufen sollte. Sie haben anscheinend den Kopf mit
dem Kehlkopf verwechselt.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist auch schon 30 Jahre alt!)


Ich zitiere:
Für 2001 erwarten wir weiterhin ein starkes ... Wirt-
schaftswachstum. Die Dynamik wird sich zwar leicht
abschwächen;

(Joachim Poß [SPD]: Haben alle Institute im Herbst 2000 gesagt!)

angesichts von 2,75 Prozent realem Wachstum bleibt
das Umfeld zum Aufbau neuer Arbeitsplätze aber
weiterhin günstig.




Rezzo Schlauch
21572


(C)



(D)



(A)



(B)


So haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, im letzten Jahr
in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht die Backen
aufgeblasen.

Die Realität sieht anders aus. 0,5 Prozent Wachstum,
4,3 Millionen Arbeitslose, steigende Sozialbeiträge, stei-
gende Steuern, steigende Schulden und explodierende
Gesundheitskosten: Das ist die Bilanz grün-roter Wirt-
schaftspolitik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem lauen Verweis auf die außenwirtschaftliche
Verflechtung kann sich die Regierung der drittgrößten
Volkswirtschaft nicht aus der Verantwortung stehlen. Ist
vielleicht nicht auch unsere hohe Firmenkapitalverflech-
tung mit dem Ausland Ausdruck des unattraktiver gewor-
denen Standorts Deutschland in den drei Jahren, in denen
Sie die Politik in diesem Land betreiben?

Jeder weiß: Die deutsche Krankheit fängt beim
Arbeitsmarkt an. Der Bundeskanzler versprach hier Hei-
lung. „Wenn wir“, so sagte der Kanzler, „die Arbeitslo-
sigkeit nicht signifikant senken, haben wir es nicht ver-
dient, wieder gewählt zu werden“.


(Zurufe von der FDP: Recht hat er!)

Der Bundeskanzler hat mit seiner Prognose Recht. Sie ha-
ben es tatsächlich nicht verdient, wieder gewählt zu wer-
den.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Grün-Rot hat den Arbeitsmarkt verregelt und ver-
riestert: siehe Mitbestimmung, siehe Zwangsteilzeit,
siehe Scheinselbstständigkeit, siehe 630-DM-Jobs. Als
die Arbeitsmarktkatastrophe nicht mehr zu verbergen
war, haben Sie Heftpflaster und Placebos ausgepackt.
Anstatt mit unbürokratischen 630-Euro-Jobs schnell
Stellen zu schaffen, setzen Sie auf dirigistische
Subventionsmodelle, die schon in den Modellregionen,
wenn überhaupt, nur bescheidene Erfolge gebracht ha-
ben.


(Beifall bei der FDPsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: In dieser Region regieren Sie aber mit! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es heißt aber Modell, und wenn es nicht funktioniert, muss man aufhören!)


Der größte Skandal aber ist das so genannte Job-Aqtiv-
Gesetz. Mit dieser grün-roten Wunderwaffe will der
„Bundesarbeitslosminister“ Herr Riester eine Vermitt-
lungsoffensive mit 2 000 neuen Beamtenstellen starten.
Seit einigen Tagen wissen wir: Vermittelt wird von den
Arbeitsämtern nur wenig. Stattdessen werden viele Statis-
tiken frisiert. Darin hat Grün-Rot Übung.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Wie lange besteht eigentlich die Bundesanstalt? Ist die ganz neu?)


Sie behaupten ständig, Sie hätten 1 Million Stellen ge-
schaffen. Das ist die nächste Statistiktrickserei. Die kön-

nen wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Sie wissen doch,
dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigen konstant geblieben
ist. Nur bei der Teilzeitbeschäftigung gab es einen Zu-
wachs. Der beruht zum größten Teil auf der neuen Mel-
depflicht im Rahmen der geringfügigen Beschäftigung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Durch die Neuregelung der 630-DM-Jobs existierende
Stellen statistikwirksam aufgespürt zu haben, können Sie
nun wirklich nicht als Beschäftigungserfolg verkaufen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das einzig richtige, objektive Kriterium ist das ge-
samtwirtschaftliche Arbeitsvolumen. Das ist nicht ge-
steigert worden. Seit dem Regierungswechsel wird in
Deutschland unter dem Strich nicht in größerem Umfang
gearbeitet. Das Arbeitsvolumen ist vielmehr konstant ge-
blieben. Entweder Sie wollen die Statistiken nicht richtig
lesen oder Sie führen die Öffentlichkeit bewusst in die
Irre!


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wahrscheinlich das Letztere! – Wolfgang Weiermann [SPD]: Na, na! Vorsicht!)


Irreführend ist auch die Vermittlungsaffäre an sich. Sie
ist nicht in erster Linie eine Affäre „Jagoda“, sondern eine
Affäre „Riester“, eine Affäre der grün-roten Bundesregie-
rung.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Was war vorher?)


Doch „politische Verantwortung“ ist für diese Regierung
ein Fremdwort. Wie viele seiner Kollegen klebt Herr
Riester an seinem Sessel. Er reiht sich nahtlos in die Pat-
texriege ein, die auf der Regierungsbank sitzt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Riester, wir brauchen kein Job-Aqtiv-Gesetz, son-

dern eine grundlegende Neuorganisation der Arbeits-
marktpolitik in Deutschland. Wir brauchen Wettbewerb in
der Arbeitsvermittlung.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Den gibt es doch längst! Unglaublich!)


Wir brauchen eine schlankere Bundesanstalt für Arbeit.
Wir müssen uns von der Kungelei zwischen Arbeits-
ministerium und Tarifvertragsparteien verabschieden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Weiermann [SPD]: Haben Sie noch nie etwas von Tarifautonomie gehört?)


– Dass Sie als gewerkschaftlicher Metallfunktionär
schreien, verstehe ich ja. – Wir brauchen eine Wirt-
schaftspolitik aus einem Guss.

Deshalb schlagen wir vor, die Arbeitsmarktpolitik in
das Wirtschaftsministerium zu integrieren. Denn die
Wirtschaftspolitik hat die Aufgabe, Arbeit zu schaffen und




Rainer Brüderle

21573


(C)



(D)



(A)



(B)


von einem Arbeitslosenverwaltungsministerium wegzu-
kommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wichtige Reformen müssen endlich angepackt und dürfen
nicht verschoben werden. Der Leidensdruck auf dem
Arbeitsmarkt verlangt dies.

Der Weg zu mehr Beschäftigung kann nur über die Be-
triebe vor Ort führen. Wir brauchen mehr Freiräume für
die Betriebe, zum Beispiel über Lohnfindung auf der Un-
ternehmensebene, und weniger Fremdbestimmung durch
Gewerkschaftsfunktionäre, wie Sie, Herr Weiermann, ei-
ner sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Weiermann [SPD]: Jetzt haben Sie die Katze aus dem Sack gelassen!)


Die FDP hat ihr Konzept für eine umfassende Reform
des Tarifsystems vorgelegt, das vor allem den Unterneh-
men bzw. dem Mittelstand neue Möglichkeiten eröffnen
soll. Im Osten können Sie es studieren: Aus der Notsitu-
ation heraus sind dort über drei Viertel aller Arbeitsver-
hältnisse außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts ab-
geschlossen worden.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Was ist denn daran gut?)


Keine Gewerkschaft kritisiert das, und das aus gutem
Grund: Sie wissen, dass ein anderes Vorgehen die Ar-
beitslosigkeit im Osten verdoppeln und verdreifachen
würde. Denn dort ist die miserable und falsche grün-rote
Politik doppelt so schmerzhaft wie im Westen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Weiermann [SPD]: Sie wollen das totale Chaos auf dem Arbeitsmarkt! Das ist das Problem!)


Es ist haarsträubend, dass gerade die Gewerkschaft,
der Sie angehören, Herr Zwischenrufer, die IG Metall, mit
einer Forderung von 6,5 Prozent in diese Lohnrunde geht.
Auf dieser Basis kann man vielleicht Verhandlungen mit
Porsche führen, aber nicht mit dem Mittelstand und der
Mehrheit der deutschen Betriebe. Auch bei Opel geht das
nicht. Einige Ihrer Funktionäre haben inzwischen auch
kapiert, dass man dort anders vorgehen muss.

Deshalb braucht man Öffnungsklauseln. Deshalb
muss das Günstigkeitsprinzip auch zugunsten der Erhal-
tung des eigenen Arbeitsplatzes umgesetzt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Grün-Rot macht das Gegenteil. Sie zahlen damit Ihre
Wahlschulden bei den Gewerkschaften für die Wahl-
hilfe ab. Sie stärken die Gewerkschaftsfunktionäre. Sie
schwächen unser Land. Das ist Ergebnis dieser Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Weiermann [SPD]: Das ist finsterstes Mittelalter, was man hier erlebt!)


Seit neun Jahren war das Wachstum nicht mehr so
schlecht wie unter Grün-Rot. Grün-Rot hat Deutschland
in eine Rezession geführt. An frühzeitigen Mahnungen
hat es nicht gefehlt. In der Debatte zum letzten Jahres-
wirtschaftsbericht, vor einem Jahr, also vor dem 11. Sep-
tember, habe ich ein Blitzprogramm für Strukturreformen
gefordert. Ich wurde damals als Miesmacher beschimpft.
Es hieß, ich redete das Land schlecht. Ich habe das Land
nicht schlecht geredet. Sie haben schlecht regiert. Das ist
die Wahrheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Brüssel hat Grün-Rot die Quittung für die falsche
Wirtschafts- und Finanzpolitik bekommen. Sie haben das
Wachstum nicht gefördert und damit die Konsolidie-
rungspolitik untergraben. Weil Sie nichts getan haben, ha-
ben Sie den Haushalt an die Wand gefahren. Das ist die
Realität. Sie tragen die Verantwortung dafür, wenn
Deutschland vom Initiator zum Terminator des euro-
päischen Stabilitätspakts wird.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Eichel als Terminator? Um Gottes willen!)


Herr Eichel, wie schlecht muss es Ihnen eigentlich ge-
hen? Sie haben in der gestrigen Debatte zum wiederhol-
ten Male die Unwahrheit gesagt und mir vorgeworfen, ich
wolle das Maastricht-Kriterium aushebeln. Ich weiß
nicht, was Ihre Beamten Ihnen aufgeschrieben haben,
aber das ist schlicht unwahr. Das habe ich nie gesagt. Im
Interesse einer redlichen Auseinandersetzung jenseits
Ihrer falschen Politik – ich halte Sie persönlich für einen
redlichen Mann –


(Michael Glos [CDU/CSU]: Na ja, ich weiß nicht!)


sollten Sie aufhören, solche Diffamierungen vorzutragen,
und diese Behauptung zurücknehmen.


(Beifall bei der FDP)

Herr Eichel, jetzt haben Sie in Brüssel versprochen, bis

zum Jahr 2004 einen ausgeglichenen Gesamthaushalt
hinzubekommen. Wie Sie das aber erreichen wollen, sa-
gen Sie nicht. Wo wollen Sie sparen? Wollen Sie die Steu-
ern erhöhen? Wollen Sie die Länder oder andere, die es
besser gemacht haben, zur Ader lassen? Wollen Sie sonn-
tags in die Kirche gehen und beten? Wollen Sie Kerzen im
Dom aufstellen? Was wollen Sie machen? Sie rudern
schon ein bisschen zurück und erklären: Na ja, wir wollen
eine Verschuldung nahe bei null erreichen. – „Nahe bei
null“ ist die Zauberformel der grün-roten Politik. Null Ah-
nung, null Wachstum, null Arbeitsplätze, das ist das Er-
gebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Ihrem grün-roten Wirtschaftsbericht und in der De-
batte heute faseln Sie schon wieder von einem neuen Auf-
schwung. Ich frage mich: Ist alles das, was wir in diesem
Land diskutieren, eine Erfindung, ist das alles virtuell
oder sehen Sie die Realität nicht? Die Wahrheit ist wohl,




Rainer Brüderle
21574


(C)



(D)



(A)



(B)


dass Sie auf das Prinzip Hoffnung setzen, weil Sie nichts
auf der Pfanne haben.

Grün-Rot hofft auf einen niedrigen Ölpreis. Vor einem
Jahr haben Herr Müntefering und seine Konsorten noch
die Multis wegen der Ölpreise beschimpft.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Vorsichtig!)

Wahrscheinlich hat die SPD-Zentrale schon einen Dan-
kesbrief an die OPEC geschickt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erinnern Sie sich an Ihre Debattenbeiträge in der Zeit! Unsinn, was Sie erzählen!)


Ernsthaft: Die außenpolitische Lage in Nahost wie auch
im Irak lässt sehr wohl Gefahren erkennen. Aber Sie
machen kein Worst-Case-Szenario wie der Sachver-
ständigenrat. Sie von Grün-Rot hoffen auf niedrige
Zinsen der EZB, aber indem Sie die Potenziale für In-
flation durch Ökosteuererhöhung, durch Versicherung-
steuererhöhung, durch Tabaksteuererhöhung vergrößern,
machen Sie die Basis für weitere Zinssenkungen kaputt.

Grün-Rot hofft auf den Wirtschaftsaufschwung in
den Vereinigten Staaten. Statt selbst etwas zu tun, sitzen
Sie defätistisch da und sagen sich: Die Amerikaner wer-
den es hoffentlich besser machen als wir. – Gleichzeitig
warnt der Bundeskanzler in seinen Reden vor amerikani-
schen Verhältnissen in Deutschland. Sie verurteilen in
Ihren Sonntagsreden das amerikanische Wirtschafts-
system, aber gleichzeitig verknüpfen Sie Ihr Schicksal da-
mit. Sie hoffen, dass dieses System besser funktioniert,
dass die Wirtschaft dort schneller wieder in Gang kommt,
damit auch die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland
besser wird.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Wenn man so vorgeht und so öffentlich argumentiert,
dann ist das Zynismus pur.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Wahrheit ist, dass die amerikanische Strategie

– flexible Güter- und Arbeitsmärkte sowie niedrige Steu-
ern – erfolgreicher ist als die grün-rote Strategie des Be-
tonierens.

Einige Sozialdemokraten sehen dies sehr wohl. Aber
die 4-Prozent-Partei an ihrer Seite träumt noch von ei-
nem bürokratischen Hochsteuerstaat. Ihr Anführer Joseph
Fischer tut es öffentlich kund. Das ist die Wirtschaftspo-
litik von vorgestern. England und Spanien haben ein
Wachstum von 2 Prozent, Frankreich und Schweden von
1,5 Prozent. Alle diese Länder sind der gleichen Welt-
wirtschaft wie wir ausgesetzt. Ich frage Sie: Weshalb ha-
ben sie bessere Ergebnisse? Weil sie eine bessere Politik
machen und besser aufgestellt sind. Sie haben uns in diese
schlechte Situation gebracht, sodass die Weltwirtschaft
bei uns stärker als in anderen europäischen Ländern
durchschlägt. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Weiermann [SPD]: Weil jeder Amerikaner drei Jobs braucht zum Überleben!)


Das ist der Grund, dass der „Economist“ Deutschland
den Titel der Schlafmütze Europas verliehen hat. Danke
schön für diesen Ehrentitel, den uns Grün-Rot beschert
hat!

Wie gehen Sie vor? Sie haben eine ausgefeilte Ver-
drängungsstrategie. Es wird argumentiert: Wenn wir die
Bauwirtschaft herausrechnen, dann sieht die Lage ganz
anders aus. – Wenn wir Ostdeutschland herausrechnen,
dann sieht die Lage ebenfalls ganz anders aus. Wenn wir
die Arbeitslosen herausrechnen, dann haben wir Voll-
beschäftigung. Aber das ist keine Lösung der Probleme.
Das ist Selbsttäuschung und Trickserei.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie müssen die Steuerpolitik vom Kopf wieder auf die
Füße stellen, den Mittelstand anständiger behandeln, das
Steuersystem fair, einfach und überschaubar machen. Wir
haben einen klaren Vorschlag gemacht: Steuersätze von
15, 25 und 35 Prozent. Die Ökosteuer gehört abgeschafft.
Hier verstehe ich Herrn Stoiber nicht.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich auch nicht!)


Die Ökosteuer war immer Blödsinn und eine Abzocke.
Man kann darüber diskutieren, dass man ein Steuersystem
ökologisch ausrichtet, aber diese Lügensteuer, die die
größten Energieverbraucher freistellt und diejenigen, die
sparen, zu Schädlingen an der Rentenkasse macht, hat
keinen Platz in einem rationalen Steuersystem. Die Öko-
steuer ist und bleibt Unfug.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie sieht die Realität aus? Die Kleinen müssen bluten,
die Großen können ihre Beteiligungen steuerfrei verkau-
fen. Vor allem die Hausmarken bekommen Privilegien.
Voran der Schutzpatron der deutschen Monopole: Herr
Minister Müller. Die Stromriesen bekommen einen Ener-
giesockel, die Post Umsatzsteuererleichterungen und
Monopolzusagen, VW ein keimfreies Übernahmeverhin-
derungsgesetz und Telekom einen Schutz bei der letzten
Meile. Der Mittelstand zahlt und die großen, der Regie-
rung verbundenen Unternehmen werden besonders gut
behandelt.

Das kommt davon, wenn man mit Ordnungspolitik
nichts im Sinn hat. Der Wirtschaftsminister müsste das
ordnungspolitische Gewissen im Land sein, aber er ist der
Schutzpatron der Monopole in Deutschland. Mit der
Monopolisierung werden wir die Probleme nicht lösen.
Wettbewerb und soziale Marktwirtschaft sind das Lö-
sungsrezept. Monopolstellungen zu verlängern und zu
festigen führt uns nicht voran.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421801000
Kollege Brüderle, Sie
haben Ihre Redezeit überschritten.




Rainer Brüderle

21575


(C)



(D)



(A)



(B)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1421801100
Mein letzter Satz, Herr Prä-
sident. – Sie wollten es besser machen, aber haben alles
schlechter gemacht. Wir werden dafür kämpfen, dass wir
mit mehr Marktwirtschaft vorankommen. Weil wir das
richtige Rezept anpacken, werden wir siegen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421801200
Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der künftige Koalitionspartner!)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1421801300
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, Sie haben sich
wegen der Lautstärke des Kollegen Schlauch um dessen
Gesundheit gesorgt. Ich wollte Ihnen nach Ihrer Rede nur
sagen: Denken Sie bitte auch an Ihre eigene Gesundheit!


(Beifall bei der PDS)

Ich glaube, die interessierte Öffentlichkeit sollte durch-

aus einen Einblick in den Text dieses Berichtes bekom-
men, über den wir heute diskutieren. Ich will Ihnen nur ein
paar Kostproben geben. Dort steht:

Deutschland steht im internationalen Vergleich gut
da ... Sichtbare Erfolge, neue Aufgaben ... Dabei pro-
fitieren gerade auch die neuen Länder von den Re-
formen der Bundesregierung ...

Ich sage Ihnen: Wenn ich Ihnen ein Zitat aus der Erfolgs-
berichterstattung der DDR-Wirtschaft untergemixt hätte,
dann hätten Sie das gar nicht gemerkt.


(Beifall bei der PDS)

Eines muss man Ihnen natürlich sagen – das wissen wir

alle aus täglichen Gesprächen mit Beschäftigten, Unter-
nehmern und auch Arbeitslosen in diesem Lande –: Die
Realität ist eine andere. Sie in der Koalition kommen
mir – gestatten Sie mir, dass ich dies mit einem Bild ver-
anschauliche – wie der verirrte Wanderer im Walde vor,
dem irgendwie schwant, dass er vom rechten Wege ab-
gekommen ist, und der sich mit wiederholtem Blick auf
seine Landkarte immer wieder Mut macht und sich selber
zuruft: Die Karte ist richtig, aber die Gegend ist falsch.
Aber so kann man nicht Politik machen, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der PDS)

Zur Erklärung von Unzulänglichkeiten und Missstän-

den haben Sie dann den sattsam bekannten Trick benutzt
und sich vielfach die Patenterklärung in den Bericht ge-
schrieben, die da heißt: Es wäre sonst alles noch viel
schlimmer gekommen. – Auch mit diesem Schönreden
und Schönschreiben werden wir den Realitäten und den
Aufgaben, um die es hier geht, nicht gerecht. Selbstver-
ständlich – auch das merken Sie – haben wir es hier mit
einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegenüber
Wirtschaftspolitik und Politik überhaupt zu tun. Dieser
Vertrauensverlust wird jetzt natürlich in erheblicher

Weise durch die Tatsachen genährt, die über die Bundes-
anstalt für Arbeit und die Arbeitsämter bekannt werden.

Dass bei der Statistik einmal das eine oder andere
nicht stimmt, daran hat sich die Öffentlichkeit schon ge-
wöhnt. Dass aber die Ergebnisse um zwei Drittel bis zu
drei Viertel falsch sind, ist natürlich eine Tatsache, die
wirklich Vertrauen zerstört. Was mich ein bisschen wun-
dert, ist das große Erstaunen, das jetzt einsetzt – als wären
das alles Vorgänge, die erst in den letzten Wochen oder
Monaten entstanden wären. Hier, glaube ich, ist wirklich
gründliches Aufräumen angesagt.

Ich möchte mich mit einem nicht abfinden: In der Öf-
fentlichkeit wird das jetzt als ein „Statistikskandal“ be-
handelt. Meine Damen und Herren, das ist kein Statistik-
skandal, sondern ein Skandal im Umgang mit den Sorgen,
Hoffnungen und Nöten von Menschen in diesem Lande.
Das kann man so nicht hinnehmen.


(Beifall bei der PDS)

Als Realitätstest für Ihren Jahreswirtschaftsbericht

2002 ist es allemal angebracht, einmal einen Blick in den
Jahreswirtschaftsbericht aus dem vergangenen Jahr zu
werfen und sich anzuschauen, was Ihre damaligen Pro-
gnosen mit den Realitäten zu tun haben. Nehmen wir nur
wenige Fakten. Sie haben die Senkung der Arbeitslosig-
keit auf 9 Prozent angekündigt. Tatsache aber ist, dass die
Arbeitslosigkeit inzwischen stärker ansteigt, auch im Ver-
gleich zu den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Wir ha-
ben es also nicht mehr nur mit einer Verlangsamung im
Abbau der Arbeitslosigkeit zu tun – wie Sie immer öf-
fentlich bekunden –, sondern wir haben es mit einem An-
stieg der Arbeitslosigkeit zu tun. Die Faulenzerdebatte
und die Beschimpfung von Menschen, die aus dem Er-
werbsleben ausgeschlossen werden, setzen Sie noch
obendrauf.


(Beifall bei der PDS)

Ich will Ihnen einen zweiten Fakt nennen. Sie haben bei

den Anlageninvestitionen – alles aus Ihrem Bericht aus
dem vergangenen Jahr – eine Prognose von plus 4 Prozent
gegeben. Erreicht haben Sie im Jahr 2001 minus 3,9 Pro-
zent. Die Zahlen stimmen ja in etwa, aber die Vorzeichen
wurden verwechselt. Sie haben bei der Inlandsnachfrage
4 Prozent Wachstum prognostiziert und nur 0,8 Prozent
erreicht. Das enttäuscht nicht wegen der schlichten Zah-
len, sondern wegen der spürbaren Ergebnisse im Lebens-
alltag von Bürgerinnen und Bürgern. Das enttäuscht
natürlich auch – lassen Sie von Rot-Grün sich das gesagt
sein – viele Ihrer Wählerinnen und Wähler, die Sie 1998
wegen des Gesichts von Gerhard Schröder und des Pro-
gramms von Oskar Lafontaine gewählt haben und die in-
zwischen von Ihrer Politik bitter enttäuscht sind.


(Beifall bei der PDS)

Das betrifft nicht nur traditionelle SPD-Wähler, sondern
auch die neue Mitte, die Sie gleichermaßen verprellt ha-
ben, die Erwerbstätigen wie die Arbeitslosen.

Nun bemühen Sie – das ist schon gesagt worden – zur
Erklärung dieser Zustände die internationale Lage und ge-
ben die Weltökonomen: Die Weltwirtschaft ist in der
Rezession. Wenn Sie uns hier schon die Weltökonomen






(C)



(D)



(A)



(B)


vorspielen, dann dürfen Sie auch nicht ausblenden, wel-
che Erfahrungen es in anderen europäischen Ländern
gibt: nämlich einen Lohnzuwachs von 4,5 Prozent im Jahr
2001 in Frankreich und in England. Beide Länder liegen
im Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes besser als
Deutschland. In beiden Ländern gibt es Konjunkturpro-
gramme. Das sind Erfahrungen, die wir uns auch an-
schauen sollten. Stattdessen setzen Sie auf das Konjunk-
turprogramm in den USA. Vom amerikanischen Kongress
– das wissen Sie – ist aber gerade dieses Konjunkturpro-
gramm auf Eis gelegt worden. Soeben wird vermeldet,
dass es im vergangenen Jahr auch in den Vereinigten
Staaten einen Insolvenzenrekord mit einem Zuwachs von
20 Prozent gab. Das alles sind also keine verlässlichen
Positionen.


(Zuruf von der SPD: Sagen Sie das mal dem Brüderle!)


– Natürlich sage ich das auch dem Herrn Brüderle.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sozialistin-

nen und Sozialisten sind bekanntlich nicht nur Vertei-
lungskünstler. Auch wir wissen sehr wohl, dass Wert-
schöpfung die Voraussetzung für soziale Wohltaten ist.
Aber Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Ihr Kurs der Pflege
von Großbanken und Großunternehmen schadet der
Gesellschaft. Mich erstaunt in diesem Deutschen Bundes-
tag allerdings, in welcher Weise die Unionsfraktion und
auch die FDP das Image aufbauen, sie seien die Kampf-
gruppen gegen das Großkapital. Hier muss ich mich fra-
gen, welche Union ich bisher wahrgenommen habe.


(Beifall bei der PDS – Rainer Brüderle [FDP]: Das haben Sie wohl bei Honecker abgeschrieben?!)


Lassen Sie mich dazu einige Fakten nennen: In der
Metall- und Elektrobranche gab es zwischen 1993 und
2000 einen Gewinnzuwachs von 0,6 Milliarden Euro auf
25 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum ist die Lohn-
quote von 26,9 auf 18,8 Prozentpunkte abgesunken. Den-
jenigen, die mir immer mit Niedriglohnmodellen kom-
men, muss ich sagen, dass wir keine Niedriglohnmodelle
brauchen, da es in diesem Lande schon zu viele Nied-
riglöhne gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Würden solche Modelle helfen, müsste im Übrigen der
gesamte Osten der Republik regelrecht boomen.


(Beifall bei der PDS)

Ein anderes Beispiel: Allein zwei große Banken haben

im vergangenen Jahr aus Veräußerungen einen steuer-
freien Gewinn von 3,5 Milliarden gezogen. Könnte man
darauf aufbauen, dass Ihre Steuerpolitik auch eine ver-
nünftige Beschäftigungspolitik wäre, dann müsste man
jetzt Signale zum Abbau der Arbeitslosigkeit erwarten dür-
fen. Welche Signale kommen aber von den Banken? Be-
schäftigtenabbau! Das passt nicht zusammen. Deshalb und
weil wir alle wissen, dass die Lohnsteuer nach wie vor den
größten Teil der direkten Steuern ausmacht, müssen wir et-
was dafür tun, dass die Binnenkaufkraft gestärkt wird.
Diese stärkt dann sowohl die Wirtschaft als auch den Staat.


(Beifall bei der PDS)


Meine Damen und Herren, auch dieser Jahreswirt-
schaftsbericht muss sich mit Blick auf die neuen Länder
prüfen lassen. Die PDS hat ihre Forderungen für die neuen
Länder selbstbewusst „Zukunftsfaktor Ost“ genannt. Die
CDU hat inzwischen davon einiges abgeschrieben. Wenn
wir über Chancen im Osten reden, müssen wir aber auch
die Realitäten wahrnehmen.

Leider verstetigt sich der Zuwachs des Bruttoinlands-
produkts im Osten bei nur einem Drittel des Westniveaus.
Das heißt, die Schere wird weiter auseinander gehen.
Wenn man dann noch weiß, dass die Unternehmensdichte
im Osten – nicht zu verwechseln mit der Cousinendichte,
Herr Bundeskanzler – nur ein Viertel des Westniveaus
ausmacht, dann wird deutlich, vor welchen großen He-
rausforderungen wir stehen. In den neuen Bundesländern
brauchen wir endlich Investitionen in Köpfe und neue
Technologien. Aber bei Ihnen hat sich offenbar die Logik
fortgesetzt, die bis 1998 vorherrschte: Vor den Auf-
schwung haben die Götter den Beton gesetzt.

Ich will aber auch nicht verhehlen, dass es erfreuliche
Entwicklungen gibt. Das Engagement auch dieser Koali-
tion für den Erhalt der Waggonbaustandorte in Ost-
deutschland verdient Anerkennung.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich empfinde es als unredlich von der Union, zuerst von
diesem Pult aus vom Kanzler zu fordern, er solle endlich
etwas tun, ihn dann aber, wenn er sich einmal engagiert,
zu beschimpfen. Das geht nicht zusammen.


(Beifall bei der PDS – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist aber typisch!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421801400
Kollege Claus, Sie
müssen allmählich zum Schluss kommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt war er gerade einmal bei einem positiven Punkt!)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1421801500
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Zum Schluss möchte ich noch
auf die dramatische Wirtschaftslage der Kommunen
verweisen. Deren lnvestitionen sind in den letzten Jahren
in Westdeutschland um ein Drittel und in den neuen Bun-
desländern sogar um die Hälfte zurückgegangen. Insofern
geht die Kritik des Bundesfinanzministers an Ländern
und Kommunen völlig daneben. Wem in einer so schwie-
rigen wirtschaftlichen Situation zum Thema Stabilitäts-
pakt nichts anderes als Sparen einfällt, der macht keine
zukunftsfähige Politik. Sparen allein bringt noch keine
Stabilität; man muss sich auch um Einnahmeerhöhungen
und die Verbesserung der Konjunktur bemühen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421801600
Herr Kollege Claus,
kommen Sie bitte zum Schluss.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1421801700
Meine Damen und Herren,
der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung ver-
kennt den Ernst der Lage. Er negiert die Chancen und




Roland Claus

21577


(C)



(D)



(A)



(B)


Hoffnungen im Lande. Er ist eine Wahlhilfe für die Union,
die sie wahrlich nicht verdient hat. Packen Sie die Pro-
bleme endlich an, damit die „ruhige Hand“ nicht zum Vor-
ruhestand führt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421801800
Ich erteile dem Bun-
desminister für Wirtschaft, Werner Müller, das Wort.

Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1421801900
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Mir ist bei der Rede
von Herrn Eichel aufgefallen, dass Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, immer dann besonders un-
ruhig werden, wenn Herr Eichel Ihnen einige bittere
Wahrheiten zu bedenken gibt. Mir ist insbesondere aufge-
fallen, dass Sie schlichtweg mit falschen Zahlen operie-
ren.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist das!)


Man kann sagen: Die Rede von Herrn Schlauch war laut,
aber sie war auch lauter.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen gestatten Sie, dass ich einige Gedanken von
Herrn Eichel noch einmal aufgreife.

Das Wachstum in diesen Monaten ist nicht das, was wir
alle uns wünschen. Wenn ich sage: Das Wachstum ist
nicht das, was „wir“ uns wünschen, dann meine ich die
Regierungsparteien. Denn Sie verfallen in einen Trend,
dieses Land bis zum 22. September schlechtzureden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist im Grunde völlig unverantwortlich.
Wir haben in den ersten vier Jahren der Regierung

Schröder – ich betone: in den ersten vier Jahren der Re-
gierung Schröder – eingedenk eines schlechten Jahres
2001 und keines allzu guten Jahres 2002 im Durchschnitt
1,6 Prozent Wachstum erzielt. Sie haben von 1992 bis
1998, in den letzten sieben Jahren Kohl, 1,3 Prozent Wirt-
schaftswachstum erzielt.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Das ist die Statistik. Ich finde es nicht in Ordnung, dass
Sie jetzt schon wieder gegen Ihre schlechten Wachstums-
zahlen protestieren. Das hätten Sie damals tun müssen.
Jetzt ist es Faktum.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich vergleiche einmal die 1,3 Prozent der letzten sieben
Jahre Kohl mit den 1,6 Prozent der ersten vier Jahre
Schröder. Wir haben gewaltige Unterschiede. Beispiels-
weise hatten wir in den ersten vier Jahren Schröder eine
Rezession der Baukonjunktur. Sie haben in den letzten

sieben Jahren Kohl fast jedes Jahr noch immense Sub-
ventionen in die Bauwirtschaft gegeben. Damals ist die-
ses schon mäßige Wachstum noch durch übermäßige Sub-
ventionierung der Bauwirtschaft getragen worden, deren
Ruinen wir jetzt begradigen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Unterschied ist folgender: Es ist Ihnen ge-
lungen, von 1992 bis 1998 – in den letzten sieben Jahren
Kohl – die Auslandsinvestitionen in diesem Land per-
manent nach unten zu treiben.


(Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau so ist es!)


Etwas, Herr Merz was Sie sagen, ist dezidiert falsch,
und Sie wissen, dass Sie das Falsche sagen: Seitdem diese
Bundesregierung regiert, hat sich das Volumen der Aus-
landsinvestitionen in Deutschland wieder verdoppelt, und
zwar im Schnitt der ersten vier Jahre Schröder von 25 Mil-
liarden Euro auf 50 Milliarden Euro,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und das, meine Damen und Herren, noch ohne den Voda-
fone-Fall. Ich habe bei der Verdoppelung der Auslandsin-
vestitionen in Deutschland den Vodafone-Fall nicht mit-
gerechnet. Aber es ist natürlich auch ein Merkmal für
diesen Standort, wenn Ausländer plötzlich in dieses Land
100 Milliarden Euro zusätzlich investieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die haben nicht investiert, die haben zugekauft!)


Woran liegt es, dass das Ausland in diesem Land wie-
der investiert? Es liegt daran, dass die Daten in diesem
Lande wieder international wettbewerbsfähig sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dank der Steuerreform für mittlere Betriebe und auch für
Kapitalgesellschaften ist es für Ausländer attraktiv, in die-
sem Lande zu investieren.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bei einer anderen Regierung!)


Ich will Ihnen deutlich sagen: Fahren Sie nicht fort mit
Überlegungen, die Unternehmensteuerreform für Kapi-
talgesellschaften zurückzudrehen!


(Zuruf von der CDU/CSU: Das will doch keiner!)


Wir würden einen für dieses Land positiven Prozess ka-
puttmachen. Sie müssen berücksichtigen, dass der weit
überwiegende Teil der Personengesellschaften in vielen
kleinen GmbHs organisiert ist.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Sie haben nicht einmal Ihre eigenen Zahlen im Kopf!)


Wir müssen in Deutschland aber auch Politik für
Großunternehmen machen.


(Beifall bei der SPD)





Roland Claus
21578


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Brüderle, Ihr dummes Gerede vom Monopolminister
lassen Sie ruhig irgendwo drucken. Wichtig ist mir Fol-
gendes: Wenn wir die großen Unternehmen, die 80 Pro-
zent ihres Umsatzes und 80 Prozent ihres Ergebnisses im
Ausland machen, nicht im Lande halten, bricht uns der
Mittelstand glatt weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen deutlich: Hören Sie
auf, das Land mit Überlegungen zu verunsichern, die Steu-
erreform für Kapitalgesellschaften rückgängig zu machen.

Ich bin dabei, das Wirtschaftswachstum von 1,6 Pro-
zent der Regierung Schröder mit den 1,3 Prozent der letz-
ten sieben Jahre der Regierung Kohl zu vergleichen. Das
Allerwichtigste, das Sie bedenken müssen, ist, dass wir in
den ersten vier Jahren der Regierung Schröder im Bun-
deshaushalt 100 Milliarden DM oder 50 Milliarden Euro
weniger in die Wirtschaft hineingepumpt haben. Wir ha-
ben der Wirtschaft abverlangt, dass sie wieder autonomer
wachsen muss. Wenn man permanent Subventionen in die
Wirtschaft streut, kann man Wachstum generieren. Nur,
wer bezahlt das eines Tages? Es bezahlen erstens die Kin-
der durch überhöhte Schulden und zweitens die Gesell-
schaft dadurch, dass jegliche private Wachstumskraft er-
lahmt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421802000
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1421802100
Herr Minister, Sie ver-
suchen – Sie tun sich damit sehr schwer –, ein positives
Bild von der Wirtschaftslage in der Bundesrepublik
Deutschland zu zeichnen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, absolut nicht!)


Mich würde interessieren, wie Sie die Tatsache beurteilen,
dass wir mit 36 000 Insolvenzen – insbesondere im mit-
telständischen Bereich, dem Sie das Wort reden – einen
Stand wie seit dem Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland in keinem Jahr vorher erreicht haben und
dass vor allen Dingen die Zahl der Existenzgründungen in
den letzten Monaten radikal zurückgegangen ist. Das ist
doch nicht auf die weltpolitische Wirtschaftslage zurück-
zuführen, sondern auf die verheerende Politik, die Sie in
der Bundesregierung mit zu verantworten haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Ahnung!)


Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Was war jetzt eigentlich die Frage?


(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat jeder verstanden!)


Ich kenne die Zahl der Insolvenzen. Die Zahl der Insol-
venzen ist im letzten Jahr ansteigend gewesen, sie war
aber noch nie so niedrig wie im Jahre 2000.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)


Wahrscheinlich haben wir das zu wenig verbreitet. Ich
darf Ihnen sagen: Die Zahl der Insolvenzen läuft Hand in
Hand mit der konjunkturellen Entwicklung. Ich mache
keinen Hehl daraus, dass die konjunkturelle Entwicklung
des letzten Jahres nicht die war, die sich ein Wirtschafts-
minister gewünscht hätte. Ich komme gleich noch darauf,
warum ich der festen Überzeugung bin, dass die konjunk-
turelle Entwicklung wieder nach oben gehen wird.

Im Moment geht es mir darum, zu zeigen, dass wir ein
insgesamt besseres und vor allem qualitativ wertvolleres
Wachstum haben, weil wir es im wesentlichen subven-
tionsfreier gestaltet haben. Ich weiß, dass das vielen in der
Wirtschaft nicht gefällt. Man ist zwar aus ordnungspoliti-
schen Gründen gegen Subventionen. Aber wehe, wir
streichen irgendwo auch nur eine Mark! Wir haben
100 Milliarden DM weniger ausgegeben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist das!)


Wir haben ein gutes Stück Doping aus dem Wachstums-
prozess herausgenommen und trotzdem mehr Wachstum
erzielt als Sie. Das sollten Sie würdigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421802200
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken?

Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir wollen den Minister weiter hören!)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1421802300
Herr Minister, ich hatte
nach den Zahlen für das Jahr 2001 und nicht nach denen
des Jahres 2000 gefragt. Für das Jahr 2000 haben Sie an-
dere Zahlen vorzuweisen als für das letzte Jahr. Mich be-
sorgt es, dass wir so viele Insolvenzen zu verzeichnen ha-
ben. Dahinter stehen menschliche Schicksale. Deshalb ist
es unsere Aufgabe, darüber zu reden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421802400
Herr Hinsken, Sie
wollten eine Frage stellen.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1421802500
Jawohl, Herr Präsi-
dent. – Da wir leider das Schlusslicht in Europa bilden,
habe ich – das erlaube ich mir – eine rote Laterne mitge-
bracht,


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Frage!)





Bundesminister Dr. Werner Müller

21579


(C)



(D)



(A)



(B)


die ich gerne dem Bundeskanzler aushändigen möchte,
weil er inzwischen europaweit zum Träger dieser Laterne
geworden ist.


(Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] begibt sich zur Regierungsbank und geht mit der Laterne zu seinem Platz zurück – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Hinsken hält die rote Laterne hoch! Hinskens eigene rote Laterne!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421802600
Herr Kollege
Hinsken, ich gestatte Ihnen das nicht. Sie haben im Übri-
gen auch keine Frage gestellt. Wir sollten diese Spielchen
sein lassen, Herr Hinsken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch eine lächerliche Aktion!)


Kollege Repnik, Sie sind der zuständige Geschäftsfüh-
rer. Könnten Sie bitte einschreiten? Dies ist eine Art des
parlamentarischen Umgangs, die ich nicht zulasse.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist das Niveau von Herrn Merz und Herrn Repnik! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Weiter im Text! – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Edmunds rote Laterne! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie können ruhig weiterreden, Herr Minister! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das müssen Sie schon dem Minister überlassen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder
dem Redner zuzuhören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Herr Hinsken, meine Damen und Her-
ren, wenn ich sagte, dass wir in den letzten sieben Jahren
der Regierung Kohl in Deutschland ein Wachstum von
1,3 Prozent erzielt haben – –


(Zurufe von der SPD: Lauter! – Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Wir verstehen die Regierung nicht mehr! – Gegenruf von der FDP: Das ist kein Wunder!)


– Ich versuche es noch einmal. Ist es jetzt besser?

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Zurufe von der SPD: Lauter! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die Technik entspricht dem Inhalt der Rede!)


Was war denn in der Laterne drin?

(Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Eine Kerze!)


Meine Damen und Herren, Herr Hinsken, wenn wir,
wie ich erwähnt habe, in den letzten sieben Jahren der Re-
gierung Kohl ein Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent
und in den ersten vier Jahren der Regierung Schröder ein
Wachstum von 1,6 Prozent erzielt haben, dann ändert bei-
des nichts an der Tatsache, dass wir damit schon seit 1992
unter den europäischen Ländern am unteren Ende liegen.
Dass Sie sich darüber lustig machen, dass wir seit 1992
am Ende der europäischen Wachstumsskala liegen, halte
ich ehrlich gesagt für einen Skandal.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Ich mache der SPD keinen Vorwurf daraus, dass sie Sie
seit 1992 nicht permanent geziehen hat, dass Sie die rote
Laterne in Europa trügen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist doch dümmliches Geschwätz! 1992 war kurz nach der deutschen Einheit!)


Wir, das heißt alle Kräfte unseres Landes, sollten unser
Land nicht permanent schlecht reden und in Europa in ei-
ner Weise positionieren, die die Bürgerinnen und Bürger
dieses Landes nicht verdient haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hier arbeitet jeder Bürger mindestens so hart wie Sie in
Ihrer Bäckerei, um das deutlich zu sagen. Wir sind auch,
wie gesagt, schon ein Stück nach vorne gekommen


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Mit dieser Politik nicht! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie haben alles platt gemacht!)


und werden auch weiter nach vorne kommen.
Wir zahlen einen Großteil für Europa ein, damit

zunächst einmal ein Drittel aller europäischen Länder
eine höhere Wachstumsrate erzielt als wir. Das zahlen wir
durch Transferleistungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist die Politik der früheren Bundesregierung gewe-
sen, sich in Europa und in der Welt keinerlei Energiebasis
aufzubauen. Großbritannien profitiert allein schon von
den Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung. Im-
mer wenn die Energiepreise steigen, sinkt bei uns die
Wachstumsrate. In Frankreich und in Großbritannien da-
gegen steigt sie dann an, weil sie sich rechtzeitig um Öl-
quellen gekümmert haben. So hat vieles seine Gesichts-
punkte.

Dass es völlig aberwitzig ist, dieses Land so schlecht
zu reden, will ich Ihnen an einem Beispiel deutlich ma-
chen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die Regierung, nicht das Land!)


Selbst wenn es im Welthandel nur eine geringe Expan-
sion gibt, ist die deutsche Volkswirtschaft in der Lage,
ihren Anteil am Weltmarkt zu vergrößern. Wenn der




Ernst Hinsken
21580


(C)



(D)



(A)



(B)


Welthandel um 10 Prozent zunimmt, dann wächst der
deutsche Export um 18 Prozent. Wenn der Welthandel,
wie es in den vergangenen ein oder zwei Jahren der Fall
war, gar nicht mehr wächst, dann nimmt der deutsche Ex-
port trotzdem noch um 7 Prozent zu. Die Aussage, dieses
Land sei nicht international wettbewerbsfähig, wird allen
unseren Unternehmen und Mitarbeitern nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann noch der Quatsch mit der roten Laterne! Herr
Hinsken, hängen Sie sich die doch in Ihre Bäckerei!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen, was die Politik dieser Bundesregierung
von Ihrer, die Sie 16 Jahre lang gemacht haben, unter-
scheidet: Wir machen mit der Notwendigkeit Ernst, dass
sich der Staat ein Stück weit aus Wirtschaft und Gesell-
schaft zurückzieht.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo denn?)

Weniger Staat heißt – das sollten Sie sich merken – weni-
ger nach dem Staat zu rufen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Deswegen steigt die Staatsquote, oder was?)


Es ist doch bezeichnend, dass diejenigen, die 16 Jahre
lang unter Politik nur das Auflegen von Konjunkturpro-
grammen verstanden haben und die jedwedes Gespür für
langfristige Notwendigkeiten haben vermissen lassen, als
Allererste nach Konjunkturprogramm rufen, wenn es
– mehr ist es im langjährigen Vergleich nicht – eine leichte
konjunkturelle Eintrübung gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weniger Staat heißt mehr private Initiative zu generie-
ren. Weniger Staat heißt auch deutlicher an die Eigenver-
antwortung der Bürger zu appellieren.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das, was Sie machen, ist eines Wirtschaftsministers unwürdig! Dummes Geschwätz!)


Unsere Gesellschaft ist in dieser Hinsicht ein Stück weit
entwöhnt. Wir müssen der Gesellschaft beibringen – das
ist eine relativ schwierige Phase –, dass der Staat nicht al-
les kann.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ist das der Grund, warum die Staatsquote steigt?)


Aus diesem Grunde werden wir die Staatsquote senken.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wann denn?)


– Was soll das heißen? Die Staatsquote ist doch schon
deutlich niedriger als in der Vergangenheit. Herr Merz, ich
habe Ihnen schon vorhin gesagt, dass es unter Ihrem Ni-
veau ist, wenn Sie bei den Zahlen lügen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die Staatsquote steigt!)


Sie wissen doch genau, wie die Zahlen ausgesehen haben,
als wir die Regierung übernommen haben. Sie wissen,
dass die Indikatoren permanent, von Jahr zu Jahr, besser
werden, selbst wenn das Wirtschaftswachstum im Mo-
ment nicht so hoch ist, wie wir es uns wünschen.

Das Wirtschaftswachstum wird wieder steigen. Ich
kann Ihnen natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob es im
zweiten oder erst im dritten Quartal steigen wird. Tatsa-
che ist jedenfalls: Die Läger sind weitestgehend geräumt.
Ersatz- und Erhaltungsinvestitionen müssen langsam wie-
der getätigt werden. Die Lohnstückkosten sind seit Jahren
konstant. Die Energiepreise sind niedrig. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es Ihnen nicht gelingen wird,
unsere Wirtschaft in einen abwartenden Zustand quasi
hineinzureden und ihr weiszumachen, dass sie später et-
was davon haben wird. Wir werden weiterregieren.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421802700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Matthias Wissmann, CDU/CSU-Fraktion.


Matthias Wissmann (CDU):
Rede ID: ID1421802800
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Das, was wir gerade gehört ha-
ben, war symptomatisch: Der Bundeswirtschaftsminister
hat zu Beginn seiner Rede gesagt, er greife Gedanken des
Kollegen Eichel auf. Dann hat er eine reine Verteidi-
gungsrede gehalten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Quatsch! So ein Unsinn!)


Er hat keinen einzigen neuen Gedanken zur Wirtschafts-
politik vorgetragen, kein wirtschaftspolitisches Konzept
entwickelt und auch keine Perspektiven aufgezeigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erzählen Sie doch einmal etwas!)


Ich möchte Sie gar nicht persönlich angreifen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber erst beleidigen!)

Aber in der Sache besteht das Problem dieser Regierung
seit dreieinhalb Jahren darin, dass die Wirtschaftspolitik
zum Wurmfortsatz einer schlechten Finanzpolitik ver-
kümmert ist und dass Ihr Bundeswirtschaftsministerium
keinen eigenen kreativen wirtschaftspolitischen Ansatz
hat, mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das zeigt sich auch beim Umgang mit dem Thema
Wettbewerbsfähigkeit. Natürlich gibt es in Deutschland
– Gott sei Dank – Millionen tüchtiger Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sowie noch immer viele leistungsbe-
reite Unternehmer. Aber wenn wir über Wettbewerbs-
fähigkeit sprechen, Herr Bundeswirtschaftsminister, dann
– das müssten Sie in Ihrem Amt eigentlich wissen – muss
auch darauf hingewiesen werden, dass im letzten Jahr ein
Drittel aller kleinen und mittleren Unternehmen über-




Bundesminister Dr. Werner Müller

21581


(C)



(D)



(A)



(B)


haupt keinen Gewinn erwirtschaftet hat. Im letzten Jahr
hatten wir die höchste Insolvenzquote innerhalb des letz-
ten Jahrzehnts und die niedrigste Anzahl an Unterneh-
mensgründungen. Natürlich hat niemand die Absicht, die
großen Unternehmen, die sich in einem harten internatio-
nalen Wettbewerb behaupten müssen, steuerlich stärker
zu belasten. Die Frage ist nicht, ob die großen Unterneh-
men steuerlich stärker belastet werden sollen, sondern,
wann man endlich auch den kleinen und mittleren Unter-
nehmen den Spielraum gibt, der sie in die Lage versetzt,
zu investieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, wenn wir uns über die
Arbeitslosigkeit – hoffentlich gemeinsam – Sorgen ma-
chen, dann müssen wir doch auch zur Kenntnis nehmen,
dass im Mittelstand – das zeigen die Erfahrungen der letz-
ten beiden Jahrzehnte – neun von zehn neuen Arbeitsplät-
zen geschaffen werden. In den kleinen und mittleren Be-
trieben werden 80 Prozent aller Lehrlinge ausgebildet.
Während in den 90er-Jahren in den Großunternehmen
– ich sprach vom internationalen Wettbewerb – im Schnitt
die Beschäftigung abgebaut wurde, sind im Mittelstand
per saldo 2 Millionen neue Jobs entstanden. Deswegen
hätte ich eigentlich erwartet, dass der Bundeswirtschafts-
minister etwas dazu sagt, wie in den nächsten Jahren der
steuerliche Spielraum für die kleinen und mittleren Un-
ternehmen erweitert, die Abgabenlast reduziert und die
riesige Bürokratielast auf ein erträgliches Maß zurückge-
schraubt werden soll. Wo ist eigentlich Ihre Stimme, Herr
Bundeswirtschaftsminister? Sie müssten ein Leuchtturm
der sozialen Marktwirtschaft sein und gegen die Bürokra-
tiewut angehen. Das wäre Ihre Aufgabe. Stattdessen hal-
ten Sie Verteidigungsreden, die kaum begründet sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will Ihnen eine Zahl nennen, die Ihnen jeder Hand-

werksbetrieb bestätigen kann: Im statistischen Durch-
schnitt muss inzwischen jeder Handwerksbetrieb im Jahr
324 Stunden für das Durchforsten staatlicher Verwal-
tungsvorschriften aufwenden; das entspricht 40,5Arbeits-
tagen oder Betriebskosten in Höhe von rund 15 500 Euro.
Sie haben diese Bürokratielast nicht reduziert, sondern
mit dem unsinnigen 630-Mark-Gesetz bzw. jetzt 325-
Euro-Gesetz noch verstärkt,


(Susanne Kastner [SPD]: Jetzt kommt wieder die alte Leier!)


mit dem Scheinselbstständigkeitsgesetz den Betrieben
weitere Lasten aufgebürdet und mit der Einführung des
Teilzeitanspruchs weitere Bürokratie aufgehäuft. Sie ge-
hen diesen Weg der Regulierung weiter. Wenn wir Per-
spektiven für unser Land aufzeigen wollen, müssten wir
über ein Entrümpelungsprogramm reden und für Ent-
bürokratisierung sorgen, um vor allen Dingen dem Mit-
telstand Luft zum Atmen zu verschaffen. Erst dann kann
er neue Arbeitsplätze schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


1998 wurden in den neuen Ländern per saldo noch rund
19 000 Betriebe gegründet, in den ersten zehn Monaten
des vergangenen Jahres waren es nach Angaben des Sta-
tistischen Bundesamtes nicht einmal mehr 3 000. Das ist
ein Minus von mehr als 80 Prozent. Hiermit wird die Lage
in den neuen Bundesländern beschrieben; auch in den al-
ten Bundesländern ging die Zahl derjenigen, die den
Schritt in die Selbstständigkeit wagten, deutlich zurück
und die Zahl der Insolvenzen – Friedrich Merz hat davon
gesprochen – stieg dramatisch an.

Wenn man über Wachstumszahlen spricht – das müss-
ten Sie, Herr Müller, als Ökonom eigentlich wissen –,
dann macht der Vergleich der Nationen nur dann einen
Sinn, wenn man einen Blick auf die direkten Nachbarn
wirft. In den 90er-Jahren stellte unser Wachstum des rea-
len Bruttosozialproduktes zwar nicht die Spitze unter den
Nationen dar – natürlich nicht –,


(Dr. Werner Müller, Bundesminister: Am Ende!)


wir waren in den 90er-Jahren im Mittelfeld.

(Joachim Poß [SPD]: Am Ende!)


Laut offizieller Statistik der Europäischen Kommission
von Eurostat lagen wir im Mittelfeld,


(Joachim Poß [SPD]: Nein!)

weil es in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und vie-
len anderen alten Bundesländern ein stärkeres Wachstum
gab als in den neuen Bundesländern. Deswegen ergibt
sich die Wahrheit erst aus dem Vergleich. Dasselbe euro-
päische statistische Amt, das uns in den 90er-Jahren im
Mittelfeld gesehen hat,


(Joachim Poß [SPD]: Wir gucken uns die genau an!)


sagt uns inzwischen ganz klar – das kann keiner vertu-
schen –: Wir sind inzwischen Schlusslicht beim Wachs-
tum in Europa. Unter den großen Industrienationen sind
wir das Schlusslicht in Sachen Arbeitslosigkeit. Darüber
müssen wir besorgt sein; denn aus dieser Position müssen
wir heraus, wenn wir eine vernünftige Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik betreiben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Friedrich Merz hat zu Recht davon gesprochen, dass
uns vor allem die Lage in den neuen Bundesländern be-
drückt. Der Arbeitsamtsbezirk Potsdam hat mit 14,7 Pro-
zent die niedrigste Arbeitslosenquote in Ostdeutschland.
Sie ist damit fast viermal so hoch wie die des Arbeitsamts-
bezirks Freising, dessen Arbeitslosenquote bei 4 Prozent
liegt.


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Was soll der Vergleich?)


Von den 20 besten Arbeitsamtsbezirken Deutschlands
– das entnehme ich der aktuellsten Statistik – stammen
elf aus Baden-Württemberg und neun aus Bayern. Der
Abstand zwischen den alten und neuen Bundesländern
wird ständig größer. Weder Herr Eichel noch Herr Müller




Matthias Wissmann
21582


(C)



(D)



(A)



(B)


verwenden einen Gedanken daran, wie wir das ändern
können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Friedrich Merz [CDU/CSU]: So viel zum Thema Chefsache Ost!)


Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, den wir angehen
müssen, um die Verhältnisse neu zu gestalten: In jedem der
neuen Bundesländer geben wir über die Bundesanstalt für
Arbeit mehr Geld aus dem Bundeshaushalt für die Sub-
ventionierung des zweiten Arbeitsmarkts als für Investi-
tionen in die Zukunft aus, das heißt für Investitionen in
Forschung und Infrastruktur, wie Bahn, Straße und kom-
munale Stadterneuerung. Der konsumtive Anteil der Aus-
gaben im Bundeshaushalt wurde immer größer, während
die Investitionsquote immer geringer wurde. Volkswirt-
schaftlich gesagt, ist das eine Fehlallokation von Ressour-
cen, eine falsche Weichenstellung hinsichtlich der Arbeits-
plätze und der Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das müssen und werden wir ändern. Deswegen redet
jedenfalls bei uns – anders als es in einem Teil der SPD
der Fall ist – keiner von einem Konjunkturprogramm key-
nesianischer Art, sondern von mehr Marktwirtschaft,
mehr Flexibilität, weniger Bürokratie, einer sinnvollen
Steuerpolitik sowie einer Deregulierung des Arbeits-
markts, an die Sie nicht herangegangen sind.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Nichts als Worthülsen, Herr Wissmann!)


Wir reden von einer Entriegelung und Entbürokratisie-
rung und nicht von einem Konjunkturprogramm, das für
die Zukunft neue Schulden vorsieht.


(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Das ist doch nur heiße Luft, Herr Wissmann! Sie haben doch nichts getan!)


Die unbeachteten Reformfelder zur Schaffung von
mehr Beschäftigung sind bekannt. Nahezu alle renom-
mierten Fachleute mahnen Reformen in dieselbe Rich-
tung an: mehr Markt, mehr Eigenverantwortung, mehr
Flexibilität. Der Benchmarking-Bericht, der im Bündnis
für Arbeit von Arbeitgebern, Fachleuten und Gewerk-
schaften erarbeitet wurde, legt den Finger auf genau diese
Wunde. Er besagt, dass zwei große Reformen angegangen
werden müssen:


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Was heißt das denn jetzt?)


die Deregulierung des Arbeitsmarkts und die Moderni-
sierung des Gesundheitswesens. Warum muss eigentlich
das, was in einer Arbeitsgruppe des Bündnisses für Arbeit
erarbeitet worden ist und vom Bundeskanzler offensicht-
lich gar nicht mehr ernst genommen wird, von der
Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht werden? Weil Sie es
sich in der Regierung nicht einmal mehr zutrauen, die Re-
formvorschläge Ihrer eigenen Arbeitsgruppen in prakti-
sche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik umzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Unglaublich!)


Hierin liegt der Reformbedarf für die kommenden Jahre.
Der Bundesfinanzminister sprach in seiner Rede von

– ich zitiere – „einem Jahr des neuen Aufschwungs“. Der
Titel des aktuellen Jahreswirtschaftsberichts lautet: „Vor
einem neuen Aufschwung“. Man findet in diesem Bericht
auf Seite 13 die offizielle Wachstumsprognose für 2002:
0,75 Prozent Zuwachs des realen Bruttosozialprodukts.
Das ist ein halbes Prozent weniger als noch im Dezember
vom BMF verkündet wurde. Wie anspruchslos sind Sie
am Ende Ihrer Regierungszeit geworden? Wie wenig ha-
ben Sie sich zur Steigerung von Wachstum und Beschäf-
tigung vorgenommen? Was bezeichnen Sie inzwischen
als Aufschwung? – Sie verlassen sich auf die Vereinigten
Staaten und tun selbst in Deutschland nichts, aber auch
gar nichts, um die notwendigen Befreiungen, Anstöße und
Impulse zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, man muss für diese Bewer-

tung nicht von der CDU kommen. Wenn man die gesamte
internationale Fachpresse zu Rate zieht – den „Econo-
mist“, das „Wall Street Journal“, die „Financial Times“ –,
den Sachverständigenrat und die OECD fragt,


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Fragen Sie mal Menschen mit gesundem Menschenverstand!)


Herr Eichel, Herr Müller, dann stellt man fest, dass das
Urteil über Ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik eindeutig
ist: Kein Programm für die Zukunft. Deswegen sind Sie
auch als Regierung nicht zukunftsfähig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nur Worthülsen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1421802900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.


Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421803000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Wissmann, Ihr Gedächtnis muss verdammt kurz sein,
wenn Sie die internationale Finanzpresse hier bemühen,
um uns vorzuhalten, was in Deutschland falsch läuft. Der
Begriff „the German disease“, die deutsche Krankheit,
und das Wort „Reformstau“ wurden in Ihrer Regierungs-
zeit geboren,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die „Wirtschaftswoche“ von heute: „Kranker Mann Europas“!)


weil damals die Wiedervereinigung in Deutschland durch
Schulden und durch einen Anstieg der Lohnnebenkosten
und damit durch einen Anstieg der Lohnstückkosten
finanziert wurde, der Arbeitslosigkeit zuhauf produziert
hat. Das ist die Wahrheit.

Wir sind diesem Trend mit harten Maßnahmen, mit
finanzpolitischer Solidität,


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo denn?)





Matthias Wissmann

21583


(C)



(D)



(A)



(B)


mit einem Steuersenkungsprogramm und mit dem Ab-
schied von der umlagefinanzierten Rente hin zur Kapital-
deckung begegnet. Diese drei großen Reformprojekte der
letzten drei Jahre haben dazu beigetragen, dass wir in der
Tat trotz wirtschaftlicher Talsohle zurzeit weniger Ar-
beitslosigkeit und mehr Beschäftigung haben als vor vier
Jahren. Das ist die Wahrheit. Wir haben etwas getan; da-
ran kommen Sie nicht vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!)


Sie haben in Deutschland von 1992 bis 1998 – in Ihrer
Regierungszeit – unterdurchschnittliche Wachstumsra-
ten erzielt, als in Amerika der in der jüngeren Geschichte
der USAam längsten andauernde Konjunkturaufschwung
überhaupt herrschte. Wir haben in unserer Regierungs-
zeit im Schnitt ein höheres Wachstum, obwohl die US-
Konjunktur eingebrochen ist. Jeder ökonomisch sachver-
ständige Mensch weiß genau, dass vor allem die Ver-
flechtung großer international tätiger deutscher Konzerne
mit dem US-Markt automatisch dazu führt, dass bei
1 Prozent Wachstumsrückgang in den USAdas Wachstum
in Deutschland um 0,4 Prozent nach unten gezogen wird,
stärker als in jedem anderen Land in Europa. Das Schluss-
licht, die rote Laterne, Herr Hinsken, hatten wir 1997, zu-
sammen mit Italien.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt haben wir sie!)


Kohl war Kanzler, Schäuble Fraktionsvorsitzender. 1997
war es genauso. Der Finger, mit dem Sie jetzt auf uns zei-
gen, zeigt eigentlich auf Sie. Das ist die Situation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein! Nein!)


Zur Steuerpolitik, meine Damen und Herren: Alle Ver-
treter der Wirtschaftsverbände wissen doch genau, dass
im Kernbereich der Finanzpolitik – das sagen selbst der
Deutsche Industrie- und Handelskammertag und der
BDI – nach wie vor gilt: Konsolidieren und die Bürgerin-
nen und Bürger an der Konsolidierung des Staates da-
durch teilhaben lassen, dass man Steuern senkt, ist vom
Grundansatz her richtig. Das Wort „sparen“, das in unse-
rer Gesellschaft inzwischen mit Hans Eichel verbunden
wird, ist ein Wert an sich, weil jeder weiß, dass nur eine
solche solide Politik langfristig tatsächlich zu einer Sen-
kung der Steuer- und Abgabenlast führt.

Auch bei den Lohnnebenkosten müssen wir ganz deut-
lich konstatieren, dass wir in Deutschland tatsächlich erst-
mals am Schluss einer Legislaturperiode weniger Lohn-
nebenkosten als Abzug vom Bruttolohn haben als in allen
Legislaturperioden vorher.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Herr Metzger, weil Sie sie heruntersubventionieren mit Steuern!)


Stichwort „Ökosteuer“. Die Ökosteuer hat auch posi-
tive Beschäftigungseffektive. Wir haben durch die Art der
Umfinanzierung dazu beigetragen, dass diese Steuer nicht
im Staatssäckel verschwindet, sondern an die Renten-

versicherung weitergeleitet wird. In den letzten drei Jah-
ren haben wir den Zuschuss an die Rentenkasse um in-
zwischen 30 Milliarden DM oder 15 Milliarden Euro ge-
steigert. Dadurch waren die Beitragssenkungen bei der
Rentenversicherung möglich. Das ist eine Wahrheit, die
Sie nicht gern hören. Vielleicht hören Sie jetzt aber gern,
dass Sie gegen diese Steuerart früher Amok gelaufen sind.
Plötzlich haben Stoiber und die gesamte CDU/CSU ge-
merkt: Entweder müssen wir die Renten kürzen oder die
Mehrwertsteuer um 4 Prozent erhöhen, wenn wir, was wir
den Wählern versprechen wollten, die Ökosteuer zurück-
nehmen würden. Die Erkenntnis der Union steht in kei-
nem Verhältnis zu dem Aufstand, den sie fast ein Jahr-
zehnt lang gegen diese Steuerart gemacht hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das sollten Sie auch einmal bedenken. Ihr Amoklauf ge-
gen die Ökosteuer ist zu einem Rohrkrepierer geworden.

In einer jetzt wieder sachlicher gewordenen Debatte
möchte ich durchaus sagen, dass wir uns in Deutschland
nicht damit abfinden können, dass wir bei vergleichs-
weise guten wirtschaftlichen Wachstumsraten einen ver-
gleichsweise geringen Beschäftigungsaufbau haben.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)


Das ist ein Problem, das es in Deutschland aber schon seit
Jahrzehnten gibt.

Ein wichtiges Reformpaket betrifft natürlich den Ar-
beitsmarkt. Dieses Reformpaket haben auch der Bun-
deskanzler und Vertreter der Regierungskoalition be-
nannt. Wir werden in einer Konzeptdebatte, die wir mit
den Wählerinnen und Wählern in diesem Jahr führen
müssen, sagen, dass durch die Zusammenlegung von Ar-
beitslosen- und Sozialhilfe ein soziales Sicherungssystem
generiert wird, das die Anreize künftig so setzt, dass Er-
werbsfähige Arbeit auch tatsächlich annehmen. Dies ist
ein Reformprojekt, das natürlich die Eigenverantwortung,
von der auch der Bundeswirtschaftsminister hier geredet
hat, stärken soll. Dieses Reformprojekt kann man sieben
Monate vor der Bundestagswahl aber nicht aus dem
Ärmel schütteln. Dafür ist eine Gemeindefinanzverfas-
sungsreform nötig, damit nicht der Eindruck entsteht,
dass der Bund den Kommunen 13 Milliarden Euro Ar-
beitslosenhilfe vor die Tür kippen würde.

Diese Debatte sollte dazu führen, dass man erkennt,
dass den Leuten in Wahlkämpfen nicht ein Mehr an staat-
licher Leistung versprochen werden kann. Der Sozialstaat
ist langfristig nur dann bezahlbar, wenn er sich auf die
Bedürftigen konzentriert und keine Mitnahmeeffekte ge-
neriert. Dieser Bereich gehört zur Reformagenda des
nächsten Jahres.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Es ist keine Frage, dass wir mit Sicherheit im Bereich

der Gesundheit eine Debatte führen müssen, damit das
System künftig transparent wird, Rechnungen für Kas-
senpatienten selbstverständlich werden und das System
dadurch unter Wettbewerb gestellt wird, dass die All-
macht der kassenärztlichen Vereinigungen gebrochen




Oswald Metzger
21584


(C)



(D)



(A)



(B)


wird und direkte Verträge von Leistungserbringern mit
den Krankenkassen möglich werden.


(Beifall des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das sind Reformszenarien, über die wir mit der Bevöl-
kerung diskutieren müssen. Es wäre falsch, den Kopf
nach dem Motto wegzudrehen: Wir haben schon alles
richtig gemacht. Es steht noch eine Vielzahl von Refor-
men an; diese Koalition hat die Kraft dazu.

Wir werden über Reformszenarien in Deutschland re-
den. Angesichts der Debatte müssen wir uns dabei natür-
lich darüber im Klaren sein – das gehört auch zum Jah-
reswirtschaftsbericht –, dass man, wenn im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik in Europa neue sicher-
heitspolitische Leitlinien mit den europäischen Partnern
beschlossen werden, zum Beispiel auch die Wehrpflicht
in einem anderen Licht sehen muss. Diese Erkenntnis
macht inzwischen ja nicht einmal mehr vor der CDU/CSU
Halt, wie ich erfreut festgestellt habe. Selbst der Bundes-
wehrverband verabschiedet sich derzeit von der Wehr-
pflicht. Die Reduzierung des Zivilpersonals bei den
Kreiswehrersatzämtern und die Erhöhung der Deckungs-
beiträge durch die Absenkung der Personalkosten bei der
Bundeswehr werden dazu führen, dass Mittel für die not-
wendigen Investitionen in diesem Bereich zur Verfügung
stehen. Auch das ist ein Reformszenario.

Schauen wir über den heutigen Tag hinaus auf den
6. März! Wenn Karlsruhe das Urteil zur Rentenbesteu-
erung spricht und uns als Gesetzgeber eine Gleich-
behandlung von Renten und Pensionen aufgibt, dann wis-
sen wir, dass die nachgelagerte Besteuerung der Renten,
die sukzessive eingeführt wird – dafür werden im Gegen-
zug aber die Altersvorsorgeleistungen und die Versiche-
rungsbeiträge steuerfrei gestellt –, ein weiteres Reform-
projekt der nächsten Legislaturperiode sein wird.

Ich lade Sie alle ein, einmal aus Ihren politischen
Schützengräben herauszukommen und über Lösungs-
ansätze wirklich konzeptionell und nicht polemisch zu
diskutieren. Denn nur dann können wir das deutsche
Wahlvolk ernst nehmen, das die Schnauze voll hat von ei-
ner Politik, die im Wahljahr im Bundestag und auf den
Straßen und Plätzen dieser Republik viel zu vordergrün-
dig argumentiert. Die Leute wissen, dass die Rückführung
von Ansprüchen an den Staat im Einzelfall Leistungsbe-
schränkung, aber insgesamt Gewinn für die gesamte
Volkswirtschaft bedeutet, weil Steuern und Abgaben nur
sinken können, wenn der Sozialstaat auf die Bedürftigen
konzentriert wird und in unserer Wirtschaft mehr Frei-
räume dadurch entstehen, dass die soziale und ökolo-
gische Marktwirtschaft zum Durchbruch kommt.

Wir als Grüne werden in diesem Jahr die Konzept-
diskussion führen. Ich denke, auch die anderen Parteien
sind gut beraten, im Wahljahr eine Debatte über konzep-
tionelle Reformen zu führen; denn das würde bedeuten,
die Bevölkerung, das Wahlvolk im besten Sinn ernst zu
nehmen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421803100
Ich erteile
das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt. Sie spricht für
die Fraktion der CDU/CSU.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1421803200
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! So viel Gesundbeten und
Schönfärben, so viel Realitätsverlust und Wahrnehmungs-
störungen,


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Wie bei Ihnen!)

wie heute vonseiten der Regierung in dieser Debatte zu
vernehmen waren, habe ich in einer wirtschaftspoli-
tischen Debatte noch nicht erlebt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Alles Halluzinationen!)


Die Menschen, die diese Debatte verfolgt haben, müssen
sich wirklich die Augen reiben


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja, natürlich! Das war doch peinlich, was Herr Merz da gesagt hat!)


und sich fragen, von welcher wirtschaftspolitischen Da-
tenlage in welchem Land die Regierungsmitglieder ge-
sprochen haben. Sie müssen denken, das war ein anderes
Land und nicht Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn alles so gut wäre, wie Herr Wirtschaftsminister

Müller es dargestellt hat, warum sind dann die Daten so
schlecht? Warum spüren die Menschen dann so viel Ne-
gatives? Warum haben wir dann nicht, wie versprochen,
unter 3,5 Millionen Arbeitslose, sondern über 4,3 Mil-
lionen Arbeitslose?


(Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es! – Johannes Kahrs [SPD]: Wo bleiben denn Ihre Konzepte? Haben Sie überhaupt welche? Sie haben immer noch nichts Zukunftsweisendes gesagt!)


Bei den 4,3 Millionen bleibt es ja nicht, sondern Sie müs-
sen eigentlich noch die 1,7 Millionen hinzurechnen, die
nicht in der Statistik, aber sehr wohl ebenfalls ohne Be-
schäftigung sind.

Warum haben wir dann eine steigende Zahl von Insol-
venzen? Warum haben wir eine steigende Inflationsrate?
Warum haben wir steigende Sozialabgaben? Das alles
spüren die Menschen im Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Dass Sie keine Inhalte haben, spüren die Menschen! Sie haben immer noch nichts gesagt!)


Sie spüren natürlich auch das sinkende Wachstum. Das ist
nichts Theoretisches, sondern das ist beispielsweise auf-
grund der Insolvenzen, der Auftragslage der Unterneh-
men und damit der Beschäftigungssituation jedes Einzel-
nen nachvollziehbar.

Warum haben wir dann den blauen Brief von Brüssel
angedroht bekommen?


(Johannes Kahrs [SPD]: Wegen Ihrer Schulden! Sie haben 16 Jahre nichts gemacht!)





Oswald Metzger

21585


(C)



(D)



(A)



(B)


Auch wenn er durch den massiven Einsatz des Bundes-
kanzlers noch abgewimmelt werden konnte, war er sach-
lich gerechtfertigt. Mit 2,7 Prozent Defizitquote sind wir
an der Obergrenze.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn alles so gut wäre, wie von Ihnen dargestellt, dann
hätten wir diese schlechten Daten nicht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo bleiben denn Ihre Konzepte?)


– Es wäre besser, wenn Sie nicht immer nur so blöd da-
zwischenreden und immer das Gleiche sagen würden,
sondern bereit wären, eine ehrliche Bestandsanalyse und
eine Ursachenanalyse vorzunehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn Herr Metzger davon spricht, das sei alles inter-
national bedingt und nicht unbedingt hausgemacht,


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo leben Sie denn?)

dann lassen Sie mich darauf hinweisen: Natürlich ist die
Situation hausgemacht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber von Ihnen!)

Wenn sie international verursacht wäre, dann wäre sie in
allen anderen europäischen Ländern genauso.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Warum ist sie nicht so? In allen anderen europäischen
Ländern sind Sozialreformen durchgeführt worden,


(Johannes Kahrs [SPD]: Bei Ihnen ist 16 Jahre nichts passiert!)


ist der Arbeitsmarkt flexibilisiert worden und eine Steuer-
reform gemacht worden, die den Namen wirklich verdient
und die alle entlastet hat, nicht nur die Großen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo bleibt denn Ihr Konzept? – Gegenruf von der CDU/CSU: Darf man hier denn ständig blöken?)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421803300
Herr Kol-
lege Kahrs, Sie waren doch hier oben gerade so schön
friedlich.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1421803400
Es ist immer der
Gleiche, Herr Präsident. Es lohnt sich gar nicht, auf ihn
einzugehen; bei dem ist Hopfen und Malz verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Er hat gekokst!)


Nun hat der Herr Finanzminister auch in dieser Debatte
wieder seine Steuerreform gelobt. Er hat davon gespro-
chen, dass diese Steuerreform zu einer Stärkung der In-
vestitionskraft geführt habe. Herr Kollege Schlauch hat
von der „ambitioniertesten Steuerreform“ aller Zeiten ge-
sprochen. Wenn dem so ist, dann muss ich fragen: Wo sind
die Investitionen? Wo ist die sich daraus ergebende Be-
schäftigung? Die Konsequenz Ihrer Steuerreform ist

doch, dass im Jahre 2001 die Kapitalgesellschaften nicht
nur keine Körperschaftsteuer gezahlt haben, sondern so-
gar noch 400 Millionen Euro zurückbekommen haben.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hat es noch nie gegeben!)


Im Jahr 2000 haben sie noch 23 Milliarden Euro Körper-
schaftsteuer gezahlt. Das ist die Konsequenz Ihrer Steuer-
reform.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo bleiben denn Ihre Konzepte?)


Sie haben, wie Sie selbst gesagt haben, für die Per-
sonenunternehmen und für den Großteil des Mittelstandes
im Rahmen der Steuerreform kein Geld mehr gehabt.
Geld hatten Sie nur für die Kapitalgesellschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eine der wesentlichen Ursachen für die Wachstums-
schwäche liegt darin, dass gerade der Mittelstand ver-
gessen und bewusst vernachlässigt wurde.


(Johannes Kahrs [SPD]: Den Sie 16 Jahre vernachlässigt haben!)


Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie Sie
sich bei unseren letzten Diskussionen im Vermittlungs-
ausschuss gewunden haben, notwendige Verbesserungen
für den Mittelstand auf den Weg zu bringen. Sie haben bei
der Reinvestitionsrücklage und bei dem Mitunternehmer-
erlass zusätzliche Restriktionen und Auflagen und da-
mit zusätzliches Misstrauen geschaffen, aber nicht die
Gleichstellung von Personengesellschaften und Kapital-
gesellschaften herbeigeführt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr! – Lothar Mark [SPD]: Sie sagen „Sie“ und schauen die CDU/CSU an!)


Deshalb ist es dringend notwendig, den Mittelstand und
die Personenunternehmen frühzeitiger, als Sie es geplant
haben, zu entlasten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Simone Violka [SPD]: 16 Jahre nichts getan!)


Man muss sagen, es ist fast eine Märchenstunde, wenn

(Johannes Kahrs [SPD]: Allerdings! Sie erzählen hier Märchen!)

man sich das vor Augen führt, was vonseiten der Koaliti-
onsabgeordneten und Regierungsmitglieder heute gesagt
wurde. Ich möchte Sie deshalb bitten, ein wenig zu-
zuhören, damit auch Sie verstehen, welchen Lügen und
Unwahrheiten Ihrer Regierung Sie selbst aufsitzen.

Im Jahreswirtschaftsbericht 2001 ging man noch von
einem Wachstum für das Jahr 2001 von 2,75 Prozent aus.
Fakt ist, dass nur 0,6 Prozent erreicht wurden. Diese Si-
tuation ist das Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik und nicht
gottgegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [FDP])





Gerda Hasselfeldt
21586


(C)



(D)



(A)



(B)


Ende des letzten Jahres wurde von der Regierung für
das Jahr 2002 ein Wachstum von 1,25 Prozent prognos-
tiziert und für den Haushalt 2002 zugrunde gelegt. Der
Sachverständigenrat hatte aber zur gleichen Zeit gesagt,
dass nicht 1,25 Prozent, sondern allenfalls 0,7 Prozent er-
reicht würden. Trotzdem sind Sie bei Ihrer Prognose von
1,25 Prozent geblieben. Wenige Wochen danach haben
Sie im Januar dieses Jahres den Jahreswirtschaftsbericht
vorgelegt. Darin gehen Sie von einem Wachstum von
0,75 Prozent aus.

Dazu fallen mir zwei Dinge ein: Erstens. Der Haushalt
2002 ist ganz bewusst auf Basis einer falschen Prognose
aufgestellt worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [FDP] – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Gefälscht! Manipuliert!)


Zweitens. Angesichts der Tatsache, dass Sie bei der Auf-
stellung des Haushalts von einem Wachstum von 1,25 Pro-
zent ausgegangen waren, aber kurz danach im Jahreswirt-
schaftsbericht von einem Wachstum von 0,75 Prozent
gesprochen haben, können Sie in der Überschrift des
Jahreswirtschaftsberichtes doch nicht von einem Auf-
schwung reden. Das ist die allergrößte Unverschämtheit,
Frechheit und Lüge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich würde mir wünschen, dass gerade diejenigen, die

unqualifizierte Äußerungen in frecher Weise dazwi-
schenrufen, sich einmal die Zahlen genauer anschauen,
damit sie wissen, worüber sie entscheiden müssen. Ich
habe häufig den Eindruck, dass sie überhaupt nicht wis-
sen, was hier vorgelegt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle [FDP] – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Ja, ja!)


Im Zusammenhang mit dem blauen Brief ist vom Fi-
nanzminister gesagt worden, die Länder seien schuld. Ich
will dazu kurz sagen:


(Johannes Kahrs [SPD]: Sagen Sie doch mal, was Sie wollen!)


Wenn Sie wie in den vergangenen Jahren die Steuerbasis
der Länder und Kommunen durch Ihre Maßnahmen ganz
bewusst aushöhlen, dann dürfen Sie sich nicht wundern.
Sie haben den Ländern beispielsweise mit dem Familien-
leistungsausgleich, mit der Streichung der originären Ar-
beitslosenhilfe und mit der Reduzierung und Streichung
des Bundeszuschusses beim Unterhaltsvorschuss zusätz-
liche Aufgaben übertragen. Sie haben gleichzeitig durch
Ihre Steuerpolitik dazu beigetragen, dass die Steuer-
einnahmen der Länder weitaus geringer sind als die des
Bundes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das kann man anhand der Daten nachweisen.

Der Bundesanteil am Steueraufkommen ist seit 1998
von 41 auf 43 Prozent gestiegen, der Länderanteil dage-
gen von 41 auf 39 Prozent gesunken.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Auch das ist ein Ergebnis Ihrer Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)

Angesichts dessen können Sie nicht sagen, die Länder und
Kommunen sollten ihre Hausaufgaben machen.

Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Regierung

(Johannes Kahrs [SPD]: Ist besser als das, was Sie 16 Jahre gemacht haben!)

ist verheerend.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wunderbar, verglichen mit Ihren 16 Jahren!)


Sie haben zur Lösung der von Ihnen selbst verursachten
Probleme kein Programm.


(Johannes Kahrs [SPD]: Und Sie haben keine Konzepte!)


Deshalb haben Sie das Vertrauen der Bevölkerung nicht
verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421803500
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Joachim Poß.


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1421803600
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich möchte jetzt über die Realität in der Bun-
desrepublik Deutschland sprechen


(Lachen bei der CDU/CSU)

und in diesem Zusammenhang über die angeblichen Al-
ternativen und über die Täuschungen der Opposition, die
man ihr nicht durchgehen lassen darf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Seit Mitte Januar dieses Jahres ist Herr Stoiber Kanzler-
kandidat der Union.


(Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!)

Heute, sechs Wochen später, weiß immer noch niemand,
wie die Politik konkret aussehen soll, die Herr Stoiber ma-
chen will, falls die Union die Bundestagswahl gewinnen
würde.


(Widerspruch von der CDU/CSU)

Auch nach der Rede von Herrn Merz sind wir erwar-

tungsgemäß nicht weiter.

(Elke Wülfing [CDU/CSU]: So wie in Bayern! Da ist es gut!)

Die Rede von Herrn Merz hat gezeigt: Ihre Alternativen
bestehen in Legendenbildung und Krankreden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das bevorzugte Mittel von Herrn Merz – er ist erwar-
tungsgemäß gegangen; denn er wusste, was kommt –


(Lachen bei der CDU/CSU – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Null!)





Gerda Hasselfeldt

21587


(C)



(D)



(A)



(B)


ist die Täuschung der Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall bei der SPD)


Herr Müller hat das an einem Beispiel belegt. Ich will Ih-
nen ein anderes nennen: Herr Merz sprach von einem sin-
kenden Realeinkommen. Im Jahre 2001 gab es trotz der
ungünstigen Entwicklung in diesem Jahr bei den privaten
Haushalten eine Steigerung des verfügbaren Realeinkom-
mens von 1,8 Prozent. Im Jahr 2000 kam es zu einer Stei-
gerung von 2,8 Prozent. Dies ist die größte Steigerung, die
es im letzten Jahrzehnt überhaupt gegeben hat.


(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund spricht Herr Merz wahrheitswid-
rig von sinkenden Realeinkommen! So wie ich das jetzt
getan habe, werden wir Ihre Lügenmaschinerie Punkt für
Punkt entlarven.


(Beifall bei der SPD)

Wir lassen Ihnen die Behauptungen, die Sie hier aufstel-
len, nicht mehr durchgehen.

Eine so verantwortungslose Opposition wie die heutige
hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Ich war lange genug – leider viel zu lange – in der Oppo-
sition, um beurteilen zu können, wie verantwortungsbe-
wusst wir in der Opposition Ihnen gegenüber argumen-
tiert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eines können Sie uns jedenfalls nicht nachweisen: dass
wir die Wahrheit so verbogen haben, wie Sie das als Op-
position täglich tun.


(Lothar Mark [SPD]: Dafür sind sie ja auch Christen!)


Deswegen stelle ich fest: Wer in den letzten sechs Wo-
chen die vielen widersprüchlichen Äußerungen aus dem
Unionslager zur Kenntnis genommen hat, der muss davon
ausgehen, dass auch in der Union niemand weiß, was die
Union außer der Macht eigentlich will.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das betrifft zum Beispiel das Steuerkonzept der

Union. Frau Hasselfeldt, lesen Sie einmal die heutige
„FAZ“. Herr Merz hat laut heutiger „FAZ“ festgestellt,
„die steuerpolitischen Vorstellungen der Union würden
derzeit in Ruhe erarbeitet“. Da hat er wohl Recht. Das ist
die einzige ehrliche Aussage von Herrn Merz am heutigen
Tage gewesen.


(Beifall bei der SPD)

Wo sind denn Ihre Vorschläge? Sie sagen, sie würden

in Ruhe erarbeitet. Wann wollen Sie sie denn präsentie-
ren? Derzeit ist von Ende April die Rede, aber in anderen
Artikeln davon, dass es auch Juni oder Juli werden
könnte. Warum ist das bei Ihnen so ungewiss? Weil Sie
nicht wissen, wohin Sie wollen. Nach der hilfreichen Dis-
kussion über die Einhaltung der Maastricht-Kriterien ha-
ben wir einen guten Maßstab, um jeden Ihrer Vorschläge

daran messen zu können. Das ist das Nützliche an dieser
Diskussion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern weismachen
wollen, dass sie eigentlich in einem Jammertal leben,
muss ich Ihnen einmal Folgendes sagen: Die CDU hat in
Nordrhein-Westfalen 1985 einen Landtagswahlkampf mit
Plakaten gemacht, auf denen die Leute sozusagen außer
Landes gegangen sind. Sie haben irgendwelche Leiterwa-
gen bestiegen und sind außer Landes gefahren.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Reden Sie über das, was Sie hier machen wollen!)


Damals hat die CDU in Nordrhein-Westfalen die größte
Niederlage erlitten, die sie jemals hinnehmen musste.
Dieses Schicksal werden auch Sie erleiden, wenn Sie die-
ses Land weiter so krank reden, wie Sie das derzeit tun.


(Beifall bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/ CSU]: Sie leben in der Vergangenheit!)


Wir bedauern die gestiegene Arbeitslosigkeit ebenso
wie alle anderen.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie sind die Ursache! Erkennen Sie das endlich mal!)


Zu den Tatsachen gehört aber: Dass die Konjunktur in al-
len ökonomischen Zentren der Welt gleichzeitig und in ei-
nem so starken Umfang einbrechen würde, haben weder
wir noch die Institute, noch hoch angesehene Wirt-
schaftsexperten erwartet. Sie können doch nachlesen, wie
die Prognosen im Herbst 2000 ausgesehen haben. Auch
wenn diese Schwierigkeiten vorhanden sind, so ist es
doch eine grobe Verzerrung der Realität, wenn Deutsch-
land als ein Land dargestellt wird, das ökonomisch am
Boden liegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn wir es heute wieder gehört haben, ist es

übrigens auch eine viel zu schlichte Betrachtung der Öko-
nomie, die ökonomisch-soziale Position eines Landes
allein durch die Wachstumsrate des Bruttoinlandspro-
dukts abzubilden. Zunächst einmal ist festzuhalten: Die
deutsche Wirtschaft wächst nach wie vor mit positiven
Raten. Sie ist im abgelaufenen Jahr gewachsen und sie
wächst auch im laufenden Jahr. Es gab nur ein Jahr – das
war in Ihrer Regierungszeit, nämlich 1993 –, in dem wir
eine negative Wachstumsrate hatten, nämlich minus
1,1 Prozent.

Wenn man noch weitere Tatbestände und damit die Rea-
lität mit in den Blick nimmt – was eine seriöse Analyse ei-
gentlich erfordert –, dann wird man feststellen, dass
Deutschland international keineswegs so schlecht dasteht,
wie Sie das hier darzustellen versuchen. Mit einer durch-
schnittlichen Inflationsrate von nur 1,4 Prozent in den Jah-
ren 1998 bis 2001 liegen wir im Mittelfeld. Wir hatten in den
letzten drei Jahren den geringsten Anstieg der Lohnstück-
kosten in der Europäischen Union. Das ist die entscheidende
ökonomische Größe für den Standortwettbewerb.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt halten die Gewerkschaften nicht mehr stille!)





Joachim Poß
21588


(C)



(D)



(A)



(B)


Also: Geringster Anstieg der Lohnstückkosten!
Nach wie vor gibt es hier nur wenige Streiktage und das

ist auch gut so. Wir halten den sozialen Frieden für wich-
tig, auch für die Wertschöpfung in diesem Jahr.


(Beifall bei der SPD)

Wenn man sich Ihre Vorschläge, jedenfalls die zur Dere-
gulierung anschaut, stellt man fest, dass Sie eher geeignet
sind, den sozialen Frieden infrage zu stellen.

Dank der besonderen Bemühungen von SPD und Grü-
nen liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland weit
unter der in vielen Partnerländern.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie steigt!)


Ich wiederhole: Allein wegen der 350 000 jungen Frauen
und Männer, die durch unsere Anstrengungen neue Le-
bensperspektiven und neue Chancen bekommen haben,
hat sich der Regierungswechsel gelohnt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben massive Reformen bei der Einkommen- und
Körperschaftsteuer mit klaren Entlastungen der Arbeit-
nehmer, der Familien mit Kindern und des Mittelstandes
durchgeführt. Das kann sich international sehen lassen,
auch wenn Verbandsvertreter und Sie immer wieder etwas
anderes behaupten. Ich sage das auch, weil aus den Rei-
hen der IG Metall in den letzten Tagen eine Aussage kam,
die mit den Realitäten in diesem Land nun wirklich nichts
mehr zu tun hat,


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aha!)

nämlich – ich sage das hier ganz offen – die Gerechtig-
keitslücke habe sich durch unsere Steuer- und Rentenpo-
litik vergrößert. Das ist völliger Quatsch. Wir haben die
Gerechtigkeitslücke durch unsere Steuerpolitik nicht voll-
ständig, aber zu einem guten Stück geschlossen. Was Sie
nach 16 Jahren Regierungszeit hinterlassen haben, kann
man wirklich nur schrittweise korrigieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Zahlen und Fakten sprechen gegen Sie. Hören Sie
endlich auf, Deutschland als ein Jammertal darzustellen!
Legen Sei den Bürgerinnen und Bürgern vielmehr dar,
welche Vorschläge Sie haben und was diese Vorschläge
auf Heller und Pfennig kosten würden, wenn Sie in der
Regierungsverantwortung wären!


(Wolfgang Weiermann [SPD]: Um Gottes willen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Die haben keine Vorschläge!)


Wie stehen Sie denn wirklich zu der öffentlichen Ver-
schuldung? Sind Herr Stoiber, Herr Merz und Frau
Merkel nach den derzeitigen Diskussionen um den Euro-
päischen Stabilitätspakt immer noch der Meinung, man
müsse den Verschuldungsspielraum bis zur 3-Prozent-
Grenze ausnutzen? Heute Morgen hat Herr Merz in dieser
Frage nur herumgeeiert. Man fragte sich: Wohin will er?
Was will er uns sagen?


(Zuruf von der SPD: Er hat keine Ahnung!)


Diese Fehlleistung der Unionsspitze lässt sich kaum noch
überbieten. Haben Sie inzwischen eingesehen, wie absurd
Ihre Position war? Sie müssten doch erkennen, dass
Deutschland mit einer solchen Haltung Gefahr liefe, bei
der ersten kleinen Abweichung in der Haushaltsplanung
diese Grenze zu überschreiten. Wirtschafts- und finanz-
politische Kompetenz haben Sie damit und mit Ihrem
Steuerwirrwarr jedenfalls nicht bewiesen. Sie sind wirt-
schafts- und finanzpolitisch gesehen konzeptionell bei
null. Nichts anderes ist die Realität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was hat denn der bayerische Ministerpräsident Stoiber
den deutschen Bürgern im Überschwang seiner geglück-
ten Nominierung in seinen bisherigen konfusen Medien-
auftritten verkündet, ohne an die Finanzierung zu denken?
Höhere Verteidigungsausgaben, 20 Milliarden Euro mehr
Ostförderung und zusätzliche Steuerentlastungen: Was
gilt denn nach diesen Interviews von diesen Forderungen?
Werden sie einkassiert? Werden sie Eingang in das
Wahlprogramm finden? Wenn ja, wie werden Sie diese
Forderungen finanzieren? Durch Sozialabbau? Durch
Steuererhöhungen? Bisher kommen von Ihnen nur
Ankündigungen, Korrektur der Ankündigungen und Kon-
fusion. Sie befinden sich im permanenten Zustand der in-
tellektuellen Konfusion. Das merkt man Ihren Beiträgen,
die Sie hier liefern, an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Reden Sie von der Regierung?)


Sagen Sie doch endlich, wann Ihr Wahlprogramm
kommt. Ich habe diese Frage vorhin schon gestellt. Ich
glaube, Ihnen ist inzwischen klar geworden, wie schwer
es ist, eine konkrete Alternative zu unserer Politik zu for-
mulieren.


(Lachen bei der CDU/CSU – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Er glaubt das wohl selber!)


Oder sind trotz aller Harmoniebeteuerungen in der Union
die Gräben so tief, dass Sie sich nicht einigen können und
dass Sie deshalb Monate brauchen, um Vorstellungen zu
entwickeln? Legen Sie Ihre steuerpolitischen Vorstel-
lungen auf den Tisch! Was meinen Sie denn mit einer
noch „wachstumsfreundlicheren“ Steuerpolitik als die,
die wir machen? Wollen Sie nun doch eine Stufe der Steu-
erreform vorziehen?

Herr Austermann hat konkret etwas angekündigt. Er
hat gesagt: Als erste Maßnahme einer unionsgeführten
Bundesregierung wird die Unternehmensteuerreform
rückgängig gemacht. Was gilt denn nun in Ihren Reihen?
Einer von Ihnen sollte einmal erklären: In der Steuerpoli-
tik gilt dieses und jenes. Dann würde sich dieses Wirrwarr
nicht weiter fortsetzen. Diese Beispiele könnte man fort-
führen.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: 30 Steuergesetze! Sie sollten nicht vom Wirrwarr der anderen reden!)





Joachim Poß

21589


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Stoiber kündigt eine Absenkung des Spitzensteu-
ersatzes unter 40 Prozent an. Wer profitiert denn davon?
80 Prozent aller Personengesellschaften haben einen Ge-
winn von maximal 50 000 Euro. Von der Absenkung des
Spitzensteuersatzes würde die breite Masse der mittel-
ständischen Unternehmen eben nicht profitieren. Wie
wollen Sie das außerdem finanzieren?

Wie sieht es mit Ihrer Position zur Ökosteuer aus? Erst
haben Sie gesagt: Die Ökosteuer soll insgesamt abge-
schafft werden. Dann sollte nur die letzte Stufe ausgesetzt
werden. Aber eigentlich soll die ganze Steuer beseitigt
werden. Kein Mensch wird behaupten können, dass das,
was Sie und Herr Stoiber hier vorführen, die Denk- und
Redeweise eines kompetenten Politikers ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fasse zusammen: Auch nach sechs Wochen Stoiber
hat die Union noch kein einvernehmliches Konzept.


(Johannes Kahrs [SPD]: Planlos!)

Niemand weiß, was die Union konkret will. Glauben Sie
wirklich – von der FDP will ich gar nicht reden; sie hat
noch nie finanzierbare Vorschläge vorgelegt –,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


dass Sie mit einer solchen Vorstellung gerade auf dem
Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit Gerhard
Schröder, Hans Eichel, Herrn Müller oder der Regie-
rungskoalition konkurrieren können? Ich glaube, nein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Glauben heißt nicht wissen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421803700
Ich erteile
dem Kollegen Dr. Norbert Wieczorek für die SPD-Frak-
tion das Wort.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1421803800
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da dies mit Sicherheit der
letzte Jahreswirtschaftsbericht ist, zu dem ich sprechen
kann – ich werde aus persönlichen Gründen dem Haus im
nächsten Jahr nicht mehr angehören –, darf ich eine Be-
merkung zu der Debatte machen. Das, was hier insbeson-
dere durch die Vorlage von Herrn Merz gelaufen ist, hilft
wenig, um die Probleme dieses Landes zu erkennen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer seine Politik auf dieser Basis aufbaut, wird schei-

tern. Ich habe auch Erfahrung mit Oppostion; ich bin
lange genug dabei. Wir haben diesen Fehler auch ge-
macht. Sie dürfen ihn gern noch eine Weile weitermachen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte das ein bisschen untermauern. Natürlich
war die Wachstumsschätzung im letzten Jahreswirt-
schaftsbericht zu hoch; das ist eine Binsenweisheit. Ich

habe hier aber die Erkenntnis des Ifo-Instituts vom Januar
2002 vorliegen. Ich darf sie kurz zitieren:

Mit einer gewissen Abschwächung gegenüber dem
Boomjahr 2000 hatte man zwar gerechnet, eine so
deutliche Verschlechterung hatte jedoch keine der pro-
fessionellen Prognoseinstitutionen vorausgesehen ...

Das ist die Erkenntnis eines doch sehr seriösen Institutes.
Das gleiche Institut veröffentlicht jetzt übrigens mit sei-
nem Ifo-Index seit drei Monaten die Annahme, dass es
wieder aufwärts gehen wird.

Es führt dann auch noch aus, was im letzten Jahr pas-
siert ist. Es hat eben keine weiche Landung in den USA
gegeben, sondern eine harte Landung. Ein Problem haben
wir selber gehabt: die Verunsicherung im Nahrungsmit-
telbereich. Das ist fast schon wieder vergessen. Es wird
nur noch über ein paar Tests, die nicht ordentlich gemacht
werden, geredet. Aber es hatte eine tiefe Verunsicherung
in der Bevölkerung gegeben.

Ich möchte auch etwas zu den von Ihnen, Herr
Brüderle, angesprochenen Pleiten sagen, die wir jetzt ha-
ben. Ein großer Teil davon ist bei Unternehmen passiert
– schauen Sie sich das spiegelbildlich im so genannten
Nemax an –, die niemals einen Businessplan hatten.


(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Ich könnte jetzt polemisch sagen: Der fehlt der Opposi-
tion auch. Ich will das aber gar nicht so ausbreiten; das ist
nicht der Stil meiner Rede.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Fakt ist also, dass sehr viele der IT-Unternehmen ein-

fach weggefallen sind. Das spüren wir. Wir spüren aller-
dings auch eine Investitionszurückhaltung, und zwar ge-
rade beim Mittelstand. Eine Reihe von Mittelständlern
haben genau in diesem Markt erhebliche Mittel verloren,
die sonst eventuell für Investitionen zur Verfügung stan-
den. Schauen Sie sich einmal die Aktionärsstrukturen an.
Sie sollten einmal die Realitäten ein bisschen ins Auge
fassen; dann sieht manches anders aus.

Deswegen möchte ich auch noch den Kollegen
Wissmann – den ich sonst sehr schätze; wir kennen uns
auch schon sehr lange aus der Arbeit hier – bitten, sich
einmal seine Statistiken genau anzuschauen. Mir liegt hier
die Wachstumsliste vor. Ich möchte nur einmal darauf
verweisen, dass im Jahre 1993 Deutschland an 12. Stelle
von 15 Ländern der EU stand, 1994 an 13. Stelle, 1995 an
14. Stelle und 1996 dann an letzter Stelle. Das war zur Zeit
Ihrer Regierung. Es ist aber auch verständlich, dass
Deutschland schlechter war. Nach der Entindustrialisie-
rung der ehemaligen DDR, nach einem künstlichen Boom
insbesondere im Baugewerbe, der sich jetzt korrigiert
– Herr Müller hat auch darauf hingewiesen –, können wir
gar nicht in der Spitzengruppe liegen.

Da möchte ich gleich noch eines hinzufügen: Da hier
immer EU-Zahlen genannt werden, will ich auch einmal
die EU-Zahlen für die Arbeitslosenquote, und zwar nach
der Berechnungsart der EU, zugrunde legen und ver-
künden – falls Sie das noch nicht wissen –, dass nach dem
offiziellen Handbuch der EU die Durchschnittsquote der




Joachim Poß
21590


(C)



(D)



(A)



(B)


15 EU-Staaten bei 7,8 Prozent liegt. Das ist exakt die
Quote, die auch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr
2001 hat. Das ist deutlich besser als in allen anderen
großen Länder der EU – damit wir einmal wissen, wo-
rüber wir eigentlich reden. Das führt auch zu anderen Er-
gebnissen.

Es ist ja nicht so, dass wir nur darauf hoffen, dass die
USA wieder hochkommen. Den Zusammenhang zwi-
schen dem Welthandel, der stark von den USA bestimmt
wird, und unserem Export hat Herr Müller aufgezeigt; ich
brauche das nicht zu wiederholen. Wir haben aber struk-
turelle Verbesserungen vorgenommen und Reformen
durchgeführt. Schauen Sie sich unsere Rentenreform an:
Sie ist sehr vernünftig. Das wird besonders deutlich, wenn
Sie sehen, was jetzt in den USA – nicht nur bei Enron –
und in Großbritannien mit anderen kapitalunterlegten
Renten passiert. Schauen Sie sich einmal an, wie dort die
Rentenzahlungen, die jetzt fällig wären, zusammengebro-
chen sind. Ich glaube, dass wir ein sehr vernünftiges Mo-
dell haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herrn Merz möchte ich auch noch etwas sagen, auch

wenn er nicht hier ist: Natürlich kann man sich manches
von den USA abschauen. Das Prinzip der USA, Leute
über den Rand zu schieben und fallen zu lassen, kann aber
nicht europäische Politik sein. Das steht auch in keiner
europäischen Gipfelerklärung, auch nicht in denen, die
Herr Kohl unterschrieben hat. Wir machen hier eine an-
dere Politik.


(Beifall bei der SPD)

Was haben wir in Angriff genommen? Wir haben in

Europa eine der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeitszah-
len. Diese erfolgreiche Politik setzen wir mit dem Jump-
Programm fort, indem wir die jungen Leute in die Aus-
bildung hineinbringen. Die Betriebe sagen zwar immer,
sie bilden aus. Sie bilden aber nur die aus, die im Betrieb
sind. Die, die nicht im Betrieb sind, müssen wir ausbilden.
Das ist eine staatliche Aufgabe für unsere Zukunftschan-
cen. Genau dieser Aufgabe haben wir uns angenommen.


(Beifall bei der SPD)

Herr Eichel hat auf das BAföG hingewiesen. Wir ha-

ben nicht nur das BAföG für Studenten erhöht, sondern
auch das Meister-BAföG gerade für die Gesellen im
Handwerk deutlich verbessert. Deswegen kann ich sagen,
dass wir mehr gemacht haben.

Auch die Steuerreform hat positive Ergebnisse ge-
bracht. Heute Morgen hat mir der selbstständige Taxifah-
rer, der mich hierher gefahren hat, im Hinblick auf diese
Debatte gesagt, er habe sich einmal ausgerechnet, dass er
jetzt weniger Steuern zu zahlen habe: Im Jahre 2001 habe
er bei einem durchschnittlichen monatlichen Verdienst von
1 800 DM nach der Einkommensteuertabelle eine Steuer
von 75 DM zu zahlen gehabt, während es in diesem Jahr
nur noch 15DM seien. Das mag in der Summe nicht fürch-
terlich viel sein; aber bei einem solchen Einkommen ist
das eine ganze Menge. Insoweit ist es auch kein Zufall,
dass der private Verbrauch bei uns nicht so zusammenge-

brochen ist, wie es manche befürchtet haben, ganz im Ge-
genteil.

Lassen Sie mich noch etwas zum Investitionsstandort
Deutschland sagen – dazu ist hier ja auch einiges verbra-
ten worden –: Im Monatsbericht der Bundesbank wird da-
rauf hingewiesen, dass die Direktinvestitionen 1998 um
42,7 Milliarden DM, 1999 um 52,5 Milliarden DM und
im Jahre 2000 um 191,4 Milliarden DM – hierin sind al-
lerdings die Vodafone-Investitionen enthalten – gestiegen
sind. Selbst in dem schlechten Investitionsjahr 2001, als
die Auslandsinvestitionen gerade der USA zurückgingen,
wurden bis November – neuere Zahlen liegen noch nicht
vor – 36 Milliarden DM in Deutschland direkt investiert.
Vor wenigen Tagen hat der Chef des vom Börsenwert her
stärksten Unternehmens der Welt, General Electric, ge-
sagt – bei dieser Veranstaltung war auch Herr Wissmann
anwesend –, dass er das allergrößte Interesse habe, wei-
terhin in Deutschland zu investieren. Angesichts dessen
ist es hochgefährlich, wenn Herr Stoiber und andere
erklären, sie wollten alles wieder rückgängig machen. Da-
mit würden sie die Grundlagen dafür infrage stellen, dass
wir in diesem Bereich gerade wieder konkurrenzfähig ge-
worden sind. Das halte ich für gemeingefährlich, um das
hier einmal deutlich zu sagen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir haben eine gute Chance,
weiterzukommen, ohne dass man aber übertriebene Hoff-
nung haben darf.

Da die Opposition gern auf Banken hört – würden das
manche Ihrer Freunde wie Herr Kirch auch tun, gäbe es in
diesem Bereich weniger dramatische Auswirkungen –,


(Heiterkeit und Zustimmung bei der SPD)

möchte ich mit dem Konjunkturausblick der Deut-
schen Bank vom 14. Februar schließen. Dort gibt es eine
interessante Analyse des Verhältnisses der Investitionen
zu einer Reihe volkswirtschaftlicher Größen. Auf Seite 4
heißt es:

Am aktuellen Rand weist dieses Modell jedoch auf
eine merkliche Investitionslücke hin. Die Unter-
nehmer waren also in diesem konjunkturellen Ab-
schwung – gemessen an der Konstellation unserer
vier Einflussvariablen – bei den Investitionen beson-
ders zurückhaltend.
Was bedeutet diese Nachricht? In einem Szenario, in
dem sich die wirtschaftliche Entwicklung stabilisiert
und erste Zeichen – wenn auch noch vorsichtig – auf
eine Erholung hinweisen, könnte dies auf eine merk-
liche Beschleunigung der Investitionsausgaben hin-
deuten.

Jetzt kommt es – das muss man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen –:

Bei unserer Wachstumsprognose für 2002
– sie liegt übrigens bei 0,9 Prozent –

hat uns aber der Mut gefehlt, diese Reaktion entspre-
chend zu berücksichtigen. Wir erwarten, dass die




Dr. Norbert Wieczorek

21591


(C)



(D)



(A)



(B)


Ausrüstungsinvestitionen im ersten Halbjahr 2002
noch deutlich unter dem Vorjahresniveau bleiben.
Das Modell würde aber weit höhere Investitionsaus-
gaben nahe legen.

Das Modell geht bis in die 70er-Jahre zurück; es ist durch-
aus seriös.

Lassen Sie mich noch einen letzten Satz zitieren:
Insgesamt halten wir an unserer Wachstumsprognose
für das BIP von 0,9 Prozent für 2002 fest, aber es gibt
auch Risiken, die auf eine schnellere und kräftigere
Erholung hinweisen.

Es ist lustig, in diesem Zusammenhang das Wort „Risi-
ken“ zu verwenden; ich würde das nicht als Risiko, son-
dern als begründete Hoffnung ansehen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Als Chance!)

Daher fordere ich Sie auf, hier mitzumachen, anstatt

das Tohuwabohu zu verstärken, das Ihr Kanzlerkandidat
gerade jetzt veranstaltet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insofern würde uns allen mehr Sachlichkeit helfen. Sie
würde vielleicht auch der Opposition die Hoffnung geben,
irgendwann tatsächlich wieder regieren zu können. Auch
wenn ich im nächsten Jahr nicht mehr dem Bundestag an-
gehören werde, so bin ich doch sicher, dass eine sozialde-
mokratisch geführte Regierung dort auf der Regierungs-
bank sitzen wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421803900
Ich schließe
die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8175 und 14/7569 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.

Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU, Tagesord-
nungspunkt 3 c, dessen Titel nunmehr lautet „Rezession
überwinden – Wirtschaftspolitik für mehr Wachstum und
Beschäftigung umsetzen“, auf der Drucksache 14/8265
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung an den
Finanzausschuss, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung und den Ausschuss für Ge-
sundheit überwiesen werden. – Das Haus ist damit ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksa-
che 14/8148 zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine stetige,
verlässliche und beschäftigungsfördernde Wachstumspo-
litik – kein konjunkturpolitischer Aktionismus“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7808 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-

empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU,
FDP und PDS angenommen.

Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:

a)Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Norbert Geis, Erwin Marschewski, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kriminalität wirksamer bekämpfen – Innere
Sicherheit gewährleisten
– Drucksachen 14/6539, 14/8284 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm)

Erika Simm
Norbert Geis
Volker Beck (Köln)

Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler

b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU

(einem zusammenwachsenden)

– Drucksachen 14/1774, 14/4991 –

Die Fraktionen haben sich auf eine Aussprachelänge
von eineinhalb Stunden verständigt. – Ich höre auch hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die
Kolleginnen und Kollegen, die der nachfolgenden De-
batte nicht folgen möchten, bitten, das Plenum zu ver-
lassen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
Fraktion der CDU/CSU dem Kollegen Wolfgang Bosbach
das Wort.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1421804000
Herr Präsident!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der
negativen wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes
und der katastrophalen Situation auf dem deutschen Ar-
beitsmarkt ist die vom Bundeskanzler proklamierte „Po-
litik der ruhigen Hand“ unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Mein Gott, Herr Bosbach! Hinter der Zeit, wie immer!)


Genauso unverantwortlich ist, dass dieser Politikstil
leider auch seit gut drei Jahren für die Bekämpfung der
Kriminalität gilt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das musste kommen! Darauf habe ich gewartet!)





Dr. Norbert Wieczorek
21592


(C)



(D)



(A)



(B)


Zwar hat der Bundesinnenminister aufgrund der dramati-
schen Ereignisse vom 11. September und der sich daraus
ergebenden Herausforderungen zum Thema „innere Si-
cherheit“ plötzlich markige Reden gehalten und eine rot-
grüne Kurskorrektur versprochen; aber die Diskrepanz
zwischen den Reden, den Ankündigungen und den Taten,
genauer gesagt: den ausgebliebenen Taten, ist unüberseh-
bar. Herr Schily hat sich ja vor fünf Minuten pünktlich zu
Beginn dieser Debatte verabschiedet. Das zeigt sein
ganzes Interesse, besser gesagt, sein Desinteresse an die-
sem Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Wir hätten ihn zu gern gefragt, was eigentlich aus dem
fälschungssicheren Personalausweis geworden ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der steht doch gar nicht in dem Papier!)


Herr Schily hatte sich doch schon einen Prototyp mit sei-
nem Bild und mit seinem Fingerabdruck zum Beweis der
Tatsache anfertigen lassen, dass ein solcher fälschungs-
sicherer Personalausweis für eine bessere Bekämpfung
der Kriminalität unverzichtbar sei.

Was ist eigentlich aus der Kronzeugenregelung ge-
worden, die am 31. Dezember 1999 ausgelaufen ist? Es
war ein schwerer Fehler dieser Regierung, diese Regelung
ohne eine Nachfolgeregelung auslaufen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Sicherheitsexperten, und zwar auch von der SPD be-
nannte, Kriminologen, Fachleute haben uns ausdrücklich
bestätigt, wie wichtig und unverzichtbar eine Kronzeu-
genregelung für die Aufklärung begangener, für die Ver-
hinderung neuer Straftaten und für die Überführung von
Straftätern ist.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Weil sie bisher nichts gebracht hat!)


Gerechterweise muss man allerdings hinzufügen, dass
man der Justizministerin nicht vorwerfen kann, dass es
auch bei ihr eine große Diskrepanz zwischen Reden und
Taten gibt; denn die Justizministerin hat in ihrer bisheri-
gen Amtszeit nie auch nur den Eindruck vermittelt, als
hätte für sie die Bekämpfung der Kriminalität oberste po-
litische Priorität.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Gegenteil: Der Beitrag der Kabinettskollegin von

Herrn Schily zum Sicherheitspaket II bestand aus 32 Sei-
ten Bedenken und Kritik ohne einen eigenen konstruktiven
Vorschlag für eine bessere Bekämpfung des internationa-
len Terrorismus. Mehr hat die Justizministerin nicht ge-
tan.


(Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist sie halt!)


Im Jahre 2000 wurden in Deutschland knapp 6,3 Mil-
lionen Straftaten registriert. Die Union lässt sich durch

die Mitteilung des Innenministers, dass die polizeilich er-
fassten Straftaten gegenüber dem Vorjahr ganz gering-
fügig zurückgegangen seien, nicht beruhigen und zufrie-
den stellen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ihnen kann man es auch nicht recht machen!)


Für uns sind 6,3 Millionen Straftaten exakt 6,3 Mil-
lionen zu viel. Außerdem gibt es Besorgnis erregende Ent-
wicklungen.


(Zuruf von der SPD: Ist Ihre Schwarzgeldaffäre auch dabei?)


– Herr Kollege, wenn ich Ihre dusseligen Zwischenrufe
höre, kann ich mir vorstellen: Wenn Ihre Eltern Ihnen
zuhören, tut es ihnen heute noch Leid, dass sie Ihnen das
Reden beigebracht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Das war eine bösartige Entgleisung! Sie sollten sich schämen, Herr Bosbach!)


Über 145 000 strafunmündige Kinder – eine er-
schreckend hohe Zahl – wurden als Täter registriert. Bei
den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren sind es so-
gar knapp 300 000. Obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung
nur 4,4 Prozent beträgt, stellen sie knapp 13 Prozent aller
Tatverdächtigen. Besonders kritisch ist die Situation bei
den Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren. Dabei
sind 240 000 Tatverdächtige ermittelt worden – 20 Pro-
zent mehr als noch vor fünf Jahren.

Angesichts dieser Entwicklung kommt der Kriminal-
prävention eine ganz besondere Bedeutung zu.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber in Ihrem Papier nicht! Wo steht das denn da?)


Der Innenminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
die Jugendarbeit in den Vereinen – beispielsweise in den
Sportvereinen – auch und gerade wegen der dort erwor-
benen sozialen Erfahrungen und Kompetenzen unter kri-
minalpräventiven Gesichtspunkten von ganz besonderer
Bedeutung ist. Das ist richtig. Deswegen war es ein
schwerer Fehler dieser Regierung, den Vereinen neuen
bürokratischen Ballast und zusätzliche Kosten aufzubür-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es genügt nämlich nicht, in Sonntagsreden die Arbeit der
Ehrenamtlichen zu loben. Man muss sie auch in der poli-
tischen Praxis tatkräftig unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das haben wir doch gemacht! Sie haben es nie angepackt! Seien Sie doch einmal ehrlich!)


So wichtig wie die Kriminalprävention ist, so richtig ist
auch eine rasche Reaktion des Staates auf die Begehung
von Straftaten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Wolfgang Bosbach

21593


(C)



(D)



(A)



(B)


Es geht nicht um drakonische Bestrafungen. Eine Strafe
muss immer tat- und schuldangemessen sein.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wollen Sie dann für Jugendliche die Strafen erhöhen?)


Aber der Staat muss rasch und konsequent reagieren, und
zwar nicht nur bei der Bekämpfung von schweren Strafta-
ten – bei Kapitalverbrechen –, sondern auch und gerade
bei der Bekämpfung der so genannten Alltagskrimi-
nalität. Hier muss gelten: Wehret den Anfängen!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch der Ladendieb ist ein Dieb. Graffiti-Schmiere-

reien auf fremden Gebäuden oder an öffentlichen Ver-
kehrsmitteln sind keine Kavaliersdelikte, sondern straf-
würdiges Unrecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das bestreitet doch keiner!)


Es ist mehr als bedauerlich, dass sich diese Regierung
standhaft weigert, die Vorschläge der Union, aber auch die
des Bundesrates, zur Änderung des Strafrechts aufzuneh-
men, damit wir Graffiti-Schmierereien und andere For-
men der Sachbeschädigung konsequenter ahnden und be-
strafen können.

Gerade bei jugendlichen Tätern ist eine schnelle Reak-
tion wichtig. Eine schnelle Reaktion kann den jugend-
lichen Täter oft mehr beeindrucken als die Strafe selber.


(Zustimmung bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Die kann es doch geben!)


Wenn aber viele Monate zwischen Tat und Verhand-
lung vergehen, fehlt es an der Beziehung zwischen dem
begangenen Unrecht und der strafrechtlichen Sanktion.


(Zurufvon der SPD: Siehe Pfahls, Herr Kollege!)


Nicht selten sind in der Zwischenzeit vom Täter neue
Straftaten begangen worden. Es geht nicht darum, Tätern
einen „kurzen Prozess“ zu machen, aber das alte Sprich-
wort „Die Strafe folgt auf dem Fuß“ muss Gültigkeit haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen plädieren wir dafür, in geeigneten Fällen auch
bei Jugendstrafsachen das so genannte beschleunigte
Verfahren einzuführen, namentlich dann, wenn der Täter
auf frischer Tat gefasst werden konnte.


(Zuruf von der SPD: Ein Zeichen dafür, dass Sie vom Jugendstrafrecht nichts verstehen, Herr Bosbach! Erziehungsgedanke!)


Auch bei der dringend notwendigen besseren
Bekämpfung von Sexualstraftaten gibt es eine große
Diskrepanz zwischen den Sprüchen Ihres Bundeskanzlers
und den Taten – genauer gesagt: der beeindruckenden
Untätigkeit – der Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die DNA-Analyse bzw. der genetische Fingerabdruck

bieten hervorragende Chancen, Taten aufzuklären und Tä-

ter zu überführen, und haben zudem eine hohe ab-
schreckende Wirkung. Wir wollen daher ihren Anwen-
dungsbereich ausdehnen, vor allen Dingen bei sexuell
motivierten Straftaten. Wir wollen, dass der sexuelle
Missbrauch von Kindern nicht nur als Vergehen, sondern
endlich als Verbrechen geahndet wird und dass auch die
Verabredung zu einer solchen Tat und der Anstiftungsver-
such endlich bestraft werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Da hätten Sie gestern in die Anhörung kommen sollen! Sogar Ihre Sachverständigen haben das abgelehnt! – Gegenruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben sie falsch verstanden! – Gegenruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]: Sie haben nicht zugehört, Herr Geis!)


Wenn es Schwerverbrecher gibt, die während ihrer
Haftzeit jede Therapie und jeden Resozialisierungsver-
such verweigern und daher nach ihrer Entlassung eine
ernsthafte Bedrohung für die Allgemeinheit darstellen,
dann muss der Staat zum Schutz der Bürger unseres Lan-
des die Möglichkeit haben, durch gerichtlichen Beschluss
für solche Täter auch nachträglich Sicherungsverwah-
rung anzuordnen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/ CSU]: So ist es! Das verweigert die Bundesregierung!)


Der Bundeskanzler hat öffentlich den Eindruck erweckt,
gerade auf diesem Gebiet kraftvoll handeln zu wollen. Das
einzig Kraftvolle aber war die Ablehnung unserer Anträge.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)


Ansonsten hat diese Regierung nichts gemacht.
Mit Sprüchen kann man Kriminalität nicht bekämpfen,


(Zuruf von der SPD: Da haben Sie Recht!)

sondern nur mit Taten. Aber genau daran fehlt es.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass die unionsgeführten Bundesländer bei der Be-

kämpfung der Kriminalität deutlich erfolgreicher sind als
die Sozialdemokraten, ist doch kein Zufall, sondern das
Ergebnis einer konsequenten Politik, in der Taten und
nicht Sprüche zählen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn der Staat aus guten Gründen für sich das Ge-

waltmonopol beansprucht, dann hat er nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht, die Bürgerinnen und Bür-
ger so wirksam wie nur möglich vor Kriminalität zu
schützen.


(Joachim Stünker [SPD]: Das machen wir auch!)


Aber an diesem Engagement fehlt es dieser Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt nicht! Da haben Sie aber geschlafen!)





Wolfgang Bosbach
21594


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421804100
Ich erteile
das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bun-
desjustizministerium Professor Dr. Eckhart Pick.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1421804200
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Bosbach, wenn Sie gestern in der Anhörung
dabei gewesen wären,


(Joachim Stünker [SPD]: Genau! Er war aber nicht da!)


die sich genau mit diesen Themen befasst hat, dann hätten
Sie vermutlich Ihr Manuskript noch etwas umgeschrie-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN )


Denn es war eine ausgesprochen gute Anhörung, wie ich
feststellen konnte. Ich meine, dass wir mit den differen-
zierten Vorschlägen, die wir dort gehört haben, in der Tat
etwas anfangen können und dass sie auch weiterführend
sind.


(Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Hoffentlich!)


Lieber Herr Kollege, zu unserer Politik gehört auch,
dass wir genau zuhören, wenn uns die Fachleute mitteilen,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber Sie hätten schon vor zwei Jahren zuhören sollen! Wir machen schon seit zwei Jahren Vorschläge!)


wo es entsprechende Lücken gibt. Dann werden wir da-
raus die entsprechenden Konsequenzen ziehen.

Aber in einem sind wir uns offensichtlich einig, meine
Damen und Herren, nämlich darin, dass Kriminalität und
ihre Bekämpfung unsere höchste Aufmerksamkeit erfor-
dern; denn mit diesen Stichworten verbinden sich
Besorgnisse der Bevölkerung, die wir alle sehr ernst
nehmen müssen. Die Menschen wollen sich sicher fühlen
und sie wollen in der Tat auch sicher sein, dass Parlament
und Bundesregierung ihre Anliegen aufgreifen und alles
tun, um sie vor Kriminalität zu schützen, Kriminalität zu
verhindern, die Täter zu verfolgen und – ich meine, das
gehört ebenfalls in diesen Kontext – den Opfern solcher
Straftaten wirksam Hilfe zukommen zu lassen.


(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer aber die Anliegen der Bevölkerung ernst nimmt
und nicht nur – wie es jetzt wieder geschehen ist – mit po-
pulistischen Schlagworten um sich wirft, ist verpflichtet,
genau hinzuschauen, wo die Probleme liegen und vor al-
lem wie sie gelöst werden können.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Scharfer Angriff auf den Kanzler!)


Wer ohne eine fundierte Analyse Pauschalforderungen
erhebt, darf sich nicht wundern, wenn die Mehrzahl die-
ser Vorschläge an der Realität vorbeigeht.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Bosbach [CDU/ CSU]: „Wegschließen für immer“!)


Rechtspolitik darf eben nicht im „Blindflug“ betrieben
werden, wie Sie das tun.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Jetzt ist der Kanzler weg!)


Die Aneinanderreihung von aufgewärmten alten Vor-
schlägen, die übrigens auch von der unionsgeführten Vor-
gängerregierung schon zu einem großen Teil abgelehnt
worden waren,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Welche denn?)

reicht ganz bestimmt nicht für eine wirksame Politik der
Kriminalitätsbekämpfung aus.

Deshalb hat diese Bundesregierung erstmals – ich be-
tone noch einmal: erstmals – eine konkrete umfassende
Bestandsaufnahme zur Kriminalitätsbekämpfung vorge-
legt.


(Joachim Stünker [SPD]: So ist es!)

Ich meine den Periodischen Sicherheitsbericht.


(Beifall bei der SPD)

Dieser Bericht dokumentiert die Kriminalitätsentwick-
lung und -verfolgung auf der Basis aller Erkenntnisquel-
len, die uns zur Verfügung stehen, und sorgfältiger Ana-
lysen von unabhängigen Wissenschaftlern. Er vermittelt
ein umfassendes Bild der Kriminalität, zeigt auf, wie sie
verfolgt wird, und verweist vor allen Dingen auf Verbes-
serungsmöglichkeiten im Umgang mit der Kriminalität.
Deswegen bietet der Periodische Sicherheitsbericht einen
breiten Ansatz zur Bewertung der Sicherheitslage in
Deutschland und damit auch die notwendige Grundlage
für eine entsprechende Gestaltung der Kriminal- und der
Strafrechtspolitik.

Ich möchte ein Beispiel herausgreifen, nämlich die
Gewaltkriminalität. Sie bestimmt – das wissen wir alle –
die öffentliche Wahrnehmung sehr weitgehend, auch
wenn sich ihr Anteil an der registrierten Kriminalität mit
etwa 3 Prozent statistisch gesehen bescheiden ausnimmt.
Wir sollten uns bewusst sein, dass dieser Anteil von nur
3 Prozent schon ein rechtspolitischer Erfolg ist; denn er
zeigt, dass die gesetzlichen Vorschriften greifen


(Zustimmung bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die haben wir gemacht!)


und dass die Bekämpfung der Gewaltkriminalität in
Deutschland im Großen und Ganzen funktioniert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich gebe gerne zu, dass man die Bekämpfung der Ge-
waltkriminalität nicht vernachlässigen darf, ganz gleich,
wie hoch ihr statistischer Anteil an der gesamten Krimi-
nalität auch ist. Deswegen überprüfen wir ständig das
Instrumentarium zu ihrer Bekämpfung. Deswegen reicht
es auch nicht aus, sich allein auf einen Aspekt, nämlich
den der Verfolgung und der Ahndung, zu beschränken;
denn wir können und müssen im Sinne der Bürgerinnen
und Bürger erheblich mehr tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(C)



(D)



(A)



(B)


Die Bundesregierung hat auch hier, ausgehend von den
tatsächlichen Grundlagen im Bereich der Prävention und
der Opferhilfe, für entscheidende Verbesserungen ge-
sorgt. Wenn man genau hinsieht, stößt man beispielsweise
auf eine wissenschaftliche Erkenntnis, auf die uns der Pe-
riodische Sicherheitsbericht aufmerksam macht und die
uns eigentlich nach aller Lebenserfahrung schon bekannt
ist: Gewalt wird gelernt. Wer selbst als Schwächerer er-
lebt hat, dass sich ein anderer mit Gewalt durchsetzen
konnte, der wird es vermutlich genau so versuchen, wenn
er einmal der Stärkere ist. Wer von Kindesbeinen an ge-
lernt hat, dass Konflikte auch ohne Gewalt gelöst werden
können, der hat später sehr viel weniger Anlass, zu ge-
waltsamen Mitteln zu greifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen haben wir mit dem Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung einen Paradigmenwechsel für
ein neues, von Respekt getragenes Leitbild der Erziehung
eingeleitet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben wir doch immer gemacht!)


Wer nicht geschlagen wird, wird nicht so leicht auf die
Idee kommen, andere zu schlagen. Das ist ein wichtiger
Beitrag zur Prävention von Gewalt in der Gesellschaft.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch nichts Neues, Herr Staatssekretär!)


– Herr Geis, eines ist allerdings neu: Das Gesetz zur Äch-
tung der Gewalt in der Erziehung gibt es seit gut einem Jahr.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das Gesetz steht erst seit einem halben Jahr im Gesetzbuch!)


In diesem Zeitraum haben wir mit Genugtuung einen
Wechsel in der Einstellung der Bevölkerung zur Gewalt in
der Erziehung konstatieren können:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Nach einem halben Jahr hat das Gesetz doch noch gar nicht gegriffen!)


Heute sagen 80 Prozent der Eltern – die Zahl ist wesent-
lich höher als vorher –, dass sie ihre Kinder ohne Gewalt
erziehen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben sie schon vorher gesagt!)


Das ist ein großer Erfolg; denn das heißt, dass gewalt-
freie Erziehung akzeptiert wird. Die Bereitschaft, Gewalt
in der Erziehung anzuwenden, lässt deutlich nach.

Prävention hilft, dass weniger Menschen Opfer von
Gewalttaten werden. Mindestens genauso wichtig ist es,
den Opfern von Gewaltdelikten die notwendige Hilfe zu-
kommen zu lassen. Damit bin ich bei einem anderen wich-
tigen Punkt angekommen: Es genügt nicht, ständig Straf-
verschärfungen zu fordern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wichtig ist auch die Frage: Wo kann etwas für die Bürge-
rinnen und Bürger getan werden, die Gewaltkriminalität
erfahren mussten? Hier muss entsprechend gehandelt
werden. Dies hat die Bundesregierung auch getan. Das
möchte ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen. Ers-
tens: Wir haben für die Opfer rechtsextremer und rassis-
tischer Gewalt finanzielle Mittel bereitgestellt. Ich finde,
es ist eine besondere Leistung des Bundestages, gerade
dieser Gruppe von Opfern zu helfen.

Zweitens: Frauen, die in ihren eigenen vier Wänden
Opfer von Gewalt wurden, haben wir mit dem Gewalt-
schutzgesetz nach dem Motto geholfen: Der Schläger
geht, die Geschlagene bleibt.

Schließlich haben wir drittens den Gedanken des
Täter-Opfer-Ausgleichs gestärkt


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Haben wir schon 1994 gemacht!)


und ihn im Strafprozess wesentlich stärker als vorher ver-
ankert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit ist der Staat in der Lage, Wiedergutmachungsleis-
tungen zu befördern.

Ich denke, meine Damen und Herren, diese Bilanz
kann sich sehen lassen.

Vorhin ist gefragt worden, was wir für eine effektive
Strafverfolgung tun würden. Ich darf daran erinnern, dass
in der Strafprozessordnung am 1. Januar dieses Jahres
eine neue und – das möchte ich betonen – verbesserte
Nachfolgeregelung des § 12 FAG in Kraft getreten ist.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Geht doch ins Leere!)


Diese ermöglicht den Strafverfolgungsbehörden Zugriff
auf solche Daten, die Auskunft darüber geben, wann ein
Täter mit wem telefoniert hat. Ich finde, das ist in der Tat
ein Beispiel dafür, dass diese Bundesregierung nicht mit
Ankündigungen laviert, sondern auch effektiv etwas für
Kriminalitätsbekämpfung und das Sicherheitsbedürfnis
der Bevölkerung tut.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421804300
Der Kollege
Jörg van Essen spricht für die FDP-Fraktion.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1421804400
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Staatssekretär Pick hat hier gerade
eine sachliche Rede gehalten. Ich glaube auch, dass die
Menschen erwarten, dass wir uns mit dieser Thematik
sachlich auseinander setzen;


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn sie haben berechtigt Sorge um die innere Sicherheit.
Wer beispielsweise in der letzten Woche gelesen hat, dass




Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
21596


(C)



(D)



(A)



(B)


die Zahl der Straftaten und insbesondere die der Gewalt-
taten in Nordrhein-Westfalen – ich selbst komme ja aus
diesem Bundesland – gestiegen ist, kommt zu dem
Schluss, dass es nicht richtig ist, dass die Straftaten
zurückgehen, wie ja immer wieder mit Berufung auf die
Kriminalstatistik behauptet wird. Die Menschen haben
also berechtigte Sorgen. Wir in der Politik müssen darauf
fundierte Antworten geben. Das will ich für die Freien De-
mokraten heute hier versuchen.


(Beifall bei der FDP)

Die CDU/CSU hat einen Katalog mit Forderungen zur

Verbesserung der inneren Sicherheit aufgestellt. Einige
Punkte finden unsere Unterstützung, einige nicht.

Am meisten hat mich enttäuscht, dass das Thema
Opferschutz – Staatssekretär Pick ist in seiner Rede
darauf eingegangen – leider nur im letzten Punkt auf
Seite 11 nach vielen anderen Vorschlägen behandelt wird.
Wir Liberale sind der Auffassung: Das Opfer muss im
Mittelpunkt aller Überlegungen des Strafrechts stehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem können wir zustimmen!)


Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion einen Antrag
eingebracht, mit dem die Position der Opfer, deren Rechte
so häufig vergessen werden und auch in den Medien-
berichten keine Rolle spielen, im Strafverfahren verbes-
sert werden soll.

Für mich ganz wichtig ist die Ermöglichung der Ne-
benklage auch im Jugendstrafrecht. Das Jugendstraf-
recht ist pädagogisch ausgerichtet. Deshalb tut es außeror-
dentlich gut, wenn Jugendliche, die eine Straftat begangen
haben, merken, welche Wirkungen diese Straftat beim Op-
fer gehabt hat. Ich bitte deshalb herzlich darum, darüber
nachzudenken, ob es sich hierbei nicht um einen vernünf-
tigen Weg handelt, den pädagogischen Ansatz des Jugend-
strafrechts zu verstärken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Geht doch heute schon!)


Gerade weil wir diesen pädagogischen Ansatz des Ju-
gendstrafrechts für richtig halten, sagen wir Nein zu den
Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion, beispielsweise das
Erwachsenenstrafrecht viel früher obligatorisch zur An-
wendung kommen zu lassen.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sehr schade!)


Das Jugendstrafrecht lässt es zu, dass man angemessen
auf die Situation von Heranwachsenden reagiert. Daran,
dass viele Jugendliche nur ein einziges Mal beim Jugend-
richter erscheinen, sieht man, dass das jetzige Jugend-
strafverfahren ganz offensichtlich Wirkung zeigt und ne-
ben dem Aburteilen von Fehlverhalten dafür sorgt, dass
Jugendliche nicht wieder straffällig werden. Das macht
deutlich, dass die bisherige Ausgestaltung des Jugend-
strafrechts richtig ist.

Mich ärgert aber, Herr Staatssekretär – ich denke, dass
es sich auch dabei um sachliche Kritik handelt –, etwas
anderes: Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie
verbesserte Möglichkeiten für die Opfer von rechtsradi-
kaler Gewalt geschaffen haben; das wird von uns nach-
drücklich unterstützt. Trotzdem darf die Frage gestellt
werden: Was ist eigentlich mit Opfern von linksextremer
Gewalt?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

Warum gibt es in diesem Land ganz offensichtlich Opfer
unterschiedlicher Qualität? Für uns als Liberale ist es
ganz selbstverständlich, dass Opfer von politischer Ge-
walt unterstützt werden müssen und dass ihnen Hilfe zu-
teil werden muss. Es darf nicht unterschieden werden, ob
sie Opfer von rechtsradikaler oder linksradikaler Gewalt
geworden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1421804500
Vor zwei Jahren hat die von der Bundesregierung
eingesetzte Kommission zur Reform des strafrecht-
lichen Sanktionensystems, also des Systems der Strafen
und Maßregeln der Sicherung und Besserung, einen Ab-
schlussbericht vorgelegt und Vorschläge gemacht. Sie hat,
wie ich finde, insbesondere sehr gute Vorschläge zu einer
besseren Wiedergutmachung, die auch den Opfern hilft,
unterbreitet. Seit zwei Jahren hören wir von der Bundes-
regierung nichts darüber, was aus den Vorschlägen der
Kommission wird. Ich halte das für außerordentlich
falsch. Ich möchte, dass wir eine Reform des Sanktionen-
systems vornehmen, die insbesondere die Möglichkeiten
der Wiedergutmachung, aber auch der gemeinnützigen
Arbeit stärkt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])


Gestern haben wir eine, wie ich finde, sehr gute An-
hörung zur Frage der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung durchgeführt. Mich hat es verwundert, wie sehr
sich die Positionen der Regierungskoalition plötzlich
geändert haben.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Erst ablehnen und jetzt mitmachen!)


Das war wirklich erstaunlich. Noch bei der Debatte im
Oktober hat Herr Stünker die nachträgliche Sicherungs-
verwahrung als Rückfall ins Mittelalter bezeichnet.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Der lernt noch dazu! – Joachim Stünker [SPD]: Den Entwurf! Sie müssen auch sagen, worüber wir geredet haben! Nicht verfälschen!)


Plötzlich hören wir – das ist vernünftig –, dass auch die
Regierungskoalition darüber nachdenkt, ob es nicht ange-
bracht ist, auf diesem Gebiet neue Möglichkeiten zu
schaffen.

Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass es der der
FDP angehörende Justizminister von Baden-Württemberg,
unser Kollege Goll, gewesen ist, der diese Problematik




Jörg van Essen

21597


(C)



(D)



(A)



(B)


zum ersten Mal in das Bewusstsein der Öffentlichkeit ge-
bracht hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der CDU/CSU: Ein guter Minister! – Erwin Teufel hat nur gute Leute!)


Er hat darauf hingewiesen, dass es doch nicht sein kann,
dass man, wenn alle Spezialisten und alle Experten, die
sich mit einem Strafgefangenen befassen, sicher vorher-
sagen – soweit man von Sicherheit reden kann –, dass der
zur Entlassung anstehende Straftäter wieder schwerste
Straftaten begehen wird, nicht prüfen kann, ob die
nachträgliche Sicherungsverwahrung dieses Straftäters
zum Schutz von Opfern ergriffen werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Es war doch auffällig, dass sogar die von der SPD und
von der PDS benannten Experten diesen Ansatz unter-
stützt haben. Sie haben auch den Ansatz unterstützt, den
die FDP–Bundestagsfraktion hier, im Bundestag, vorge-
tragen hat, die nachträgliche Sicherungsverwahrung im
Bereich des Strafrechts und nicht im Bereich des Polizei-
rechts anzusiedeln. Ich hoffe im Interesse der Personen,
die nicht Opfer werden, weil jemand in Sicherungsver-
wahrung genommen wird und darum eine Untat nicht be-
gehen kann, dass wir hier schnell zu einer vernünftigen
Regelung kommen werden.


(Beifall bei der FDP)

Im Übrigen hoffe ich – das ist schon angesprochen

worden –, dass auch beim Thema Graffiti ein Nachden-
ken einsetzt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie keine anderen Sorgen haben! – Gegenruf des Abg. Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Solange der Ströbele hier ist, geht das nicht!)


Im Bundestag ist das als eine besondere Kunstform ver-
harmlost und verherrlicht worden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das verherrlicht?)


Möglicherweise ist das manchmal auch Kunst. Fast im-
mer ist es aber Sachbeschädigung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann wird es auch verfolgt!)


Wir möchten eine klare und eindeutige Regelung, die si-
cherstellt, dass in jedem Fall – Herr Ströbele, ich unter-
streiche das – verfolgt werden kann.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es Sachbeschädigung ist, wird es verfolgt!)


Das Thema Gendaten ist angesprochen worden. Auch
dazu gab es gestern überraschende Stellungnahmen der
Sachverständigen. Ich glaube, dass die Gendaten eine
ganz besondere Bedeutung auch bei der Verhinderung von
Straftaten haben. Wir alle erinnern uns an den Fall des
Täters in Bayern, der ein Mädchen auf einer Schultoilette

vergewaltigt hat. Danach hat er wieder eine schwere
Sexualtat begangen. Nachträglich hat sich herausgestellt,
dass er im Land Nordrhein-Westfalen wegen eines
Sexualdelikts schon aufgefallen war.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Die melden ja nicht!)


Nordrhein-Westfalen hatte darauf verzichtet, obwohl wir
als christlich-liberale Koalition die Möglichkeit dafür ge-
schaffen haben, die Gendaten dieses Täters zu melden.
Dass dies keine Ausnahme war, kann man beim Vergleich
der gemeldeten Gendaten feststellen:


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die machen das mit V-Leuten!)


Baden-Württemberg – um noch einmal das positive Bei-
spiel mit einem liberalen Justizminister zu nennen – hat
annähernd 30 000 Gendaten von Sexualstraftätern an das
Bundeskriminalamt gemeldet, Nordrhein-Westfalen als
größtes Bundesland knapp 18 000.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Die können es nicht!)


Es besteht ein hohes Interesse daran, hier zu einer Ver-
besserung zu kommen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann ich nur unterstützen!)


Die Menschen, insbesondere mögliche Opfer, erwarten,
dass wir hier aktiver werden


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und dass die Defizite, die Nordrhein-Westfalen hat, die aber
auch viele andere Bundesländer haben – übrigens auch Bun-
desländer mit einem CDU-Ministerpräsidenten –, schnellst-
möglich abgebaut werden, damit Taten aufgeklärt und Tä-
ter hinter Schloss und Riegel gebracht werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber alles mit dem Gesetz nichts zu tun!)


Ich möchte gerne noch einen letzten Punkt ansprechen,
der auch Gegenstand der heutigen Debatte ist, hier aber
leider nach meiner Auffassung bisher zu wenig Beachtung
gefunden hat, und zwar die europäische Dimension.Wir
haben bei der Bekämpfung der Kriminalität natürlich die
Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit, insbe-
sondere bei der Bekämpfung der organisierten Krimina-
lität, aber auch bei der Bekämpfung des Terrorismus. Ich
bin sehr froh, dass wir erste wichtige Fortschritte, zum
Beispiel den europäischen Haftbefehl, erreicht haben.

Herr Staatssekretär Pick, Sie haben den jährlichen Si-
cherheitsbericht der Bundesregierung angesprochen. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Frage der europäischen
Zusammenarbeit, insbesondere die Defizite in diesem Be-
reich, zum Gegenstand des Berichtes machten, damit wir
als Bundestag diese Defizite im Interesse unserer Bürger
aufgreifen und Schritte unternehmen können, um sie ab-
zubauen.


(Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [FDP])





Jörg van Essen
21598


(C)



(D)



(A)



(B)


Insgesamt – dass soll meine letzte Bemerkung sein –
habe ich das Gefühl, dass innere Sicherheit bei uns wieder
ein Thema ist, dem wir einen wichtigen Stellenwert zu-
weisen. Ich glaube auch, dass in den nächsten Monaten
noch einige wichtige Schritte gemacht werden können. Ich
habe an die nachträgliche Sicherungsverwahrung erinnert,
bei der sich in der gestrigen Anhörung herausgestellt hat,
dass die Bedenken, die vonseiten der Koalition vorgetra-
gen worden sind, Gott sei Dank unberechtigt sind.


(Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Die Koalition der Bedenkenträger!)


Es hat sich gezeigt, dass es ein vernünftiges Modell gibt,
auf das wir uns hoffentlich einigen können. Wir als FDP
werden jedenfalls dazu beitragen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421804600
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Cem Özdemir für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421804700
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Recycling alter
Anträge ersetzt noch keine vernünftige Oppositionsarbeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich glaube, meine Fraktion – das gilt sicherlich auch für die
SPD-Fraktion – würde sich schämen, wenn ihre Oppositi-
onsarbeit darin bestünde, Anträge einfach zu recyceln.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Regierung legt doch nichts vor! Schämen Sie sich!)


Eine gute Opposition ist immer eine Regierung im Warte-
stand.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Diese Regierung ist eine Opposition im Wartestand! – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Wir sind schon ein bisschen weiter!)


Sie regiert mit und macht Politik so, dass das, was sie in
der Opposition fordert, auch umgesetzt werden kann,
wenn sie regiert, was Ihnen hoffentlich erspart bleiben
wird, auch im Sinne unseres Landes. Ich gebe zu, dass das
auch früher der Opposition nicht immer gelungen ist.
Aber das, was Sie vorgelegt haben, ist mit Sicherheit weit
von dem entfernt, was Sie umzusetzen wünschen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Davon verstehen Sie ja gar nichts, Herr Özdemir!)


Ich will ein Beispiel geben: Sie sprechen immer davon,
dass die Kriminalität steigt, dass wir in der Bundesrepu-
blik quasi in der Kriminalität ersticken.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wo steht das denn?)


Ich will das am Beispiel der Hamburger Kriminalitätssta-
tistik deutlich machen, die der Innensenator, der viel be-

achtete Herr – Sie wissen es alle und haben es in den Me-
dien verfolgt –, in diesen Tagen mit großem Brimborium
vorgestellt hat. Er behauptet, die Kriminalität sei im Jahr
2001 exorbitant angestiegen. Der Justizminister von Nie-
dersachsen, Herr Pfeiffer, gleichzeitig ehemaliger Chef
des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersach-
sen, hat diese Behauptung richtig gestellt: Die Gewalt-
delikte, vor denen unsere Bürger zu Recht Angst haben,
sind in Hamburg zurückgegangen. Gerade bei der Ju-
gendkriminalität haben wir in Hamburg den niedrigsten
Stand seit 1985 zu verzeichnen. Das ist doch ein Grund,
sich zu freuen, und kein Grund, in Panik auszubrechen,
Angst zu schüren und so zu tun, als ob das Land Hamburg
bzw. die Bundesrepublik Deutschland in der Kriminalität
erstickt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben die Kriminalitätsstatistik von vor zwei Tagen noch nicht gelesen!)


Ich finde, dass Herr Staatssekretär Pick in sehr erfreu-
licher Weise – das unterscheidet sich übrigens sehr wohl-
tuend von der alten Regierung – auf den Periodischen Si-
cherheitsbericht der Bundesregierung hingewiesen
hat. Das ist die Art – nämlich in sachlicher Form und
wohltuend nüchtern –, in der man mit dem sensiblen
Thema Kriminalität umgehen sollte. Das kann man nicht,
indem man hetzt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal etwas zur Sache! Sie hetzen doch!)


– Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, dass ich Ihre Fern-
sehauftritte in diesen Tagen genieße. Ich muss gestehen,
dass ich mich über jeden freue; denn es macht deutlich,
welche Alternative es gibt, wenn diese Regierung durch
eine Regierung, der Sie möglicherweise angehören wür-
den, abgelöst werden sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Damit könnte man leben!)


Herr Geis, man sollte sich das auch im Zusammenhang
mit der Kriminalitätsstatistik anschauen. Ich stelle mir
eine durchrasste und durchmischte Gesellschaft vor. Dann
möchte ich über das Thema Kriminalität noch einmal
diskutieren.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)


Aber, wie gesagt, das ist Ihr Problem.
Zum Thema Kriminalität hat die Union ohnehin ein

sehr bemerkenswertes Verhältnis. Einerseits beklagen Sie
das Ansteigen der Kriminalität, andererseits haben Sie zu
bestimmten Bereichen der Kriminalität ein sehr liberales
Verhältnis und sogar ein neoliberales, beispielsweise
wenn es um das Waffenrecht geht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Sie wissen, dass 50 Prozent aller Straftaten bei uns mit re-
gistrierten Waffen und mit Scheinwaffen geschehen. Wer
sich eine Scheinwaffe schon einmal angeschaut hat, weiß,




Jörg van Essen

21599


(C)



(D)



(A)



(B)


dass sie außerordentlich gefährlich sind. Sie sind selbst
für Profis kaum von tatsächlichen Waffen zu unterschei-
den.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sind heute schon verboten!)


Warum also wirft uns der ansonsten sehr geschätzte Kol-
lege Koschyk aus dem Innenausschuss, der jetzt nicht an-
wesend ist – zumindest sehe ich ihn nicht –, vor, wir wür-
den mit dem Gesetz über das Ziel hinaus schießen?


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Recht hat er! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Natürlich!)


Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich mit den unionsre-
gierten Ländern zusammen, die gerade diese Regelung
verhindern wollen! Unsere Polizisten sind dringend darauf
angewiesen. Deshalb fordert die GdP auch zu Recht, dass
diese Scheinwaffen aus dem Verkehr gezogen werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht das Problem!)


Sie sind eine Gefahr für deutsche Polizisten. Wir müs-
sen alles tun, damit hier eine größere innere Sicherheit
herrscht. Meine Damen und Herren von der Union, ich
kann Ihre Position nicht verstehen. Mit mehr Mut zur in-
neren Sicherheit dort, wo es tatsächlich darauf ankommt,
helfen Sie uns, mehr zu tun und nicht nur mehr zu reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch
noch den Bereich der so genannten Ausländerkrimina-
lität – er ist von Ihnen schon genannt worden – anspre-
chen. Man darf nicht darum herumreden, dass wir dort
tatsächlich Probleme haben. Es ist die so genannte Aus-
länderkriminalität, weil es meines Erachtens Ausländer-
kriminalität nicht gibt. Es gibt kriminelle Deutsche und
kriminelle Ausländer. Es gibt aber weder eine Deutschen-
kriminalität noch eine Türkenkriminalität, noch eine Ka-
tholikenkriminalität, noch eine Evangelenkriminalität. In-
dividuen werden straffällig. Diese müssen wir uns
anschauen. Man sollte aber hier vor Pauschalierungen
warnen.

Wenn Sie etwas dagegen tun wollen, dass Kinder aus
ausländischen Familien statistisch gesehen bezogen auf
Straftaten ganz besonders häufig auffällig werden – auch
uns besorgt das –, dann sollten Sie Ihre Konzepte vor-
legen. Ich würde sehr gerne hören, was Sie tun wollen, um
die Integration zu verbessern. Das wäre doch das wirk-
samste Konzept, um etwas gegen die Straffälligkeit in die-
sem Bereich zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wer hat denn dafür gesorgt, dass Kinder, die bei uns auf
die Welt kommen, künftig mit der Geburt keine Auslän-
der in dem Land mehr sind, in dem sie aufwachsen und
dessen Sprache sie sprechen? Das waren doch nicht Sie.
Sie wollten das Gesetz, das neue Staatsangehörigkeits-
recht, für das Sie sich im Ausland loben lassen, nicht. Auf
Auslandsreisen ist es immer sehr bemerkenswert, dass die
Unionskollegen das neue Staatsangehörigkeitsrecht gerne

zitieren. Es ist ja erfreulich, dass Sie in dieser Frage staats-
tragend sind; woanders würde ich es Ihnen auch wün-
schen. Sie haben dieses Staatsangehörigkeitsrecht jeden-
falls bekämpft. Sie haben gewollt, dass Kinder, die bei uns
in die Kindergärten und in die Schulen kommen, immer
noch nach der Herkunft ihrer Großeltern unterschieden
werden und nicht danach, ob sie dazugehören, ob sie also
Berliner, Bonner, Stuttgarter oder sonst irgendetwas sind.
Ich glaube, das wäre vernünftiger.

Wir reden in diesen Tagen auch von der PISA-Studie.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was hat das alles mit innerer Sicherheit zu tun? Das würde ich gerne mal wissen!)


Wir reden davon, dass wir auch im schulischen Bereich
Probleme haben. Auch das ist sicherlich zutreffend.

Meine Damen und Herren, wenn es aber zutreffend ist,
verstehe ich Ihre Blockade gegen das neue Zuwande-
rungsgesetz nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit dem neuen Zuwanderungsgesetz würden wir in
Deutschland dafür sorgen, dass künftig alle, die zu uns
kommen, Deutsch nicht nur lernen können oder sollen,
sondern lernen müssen. Jedem Christdemokraten müsste
das Herz übergehen. Er müsste uns die Füße dafür küssen
und uns dabei unterstützen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ihre möchte ich lieber nicht küssen! Die müssten Sie vorher waschen!)


– Ich bestehe nicht darauf; ich ziehe meine Schuhe regel-
mäßig aus und hätte damit wenig Probleme. Herr Kollege,
wie gesagt, das ist kein Muss.

Ich glaube, es ist aber ein Muss, dass Sie in dieser
Frage im Bundesrat vernünftig agieren und uns helfen,
dass wir hier zu einer Mehrheit kommen. Den Lehrerin-
nen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern und den
Eltern in unserer Gesellschaft würde das Leben erleich-
tert, wenn wir künftig für alle, die zu uns kommen – nicht
nur für Aussiedler –, verbindliche Sprachkurse einführen
würden. Das Leben wäre insgesamt leichter.

Ihre Integration funktioniert folgendermaßen: Sie un-
terscheiden zwischen Jugendlichen ausländischer Her-
kunft und deutscher Herkunft. Nach dem Antrag, den Sie
vorlegen, wollen Sie das Strafmaß noch verschärfen und
die Abschiebung von Jugendlichen erleichtern. Auch
das kann ich nicht verstehen. Für uns ist nicht entscheidend,
woher die Eltern von jemandem kommen, sondern für uns
ist entscheidend, wo die Straftat ausgeübt wurde. Wenn ein
Jugendlicher, der bei uns aufgewachsen ist, hier straffällig
wird, dann soll er nicht besser behandelt werden – wir wol-
len das nicht schönreden –, aber er soll auch nicht schlech-
ter behandelt werden als jemand, dessen Eltern schon im-
mer Deutsche waren. Er soll hier nach den Gesetzen dieser
Republik vor Gericht gestellt werden. Er soll bestraft wer-
den und in seine Gesellschaft – das ist unsere Gesellschaft,
die gemeinsame Gesellschaft – resozialisiert werden.




Cem Özdemir
21600


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Türkei ist nicht unser Alcatraz. Sie ist nicht die Ge-
fangeneninsel der Bundesrepublik Deutschland. Wir wer-
den unsere Probleme mit der Straffälligkeit nicht dadurch
lösen können, dass wir Jugendliche, die hier geboren und
aufgewachsen sind und gegebenenfalls hier straffällig
werden, in ein Land schicken, aus dem ihre Vorfahren
kommen. So kann man mit dem sensiblen Thema der in-
neren Sicherheit nicht umgehen. Da machen Sie es sich
ein bisschen zu einfach. Integration bedeutet nicht Inte-
gration in den Strafvollzug oder in die Abschiebehaft. Das
Thema Integration sollte Chefsache sein. Ich würde mir
wünschen, dass Sie hier einen Beitrag dazu leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weiter kommt im Antrag der Union zum Ausdruck,

dass sie mehr Datenmüll erzeugen will. Sie wollen ein
Mehr an Videoüberwachung, ein Mehr an Telefonüber-
wachung, mehr Speicherung von Daten jeder Art.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wo steht das? – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben den Antrag noch gar nicht gelesen!)


– Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann nicht sein!)

Sprechen Sie doch einmal mit Polizeipraktikern! Die wer-
den Ihnen erklären, dass das Problem bei einer wirksamen
Bekämpfung von Kriminalität darin besteht, dass man
Daten sorgfältig auswerten muss, jeder einzelnen Spur
nachgehen muss.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Wenn man keine Daten sammeln kann, kann man sie auch nicht auswerten!)


Datenmüll wird uns hier nicht helfen.
Ich will es einmal am Beispiel der Videoüberwachung

deutlich machen, die Sie fordern. Ich kann gut verstehen,
dass man, wenn man schon viele Jahre im Bundestag sitzt,
davon ausgeht, dass jeder gern im Licht der Öffentlichkeit
steht. Aber es soll tatsächlich noch Bürgerinnen und Bür-
ger in der Gesellschaft geben, die nicht gern im Licht der
Öffentlichkeit stehen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Bei den Straftätern ist das so!)


Das Bundesverfassungsgericht erinnert uns ständig daran,
dass Freiheit auch heißt, dass man sich vom Staat unbese-
hen in der Öffentlichkeit, auch auf öffentlichen Plätzen,
bewegen kann. Es ist Teil unserer Freiheitsrechte, dass
man sich unabhängig von einer Videokamera in der Ge-
sellschaft bewegen darf und bewegen kann.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie brauchen sich nicht so aufzuregen! Das wollen wir ja auch!)


Der Unterschied zwischen Ihrer Art von Sicherheit und
unserer Art von Sicherheit ist, dass Sie eine virtuelle Si-
cherheit und wir eine reale Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger wollen.


(Lachen bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich weiß nicht, was Sie unter Sicherheit verstehen!)


Wenn Sie zu mehr Sicherheit beitragen wollen, dann las-
sen Sie uns dafür sorgen, dass nicht mehr Kameras an die
Laternenpfähle gebunden werden, sondern in bestimmten
Stadtteilen, wo Bürgerinnen und Bürger Angst haben,
mehr Licht ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Kommen Sie mal nach Nordrhein-Westfalen! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das müssen Sie den SPD-regierten Ländern sagen!)


Lassen Sie uns dafür sorgen, dass dort, wo Menschen
Angst haben, mehr Polizeibeamte auf der Straße sind. Das
ist ein wirksamer Beitrag zur inneren Sicherheit. Virtuelle
Sicherheit hilft uns nicht.

Mich hat sehr gefreut, dass der Kollege van Essen in
diesem Zusammenhang auf Europa hingewiesen hat. Ich
glaube, das ist ein Bereich, den wir häufig vergessen,
wenn wir über innere Sicherheit reden.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Das ist der zweite Antrag!)


Die Union möchte Eurojust und Europol ausbauen. Im
Prinzip kann man nichts dagegen haben. Aber richtig
wäre, wenn Sie in diesem Zusammenhang sagen würden,
dass wir eine Stärkung des Europäischen Gerichtshofes
brauchen; denn das ist die Voraussetzung für das, was Sie
fordern, ohne das macht es keinen Sinn.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Lenken Sie nicht ab! Stimmen Sie unserem Antrag zu!)


Ich muss zum Schluss kommen. Deshalb möchte ich
als Letztes Folgendes sagen: Sie wissen, dass wir uns für
den Internationalen Strafgerichtshof einsetzen. Umso
mehr wundert es mich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der PDS, dass Ihre Schöneberger Ortsgruppe ge-
meinsam mit dem „Komitee zur Verteidigung von
Slobodan Milosevic“ eine Veranstaltung im Schöneberger
Rathaus durchführt. Setzen Sie sich einmal mit Ihren
Schöneberger Kolleginnen und Kollegen zusammen, sor-
gen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass dieser Verbrecher,
der zu Recht in Den Haag sitzt, dort auch bleibt, und ma-
chen Sie keine Solidaritätsveranstaltung mit irgendwel-
chen komischen Komitees, die in einer Demokratie nichts
verloren haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421804800
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler. Sie spricht für die
Fraktion der PDS.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1421804900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kriminalität bekämpfen und
Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger gewährleisten
wollen wir alle in diesem Hause, auch wenn Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union, leider wieder
einmal so tun, als wenn nur Sie die Sorgen und Ängste der




Cem Özdemir

21601


(C)



(D)



(A)



(B)


Menschen ernst nähmen und die allein selig machenden
Konzepte zum Schutz vor Straftaten hätten.

Die Wahlen stehen vor der Tür und manche Partei ist
da natürlich versucht, die eigenen Leib- und Magenthe-
men noch einmal aufzuwärmen und als frisch gekochte
Mahlzeit an den Wähler zu verfüttern. Je einfacher und
herzhafter das Essen ist, desto mehr wird es auch an den
Stammtischen gegessen.


(Beifall bei der PDS)

Oftmals liegt es dann aber wie Blei im Magen und ist
schwer verdaulich.

Genauso kann es uns mit Ihrem Antrag zur Krimina-
litätsbekämpfung gehen. Auf den ersten Blick scheinen
höhere Strafrahmen und neue Sanktionen – insbeson-
dere bei Jugendlichen –, kräftiges Durchgreifen bei der so
genannten Kleinkriminalität, die Ausweitung von DNA-
Analysen oder das sogar nachträgliche Wegsperren
in die Sicherungsverwahrung die einfachsten und
wirkungsvollsten Methoden zu sein, um unsere Gesell-
schaft von der Kriminalität zu befreien. Auf den zweiten
Blick ist der Preis, der für scheinbar mehr Sicherheit von
uns allen gezahlt wird, sehr hoch. Ich meine, er ist zu
hoch.


(Beifall bei der PDS)

Mehr Sicherheit kann nicht einseitig zulasten von Bür-

gerrechten und Freiheiten durchgepeitscht werden; denn
damit werden dem demokratischen Rechtsstaat Stück für
Stück seine Grundlagen entzogen. Sie werden sich des-
halb auch nicht wundern, dass wir die meisten, wenn auch
nicht alle in Ihrem Antrag aufgestellten Forderungen mit
einem klaren Nein beantworten.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Verwundert uns nicht!)


Zum einen können etliche Vorschläge wie die Ent-
deckung des Fahrverbots als Allheilmittel gegen fast jede
Straftat oder wie höhere Strafrahmen für Heranwach-
sende unter der Rubrik Alibi- und Symbolgesetzgebung
abgehakt werden.


(Beifall bei der PDS)

Es hört sich zwar erst einmal gut an, bringt aber in der Sa-
che selbst so gut wie gar nichts. Es ist mittlerweile eine
kriminologische Binsenweisheit, dass nicht so sehr die
Höhe der Strafandrohung beim Täter Wirkung zeigt. Viel-
mehr ist die subjektive Wahrscheinlichkeit, erwischt und
zügig verurteilt zu werden, verhaltensrelevant. Aber im
Unterschied zu neuen härteren Gesetzen kostet die bes-
sere materielle und personelle Ausstattung von Polizei,
Staatsanwaltschaften und Gerichten richtig Geld und
ist auch nicht ohne Mitwirkung der Länder durchzu-
führen. Nur so kann die Strafverfolgung effizienter und
kann die Dauer von Verfahren verkürzt werden.

Zum anderen wird bei den Menschen im Lande durch
solche strafverschärfenden Rundumschläge die Angst,
selbst Opfer einer Straftat zu werden, nicht abgebaut, son-
dern noch geschürt. Es entsteht nämlich der Eindruck, die
Kriminalität nehme überhand; denn ansonsten bräuchte

man ja nicht schon wieder eine härtere Gangart im Straf-
recht.

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstver-
ständlich muss Kriminalpolitik die Angst der Menschen
ernst nehmen. Ich bin die Letzte, die das nicht tut. Aber
sie darf die Angst nicht schüren. Nur wer die aktuelle
Kriminalitätsstatistik einigermaßen kennt, der weiß, dass
die objektive Kriminalitätslage und die subjektiven
Kriminalitätsbefürchtungen des Einzelnen deutlich ausei-
nander klaffen.


(Joachim Stünker [SPD]: Richtig! Genau!)

Auch ich werde bei Diskussionen ständig mit massi-

ven Kriminalitätsängsten konfrontiert. In diesem Punkt
ist die Anhängerschaft der PDS nicht anders gestrickt als
die anderer Parteien. Es wäre für mich wie für uns alle ein
Leichtes, dem Druck nachzugeben und mit der Forderung
nach mehr und härteren Strafen zu punkten. Wer möchte
nicht seinen Wählerinnen und Wählern mehr Sicherheit
versprechen? Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es je-
doch, angemessen und adäquat auf die jeweilige Krimi-
nalitätslage zu reagieren.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nichts wäre strafpolitisch schlimmer, als wenn aus dem
Bundestag das Signal käme: Weg mit dem liberalen Bür-
gerstrafrecht. Das ist Schnee von gestern. Was wir brau-
chen, sind knallharte Strafen, strenge Staatsanwälte und
gnadenlose Richter, um einer angeblich überbordenden
Kriminalität Herr zu werden.

Zum Dritten ist der von den Unionsparteien vorge-
schlagene Weg nicht nur ungeeignet, sondern geradezu
gefährlich. Die ständige Verschärfung des Strafrechts
führt eher zu einer Radikalisierung und Brutalisierung;
denn Druck erzeugt Gegendruck. Dies führt eben nicht zu
einer Entkriminalisierung unserer Gesellschaft.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])

Gesellschaftspolitik weicht damit auch auf Strafpolitik
aus.

Einen wirklichen Quantensprung zum Beispiel bei der
Verringerung von Jugendkriminalität wird man nur durch
eine zukunftsorientierte Jugendpolitik erreichen können.


(Beifall bei der PDS)

Man traut es sich schon fast nicht mehr zu sagen, weil es
so banal ist – es ist aber trotzdem richtig –: Die wirksams-
te Kriminalpolitik ist immer noch eine gute Sozialpolitik.
Nicht allein an den Symptomen herumdoktern, sondern
an die Ursachen von Kriminalität gehen! Aber das erfor-
dert – genauso wie die bessere Ausstattung der Strafver-
folgungsbehörden – erhebliche finanzielle Mittel und
wirkt nicht von heute auf morgen, dafür aber langfristig
und nachhaltig.

Zum Vierten enthält der Antrag auch eine Reihe von
rechtsstaatlich bedenklichen Einschnitten, die wir ableh-
nen. Ich verweise hier zum Beispiel auf die Erweiterung
der ohnehin bereits ausufernden Telefonüberwachung,
auf die Kronzeugenregelung, auf die deutliche gesetzli-




Dr. Evelyn Kenzler
21602


(C)



(D)



(A)



(B)


che Ausweitung der Anwendung von DNA-Analysen
oder auch auf die inhaltliche Entfernung von Tat und
Strafe durch die Verhängung von Fahrverboten auch für
Delikte, die keine Verkehrsstraftaten sind.

Nachdem ich Sie an dieser Stelle in meiner Kritik nicht
geschont habe, will ich so fair sein, die aus meiner Sicht
überlegenswerten Vorschläge zu benennen. Das sind die
Präventionsansätze, die Vorschläge zu einem verbes-
serten Opferschutz einschließlich einer effektiveren Ge-
staltung des so genannten Adhäsionsverfahrens oder auch
die konsequentere Abschöpfung der im Bereich der orga-
nisierten Kriminalität erzielten Gewinne.

Diese durchaus positiven Ansätze ändern jedoch nichts
an der von meiner Fraktion abgelehnten Grundrichtung
Ihres Antrages. Wer wie Sie das Strafrecht gewissermaßen
als Wunderwaffe zur Bekämpfung der Kriminalität an-
preist, der handelt wider besseres Wissen. Wer das Feld
der Kriminalpolitik mit Emotionen bestellt und sich selbst
vor den Karren der allgemeinen Empörung über spekta-
kuläre, schreckliche und tragische Straftaten spannt, der
erntet für den Rechtsstaat leider ungenießbare Früchte,
die am Ende uns allen schlecht bekommen können. Das
ist letztlich der Weg weg von einem liberalen Bürger-
strafrecht hin zu einem gefährlichen Feindstrafrecht.
Denn die Jugendlichen sind nicht unsere Feinde, auch
nicht die, die Straftaten begehen. Die Balance zwischen
schützender und strafender Funktion wird allmählich zu-
gunsten der strafenden Funktion verschoben.

Natürlich gibt es keinen Grund zur Zufriedenheit. Die
Kriminalitätsrate muss weiter sinken. Im Ausnahmefall
kann es auch einmal darum gehen, neue Formen der Kri-
minalität strafrechtlich zu erfassen. Ich denke hier zum
Beispiel an Straftaten im Zusammenhang mit der Nutzung
des Internets. Vor allem aber ist präventiv mehr zu tun, um
zu verhindern, dass Menschen kriminell werden.

Hier muss ich meinen Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU sogar zustimmen.


(Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Was? Das ist aber gefährlich, was Sie da machen! – Weitere Zurufe von der SPD)


Es muss – um es deutlich zu sagen – verhindert werden,
dass mit der Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung eine
kontraproduktive Politik betrieben wird, die im Ergebnis
keinen Rückgang der Kriminalität bewirkt. Insofern un-
terstreiche ich – jetzt muss ich der CDU/CSU schon wie-
der zustimmen –


(Ilse Janz [SPD]: Das ist jetzt aber übertrieben!)


folgenden Satz in ihrem Antrag: „Innere Sicherheit ver-
trägt keine Experimente zu Lasten der Bevölkerung.“


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421805000
Nun spricht
der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnen-
ministerium, der Kollege Fritz Körper.

F
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Rede ID: ID1421805100
Herr Präsident! Kolleginnen und
Kollegen! Die Karnevalszeit ist vorbei; aber wenn ich den
Antrag der CDU/CSU bewerten sollte, fiele mir nur der
Begriff „olle Kamellen“ ein.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist aber nicht fair!)


Das gilt übrigens auch für die Rede des stellvertretenden
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: So sollten Sie mit uns nicht umgehen!)


Ich will das aufgreifen, was Herr van Essen dazu ge-
sagt hat, wie man mit diesem Thema umzugehen hat: mit
Sorgfalt und nicht mit Aufgeregtheit. Denn, Herr Kollege
van Essen, in den vergangenen Jahren ist das Sicher-
heitsgefühl in der Bundesrepublik Deutschland zum
Glück kontinuierlich angestiegen. Darüber sollte man
sich freuen. Das hängt aber ganz entscheidend davon ab,
wie wir mit den Fragen der inneren Sicherheit auch in sol-
chen Diskussionsrunden hier umgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man eine objektive Betrachtung vornimmt – las-
sen Sie mich das hinzufügen –, bleibt eines ganz eindeu-
tig festzuhalten: Deutschland ist im weltweiten Vergleich
eines der sichersten Länder.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – HansPeter Kemper [SPD]: Aber erst seit 1998!)


Wenn man die Statistik bemüht – das ist auch in den vor-
herigen Redebeiträgen getan worden –, dann stellt man
erfreulicherweise fest, dass wir in Bezug auf die letzte
polizeiliche Kriminalstatistik Rückgänge zu verzeich-
nen haben, beispielsweise im Bereich der Wohnungsein-
brüche und des Straßenraubes, unter denen die Bevölke-
rung sehr leidet. Auch die Zahl der Autodiebstähle ist im
ersten Halbjahr 2001 auf den niedrigsten Stand seit 1993
gesunken. Die Straßenkriminalität ging im Jahr 2000 um
fast 5 Prozent zurück.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aufgrund unserer Maßnahmen!)


Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
besonders erfreulich ist – jedenfalls aus unserer Sicht –,
dass bei der Kinderdelinquenz und der Jugendkriminalität
der Negativtrend früherer Jahre gebrochen werden
konnte. Die Zahlen gingen zurück; darauf kann man ein
Stück weit stolz sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die steigen wieder! Leider!)


– Lieber Herr Kollege Geis, was die Frage des Steigens
anbelangt: Man kann die Zahlen derzeit noch nicht ob-
jektiv und sachgerecht beurteilen – Herr van Essen hat das




Dr. Evelyn Kenzler

21603


(C)



(D)



(A)



(B)


auch nicht getan; er hat lediglich einen Teil der Zahlen,
nämlich die aus Nordrhein-Westfalen, genannt –, weil sie
noch nicht vollständig vorliegen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: In Bayern ist es bestimmt besser! – Lachen bei der SPD)


Deswegen akzeptiere ich es so, wie Sie es gesagt haben.
Man muss schauen, welche Schlussfolgerungen daraus zu
ziehen sind.

Nun zur DNA-Analyse-Datei, mit der beim Bundes-
kriminalamt erfolgreich gearbeitet wird. Derzeit sind
170000 Datensätze gespeichert. Allein im Jahr 2001 konn-
ten mithilfe dieser Datei 1 577 Tatverdächtige ermittelt
werden. Dabei will ich gar nicht verhehlen: Ein solches In-
strument ist natürlich nur so gut, wie es bedient wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Deshalb geht mein Appell an die Länder, davon Gebrauch
zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Machen sie aber nicht!)


Die Bundesregierung kann stolz darauf sein, dass sie
die Ausgaben für die innere Sicherheit auf hohem Niveau
hält.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Im Jahr 2001 hatten wir die Situation, dass uns sage und
schreibe 100 Millionen DM mehr als im Vorjahr zur Ver-
fügung standen. In Anbetracht der Schuldenproblematik,
die Sie uns hinterlassen haben,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die unter Ihnen jetzt noch vergrößert worden ist!)


ist das eine erstaunliche Summe, ein gutes Ergebnis für
die innere Sicherheit.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Sie wären in der Frage der

inneren Sicherheit glaubwürdiger gewesen, wenn Sie
nicht nur unseren Sicherheitspaketen I und II, sondern
auch der finanziellen Unterlegung – im Ergebnis hat das
Bundesinnenministerium 480 Millionen DM mehr für die
innere Sicherheit zur Verfügung – zugestimmt hätten. Das
haben Sie nicht getan und daran sieht man, dass Sie in Ih-
rer Haltung nicht glaubwürdig sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben erreicht – das ist ein wichtiger Punkt –, dass
es bei der Bekämpfung von Kriminalität keine Grenzen an
örtlichen Zuständigkeiten mehr gibt. Wir haben beispiels-
weise die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesgrenz-
schutz auf der einen Seite und den Länderpolizeien auf
der anderen Seite intensiviert. Wir haben Sicherheits-
und Ordnungspartnerschaften entwickelt und verbes-
sert. So wird sichergestellt, dass kein Drogendealer im
Bahnhofsbereich und auch kein Schleuser im Grenzraum
nur deshalb der Strafverfolgung entgeht, weil die Zustän-
digkeit des Bundesgrenzschutzes endet und der Zugriff
der Landespolizei noch nicht möglich ist. Die Einrichtung

gemeinsamer Ermittlungsgruppen schafft zudem die Vo-
raussetzungen für ein gemeinsam geplantes Vorgehen bei
grenzüberschreitender Kriminalität und darauf sind wir
ein ganzes Stück stolz.

Das Gleiche gilt beim Thema Prävention. Prävention
gehört genauso dazu wie Repression.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist richtig! Ich bin sehr dafür!)


Wir haben beispielsweise mit den Ländern das Deutsche
Forum für Kriminalprävention gegründet. Wir haben
nicht nur geredet, wir haben gehandelt und verleihen der
Prävention dadurch einen wichtigen Stellenwert in der
Kriminalitätsbekämpfung. Darauf sind wir stolz.

Zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität.Wir
wissen: Geld ist das Herzstück der organisierten Krimi-
nalität.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Wir haben beispielsweise im Jahr 2000 die Geldwäsche-
verbunddatei beim BKA geschaffen. Zu nennen ist die
Einrichtung eines Informationsboards beim BKA zur
Zusammenführung aller Informationen. Wir haben im
internationalen Bereich das Mandat von Europol auf den
Tatbestand der Geldwäsche ausgedehnt und die EU-weite
Zusammenarbeit zentraler Meldestellen für Geldwäsche-
verdachtsanzeigen verbessert.

Lieber Herr van Essen, ich muss das noch einmal auf-
greifen. Bei unserer Sichtweise kann die Kriminalitäts-
bekämpfung – das ist völlig richtig – kein nationales
Thema sein. Wir sind dann besonders erfolgreich, wenn
wir unsere europäischen Nachbarn mit ins Boot nehmen.
Dafür ist Bundesinnenminister Otto Schily ein Garant.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/CSU: Tosender Applaus!)


Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass dem Bundes-
kabinett am vergangenen Mittwoch der Entwurf eines Ge-
setzes zur Geldwäschebekämpfung vorgelegt worden ist.
Damit werden wir die neue europäische Geldwäsche-
richtlinie relativ zügig umsetzen. Sie sehen daran: Diese
Bundesregierung braucht keine guten Belehrungen und
auch keinen Aufguss vonseiten der CDU/CSU-Fraktion.
Wir stehen für die innere Sicherheit und wir sind die Ga-
ranten dafür, dass es auch so weitergeht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421805200
Nun spricht
der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss das sein?)


Norbert Geis (CDU/CSU) (von Abgeordneten der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine




Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
21604


(C)



(D)



(A)



(B)


sehr verehrten Damen und Herren! Ich schätze die Kolle-
gen Staatssekretäre sehr.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Aber nur menschlich!)


Aber ich meine, das Thema hätte es verdient, dass zumin-
dest die Spitze eines Ministeriums, entweder des Justiz-
oder des Innenministeriums, bei dieser wichtigen Debatte
anwesend ist. Das möchte ich schon einmal bemerken.

Ich möchte mit dem Satz anfangen, mit dem Herr
Bosbach geschlossen hat, nämlich dass das Gegenstück
des Gewaltmonopols des Staates seine Verpflichtung ist,
seine Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt und Krimina-
lität zu schützen. Diese Schutzpflicht erfüllt der Staat auf
vielerlei Weise. Ein Mittel ist ganz gewiss das Mittel des
Strafrechts. Hier haben wir uns in den vergangenen Le-
gislaturperioden immer wieder gefragt, wo Lücken beste-
hen, ob wir Ausbesserungen vornehmen und bestehende
Normen verbessern müssen. Das ist in sehr umfangreicher
Weise geschehen.

Aber seit drei Jahren, also in dieser Legislaturperiode,
hat weder die Regierung noch die Koalition ein zählbares
Gesetz vorgelegt, das man wirklich hätte diskutieren kön-
nen. Wenn Sie einmal, wie bei der Kronzeugenregelung,
einen Anlauf machen, dann werden Sie durch Ströbele,
Özdemir und Beck gestoppt. Sie können sich von Ihrem
Koalitionspartner nicht befreien. Herr Ströbele brüstet
sich sogar damit, dass er es ist, der die Kronzeugenrege-
lung bislang verhindert hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich? Ich käme nie auf die Idee!)


Sie haben kein zählbares Gesetz vorgelegt, obwohl,
lieber Herr Körper, die Kriminalstatistik darauf hinweist,
dass wir leider wieder eine ansteigende Tendenz haben.
Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Die
Zahl der Straftaten stagniert jedoch auf hohem Niveau
und es gibt wahrscheinlich eine ansteigende Tendenz. Das
ist das, was Ihr Innenminister vor kurzem für das
Jahr 2001 verkündet hat. Vielleicht haben wir in 2002
wieder eine rückläufige Tendenz. Warten wir es ab. Aber
es ist in gar keinem Fall so, dass wir uns zufrieden zurück-
lehnen könnten.


(Erika Simm [SPD]: Das tut doch niemand!)

Das ist nach wie vor ein großes Problem. Die innere Si-
cherheit in unserem Land ist keinesfalls gewährleistet und
wird es aufgrund der illegalen Zuwanderung auch so
schnell nicht sein. Das ist nun einmal so.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dennoch werden die meisten Straftaten von Nichtzugewanderten begangen!)


Dabei darf man nicht vergessen, dass die Kriminalität
wirklich zu einer Belastung des täglichen Lebens wird:
Die Jugendkriminalität steigt. Die Rauschgiftkrimina-
lität nimmt beängstigende Formen an. Der Terrorismus ist
längst nicht besiegt. Die organisierte Kriminalität breitet
sich nach wie vor aus. Wir haben nicht die geringste Ver-
anlassung – das unterstreiche ich noch einmal –, uns sorg-
los zurückzulehnen und uns keine Gedanken mehr da-

rüber zu machen, wie wir dem Anspruch der Bürgerinnen
und Bürger auf Sicherheit vor Kriminalität und Gewalt
gerecht werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So jedenfalls nicht!)


Dabei bieten sich die Felder geradezu an. Sie sind
heute zum Teil schon genannt worden. Das gilt für den
Bereich der Sexualstraftaten und der Gewaltkriminalität.
Wir haben einen entsprechenden Gesetzentwurf vorge-
legt. Wir haben ihn gestern bei einer Anhörung von Sach-
verständigen in Ausschuss behandelt. Wir wollen mit die-
sem Gesetz die 1973 erfolgte Zurückstufung des
Straftatbestandes des § 176 StGB, des sexuellen Miss-
brauchs von Kindern, von einem Verbrechen auf ein
Vergehen rückgängig machen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sogar die von der CDU benannten Sachverständigen haben davor gewarnt!)


Ich weiß, dass es dagegen gute Argumente gibt. Aber
ich möchte eines sagen: Der Grund für die damalige
Zurückstufung wurde darin gesehen, dass die Auswirkun-
gen solcher Taten auf Kinder nicht erwiesen seien. Inzwi-
schen sind wir in der Forschung sehr viel weiter. Wir wis-
sen, dass es zu ganz schlimmen Auswirkungen auf Kinder
kommen kann. Deshalb meinen wir, dass dies ein Verbre-
chen ist.

Es geht uns lediglich darum – darin stimme ich mit
Herrn van Essen durchaus überein –, wie wir reagieren, ob
unsere Reaktionsmöglichkeiten breit genug sind, um auch
Fälle erfassen zu können, die anerkanntermaßen nicht so
schwerwiegend sind. Das gibt es. Wir haben Vorschläge
gemacht. Ich bin der Auffassung, dass diese greifen könn-
ten. Ich bin nicht der Meinung, dass man das nonchalant
so einfach vom Tisch fegen kann.

Wir haben die nachträgliche Sicherungsverwahrung
vorgeschlagen. Das ist ein wichtiges Thema. Sie haben
sich dem bislang verschlossen. Die Justizministerin hat
heute im Deutschlandfunk erklärt, dass sie vielleicht an
eine Vorbehaltslösung denkt. Ich hoffe, dass sie dazu
wirklich einen Gesetzentwurf vorlegt. Wir halten das für
wichtig; Sie haben es gestern im Ausschuss auch von den
Sachverständigen gehört. Wir halten dies für eine Lücke.
Wir müssen diese Lücke schließen. Wenn einer vor Ge-
richt im Erkenntnisverfahren verurteilt wird und das Ge-
richt die Erkenntnis eben nicht hatte, dass er tatsächlich
ein gefährlicher Wiederholungstäter ist, diese Erkenntnis
aber während des Strafvollzugs gewonnen wird, dann ha-
ben wir kein Mittel, ihn festzusetzen. Das geht nicht an.
Dieses Mittel müssen wir uns verschaffen. Das geht über
eine gesetzliche Regelung. Wir haben Skepsis gegenüber
der Vorbehaltsregelung. Sie ist aber immerhin besser als
gar nichts.

Wir haben Skepsis, Herr Stünker, weil wir all die alten
Fälle nicht erfassen und weil das eintreten könnte, was uns
gestern auch verschiedene Sachverständige gesagt haben,
dass nämlich dann, wenn die Vorbehaltslösung kommt,
das Gericht nur noch unter Vorbehalt ausspricht und den
Angeklagten nicht mehr schon von vornherein in die




Norbert Geis

21605


(C)



(D)



(A)



(B)


Sicherungsverwahrung schickt. Ich warte jedenfalls auf
Ihren Gesetzgebungsvorschlag. Wir werden darauf rea-
gieren. Wir werden ihn uns genau anschauen. Wir sind der
Auffassung, dass die Vorbehaltslösung besser ist als der
derzeitige Zustand.

Die Wichtigkeit und Bedeutung der DNA-Analyse ist
eigentlich unbestritten; man kann sie nicht verkennen.
Herr Özdemir weiß vielleicht nicht ganz genau, wovon er
da geredet hat. In jedem Fall geht es uns nicht, Herr
Özdemir, um die Sammlung von Daten, sondern es geht
uns um die Durchsetzung eines Mittels, das in hervorra-
gendem Maße, ja bestens geeignet ist, den Täter und auch
den Unschuldigen zu identifizieren. Dem versperren wir
uns nicht. Ich habe den Eindruck, das macht auch die SPD
nicht mehr. Es geht nur um die Frage der Ausgestaltung.

Wir sind der Meinung, dass das, was wir jetzt haben,
zu kurz greift. Die Anlasstat – dabei geht es um den An-
lass, der nötig ist, um eine DNA-Analyse durchführen zu
können – muss demnach eine schwerwiegende Straftat
sein. Hinzukommen muss – was ich befürworte – die Pro-
gnose der Wiederholungsgefahr. Die Anlasstat müssen
wir herunterzoomen auf Taten mit weniger schwerem kri-
minellen Gehalt. Das haben wir gestern auch von Herrn
Egs, einem Sachverständigen, der von Ihnen benannt
worden ist, deutlich gehört. Wir sind der Meinung, dass
wir auf dieser Schiene, die wir vorgeschlagen haben, zu
noch besseren Ergebnissen kommen können.

Ein weiteres Wort zur Jugendkriminalität. Die Ju-
gendkriminalität muss uns nach wie vor erschrecken. Die
Heranwachsenden haben einen Tatverdächtigenanteil von
10,8 Prozent bei einem Bevölkerungsanteil von 3,4 Pro-
zent.


(Joachim Stünker [SPD]: Das war noch nie anders!)


Die Jugendlichen, also diejenigen zwischen 14 und 18
Jahren, haben einen Anteil von 12,9 Prozent an den Tat-
verdächtigen bei einem Bevölkerungsanteil von 4 Pro-
zent. Das muss man einmal in Ruhe überdenken.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist leicht erklärlich, Herr Geis! Die Säuglinge und die Greise sind nicht kriminalitätsrelevant.)


– Ich weiß, Herr Ströbele, dass man damit nicht alles er-
klären kann. Ich will auch keine großen Erklärungen ab-
geben.

Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Sie jetzt natür-
lich nicht umgekehrt vorgehen und sagen sollten: Das in-
teressiert mich alles gar nicht. – Das ist schon ein Hin-
weis. Es ist kein Beweis, aber es ist ein Hinweis, den wir
ernst nehmen sollten. Wir meinen, dass die Jugendkrimi-
nalität nach wie vor unser Augenmerk haben muss.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sicher! Mitten in unserem Augenmerk!)


Wir sind natürlich für Prävention. Wir sind für die Gebor-
genheit in der Familie, für die Erziehungskraft der Schule.
Wir sind für die Integration in Vereinen. Wir sind für die

offene kommunale Jugendarbeit und vor allen Dingen
auch für eine bessere Lebensperspektive. Viele Jugendli-
che werden arbeitslos und geraten dann in die Krimina-
lität.

Die Prävention hat Vorrang; aber es gibt natürlich auch
repressive Mittel. Das Strafrecht sollte man dabei nie ganz
außer Acht lassen. Wir haben vorgeschlagen und wir sind
runtergefallen; wir sind von Ihnen überstimmt worden. Wir
bringen diesen Vorschlag wieder ein, weil wir trotz dieses
Rückschlags, den Sie uns erteilt haben, unseren Kampf um
einen besseren Schutz unserer Kinder und unserer Jugend-
lichen vor Kriminalität nicht aufgeben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind – das wiederhole ich ganz bewusst – für den

Verwarnungsarrest. Wir sind für die Einführung des
Fahrverbotes. Wir sind für die Meldepflicht. Wir sind für
die Erhöhung des Strafrahmens bei Heranwachsenden
dann, wenn wirklich schwere Straftaten vorliegen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis zehn Jahre geht doch heute schon!)


Wir sind auch für eine Klarstellung des Jugendgerichts-
gesetzes. Das Gesetz sieht die Heranziehung des Erwach-
senenstrafrechtes ja jetzt schon vor. Inzwischen haben wir
die Regel, dass wir nur noch Erwachsenenstrafrecht auch
bei Heranwachsenden haben. Wir sind aber der Meinung,
dass diese gesetzliche Regelung durch die Rechtspre-
chung abgeschwächt worden ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil sie noch nicht erwachsen sind, Herr Geis! Sie sind noch unfertig!)


– Ja, aber das Schlimme ist, dass wir ein Gefälle vom Nor-
den nach Süden haben. Im Norden und in den Städten
wird das Erwachsenenstrafrecht bei Heranwachsenden
nicht angewandt, auf dem flachen Land aber sehr wohl.
Das kann nicht richtig sein. Unser Vorschlag ist, hier zu
einer einheitlichen Regelung zu kommen.

Noch ein Wort zur Rauschgiftkriminalität: Sie ma-
chen einen Versuch mit kontrollierter Heroinabgabe. Nun
will ich nicht gegen diesen Versuch Stellung nehmen.
Aber wir haben solche Versuche auch schon in anderen
Ländern gehabt. So ist dieser Versuch in der Schweiz ne-
gativ ausgegangen. Daher sollten wir mehr und mehr den
Blick nach Schweden richten, wo es eine Nulltoleranz ge-
genüber jeglichem Drogengebrauch gibt,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Dann hören Sie mal auf zu saufen!)

zugleich aber therapeutische Maßnahmen vorgesehen
sind. Für eine solche Strategie müssten wir unsere Ge-
setze ändern. Das kann uns nicht gleichgültig sein; da-
rüber müssen wir zumindest nachdenken.

Zur organisierten Kriminalität: Die Kronzeugenrege-
lung wurde angesprochen. Es grenzt schon an Lächer-
lichkeit, dass Sie uns bei jeder Debatte zur inneren Si-
cherheit versprechen, Sie brächten einen Vorschlag zur
Kronzeugenregelung ein. Wir warten seit eineinhalb Jah-
ren darauf; aber bis heute liegt kein Vorschlag auf dem




Norbert Geis
21606


(C)



(D)



(A)



(B)


Tisch. Wenn wir Sie auf dieses Thema ansprechen, sagen
Sie, es seien „olle Kamellen“. Das Thema ist wichtig; wir
brauchen die Kronzeugenregelung. Deswegen bitte ich
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD, jetzt wirklich einmal zuzupacken, den Widerstand
der Grünen zu überwinden und einen Regelungsvorschlag
zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Präsident, erlauben Sie mir zum Schluss noch,

ganz kurz auf Folgendes hinzuweisen: Unsere Gefäng-
nisse sind überfüllt. Jeder Gefangene kostet mindestens
45 000 DM pro Jahr.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel zu viele sind da drin!)


In unseren Gefängnissen befinden sich sehr viele Auslän-
der, die kaum in den Griff zu bekommen sind. Wir müs-
sen daher das internationale Abkommen endlich ratifizie-
ren, das es uns erlaubt, die Ausländer auch ohne ihre
Zustimmung in ihr Heimatland abzuschieben. Ich bitte
Sie, darauf zu achten.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1421805300
Der Kollege
Joachim Stünker spricht nun für die Fraktion der SPD.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1421805400
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede des Kollegen Geis, die nun wirklich sehr moderat
war, ist ein Zeichen dafür, dass die Beurteilung des vor-
liegenden Antrages durch Staatssekretär Körper im Er-
gebnis richtig ist; denn das, was Sie mit Ihrem Antrag
vorgelegt haben, sind alles alte Kamellen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch keine Antwort! So können Sie doch mit Parlamentariern nicht umgehen!)


Was hier auf elf DIN-A-4-Seiten in 13 Unterabschnitten
niedergeschrieben worden ist, ist nichts anderes als der
rechtspolitische Offenbarungseid der CDU/CSU.


(Lachen bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt werden Sie aber sehr unsachlich!)


Sie haben in den mehr als drei Jahren dieser Legislatur-
periode nicht einen neuen, richtungweisenden rechtspoli-
tischen Gedanken in die Debatte eingebracht. Das gilt für
den heute vorliegenden Antrag ebenso. Die von Ihnen ein-
gebrachten Gesetzentwürfe und Anträge stammen fast
ausschließlich und beinahe wortgetreu aus der letzten
oder sogar der vorletzten Legislaturperiode des Deut-
schen Bundestages. Überwiegend mussten wir den Ein-
druck gewinnen, dass Sie jetzt in der Opposition versucht
haben, all das anzugehen, was Sie in 16 Jahren Kohl-Re-
gierung mit einem von der FDP besetzten Justizministe-
rium nicht haben umsetzen können.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie kennen ja die Geschichte nicht! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das sind aber auch keine neuen Kamellen!)


– Herr Kollege, das ist ein untauglicher Versuch und das
muss Ihnen heute, fast am Ende der Legislaturperiode, mit
Nachdruck gesagt werden.


(Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagen Sie schon von Anfang an! Ihnen fällt nichts mehr ein!)


Soweit Sie in dieser Legislaturperiode auf sich neu ab-
zeichnende gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren
versucht haben, ist Ihre Antwort, Herr Kollege Geis, über
die ganzen vier Jahre im Tenor immer dieselbe geblieben:
ein Mehr an Strafen, eine Ausweitung der vorhandenen
Strafrahmen und letztendlich eine Einschränkung von
Bürgerrechten. Das ist der Kerngehalt Ihrer rechtspoliti-
schen Philosophie, wie auch in diesem Antrag wieder
nachzulesen ist.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie tun gar nichts! Sie schlafen!)


Wir haben in dieser Zeit nicht einen einzigen neuen Vor-
schlag von Ihnen gesehen, der sich etwa mit der Stärkung
kriminalpräventiver Ansätze beschäftigt hätte. Dabei hat
sich in der Kriminologie seit langem die Erkenntnis
durchgesetzt, dass durch Repression allein Kriminalität
nicht erfolgreich bekämpft bzw. reduziert werden kann.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sind auch alte Kamellen!)


Zum Schutz der Bevölkerung vor Kriminalität spielt
vielmehr eine wirksame Kriminalprävention eine heraus-
ragende Rolle.

Ebenso haben Sie den Begriff der Integration – darauf
ist schon hingewiesen worden – immer vollmundig wie
eine Monstranz vor sich hergetragen; aber einen Entwurf
haben Sie nicht vorgelegt.

Das letzte Negativbeispiel ist hier auch schon mehr-
fach genannt worden: Gerade wenn wir über Kriminalität
reden, ist ein wesentliches Thema, nämlich im Sinne von
Prävention, das Zuwanderungsgesetz. Auch in diesem
Punkt sind Sie gerade wieder dabei, sich der Verantwor-
tung zu entziehen.

Fazit ist: Sie haben über vier Jahre eine Rechtspolitik mit
Schlagworten und ohne inhaltliche Substanz betrieben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Und Sie machen nur Polemik!)


So, wie Sie jetzt bei der dringend notwendigen Schaf-
fung eines Zuwanderungsgesetzes die Totalverweigerung
zur populistischen Maxime Ihres politischen Handelns er-
hoben haben,


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Wo ist der Zusammenhang?)


haben Sie es in diesen vier Jahren auch in den großen The-
menbereichen der dringend notwendigen Modernisierung
der Justiz getan. Nachdem Sie 16 Jahre lang einen
Flickenteppich angerichtet hatten, sind Sie aus rein popu-
listischen Erwägungen heraus in dieser Legislaturperiode




Norbert Geis

21607


(C)



(D)



(A)



(B)


sogar noch hinter Ihre Ansätze aus der letzten Legislatur-
periode zurückgegangen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie verstehen ja nichts! – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: So können Sie doch im Ernst nicht reden!)


Alles das, was Sie 1998 zum Beispiel noch in ein Ge-
setz geschrieben hatten,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sind doch viel klüger als das, was Sie sagen!)


durfte danach nicht mehr wahr sein. Ich denke dabei an
unsere Diskussion zur ZPO-Reform.

Nun kommen Sie heute mit einem Antrag, der in der
Tat vom Juli 2001 stammt und den Sie hier zu Wahl-
kampfzwecken diskutieren wollen. Sie haben offensicht-
lich auch vieles vergessen, was Sie in den Antrag hinein-
geschrieben haben, Herr Kollege Geis.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich vergesse nie etwas!)


Sie haben zum Beispiel einen Passus darin, mit dem Sie
die Gewinnabschöpfung bei bestimmten Straftaten prä-
ferieren. Richtig! Aber vor einigen Wochen, als wir in die-
sem Hohen Hause den Gesetzentwurf im Einzelnen dis-
kutiert haben, hätten Sie Gelegenheit gehabt, eine
Regelung zur Gewinnabschöpfung bei schweren Steuer-
straftaten mit zu beschließen


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist keine Gewinnabschöpfung!)


und schwere Steuerstraftaten als Vortaten zur Geldwäsche
zu nehmen. Da haben Sie, Herr Kollege Geis, dagegen ge-
stimmt. – So viel zu Ihrer Glaubwürdigkeit in diesen Fra-
gen.

Lassen Sie mich aber in drei Punkten, weil mir das für
die öffentliche Debatte wichtig ist, kurz auf Ihren Antrag
eingehen. Die übrigen Dinge sind genannt worden. Zu
Fragen der Jugendkriminalität wird Frau Kollegin Simm
noch etwas sagen. Aber drei Punkte möchte ich hier noch
ansprechen, weil sie uns gegenwärtig in der rechtspoliti-
schen Debatte beschäftigen und weil sie wichtig sind.

Der eine ist die von Ihnen wieder angesprochene
Kronzeugenregelung. Ich möchte noch einmal betonen:
Wir bleiben dabei, dass sich die am 31. Dezember 1999
ausgelaufene Kronzeugenregelung nicht bewährt hat.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zum niedersächsischen Justizminister!)


Da hilft es auch nichts, dass Sie mit immer wieder neuen
Worten versuchen, diese alte Regelung ins Gesetz zu brin-
gen. Es ist in keinem Fall gelungen, mithilfe der Regelung
Täter aus einer terroristischen Vereinigung herauszubre-
chen


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Fragen Sie doch einmal Herrn Pfeiffer!)


oder auch nur terroristische Straftaten zu verhindern.
Auch im Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat die
Kronzeugenregelung letztendlich versagt. Das ist eben-

falls Gegenstand einer Anhörung im vorigen Jahr gewe-
sen, bei der Ihnen das bestätigt worden ist.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Der Innenminister ist nicht dieser Auffassung!)


Die Regelung schuf eher Anreize zu falschen Verdächti-
gungen und zu Denunziationen.

Sinnvoll ist eine andere Regelung. Diese werden wir
Ihnen noch in dieser Legislaturperiode, Herr Kollege
Geis, auf den Tisch legen.


(Jörg van Essen [FDP]: Wann denn bitte?)

– Warten Sie es doch ab! Wir werden in der Tat eine Rege-
lung auf den Tisch legen, in der wir im Rahmen der Straf-
zumessungsregelung dafür Sorge tragen werden, dass
kriminalpolitisch sinnvolles Aufklärungs- und Präven-
tionsverhalten präferiert wird.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Fragen Sie mal Herrn Ströbele, ob er das auch so sieht! – Jörg van Essen [FDP]: Der Kollege sieht das nicht so!)


Lassen Sie mich ein letztes Wort zur nachträglichen
Sicherungsverwahrung für Sexualstraftäter sagen.
Gestern in der Anhörung hat sich eindeutig gezeigt, dass
der von Ihnen vorgelegte Entwurf, den wir im vorigen
Herbst hier diskutiert haben, Herr Kollege van Essen
– und insofern haben Sie mich vorhin nicht richtig zitiert –,
ganz erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken begegnet,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich nicht so verstanden!)


dass dieser Entwurf nicht der Weg zur Lösung dieses Pro-
blembereichs sein kann.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Die von Ihnen benannten Sachverständigen haben das anders formuliert!)


Das haben sogar Ihre Sachverständigen gestern in der An-
hörung bestätigen müssen. Man hat oft den Eindruck, dass
Ihnen teilweise nur noch die, die Sie aus Baden-Würt-
temberg oder aus Bayern benennen, die Stange halten.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Was heißt hier „nur“? – Norbert Geis [CDU/CSU]: Gegen Sie gibt es keine Bedenken, weil Sie nichts vorlegen!)


Wir werden Ihnen eine Regelung vorlegen,

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wann denn? – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Da sind wir gespannt!)


mit der wir das erkennende Gericht entscheiden lassen
und ihm die Möglichkeit einräumen, unter Vorbehalt Si-
cherungsverwahrung auszusprechen.


(V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Wenn sich erweisen sollte – wovon Sie ausgehen –,

dass man dann eine sichere Prognose stellen kann, soll
dies in Vollzug gesetzt werden. Sie können sicher sein,
dass wir uns noch in diesem Jahr mit einer solchen Rege-
lung beschäftigen werden.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie könnte längst vorliegen!)





Joachim Stünker
21608


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie ist rechtsstaatlich unbedenklich. Sie muss prozessual
sauber ausgestaltet sein, sodass der Betroffene die Mög-
lichkeit hat, das Revisionsrecht in Anspruch zu nehmen.
Der Bundesgerichtshof wird die Instanz sein, die über die
Anordnung entscheiden wird.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was ist mit dem Mittelalter, das Sie uns angedroht haben? – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Sie wollten doch das Polizeirecht ändern!)


– Ja, das was Sie vorgelegt haben, war Mittelalter.

(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Zu mehr als Mittelalter seid ihr nicht fähig!)

Wir werden Ihnen eine rechtsstaatlich saubere Rege-

lung vorlegen. Ich bin gespannt, wie Sie sich dann ver-
halten werden, ob Sie zustimmen oder außen vor bleiben
und sagen: Das reicht uns nicht.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421805500
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Kollegin Caspers-Merk das Wort.


Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1421805600
Herr Kollege Geis, ich
wollte Sie vorhin kurz ansprechen, weil Sie die heroin-
gestützte Behandlung erwähnt haben. Sie haben gesagt,
ein solcher Versuch sei in der Schweiz gescheitert. Der
Ordnung halber will ich sagen: Das Gegenteil ist der Fall.
In der Schweiz hat man mit diesem Projekt die Erfahrung
gemacht, dass die Todesfälle durch Drogen zurückgegan-
gen sind und sich die Arbeitsfähigkeit der Behandelten
deutlich gesteigert hat.

Kritisiert wurde auf internationaler Ebene im Rahmen
des Suchtstoffübereinkommens, dass man keine Test-
größe hatte, die man zum Vergleich hätte heranziehen
können. Gerade dies machen wir bei unserem Modell ei-
ner heroingestützten Behandlung jetzt anders. Wir haben
eine Gruppe von Substituierten und eine, die mit dem Ori-
ginalstoff, mit Heroin, behandelt wird. Daneben gibt es
zwei alternative psychosoziale Behandlungsarten. Man
sollte diese Arbeit ganz aus der ideologischen Auseinan-
dersetzung heraushalten. Es handelt sich um eine ergeb-
nisoffene Arzneimittelstudie, die auf Wunsch von sieben
Städten – die Mehrheit davon konservativ regiert – durch-
geführt wird. So gestandene Leute wie der Karlsruher
Oberbürgermeister, ein CDU-Mitglied, haben sich vollin-
haltlich für dieses Heroinmodell ausgesprochen, weil sie
sagen: Nur wer überlebt, kann aus einer Drogensucht aus-
steigen. Insofern ist die heroingestützte Behandlung ein
weiterer Baustein dafür, die Überlebenshilfen auszu-
bauen.

Ich bitte Sie herzlich, lieber Kollege: Warten Sie die
Ergebnisse ab. Nächsten Dienstag beginnt als erste die
Stadt Bonn mit der Behandlung. Nach zwei Jahren sind
Sie schlauer und wir auch. Wenn wir die Ergebnisse ha-
ben, sollten wir über den Fortgang und den Erfolg neu dis-
kutieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421805700
Herr Kollege Geis,
Sie möchten darauf antworten. Bitte sehr.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1421805800
Frau Kollegin, wenn Sie
zugehört haben, werden Sie auch gehört haben, dass ich
mich nicht gegen den Versuch ausgesprochen habe. Ich
will respektieren, wenn ein Menschenleben dadurch ge-
rettet wird. Was Sie in Bezug auf die Schweiz gesagt ha-
ben, nehme ich als Information so an. Ich habe eine an-
dere Informationen, lasse das aber so stehen.

Es gibt aber Erkenntnisse aus Schweden, das ähnliche
Wege gegangen ist. Bereits vor 18, 19 Jahren hat Schweden
ein solches Experiment gestartet und damit Schiffbruch
erlitten. Seit dieser Zeit praktiziert man dort Null-Tole-
ranz und Therapie.


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Sie informieren sich zurzeit bei uns!)


Null-Toleranz und Therapie kann man nur praktizieren
– das war der Ansatz in meiner Rede –, wenn die gesetz-
liche Regelung, die wir derzeit haben, geändert wird. Ich
respektiere aber durchaus – ich möchte das noch einmal
betonen – diesen Versuch, wenn damit Erfolge erzielt
werden können. Ich stimme Ihnen zu: Warten wir es ab!
Ich bin aber der Meinung, dass man einen Menschen aus
den Fesseln der Drogen nur befreien kann, wenn man ihn
gänzlich den Drogen entzieht.


(Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist das Ziel!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421805900
Jetzt hat der Kollege
Ronald Pofalla für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Ronald Pofalla (CDU):
Rede ID: ID1421806000
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich ein-
gangs auf den Punkt zu bringen – es hilft nicht, darum he-
rumzureden –: Für die innere Sicherheit unseres Landes
wird vonseiten dieser Bundesregierung eindeutig zu we-
nig getan.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Für die Ängste der Bevölkerung bringt die rot-grüne Re-
gierung wenig oder gar kein Verständnis auf.


(Joachim Stünker [SPD]: Wo leben Sie denn? – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von welcher Bevölkerung reden Sie?)


– Zu Ihnen komme ich gleich noch, Herr Ströbele. – Da
ist zum einen die berechtigte Angst vor dem internatio-
nalen Terrorismus. Nach den menschenverachtenden An-
griffen auf die USA am 11. September vergangenen Jah-
res sind innere und äußere Sicherheit nicht mehr so klar
zu trennen, wie es bisher der Fall war.




Joachim Stünker

21609


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Erfahrungen mit zwei totalitären Herrschaftsfor-
men auf deutschem Boden haben uns wie kein anderes
Land für sicherheitspolitische und sicherheitsorganisato-
rische Fragestellungen sensibilisiert. Vorbereitungen der
Anschläge in Amerika – es hilft ebenfalls nichts, darum
herumzureden – haben in Deutschland stattgefunden. Die
Veränderung der Bedrohungslage fordert nach unserer
Auffassung ihren Tribut. Auch in Deutschland waren und
sind Gesetzesänderungen und Investitionen in die Sicher-
heit unumgänglich.

Nachdem Bundesminister Schily in seinen so genann-
ten Antiterrorpaketen weitgehend Vorschläge umgesetzt
hat, die schon vor einiger Zeit von der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion erfolglos im Parlament eingebracht wor-
den waren, bleiben tatsächlich weitergehende, notwen-
dige Änderungen aus. Durch den linken Flügel der
Sozialdemokraten und vor allem durch die Bedenken-
träger der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wurden sinn-
volle weitergehende Maßnahmen weichgespült. Wieder
einmal hat sich der Bundesminister als Ankündigungsmi-
nister entpuppt. Nicht nur die Skandale um das NPD-
Verbotsverfahren lassen insoweit an der innen- und si-
cherheitspolitischen Kompetenz der Bundesregierung
zweifeln.

Ich frage daher: Wie sieht es zum Beispiel erstens mit
einer Initiativermittlungskompetenz durch das Bundes-
kriminalamt aus? Fehlanzeige: Wegen der Grünen bleibt
das BKA ein zahnloser Tiger,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen der Verfassung, Herr Pofalla!)


der uns nicht besser schützen kann, weil er nicht handeln
darf.

Zweitens. Die Ausweitung der Befugnisse des Verfas-
sungsschutzes und ähnlichem – ebenfalls Fehlanzeige.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das Gesetz nicht gelesen?)


Auskünfte bei Kreditinstituten, Post- und Telekommuni-
kationsdienstleistern dürfen auf Druck der Grünen nur un-
ter strengen Voraussetzungen eingeholt werden.

Drittens. Der polizeiliche Einsatz von Ortungsgeräten
für Handynutzer wurde ebenfalls weichgespült. Auch hier
schreckt Rot-Grün ohne Not zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!)


Viertens. Mit der ausreichenden Unterstützung der
Dienste brüsten sich die Damen und Herren der Regie-
rungskoalition jetzt, auch wenn gerade von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor noch nicht allzu langer Zeit
im Rahmen eines Antrags im Deutschen Bundestag die
Auflösung des Bundesnachrichtendienstes gefordert wur-
de. Ein Antrag aus der vorigen Wahlperiode trägt unter an-
derem die Namen des Bundesaußenministers und der
Kollegin Kerstin Müller. Der jetzige Bundesumweltmi-
nister Trittin hat in Presseinterviews – übrigens noch vor
wenigen Monaten – ebenfalls in dieses Horn gestoßen.

Der Kollege Ströbele – über den ich mich immer wieder
freue; so schätze ich manche seiner Interviews auch des-
halb, weil potenzielle grüne Wähler dadurch abgeschreckt
werden, tatsächlich grün zu wählen – forderte noch am
18. Oktober 2001 die Auflösung eines Dienstes, wie aus
einem Zitat in der Zeitung „Die Woche“ hervorgeht.

Doch auch in der SPD-Fraktion gab und gibt es viel-
leicht noch Stimmen, die in unserem Auslandsgeheim-
dienst eher eine Gefahr als eine Sicherheits- und Vorsor-
gegarantie sehen. Der Kollege Bachmaier beispielsweise
verglich den BND wörtlich mit einer Krake, die drohe,
sich in Institutionen unseres Staates festzusetzen. Das ist
übrigens auch in einer Bundestagsdrucksache aus der ver-
gangenen Legislaturperiode im Einzelnen nachzulesen.

Das ist das Gedankengut, mit dem wir es zu tun haben,
wenn es um die notwendige Verstärkung unserer Dienste
geht: viele Vorbehalte, aber gehandelt wird nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Insoweit ist es erstaunlich, dass überhaupt eine Verbes-
serung der Lage der Dienste erreicht werden konnte,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Plötzlich doch!)


wenn auch minimal. Das möchte ich noch darstellen. Es
wurde aber – darauf will ich auch noch eingehen – noch
lange nicht genug getan.

Der wichtigste Komplex für eine verbesserte innere Si-
cherheit zum Schutz vor Ausländerextremismus und -ter-
rorismus – nämlich durchgreifende und zielgenaue Maß-
nahmen im Bereich des Ausländerrechts – wurde sehr
unbefriedigend geregelt. Die im Antiterrorpaket II enthal-
tenen angeblichen Verschärfungen im Ausländerrecht im
Bereich der Ausweisung und der Abschiebung sind längst
nicht ausreichend. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass
für die derzeitige Bundesregierung nicht die Sicherheit im
Kampf gegen Terror und Ausländerextremisten die obers-
te Priorität hat. Der Handel „Koalitionsfrieden gegen Ent-
schärfung des Sicherheitspaketes“ geht nicht in Ordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich für deut-

lich weitergehendere Regelungen zur Terrorismus-
bekämpfung ein. Die Schwerpunkte dabei sind: eine deut-
lich bessere technische und personelle Ausstattung der
Polizei, der Nachrichtendienste, der Strafverfolgungs-
behörden und der sie unterstützenden Einrichtungen so-
wie ein besserer Austausch von Informationen zwischen
ausländischen und inländischen staatlichen Stellen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber Sache der Länder!)


– Der Bund könnte dort, wo er zuständig ist, bei seinen
Bundeseinrichtungen, für Verbesserungen sorgen. Aber
dazu sind Sie ja nicht bereit.

Weitere Schwerpunkte einer effektiven Terrorismus-
und Kriminalitätsbekämpfung sind die Wiedereinführung
einer Kronzeugenregelung für Straftaten. Wir mussten
uns gerade anhören, warum diese Regelung angeblich
falsch gewesen sei. Ich kann Ihnen nur raten: Wenn schon




Ronald Pofalla
21610


(C)



(D)



(A)



(B)


einmal ein Landesjustizminister aus Ihren Reihen kommt,
der in der Sache kompetent ist, weil er aufgrund einer
früheren beruflichen Tätigkeit in diesem Bereich ge-
forscht hat, dann sollten Sie auch auf ihn hören. Der nie-
dersächsische Justizminister hat sich eindeutig für eine
Verlängerung der Kronzeugenregelung ausgesprochen,
weil er sie als ein wirksames Instrument zur Verbrechens-
bekämpfung begreift. Nur weil Sie auf Herrn Ströbele und
andere Rücksicht nehmen müssen, können Sie das nicht
umsetzen. Das werden wir den Wählerinnen und Wählern
deutlich machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es fehlt eine verlässliche Rechtsgrundlage für den Ein-

satz verdeckter Ermittler. Es ist darüber hinaus versäumt
worden, zu überprüfen – eine solche Überprüfung ist
dringend erforderlich –, ob die nach wie vor geltenden
Einschränkungen bei der akustischen Wohnraumüber-
wachung und ob das Verbot der optischen Wohnraum-
überwachung noch zeitgemäß sind, um nur einige Bei-
spiele zu nennen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur hören, sondern auch gucken! – Joachim Stünker [SPD]: Immer nur Repression! Etwas anderes fällt Ihnen nicht ein!)


Sie haben vorhin gesagt, dass Erfolge aufgrund der
DNA-Analysedatei zu verzeichnen seien.


(Joachim Stünker [SPD]: Das habe ich nicht gesagt!)


Ich kann mich noch an die Beratungen in der letzten Le-
gislaturperiode erinnern: Als wir die Einführung einer
DNA-Analysedatei beschlossen haben, haben Sie, die da-
maligen Oppositionsfraktionen, dagegen gestimmt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!)

Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Regierung
übernommen hatten? Eine der ersten Gesetzesinitiativen,
die Sie im Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht ha-
ben, zielte auf eine deutliche Aufweichung der gesetzlich
festgelegten Voraussetzungen für die Speicherung von
Daten in der DNA-Analysedatei ab. Sie haben die ur-
sprünglich klare gesetzliche Regelung aufgeweicht, mit
der Folge, dass die Meldepraxis in den Bundesländern
sehr unterschiedlich ist. Das geht auch auf Sie zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Ströbele, wenn ich mir die Zahlen genau an-

schaue, dann stelle ich schlicht und ergreifend fest: Über-
all dort, wo rote bzw. rot-grüne Landesregierungen regie-
ren, übt man sich – das zeigt die Meldepraxis – im
Umgang mit der DNA-Analysedatei in Zurückhaltung. Es
kann doch nicht angehen, dass Nordrhein-Westfalen, das
größte Bundesland, nur halb so viele Meldungen – bezo-
gen auf die Einwohnerzahl – im Rahmen der DNA-Ana-
lysedatei vornimmt wie beispielsweise Bayern oder
Baden-Württemberg. Daran wird doch deutlich, dass die
DNA-Analysedatei überall dort, wo Grüne mitregieren,
nicht als ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung von
Verbrechen, sondern als ein zusätzliches Instrument zur

sinnlosen Überprüfung von Menschen angesehen wird.
Genau das ist falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen durchdachte, realitätsnahe Konzepte und

wirkungsvolle Maßnahmen, aber keine auf falsch ver-
standener Humanität und Naivität basierenden Kompro-
misse. Deshalb habe ich nur einige Punkte aufgegriffen,


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Aber sehr überzeugende!)


die im Rahmen der Beschlussfassung über die von uns
eingebrachten Anträge auch von Ihrer Seite Unterstüt-
zung erfahren sollten. Das wäre sinnvoll. Da Sie aber
nicht die Kraft haben, sinnvolle Vorschläge der Opposi-
tion mit Ihrem Votum zu unterstützen,


(Alfred Hartenbach [SPD]: Wenn sie sinnvoll sind, immer! Sie sind aber nicht sinvoll!)


werden vermutlich wiederum ganz sinnvolle Maßnahmen
nicht umgesetzt werden. Sie tragen dafür dann aber die
Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421806100
Das Wort hat nun der
Kollege Günter Graf für die SPD-Fraktion.


Günter Graf (SPD):
Rede ID: ID1421806200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich diese Debatte
mit früheren vergleiche, dann muss ich beeindruckt fest-
stellen, dass sie von der Opposition relativ zahm geführt
wurde.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Wir sind freundliche Menschen!)


Das ist für mich ein Indiz dafür, dass sie genau weiß, dass
die Innenpolitik und speziell die innere Sicherheit dieses
Landes beim jetzigen Bundesinnenminister in guten Hän-
den sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sollten unsere Höflichkeit nicht falsch auslegen!)


Dennoch thematisieren Sie diese Politik nach dem Motto
„alle Jahre wieder“; dabei fällt einem auf, dass Sie immer
dann, wenn in diesem Lande, an welcher Stelle auch im-
mer, Wahlen anstehen, das Thema der inneren Sicherheit
auf die Tagesordnung setzen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Entschließung stammt vom Juni letzten Jahres!)


Ich hatte ja gesagt, dass Sie sehr zahm geworden sind. Das
ist gut so und sollte auch künftig so bleiben. Insofern
danke ich Ihnen sogar dafür.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Da machen Sie sich vergeblich Hoffnung!)


Zu Ihrem Antrag möchte ich nur einige wenige Be-
merkungen machen: Wenn man sich die vielen Seiten
durchliest, muss man zu dem Ergebnis kommen – ich




Ronald Pofalla

21611


(C)



(D)



(A)



(B)


glaube, nicht nur ich, Sie selbst wissen es ja auch –, dass
zu 90 Prozent Dinge angesprochen werden, die einzig und
allein in den Aufgabenbereich der Länder fallen und nicht
in der Kompetenz des Bundes stehen. Punkt, aus, Ende.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Da haben Sie aber falsch gelesen!)


Herr Pofalla hat hier eben dargestellt, dass es Ver-
säumnisse beim BKAgebe. Auch ich könnte mir manches
anders vorstellen; das will ich hier gerne einräumen.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Dann handeln Sie doch!)


Diejenigen, die über die mangelnde materielle und
personelle Ausstattung klagen, verweise ich nur auf das
Antiterrorgesetz, welches wir mit unserem Minister
innerhalb kürzester Zeit auf den Weg gebracht haben. Mit
diesem Gesetz – das Volumen ist vom Staatssekretär hier
genannt worden – werden wir fast 500 Millionen DM
bzw. 250 Millionen Euro im Wesentlichen für mehr Per-
sonal und auch eine bessere materielle Ausstattung bei
den Organisationen, für die wir zuständig sind, sprich
Bundesgrenzschutz, sprich Verfassungsschutz, einsetzen.
Das muss man zur Kenntnis nehmen. Es ist an und für sich
bedauerlich, dass man sich in diesem Hohen Haus hin-
stellen und vor den Augen der breiten Öffentlichkeit die-
ses Landes Dinge erzählen kann, die mit der Wahrheit, ge-
schweige denn mit der Lebenswirklichkeit, nichts zu tun
haben. Dafür mache ich Sie neben einigen anderen ganz
persönlich verantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Schaffen wir doch die Meinungsfreiheit ab!)


Herr Geis hat sich ja heute Morgen in sehr zurückhal-
tender Weise geäußert, was mich auch wiederum beein-
druckt hat.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Suaviter in modo, fortiter in re!)


Ich möchte etwas zu einem Punkt sagen, der hier heute
noch nicht angesprochen worden ist. Schauen wir einmal
in die Bereiche, für die der Bund zuständig ist. Es sind
Stichworte wie organisierte Kriminalität gefallen. Dazu
ist bereits etwas gesagt worden. Es wurde nach der inter-
nationalen Zusammenarbeit und nach Europol gefragt.
Dazu ist noch nicht so viel gesagt worden; deshalb möchte
ich darauf eingehen. Die Alltagskriminalität in unserem
Lande ist ein wichtiges Thema. Wir wissen heute alle,
dass die internationalen Verflechtungen bis heute stän-
dig wachsen und im Grunde genommen letztlich zu einer
Bedrohung der freiheitlichen Länder werden können. Die
Bundesregierung hat in diesem Bereich in den letzten Jah-
ren eine ganze Menge geleistet.

Ich möchte nur einmal an die Zusammenarbeit der Po-
lizeibehörden erinnern. Was haben wir in letzter Zeit ge-
macht? Wir haben ein Abkommen mit der Schweiz ge-
schlossen, in dem in gegenseitigem Einvernehmen
geregelt ist, dass deutsche oder schweizerische Polizeibe-

amte die Grenzen des jeweils anderen Landes überschrei-
ten und dort tätig werden können. Damit soll wirksam
verhindert werden, dass Täter durch Ausnutzung der
Grenze aufgrund bürokratischer Hemmnisse Gewinne er-
zielen. Ein ähnliches Gesetz, in dem es um die Zusam-
menarbeit mit Tschechien geht, haben wir vor nicht allzu
langer Zeit hier im Bundestag beschlossen. Ich will an die
Vereinbarung erinnern, die wir mit dem polnischen Nach-
barn geschlossen haben. Das alles waren Dinge, die prak-
tisch und handhabbar sind. An ihnen kann man erkennen
– das erleben wir –, dass eine verstärkte Zusammenarbeit
erfolgreich ist. Im Hinblick auf die Festnahme von Extre-
misten in Italien – ich habe gestern Abend die „Tages-
schau“ gesehen – wurde von italienischer Seite die gute
Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland in
besonderer Weise gelobt. Praktische Politik dieser Art
zahlt sich aus und bewährt sich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir sind hier im Parlament, Herr Graf!)


– Ja, wir sind hier im Parlament. Aber ich habe Ihnen ganz
deutlich gesagt: Achten Sie einmal darauf, was Ihr Antrag
beinhaltet. Er richtet sich an die Länder.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein!)

Sie sprechen über Kriminalprävention.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Natürlich!)

Wo findet die denn statt? Wo ist sie wirksam? – Auf der
kommunalen Ebene. Gehen Sie einmal durch die Bun-
desrepublik Deutschland und schauen Sie, was sich vor
Ort ereignet! Wenn Sie das tun, dann kommen Sie zu an-
deren Erkenntnissen. Sie werden dann nicht mehr be-
haupten: Wir, der Bundestag, müssen im Bereich der Kri-
minalprävention mehr tun.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Schauen Sie sich mal die Zahlen an!)


Was wir tun können, das haben wir getan: Der Innen-
minister hat einen Präventionsrat eingerichtet, der eine
koordinierende Funktion übernimmt. Das ist gut und rich-
tig. Ansonsten tragen die Länder die Verantwortung. Sie
haben diese Angelegenheit überwiegend im Griff.

Ich höre hier immer wieder das Geschwafel über die
süddeutschen und die anderen von der Union geführten
Länder. Was da gesagt wird, ist eine Dummheit.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist kein Geschwafel!)


– Hören Sie auf! – Irgendein Kollege hat auf das hinge-
wiesen, was in Hamburg geschehen ist. In Hamburg hat
Herr Schill oder der von der Union gestellte Erste Bür-
germeister gerade eine 100-Tage-Bilanz vorgelegt. Wenn
ich es richtig in Erinnerung habe, dann ist, so die öffentli-
che Wahrnehmung, nichts passiert, obwohl sie große
Ankündigungen gemacht haben. Von einer Politik dieser
Art muss man Abstand nehmen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Man kann nicht innerhalb von 100 Tagen die Kriminalität abschaffen!)





Günter Graf (Friesoythe)

21612


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will in Richtung all derjenigen, die sich hier wie
Herr van Essen geäußert und sehr sachlich verhalten ha-
ben, deutlich sagen: Das Thema innere Sicherheit ist ganz
wenig dazu geeignet, um mit ihm – ganz gleich auf wel-
cher Ebene, auf der Landes- oder auf der Bundesebene –
Politik zu machen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das müssen Sie sich selber merken! Was machen Sie denn?)


Durch Ihre Art und Weise der Darstellung versuchen Sie
immer wieder, Angstgefühle der Menschen aufzugreifen,
um bei ihnen den Eindruck zu erwecken, dass es in unse-
rem Staate unsicher ist,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie diskutieren nicht fair!)


damit sie letztlich glauben, diese Regierung sei dafür ver-
antwortlich.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz sagen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421806300
Zum Schluss, einen
Satz!


Günter Graf (SPD):
Rede ID: ID1421806400
Ich bedanke mich
ausdrücklich. Ich möchte noch einen Satz sagen.

Man muss Folgendes zur Kenntnis nehmen – einer hat
es hier gesagt –: Vor vier, fünf Jahren glaubten in der Bun-
desrepublik Deutschland 75 bis 80 Prozent der Menschen,
sie könnten Opfer einer Straftat werden. Das war beunru-
higend.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das waren schon zwei Sätze!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421806500
Herr Kollege, ich
habe den Eindruck, dass der Abschluss Ihrer Rede länger
wird.


Günter Graf (SPD):
Rede ID: ID1421806600
Die Zahl derjenigen,
die Angst haben, Opfer einer Straftat zu werden, ist in den
letzten Jahren drastisch zurückgegangen. Das ist auch ein
Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung.

Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen für Ihre Ge-
duld, Frau Präsidentin. Beim nächsten Mal rede ich zwei
Minuten kürzer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421806700
Nun erteile ich dem
Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grü-
nen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Die Fraktion der CDU/CSU hat einen Antrag vor-
gelegt, in den sie alles hineingeschrieben hat, was sie sich
schon immer gewünscht hat: mehr Repression,mehr und
höhere Strafen – Jugendstrafe oder die Bestrafung von

Heranwachsenden –, mehr Überwachung – im Antrag ist
von mehr verdeckten Ermittlern die Rede;


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Gegen Verbrecher!)


trotz der vielen Diskussionen, die wir mittlerweile über
verdeckte Ermittler führen, sind Sie noch immer nicht ge-
warnt –, mehr Videoüberwachung und mehr akustische
Überwachung, auch im Wohnbereich, zum Beispiel im
Wohnzimmer, im Schlafzimmer. All das wollen Sie. Sie
meinen, damit könnte man mehr Sicherheit für die Bevöl-
kerung erreichen.

Ich bezweifle das. Ich denke manchmal, Sie glauben
das selbst nicht.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Ungeheuerlich! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch eine alte Masche! Damit kann man doch nicht argumentieren!)


Sie spielen vielmehr mit den Ängsten und den Befürch-
tungen in der Bevölkerung. Jeder von uns kennt das: Man
fühlt sich zu Hause oder am Arbeitsplatz nie sicher genug.

Das wird besonders deutlich, wenn Sie in einem Be-
reich, der heute hier noch gar nicht zur Diskussion gestellt
worden ist, viel mehr Sicherheit, mehr staatliche Maß-
nahmen und mehr Strafen fordern, etwa beim Betteln, bei
der Verwahrlosung und bei Graffiti, die Sie selber erwähnt
haben, das heißt bei der so genannten Bagatellkrimina-
lität. Dazu sagen Sie, Herr Geis: Wehret den Anfängen! –
Damit sollen Mord und Totschlag und schlimmere Ge-
walttaten, möglicherweise auch organisierte Kriminalität,
verhindert werden. Das ist das Konzept von Null-Tole-
ranz, das, wie Sie wissen, in anderen Ländern praktiziert
worden ist.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Zum Beispiel in New York!)


Sie versuchen, bei der Bevölkerung, bei den Zuhörerin-
nen und Zuhörern den Eindruck zu erwecken, dass Sie, in-
dem Sie gegen Bettler und gegen Graffiti vorgehen, mehr
Sicherheit für die Bevölkerung schaffen,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, natürlich!)

obwohl Sie wissen – weil Sie diese Untersuchung auch
kennen –, dass es in den Vereinigten Staaten, etwa in New
York, wo das praktiziert worden ist, nicht mehr, sondern
sehr viel weniger Sicherheit als in Deutschland gibt.


(Beifall des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Ronald Pofalla [CDU/ CSU]: Tosender Beifall eines Kollegen!)


Auf der Grundlage eines solchen Konzeptes sind dort, auf
die Bevölkerung umgerechnet, achtmal mehr Menschen
im Gefängnis. In Deutschland sind 90 von 100 000 im Ge-
fängnis, in den USA 800 von 100 000.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Ströbele: Alle freilassen! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Wegen ein paar Bagatelldelikten kommt bei uns keiner ins Gefängnis!)





Günter Graf (Friesoythe)


21613


(C)



(D)



(A)



(B)


Trotzdem ist Schwerstkriminalität wie Mord, Totschlag
und Raub etwa in New York zehnmal mehr an der Tages-
ordnung als in Deutschland. Wollen Sie diese Verhältnisse
nach Deutschland holen?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben nichts begriffen! Warum reden Sie so plump daher? – Manfred Grund [CDU/CSU]: Plump und doof ist das!)


Wollen Sie das als Konzept für mehr innere Sicherheit
hinstellen? Da haben Sie uns gegen sich; das wollen wir
nicht. Wir wollen Konzepte gegen die wirklich gefährli-
che Kriminalität, und das ist die Gewaltkriminalität. Wir
haben eine ganze Menge gemacht gegen Gewalt im häus-
lichen Bereich, in der Familie, gegen fremdenfeindliche
Gewalt. Wir wollen mehr für die Opfer tun und wir wol-
len weniger Waffen in der Gesellschaft. Sie verweigern
sich dieser Diskussion.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt ja gar nicht!)


Ich habe leider hier nur fünf Minuten Redezeit. Ein
zweiter Punkt erscheint mir ungeheuer wichtig: Sie wol-
len – so steht es in Ihrem Antrag – die Diskussion über die
Entkriminalisierung des Drogengebrauchs beenden.
Der Deutsche Bundestag soll beschließen, dass darüber
nicht weiter diskutiert werden darf.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Damit unterstützen Sie eine der dramatischsten Lebens-
lügen dieser Gesellschaft.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das meinen Sie! Gehen Sie mal nach Schweden!)


In dieser Gesellschaft wird akzeptiert – das hat man jetzt
gerade im Karneval gesehen; das erlebt man in Bayern
während des Oktoberfestes –,


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Sie wissen doch gar nicht, was Karneval ist!)


dass Leute feiern und sich bis zur Bewusstlosigkeit be-
trinken, das heißt mit der Droge Alkohol zumachen,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie verwechseln da was!)


obwohl durch diese Droge Alkohol Tausende von Toten
zu beklagen sind, Familien zerstört und Schäden in Milli-
ardenhöhe in der Gesellschaft verursacht werden.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ein anderes Thema, Herr Ströbele! Sie sind nicht im Thema! – Gegenruf des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen Sie nicht hören!)


Aber die zwei bis drei Millionen Kiffer wollen Sie weiter
kriminalisieren. Diese Lebenslüge in dieser Gesellschaft
werden wir nicht unterstützen. Wir wollen nicht, dass je-
mand sich bis zum Exzess betrinken darf, aber ein ande-
rer, der ein paar grüne Haschischpflanzen irgendwo im
Wald oder in seinem Badezimmer hält, eine achtmonatige
Freiheitsstrafe bekommt.


(Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Ströbele für die Kiffer! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Abenteuerlich wird es jetzt! – Norbert Geis [CDU/ CSU]: Das ist ja fürchterlich!)


Das ist nicht unsere Politik. Wir wollen weiter über an-
dere, bessere Wege aus der Drogengesellschaft reden.
Wir wollen alle Drogen mit Therapie wirksam bekämp-
fen, aber nicht so, wie Sie es machen: Die eine Droge wird
gefördert und gelobt und die andere Droge soll weiter kri-
minalisiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Abenteuerlich! Ein kleines Pflänzchen!)


Deshalb lassen wir uns diese Diskussion nicht verbieten.
Wir diskutieren weiter und werden auch weiterhin die
Forderung nach Entkriminalisierung dieser weichen Dro-
gen aufstellen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Es ist gut, wenn Sie aus der Regierung kommen!)


So viel gebe ich Ihnen als Denkanstoß mit. Ich bin sicher,
dass wir in Zeiten des Wahlkampfes von Ihnen noch häu-
fig die Diskussion über die Fragen der inneren Sicherheit
aufgedrückt bekommen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine wichtige Frage!)


Wir stellen uns dem gern. Wir wissen, dass wir in der Be-
völkerung für unsere Argumente mindestens so viel Bei-
fall bekommen wie Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die Grünen sacken unter 5 Prozent! Das ist ganz sicher!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421806800
Als letzter Rednerin
in dieser Diskussion erteile ich das Wort der Kollegin
Erika Simm, SPD-Fraktion.


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1421806900
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Der Antrag zur inneren Sicherheit,
über den wir heute diskutieren, wiederholt unter dem Ka-
pitel „Bekämpfung der Kinder- und Jugendkriminalität“
Altbekanntes, mit dem wir uns schon mehrfach auseinan-
der gesetzt haben. Er enthält einen Katalog von geforder-
ten Rechtsänderungen, die bereits Gegenstand eines eige-
nen Gesetzesantrages waren, den wir im Juli vorigen
Jahres mit der großen Mehrheit dieses Hauses abgelehnt
bzw. dem wir zumindest nicht zugestimmt haben.

Man fragt sich, was es soll, dass man gebetsmühlenar-
tig immer wieder dieselben Forderungen und Vorschläge
zur Bekämpfung der Jugendkriminalität wiederholt,
nachdem dazu bereits eine Anhörung im Rechtsausschuss
stattgefunden hat. Die große Mehrzahl der Sachverständi-
gen hat erklärt, dass es zum Teil überflüssig und zum Teil
nicht vernünftig sei, entsprechende Regelungen zu schaf-
fen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es
hier nicht wirklich darum geht, die Jugendkriminalität zu
vermindern, sondern einfach darum, irgendwelche Schau-




Hans-Christian Ströbele
21614


(C)



(D)



(A)



(B)


fensteranträge immer wieder neu zu stellen, um dem po-
litischen Gegner den Anschein zu geben, dass er sich die-
ses Problems nicht genügend annehme und auch die
nötige Sensibilität dafür nicht habe. Ich kann es nicht an-
ders sehen, weil sich von der Kritik, die, wie gesagt, in den
vergangenen Wochen auch von den Sachverständigen
geäußert wurde, nichts in irgendeiner Art und Weise in
den immer wieder gestellten Anträgen niederschlägt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist mir wichtig, hier festzuhalten, dass selbstver-

ständlich auch die Regierungskoalition – ich gehe davon
aus, dass auch alle Parteien, die hier im Parlament vertre-
ten sind, dies tun – das Problem der Jugendkriminalität
ernst nimmt und dass alle den eigentlich guten Willen ha-
ben, Lösungen und Maßnahmen zu finden, um die Ju-
gendkriminalität zu reduzieren. Dies sind wir den Opfern
und Geschädigten, aber auch den Jugendlichen selbst
schuldig. Es geht darum, sie vor einem weiteren Abglei-
ten in die Kriminalität und vor einem Leben zumindest am
Rande – wenn schon nicht außerhalb – der Gesellschaft zu
bewahren.

Der Weg, den wir gehen wollen, um zu versuchen, in
vernünftiger Weise zu einer Verringerung der Jugendkri-
minalität zu kommen, unterscheidet sich allerdings von
dem der Fraktion der CDU/CSU. Die Union setzt aus-
schließlich auf repressive Maßnahmen, nämlich auf die
Verschärfung der Gesetze und der Verfahrensvorschriften.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt, Frau Simm!)


– Das ist aber der Inhalt Ihres Antrages, Herr Geis.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich habe ausdrück lich auf die Prävention hingewiesen!)

Wir setzen darauf, dass die Ursachen der Jugendkrimi-
nalität bekämpft werden. Das heißt, dass man sich erst
einmal Gedanken darüber machen muss, was die Ursa-
chen der Kriminalität sind. Man muss sich diese kritisch
anschauen und dann gewisse Handlungskonzepte dage-
gen entwickeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei der CDU/CSU vermisse ich den Willen, das so zu ma-
chen. Das hat bei mir letztlich doch immer gewisse Zwei-
fel erzeugt, ob Sie es mit der Bekämpfung der Jugendkri-
minalität wirklich so ernst meinen.


(Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/ CSU]: Das sollten Sie nicht anzweifeln!)


Die Kriminalstatistikwurde hier schon so oft bemüht.
Ich habe immer den Eindruck, dass jeder genau das daraus
liest, was ihm gerade in den Kram passt. Festzustellen ist,
dass es seit Anfang der 80er-Jahre einen kontinuierlichen
Anstieg der Jugendkriminalität gibt. Zu Zeiten, als die
CDU/CSU eine eigene Mehrheit in diesem Parlament
hatte, habe ich nichts von entsprechenden Anträgen, wie
wir sie jetzt auf dem Tisch haben, gehört.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Doch, doch! Wir haben viel gemacht!)


Herr Geis, ich habe auch gehört, dass Sie mit der FDP
nichts machen konnten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein, wir haben mit der FDP zusammen Maßgebliches bewirkt! – Ronald Pofalla [CDU/CSU]: Beleidigung der FDP!)


Bei aller Liebe: Ich habe durchaus den Eindruck, dass
man mit der FDP manches nicht machen kann. Ich hatte
bisher aber eigentlich schon den Eindruck, dass man mit
ihr zusammen ein vernünftiges Konzept zur Bekämpfung
der Jugendkriminalität entwickeln kann.

Ich will es kurz machen, da ich nur noch wenig Rede-
zeit habe. Es kommt mir darauf an, deutlich zu machen,
dass wir im Bereich der Jugendkriminalität nicht auf die
Verschärfung von Gesetzen oder die Verschärfung von
Verfahrensregeln setzen, sondern die Ursachen der Ju-
gendkriminalität bekämpfen wollen.

Einen wunderbaren Hinweis darauf, worum es geht,
finden Sie im Begründungsteil der Polizeilichen Krimi-
nalstatistik. Unter „Zusammenfassung“ gibt es sehr kluge
Ausführungen dazu, was die Ursachen der Jugendkrimi-
nalität sind und wie man damit umgehen sollte. Ich kann
nur empfehlen, sich nicht immer nur die Zahlen anzu-
schauen, sondern auch die Begründungen dazu zu lesen,
die Fachleute aus dem polizeilichen Bereich zusammen-
getragen haben, die vielleicht für bestimmte Teile des
Hauses weniger verdächtig sind, als es möglicherweise
Psychologen, Kriminologen oder Soziologen sein mögen.

Wir haben eine ganze Menge getan, um die Ursachen
der Jugendkriminalität zu bekämpfen. Wir haben ein Pro-
gramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf-
gelegt, in das wir jährlich 2 Milliarden DM investiert ha-
ben. Damit haben wir 350 000 Jugendliche erreicht. In
diesem Programm ist Geld für begleitende sozialpädago-
gische Betreuung enthalten. Das ist neu und ganz wichtig.

Die Bundesregierung beteiligt sich an dem Programm
„Soziale Stadt“, das wiederum mit einer Reihe von Pro-
grammen gerade für gefährdete und benachteiligte Ju-
gendliche verknüpft werden kann, zum Beispiel mit
JUMP, aber auch mit einem Programm, das das Bundes-
jugendministerium mit eingebracht hat und bei dem es
insbesondere um die Benachteiligung von Jugendlichen
in sozialen Brennpunkten geht.

Wir haben diverse Programme zur Bekämpfung von
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemi-
tismus aufgelegt. Wir haben das Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung verabschiedet, und zwar – das
finde ich ärgerlich, Herr Geis – gegen die Stimmen der
CDU/CSU. Ich habe nie verstanden, warum Sie diesem
Gesetz nicht zugestimmt haben, zumal Sie vorher gesagt
hatten, es sei alles richtig, was der Staatssekretär in die-
sem Zusammenhang ausgeführt habe.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Weil wir selber eine bessere Formulierung hatten!)


Das Gewaltschutzgesetz mit der erleichterten Zuwei-
sung der gemeinsamen Wohnung gibt den Kindern eine
Chance, in einem relativ gewaltfreien sozialen Umfeld
aufzuwachsen.




Erika Simm

21615


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Deutsche Forum für Kriminalprävention ist ge-
nannt worden. Ich halte es auch für ganz wichtig, dass wir
mit dem Periodischen Sicherheitsbericht der Bun-
desregierung erstmals eine interpretierte und abgewogene
Daten- und Faktensammlung haben, die für künftige
Maßnahmen im Bereich der Kriminalität, gerade auch im
Bereich der Jugendkriminalität, sehr hilfreich sein kann
und die für mich die Möglichkeit bietet, künftige krimi-
nalpolitische Entscheidungen auf eine rationale Basis zu
stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421807000
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.


Erika Simm (SPD):
Rede ID: ID1421807100
Wir haben also eine ganze Menge
getan und können einiges vorweisen. Die Bekämpfung
der Jugendkriminalität ist allerdings eine dauerhafte Auf-
gabe, die uns auch die nächsten Jahre noch beschäftigen
wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421807200
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen jetzt zu einer Anzahl von Abstimmungen.
Erstens kommen wir zur Beschlussempfehlung des

Rechtsausschusses auf Drucksache 14/8284 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Krimi-
nalität wirksamer bekämpfen – Innere Sicherheit gewähr-
leisten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/6539 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men der CDU/CSU-Fraktion angenommen.

Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis g sowie Zu-
satzpunkte 2 a bis c auf:
20.a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbe-
reitung einer bundeseinheitlichen Wirtschafts-
nummer
– Drucksache 14/8211 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 27. Juli 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und derTschechi-
schen Republik über soziale Sicherheit
– Drucksache 14/8212 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
fachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter
in den Aufsichtsrat
– Drucksache 14/8214 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 3. Juni 1999 betreffend die Ände-
rung des Übereinkommens vom 9. Mai 1980
über den internationalen Eisenbahnverkehr

(COTIF)

– Drucksache 14/8172 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus

e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes
– Drucksache 14/8045 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Adler, Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-
Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller

(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reformprozess der internationalen Agrarfor-
schung vorantreiben
– Drucksache 14/8000 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Existenzbedrohende Prüfungspraxis der
Sozialversicherungsträger für kleine und mit-
telständische Betriebe unterbinden
– Drucksache 14/7155 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie




Erika Simm
21616


(C)



(D)



(A)



(B)


ZP2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Umweltauditgesetzes
– Drucksache 14/8231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll von Kioto vom 11. Dezember 1997 zum
Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen
über Klimaänderungen (Kioto-Protokoll)

– Drucksache 14/8250 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur tarifli-
chen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen
und zur Einrichtung eines Registers über unzu-
verlässige Unternehmen
– Drucksache 14/8285 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf zur Änderung des Um-
weltauditgesetzes auf Drucksache 14/8231 – das ist der
Zusatzpunkt 2 a – soll zusätzlich an den Rechtsausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? –
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen jetzt zu Beschlussvorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 21 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 18. April 2001 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande über soziale
Sicherheit
– Drucksache 14/7046 –

(Erste Beratung 195. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)


– Drucksache 14/8146 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Leyla Onur

Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung emp-
fiehlt auf Drucksache 14/8146, den Gesetzentwurf anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Walter Hirche, Rainer Brüderle, Paul K.
Friedhoff, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherung
der Energieversorgung bei Gefährdung oder
Störung der Einfuhren von Erdöl, Erdölerzeug-
nissen oder Erdgas
– Drucksache 14/7151 –

(Erste Beratung 199. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)

– Drucksache 14/8053 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Jung (Düsseldorf)


Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt auf Drucksache 14/8053, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung abgelehnt.

Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
dritte Beratung.

Tagesordnungspunkt 21 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Landwirtschaftliche Rentenbank
– Drucksache 14/7753 –

(Erste Beratung 208. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft

(10. Ausschuss)

– Drucksache 14/8169 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Schindler




Vizepräsidentin Anke Fuchs

21617


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthal-
tung von PDS und CDU/CSU ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Bei Enthaltung von PDS-
Fraktion und CDU/CSU-Fraktion ist der Gesetzentwurf
angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Zweiundzwanzigste Verordnung zur Durch-
führung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes

(Verordnung über Immissionswerte für Schadstoffe in der Luft – 22. BImSchV)

– Drucksachen 14/7831, 14/7874 Nr. 2.1, 14/8261 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann (Detmold)

Bernward Müller (Jena)

Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
sache 14/7831 zuzustimmen. Wer ist für diese Beschluss-
empfehlung? – Keine Gegenstimmen. Dann ist es ein-
stimmig so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 21 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der
Verpackungsverordnung
– Drucksachen 14/7923, 14/8086 Nr. 2.1, 14/8188 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann (Detmold)

Werner Wittlich
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
sache 14/7923 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Die Beschlussempfehlung ist ein-
stimmig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti-
tionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 21 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 347 zu Petitionen
– Drucksache 14/8118 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelüber-
sicht 347 angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 348 zu Petitionen
– Drucksache 14/8119 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelüber-
sicht 348 angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 349 zu Petitionen
– Drucksache 14/8120 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 21 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 350 zu Petitionen
– Drucksache 14/8121 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion
und FDP-Fraktion ist die Sammelübersicht 350 ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 21 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 351 zu Petitionen
– Drucksache 14/8122 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS
ist die Sammelübersicht 351 angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 352 zu Petitionen
– Drucksache 14/8123 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Ent-
haltung der FDP ist die Sammelübersicht 352 angenom-
men.




Vizepräsidentin Anke Fuchs
21618


(C)



(D)



(A)



(B)


Tagesordnungspunkt 21 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 353 zu Petitionen
– Drucksache 14/8124 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Ent-
haltung von PDS und FDP ist die Sammelübersicht 353
angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 354 zu Petitionen
– Drucksache 14/8125 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU ist die
Sammelübersicht 354 angenommen.

Tagesordnungspunkt 21 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 355 zu Petitionen
– Drucksache 14/8126 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Gegen die Stimmen der PDS ist die Sam-
melübersicht 355 angenommen.

Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Präsidenten
des Deutschen Bundestages
Bericht über die Rechenschaftsberichte 1999
sowie über die Entwicklung der Finanzen der
Parteien gemäß § 23 Abs. 5 des Parteiengesetzes

(PartG)

– Drucksache 14/7979 –

Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Bericht zur Kenntnis
genommen haben. Ich wüsste nicht, was ich jetzt täte, wenn
Sie ihn nicht zur Kenntnis genommen hätten. Aber Sie ha-
ben ihn zur Kenntnis genommen; dafür danke ich Ihnen.

Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

(Ergänzung zu TOP 21)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Stockholmer Übereinkommen vom
23. Mai 2001 über persistente organische Schad-
stoffe (POPs-Übereinkommen) und dem Proto-
koll vom 24. Juni 1998 zu dem Übereinkommen
von 1979 über weiträumige grenzüberschrei-
tende Luftverunreinigung betreffend persis-
tente organische Schadstoffe (POPs-Protokoll)

– Drucksachen 14/7757, 14/8014 –


(Erste Beratung 212. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)

– Drucksache 14/8298 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Paul Laufs
Sylvia Voß
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Es
haben sich alle erhoben. Er ist einstimmig angenommen.

Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den aktuellen
Vorgängen um die Vermittlungstätigkeit der
Bundesanstalt für Arbeit

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1421807300
Sehr geehrte Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ar-
beitsvermittlung ist das zentrale Element der Arbeits-
marktpolitik. Das ist auch die klare Botschaft unseres
Job-Aqtiv-Gesetzes.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aha!)

Trotz der konjunkturellen Schwächung haben wir immer
noch 1 bis 1,2 Millionen offene Stellen. Arbeitslosigkeit
ist also kein unentrinnbares Schicksal. Viele, ja die meis-
ten Arbeitslosen haben die Chance, wieder in den Ar-
beitsmarkt einzusteigen. Wenn es gelingt, die durch-
schnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit auch nur um eine
Woche zu verringern, können 1 Milliarde Euro eingespart
werden.

Allen Beschäftigten der Arbeitsämter muss deshalb
klar sein, dass die Arbeitsvermittlung absolute Priorität
hat. Ich begrüße es daher sehr, dass sich der Bundes-
arbeitsminister selbst mit allen Arbeitsamtsdirektoren
treffen wird, um die Vermittlungsoffensive persönlich zur
Sprache zu bringen. Dafür danken wir Ihnen, Herr
Arbeitsminister.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Das ist ja toll!)





Vizepräsidentin Anke Fuchs

21619


(C)



(D)



(A)



(B)


Bundesarbeitsminister Walter Riester hat im Übrigen
schnellstmöglich, umfassend und gründlich auf die Vor-
kommnisse bei der Bundesanstalt für Arbeit reagiert.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist ja ungeheuer offensiv! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Er hat reagiert! Er hätte einmal agieren sollen!)


Er ist der Motor des Reformprozesses. Das hat der Bun-
desrechnungshof gestern in der Ausschusssitzung in aller
Deutlichkeit bestätigt. Der Minister verdient dafür die aus-
drückliche Anerkennung aller Mitglieder dieses Hauses.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sind die Reaktionen von CDU/CSU verlogen
und aus meiner Sicht populistisch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie wissen ganz genau, dass der Bundesarbeitsminister
nicht die Fachaufsicht über die Bundesanstalt für Arbeit
hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das hat auch keiner gesagt!)


Sie lenken vom eigenen Fehlverhalten ab. Die Strukturen
bei der Bundesanstalt für Arbeit haben sich nicht in den
letzten Monaten ergeben, sondern haben sich ganz
langfristig verfestigt.


(Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt, dank Ihrer Gewerkschaftsfreunde!)


Hier ist erneut die Erblast der Kohl-Regierung aufgeflo-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/CSU: Fällt Ihnen auch was Neues ein?)


Die Bundesanstalt hätte die vom Rechnungshof festge-
stellten Mängel ohne weiteres auch selbst erkennen müs-
sen. Gefälschte Statistiken sind nur ein Beispiel für offen-
sichtliche Mängel in der Arbeits- und Ablauforganisation
der Bundesanstalt für Arbeit. Wir werden alles daranset-
zen, dass aus einer Bundesanstalt für Dienstanweisungen
und Runderlasse ein kundenorientierter Dienstleister
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Dafür haben Sie dreieinhalb Jahre Zeit gehabt!)


Die Meldepflicht wieder einzuführen passt in diesem
Zusammenhang wie die Faust aufs Auge. Vielleicht mer-
ken Union und FDP jetzt, dass sie mit ihrer Forderung auf
dem Holzweg sind. Noch mehr Bürokratie braucht die
Bundesanstalt für Arbeit nun wahrlich nicht. Sie braucht
mehr Raum für Vermittlungsaktivitäten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der CDU/CSU: Richtig, nur zu! – Wer regiert eigentlich seit drei Jahren?)


Viele Beschäftigte – das weiß ich – denken genauso und
warten auch auf Reformen. Es geht hierbei nicht um
blinde Privatisierung, sondern um einen vernünftigen
Wettbewerb sowie um Kooperation einer öffentlichen In-
stitution mit den Privaten. Eine Neustrukturierung ist
ohne personelle Konsequenzen jedoch kaum denkbar. Auf
eines legen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten in diesem Zusammenhang Wert:


(Dirk Niebel [FDP]: Dass es keiner von Ihnen ist!)


Diesmal muss die Treppe von oben gekehrt werden.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Von ganz oben! – Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


– Haben Sie nicht zugehört, meine Herren?
Geradezu abenteuerlich ist die Forderung der FDP, die

Landesarbeitsämter und die Selbstverwaltung abzuschaf-
fen.


(Dirk Niebel [FDP]: Beide Forderungen sind völlig sachgerecht!)


Danach wäre die Bundesanstalt für Arbeit nur noch eine
nachgeordnete Institution des Bundeswirtschaftsminis-
teriums.


(Dirk Niebel [FDP]: Sehr vernünftiger Vorschlag! – Walter Hirche [FDP]: Mit mehr Effizienz könnte man Milliarden sparen!)


Das wäre nicht nur eine Rolle rückwärts zum Zentralis-
mus, sondern auch ein Tritt vor das Schienbein der Bei-
tragszahlerinnen und Beitragszahler, der Arbeitgeberin-
nen und Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die je zur Hälfte die Beiträge zur Bundes-
anstalt für Arbeit bezahlen müssen und deshalb auch zu
Recht ein Mitspracherecht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die FDP ist auf dem Irrweg. Das ist ein Schnellschuss, der
schnell zum Rohrkrepierer wird. Anscheinend kann sie
nicht mehr klar denken. Sie glaubt, den nächsten Bundes-
wirtschaftsminister zu stellen,


(Dirk Niebel [FDP]: Sie wollen ablenken!)

und will sich so rechtzeitig einen Zugriff auf die Bundes-
anstalt für Arbeit sichern.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie wollen nur ablenken!)

Die Koalition hat stattdessen mit dem Job-Aqtiv-Ge-

setz den richtigen Motor gestartet.

(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Ach du meine Güte! Dass Sie nicht schamrot werden!)


Dieses Gesetz zeichnet den Weg für Reformen vor. Das
gilt vor allem für den Ausbau der Arbeitsvermittlung und
für die Zusammenarbeit mit Privaten auch im Wettbe-
werb. 2 000 Vermittler sind zusätzlich eingestellt worden.
Aufträge an Private müssen schnellstens vergeben wer-
den. Für 1 000 Männer und Frauen steht Geld bereit. Auch
darüber hinaus sind Kooperationen möglich.




Klaus Brandner
21620


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421807400
Herr Kollege, ich
muss Sie an die Redezeit von fünf Minuten erinnern.


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1421807500
Ich appelliere an die Be-
schäftigten der Arbeitsämter, jetzt nicht abzuwarten, son-
dern für den Wettbewerb bereit zu sein. Das bietet viele
neue Chancen, Herausforderungen an die Leistungsbe-
reitschaft und Spaß an der Arbeit.

An weiteren Reformschritten, vor allem im Hinblick
auf eine schlankere Organisationsstruktur, werden wir zü-
gig, aber mit der gebotenen Sorgfalt arbeiten.

Danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421807600
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, Sie wissen, dass in der Aktuellen Stunde
die Redezeit fünf Minuten beträgt. Ich musste eingreifen,
damit die Geschäftsordnung eingehalten wird.

Nun hat der Herr Kollege Julius Louven für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1421807700
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brandner, nun ist
mir klar, was Sie mit dieser Aktuellen Stunde bezwecken:
Sie suchen einen Sündenbock und wollen damit von der
Zahl von 4,3 Millionen Arbeitslosen, die Sie zu verant-
worten haben, ablenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– Klaus Brandner [SPD]: 4,82 Millionen, das war die Ausgangsposition!)


Dies, Herr Brandner, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Wenn überhaupt, dann gibt es drei Sündenböcke: den Ar-
beitsminister, den Präsidenten der Bundesanstalt und die
Selbstverwaltung. Es gibt jedenfalls nicht nur einen einzi-
gen Sündenbock.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Jagoda hat gestern im Ausschuss erklärt: Die Bun-

desanstalt befindet sich in einer tiefen Krise.

(Dirk Niebel [FDP]: Das ist wohl wahr!)


Mich als jemand, der die Bundesanstalt immer kritisch
gesehen hat, überrascht dies überhaupt nicht. Das Anse-
hen der Bundesanstalt ist nicht erst seit der Sendung
„Panorama“ von 1998, die jetzt immer wieder ange-
sprochen wird, sondern erst recht seit den Sendungen im
ZDF am 1. Mai des letzten Jahres und am 28. Januar
dieses Jahres in der ARD mit verheerenden Aussagen
schlecht. Reaktionen vom Minister, von Ihnen, der Bun-
desanstalt und der Selbstverwaltung habe ich nicht gehört.


(Andrea Nahles [SPD]: Die Reaktion von der Opposition war gleich Null!)


Der Minister hat gestern das versucht, was Sie heute
machen, nämlich die Schuld an dem, was sich in der Bun-
desanstalt tut, der vorigen Regierung zuzuweisen.


(Ute Kumpf [SPD]: Wir wollen keine Schuldigen finden, sondern Probleme lösen, Herr Louven!)


Der Minister hat dafür gestern Worte gefunden, die ich
hier nicht öffentlich wiederholen will. Aber, Herr Minis-
ter und Herr Brandner, ich will Ihnen schon sagen, was
wir in der letzten Legislaturperiode an Reformgesetzen
beschlossen haben. Wir hatten hier im Deutschen Bun-
destag mit Mehrheit beschlossen, die Landesarbeitsämter
aufzulösen.


(Dirk Niebel [FDP]: Ein sehr guter Vorschlag!)

Wir wollten fünf Direktionen als Mittelinstanz ohne Selbst-
verwaltung. Das Personal der Landesarbeitsämter wollten
wir komplett in die Vermittlung der örtlichen Arbeits-
ämter geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Warum haben die Länder nicht reagiert?)


Wir hatten beschlossen, den Arbeitsämtern vor Ort
mehr Zuständigkeiten zu übertragen und ihnen eigene
Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sollten in einem Wett-
bewerb zueinander stehen.


(Gerd Andres [SPD]: Was haben die CDULänder dazu gesagt?)


– Herr Andres, warten Sie einmal ab! Darauf komme ich
noch.

Wir haben damals für die Selbstverwaltung eine hälf-
tige Teilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
vorgeschlagen. Wir wollten es nicht mehr mitmachen,
dass pensionierte Bürgermeister und Gemeindedirektoren
in den örtlichen Verwaltungsausschüssen dafür sorgten,
dass ihre Städte noch ein paar AB-Maßnahmen mehr be-
kamen.


(Klaus Brandner [SPD]: War das ein Nachhilfeunterricht für Kommunalpolitiker?)


Wir haben private Vermittlung zugelassen, Herr
Brandner. Dabei hat es mich gestört, dass die Oberauf-
sicht über die Zulassung der Privatvermittlung bei der
Bundesanstalt geblieben ist. Aber das war im Kompro-
miss nicht anders zu machen. Darüber hinaus haben wir
uns für mehr Zeitarbeit stark gemacht und sie erleichtert.

Wir haben – das halte ich nach wie vor für wichtig –
damals darauf bestanden: Die Vermittler müssen Be-
triebserfahrung haben, damit nicht die falschen Leute ins-
besondere an mittelständische Betriebe vermittelt wer-
den. Die Arbeitsgruppe, der ich damals vorstand, hätte
gerne noch kräftigere Einschnitte in die Bundesanstalt für
Arbeit durchgesetzt. Aber im Wege des Kompromisses
ging nicht mehr. Mit der Bundesanstalt und dem Ministe-
rium war nicht alles zu machen. Die Drittelparität ließ
grüßen.

Zu diesen Schritten haben uns seinerzeit zwei Ereig-
nisse bewegt. Das erste Ereignis will ich hier schildern.
Die Selbstverwaltung beschloss vor fünf oder sechs Jah-
ren einstimmig, zusätzlich 5 Milliarden DM für Arbeits-
beschaffungsmaßnahmen, Fortbildungen und Umschu-
lungen zu fordern, ohne zu sagen, woher die Mittel
kommen sollten. Daraufhin haben wir damals die Selbst-
verwaltung in den Ausschuss eingeladen. Die Kollegen,
die dabei waren, werden sich sicherlich daran erinnern.






(C)



(D)



(A)



(B)


Dort haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer – es waren die
gleichen, die einige Monate vorher in der Kanzlerrunde
beschlossen hatten, die Staatsquote zu senken und die So-
zialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent zu drücken –
weiterhin für die 5 Milliarden DM geworben, ohne zu sa-
gen, woher die Mittel kommen sollten.

Ich habe damals gesagt: Es hätte nur noch gefehlt, dass
Frau Engelen-Kefer und Herr Dr. Himmelreich für die
Arbeitgeber die Sitzung Arm in Arm verlassen hätten.


(Ute Kumpf [SPD]: Was ist daran schlimm?)

– Schlimm ist, 5 Milliarden DM zu fordern.

Wir haben uns auch sehr darüber geärgert, wie die Ver-
mittlung läuft. Heute können Sie in der „Bild“-Zeitung
nachlesen: Es wurde ein Koch gesucht und eine Küchen-
hilfe vermittelt. Dies stört uns schon seit langem. Wir ha-
ben schon damals daran gearbeitet.

Die Selbstverwaltung bei der Bundesanstalt ist nach
meiner Meinung von Übel. Norbert Blüm hat einmal er-
klärt: Gäbe es die Selbstverwaltung nicht, müsste sie er-
funden werden.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist nicht wahr! Das war einmal richtig!)


Das ist sicherlich richtig, gilt aber nicht für die Bundes-
anstalt mit ihrer Drittelparität. Die Drittelparität führt
dazu, dass die drei Parteien schulterklopfend versuchen,
ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. So kann es beim
besten Willen nicht weitergehen.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421807800
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.


Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1421807900
Ich bin sofort am Ende.
Aber ich habe noch zwei Minuten Redezeit von meiner
letzten Rede übrig.


(Heiterkeit)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421808000
Wenn wir das alles
zusammenrechnen, dann können wir tagelang reden.


Julius Louven (CDU):
Rede ID: ID1421808100
Ich bin sofort fertig. Ich
will dem Minister und Herrn Brandner nur noch sagen:
Alles, was wir seinerzeit gemacht haben, haben Sie fana-
tisch bekämpft. Sie haben den Untergang des Sozialstaa-
tes in Deutschland beschworen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Bundesländer – Herr Andres, das haben Sie eben zu
Recht gesagt – haben damals mit 16:0 unsere Reform-
schritte abgelehnt, wohl aus dem Grunde, dass sie ihre
Landesarbeitsämter retten wollten. So geht es nicht wei-
ter mit der Bundesanstalt für Arbeit. Sie hatten schon drei
Jahre lang Gelegenheit, daran zu arbeiten, dass es besser
wird.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie 16 Jahre!)


Anstatt zu vertuschen, sollten Sie hier einmal sagen, was
Sie in dieser Frage bisher getan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gerd Andres [SPD]: Was heißt denn hier „ihre Landesarbeitsämter“? Wir wollen mal Herrn Stoiber hören zu seinem Landesarbeitsamt!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421808200
Herr Kollege Louven,
nun sind die zwei Minuten, die Sie noch gut hatten, auch
aufgebraucht – nur, dass Sie das wissen.

Jetzt hat die Kollegin Dr. Thea Dückert für Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.


(Gerd Andres [SPD]: Thea, lass dir zwei Minuten geben!)


Jetzt kann jeder noch zwei Minuten länger reden. Ich
glaube aber, in den nachfolgenden Debatten wird man da-
rüber nicht gerade begeistert sein.

Wir sind in der Aktuellen Stunde, meine Damen und
Herren. Die Kollegin Dückert hat das Wort.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421808300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
was ich zu sagen habe, kann ich kurz und präzise sagen. –
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat gestern zu
Recht im Ausschuss bemerkt, dass die Bundesanstalt in
einer großen Krise steckt. Er hat, wie ich finde, ebenfalls
zu Recht bemerkt, dass er die Verantwortung dafür zu
übernehmen hat.

Es hat sich ein Riesendesaster aufgetan; das wissen wir
alle. Seit Jahren waren die Statistiken falsch, waren die
Vermittlungsergebnisse falsch. Seit Jahren übrigens gab
es Anzeichen dafür, dass das so ist, zum Beispiel in der In-
nenrevision. Es ist aber nichts erfolgt.


(Zuruf von der FDP: Wer hat die politische Verantwortung?)


Es gab – das wurde eben angemerkt – 1998 eine diesbe-
zügliche „Panorama“-Sendung. Der Kollege Blüm als da-
mals zuständiger Minister hat darauf nicht reagiert.


(Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: 14 Tage vor der Bundestagswahl! 14 Tage!)


Es ist aber auch in der Bundesanstalt für Arbeit nichts un-
ternommen worden. Das, was dort angemerkt worden ist,
ist dort noch heute Struktur. Das ist das Problem.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das Problem ist Rot-Grün!)


Das Problem sind nicht die Zahlen selbst. Es ist für ei-
nen Arbeitslosen völlig egal, ob er in der Statistik auf-
taucht oder nicht. Das Problem ist doch, dass diese
falschen Zahlen zu einer falschen Struktur und Ausrich-
tung in der Bundesanstalt für Arbeit und auch zu falschen
Orientierungen in der Politik geführt haben.

Kurz: Mit diesem Desaster hat sich aufgetan, dass ein
Riesenreformbedarf an Haupt und Gliedern in der Bun-
desanstalt für Arbeit, aber auch in der Arbeitsmarktpolitik
besteht. Sie muss neu bewertet werden. Das Vertrauen in




Julius Louven
21622


(C)



(D)



(A)



(B)


die Arbeit der Bundesanstalt für Arbeit ist in den letzten
Wochen sehr erschüttert worden. Ich denke, dass es für ei-
nen effektiven Neuanfang – der notwendig ist – richtig ist,
dass Herr Jagoda gestern gesagt hat – davor habe ich
großen Respekt –, dass er einem Neuanfang nicht im
Wege stehen will, weil das Vertrauen in die Arbeit der
Bundesanstalt wichtig ist. Zu Recht hat er nach einer fai-
ren Lösung verlangt; denn die Rechtskonstruktion der
Bundesanstalt für Arbeit, die wir heute haben, ist eigent-
lich unmöglich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Konstruktion muss geändert werden. Es kann nicht
sein, dass Beamte auf Zeit an der Spitze sitzen.

Wir brauchen eine Reform. Das ist aber auch eine
große Chance.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist ungeheuer spannend, was sich da entwickeln wird.
Es wird eine Reform sein, die ein modernes Verwaltungs-
system entstehen lassen muss. Es wird die Chance zu ei-
ner effektiven Arbeitsvermittlung sein. Ziel muss es ganz
klar sein, eine schlagkräftige Arbeitsvermittlung ins Zen-
trum zu stellen. Ziel muss es sein, eine klare Kundenori-
entierung zu installieren. Ziel muss es sein, dass Vermitt-
lung Priorität erhält.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist auch möglich, diese Reform dazu zu nutzen, die
innovativen Potenziale in der Selbstverwaltung wieder
zum Leben zu erwecken. Diese Potenziale sind verschüt-
tet und wurden nicht richtig genutzt. Ich sage hier deut-
lich: Der Vorstand, der laut Gesetz das Exekutivorgan ist,
hat in den letzten Jahren viel zu viel an sich vorbeilaufen
lassen. Auch das muss geändert werden.

Wir brauchen eine langfristig wirkende Reform. Die
Arbeit daran wird uns lange begleiten. Wir brauchen ins-
gesamt Kurzfrist-, Mittelfrist- und Langfriststrategien.

Als Erstes müssen – das ist meine feste Überzeugung –
ein oder zwei Unternehmensberater in der Bundesanstalt
für Arbeit alles noch einmal auf den Kopf stellen. Die
Bundesanstalt ist von sich aus nicht in der Lage, dies zu
leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da muss die ganze Spitze weg!)


Zweitens müssen wir die örtliche Ebene stärken. Die-
ses Desaster haben ja nicht die überlasteten Arbeitsver-
mittler verschuldet. Sie brauchen Hilfestellung. Die örtli-
che Ebene muss gestärkt und es muss umgeschichtet
werden. Die Behörde insgesamt ist vollkommen falsch
aufgebaut.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Also muss die ganze Spitze weg!)


Die örtliche Ebene braucht auch mehr Vermittler. Darüber
hinaus muss auf der örtlichen Ebene die Zusammenarbeit

mit den Privaten gestärkt werden. Die Privaten müssen
schneller und effektiver arbeiten können.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Auf einmal!)


– Das haben wir schon immer gesagt.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Vor drei Jahren haben Sie noch von Seelenverkäufern gesprochen!)


– Aber Herr Louven, die Grünen haben ins Job-Aqtiv-Ge-
setz eingebracht, dass die privaten Vermittler heute über-
haupt eine Möglichkeit sind,


(Julius Louven [CDU/CSU]: Seelenverkäufer haben Sie sie genannt!)


und dass die Arbeitslosen – im Moment erst ab dem sechs-
ten Monat – einen Anspruch auf private Vermittler haben.
Wir wollen jetzt erreichen, dass die Arbeitslosen von Be-
ginn an das Recht haben, zwischen privaten Vermittlern
und der Arbeitsverwaltung wählen zu können, weil wir
der Ansicht sind, dass auch an dieser Stelle Konkurrenz
das Geschäft belebt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu Beginn habe ich gesagt, man könne das alles auch
sehr kurz zum Ausdruck bringen. Ich fasse zusammen:
Wir brauchen eine umfangreiche Reform. Wir brauchen
Entschlackung, Entbürokratisierung, Umstrukturierung,
neue Steuerungssysteme, klare Verantwortlichkeiten, De-
zentralisierung und neue Controlling-Systeme. Auch soll-
ten wir beim „Arbeitsamt 2000“ ein Moratorium einlegen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das packen Sie nicht mehr!)


Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Walter Hirche [FDP]: Ein vernichtendes Urteil über die Aufsicht!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421808400
Jetzt hat der Kollege
Dirk Niebel für die FDP-Fraktion das Wort.


(Gerd Andres [SPD]: Muss das sein? – Aber bei der Wahrheit bleiben, bitte!)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1421808500
Frau Präsidentin! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde, die die
Fraktionen beantragt haben, die die Bundesregierung
tragen, ist Bestandteil des frappierenden Ablenkungs-
manövers, das wir mittlerweile seit drei Wochen in der
Öffentlichkeit erleben. Sie haben völlig Recht, dass der
Präsident der Bundesanstalt für Arbeit inhaltlich die Ver-
antwortung für die Missstände in seinem Haus zu tragen
hat. Aber die politische Verantwortung liegt bei Ihnen,
Herr Arbeitsminister Riester.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS – Wolfgang Weiermann [SPD]: Was haben Sie denn gemacht, solange Sie hier sitzen?)





Dr. Thea Dückert

21623


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich werde noch auf die strukturellen Punkte zu sprechen
kommen; aber diese Personalie muss zuvor angesprochen
werden.

Die Zuordnung der politischen Verantwortung begrün-
det sich aus mehreren Gesichtspunkten. Der einfachste ist
der Blick ins Gesetzbuch, der in aller Regel die Rechts-
findung erleichtert. In § 283 Abs. 2 des Sozialgesetzbu-
ches III steht:


(Klaus Brandner [SPD]: Gegen das Sie ja beständig verstoßen!)


Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialord-
nung kann Art und Umfang sowie Tatbestände und
Merkmale der Statistiken und der Arbeitsmarktbe-
richterstattung näher bestimmen und der Bundesan-
stalt entsprechende fachliche Weisungen geben.

(Gerd Andres [SPD]: Stimmt alles! Sie haben völlig Recht!)

Das bedeutet im Endeffekt, dass Sie für die Statistiken
und für deren Ausgestaltung verantwortlich sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Das stimmt nicht!)


– Herr Andres, halten Sie mal einen Moment die Klappe
und hören Sie zu! Dann werden Sie eine Menge lernen
können.


(Gerd Andres [SPD]: Sie hätten mal in der Ausschusssitzung sein sollen! Da ist das erklärt worden! – Konrad Gilges [SPD]: Sie haben es nötig!)


Der zweite Grund, weshalb Sie politisch verantwort-
lich sind, Herr Minister Riester: Sie behaupten hier,
Bernhard Jagoda sei der böse Mann in der Bundesanstalt
für Arbeit, und reden sich damit heraus, dass es sich um
eine Altlast der vorherigen Regierung handele. Sie per-
sönlich haben Ende 2000 die Amtszeit des Präsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit verlängert. Es ist Ihre ureigene
Personalentscheidung gewesen, für die Sie hier die Ver-
antwortung tragen müssen.


(Beifall bei der FDP)

Die Affäre um die Vermittlungsstatistiken hat gezeigt,

dass das Bedingungsgefüge,

(Gerd Andres [SPD]: Er war doch mal Ver mittler!)

in dem die Vermittlerinnen und Vermittler der Bundesan-
stalt für Arbeit tätig sein müssen, offenkundig nicht den
Notwendigkeiten entspricht.


(Gerd Andres [SPD]: Sind Sie Vermittler oder Statistikfälscher? – Konrad Gilges [SPD]: Sie haben doch auch die Statistik gefälscht, Herr Niebel!)


– Frau Präsidentin, ich bin ja nicht zart besaitet. Aber ein
bisschen Sachkompetenz – –


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421808600
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir kennen den Kollegen Niebel als einen

temperamentvollen Abgeordneten, der auch viele Zwi-
schenrufe macht. Dennoch bitte ich darum, dass er hier in
Ruhe reden kann, wenn er das Wort erhalten hat.


(Gerd Andres [SPD]: Aber er war Arbeitsvermittler, das ist wichtig! – Klaus Brandner [SPD]: Er ist ein Fälscher!)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1421808700
Genau deswegen sollten Sie sich
einmal kompetente Äußerungen von jemandem anhören,
der das alles hautnah erlebt hat.


Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1421808800
Bemer-
kenswert ist nicht der Sachverhalt, den wir hier diskutie-
ren, sondern die Dimension. Die Dimension liegt in den
rechtlichen Rahmenbedingungen, die von der Politik ge-
schaffen werden. Der Arbeitsminister hat ein Haus mit
fast 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfü-
gung. Die Skandale, die zwei Wochen vor der Bundes-
tagswahl aufgedeckt worden sind, die die alte Regierung
zu verantworten hat,


(Gerd Andres [SPD]: Wer war denn daran beteiligt? Arbeitsvermittler Niebel?)


sind in dreieinhalb Jahren von keinem Mitarbeiter dieser
fast 1 000 Menschen umfassenden Behörde erkannt wor-
den. Das kann doch wohl nicht wahr sein!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder haben die alle
geschlafen – dann gehören sie abgelöst. Oder sie haben
bewusst nicht gehandelt – dann gehören sie auch ab-
gelöst.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Nein, Sie!)


Staatssekretär Tegtmeier, der unter der alten Regierung
für die Arbeitsmarktpolitik zuständig war, ist auch unter
der neuen Regierung für die Arbeitsmarktpolitik zustän-
dig. Es gibt eine Kontinuität der handelnden Personen. Er
hat das Ganze nicht gemerkt. Er trägt die politische Ver-
antwortung und er muss gehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Und Sie waren Arbeitsvermittler!)


Unabhängig davon braucht die Bundesanstalt für Ar-
beit strukturelle Erneuerungen: Das bedingt die Notwen-
digkeit der Abschaffung der Landesarbeitsämter, die im
Wesentlichen keine eigenen Fachaufgaben haben. Das be-
dingt eine deutliche Stärkung der Vermittlerinnen und
Vermittler innerhalb der Behörde, die mit knapp 10 Pro-
zent der Belegschaft im operativen Geschäft eindeutig
unterrepräsentiert sind. Das bedingt eine deutliche Stär-
kung der privaten Arbeitsvermittlung. Hierfür schlagen
wir ein Gutscheinsystem vor. Der Pressesprecher des Mi-
nisters hat unserenAntrag gestern mitgenommen. Ich for-
dere ihn eindringlich auf: Schreiben Sie soviel wie mög-
lich davon ab! Schreiben Sie von mir aus „SPD“ oder
„Bundesregierung“ darüber. Aber das sind wegweisende
Vorschläge.


(Beifall bei der FDP)





Dirk Niebel
21624


(C)



(D)



(A)



(B)


Es bedingt aber auch die Abschaffung der drittelpa-
ritätischen Selbstverwaltung. Denn dieses Konglomerat
an Besitzstandswahrern aus Arbeitgeberfunktionären, aus
Gewerkschaftsfunktionären und aus öffentlicher Hand


(Gerd Andres [SPD]: Und aus Arbeitsvermittlern!)


hat ein fundamentales Interesse daran, dass sich über-
haupt nichts ändert. Mit der vorgespiegelten hohen Effi-
zienz sind auch die hohen finanziellen Mittel in dieses
System gepumpt worden. Die größten Bildungsträger in
Deutschland sind das BFW des DGB, das Bildungswerk
der deutschen Wirtschaft und eine „Arbeitslosenindus-
trie“ von fast 28 000 Bildungsträgern, die alle das Geld im
System haben wollen. Das gilt auch für die öffentliche
Hand, weil jeder, der sich in einer Maßnahme befindet,
nicht in der Arbeitslosenstatistik auftaucht.


(Konrad Gilges [SPD]: Warum sollen die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer nicht über ihr eigenes Geld bestimmen?)


Darüber hinaus haben die Arbeitgeber mit Freude ge-
rade die sozialdemokratische Gesetzgebung genutzt, um
ihre Personalentwicklungskosten zu sozialisieren. Die
Gewerkschaften haben mit Freude die Maßnahmenviel-
falt genutzt, weil mehr Arbeitslose den Druck der eige-
nen Mitgliedschaft auf strukturelle Reformen erhöht hät-
ten.

Jetzt ist eine historische Chance, die Sie wieder ver-
spielen, weil Sie nicht den Mut haben, tatsächlich voran-
zugehen, und weil Sie alles das, was ich hier sage, Herr
Riester, persönlich denken, meinen und für richtig halten.
Aber Sie trauen sich nicht, es zu sagen. Es ist Zeit, dass
Sie gehen, wenn Sie sich nicht durchsetzen können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Weiermann [SPD]: Jetzt gehen Sie aber erst einmal, und zwar zu Ihrem Platz!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421808900
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dr. Klaus Grehn für die PDS-Fraktion das Wort.


Dr. Klaus Grehn (PDS):
Rede ID: ID1421809000
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe die Aufre-
gung nicht. Die Statistik, egal, ob Sie sie auf diese oder
jene Art führen, schafft nicht einen einzigen Arbeitsplatz.
Sie hilft nicht einem einzigen Arbeitslosen. Sein Los wird
dadurch nicht verbessert.

Allerdings möchte ich anmahnen, dass hier korrekt
unterschieden wird. Es kann nicht sein, dass der
Schwarze Peter einer bestimmten Einrichtung zugescho-
ben wird. Das Fairplay gebietet meines Erachtens, dass
sowohl das Bundesarbeitsministerium als auch die Re-
gierungskoalition ihre Verantwortung bei diesem Thema
anerkennen.


(Beifall bei der PDS)

Ich ermahne Sie: Wie lange haben wir von Ihnen ge-

fordert, dass Sie die grundlegende Reform des SGB III
durchführen? Drei Jahre lang haben Sie sie nicht durch-
geführt. Sie, Herr Bundesarbeitsminister, haben noch im

Februar auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stif-
tung verkündet – ich zitiere, was Sie dort gesagt haben –:


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat bestimmt etwas Richtiges gesagt!)

Eine große Reform der Arbeitsförderung ist in dieser
Legislaturperiode weder machbar noch wünschens-
wert.

Genau dort liegt das Problem.
Was passiert nun, meine Damen und Herren? Ich weiß

nicht, ob bei Ihnen schon Betroffene waren, Arbeitsver-
mittler oder auch Arbeitslose. Die Arbeitsvermittler sind
völlig verunsichert. Sie fühlen sich zu Unrecht kritisiert.
Warum? Weil sie unter dem Umstand gehandelt haben,
dass es einen weiten Vermittlungsbegriff gegeben hat, der
durch den Gesetzgeber und durch die Selbstverwaltungs-
gremien legitimiert war. Sie haben danach gehandelt. Nun
fällt ihnen das auf die Füße und es wird ihnen der
Schwarze Peter zugeschoben.


(Gerd Andres [SPD]: Sie haben gestern in der Ausschusssitzung nichts verstanden oder haben nicht zugehört!)



Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1421809100
die
Betroffenen, die der Meinung sind, die Vermittler hätten
ihnen mit der falschen Statistik Arbeitsplätze vorenthal-
ten. Sie gehen jetzt rasant auf die Vermittler zu, damit sie
dies korrigieren und damit sie ihre Arbeitsplätze erhalten.
Genau das tritt ein. Das heißt, das soziale Klima in den Ar-
beitsämtern, das ohnehin schon belastet ist, wird noch
schlechter.

Die hohen Vermittlungszahlen – das sage ich dem Bun-
desarbeitsminister genauso wie Ihnen – sind seit Jahren
bekannt. Aber niemand – außer einem kleinen Teil der
Fachwelt – hat sich dafür interessiert.


(Gerd Andres [SPD]: Sie wussten das alles vorher! Das ist mir schon klar!)


– Ja, ich habe es gewusst. Ich habe die Zahlen gekannt,
Herr Andres. Ich habe sie zur Kenntnis genommen.

Die Hinweise der Betroffenen sind nicht für voll ge-
nommen worden. Die konsequente Umsetzung des Kon-
zeptes Arbeitsamt 2000 ist nicht erfolgt und die Beschei-
denheit bei der Verwaltungsmodernisierung und der
neuen Steuerung hat zu dem Punkt geführt, an den wir
jetzt gelandet sind. Wir sind zum Beispiel vom öster-
reichischen Leitbild eines Arbeitsmarktservices Welten
entfernt. Man kann sich das einmal ansehen; wir schauen
ja immer gern ins Ausland. Die Arbeitsverwaltung steht
vor grundlegenden Fragestellungen, die weder durch eine
andere Organisation noch durch platte Privatisierungsfor-
derungen und erst recht nicht durch personelle Opfer be-
antwortet werden können.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Situation von
Beschäftigung haben sich seit 1990 dramatisch und nach-
haltig verändert. Die politische Steuerung dieses Prozes-
ses hat sich aber auf alte Konzepte verlassen; genau das
ist das Problem. Die politische Verantwortung dafür ist
auf allen Ebenen zu tragen. Das Problem der fehlenden




Dirk Niebel

21625


(C)



(D)



(A)



(B)


Arbeitsplätze für mehr als 5,5 Millionen Arbeitssuchende
ist in dieser Debatte nahezu vergessen, als wenn es nur um
die Statistik ginge. Das Los der Betroffenen wird nicht da-
durch verbessert, dass die Statistik so oder so geführt wird.

Wer Lösungen will, muss die Betroffenen einbeziehen.
Ich mahne dies nachdrücklich an. Es ist unerträglich, dass
Menschen, die nie in ihrem Leben arbeitslos waren und
die es nie werden, im stillen Kämmerlein festlegen, was
man gegen Arbeitslosigkeit tun sollte. Ich meine, es ist an
der Zeit, bei der Lösung der strukturellen Probleme und
der Steuerungsprobleme die Gruppe der Betroffenen mit
einzubeziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Fragen Sie sich selber, wie weit wir davon entfernt sind.
Ich denke beispielsweise an die Selbstverwaltungsorgane.
Warum sind dort die Betroffenen nicht vertreten?

Was ist zu tun? Die notwendigen Handlungsspiel-
räume für einen problemgerechten Politikansatz müssen
geschaffen werden. – Ich komme zum Ende, Frau Präsi-
dentin. – Der Stau bei der schwierigen Verzahnung der Ar-
beitsmarktpolitik und anderer Politikbereiche wie
regionaler Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik muss auf-
gelöst werden. Die Bundesanstalt muss auf ihre eigent-
lichen Aufgaben zurückgeführt werden. Sie muss ent-
schlackt werden von all dem, was ihr zusätzlich
aufgebürdet worden ist.


(Gerd Andres [SPD]: Nennen Sie einmal ein paar Aufgaben, die herausgenommen werden sollen! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Kindergeld an die Finanzämter zum Beispiel!)


– Ich würde Ihnen gerne ein paar nennen, aber meine Re-
dezeit ist bereits überschritten, Herr Andres. Ich würde
gerne mit Ihnen ein Gespräch führen, in dem ich Ihnen die
Einzelheiten erkläre; ich mache das sogar kostenlos und
nicht auf Honorarbasis.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421809200
Ich erteile jetzt dem
Bundesarbeitsminister Walter Riester das Wort.

Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Es war gut, dass sich gestern zwei Aus-
schüsse des Parlaments mit den Vorwürfen in Bezug auf
die Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit be-
schäftigt haben. Es war eine gute und wichtige Diskus-
sion. Sie hat vor allem eines deutlich gemacht: Das Ganze
ist nicht nur ein Statistikproblem.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist ein Führungsproblem!)


– Es ist in der Tat auch ein Führungsproblem. Da haben
Sie Recht.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Bis ganz oben!)


Es ist ein Problem, das tiefgreifender und größerer Re-
formschritte bedarf, Reformschritte, die schnell angegan-

gen werden müssen, um zu einer kunden- und wettbe-
werbsorientierten Dienstleistung auf dem Arbeitsmarkt zu
kommen. Wir brauchen dazu in der Tat einen inhaltlichen
Neuanfang. Wir müssen ihn schnell angehen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Welche Erkenntnis!)


Zu dem inhaltlichen Neuanfang wird die Bundesregie-
rung sehr schnell ihre Position einbringen und dort, wo es
möglich ist, noch in dieser Legislaturperiode gesetzliche
Änderungen auf den Weg bringen.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Hört! Hört!)

Dies ist wichtig, um die Vermittlungsoffensive, die wir
gestartet haben, zugunsten der Arbeitslosen auch umzu-
setzen. Das haben sie verdient und das haben auch all die-
jenigen verdient, die sich offensiv in diese Vermittlung
einbringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir brauchen dazu in der
Bundesanstalt für Arbeit auch einen personellen Neuan-
fang. Wir werden ihn nicht mit dem bisherigen Präsiden-
ten durchführen. Wir werden schnelle, aber auch faire Lö-
sungen finden. Ich darf Ihnen sagen: Ich habe den
bisherigen Präsidenten nie öffentlich kritisiert. Das sage
ich in aller Öffentlichkeit.


(Zuruf des Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU])


– Sehen Sie, da kam gerade der Vorwurf. Ich weiß um sein
Engagement und um die Ursachen. Ich weiß aber auch,
dass der Schritt der Erneuerung mit ihm nicht durchzu-
führen ist.


(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Mit Ihnen auch nicht!)


Darüber haben wir uns verständigt. Das ist eine faire
Lösung.


(Beifall bei der SPD)

Die Beratungen in den beiden Ausschüssen haben aber

Weiteres gezeigt. Ich bin froh, dass der Vizepräsident des
Bundesrechnungshofs klar festgestellt hat, dass die Vorge-
hensweise des Arbeitsministeriums nicht nur zügig, schnell
und klar war, sondern dass nichts zu beanstanden war.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Nachdem es öffentlich war!)


Des Weiteren habe ich auch begrüßt – ich komme
gleich auf Ihren Vorwurf zu sprechen, Herr Niebel –, dass
der Vizepräsident des Bundesrechnungshofs festgestellt
hat: Die Fachaufsicht – für die hier zu behandelnden Fra-
gen gilt nämlich die Fachaufsicht – liegt nicht beim Ar-
beitsministerium, sondern bei der Bundesanstalt für Ar-
beit.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie können die Statistik bestimmen! – Wolfgang Meckelburg [CDU/ CSU]: Haben Sie schon etwas zu Tegtmeier gesagt?)


Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie die Landes-
arbeitsämter abschaffen wollen. Ich habe auch gelesen,




Dr. Klaus Grehn
21626


(C)



(D)



(A)



(B)


dass Sie darin angeführt haben, die Fachaufsicht für die
Statistik liege bei den Landesarbeitsämtern.


(Dirk Niebel [FDP]: Die Fachaufsicht für die Landesarbeitsämter! Sie können nicht lesen, Herr Riester!)


Wie Sie dann dazu kommen, mit einer solchen Chuzpe auf
mich zu zeigen, ist ungeheuerlich.


(Beifall bei der SPD)

Nun komme ich zu einem weiteren Punkt, Herr Niebel.

Mir liegen alle Schuldzuweisungen fern. Wenn ich aber
lese, dass Sie als ehemaliger Arbeitsvermittler mit der
flapsigen Aussage zitiert werden: „Nach den Erlassen bin
ich nie gegangen und offensichtlich viele meiner Kolle-
gen auch nicht“,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist ja interessant! – Dirk Niebel [FDP]: Nach dem Spielraum der Erlasse!)


muss ich darauf hinweisen, dass der Bundesrechnungshof
gerade dies kritisiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es kann ja sein, dass Sie Erlasse nicht gejuckt haben. Aber
die Chuzpe zu haben, hier auf mich zu zeigen, ist unver-
schämt.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Genau! Niebel ist das Problem! Niebel muss zurücktreten! – Zuruf von der SPD: Der Täter wird zum Ankläger! – Dirk Niebel [FDP]: Ich bin bereit, zurückzutreten, wenn Sie als Minister auch gehen!)


– Nein, Niebel ist nicht das Problem, aber er signalisiert
eine wirklich ungerechte Kritik, die hier geäußert wird.
Er, der sich selbst so verhalten hat, ist der Letzte, der hier
mit dem Finger auf andere zeigen sollte.


(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir alle sollten als Politiker

sehr vorsichtig sein, auf die Bundesanstalt für Arbeit zu
zeigen. Denn zu Recht wird gesagt, dass die Politik der
Bundesanstalt über Jahrzehnte hinweg Aufgaben übertra-
gen hat, bei denen es sich um reine Verwaltungsaufgaben
handelt. Den Schuh müssen wir uns alle anziehen. Ich
nehme mich davon auch nicht aus.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dafür muss der Präsident gehen?)


Aber der Vorwurf, die Bundesanstalt leiste nur Verwal-
tungsarbeit, ist kühn.

Wir müssen Konsequenzen ziehen. Ich versichere Ih-
nen: Was ich dazu einbringen kann, werde ich auch tun.
Die Beschäftigten brauchen Entlastung, sodass sie frei
sind, sich auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren, näm-
lich Arbeit zu vermitteln und arbeitslosen Menschen mit
Beratung und Qualifikation zu helfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte viele der geäußerten Kritikpunkte nicht nur
für gerechtfertigt, sondern auch für hilfreich. Aber das,
was mich im Moment ungeheuer bewegt, ist die Sorge um
zwei Gruppen, die in hohem Maße verunsichert sind. Die
erste Gruppe sind die Arbeitssuchenden und die Unter-
nehmer. Wir müssen alle Kräfte einsetzen, um die Ver-
mittlungsoffensive, die diesen Menschen und bei der Be-
setzung offener Arbeitsstellen helfen soll, zum Erfolg zu
führen. Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit, der
hier schon massiv kritisiert worden ist


(Dirk Niebel [FDP]: Zu Recht!)

– in einigen Punkten zu Recht –, hat wichtige Vorschläge
für eine Neukonzeption, für eine Umorientierung einge-
bracht. Diese müssen schnell umgesetzt werden. Auch wir
werden Vorschläge einbringen, die es dem Gesetzgeber
ermöglichen, dies zu beschleunigen.

Es gibt aber – das bewegt mich fast noch mehr – eine
zweite Gruppe, die verunsichert ist. Das sind die Be-
schäftigten der Bundesanstalt für Arbeit.


(Dirk Niebel [FDP]: Denen schaden Sie!)

Die über 80 000 in der Arbeitsverwaltung tätigen Menschen
– auf die Zahl wird jetzt immer wieder hingewiesen –
erbringen Dienstleistungen für Menschen, die sich in ei-
ner ganz schwierigen Situation befinden. Zu ihnen kom-
men Menschen, die händeringend Arbeit suchen. Zu ih-
nen kommen aber auch Menschen, die große soziale
Probleme haben und deren Umgangsformen nicht immer
ganz vornehm sind. Sie haben also einen ganz schwieri-
gen Job. Es ist ganz wichtig, ihnen zu vermitteln, dass die
Vorwürfe, die jetzt zu Recht erhoben werden, nicht auf ihr
Handeln zurückzuführen sind.


(Dirk Niebel [FDP]: Die haben sich ja nur an Ihre Anweisungen gehalten!)


– Hören Sie endlich mit Ihren Pöbeleien auf! Damit scha-
den Sie den Menschen noch mehr!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Wer ist denn für die Anweisungen verantwortlich?)


Deswegen werde ich am kommenden Montag mit
Arbeitsamtsdirektoren aus dem ganzen Bundesgebiet da-
rüber sprechen, wie die entstandene Verunsicherung be-
seitigt werden kann, wie wir die Mitarbeiter der Bundes-
anstalt für Arbeit motivieren können, weiter ihre wichtige
Aufgabe zu erfüllen und den bevorstehenden notwendi-
gen Reformprozess zusammen mit uns zu gestalten.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie sind verantwortlich!)

Wir werden Reformen nicht gegen, sondern nur mit den
Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit durchführen.

Herzlichen Dank.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Der Minister der Arbeitslosigkeit hat gesprochen! – Dirk Niebel [FDP]: Sie regieren!)


– Gott sei Dank!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Bundesminister Walter Riester

21627


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421809300
Das Wort hat nun der
Kollege Wolfgang Singhammer für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Dirk Niebel [FDP]: Der ist auch schuld!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1421809400
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421809500
Herr Kollege
Singhammer, warten Sie bitte noch einen Moment. – Herr
Kollege Niebel, wir alle sind es zwar von Ihnen gewohnt,
dass Sie viele Zwischenrufe machen. Aber ich darf mir die
Empfehlung erlauben, dass Sie Ihre Zurufe manchmal et-
was gedämpfter machen sollten, weil sie ansonsten wirk-
lich stören.


(Dirk Niebel [FDP]: Ich passe mich meinem Umfeld nur an!)


Ich glaube, das gilt für das gesamte Plenum.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Singhammer, Sie haben das Wort.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1421809600
Verehrte Prä-
sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die
CDU/CSU-Fraktion erkläre ich hier: Wir wollen die Ar-
beitslosigkeit und nicht die Statistik bekämpfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber richtig ist auch: Ohne gesicherte statistische Grund-
lagen kann ein gezielter Kampf gegen die Arbeitslosigkeit
nicht gelingen. Wir müssen nun feststellen, dass seit Be-
stehen der Bundesrepublik Deutschland eine offizielle
Statistik noch nie in einem solchen Ausmaß gefälscht
worden ist wie die über die Vermittlungstätigkeit der Bun-
desanstalt für Arbeit. Nicht einmal ein Drittel der 3,8 Mil-
lionen Vermittelten, die angegeben worden sind, sind
tatsächlich „richtig“ vermittelt worden.

Es kommt aber noch schlimmer – Sie, Herr Minister,
haben das bereits angesprochen –: Die Mitarbeiter der
Bundesanstalt für Arbeit sind demotiviert. Nach Presse-
berichten herrscht in den Amtsstuben Chaos. Es gibt be-
reits Auflösungserscheinungen. Ich sage an dieser Stelle,
Herr Minister: An Ihrer persönlichen Integrität habe ich
keinerlei Zweifel. Aber Sie können sich nicht aus der po-
litischen Verantwortung stehlen. Sie können nicht einfach
nur den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit vor-
schicken. Sie können natürlich auch nicht nur auf die vie-
len Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesanstalt
verweisen. Auch ich zolle den rund 90 000 Mitarbeitern
der Arbeitsverwaltung großen Respekt, die unter schwie-
rigsten Bedingungen Arbeitsplätze vermitteln müssen,
weil die politischen Rahmenbedingungen nicht stimmen.
Sie müssen das Ganze ausbaden.

Jetzt komme ich auf Ihre politische Verantwortung zu
sprechen, Herr Minister. Es gibt vier Punkte:

Erstens. Herr Minister, Sie haben bis heute keine Er-
klärung dafür geben können, warum flächendeckend und

systematisch Unrichtigkeiten in den Statistiken aufgetreten
sind, und zwar in den Statistiken aller Arbeitsämter, von
Kempten bis Kiel und von Cottbus bis Castrop-Rauxel.

Zweitens. Sie, Herr Minister, haben mit ruhiger Hand
zugelassen, dass in einer Bürokratiewelle sondergleichen
ständig neue Erlasse aufgetürmt wurden, die die Mitar-
beiter nicht mehr bewältigen konnten.

Drittens. Sie, Herr Minister, haben nichts unternom-
men, als die Bundesanstalt mit Runderlass vom 10. De-
zember 1999, dann vom 21. Juli 2000 und vom 13. Juli
2001 den Vermittlungsbegriff immer unschärfer gefasst
hat, statt umgekehrt den Begriff sehr viel schärfer zu fas-
sen.

Viertens. Sie, Herr Bundesminister, haben auch War-
nungen und Hinweise der Europäischen Union nicht ernst
nehmen wollen. Erst vor wenigen Wochen hat die Euro-
päische Kommission im Rahmen der koordinierten Be-
schäftigungstrategie an das Bundesministerium fünf
Empfehlungen gerichtet. Unter anderem wird Deutsch-
land – gemeint ist Rot-Grün –


(Lachen bei der SPD – Gerd Andres [SPD]: Das ist Herrn Singhammer etwas peinlich!)


empfohlen, die Effizienz der aktiven Arbeitsmarktpolitik
zu steigern und die Steuer- und Sozialabgabenlast zu ver-
ringern. Deshalb können Sie, Herr Minister, nicht einfach
zur Tagesordnung übergehen.

Was ist notwendig? In aller Kürze: Übereinstimmung
herrscht, dass wir einen Neuaufbau brauchen. Aus unse-
rer Sicht ist zunächst eine Aufgabenkonzentration auf das
Wesentliche nötig; das bedeutet, die Bundesanstalt muss
sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Dann bedeu-
tet das, dass das Job-Aqtiv-Gesetz natürlich – da hätte
ich jetzt gerne eine Auskunft von Ihnen, Herr Minister, ge-
habt –


(Ute Kumpf [SPD]: Das ist doch hier keine Fragestunde!)


nicht wie vorgesehen einfach weiterlaufen kann

(Gerd Andres [SPD]: Doch!)


und 3 000 Vermittler eingestellt werden.

(Gerd Andres [SPD]: Wir werden noch mehr zur Verfügung stellen!)

Vielmehr muss innerhalb der Arbeitsverwaltung eine Um-
schichtung vorgenommen werden und Mitarbeiter müs-
sen von der Verwaltung in die Vermittlung umgesetzt
werden. Das ist doch nahe liegend.


(Ute Kumpf [SPD]: Das passiert doch! Herr Singhammer, passen Sie im Ausschuss doch einmal auf! – Erika Lotz [SPD]: Machen wir doch, Herr Singhammer!)


Der Umbau der Arbeitsämter muss auch eine Effizienz-
steigerung zum Ziel haben. Wir müssen den Mitarbeitern
in den Arbeitsverwaltungen mehr Selbstbewusstsein ver-
mitteln.

Ganz wichtig ist – das müssen Sie schnell anpacken –,
endlich den Vermittlungsbegriff sauber zu definieren,






(C)



(D)



(A)



(B)


und zwar erfolgsorientiert, damit diese Unrichtigkeiten
zukünftig nicht mehr auftreten können. Letztendlich muss
in dem Zusammenhang auch die Verzahnung von Ar-
beitslosenhilfe und Sozialhilfe angepackt werden. Wir
brauchen Wettbewerb und Kooperation mit den privaten
Arbeitsvermittlern. Selbstverständlich muss auch die bis-
herige Form der Selbstverwaltung auf den Prüfstand.

Herr Minister, Sie haben viel zu tun. Sie haben viel Zeit
verstreichen lassen. Uns fehlt das Vertrauen, dass Sie das
in den verbleibenden Monaten noch bewältigen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erika Lotz [SPD]: 16 Jahre!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421809700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Werner Schulz für Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
wenn wir unterschiedliche Rezepte verfolgen, Kollege
Singhammer, halte ich es für unredlich, wenn Sie einer
Seite in diesem Haus unterstellen, dass sie nicht bemüht
sei, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Hier fängt die Diffa-
mierung an, die dann bis zu der Sündenbocksuche geht,
die Sie beklagen.

Es mag, wie gesagt, unterschiedliche Rezepte geben,
über die wir streiten können. Aber die Krise der Bundes-
anstalt für Arbeit ist – da gebe ich Ihnen Recht – kein Sta-
tistikskandal und kein Ablenkungsmanöver, sondern
zeugt von einem unglaublichen Versagen der Politik in
dieser Republik insgesamt.


(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])

Diese Krise ist ja nicht plötzlich entstanden. So möchte

ich den Kollegen Julius Louven, der sagt, er habe die Bun-
desanstalt für Arbeit immer kritisch gesehen, fragen, was
er denn in der Zeit getan hat, wo er das kritisch gesehen
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundesanstalt für Arbeit ist doch nicht in den letzten
drei Jahren entstanden. Es ist doch, um das einmal etwas
unverblümt zu sagen, nicht allein das Problem von Herrn
Riester, das wir hier haben.


(Dirk Niebel [FDP]: Doch! Das ist sein Problem!)


Die Zustände, die in der Bundesanstalt für Arbeit festge-
stellt worden sind, sind vielmehr ein Problem der Politik
insgesamt.

Ich sage Ihnen: Niemand, der sich in den letzten
15 Jahren damit beschäftigt hat, hat das Ausmaß dieses
Skandals, dieser Krise, dieser Täuschung, dieser Selbst-
täuschung, dieser Trickserei, dieser Fehlleistungen und
dieser Ineffizienz in diesem Ausmaß geahnt.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Vielleicht kommt das ja in 15 Jahren!)


Niemand! Sonst hätten Sie, Herr Kollege Niebel, das doch
längst hier offen gelegt. Sie hätten doch längst diese Miss-
stände angeprangert. Das habe ich von Ihnen so aber nicht
gehört.


(Klaus Brandner [SPD]: Er hat es doch produziert mit seiner Arbeit!)


In den vergangenen Jahren hat sich im Grunde genom-
men eine Mammutanstalt entwickelt, die längst von der
Selbstverwaltung zur Selbstbeschäftigung übergegangen
ist. Es gibt inzwischen ein größeres ökonomisches Inte-
resse am Erhalt dieser Strukturen und an der Ausweitung
dieser Behörde als an einer effizienten Vermittlung. Vor
diesem Problem stehen wir heute.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Man kann sich – ich sage das vor dem Hintergrund

meiner Erfahrungen – nur immer wieder wundern, wohin
es führt, wenn man eine planwirtschaftliche Methodik
oder planwirtschaftliche Vorgaben anwendet. Sie, Kol-
lege Grehn, müssten als ehemaliger Oberassistent der
Gewerkschaftshochschule bestens wissen, was passiert,
wenn man solche planwirtschaftlichen Methoden anwen-
det. Dieses Vorgehen erinnert mich sehr stark an die Au-
toproduktion in der DDR: Jeder Fünfjahresplan sah eine
Steigerung vor und gleichzeitig wurden die Wartelisten
immer länger. Die staatliche Plankommission und die Be-
zirksplankommission arbeiteten mit immer mehr Tricks.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein ähnliches Problem haben wir jetzt.


(Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Jeder Konzern hat einen Plan!)


– Die sind aber nicht so ineffizient wie die der Großkom-
binate, Frau Fuchs. Darin liegt das Problem.

Die vollständige, rückhaltlose Aufklärung ist wichtig.
Uns helfen keine vorschnellen Verurteilungen, keine Pa-
tentrezepte und keine flotten Schuldzuweisungen, wie sie
jetzt aus dem Boden schießen.

Ich glaube, dass es auch notwendig ist, sich gegenüber
denjenigen, die bisher als Drückeberger und als arbeits-
unwillig angesehen worden sind, zu entschuldigen. Denn
wie soll jemand Arbeit finden, wenn die Vermittlung nicht
funktioniert? Das ist ein Problem, das uns alle angeht.

Wir können diese Krise als Chance nutzen, wie es so
schön heißt. Wir können in der Bundesanstalt für Arbeit
eine Reform an Haupt und Gliedern vornehmen. Wir kön-
nen – um das deutlich zu sagen – das Ganze vom „Kropf“
auf die Füße stellen.


(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Wir wollen! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das habe ich noch nie gehört!)


Mit einem neuen Kopf voll neuer Reformideen – –

(Dr. Klaus Grehn [PDS]: Wir wollen!)


– Ihre Ideen kenne ich. Sie werden uns in eine Sackgasse
führen. Darum geht es nicht.




Johannes Singhammer

21629


(C)



(D)



(A)



(B)


Es geht im Grunde genommen um Wettbewerb bei der
Vermittlung, um Outsourcing, um Ausgliederung, um
Wegnahme von Aufgaben. Es haben sich viele Aufgaben
angestaut und viele sind hinzugekommen. Durch politi-
sche Entscheidungen wurden der Bundesanstalt für Arbeit
weniger zweckdienliche Aufgaben übertragen. Das ging
schon unter Norbert Blüm los und hat im Grunde noch
nicht aufgehört.


(Dirk Niebel [FDP]: Das war schon damals falsch!)


Wir haben Grund genug, jetzt einen Schnitt zu machen.
Ich bin davon überzeugt, dass das, was der Bundesar-

beitsminister vorgestellt hat, in die richtige Richtung geht.
Die Bundesregierung wird das in den nächsten Monaten
schaffen. Auch ohne Ihre Hilfe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421809800
Das Wort hat nun der
Kollege Norbert Blüm für die CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1421809900
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Das Spiel, das hier gespielt
wird, ist leicht zu durchschauen. Zu Beginn der Legisla-
turperiode hat Bundeskanzler Schröder gesagt: Der Auf-
schwung ist mein Aufschwung; Aufschwung heißt
Schröder. Am Ende der Legislaturperiode soll der Ab-
schwung Jagoda heißen. So ist es.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Das Problem der Massenarbeitslosigkeit ist kein statis-
tisches Problem. Es ist ein Problem der fehlenden Arbeits-
plätze.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Selbst wenn die Statistik perfekt und alle Arbeitslosen
wild auf Arbeit wären, hätten wir noch Massenarbeitslo-
sigkeit. Dafür ist auch die Politik verantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Aha!)


Man kann immer besser werden. Ich will Versagen und
Fehler ja nicht abstreiten. Aber wenn Sie schon über Sta-
tistik sprechen: Die größte Irreführung ist Ihre Beschäfti-
gungsstatistik. Sie suggerieren einen Beschäftigungsauf-
bau, der nur dadurch zustande kommt, dass Sie die Anzahl
der Beschäftigten neu zählen. Das ist eine Irreführung der
Öffentlichkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es bleibt dabei: Ich bin für eine Verbesserung der Sta-
tistik, für eine Verbesserung der Vermittlung. Aber die Ar-
beit ist das Wichtigste. Wir müssen uns auf Arbeitsplätze
für alle konzentrieren, und zwar Arbeitgeber, Gewerk-
schaften und Politik.


(Gerd Andres [SPD]: Jawohl!)


Was die Vergangenheit anlangt: Ich rede nicht gern
über Vergangenheit. Aber ich frage Sie, lieber kräftig da-
zwischen schreiender Kollege Andres: Ist Ihr Gedächtnis
noch intakt? Als wir die private Arbeitsvermittlung ein-
führten, haben Sie – Schreiner, Dreßler und die ganze
SPD – den Untergang des Sozialstaates verkündet.
Stimmt das oder stimmt das nicht?


(Beifall bei der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Das stimmt!)


Ich habe etwas dagegen, dass sich die Bremser von
gestern heute als Erfinder des Gaspedals vorstellen.


(Gerd Andres [SPD]: Norbert, du hast Recht!)

– Ich habe nicht nur darin Recht. Nehmt zu Protokoll:
Andres gibt mir Recht. Das ist schon ein Erfolg.

Die Forderungen nach Dezentralisierung und mehr
Bewegungsspielraum für die Bundesanstalt für Arbeit ha-
ben wir doch erfüllt. Vor Ort spielt die Musik. Die Ver-
hältnisse sind in Frankfurt an der Oder anders als in
Frankfurt am Main. Deshalb braucht man mehr Bewe-
gungsspielraum. Unser Gesetz, der Innovationstopf, mit
dem man frei und kreativ schaffen kann, wurde nicht ein-
mal genutzt. Das ist doch kein Versagen des Gesetzgebers
von 1997, das ist ein Versagen der Politik.


(Ute Kumpf [SPD]: Fragen Sie mal die Arbeitsämter!)


Ich bin nach wie vor ein Anhänger der Selbstverwal-
tung. Aber das sind mir ja schöne Helden. Der Arbeitge-
bervertreter spricht vor 14 Tagen dem Jagoda das Ver-
trauen aus und lässt heute über die Presse mitteilen, dass
er sein Vertrauen nicht mehr hat.


(Ute Kumpf [SPD]: Dann fragen Sie den Kannengießer!)


Wetterfahnen sind das. Mit denen kannst du keine Ar-
beitslosigkeit bekämpfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der SPD)


Zur privaten Arbeitsvermittlung sage ich: Ich bin dafür.
Macht ruhig ein bisschen Luft und Wettbewerb. Das Pro-
blem wird sie jedoch nicht lösen. Sie hat in einem Jahr ge-
rade einmal 130 000 Arbeitslose vermittelt. Sie wird sich
nicht um die schwer Vermittelbaren kümmern, weil die für
sie nicht rentabel sind. Sie wird nicht flächendeckend sein
und kann deshalb die Vermittlung durch die Arbeitsämter
auch nicht ersetzen, wiewohl Wettbewerb ganz nützlich ist.


(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])

Reden wir auch noch einmal über die Finanzierung von

Fortbildung und Umschulung, weil Fortbildung und Um-
schulung auch für die Vermittlung wichtig sind und qua-
lifiziertere Arbeitslose leichter vermittelt werden können.
Aber es geht nicht, dass die Beitragszahler die Fortbil-
dung und Umschulung bezahlen und die privaten Ver-
mittler absahnen. Reden wir mal Tacheles, liebe Leute.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Werner Schulz (Leipzig)

21630


(C)



(D)



(A)



(B)


Zum Schluss will ich noch etwas zu meinem Freund
Jagoda sagen – nicht nur, weil er mein Freund ist –: Er ist
ein anständiger, zuverlässiger, sozial engagierter Mann,
auf den ich nichts kommen lasse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der PDS)


Er hat in der Bundesanstalt viel geleistet. Ich denke an die
Modernisierung, an die Einführung der EDV und an das,
was er im Zusammenhang mit der deutschen Einheit ge-
leistet hat. Ohne den Aufbau der Arbeitsverwaltung – er
war damals als Staatssekretär zuständig für 12 000 neue
Mitarbeiter, von denen 9 000 nie das Arbeitsförderungs-
gesetz gelesen hatten –, ohne die Arbeit der Arbeitsämter
wäre es zu einem Dammbruch gekommen. Die Wieder-
vereinigung hätte im Westen stattgefunden. Es ist an der
Zeit, der Bundesanstalt für Arbeit und vielen ihrer enga-
gierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einmal öffent-
lich Dank zu sagen und nicht ständig Dreck über sie aus-
zukübeln.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich erwarte vom Bundesarbeitsminister, dass er Fehler

nicht vertuscht – die müssen beseitigt werden –, dass er
sich aber auch vor die vielen Mitarbeiter stellt, die sich
wirklich engagieren. Die sind nicht schuld daran, dass die
Arbeitsplätze fehlen. Ich kann Ihnen eine Adresse nennen:
Eine Adresse heißt Schröder. Daran sollten wir denken
und darüber sollten wir heute diskutieren. Das würde sich
lohnen.

Das war es.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421810000
Nun hat die Kollegin
Erika Lotz das Wort für die SPD-Fraktion.


Erika Lotz (SPD):
Rede ID: ID1421810100
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Unsere wichtigste Aufgabe ist es,
offene Stellen und Arbeitslose so schnell wie möglich zu-
sammenzubringen. Deshalb muss die Politik die Mög-
lichkeit haben, die Effizienz der eingeleiteten Maßnah-
men zu überprüfen. Wir brauchen die Datenlage und diese
Datenlage muss stimmen, weil die Politik sie für ihre Ent-
scheidungen braucht.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wir brauchen Arbeitsplätze!)


Ich will die Feststellungen des Bundesrechnungshofes
über die Effizienz der Arbeitsvermittlung nicht schön-
reden. Offenbar ist über viele Jahre ein Bild der Vermitt-
lungstätigkeit gemalt worden, welches nur zum Teil rich-
tig war. Es war Minister Riester, der sofort gehandelt hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wann und wo denn?)


Das ist gestern im Ausschuss eindeutig festgestellt wor-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Feststellung der Vertreter des Bundesrechnungshofes
lautete: Schnellstmöglich, gründlich und vor allem sach-
lich ist darauf reagiert worden.

Verehrte Kollegen von der Opposition, Ihre Reak-
tionen sind natürlich wieder populistisch. Ich bitte Sie,
Ihre erhitzten Gemüter etwas abzukühlen. Ich möchte Sie
eindringlich davor warnen, die öffentlich-rechtliche Ar-
beitsvermittlung gar zerschlagen zu wollen, wie es aus
manchen Äußerungen herauszuhören war.

Herr Kollege Blüm hat noch einmal etwas zur privaten
Arbeitsvermittlung gesagt. Das konnte man auch heute im
Berliner „Tagesspiegel“ lesen. Ich stimme Ihnen, Herr
Kollege Blüm, in vielen Dingen nicht zu. Die Feststellung
bezüglich der privaten Arbeitsvermittlung ist aber richtig.
Man konnte heute lesen, dass sie keine „Wunderwaffe ge-
gen Arbeitslosigkeit“ ist, dass „schwer vermittelbare Ar-
beitslose dabei in die Röhre schauen und dass sich mit ih-
nen für die privaten Vermittlungen kein rentables
Geschäft machen lässt, weil sie viel Zeit und Geld kosten
und zu wenig Vermittlungsgebühr einbringen“.

Meine Damen und Herren von der Opposition, ich sage
Ihnen auch: Fassen Sie sich bitte einmal an die eigene
Nase! Nach allem, was sich abzeichnet, sind die Miss-
stände nicht zu Zeiten unserer Regierung entstanden.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie sind sie nicht angegangen! Ist ja unerhört! Sie wussten das und haben nichts getan! Jetzt spielen Sie sich auf!)


Dies geht weit zurück. Sie alle haben allen Grund, mit
Forderungen und Verdächtigungen sehr vorsichtig zu
sein.


(Beifall bei der SPD)

Dass es in der Bundesanstalt für Arbeit viele engagierte

Mitarbeiter gibt, demonstriert letztendlich das Schreiben,
das ein Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit – ein ehe-
maliger Revisor – dem Minister übersandt hat. Warum hat
er es denn jetzt an Minister Riester


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und er hat es nie bemerkt!)


und nicht schon früher an Sie, Herr Blüm, gesandt? Das
frage ich mich. Eine Frage ist auch, warum der Präsident
und der Vorstand die innerhalb der Bundesanstalt für Ar-
beit zweifellos vorhandene Kenntnis nicht hatten, dass die
Statistik über die Arbeitsvermittlungen geschönt ist und
offenbar schon immer geschönt wurde.


(Dirk Niebel [FDP]: Und der Minister!)

Hier scheint es eine Mauer zu geben. Die Antwort, warum
dies so ist, muss gefunden werden.

Dass aber ausgerechnet der Abgeordnete Niebel als
ehemaliger Arbeitsvermittler – der sich ja in einem Zei-
tungsinterview dazu bekannt hat, sich um Erlasse aus
Nürnberg nicht geschert zu haben – jetzt die Schuld bei
Minister Riester sucht, ist an Unverfrorenheit nicht zu
überbieten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Dr. Norbert Blüm 21631 Niebel [FDP]: Hätte man sich darum geschert, hätte man fälschen müssen! Der Erlass ist ja 1999 von Ihnen herausgegeben worden!)





(C)


(D)


(A)


(B)


Lieber Herr Kollege Niebel, warum haben Sie, der Sie
doch offenbar Kenntnis davon hatten,


(Dirk Niebel [FDP]: Jeder, der in den Arbeitsämtern gearbeitet hat, hatte Kenntnis!)


dies der vorherigen Regierung, zum Beispiel Ihrem Kol-
legen Kolb als ehemaligem Regierungsmitglied, nicht
mitgeteilt?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie waren dort doch auch ehrenamtlich engagiert!)


Mit Schnellschüssen und vorschnellen Urteilen kom-
men wir aber nicht weiter.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie müssen mächtig Angst vor den Leuten haben!)


Reformen sind notwendig und sie sind von uns auch ge-
macht worden. Ich sage noch einmal: Mit dem Job-Aqtiv-
Gesetz gehen wir einen guten Weg. Das sind Reformen,
die von uns auf den Weg gebracht wurden.


(Beifall bei der SPD und Abg. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Arbeitsämter vor Ort müssen mehr Entscheidungs-
kompetenz erhalten. Hier helfen uns Statistiken nicht
weiter. Wir müssen im Sinne der Arbeitslosen und im
Sinne der hoch motivierten Mitarbeiter der Bundesanstalt
für Arbeit zu einer schnellen Effizienzkontrolle der je-
weiligen Maßnahmen kommen. Unser Job-Aqtiv-Gesetz
weist den Weg in die richtige Richtung.

Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihnen
fällt zu diesem Thema nichts anderes ein, als das alte Lied
von der Deregulierung des Arbeitsmarktes zu singen, als
ob zum Beispiel durch den Abbau des Kündigungs-
schutzes Arbeitsplätze entstehen würden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings, auch wenn Sie es nicht kapieren wollen! Es ist genauso! – Dirk Niebel [FDP]: Man kann doch nicht erwarten, dass Frau Lotz etwas kapiert!)


Auch das Stutzen der Arbeitnehmerrechte durch Ände-
rung des Betriebsverfassungsgesetzes führt nicht dazu.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421810200
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.


Erika Lotz (SPD):
Rede ID: ID1421810300
Ich möchte Ihnen in diesem Zu-
sammenhang die Lektüre des Buches „Arbeit poor“ von
Barbara Ehrenreich eindringlich empfehlen.


(Dirk Niebel [FDP]: Jetzt kommt auch noch ein Werbeblock! – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Jetzt wird bei den Sozialdemokraten sogar schon gelesen!)


Die Journalistin nahm für ihre Recherche Billigjobs in
den USA an. Ich empfehle es Ihnen eindringlich und ich
sage Ihnen: Dies ist nicht unser Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421810400
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Gerald Weiß für die CDU/CSU-Frak-
tion.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundes-
arbeitsminister Riester, der jetzt knapp dreieinhalb Jahre im
Amt ist, hat vorhin von dieser Stelle aus schnelle Reform-
schritte und, was die Verfassung der Bundesanstalt für Ar-
beit anbelangt, einen grundlegenden inhaltlichen Neuan-
fang gefordert. Warum merkt dieser Mann das erst jetzt? Es
ist ein Mangel seiner Politik, erst so spät zu dieser Er-
kenntnis gelangt zu sein. Bei allen politischen Fragestel-
lungen, die unangenehm sind, reklamiert er Nichtwissen.
Auch Nichtwissen hat man politisch zu vertreten, denn
dann hat man den Informationsprozess falsch organisiert.

Ins gleiche Horn stößt der Kollege Schulz. Er sagt, wir
müssten jetzt outsourcen, mehr Wettbewerb und neue
Rahmenbedingungen schaffen. Frau Kollegin Lotz sagt,
wir bräuchten bessere Datenlagen, bessere Informationen,
eine bessere Verzahnung. Ich sage: Vor allem brauchen
wir mehr Jobs, damit es Arbeit zu vermitteln gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen die Arbeitslosigkeit bekämpfen und die Be-
schäftigung fördern.

Sie versuchen mit dieser Aktuellen Stunde – Aktuelle
Stunden fallen ja nicht vom Himmel – eine Inszenierung.
Sie wollen mit einem Nebenthema vom Hauptthema ab-
lenken. Das Hauptthema ist das totale Versagen Ihrer
Regierung und Ihres Arbeitsministers bei der Bekämp-
fung der Arbeitslosigkeit und der Verbesserung der Be-
schäftigungssituation in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang Weiermann [SPD]: Wer schafft denn die Arbeitsplätze? Doch nicht der Staat! Alles dummes Zeug!)


Aber auch beim Nebenthema haben Sie politische Ver-
antwortung, Herr Riester. Sie können nicht davon ablen-
ken, indem Sie auf die Verantwortung eines leitenden
Beamten verweisen. Sie haben nicht nur die Rechtsauf-
sicht, sondern Sie haben – das ist hier herausgearbeitet
worden – als Fachminister die unmittelbare Verantwor-
tung für den Rechtsrahmen der Bundesanstalt für Arbeit.
Dieser rechtliche Rahmen, haben Sie heute zu erkennen
gegeben, stimmt nach Ihrer Auffassung nicht. Sie sagten,
es müsse durchgreifende Reformen geben. Das stellen Sie
kurz vor Ultimo dieser rot-grünen Regierung fest! In Be-
zug auf das, was Sie vorhaben, haben Sie gestern den Hut
gezeigt, aber noch nicht die Kaninchen springen lassen.


(Ute Kumpf [SPD]: Das ist Tierquälerei, Herr Weiß!)





Erika Lotz
21632


(C)



(D)



(A)



(B)


Ganz grundlegende Dinge, die Ihr Vorgänger eingelei-
tet hat, sind nicht weitergeführt worden. Die vielen Gut-
willigen in der Arbeitsverwaltung und in der Selbstver-
waltung haben keinen Rahmen, in dem sie optimal
arbeiten könnten. Es gab Reformansätze, die in den letzten
Jahren eher verkümmert als weiterentwickelt worden sind.

Wir brauchen beispielsweise Anreize für die Mitarbei-
ter, etwa in Form eines Prämiensystems im Bereich der
Vermittlung – Prämien für Vermittlungsleistungen und
nicht fürs Älterwerden, wie es für den BAT typisch ist.
Wir brauchen eine Dezentralisierung, wie sie von der Vor-
gängerregierung begonnen worden ist. Sie ist übrigens
von Jagoda tatkräftig umgesetzt worden, muss aber sehr
viel konsequenter fortgeführt werden. Die Bundesanstalt
muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie muss noch viel mehr Eigenverantwortung erhalten
und näher am Bürger etabliert werden.

Da hat der Kollege Schulz Recht: Wir müssen mehr
outsourcen,


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Haben Sie gehört, was der Kollege Blüm gesagt hat? – Erika Lotz [SPD]: Das sieht der Kollege Blüm anders!)


wir müssen einen sauberen Wettbewerb für Dienstleis-
tungen in der privaten Vermittlung – aber nicht nur dort –
organisieren, wo er nicht vorhanden ist, bzw. ihn verbes-
sern. Das ist eine der entscheidenden Voraussetzungen
dafür, dass wir mit den knappen Ressourcen, die wir in der
Arbeitsverwaltung haben, eine größere Beschäftigungs-
wirkung erzielen.

Dann brauchen wir mehr Dienstleistungsqualität und
Kontrolle statt Korporatismus. Wir brauchen mehr unab-
hängigen – ich betone: unabhängigen – statt interessen-
gebundenen Sachverstand in den Kontrollgremien der
Bundesanstalt für Arbeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das sind einige Ansatzpunkte für eine zunkunftswei-

sende Reform im System der Arbeitsverwaltung. Aber das
ist die kleinere Frage.

Die wichtigere Frage lautet, wie wir endlich die Ar-
beitslosigkeit besiegen können. Am Ende Ihrer Amtszeit
gibt es eine gigantisch große und skandalöse Horrorzahl:


(Gerd Andres [SPD]: Abwarten!)

4,3 Millionen Arbeitslose klagen an, dass es diese Regie-
rung nicht geschafft hat. Davon wollen Sie mit Inszenie-
rungen wie der heutigen ablenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1421810500
Nun hat die Kollegin
Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1421810600
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Kollege Blüm, Recht haben Sie. Ich
hätte Ihnen beinahe eine Beitrittserklärung herüber-

gereicht, da wir bei Ihrer Rede Grund zum Klatschen hat-
ten. Ihre Kollegen aber haben sich nicht in der Lage ge-
sehen, Sie zu unterstützen.

Es ist richtig: Auch Strukturen und Berichtswesen der
Arbeitsämter gehören auf den Prüfstand. Wenig hilfreich
sind aber Beschimpfungen und Verunglimpfungen der
Beschäftigten in den Arbeitsämtern. Die Medien leisten
dieser Entwicklung Vorschub, indem sie von „Beton“ und
„Betrug“ reden, wie es gestern im ZDF der Fall war. Wir
sollten uns alle hier im Hause vor solchen Beschuldi-
gungen hüten – das sage ich auch zu Herrn Niebel, der ja
schon selber diesbezüglich ein wenig nachgeholfen hat –


(Dirk Niebel [FDP]: Seien Sie mal ganz vorsichtig mit dem, was Sie hier behaupten, Frau Kollegin!)


und nicht von Fälscherwerkstätten bei den Arbeitsämtern
reden und die Arbeitsvermittler und Arbeitsberater nicht
generell zu Sündenböcken abstempeln.


(Dirk Niebel [FDP]: Habe ich nie gemacht! Ich habe mich immer vor die Mitarbeiter gestellt!)


– Sie haben sich selbst geoutet, als Sie gesagt haben, wie
Sie sich als Vermittler bei der Beratung verhalten haben.
Das ist Ihre eigene Erklärung.

Ich empfehle Ihnen allen, in das in Ihrem Wahlkreis ge-
legene Arbeitsamt zu gehen und zu fragen, wie die Stim-
mung derzeit ist. Ich habe das gestern getan. Die Kollegen
dort sagten, dass die Stimmung noch nie so mies war und
dass sie noch nie so schlimm von ihren Kunden – sprich:
von den Arbeitslosen – beschimpft worden sind.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Stimmung ist überall mies, Frau Kumpf! Nicht nur da!)


– Ich will erst einmal diesen Punkt abarbeiten.
Diese Entwicklung wurde ausgelöst durch Ihre un-

reflektierten Äußerungen, die zeigen, wie Sie mit dem
Bereich Arbeitsamt umgehen. Es gibt Arbeitslose, die
ihren Berater mit den Worten „Na, Sie Betrüger“ be-
grüßen. Das sind schlechte Voraussetzungen für den
Start und für die erfolgreiche Umsetzung des Job-Aqtiv-
Gesetzes.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann zieht es zurück! Es bringt eh nichts!)


Die Vermittlung soll eine zentrale Bedeutung bekommen.
Wir alle, auch Sie als Opposition, sollten ein Interesse da-
ran haben, dass die Vermittlungsschiene funktioniert.

Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten
und die Selbstverwaltung sozusagen mit einem Schnell-
schuss an den Pranger stellen.


(Dirk Niebel [FDP]: Zu Recht! Aber da sitzen natürlich Ihre Leute drin! – Julius Louven [CDU/CSU]: Zu Recht!)


– Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Die Selbstverwal-
tung ist das am besten funktionierende Netzwerk, wenn
sie klug, intelligent und kreativ eingesetzt wird, um die
unterschiedlichsten Parteien zusammenzubringen.


(Julius Louven [CDU/CSU]: Sie dürfen ja nichts anderes sagen!)





Gerald Weiß (Groß-Gerau)


21633


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Wir haben
in Baden-Württemberg einen ausgehandelten Tarifvertrag
zur Beschäftigung, zur Sicherung und zur Qualifizierung.
Im Verwaltungsausschuss des Arbeitsamts in Stuttgart
sitzt der Vertreter von Bosch als Personalverantwort-
licher. Auf der anderen Seite gibt es einen Vertreter von
den Gewerkschaften und von den Firmen. Wenn diese
Leute ihren Kopf einmal bemühen würden, dann könnten
sie mithilfe des Arbeitsamtes und mithilfe unseres Job-
Aqtiv-Gesetzes dafür sorgen, dass un- und angelernte Kol-
leginnen und Kollegen, die von Arbeitslosigkeit bedroht
sind, in eine Qualifizierungsoffensive eingebunden wer-
den. Die regionalen Selbstverwaltungsgremien müssen die
Aufgaben vor Ort konstruktiv und kreativ angehen.

Ihre Vorstellung von Selbstverwaltung war nie meine
Vorstellung. Ich war selbst Mitglied der Selbstverwaltung


(Dirk Niebel [FDP]: Aha!)

und habe sie heftig genervt, weil ich die Anforderung an die
Arbeitsämter gestellt habe, ihre gesetzlichen Möglichkei-
ten kreativ umzusetzen. Das wird die Aufgabe der Selbst-
verwaltung sein. Ihre Vorstellung über die Selbstverwal-
tung – Sie sitzen vielleicht dort, lehnen sich zurück und
kassieren eine Aufwandsentschädigung – ist nicht meine.


(Dirk Niebel [FDP]: Warum haben Sie damals nichts gemerkt?)


Ich kann Ihnen ein Beispiel meiner Tätigkeit nennen.
Das Arbeitsamt Nagold war immer eine Männerdomäne.
Was mussten die armen Männer in diesem kleinen Ar-
beitsamt, in dessen Bereich die Arbeitslosenquote immer
ganz unten war, schließlich tun? Sie mussten den ersten
Frauengleichstellungsbericht erstellen. Das haben sie
gerne gemacht, weil sie endlich gefordert wurden.

Es wird ein zentraler Punkt sein, dafür zu sorgen, dass
die vorhandenen Netzwerke nicht leichtfertig aufs Spiel
gesetzt werden, dass die Selbstverwaltung ein zentrales
Element bleibt und dass sie sich ihrer Verantwortung be-
wusst ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Netzwerke sind Seilschaften!)


Ein zweiter Punkt, den ich wichtig finde und den man
an dieser Stelle einordnen sollte: Herr Niebel, Sie sprechen
sehr schnell von Privatisierung; bei der CDU/CSU gibt es
ähnliche Töne. Was bewirkt denn zum Beispiel in Baden-
Württemberg die Privatisierung? Ich erinnere nur an BSE.
Sind denn private Labore wesentlich besser als amtliche?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Alles verstaatlichen!)


Von wegen! An dieser Stelle muss man sehr genau darauf
achten, wer was kann. Wie können wir in dem schwieri-
gen Geschäft der Arbeitsvermittlung einen Kompetenz-
wettbewerb organisieren?


(Julius Louven [CDU/CSU]: Noch 30 000 Beschäftigte zur Bundesanstalt für Arbeit!)


Wer hat das entsprechende Know-how und Equipment,
um Vermittlungsbemühungen vernünftig und erfolgreich
auf den Weg zu bringen?


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Gestern hat Herr Laumann – er ist leider nicht anwe-
send – mit tränengerührter Stimme darauf hingewiesen,
wie gering die Vermittlungsquoten seien. Ich empfehle Ih-
nen einen Aufsatz vom Wissenschaftszentrum in Berlin.
Die europäischen Vermittlungsquoten von öffentlichen
Ämtern liegen schlichtweg bei 30 Prozent. Alle weiteren
Vermittlungen erfolgen über Freunde, Unternehmen und
sonstige soziale Netzwerke.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist der Einschaltungsgrad, nicht die Vermittlungsquote!)


– Nein, Herr Niebel, die Vermittlungsquote. Sie sollten
ein bisschen mehr lesen. Zu lesen, bevor man plappert, tut
manchmal ganz gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im internationalen Durchschnitt liegen wir so schlecht
nicht. Wir sollten also genau hinschauen und nicht sofort
einen großen, überspannten Bogen machen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit und die Geduld.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421810700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerd Andres.


(Julius Louven [CDU/CSU]: Ja, Herr Staatssekretär, jetzt bin ich gespannt !)



Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1421810800
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst fest-
stellen, dass ich großen Respekt vor Norbert Blüm habe,
auch davor, wie er hier für seinen Freund Bernhard Jagoda
eingetreten ist. Lieber Norbert, ich habe ausdrücklich
eingeräumt – das nimmt man in der Echauffiertheit oft
nicht wahr –, dass die SPD damals bei der Entscheidung
über die Zulassung der privaten Arbeitsvermittlung Nein
gesagt hat. Aber ich nehme für mich, so wie ich das auch
anderen zubillige, in Anspruch, hinzulernen zu können.

Eine Behauptung kann ich überhaupt nicht bestätigen
– darauf will ich gleich einmal hinweisen –, nämlich die,
dass wir diese Aktuelle Stunde beantragt hätten, um ab-
zulenken. Es geht nicht um Ablenken. Ich will einmal die
Tatbestände festhalten: Im Januar 1998 lag die registrierte
Arbeitslosigkeit bei 4,82 Millionen Menschen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie hoch wird sie denn im Februar sein?)


Im Januar dieses Jahres lag sie unter 4,3 Millionen. Das
ist eine halbe Million weniger. Dies sage ich, damit Sie
beim Rechnen immer wissen, worum es geht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was haben Sie denn versprochen?)





Ute Kumpf
21634


(C)



(D)



(A)



(B)


Was die Befunde zur Vermittlungsfähigkeit angeht, gibt
es in der Zwischenzeit Untersuchungen in 15 Arbeitsäm-
tern, bei denen festgestellt worden ist, dass rund 36 Prozent
aller Arbeitsvermittlungen nicht nachvollziehbar sind. Das
ist ein außerordentlich ernster Tatbestand. Allein das Zuta-
getreten dieses Tatbestandes hat der Bundesanstalt für Ar-
beit und ihrer Tätigkeit unendlich geschadet. Wer ein we-
nig der Historie nachgeht – auch der darf man nicht
ausweichen –, der muss zur Kenntnis nehmen, dass wir seit
einer ganzen Reihe von Jahren eine Vermittlung von über
3 Millionen Arbeitslosen haben. Im Jahre 1998, Herr ehe-
maliger Arbeitsminister, haben wir übrigens eine Steige-
rung der Vermittlungen von knapp 350 000 gehabt.


(Julius Louven [CDU/CSU]: Wie denn? Wie kommen die denn zustande?)


– Ich kann Ihnen sagen, wie die zustande kommen: Das
kommt durch die Steigerung von ABM und SAM in je-
nem Jahr. Denn wenn Sie die 300 000, die Sie in diesem
Zusammenhang zusätzlich ermöglicht haben, mit einbe-
ziehen, dann kommen Sie bei der Vermittlung exakt auf
diese Größenordnung.

Aber das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist
– das sollte auch die Öffentlichkeit wissen –, dass es vor-
her seitens des Bundesrechnungshofes keine Untersu-
chung über Vermittlungsaktivitäten gegeben hat. – Das ist
Punkt eins.

Punkt zwei ist, dass der Revisor Bixler mitgeteilt hat,
dass er die ersten Untersuchungen in den Jahren
1993/1994 begonnen und im Jahre 1997 – hören Sie gut
zu: 1997 – eine sehr umfassende Untersuchung über
Rheinland-Pfalz durchgeführt hat und dass es offensicht-
lich die Systematik gab, dass, je weiter Befunde nach
oben weitergegeben wurden, umso verschwommener die
Wahrnehmung wurde und umso mehr das Verhalten vor-
herrschte, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen oder sie im
weiteren Beratungsverfahren zu vergessen.

Deswegen gibt es eine ganz einfache Schlussfolge-
rung: Dafür muss jemand Verantwortung tragen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Eine reine Showveranstaltung, die ihr heute macht!)


Die Verantwortung hat derjenige zu tragen, der die Tatbe-
stände kannte, mit diesen Tatbeständen umgegangen ist,
diese Tatbestände nicht an die Politik weitergegeben hat
und mit diesen Tatbeständen weder Vorstand noch
Verwaltungsrat der Bundesanstalt jemals befasst hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Im September 1998 wurde das Ganze öffentlich, Herr Andres! – Gegenruf des Abg. Klaus Brandner [SPD]: Sie waren da in der Regierung, Herr Kolb! Das ist das Allerschärfste! Zu dem Zeitpunkt waren Sie in der Regierung! So viel Heuchelei auf einmal habe ich noch nie gehört!)


Damit das völlig klar ist: Dies ist kein Land der organi-
sierten Verantwortungslosigkeit. Am Schluss wird festge-
stellt, dass jemand dafür die Verantwortung hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: Alle sind schuld, nur ihr seid nicht schuld! – Weitere Zurufe)


– Ich sage es Ihnen so, wie es ist. Sie können ruhig da-
zwischenschreien; das ist mir völlig egal.

Ich komme nun auf die Mitarbeiter zu sprechen. Ich
habe eine herzliche Bitte und die will ich auch so äußern.
In der Arbeitsverwaltung gibt es ganz viele sehr enga-
gierte Mitarbeiter.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Die wollen alle Herrn Jagoda behalten! Die sehen die Verantwortung nicht bei Herrn Jagoda! – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Richtig!)


Es gibt viele Arbeitsvermittler, die sich krumm legen. Es
gibt viele, die mit der entwickelten Systematik, die ja ir-
gendwie ein Komment im Haus gewesen sein muss,
nichts zu tun haben. Ich sage ausdrücklich, dass wir von
der Regierungskoalition uns unmittelbar und nahtlos hin-
ter diese Mitarbeiter stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Klar muss aber auch sein: Wenn es einen solchen Tatbe-
stand gibt, dann muss der schnellstmöglich abgestellt
werden. Wir haben schon Schlüsse gezogen. Wir werden
alles daransetzen, das Job-Aqtiv-Gesetz umzusetzen. Wir
werden notfalls auch kurzfristig Gesetzesveränderungen
vornehmen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Viel Zeit habt ihr nicht mehr! – Zuruf von der CDU/CSU: Zeit wird es!)


Diese kurzfristigen Veränderungen sind möglicherweise
auch notwendig. Ich füge hinzu: Der Vorstand hat schon
entsprechende Schlussfolgerungen, die in die richtige
Richtung gehen, gezogen.

Ich will einen letzten Punkt ansprechen. In einer sol-
chen Krise gibt es die Chance für einen Neubeginn – Sie
werden ganz schnell merken, dass wir sie auch nutzen
werden –, aber in einer solchen Krise zeigen sich auch
diejenigen, die es schon immer besser gewusst haben. Ich
habe nachgelesen, was Herr Gerhardt, der große Arbeits-
marktfachmann, oder Herr Niebel in den letzten Wochen
geliefert haben. Die haben sich sogar öffentlich gestrit-
ten. Der eine war für, der andere gegen die Selbstverwal-
tung.


(Dirk Niebel [FDP]: Nein, nein! Da waren wir immer einer Meinung!)


Dazu kann ich nur sagen: Das kann man unter dem Begriff
Zwergenwerfen abbuchen. Ich habe auch mitbekommen,
was Herr Brüderle und andere von sich gegeben haben.
Angesichts dessen empfehle ich Ihnen ganz dringend: Sie
müssen nicht all Ihre ideologischen Ladenhüter, die Sie
schon immer mit sich herumgeschleppt haben, herausho-
len


(Dirk Niebel [FDP]: Hervorragende, zukunftsweisende Konzepte! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also, wir sind schuld!)


und den Versuch unternehmen, die Bundesanstalt für Ar-
beit oder die Arbeitsvermittlung insgesamt zu schleifen.




Gerd Andres

21635


(C)



(D)



(A)



(B)


Das werden wir – das sage ich, damit das völlig klar ist –
nicht mitmachen!


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Sie haben wieder nichts verstanden!)


Sie werden auch keine Chance haben, Ihre Vorstellungen
zu realisieren.

Ich habe die herzliche Bitte an alle Verantwortlichen in
der Politik und in der Bundesanstalt für Arbeit – das geht
insbesondere an die Mitarbeiter und an die Gewerkschaf-
ten –, sich notwendigen Veränderungen nicht zu ver-
schließen, sondern diesen Veränderungsschritt mitzuge-
hen, auch als Beschäftigter der Bundesanstalt für Arbeit,
weil nur darin die Chance liegt, die Effizienz und Wirk-
samkeit der Bundesanstalt für Arbeit zu verbessern und
etwas dafür zu tun, reale Vermittlungen und nicht virtuelle
Zahlen zu bekommen.

Ich füge hinzu: Wir werden auch alles tun, um alle Pri-
vaten oder Sonstigen, die Vermittlung leisten können, mit
einzubeziehen. Das ist das Gebot der Stunde und das wer-
den wir auch umsetzen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421810900
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie Zu-
satzpunkt 5 auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Dr. Sigrid
Skarpelis-Sperk, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Werner Schulz (Leipzig), Andrea Fischer

(Berlin), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Zugang der Zivilgesellschaft zurWTO-Minister-
konferenz in Doha, Katar, gewährleisten
– Drucksachen 14/5805, 14/7900 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Erich G. Fritz, Gunnar Uldall, Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Stärkung des freien Welthandels durch neue
WTO-Runde
– Drucksachen 14/5755, 14/7924 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Brigitte
Adler, Klaus Barthel (Starnberg), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-
geordneten Kristin Heyne, Annelie Buntenbach,
Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung eines fairen und nachhaltigen Han-
dels durch eine umfassende Welthandelsrunde
– Drucksachen 14/7143, 14/7925 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Ursula Lötzer, Petra Pau, Ulla Jelpke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Neoliberale Globalisierung – kein Sachzwang
– Drucksachen 14/6889, 14/7899 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erich G. Fritz

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklung und Wohlstand durch mehr Mut
zur Marktöffnung
– Drucksache 14/8272 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Bundesminister Werner Müller.

Dr. Werner Müller,Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-
ren! Die Ministerkonferenz von Doha war in mehrfacher
Hinsicht ein großer Erfolg. Nach dem 11. September war
es von eminenter politischer Bedeutung, dass die Weltge-
meinschaft unbeirrt an der termingerechten Eröffnung der
Konferenz festgehalten und darüber hinaus die Konferenz
auch noch zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hat.
Eine Delegation von Mitgliedern dieses Hohen Hauses
konnte sich vor Ort von dem politischen Grundkonsens
aller beteiligten Staaten und von dem erfolgreichen Ver-
lauf der Verhandlungen überzeugen.




Gerd Andres
21636


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Konferenz war vor allem auch ein Meilenstein auf
dem Weg zu einer gerechten Aufteilung der Chancen
zwischen den armen und den reichen Ländern. Sie war
ein erster Schritt in Richtung einer besseren politischen
Gestaltung der Globalisierung. Zudem hat durch die Auf-
nahme von China und Taiwan das regelbestimmte Welt-
handelssystem jetzt wirklich universelle Geltung erreicht.
Auch um die schnelle Aufnahme von Russland und den
Beitritt einiger arabischer Länder zur WTO werden wir
uns weiterhin bemühen.

Die Übereinkunft von Doha war angesichts der welt-
weiten Konjunkturschwäche das richtige Zeichen der Zu-
versicht und des Vertrauens.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir erwarten von dieser neunten Handelsrunde vor allem
im Interesse unserer Beschäftigung eine weitere nachhal-
tige Marktöffnung und Zollsenkung für Industrieerzeug-
nisse. Bei den Dienstleistungsverhandlungen werden wir
insbesondere auf weitere Liberalisierung der uns beson-
ders interessierenden Sektoren, zum Beispiel der Finanz-
dienstleistungsmärkte, drängen. Gleichzeitig werden wir
sorgfältig darauf achten, dass die berechtigten Schutzbe-
dürfnisse in sensiblen Bereichen der Daseinsvorsorge,
zum Beispiel im Bildungs- und im Gesundheitsbereich,
berücksichtigt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kritische Stimmen, die meinten, dass das WTO-Sys-
tem als Folge des Debakels von Seattle, das etliche von
denen, die hier anwesend sind, gemeinsam erlebt haben,
insgesamt infrage gestellt sein würde, haben nicht Recht
behalten. Im Gegenteil: Seit Doha ist klar, dass ein welt-
weites Interesse besteht, das System multilateraler Han-
delsregeln auszubauen und weiterzuentwickeln. So ist
zum Beispiel neu, dass nunmehr auch über den umwelt-
politischen Rahmen der Globalisierung verhandelt wer-
den wird. Im Bereich der Kernarbeitsstandards und der
Arbeitnehmerrechte konnte bedauerlicherweise noch kein
richtiger Durchbruch erreicht werden. Es ist jedoch – da-
rauf komme ich noch – einiges erreicht worden. Immer-
hin hat die Internationale Arbeitsorganisation auf hoher
Ebene eine Arbeitsgruppe zur Behandlung der sozialen
Folgen der Globalisierung eingesetzt.

Die Konferenz in Doha hat nicht nur das gestiegene
Selbstbewusstsein, sondern auch die größere Bedeutung
der Entwicklungsländer gezeigt. Sie haben den Konfe-
renzablauf und auch das Konferenzergebnis durch ihr
zahlenmäßiges Gewicht – rund drei Viertel der WTO-
Mitglieder sind Entwicklungsländer – und durch ihr ko-
ordiniertes Auftreten maßgeblich mitgestaltet. Dabei
muss man wissen, dass die WTO mit ihren über 140 Mit-
gliedern in der Abstimmung dem Einstimmigkeitsprinzip
unterliegt.

Der Wille zur stärkeren Integration der Entwicklungs-
länder in die Weltwirtschaft und zur besseren Berücksich-
tigung ihrer Belange zieht sich wie ein roter Faden durch
die Abschlusserklärung. Der Beschluss zum Zugang der
Entwicklungsländer zu patentgeschützten Arzneimitteln

ist ein weiterer Beweis für die wirksame Durchsetzung
der Interessen der Dritten Welt. Zu Recht werden daher
die Vereinbarungen von Doha auch als eine Entwick-
lungsagenda bezeichnet.

Die in Doha beschlossenen Verhandlungsinhalte sind
nur der Anfang. Die substanziellen Verhandlungen begin-
nen in diesen Tagen mit der Vorlage von inhaltlichen For-
derungen. Das angestrebte Ziel, in nur drei Jahren alle
Themen abzuarbeiten und einen Konsens aller WTO-Mit-
glieder zu erreichen, ist sicherlich ein sehr ehrgeiziges
Ziel. Handel ist ein Austausch von Gütern und Leistungen
und damit ein Geben und Nehmen in beiderseitigem Inte-
resse. Auch in den Verhandlungen werden daher Forde-
rungen nur bei entsprechenden Gegenangeboten durch-
setzbar sein.

Angesichts der gestiegenen Mitgliederzahl der WTO
wird von den großen Handelsmächten, insbesondere von
der EU und den USA, erwartet, dass sie in diesen Ver-
handlungen die Führungsrolle übernehmen. Mit der
Führungsrolle haben die USA und wir aber auch eine be-
sondere Verantwortung übernommen. Die Wahrnehmung
dieser Verantwortung beiderseits des Atlantiks zeigt sich
vor allem darin, die Verhandlungen möglichst zu fördern
und sie nicht durch neue Handelskonflikte zu belasten. Ich
kann daher von dieser Stelle aus nur an die amerikanische
Regierung appellieren, keine WTO-widrigen Schutz-
maßnahmen im Stahlbereich zu ergreifen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Unilaterale Maßnahmen dürfen die neue Runde nicht ge-
fährden. Solche neoprotektionistischen Maßnahmen wer-
den unmittelbare Reaktionen bei der Europäischen Union
und anderen Handelspartnern auslösen und das Klima er-
heblich belasten.

Glaubwürdigkeit ist schließlich auch bei den Verhand-
lungen selbst gefragt. Die Doha-Agenda enthält Themen,
die auch für uns als Europäer politisch schwer umzuset-
zen sein werden. Ich denke hier vor allem an die Libera-
lisierung des Agrarbereiches. Die Verhandlungen sollten
daher auch von unserer Seite mit der erforderlichen Sen-
sibilität und dem notwendigen Problembewusstsein ge-
führt werden. Manche der neuen Themen wecken bei vie-
len kleineren WTO-Mitgliedstaaten Ängste und Sorgen
vor versteckten protektionistischen Absichten. Wer hier
erfolgreich sein will, muss gerade in der Anfangsphase
der Verhandlungen viel Überzeugungsarbeit leisten und
darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, dass wir
die WTO mit sachfremden Themen überfrachten wollen.

Die erst 1995 geschaffene WTO blickt auf eine kurze,
aber außerordentlich erfolgreiche Vergangenheit zurück.
Mit der Konferenz von Doha wurden die notwendigen
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich dieser Erfolg
auch in einer globalisierten Zukunft fortsetzen wird.

Deutschland als zweitgrößte Exportnation dieser Welt
hat ein vitales Interesse am positiven Ausgang dieser Ver-
handlungen.


(Beifall bei der SPD)





Bundesminister Dr. Werner Müller

21637


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will hinzufügen: Deutschland ist nicht nur eine der
großen Exportnationen auf diesem Globus; vielmehr wird
Deutschland dadurch, dass das Investment deutscher
Unternehmen im Ausland kontinuierlich steigt, auch
immer mehr in das internationale Wirtschaftsgeschehen
verflochten. Das Volumen des Investments deutscher Un-
ternehmen im Ausland hat sich von 1990 bis zum Jahre
2000 vervierfacht, sodass wir nicht nur auf den Export in
Deutschland produzierter Waren, sondern zunehmend
auch auf den Umsatz deutscher Töchter im Ausland ach-
ten müssen. Es wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich
sage: So wichtig, wie der Export insgesamt ist – das Vo-
lumen des Investments deutscher Töchter im Ausland ist
doppelt so groß wie das Volumen des gesamten deutschen
Exports in die Welt. Das hat dann beispielsweise bei dem
Thema Investitionen, Investitionsschutz, Investitions-
sicherheit Berücksichtigung zu finden. Auch dies ist ein
Thema, das in Doha besprochen wurde.

Mit dem Ergebnis von Doha bekennen sich die WTO-
Mitglieder zu der Notwendigkeit, den freien Weltmarkt
durch einen an den Zielen von Kohärenz und Nachhaltig-
keit orientierten multilateralen Ordnungsrahmen zu
flankieren. Ich will die wesentlichsten inhaltlichen Ver-
einbarungen aus der Ministererklärung kurz aufzählen:
Verhandlungsauftrag zur Verbesserung des Marktzugan-
ges durch den Abbau von Industriezöllen; Verhandlungs-
auftrag zur Verbesserung des Marktzuganges bei Dienst-
leistungen; Verhandlungsauftrag zur Handelserleichterung
durch Beschleunigung der Zollverfahren; Verhandlungs-
auftrag zur Stärkung der WTO-Regeln über Anti-Dumping
und Subventionen; Verhandlungsauftrag im Umweltbe-
reich zum Thema Verhältnis multilateraler Umweltabkom-
men zu WTO-Regeln und zur Verringerung von Handels-
schranken für Umweltgüter und Umweltdienstleistungen.

Ich hatte es schon erwähnt: Bei der Frage der Sozial-
standards wurde eine Formulierung gefunden, die zwar
aus unserer Sicht als noch nicht genügend beurteilt wer-
den muss, die aber im Gesamtkontext des Verhandlungs-
ergebnisses und angesichts der starken Bedenken der Ent-
wicklungsländer als akzeptabel bezeichnet werden kann.
Die Formulierung der Ministererklärung lässt eine Zusam-
menarbeit der WTO mit anderen internationalen Organisa-
tionen zu, zum Beispiel im Rahmen der am 12. November
von der ILO-Arbeitsgruppe „Soziale Dimensionen und
Globalisierung“ beschlossenen Kommission hochrangiger
Persönlichkeiten.

Schließlich gibt es noch einen Verhandlungsauftrag zu
Investitionen und Wettbewerb, der allerdings in der
nächsten WTO-Ministerkonferenz im Jahre 2003 – der
fünften – noch einmal bestätigt werden muss.

Nun gilt es, all diese Vereinbarungen im Wege konkre-
ter Verhandlungen vorwärts zu bringen und auszufüllen.
Darum wird sich die Bundesregierung auch weiterhin mit
allen Kräften bemühen. Ich bin sicher, dass die Opposition
der Regierung angesichts des bisher Erreichten und ange-
sichts der bisher guten Zusammenarbeit auch vor Ort bei
den Verhandlungen weiterhin ihre Unterstützung geben
und den erzielten Erfolg grundsätzlich anerkennen wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich danke Ihnen für diese Unterstützung. Wünschen wir
uns allen weiteren Erfolg bei den nun beginnenden Ver-
handlungsrunden!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421811000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1421811100
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten uns ja vorgenom-
men, das Parlament wieder zum Zentrum der Auseinan-
dersetzung über die Gestaltung des weltweiten Handels-
systems und der Globalisierung zu machen. Wenn ich
heute aber in die Reihen schaue, habe ich nicht das Ge-
fühl, dass wir schon am Ziel unserer Bemühungen ange-
langt wären.


(Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist ein langer Weg! – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was die Quantität angeht!)


– Es ist ein langer Weg, die Regierung dazu zu bekom-
men, das Parlament in diesen Fragen tatsächlich ernst zu
nehmen, und dann auch noch das, was wir an Kohärenz
und Querschnittsarbeit zwischen den Ausschüssen brau-
chen, dadurch sinnfällig zu machen, dass alle Ausschuss-
mitglieder bei einer solchen Debatte anwesend sind.

Meine Damen und Herren, wir haben vor über einem
Jahr, im Frühjahr 2001, den Antrag „Stärkung des freien
Welthandels durch neue WTO-Runde“ vorgelegt, um im
Vorfeld von Doha eine Debatte über dieses Thema führen
zu können. Auch die anderen Fraktionen haben dann An-
träge gestellt. Die Anträge waren von unterschiedlichen
Ansätzen geprägt: Wir waren mehr für eine realistische
Sicht der Dinge, während die Koalitionsfraktionen in
ihrem Antrag mehr den Eindruck erweckt haben, man
könne das Weltordnungssystem mit einem Ruck erreichen.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ein paar Visionen muss man ja noch haben!)


Das zielte in Wirklichkeit natürlich nicht auf die Ver-
handlungen, sondern auf die innenpolitische Diskussion.

Wir stimmen in der Bewertung überein, wie sie der
Minister hier gerade vorgetragen hat. Auch wir halten
Doha für einen Erfolg, und zwar deshalb, weil es über-
haupt gelungen ist, zu einem Ergebnis zu kommen. Nach
dem, was zuvor in Seattle passiert war, ist das der wich-
tigste Erfolg gewesen. Die Liberalisierung des Welt-
handels auf der einen Seite und die Entwicklung eines
multilateralen Ordnungsrahmens auf der anderen Seite
müssen jetzt eine neue Qualität bekommen.

Dass es möglich war, zu einem konsensfähigen Ergeb-
nis zu kommen, zeigt, dass alle ein Interesse daran haben,
die WTO als eine der wenigen wirklich handlungsfähigen
internationalen Organisationen zu stärken und sie zu ei-
nem Instrument zu machen, das alle Mitgliedstaaten im-




Bundesminister Dr. Werner Müller
21638


(C)



(D)



(A)



(B)


mer mehr in gleicher Weise in das Geflecht des Welthan-
dels einbezieht. Das ist heute ja noch nicht der Fall. Heute
gibt es höchst unterschiedliche Beteiligungsmöglichkei-
ten und einige große Handelsmächte bestimmen das Kon-
zert. Aber nach Seattle und vor allem in Doha ist deutlich
geworden, wie sehr sich jetzt die anderen organisieren. Es
ist nicht mehr zufällig, ob die Entwicklungsländer oder
die afrikanischen Länder als regionale Gruppe ihre
Stimme erheben, sondern dies wird organisiert. Das ist ein
Lichtblick, weil damit das Selbstbewusstsein der an den
Verhandlungen Beteiligten wächst, wodurch die Ergeb-
nisse tragfähiger als in früheren Zeiten werden, als viele
meinten, sie würden über den Tisch gezogen.

Es war gut und richtig, dass die EU mit Realismus und
Kompromissbereitschaft in die Verhandlungen gegangen
ist und dass sie auch in Person von Herrn Lamy sehr viel
Arbeit und Kraft in die Kommunikation im Vorfeld der
Verhandlungen gesteckt hat.

Der Beschluss über die Einleitung einer neuen Welt-
handelsrunde zeigt aber gerade vor dem Hintergrund ei-
ner abgeschwächten Weltwirtschaft die Entschlossenheit
der WTO-Mitgliedstaaten, das internationale Handels-
system weiter auszubauen. Die TRIPS-Erklärung und die
WTO-rechtliche Absicherung der besonderen Beziehun-
gen zu den AKP-Staaten durch den so genannten Cotonou-
Waver zeigen, dass es eine Anerkennung dessen gibt, was
zwischen Europäischer Union und diesen Entwicklungs-
ländern an besonderen Beziehungen besteht, und dass das
nicht WTO-feindlich ist. Ich meine, dass die Kritik der
Globalisierungsgegner und der Nichtregierungsorganisa-
tionen unberechtigt ist, die von mangelnder Berücksichti-
gung der Interessen von Entwicklungsländern sprechen.
Natürlich kann sich jeder Beteiligte immer noch mehr vor-
stellen. Wir konnten uns im Übrigen auch mehr vorstellen,
Herr Minister. Wir haben das ja an einigen Stellen darge-
stellt.

Ich halte in diesem Zusammenhang auch die Kern-
these, die auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre wie-
der geäußert worden ist, für falsch, zumindest halte ich sie
für sehr einseitig, die da heißt, Handelsliberalisierung sei
im Interesse der reichen Staaten und der Multis und
schade den Entwicklungsländern, den Arbeitern und der
Umwelt. Dass das Bereiche beschreibt, die problematisch
sind und in denen etwas geschehen muss, wissen wir alle.
Aber in dieser Einfachheit stimmt das eben nicht. Ich
meine, dass das Welthandelssystem, die WTO, das Regel-
werk für einen freien Welthandel eben nicht den Kleinen
schadet, sondern vielmehr die Macht der Großen be-
schränkt. Denn das multilaterale System ist ein System,
das nicht die Entscheidungen allein der Macht folgen
lässt, weil am Schluss der Kleine genauso viel zu ent-
scheiden hat wie der Große, wenn es darum geht, Ein-
stimmigkeit herzustellen.

Globalisierung ist auch nicht die Ursache für Armut.
Sie kann nachweisbar zu ihrer Überwindung beitragen,
wenn die Rahmenbedingungen weltweit in den einzelnen
Ländern stimmen. Da leidet an vielen Stellen die Ent-
wicklungsmöglichkeit. Wir brauchen gegenwärtig nur
nach Argentinien zu schauen. Es ist ja nicht Schicksal,

was dort geschieht, sondern das ist durch falsche politi-
sche Entscheidungen herbeigeführt.

Dass Afrika oder, wie man einschränkend sagen muss,
viele afrikanische Länder heute weniger in das sich ent-
wickelnde Handelssystem eingebunden sind, als sie das
noch vor 20 Jahren waren, hat interne Ursachen. Wenn Ge-
rechtigkeit, wenn Gleichberechtigung, wenn demokrati-
sche Teilhabe der Menschen, wenn Freisetzung von wirt-
schaftlichen Möglichkeiten, Bildung usw. nicht vorhanden
sind, dann gibt es eben diese Möglichkeiten, an der Glo-
balisierung teilzuhaben, nicht. Deshalb ist Entwicklungs-
politik trotz des sich entwickelnden Handelssystems wei-
terhin nötig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Globaler Wettbewerb – das muss man dazu sagen – legt

allerdings die Schwächen der Volkswirtschaften und der
politischen Entscheidungen auch ziemlich deutlich offen.
Schonungslos werden Fehler durch dieses System be-
straft. Man muss also genau zwischen den Auswirkungen
der Globalisierung, der Unfähigkeit, daran mitzuwirken,
oder der Ausgrenzung durch falsche Rahmensetzungen
unterscheiden, an deren Überwindung wir ja arbeiten.

Ich wünsche mir von der deutschen Regierung in die-
sem Zusammenhang, dass sie die WTO noch mutiger ge-
gen ihre Kritiker verteidigen würde. Ich würde mir sogar
wünschen, dass wir im Umweltbereich und im Sozialbe-
reich ähnlich handlungsfähige und durchsetzungsfähige
Organisationen hätten wie im Handelsbereich. Dann wäre
vielleicht die Kohärenz international sehr viel einfacher
herzustellen, als das heute bei diesem Flickenteppich von
beteiligten Entscheidern der Fall ist.

Damit die Vorteile des Freihandels auch für alle Staaten
von Nutzen sein werden, bedarf es jetzt konstruktiver Zu-
sammenarbeit und rascher Umsetzung. Denn die Verhand-
lungen beginnen erst. Bis jetzt haben wir nur den Auftrag.
Die technischen Voraussetzungen für die Verhandlungen
sind so weit abgeschlossen. Die Verhandlungsgruppen
sind eingerichtet, die Themenfelder abgesteckt. Berichts-
pflichten und Vorgehensweise des Leitungsgremiums sind
präzisiert. Die Vorsitze sind geklärt.

Das Mandat läuft bis 2005. Das ist eine kurze Zeit. Die
Bundesregierung muss alles tun, um diesen Prozess zu
begleiten und innerhalb der Europäischen Union dafür zu
sorgen, dass die Störfälle, die es immer wieder gibt, mög-
lichst schnell und reibungslos beseitigt werden und dass
die konstruktive Atmosphäre aus Doha für die Verhand-
lungen erhalten bleibt.

Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie dann,
wenn demnächst für diese einzelnen Verhandlungsgrup-
pen die europäischen Positionen beschrieben werden, das
unmittelbar auch zum Gegenstand der Diskussion im
Deutschen Bundestag macht. Wir wollen von Anfang an
daran beteiligt sein. Der Bundestag muss diese Diskus-
sion führen, wenn der Prozess Akzeptanz in der Öffent-
lichkeit, in der Bevölkerung haben soll.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)





Erich G. Fritz

21639


(C)



(D)



(A)



(B)


Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Staatssekretär Gerlach
gestern beim Berichterstattergespräch zugesichert hat,
diese Informationen sofort nach dem informellen Han-
delsministerrat in Toledo dem Bundestag zur Verfügung
zu stellen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Gelegen-
heit hätten, dann auch öffentlich eine Diskussion darüber
zu führen, damit klar wird, dass der Gesetzgeber diesen
Prozess begleitet und dass er sich der Mühe unterzieht,
schon am Anfang darüber nachzudenken, welche Konse-
quenzen Verhandlungsergebnisse für die nationale Politik
haben. Jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass jede
Entscheidung, die als Abschluss auf dem Tisch liegt, Fol-
gen für die nationale Gesetzgebung hat und Anpassungs-
leistungen von uns verlangen, die nicht alle gerne erbrin-
gen, weil sie zum Teil auch schmerzlich sein werden. Je
früher wir in der Lage sind, diesen Prozess zu begleiten,
desto besser ist es und desto größer wird die Akzeptanz
sein. Wenn die Entscheidungen hinterher immer nur als
Ergebnis nationaler Politik dastehen, die sozusagen un-
veränderlich irgendwie über uns gekommen sind, dann
dürfen wir uns nicht wundern, dass die Leute über die Er-
gebnisse der Globalisierungsprozesse frustriert sind.

Mit dem erfolgreichen Abschluss der WTO-Minister-
konferenz sind die WTO-Mitgliedstaaten einer zukunfts-
weisenden und nachhaltigen Gestaltung des Welthan-
delssystems einen großen Schritt näher gekommen. Ich
meine, damit müsste auch die Diskussion über diesen Pro-
zess in Deutschland anders werden. Ich habe mich ziem-
lich geärgert, als ich zahlreiche Stimmen – insbesondere
aus den Reihen der Grünen – zu den Vorgängen in Genua
oder zu dem Weltwirtschaftsforum in New York hörte.
Der Zusammenschluss von Globalisierungsgegnern
mag eine wichtige Bewegung sein, die dazu führt, dass
richtige Fragen gestellt werden; ich will das gar nicht be-
streiten. Aber ich halte es für falsch, als politisch Verant-
wortlicher zu sagen: Wir stellen uns auf die Seite der Glo-
balisierungsgegner. Wir müssen auf der Seite der Glo-
balisierungsgestalter stehen – das verlangen die Men-
schen von uns –, denn der Globalisierungsgegner hat noch
keine Alternative zu diesem Prozess.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich zum Schluss – Frau Präsidentin, ich

darf einige Minuten überziehen, weil mein Kollege kür-
zer als geplant geredet hat – noch einiges ansprechen, was
ich für sehr wichtig halte.

Herr Minister, über zwei Themen, nämlich „Handel
und Investitionen“ und „Handel und Wettbewerb“,
wird noch nicht unmittelbar verhandelt. – Sie können es
nachher im Protokoll nachlesen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421811200
Herr Minister,
Sie werden gerade direkt angesprochen.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1421811300
Zu einem internationalen
Ordnungsrahmen für Wettbewerb – ich nenne das inter-
nationale soziale Marktwirtschaft –, gehören diese beiden
Bereiche substanziell. Wenn sie nicht enthalten sind, ist
das System nicht perfekt und kann auch nicht perfekt wer-
den. Über diese Komplexe wird – soweit die nächste

Ministerkonferenz wieder entsprechend beschließt – erst
nach dem Jahre 2003 verhandelt. Die Entwicklungslän-
der, die hier ursprünglich äußerst skeptisch waren, haben
sich nun darauf eingelassen, aber gesagt, dass Sie eine
mindestens zweijährige Studienphase brauchen. Ich be-
fürchte, dass nach der Aufnahme der Verhandlungen die-
ser Teil vergessen wird. Wir müssen unbedingt, wie bei
der technischen Hilfe und bei der Bildung von Kapazitä-
ten, für eine gleichberechtigte Beteiligung der Entwick-
lungsländer hinsichtlich des Know-hows sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Ich glaube, wir würden uns als Deutsche einen großen
Gefallen tun, wenn wir uns dieses Themas besonders
annähmen, nicht nur weil es für den Prozess selbst sehr
vorteilhaft wäre, wenn wir vorankämen und die Mei-
nungsbildung beeinflussen könnten, sondern auch weil es
uns hoch angerechnet würde, wenn wir uns entsprechend
engagierten.

Noch einige Sätze zu China. Durch die Mitgliedschaft
Chinas ist die WTO hinsichtlich der Bevölkerung um ein
Viertel größer geworden. Wer mitbekommen hat, wie die
Chinesen den Umbau ihrer Wirtschaftsstruktur betreiben,
und ihre Position in Bezug darauf, was überlebensfähig,
was modernisierbar ist und wo man neu anfangen muss,
kennt, der weiß, dass wir in den nächsten 20, 30 Jahren
eine dramatische Veränderung der Warenströme auf die-
ser Welt erleben werden. Deshalb sollten wir den Beitritt
Chinas – so positiv er ist – zum Anlass nehmen, auch da-
rüber nachzudenken, welche Konsequenzen wir aus die-
ser Tatsache ziehen müssen und welche Chancen und Ri-
siken für uns daraus erwachsen werden.

Es ist positiv, dass der Minister gerade gesagt hat, er
wolle auch den Beitritt Russlands weiter unterstützen.
Russland ist für uns ein wichtiger Handelspartner und
wird es in der Zukunft noch stärker sein. Es ist nur von
Vorteil, wenn wir im gleichen System sind. Ich kann Sie
nur ermuntern, auf diesem Weg fortzuschreiten.

Von der Debatte sollte ein wichtiges Signal an die Öf-
fentlichkeit ausgehen. Dieses Signal muss lauten: Die in-
ternationale Ordnungspolitik ist machbar und wird mit
Doha vorangebracht. Das geht aber nicht so schnell, wie
manche das wollen und wie es wünschenswert wäre. Das
ist bei mehr als 140 gleichberechtigten Partnern auch
nicht verwunderlich. Seien Sie aber so nett und lassen Sie
uns weiterhin hartnäckig daran arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421811400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ren! Immer mehr politische und ökonomische Fakten
werden auf der internationalen Ebene festgelegt. Zumin-
dest auf den ersten Blick sind sie damit – das hat der Kol-
lege Fritz eben bereits angesprochen – der Diskussion und




Erich G. Fritz
21640


(C)



(D)



(A)



(B)


Entscheidung vor Ort entzogen. Die festgelegten Fakten
erscheinen dann als Sachzwang, der nicht zu beeinflus-
sen, sondern lediglich hinzunehmen ist. Wenn davon zen-
trale Belange unseres Zusammenlebens betroffen werden,
dann produziert das Politikverdrossenheit, Hilflosigkeit
und einen Verlust an Demokratie, den wir nicht akzeptie-
ren können und wollen.

Die eklatante Ungerechtigkeit, die die Wohlstandsge-
winne durch die Globalisierung so verteilt, dass in einigen
Teilen der Welt der Reichtum, in anderen aber Krankheit,
Hunger und Armut zunehmen, ist schließlich nicht gott-
gewollt und unveränderlich, sondern Ergebnis menschli-
chen Handelns und damit durchaus veränderbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)


Allerdings wird dies – das muss ich trotz Asterix-Lektüre
zugeben – wohl nicht durch Luftanhalten zu erreichen
sein. Wir brauchen vielmehr handfeste politische Mittel
bzw. greifbare Instrumente, mit denen wir versuchen kön-
nen, diese Entwicklung umzusetzen.

Bei der Frage, wie wir im Interesse der Menschen der
sozialen und ökologischen Orientierung im Globalisie-
rungsprozess zu einem stärkeren Gewicht verhelfen und
wie wir Transparenz und Demokratisierung voranbringen
können, geht es um ökonomische Macht, aber auch um
politischen Einfluss und darum, welche Instrumente uns
auf internationaler Ebene zur Verfügung stehen, um die-
sen Einfluss geltend zu machen.

Es gibt eine Reihe von Vorschlägen zu konkreten
Schritten, die aus unserer Sicht überfällig sind. Ich möchte
nur einige stichwortartig nennen. Dazu gehören zum Bei-
spiel die Tobin-Steuer – das heißt die dringend nötige Be-
steuerung von Devisen- und Spekulationsgewinnen – und
die Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerflucht durch
die Einbindung von Offshorezentren. Ein noch stärkerer
Schwerpunkt liegt bei der Entschuldung und Armuts-
bekämpfung, dazu gehört zum Beispiel das internationale
Insolvenzrecht. Dazu gehört auch die Neustrukturierung
der Entwicklungsfinanzierung. Es handelt sich um ein
ganzes Bündel von Maßnahmen, die im internationalen
Bereich nötig sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir über Instrumente reden, geht es natürlich
auch um den gesamten Strauß von Organisationen auf in-
ternationaler Ebene, die weiterentwickelt und in ein neues
Gleichgewicht zueinander gebracht werden müssen. Die
WTO bildet dabei zweifellos ein Herzstück. Es kann aber
nicht sein, dass sie – das ist in der Vergangenheit leider oft
genug passiert – alle anderen überrollt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Handelsliberalisierung ist sicherlich nicht die Heils-
bringerin, die alle Probleme löst, sondern sie schafft be-
kanntlich auch eine ganze Reihe neuer Probleme. Deshalb
unterstützen wir die Forderung, die aus den Reihen der
NGOs, aber auch der Entwicklungsländer erhoben wird,

die bisherigen Schritte der Handelsliberalisierung zu eva-
luieren, um positive und negative Wirkungen im Einzelnen
beurteilen zu können und entsprechend umzusteuern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die soziale und ökologische Gestaltung der Globali-

sierung bedeutet auch die Aufwertung der ILO als inter-
national tätige Arbeitsorganisation und der UNEP als in-
ternationale Umweltorganisation. Es kann nicht sein, dass
sich die WTO einfach über deren Interventionen hinweg-
setzen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will versuchen, den Mechanismus, um den es mir
geht, an einem Beispiel deutlich zu machen. Die UN-Un-
terkommission für Menschenrechte hatte im vorigen Jahr
eine Studie in Auftrag gegeben, die das Verhalten von
IWF, WTO und Weltbank untersucht und im Ergebnis die-
sen Institutionen eine Geringschätzung der Menschen-
rechte vorwirft. Darüber, welchen Gehalt diese Studie hat,
kann man sicherlich trefflich streiten. Man muss sich mit
dieser Studie noch genauer auseinander setzen. Die Argu-
mentation besagt, dass weder die Maßnahmen des IWF
und der Weltbank zum Schuldenabbau noch die Verfah-
rensweise des WTO-Schlichtungsgremiums die oft deso-
late Menschenrechtslage in der Dritten Welt angemessen
berücksichtigen.

Darüber kann man, wie gesagt, trefflich streiten. Worü-
ber man aber nicht streiten kann, ist die Reaktion des IWF
auf diese Studie, die ich für völlig indiskutabel halte. Der
stellvertretende Leiter des Büros in Genf hat vor der UN-
Unterkommission angegeben, der IWF sei nicht an die
zahlreichen Menschenrechtsdeklarationen und -konven-
tionen gebunden. Ich zitiere ihn:

Auch sei es nicht Aufgabe des Fonds, die Menschen-
rechte zu fördern. In keinem der Artikel seiner Grün-
dungsstatuten vom 1. Januar 1946 seien die Men-
schenrechte erwähnt.

Solche Scheuklappen mögen in der internen Logik einer
Organisation begründet sein. Aber das macht sie um kei-
nen Deut akzeptabler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir brauchen auf der internationalen Ebene eine Auf-
wertung der Menschenrechtsfragen, der Armutsbekämp-
fung sowie der Umwelt- und Arbeitsorganisationen. Da-
rüber hinaus muss die WTO selbst reformiert werden.
Auch wenn zum Beispiel die Verankerung des Vorsorge-
prinzips in Doha nicht durchzusetzen war, bleibt sie auf
der Agenda. ILO und UNEP müssen in die Streit-
schlichtungsverfahren der WTO wenigstens so weit ein-
bezogen, die Menschenrechte wenigstens so weit respek-
tiert sowie die Sozial- und Umweltstandards wenigstens
so weit eingehalten werden, dass die WTO nicht
Handelsabkommen abschließen kann, deren Folgen dann
zum Beispiel ILO oder UNEP auszubaden haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)





Annelie Buntenbach

21641


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, ob man
endlich für die Kohärenz der unterschiedlichen Politikbe-
reiche sorgt.

Die Reform der WTO muss zu einer größeren Trans-
parenz führen. Dazu gehört auch die Stärkung der Ent-
wicklungsländer. Gerade die ärmsten Länder – in diese
Richtung sind in Doha entsprechende Entscheidungen ge-
fallen – müssen durch gezieltes „capacity building“ un-
terstützt werden, damit sie sich an den Entscheidungspro-
zessen der WTO beteiligen können.

Zur Einschätzung der Ergebnisse von Doha: In der
Presse ist zum Teil im Vorfeld der WTO-Konferenz von
Doha der Eindruck entstanden, als ginge es bei der Ent-
scheidung, ob es eine neue WTO-Runde gibt oder nicht,
um Sein oder Nichtsein, um Erfolg oder Misserfolg. Aus
meiner Sicht war die Entscheidung für eine neue WTO-
Runde nicht so spektakulär. Sie war zwar wichtig, aber sie
lässt vieles offen. Legt man an die WTO-Konferenz in
Doha den Maßstab an, dass die WTO hier hätte grundle-
gend Rechenschaft über die Ergebnisse ihrer bisherigen
Politik ablegen müssen, um dann entsprechend grundle-
gend umzusteuern, muss man sicherlich feststellen, dass
diese Konferenz kein Erfolg war. Aber das war von der
Konferenz in Doha auch kaum zu erwarten. Legt man die
Messlatte niedriger, dann stellt man fest, dass sich die Ge-
wichte in Doha durchaus verschoben haben, und zwar zu-
gunsten der Entwicklungsländer. Die WTO-Runde in
Doha ist sicherlich nicht die Entwicklungsrunde, wie wir
sie uns vorgestellt haben. Aber in Doha ist ganz klar ge-
worden – darauf ist in der Diskussion schon hingewiesen
worden –: Ohne Zugeständnisse an die Entwicklungslän-
der geht innerhalb der WTO gar nichts mehr. Das ist eine
wichtige Erkenntnis, derer sich die Industrieländer be-
wusst werden müssen.

Das Interessengeflecht zwischen den Ländern muss
neu austariert werden. Das wird sicherlich Gegenstand
der Verhandlungen zwischen den Regierungen sein, die
sich an der laufenden WTO-Runde beteiligen. Aber das
muss auch Gegenstand der Gespräche und der Auseinan-
dersetzungen zwischen den Regierungen und den jeweili-
gen Zivilgesellschaften sein. Hier liegen die Positionen
zum Teil weit auseinander. Ich war mit der Globalisie-
rungsenquete in Indien. Bei den Gesprächen, die wir dort
geführt haben, ist deutlich geworden, dass die Kritik der
Zivilgesellschaft an der Handelsliberalisierung und deren
Folgen für die Umwelt, die sozialen Standards und für die
Frauen – sie werden teilweise in das gesellschaftliche Ab-
seits geschoben – sehr ernst genommen werden muss.
Diese Kritik muss Thema innerhalb der jeweiligen Ge-
sellschaft sein. Darüber muss aber auch im internationa-
len Kontext diskutiert werden.

Die Entscheidung für eine neue WTO-Runde ist aus
meiner Sicht ein Anfang. Im Laufe der Verhandlungen
wird sich zeigen müssen, welche Ergebnisse konkret
möglich sein werden. Deshalb ist es umso wichtiger, dass
der Bundestag diesen Prozess begleitet und aktiv mitge-
staltet. Ich begrüße es deswegen sehr, dass sich das Wirt-
schaftsministerium wirklich bemüht, auf die Parla-
mentarier und Parlamentarierinnen zuzugehen, sie aktiv
einzubeziehen und zu informieren. Das ist keineswegs

selbstverständlich. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich.
Ich hoffe, dass das entsprechend fortgesetzt wird.

Das verweist aber auch auf ein Problem. Es gibt kein
parlamentarisches Gremium, in dem über die politische
Gestaltung derGlobalisierung im Zusammenhang dis-
kutiert und entschieden werden kann: Über die Belange
der WTO wird im Wirtschaftsausschuss verhandelt, über
die des IWF im Finanzausschuss. Des Weiteren gibt es ei-
nen Unterausschuss beim Auswärtigen Ausschuss, der
sich mit der Globalisierung befasst. Über die Belange der
Weltbank wird im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung diskutiert. So befassen sich
dann die verschiedenen Ausschüsse mit den einzelnen
Aspekten der Globalisierung, aber vom Erfassen des Zu-
sammenspiels der Instrumente und von einem kohärenten
Politikverständnis sind wir noch ein ganzes Stück ent-
fernt. Um dieses zu erreichen, brauchen wir, wenn wir das
auf der internationalen Ebene entsprechend beeinflussen
wollen, auch hier im Parlament einen Ort, an dem die ver-
schiedenen Stränge zusammentreffen. Damit wird sich
die Enquete-Kommission in ihren Empfehlungen zu be-
fassen haben; das wird sie sicherlich auch tun.

Das Europäische Parlament zum Beispiel hat einen
Ausschuss, in dem alles zusammenläuft und in dem im-
mer zeitnah informiert wird. Es ist aber nicht Sinn der Sa-
che, dass diejenigen, die über die Informationen verfügen,
nicht die Entscheidungskompetenzen haben – wie das Eu-
ropäische Parlament –, während diejenigen, die diese
Kompetenzen haben – wie wir hier im Bundestag –, nicht
über die entsprechenden Informationen verfügen, um Ent-
scheidungen zu treffen.

Die Auseinandersetzung um die Globalisierung muss
nicht nur im Parlament, sondern auch in der Zivilgesell-
schaft von Transparenz geprägt sein. Das bezieht sich auf
so konkrete Punkte wie das Streitschlichtungsverfahren
bei der WTO, aber auch insgesamt auf die Beteiligungs-
möglichkeiten der Nichtregierungsorganisationen.
Mit ihren engagierten Beiträgen, ihrer Kritik und ihren
Protesten tragen sie ganz entscheidend dazu bei, dass bei
der Globalisierung nicht nur über die Liberalisierung des
Handels geredet wird, sondern auch über die konkrete Le-
benssituation der Menschen, die Bekämpfung von Armut,
Hunger und Krankheit sowie die Verbesserung der ökolo-
gischen und sozialen Lebensbedingungen. Dazu haben
die Proteste von Seattle und Genua, aber auch die Protes-
te, die im Zusammenhang mit den zahlreichen internatio-
nalen Konferenzen stattgefunden haben, beigetragen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421811500
Frau Kollegin,
achten Sie darauf, dass die Zeit abgelaufen ist.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

drücklich festhalten: Ich glaube, dass zum Beispiel De-
monstrationsfreiheit ein wirklich hohes demokratisches
Gut ist und wir nicht zulassen dürfen, dass sie wie in Ge-
nua mit Füßen getreten wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)





Annelie Buntenbach
21642


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich glaube, dass wir für die nächsten Verhandlungen einen
Ort brauchen, wo nicht wie in Katar per se Demonstratio-
nen verboten sind, und einen Ort, der für NGOs auch be-
zahlbar und erreichbar ist und an dem sie sich einmischen
können. Welches Mittel wäre besser gegen Politikver-
drossenheit als die Möglichkeit, sich einzumischen, um
Ungerechtigkeiten und Missstände zu beseitigen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421811600
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1421811700
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kollegin Buntenbach, ich hatte
nach der Reise den Eindruck, dass die in Doha anwesen-
den NGOs durchaus sehr gut einbezogen und sie, jeden-
falls was unsere deutsche Delegation betraf, auch hervor-
ragend betreut und mit allen Informationen versehen
wurden, wie wir im Übrigen auch.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [FDP])

Ich danke dafür ganz herzlich denjenigen, die uns beglei-
tet und uns sehr gut betreut haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Noch ein Punkt am Anfang: Für die Durchsetzung von
Menschenrechten und die wirklich wirksame Bekämp-
fung von Armut auf der Welt helfen am ehesten Transpa-
renz und Marktöffnung. In all den Staaten, in denen sich
schlechte Regierungen durch Abschottung verstecken
können, geschieht großes Unrecht und kommt die Bevöl-
kerung nicht aus der Armut heraus. Nach Prognosen der
Weltbank würde eine weitere Liberalisierung des Handels
das globale Wachstum erhöhen und in nur 15 Jahren
300 Millionen Menschen aus der Armut befreien. Ich
denke, dass diese Prognose uns dazu anhalten sollte, alles
zu tun, um dieses Ziel schnellstens zu erreichen.

Ich stimme mit den meisten Vorrednern darin überein,
dass die WTO-Konferenz in Doha in wirtschaftlicher,
handels- und entwicklungspolitischer Hinsicht wirklich
ein Erfolg war. Sie hat gerade nach Seattle damit eine Be-
währungsprobe mit Bravour bestanden. Verbunden damit
waren – so habe ich es jedenfalls empfunden; ich denke,
mein Kollege Heinrich hat das genauso gesehen – eine
Stärkung der Entwicklungsländer und eine bessere
Wahrnehmung ihrer Probleme mit der Marktöffnung.
Ganz besonders wichtig fand ich, dass es gelungen ist, im
Rahmen der Verhandlungen mehr zuzuhören, mehr zu er-
fragen und zur Kenntnis zu nehmen, welche Maßnahmen
denn die Entwicklungsländer selbst für richtig halten, um
ihre Armut zu bekämpfen und so sich selbst in die Lage
zu versetzen, am globalen Wettbewerb teilnehmen zu
können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Position der FDP-Bundestagsfraktion. In un-
serem Antrag finden Sie das ausdrücklich bestätigt.

Die Entwicklungsländer und die ärmsten Länder
möchten nicht, dass ihnen unser Sozialstandard, unsere
Normen im Verhältnis 1:1 übergestülpt werden. Sie fürch-
ten, dass damit ein neuer Protektionismus verbunden
wäre. Deshalb sagen wir ganz klar: Wir lehnen eine Kop-
pelung von Sozialstandards mit handelspolitischen Ver-
einbarungen unter dem Dach der WTO ab.


(Beifall bei der FDP)

Unser Rezept lautet: weitere Marktöffnung und Einbin-
dung der armen Länder in die internationale Arbeitstei-
lung; denn diese kann am schnellsten und nachhaltigsten
dazu beitragen, Wohlstand zu erreichen.

Der Kollege Fritz hat – das will ich betonen – die not-
wendige technische Unterstützung, die sich die Ent-
wicklungsländer ausdrücklich gewünscht haben und die
wir ihnen schnellstens zur Verfügung stellen müssen, an-
gesprochen. Das heißt, dass diese Länder lernen, das kom-
plizierte WTO-Regelwerk überhaupt zu verstehen und
umzusetzen, eigene Gutachten in Auftrag zu geben und
viele Dinge mehr. Sehr geehrter Herr Minister Müller, ich
hätte mir gewünscht, dass wir, wie die Engländer, schon
in Doha in der Lage gewesen wären, eine Zusage für eine
Zahlung in den Spezialfonds für technische Unterstüt-
zung der Entwicklungsländer zu geben, um auf diese
Weise eine weitere finanzielle Unterstützung zu leisten.
Der deutsche Staat muss in diesem Bereich mehr tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich finde es erstaunlich, dass es gelungen ist, in Doha

eine weitere Welthandelsrunde für das Jahr 2005 zu ver-
einbaren. Das war absolut nicht selbstverständlich. In un-
serem vorliegenden Antrag finden Sie einige Positionen,
die mit Blick auf die Vorbereitung dieser WTO-Runde
in 2005 unabdingbare Ziele sein müssen. Ich möchte auf
fünf dieser Ziele kurz eingehen:

Zum ersten sind das die institutionellen Reformen der
WTO, die mehr Effizienz, Transparenz und eine Einbin-
dung der Parlamente schaffen müssen. Der zweite Punkt
– er ist besonders wichtig – ist, dass auch die Bundes-
regierung mit aller Kraft an der Integration der Wettbe-
werbspolitik in das WTO-Regelwerk arbeitet. Mittelfris-
tig soll die Wettbewerbspolitik – die FDP versteht das
so – als neuer Teil der WTO-Überprüfungsmechanismen
verankert werden. Darüber hinaus brauchen wir langfris-
tig einen gut ausgearbeiteten Rahmen gemeinsamer Wett-
bewerbsregeln für die globale Wettbewerbsordnung unter
dem Dach der WTO. Ein weiterer Punkt ist der Protektio-
nismus – ich habe darauf bereits hingewiesen –, der mit-
tels Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen ein-
zudämmen ist. Die Auslegung der Schutzklausel nach
Art. 19 des GATT-Abkommens muss schnellstens durch-
gesetzt werden.


(Beifall bei der FDP)

Die Welttextilmärkte sind bis 2004 uneingeschränkt zu li-
beralisieren. Der letzte Punkt ist ebenfalls sehr wichtig:
Das Ende der Exporterstattungen für den Agrarhandel ist
einzuleiten und umzusetzen. Das wird schwierig.




Annelie Buntenbach

21643


(C)



(D)



(A)



(B)


An dieser Stelle möchte ich auf einen neuen Streit-
punkt auf dem Gebiet des Welthandels zu sprechen kom-
men. Sie wissen wahrscheinlich, dass dem neuen
WTO-Mitglied China von der EU ein Importverbot für
bestimmte Lebensmittel auferlegt wurde. China hat für
verschiedene Lebensmittel wie Meerestiere, Honig, Ka-
ninchen- und Geflügelfleisch ein Einfuhrverbot bekom-
men, dem die Bundesregierung ausdrücklich zugestimmt
hat. Angeblich sollen sich in diesen Lebensmitteln Rück-
stände von verbotenen Chemikalien befinden. Ich kann
nicht verstehen, dass es, wenn diese Kontamination
tatsächlich stattgefunden hat, für bereits im Handel be-
findliche Waren keine Rückrufaktion gegeben hat. Ich
verstehe zudem nicht, dass bis zum 14. März auch die so
genannte schwimmende Ware, also Ware, die sich auf
dem Weg nach Europa befindet, davon nicht betroffen ist.
Ich vermute daher, dass hier eine protektionistische Maß-
nahme greift, um den eigenen Markt abzuschotten. Das
vermuten auch die Chinesen, die jetzt erstmalig merken,
was es bedeutet, zu diesem Handelsverbund zu gehören.
Sie haben ihrerseits reagiert und wollen nicht mehr erlau-
ben, dass europäisches Rindfleisch auf den chinesischen
Markt gelangen kann. Es sieht also so aus, als würde die
WTO demnächst erstmalig in einem Handelsstreit zwi-
schen Europa und China schlichten müssen.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Herren und Damen, vom
weiteren Welthandel wird die deutsche Wirtschaft profi-
tieren; davon sind wir überzeugt. Ein Drittel des Brut-
toinlandsprodukts und jeder vierte Arbeitsplatz hängen
vom Außenhandel ab. Wir haben innenpolitisch, aber
auch weltweit gesehen großes Interesse daran, mit einer
gestärkten Welthandelsorganisation weiterzukommen, an
der wir uns mit allem Einsatz beteiligen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421811800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Lötzer.


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1421811900
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Müller, und
vielen anderen hier, die an der Debatte teilgenommen ha-
ben, haben mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen
in ihrer Erklärung zur Beurteilung der WTO-Runde von
Katar festgestellt, nichts sei weiter von der Wahrheit ent-
fernt als die Behauptung von der Entwicklungsrunde Ka-
tar. Wer hat denn nun Recht? Ich denke, in vielen Punkten
haben die Nichtregierungsorganisationen Recht. Ich will,
soweit das in fünf Minuten möglich ist, zumindest einige
Punkte benennen.

Trotz einiger Zugeständnisse, vor allem im Prosabe-
reich der Abschlusserklärung, haben sie in wesentlichen
Fragen substanziell nichts erreichen können. Das gilt ins-
besondere für das Auslaufen des Textilabkommens und
die Streichung der Agrarsubventionen. Ein Industrieland,
das ein Veto dagegen einlegte, fand sich halt immer, seien
es die USA beim Textilabkommen oder Frankreich in der
Agrarfrage. Dagegen wurden alle Elemente, die die
Industrieländer betrieben haben und die von den Ent-

wicklungs- und Schwellenländern sowohl im Vorfeld als
auch auf der Konferenz mit Mehrheit abgelehnt wurden,
von den Industrieländern durchgesetzt, unter anderem In-
vestitionen, Wettbewerb und öffentliche Auftragsvergabe.

Natürlich brauchen wir – das bestreitet niemand – an-
gesichts der internationalen Investitionen von Konzernen
und der Flut bilateraler Abkommen eine Diskussion und
Entscheidungen auf multilateraler Ebene. Ein solches Ab-
kommen müsste nach unserer Auffassung die Einbindung
von Direktinvestitionen in soziale, ökologische und ent-
wicklungspolitische Zielsetzungen ermöglichen.


(Beifall bei der PDS)

Das genaue Gegenteil aber wird in der WTO verfolgt:
Nichtdiskriminierung, Garantie des Investorenschutzes
und der größtmöglichen Freiheit für Investoren. Es stellt
sich konkret die Frage der demokratischen Rechte von
Regierungen gegenüber transnationalen Konzernen in
Bezug auf Regulation von Investitionen. Die WTO ist
simpel der falsche Ort. Gerade in der Debatte um Sozial-
standards hat sie selbst mehr als deutlich klargestellt, dass
sie sich für die sozialen Belange in der Welt und für die
soziale Ausrichtung des Handels nicht zuständig fühlt.
Deshalb meinen wir, dass Verhandlungen über Investitio-
nen nach wie vor unter Federführung der UNO und nicht
unter Federführung der WTO zu führen sind.


(Beifall bei der PDS)

Von NGOs und von den Entwicklungsländern wurde

auch eine Revision des TRIPS-Abkommens zur Paten-
tierung gefordert, insbesondere Vorrang für Gesundheits-
schutz vor den Gewinninteressen der Pharmaindustrie,
Vorrang für Nahrungssicherheit gegenüber den Interessen
von Saatgutmonopolen und Schutz gegen Biopiraterie. In
Katar wurde nur die Umsetzung des bestehenden Paten-
tierungsregimes hinsichtlich der Möglichkeiten von
Zwangslizenzen für Länder, deren Volksgesundheit kata-
strophal bedroht ist, präzisiert.

Auch im vorliegenden Antrag der Regierungsfraktio-
nen wird die notwendige Revision des TRIPS-Abkom-
mens angemahnt und das Verbot der Patentierung der Ent-
deckung lebender Organismen gefordert. Gleichzeitig
läuft hier im Parlament, ebenfalls von den Regierungs-
fraktionen eingebracht, die Umsetzung der Biopatent-
richtlinie der EU, deren Festlegungen diametral zu der im
Antrag erhobenen Verbotsforderung stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Wir denken, dass Sie sowohl im TRIPS-Rat als auch im

Rahmen der EU einen Kurswechsel im Sinne des heute
vorgelegten Antrages einleiten sollten.

Aber auch in Bezug auf die beschlossene und von
Herrn Müller begrüßte Liberalisierung des Dienstleis-
tungshandels, zu dem so kritische Bereiche wie Gesund-
heit, Wasser und Bildung gehören, ist die Kritik von
Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften nicht
ernst genommen worden. Statt noch mehr Privatisierung
und Liberalisierung sind Maßnahmen zum Erhalt von Bil-
dung, Wasser und Gesundheit als öffentliche Güter drin-
gend erforderlich. Herr Müller, wenn Sie sie schützen
wollen, dann nehmen Sie sie von den anstehenden GATS-




Gudrun Kopp
21644


(C)



(D)



(A)



(B)


Verhandlungen aus. Das wäre ein Schritt, um sie im In-
teresse der öffentlichen Daseinsvorsorge zu erhalten.


(Beifall bei der PDS)

In den Entwicklungsländern müsste damit erst einmal

eine Basisversorgung sichergestellt werden. Dazu sind
Schuldenerlass, die zugesagte Erhöhung der Entwick-
lungshilfe, die Umverteilung im globalen Maßstab durch
die Einführung der Tobin-Tax und die Einbeziehung der
transnationalen Konzerne in die Finanzierung notwendig.
Setzen Sie bei der anstehenden UN-Konferenz zur Ent-
wicklungsfinanzierung als Konsequenz daraus, dass es
bisher nicht getan wurde, in diesem Sinne Impulse.

Ein Wort zum Schluss, Kollege Fritz: Bei denjenigen,
die im Weltsozialforum und anderswo verhandeln, han-
delt es sich um Globalisierungskritiker und nicht um Glo-
balisierungsgegner. In Porto Alegre und nicht in Katar
oder New York sind Alternativen für eine gerechte Ge-
staltung des Welthandels entwickelt worden. Ich meine
deshalb, dass wir als Parlamentarier auf dieser Seite, auf
der Seite der Bewegung für eine gerechte Gestaltung des
Welthandels, stehen sollten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421812000
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk.


Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):
Rede ID: ID1421812100
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute im
Deutschen Bundestag im Wesentlichen drei Fragen: Ers-
tens. Wie sind die Ergebnisse der WTO-Konferenz in
Doha zu bewerten? Zweitens. Wie sind die Perspektiven
für die Welthandelsrunde, an deren Beginn wir stehen?
Drittens. Welche Schlussfolgerungen sollen die Bundes-
republik Deutschland und die Europäische Union für ihre
Politik ziehen, das heißt, welche Maßnahmen ergreifen
wir, um die Globalisierung konkret mitzugestalten?

Die Frage nach der Bewertung der WTO-Ministerkon-
ferenz erscheint auf den ersten Blick einfach. Noch bis
zum Sommer 2001 hat es so ausgesehen, als würde es
nach dem Debakel in Seattle keine weitere Konferenz ge-
ben oder zumindest keine erfolgreiche. Die Entwick-
lungsländer wollten sich nicht auf neue Verpflichtungen
einlassen, bevor sie die Ergebnisse der Welthandels-
runde von Marrakesch nicht bewertet hatten und die In-
dustrieländer ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen
waren.

Durch die Rezession in den USAging zudem der Welt-
handel im ersten Halbjahr zurück und erreichte 2001 ge-
rade noch eine schwache Wachstumsrate von 1 Prozent.
Das ist nur ein Viertel dessen, was in den vergangenen
Jahren im Durchschnitt erreicht werden konnte. Weltweit
– von Toronto bis Nizza und von Prag bis Genua – protes-
tierten Globalisierungsgegner. Als auch noch die Terror-
anschläge vom 11. September die Welt schockten, schien
die Lage eher aussichtslos. Keine Weltstadt wollte Gast-
geber sein. So muss allein schon die Tatsache, dass die
Ministerkonferenz stattfand, als Erfolg gewertet werden.

Das Ergebnis hat alle bis dahin gehegten Erwartungen
weit übertroffen. Der einzige wirkliche Wermutstropfen
war, dass die scharfen Sicherheitsvorkehrungen, die wir
als Delegationsteilnehmer als wohl unvermeidlich hin-
nahmen, den Journalisten und Vertretern der Zivilgesell-
schaft wenig Raum für Information, Diskussion und ei-
genständige Recherchen ließen. Transparenz, offener
Dialog zwischen den Teilnehmern und den Gruppen der
Zivilgesellschaft und deren Einbeziehung in die Konfe-
renzabläufe müssen aber künftig – wie bei den anderen
UNO-Konferenzen auch – selbstverständlicher Bestand-
teil von WTO-Konferenzen werden; denn ohne einen
demokratischen und offenen Prozess bei der Behandlung
eines der wichtigsten globalen Themen, die Gestaltung
des multilateralen Welthandels, kann es keine legitime
Weiterentwicklung einer Weltwirtschaftsordnung geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Ministererklärung in Doha mit ihren ergänzenden
Dokumenten zeigt substanzielle Fortschritte, aber nur
unter der Voraussetzung, dass sie in den nächsten Jahren
wirklich umgesetzt wird. Von vielen, beispielsweise von
EU-Handelskommissar Pascal Lamy, wurde die Doha-
Runde mit ihren vier Schritten – verbesserter Marktzugang,
Änderungen bei Regeln, Integration der Entwicklungs-
länder in die Arbeitsprogramme und nachhaltige Entwick-
lung – bereits als die Entwicklungsrunde apostrophiert. Ich
meine, Lamy hat zu Recht auf die gute Vorarbeit und die
Vorleistungen der Europäischen Union mit dem Vertrag
von Cotonou hingewiesen, ohne den die Europäische
Union weder das Vertrauen noch die Glaubwürdigkeit vie-
ler Entwicklungsländer, vor allem der AKP-Staaten, gehabt
hätte, um als Protagonist und ehrlicher Makler wirken zu
können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Entwicklungsländer haben wichtige Zugeständ-
nisse erreicht, die in der Geschichte der Welthandelsorga-
nisation bisher einmalig sind. Zum ersten Mal wurden die
Verhandlungsprozeduren so abgeändert, dass viele
Entwicklungsländer, darunter auch kleine, eine wichtige
Rolle im Ablauf und bei der Erarbeitung der Konferenz-
dokumente spielten. Die kleinen Volkswirtschaften setz-
ten ein Arbeitsprogramm für ihre bessere Integration
durch und die Least Developed Countries erreichten nicht
nur ein Arbeitsprogramm, sondern auch die Einrichtung
von zwei Arbeitsgruppen, eine für Schulden und Finan-
zierung, die andere für Technologietransfer. Schließlich
wurde der WTO-Ausschuss verpflichtet, die technischen
Hilfen für die Entwicklungsländer angemessen auszu-
statten.

Entscheidend für den Erfolg der Konferenz aber waren
Zugeständnisse auf dem Gebiet des TRIPS-Abkommens,
des Abkommens über geistiges Eigentum und Daten-
schutz. Diese Zugeständnisse gestatten Ländern, die unter
Pandemien und Epidemien, wie zum Beispiel Aids und
Malaria, leiden und deren Volksgesundheit katastrophal
bedroht ist, zum ersten Mal in der Geschichte der WTO,
die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel auch
durch Zwangslizenzen.




Ursula Lötzer

21645


(C)



(D)



(A)



(B)


Zusätzlich wurde über die Weltgesundheitsorganisa-
tion die Gründung eines namhaften Fonds zugunsten der
ärmsten Länder versprochen. Wenn wir dies nicht halten,
dann wird es bei den armen Ländern in der Tat eine herbe
Enttäuschung geben; denn sie werden natürlich, weil sie
keine eigene Pharmaindustrie haben, von Zwangslizen-
zen wenig haben. Hier müssen wir noch unsere Ver-
pflichtungen erfüllen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite haben sich die Entwicklungs-
länder bereit erklärt, über die von ihnen vorher heftig
bekämpften so genannten neuen Themen wie Handel und
Investitionen, Handel und Wettbewerb, Handel und öf-
fentliches Beschaffungswesen auf der nächsten Minister-
runde in Mexiko City zu reden. Das heißt, die zeitliche
Koppelung von sofortigen Hilfen an die armen und ärms-
ten Entwicklungsländer in den nächsten zwei Jahren und
die in diesem Zeitraum erfolgende Prüfung und Vorberei-
tung denkbarer weiterer Marktöffnungen bzw. Neurege-
lungen bei den genannten Themen sind der eigentliche
Durchbruch von Doha, nicht das Papier.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt allerdings nur dann, wenn wir, die Indus-
trieländer, unseren Teil der Verpflichtungen ehrlich und
vorbehaltlos ohne zeitliche Verzögerungen erfüllen. Das
bedeutet nichts anderes, als dass wir den Entwicklungs-
ländern helfen müssen, ihre eigenen Interessen zu defi-
nieren und ihre eigenen Strategien für die Konferenzen zu
formulieren. Für den Bundeshaushalt bedeutet das, die
Mittel für die Kapazitätsbildung und für die technischen
Hilfen angemessen zu erhöhen. Wir müssen uns einen un-
würdigen Streit zwischen den Ressorts in diesem Punkt
ersparen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Denn solange die Entwicklungsländer das Gefühl haben,
sie würden trickreich über den Tisch gezogen und mit dem
Kleingedruckten hoch bezahlter Handelsanwälte herein-
gelegt, und das für alle Zeiten, werden sie sich gegen wei-
tere Liberalisierung wehren, und zwar zu Recht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber nicht alles in Doha war ein Schritt nach vorn. Die
Ergebnisse auf dem Umweltgebiet waren sehr bescheiden
und die Ergebnisse bei Handel und sozialer Entwicklung
waren schlicht enttäuschend. Sicher, nach Jahren der blo-
ßen Versprechungen bzw. des fleißigen Anfertigens von
Umweltstudien sind zum ersten Mal bescheidene kon-
krete Fortschritte erzielt worden. Man kam überein, dass
alle WTO-Mitglieder das Recht haben, in den Bereichen
Gesundheit, Sicherheit und Umweltschutz ihnen geeignet
erscheinende Maßnahmen zu ergreifen und das Verhältnis
von WTO-Regelwerk und internationalen Umweltab-
kommen zu klären. Was heute so selbstverständlich er-
scheint und lange Zeit allein die Forderung der beiden

Koalitionsfraktionen dieses Hauses war, war bis vor
kurzem in der WTO noch tabu. Deswegen kann man von
einem wichtigen Durchbruch sprechen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für uns Sozialdemokraten ist das ein erster Schritt,
aber bei weitem nicht genug. Ebenso wie im nationalen
und europäischen Recht muss auch international gelten,
dass Handelsrecht nicht Vorrang vor Umwelt- und
Gesundheitsgesetzen oder den Sozialgesetzen haben darf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Regelwerk der WTO muss die Normen der interna-
tionalen Umwelt- und Sozialabkommen genauso selbst-
verständlich in ihrer Streitschlichtung beachten wie die
Normen des internationalen Handelsrechts.


(Beifall bei der SPD)

Wer das, liebe Kolleginnen und Kollegen von Teilen der
Opposition, einfach auf die Internationale Arbeitsorgani-
sation abschiebt, akzeptiert eine Spaltung des internatio-
nalen Rechts, was die Menschen aus moralischen und
Vernunftgründen nicht länger hinzunehmen bereit sind.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wer Handel und Investitionen fördern will – und das zu
Recht –, muss auch akzeptieren, dass dies nicht unter Aus-
klammerung von Umweltbelangen und von sozialem
Schutz geht. Die Durchsetzung der Kernarbeitsnormen
– ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Verbot der
ausbeuterischen Kinderarbeit und der Zwangsarbeit – ist
und bleibt eine wichtige Aufgabe gerade im Interesse der
Entwicklungsländer selbst.

Die Europäische Union hat deswegen gut daran getan,
im Cotonou-Abkommen und kürzlich in der Formulie-
rung des Allgemeinen Präferenzsystems für Handelsab-
kommen mit weiteren Entwicklungsländern sowohl die
Achtung der Menschenrechte wie die Beachtung der
Kernarbeitsnormen verbindlich von den Vertragspart-
nern einzufordern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es war schon merkwürdig, dass dieselben Staaten, die
diese Verpflichtung im Cotonou-Abkommen unterschrie-
ben haben, in Doha schwiegen, als es um Kernarbeitsnor-
men ging. Zukünftig werden 100 Staaten in Verträgen mit
der Europäischen Union die Beachtung der Kernarbeits-
normen zugesagt haben. Man wird dann sehen müssen,
wie man mit dem neuen Fundus diese Verpflichtung auch
in der Welthandelsorganisation unterbringen kann. Eine
Nichtbeachtung können wir nicht länger hinnehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei den anstehenden Verhandlungen müssen wir auch
dringend darauf achten, dass gerade große Staaten wie die
Vereinigten Staaten von Amerika die doch recht schwam-




Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
21646


(C)



(D)



(A)



(B)


migen Umweltformulierungen in den Doha-Dokumenten
nicht zum Vorwand nehmen, um die Verpflichtungen aus
den internationalen Umweltabkommen systematisch auf-
zuweichen und damit ein übles Vorbild zu geben. Das Vor-
sorgeprinzip muss ebenso explizit auf die Tagesordnung
kommen wie die Zulassung von Ökosiegeln.

Unbestreitbar ist jedoch: Die Umwelt steht nun auf
der WTO-Agenda und es kann und darf nicht bei bloßen
Studien bleiben wie bisher. Wir können nicht auf Dauer
den Menschen in unserem Land sagen, dass in der Weiter-
entwicklung des Welthandels soziale und ökologische
Überlegungen keine entscheidende Rolle spielen. Entwe-
der wird die Globalisierung ein menschliches Gesicht ent-
wickeln, bei der nicht jedes Gut und jede Dienstleistung,
wie Gesundheit, Bildung und Kultur, zur bloßen Ware
verkommt, oder wir werden den Widerstand gegen jede
weitere Liberalisierung des Handels mit Gütern und
Dienstleistungen, aber auch von Investitionen dramatisch
wachsen sehen.

Auch den Fragen nach einer besseren Kontrolle der
wirtschaftlichen Macht, nach gleichem Zugang zu Wissen
und Information und nach einer größeren Verteilungs-
gerechtigkeit wird niemand – auf welcher Ebene des
internationalen Rechts auch immer – auf Dauer auswei-
chen können.

Betrachtet man die Wettbewerbsfrage, dann muss man
feststellen, dass weltweit wachsender Handel weit über-
wiegend nicht von kleinen und mittleren Unternehmen
betrieben wird, sondern von wenigen großen Konzernen
kontrolliert wird: von den Rohstoffen und der Energie bis
hin zu Betriebssystemen bei Computern. Da ist Miss-
brauch wirtschaftlicher Macht ebenso verlockend wie
verbreitet. Dazu gibt es innerhalb der WTO-Regeln bisher
nichts, was ein angemessenes Handeln erlaubt. Eine Welt-
handelsorganisation, die ihre Augen vor dem Missbrauch
wirtschaftlicher Macht verschließt – das sollten wir auch
den Entwicklungsländern sagen –, wäre rettungslos naiv
und würde zulasten kleiner Länder und kleiner Unterneh-
men handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, ist die For-
derung nach einer größeren Verteilungsgerechtigkeit und
nach besseren Entwicklungschancen für die breite Masse
der Weltbevölkerung. Frau Kollegin Kopp, wir waren uns
in vielen Punkten einig; aber Handel und ein wenig tech-
nische Hilfe sind als Antwort bei weitem nicht genug.

So wie die Ministerkonferenz von Doha ohne die Vor-
leistung der Europäischen Union im Rahmen des Coto-
nou-Abkommens kein Erfolg gewesen wäre, so soll-
ten wir uns alle darüber im Klaren sein: Wenn wir, die
Industrieländer, die Europäische Union und auch
Deutschland, in Bezug auf die ärmeren Länder bei der
Marktöffnung, der Entwicklungsfinanzierung und der
wirksamen Entschuldung unsere Hausaufgaben nicht
machen, dann können wir in Zukunft keinen fairen und
nachhaltigen Handel sichern. Ohne eine erfolgreiche UN-
Konferenz in Monterreywird es keine erfolgreiche Han-
delsrunde in Mexiko City geben. Ohne eine Reform der

internationalen Finanzinstitutionen und der WTO selbst
schaffen wir keine Basis für jenes Vertrauen, das für eine
erfolgreiche Handelsausweitung unabweisbar ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Eine Zahl möchte ich in Erinnerung rufen: 80 Prozent
des Welthandels findet unter 20 Prozent der Menschheit
statt. Afrika hat daran gerade einmal einen Anteil von
3 Prozent. Wer das nicht nur auf dem Papier ändern will,
hat viel zu tun: in der Politik, in der Wirtschaft, im Han-
del – und das nicht nur für Millionen, sondern für Mil-
liarden von Menschen. Sie müssen darauf bauen können,
dass wir fair mit ihnen und ihren Interessen als Arbeit-
nehmer, als Produzenten, als Bauern und als Konsumen-
ten umgehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421812200
Jetzt hat der Ab-
geordnete Siegfried Helias das Wort.


Siegfried Helias (CDU):
Rede ID: ID1421812300
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS-Kol-
legin Lötzer hatte mehr Regelungen angemahnt, um die
Globalisierung zu steuern. Frau Lötzer, wir brauchen
nicht mehr Regelungen, sondern klare Regelungen. Das
ist bei vielen Vorrednern zum Ausdruck gekommen.

Frau Kollegin Lötzer, Sie haben die Konferenz in Porto
Alegre angesprochen. Da gab es zwar Vielstimmigkeit,
aber keineswegs Einstimmigkeit. Größtenteils gab es so-
gar Widersprüchlichkeit.

Ich möchte Ihnen sagen, wie einige dieser Regelungen
aussehen können. Ich bin davon überzeugt, dass wir
die Globalisierung nicht nur aktiv, sondern auch sozial
gestalten müssen. Dazu hat es Ansatzpunkte gegeben.
Kollegin Kopp hat beispielsweise die Armutsbekämpfung
angesprochen. Kollegin Buntenbach bezeichnete die Ein-
haltung der Menschenrechte als unverzichtbaren Stan-
dard. Meine Vorrednerin hat auch Umweltaspekte in den
Mittelpunkt gestellt. Ich möchte ergänzen, dass zu diesen
unverzichtbaren Standards auch der Kampf gegen Kor-
ruption, die Förderung demokratischer Strukturen und die
Gleichberechtigung der Frauen gehören. Das verstehen
wir unter sozialer Globalisierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Globalisierung ist ein Phänomen, das nicht mehr

aufzuhalten ist. Sich dagegen zu wehren ist genauso, als
wenn wir die Uhr anhalten wollten, Frau Kollegin Lötzer.


(Ursula Lötzer [PDS]: Wer will das denn?)

– Ihr Beitrag ist ebenso unverständlich wie unbedeu-
tend. – Beides wird nicht gelingen.


(Detlev von Larcher [SPD]: So schlimm war sie aber nicht!)


– Nicht sehr schlimm; aber es hat gereicht.




Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk

21647


(C)



(D)



(A)



(B)


Dass wir die Globalisierung auch und gerade im In-
teresse der Entwicklungsländer umsetzen müssen, das
wird uns immer wieder gerade in diesen Ländern vor Au-
gen geführt. Nehmen wir das Beispiel Indonesien. Dort
kann man erkennen, welche extreme Berg- und Talfahrt
ein Entwicklungsland in einer sich globalisierenden
Wirtschaft durchmachen kann. Indonesien galt bis zur
fernöstlichen Finanzkrise immerhin als wirtschaftlich
erfolgreiches Schwellenland, dem hervorragende Zu-
kunftsaussichten attestiert wurden. Dennoch verursachte
die Umschwenkung der internationalen Finanzströme
eine Finanzkrise und über Nacht war es ein von immen-
sen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen
gekennzeichnetes Land mit einem rapide wachsenden
Armutsproblem.

Nicht nur Entwicklungsländer machen die bittere Er-
fahrung, dass sich Krisen mit geographisch eigentlich
weit entferntem Ursprung zumindest indirekt in das sicher
geglaubte Heimatland transportieren lassen, sondern auch
Industrienationen in Europa, zum Beispiel Deutschland.
Probleme, zum Beispiel im Umwelt- und Gesundheits-
sektor, lassen sich immer weniger auf eine Region oder
auf einen Kontinent eingrenzen, sondern dehnen sich
weltumspannend aus und treffen auch die so genannten
sicheren Heimatinseln.

Es geht also darum – darüber sind wir uns, denke ich,
einig –, der Globalisierung den richtigen Rahmen zu ge-
ben und die globale Ungleichheit zu überwinden. Kofi
Annan, der UN-Generalsekretär, hat auf dem Weltwirt-
schaftsforum in New York der Bekämpfung von Armut,
Hunger, Obdachlosigkeit und Wassermangel höchste Pri-
orität zugemessen. Ungleichheit kann nur überwunden
werden, wenn wir die Hilfsleistungen konzentrieren und
wenn Wirtschaftswachstum stattfindet. Ebenso trägt
„good governance“ zum positiven Aspekt der Globali-
sierung bei. Wir dürfen weder das eine noch das andere
vergessen. Das heißt, wir brauchen einen umfassenden
Ansatz, der die Bereiche Finanzhilfen, Handel, Entwick-
lung und Menschenrechte in sich vereint sowie länder-
und regionenübergreifend ausgerichtet ist.

Bei der vielfach angesprochenen und als Erfolgsstory
beschriebenen WTO-Ministerkonferenz in Doha ist in der
Tat eine neue Weichenstellung in Richtung eines ausge-
wogenen multinationalen Handelssystems erfolgt. Das
war nach dem Scheitern der WTO-Ministerkonferenz von
Seattle auch dringend notwendig. Zwar enthält die Minis-
tererklärung von Doha nur das Mandat für eine weitere
und breit angelegte Verhandlungsrunde, doch wird es eine
Fortführung der Verhandlungen, insbesondere in den Be-
reichen Landwirtschaft und Dienstleistungen, sowie die
Aufnahme von weiteren Themen, die hier zum Teil schon
angesprochen sind, geben.

Besonders hervorheben möchte ich das schon mehr-
fach angesprochene und wie auch alle anderen Dinge im
Konsens verabschiedete TRIPS-Abkommen. Das TRIPS-
Abkommen über handelsbezogene Rechte an geistigem
Eigentum trägt zum Schutz und zum kostengünstigen Zu-
gang zu Medikamenten in der Dritten Welt bei.


(Lachen der Abg. Ursula Lötzer [PDS])


Für die Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria
erhalten die Länder der Dritten Welt die Möglichkeit, das
Patentrecht auszusetzen und so kostengünstige lebens-
wichtige und lebenserhaltende Medikamente zu bekom-
men. Das wichtigste Kriterium ist und bleibt, denke ich, ein
ungehinderter Zugang zu dringend benötigten Therapien,
die vorher insbesondere aus finanziellen Erwägungen nicht
durchgeführt werden konnten. Es darf nicht sein, dass
Menschen nur aus Mangel an Finanzmitteln sterben. Das
im Konsens verabschiedete TRIPS-Abkommen zeigt inso-
weit, denke ich, den Weg in die richtige Richtung.

Von Herrn Bundesminister Müller ist der beschlossene
Themenkatalog angesprochen worden. Folgende Punkte
sind für die Entwicklungsländer besonders wichtig: die
Verbesserung des Marktzugangs für landwirtschaftliche
Produkte, der Abbau bzw. das Auslaufen von Subventio-
nen in diesem Bereich, die Verhandlungen über den vor-
zeitigen Wegfall von Zöllen und die vorgezogene Libera-
lisierung im Textilsektor. All das werden wir nicht
erreichen, ohne dass wir über diese Punkte zäh und kon-
sequent verhandeln. Ich bezweifle nach wie vor, dass drei
Jahre ausreichen. Erhard Eppler, der frühere Entwick-
lungsminister, hat einmal gesagt: Es kommt nicht auf
die Größe der Schritte an, sondern auf die richtige Rich-
tung. – Insofern: Wir gehen hier in die richtige Richtung.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Nach Eppler zitiert er gleich Mao! – Weitere Zurufe)


Unverzichtbar dazu gehören aber auch die Gelder für die
Entwicklungshilfe. Leider, meine Damen und Herren von
der SPD, entfernt sich die Bundesrepublik Deutschland
zunehmend von diesem Ziel.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Den großen Ansprüchen folgen kleine Zahlen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

So liegt die ODA-Quote bei uns lediglich bei 0,27 Pro-
zent statt bei den international angestrebten 0,7 Prozent.
Das ist im Grunde genommen für die rot-grüne Regie-
rungskoalition ein Armutszeugnis.


(Detlev von Larcher [SPD]: Was?)

Mehr noch: Das ist ein Offenbarungseid für eine Regie-
rung, die einmal angetreten war, neue Impulse in der Ent-
wicklungspolitik zu setzen und mehr Mittel zur Verfü-
gung zu stellen.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Das Gegenteil ist der Fall: So schrumpfte der Etat des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung von 1,9 Prozent im Jahr 2001 auf die
magere Quote von 1,7 Prozent des Gesamthaushaltes in
diesem Jahr. Wie in vielen anderen Bereichen so gilt auch
hier wieder einmal leider nicht das gesprochene, sondern
das gebrochene Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421812400
Ich schließe da-
mit die Aussprache.




Siegfried Helias
21648


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksa-
che 14/7900 zu dem Antrag der Fraktion der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Zugang der Zi-
vilgesellschaft zur WTO-Ministerkonferenz in Doha,
Katar, gewährleisten“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/5805 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen, der FDP und der PDS ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden.
Es gab keine Enthaltung.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7924 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur „Stärkung des freien
Welthandels durch neue WTO-Runde“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5755 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des
Ausschusses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7925 zu dem Antrag
der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zur „Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels
durch eine umfassende Welthandelsrunde“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7143
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS angenommen worden.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7899 zu dem Antrag
der Fraktion der PDS mit dem Titel „Neoliberale Globa-
lisierung – kein Sachzwang“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/6889 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der
PDS, die zugestimmt hat, angenommen worden.

Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird die Überweisung
des Antrags auf Drucksache 14/8272 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Irmgard Schwaetzer, Dirk Niebel, Dr. Heinrich
L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für substanzielle Arbeitsmarktreformen im
Niedriglohnsektor
– Drucksache 14/8143 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Kein Widerspruch.
Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und gebe der Abgeordneten
Irmgard Schwaetzer das Wort.


Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (FDP):
Rede ID: ID1421812500
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vergangenen Jahr
gab es nur einen Bereich der Wirtschaft, der wirklich kräf-
tig gewachsen ist: die Schattenwirtschaft.


(Beifall bei der FDP)

Das Bruttoinlandsprodukt hat gerade um 1 Prozent zu-

genommen. Die Schattenwirtschaft stieg um geschätzte
6,3 Prozent – es ist sicherlich nicht weniger – auf einen
Wert von etwa 350 Milliarden Euro. Das muss uns doch
wirklich zum Handeln anregen und darf nicht, wie es
diese Regierung tut, dazu führen, immer nur anzukün-
digen, zu warten, zu prüfen und nichts zu tun. Das hat zu
dem Ergebnis geführt, dass wir jetzt 4,3 Millionen Ar-
beitslose zu beklagen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Man kann sich über die Masse an Arbeitsplätzen strei-

ten, die im Niedriglohnsektor tatsächlich vorhanden sein
könnten. Ich beziehe mich da auf eine Schätzung des
Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln,
die für diesen Bereich ein Potenzial von 3 Millionen Ar-
beitsplätzen ausweist. Das ist in der gegenwärtigen Situa-
tion doch wirklich Anlass genug, hier einzusteigen und
nicht das zu tun, was diese Koalition getan hat, nämlich
die Bereiche des Arbeitsmarktes, die noch ein bisschen
flexibel waren – wie die geringfügige Beschäftigung –,
auch noch durch ihre bürokratischen Regelungen kaputt
zu machen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles kaputt geriestert! – Peter Dreßen [SPD]: Die sind sogar gewachsen, gnädige Frau!)


Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse – das
weiß wohl inzwischen jeder – haben in den Bereichen, in
denen sie am meisten gebraucht wurden, nämlich in der
Gastronomie und im Handel, deutlich abgenommen. Da
wäre in der Tat eine große Menge zusätzlicher Arbeit zu
schaffen. Deswegen fordert die FDP, es nicht bei den
325 Euro zu belassen, sondern den Bereich der geringfü-
gigen Beschäftigung wieder deutlich auszuweiten, näm-
lich den Grenzbetrag auf 630 Euro festzusetzen.


(Beifall bei der FDP)

Dieser Betrag entspricht in etwa dem steuerfreien Exis-
tenzminimum. Es spricht doch alles dafür, ihn in dieser
Größenordnung festzusetzen. Wenn wir als Parlament,
unterstützt vom Verfassungsgericht, gesagt haben, dass
der Bereich des Existenzminimums wirklich steuerfrei
sein soll, warum sollen wir dann von denjenigen, die ei-
ner geringfügigen Beschäftigung nachgehen, Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge einsammeln? Das hat bloß
den Effekt, dass es in dem Bereich zwischen 325 und




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

21649


(C)



(D)



(A)



(B)


630 Euro völlig uninteressant ist, eine Arbeit aufzuneh-
men.


(Beifall bei der FDP – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Schauen Sie mal in die neuen Bundesländer, liebe Kollegin! Da ist das die Hälfte der Löhne! 630 Euro! Da freut sich jede Verkäuferin!)


Wer in dem Bereich allein über 40 Prozent Sozialversi-
cherungsbeiträge und Steuern zu zahlen hat, der hat wirk-
lich kein Interesse daran, diese Arbeit zu leisten. Natürlich
müsste in dem Zusammenhang auch die maximale
wöchentliche Arbeitszeit verlängert werden. Es ist wich-
tig, im Bereich der geringfügigen Beschäftigung die rich-
tigen Maßnahmen zu treffen, um vielen Menschen die
Hoffnung auf einen vollen Arbeitsplatz zu geben. Darum
geht es doch einfach.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist vor allen Dingen einfacher als all die Erwägun-
gen, die innerhalb der Koalition angestellt werden, aber
anschließend wieder versacken, sodass nichts passiert.


(Peter Dressen [SPD]: Wir haben ja gesehen, wo Ihre Rezepte hinführen!)


Wie lange schon diskutieren Sie über Kombilöhne? Sie
haben angekündigt, das Mainzer Modell auf die ganze Bun-
desrepublik auszuweiten, und nichts ist passiert. Das, was
wir vorschlagen, ist im Gegensatz zu all den bürokratischen
Regelungen, die Sie diskutieren, einfach. Es führt darüber
hinaus nicht zu Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt.

Es sind aber noch weitere Dinge notwendig. Die An-
reize zur Rückkehr in das Erwerbsleben müssen ge-
stärkt werden. Das heißt, diejenigen, die bisher Sozial-
hilfe bekommen haben und sich aus eigener Kraft darum
bemühen, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren,
müssen einen deutlichen finanziellen Anreiz gegenüber
denjenigen bekommen, die sich um diese Wiedereinglie-
derung nicht bemühen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen brauchen wir dringend eine Reform der So-
zialhilfe – nach unseren Vorstellungen soll das zu einem
Bürgergeld führen – die bewirkt, dass den bisherigen So-
zialhilfeempfängern bei Arbeitsaufnahme mindestens die
Hälfte dessen, was sie jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt
verdienen, als Einkommen belassen und nicht auf die So-
zialhilfe angerechnet wird.


(Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: Das machen wir doch gerade! Haben Sie das Gesetz nicht gelesen, Frau Schwaetzer?)


Erst dann wird dem Lohnabstandsgebot wirklich Geltung
verschafft. Das ist auch notwendig. Deswegen müssen die
Freibeträge für Sozialhilfeempfänger erhöht werden und
die Anrechnungssätze müssen langsamer steigen.


(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen Be-

reich, der nicht nur jetzt im beginnenden Wahlkampf, son-
dern überhaupt weite Teile der Gesellschaft enorm be-
wegt: Das ist die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und

Familienarbeit. Das ist das zentrale Thema unserer Ge-
sellschaft, heute und in den nächsten Monaten und Jahren.
Dieses Thema kann man nicht dadurch aufgreifen – wie
Sie das getan haben –, dass man die Freibeträge für Al-
leinerziehende abschafft. Ich bin einmal gespannt, was
das Verfassungsgericht dazu sagen wird.


(Peter Dreßen [SPD]: Die haben das gefordert! Genau auf Verfassungsgerichtsurteile ist das zurückzuführen!)


Wir müssen eine deutliche zusätzliche Unterstützung der
Familien genau für diesen Bereich vorsehen. Deswegen
schlagen wir vor – wir hoffen, dass Sie uns zustimmen –,
mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im
Haushalt zu schaffen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Indem Sie keine Sozialversicherungsbeiträge verlangen oder wie? Das ist widersprüchlich, was Sie da sagen!)


Das könnte vielen helfen, die sonst keine Chance auf dem
Arbeitsmarkt haben. Sie können unseren Vorschlag reali-
sieren, indem Sie endlich wieder zulassen, was Sie abge-
schafft haben, und tatsächlich der volle Steuerabzug für
Dienstleistungen im Haushalt eingeführt wird.


(Beifall bei der FDP)

Sie haben die Hausarbeit durch den Begriff „Dienst-

mädchenprivileg“ diffamiert und diskriminiert. Dieser
Begriff diffamiert auch alle erwerbstätigen Mütter. Dage-
gen wehren wir uns. Deswegen fordern wir Sie auf, um-
zukehren und daran mitzuwirken, dass diese Arbeitsplätze
voll von der Steuer abgesetzt werden können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine letzte kurze Bemerkung, meine Damen und Her-
ren: Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe müssen zu einem
System verflochten werden. Sie haben das schon in der
Regierungserklärung vor dreieinhalb Jahren angekündigt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Fehlanzeige!)


Nichts ist passiert; jetzt haben Sie mit irgendwelchen Mo-
dellversuchen begonnen. Das brauchen Sie nicht zu tun; Sie
brauchen nur den Mut zu haben, Entscheidungen zu treffen.


(Zurufe von der FDP: Ruhige Hand! – Eingeschlafene Füße!)


Wir haben einen präzisen Vorschlag gemacht, wie die
Leistungen, aber auch die Ansprüche zusammengeführt
werden können. Das trüge zur Transparenz und damit
auch zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen im Nied-
riglohnbereich bei. Wenn Sie darüber hinaus Arbeitsäm-
ter und Sozialämter zusammenlegten und zu wirklichen
Job-Centern machten, in denen auch vermittelt wird – das
war heute ja schon ein Thema –, in denen beraten wird und
in denen auch Qualifizierung angeboten wird, dann hätten
Sie etwas getan, was den Arbeitslosen hilft.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch alles vernünftig! Warum macht die Koalition das nicht mit?)





Dr. Irmgard Schwaetzer
21650


(C)



(D)



(A)



(B)


Meine Damen und Herren, Sie haben viel angekündigt.
Die FDP hat in diesem Bereich Vorschläge gemacht, die
Sie eigentlich nur aufgreifen müssen. Dass Sie das nicht
tun, macht eines deutlich:


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP hätte 28 Jahre lang etwas tun können!)


Sie haben nicht den Mut, etwas zu tun. Unsere Maxime
aber ist: Machen, machen, machen! Dafür treten wir an.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421812600
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Nahles.


Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1421812700
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Frau Schwaetzer, ich lade
Sie sehr herzlich ein, morgen früh ins Plenum zu kom-
men, weil dann etwas auf der Tagesordnung steht, was wir
gemacht haben: das Gesetz zur Bekämpfung der illegalen
Beschäftigung und Schwarzarbeit, die Sie eben so wort-
reich beklagt haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das taugt auch nichts, Frau Nahles!)


– Das taugt nichts? Sie verlangen von uns, dass wir etwas
machen, und wir machen etwas.


(Walter Hirche [FDP]: Das Gesetz taugt aber nichts! – Dr. Hans-Peter Friedrich [CDU/CSU]: Murks, Murks, Murks! – Walter Hirche [FDP]: Wir wollen weder Marx noch Murks!)


Wir verschärfen die Sanktionen bei der Schwarzarbeit,
wir werden die Generalunternehmerhaftung einführen.
Das sind zwei ganz konkrete und sehr wirksame Maß-
nahmen bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit. Seien Sie
also herzlich eingeladen. Ich hoffe, Sie morgen früh hier
zu sehen, Frau Schwaetzer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das bringt keinen Arbeitsplatz! Aber ich komme!)


Wir haben auch an anderer Stelle etwas gemacht: Wir
haben das Mainzer Modell bundesweit eingeführt. Als
Rheinland-Pfälzerin habe ich mir die Augen gerieben, als
ich gesehen habe, was Sie in Ihren heute vorliegenden An-
trag hineingeschrieben haben:

Drittens sollte das „Mainzer Modell“ nicht auf Bun-
desebene ausgeweitet werden.

Erstens kommen Sie etwas zu spät und zweitens haben Sie
im Mainzer Koalitionsvertrag, den Sie, insbesondere Herr
Brüderle, mit verfasst haben, das Mainzer Modell aus-
drücklich gelobt


(Klaus Brandner [SPD]: Schlecht informiert, Frau Schwaetzer!)


und mit dem Vermerk besonders hervorgehoben, es wei-
ter ausbauen zu wollen. Warum Sie dann auf der Bundes-

ebene nicht mehr mitmachen wollen, verstehe ich nicht.
Aber das ist wohl die Politik, wie wir sie von der FDPken-
nen: Politik, wie es gerade in den Kram passt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brandner [SPD]: Beliebigkeit!)


Sie sprachen die 630-Mark-Jobs an. Dazu kann ich
nur sagen: mit voller Kraft zurück!


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Ja, das wäre auch besser!)


Wo standen wir denn 1998? Wir haben bundesweit einen
Missbrauch von 630-Mark-Jobs gehabt. Es wurden sozi-
alversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
eine Kette von 630-Mark-Jobs umgemünzt. Daran hat nur
einer verdient:


(Dr. Hans-Peter Friedrich Alles Propaganda!)


Der Unternehmer hat Sozialversicherungsbeiträge einge-
spart, die andere Arbeitnehmer und Arbeitgeber für ihn
mit bezahlen mussten.


(Peter Dreßen [SPD]: Und im Alter kommt die Sozialhilfe! Aus Steuern!)


Unter Ihrer Ägide sind dann logischerweise auch die
Lohnnebenkosten gestiegen und nicht abgesenkt worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sehen überhaupt nicht die geringste Veranlassung,
unsere Reform zurückzunehmen. Denn welche Situation
haben wir heute? 4,1 Millionen Beschäftigungsverhält-
nisse bewirken, dass 5 Milliarden DM in die Sozialkassen
fließen. Das reduziert die Beiträge um 0,3 Prozentpunkte
und das kommt allen Arbeitnehmern und allen Arbeitge-
bern zugute. Das ist vorbildliche Politik in diesem Be-
reich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann will ich Ihnen noch etwas sagen: Die rote Linie
Ihres Antrags ist auch, zu sagen, im Niedriglohnbereich
sei der Abstand von Nettoeinkommen zur Sozialhilfe zu
gering.


(Ilse Janz [SPD]: Gelb, gelb!)

Ich muss ehrlich sagen: Dies ist ganz einfach falsch.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das reicht, dass Sie behaupten, die Mitte sei rot!)


Durch unsere Familienpolitik, nämlich die Erhöhung des
Kindergeldes und des Steuerfreibetrages, und durch un-
sere Steuerpolitik haben wir den Lohnabstand seit 1999
kontinuierlich vergrößert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber keiner merkt es!)


Das lässt sich mit Zahlen belegen. Bei einer fünfköpfigen
Arbeitnehmerfamilie beträgt der Lohnabstand 641 DM.




Dr. Irmgard Schwaetzer

21651


(C)



(D)



(A)



(B)


Bei 60 Prozent der Familien beträgt der Abstandsbetrag
sogar 1 000 DM und mehr.


(Walter Hirche [FDP]: Die sind reihum alle begeistert, jubeln der SPD in der ganzen Republik zu!)


Dieser Lohnabstand ist ausreichend und gibt jedenfalls
keine Veranlassung, ihn zu vergrößern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will noch etwas zu der verallgemeinernden Be-
hauptung sagen, die Leute verblieben, weil sie nicht genü-
gend Geld verdienten, im Sozialhilfebezug.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Aber das sagen Sie doch selbst!)


27,9 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind allein erzie-
hende Mütter mit Kindern. Die haben das Problem, dass
sie nicht wissen, wo ihre Kinder betreut werden können.
Das hindert sie an der Arbeitsaufnahme. Dazu sind ganz
andere Maßnahmen erforderlich, nämlich die Ganztags-
betreuung zu verbessern. Das vermisse ich in Ihrem An-
trag. Das zeigt, dass Sie zu Verallgemeinerungen neigen.
Ich sage ja auch nicht, dass, weil ein Bundestagsabgeord-
neter Arbeitsvermittler war und die Statistik gefälscht hat,
alle Bundestagsabgeordneten Herr Niebel heißen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Das ist unter Niveau, was Sie sagen!)


Aus diesem Grund lehne ich es auch ab, zu sagen, dass
sich alle Sozialhilfeempfänger in die Hängematte legen,
nur weil sie keine Arbeit aufnehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Allerschärfste ist, dass die FDP, die stets gegen
Subventionspolitik ist, auf einmal subventionieren will –
und zwar was? Sie sagen, Sie wollen die 630-Mark-Jobs
auf 630 Euro ausdehnen. Sie von der FDPwollen also die
stoibersche Euroumstellung.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das wiederum bedeutet, dass Sie die existierenden
Jobs in dem Bereich von 325 bis 888 Euro – dort arbeiten
nämlich 2,3 Millionen Menschen in Deutschland – staat-
lich subventionieren wollen. Das ist also Ihre Politik! Das
schafft vielleicht eine Entlastung für Unternehmer,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Vor allem mehr Arbeitsplätze in dem Bereich schaffen! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie sind auf einem Holzweg! – Peter Dreßen [SPD]: Wie sie das bezahlen wollen, sagen sie auch nicht!)


aber, das schafft keinen einzigen zusätzlichen Job.

(Beifall bei der SPD)


Herr Laumann, ich bin auf keinem Holzweg. Ich versu-
che, Sie zu überzeugen. Vielleicht hören Sie mir zu!

Sie tun so, als ob im Niedriglohnbereich die Zukunft
der Arbeitsmarktpolitik liegt. Das aber ist nicht der Fall.
Jedes Jahr werden immer weniger Jobs im Niedriglohn-
bereich in Deutschland angeboten,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist ja das Problem!)


weil die Qualifizierungsanforderungen in jedem Jahr stei-
gen.


(Walter Hirche [FDP]: Warum denn?)

Unsere Antwort im Job-Aqtiv-Gesetz ist deswegen

auch nicht, den Niedriglohnbereich zu zementieren, son-
dern die Qualifizierung gerade für Geringqualifizierte
und für Ältere zu verbessern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben im Job-Aqtiv-Gesetz ein neues Förder-
instrument für die Qualifizierung von Geringqualifizier-
ten geschaffen.


(Walter Hirche [FDP]: Mit Rotlackiererei können Sie das nicht schaffen!)


Wir haben sogar die Möglichkeiten der Teilzeitarbeit
für Qualifizierung verbessert. Wir haben Job-Rotation
eingeführt und wir haben, was ich sehr wichtig finde, vor
allem die Qualifizierung von Menschen über 50 Jahren,
die in dieser Republik auf dem Arbeitsmarkt oft abge-
schrieben werden, gezielt unterstützt.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Wenn das alles so toll ist, warum passiert dann nichts am Arbeitsmarkt?)


Das ist ein ganzer Katalog von Qualifizierungsmaß-
nahmen, die ich als echte Alternativen zum Niedriglohn-
sektor ansehe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie sprechen davon, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe
miteinander zu verzahnen. Sie nennen es „vereinheitli-
chen“. Da gibt es einen großen Unterschied. Ich sehe, dass
die Oberbürgermeister in meinem Wahlkreis Eurozeichen
in den Augen kriegen, weil sie das Gefühl haben: Die Zu-
sammenlegung ist toll! Das heißt: Wir sparen kräftig So-
zialhilfe ein. – Wenn ich nach Berlin komme und mit Ih-
nen oder anderen „Finanzern“ rede, erscheint es so, als ob
man bei der Arbeitslosenhilfe sparen könnte.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die Wahrheit liegt in der Mitte! – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das steht im Antrag, Frau Nahles! Nachlesen hilft!)


Ich möchte Folgendes dazu sagen: Die Arbeitslosenhilfe
ist genauso wenig der Sparstrumpf der Nation wie die So-
zialhilfe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sehr wohl möglich sind aber Einsparpotenziale bei einer
intelligenten Verzahnung und genau die gehen wir an.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Wann denn?)





Andrea Nahles
21652


(C)



(D)



(A)



(B)


In der Stadt Andernach mit 30 000 Einwohnern, aus der
ich komme, hatten wir vor sechs Jahren pro 1 000 Ein-
wohner 30 Sozialhilfeempfänger. Jetzt haben wir 22 pro
1 000 Einwohner. Das spart den Kommunen eine Menge
Geld. Was haben die Kommunen gemacht? – Sie haben
Beschäftigungsgesellschaften gegründet und Menschen
in den ersten und in den zweiten Arbeitsmarkt vermittelt
sowie Nischen ausgefüllt. Diese Strukturalternativen
kann man noch optimieren. Wenn wir es schaffen, ge-
meinsame Büros für Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu
gründen, wenn wir die doppelt durchgeführte Prüfung von
Einkommen oder sonstigen Verwaltungsaufwand redu-
zieren, wenn wir strukturelle Reformen durch eine Ver-
zahnung hinbekommen, dann werden wir von 22 noch auf
18 Einwohner kommen. Das ist das Ziel, das wir verfol-
gen müssen. Das muss im Mittelpunkt der Reform stehen.


(Beifall bei der SPD)

Letzter Punkt: Ich habe mit größter Überraschung ge-

lesen, dass Sie die Arbeitszeit wieder verlängern wollen,
Frau Schwaetzer; das steht in Ihrem Antrag. Das heißt, Sie
wollen die vorhandene Arbeit in dieser Republik auf noch
weniger Schultern verteilen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ihr alter Sozialismus kommt wieder!)


Ich will ganz deutlich machen: Wir schlagen den Ausbau
von Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen und den Abbau
von Überstunden vor. Damit wird die vorhandene Arbeit
auf mehr Schultern verteilt. Das ist genau das Gegenteil
von dem, was Sie, Frau Schwaetzer, wollen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wo haben Sie das gelesen? Bei Marx?)


– Sie müssen mich in diesem Punkt nicht anmachen. Marx
zu lesen bildet. Ich empfehle Ihnen das wirklich, Herr
Laumann.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da lese ich lieber die Bibel!)


Ich möchte Ihnen nur sagen: Sie haben eine Arbeits-
marktpolitik – in diesem Punkt sind beide Oppositions-
fraktionen gemeint – nach dem Gießkannenprinzip be-
trieben: Jeder bekommt AB-Maßnahmen – 200 000 oder
300 000 –, wenn gerade Wahlkampf ist. Wir dagegen wol-
len spezielle Gruppen fördern und haben die Arbeitslo-
sigkeit von Jugendlichen und Schwerbehinderten ganz
gezielt zurückgeführt. Dabei sind wir nicht stehen geblie-
ben. Wir haben ab dem 1. Januar 2002 den entscheiden-
den Schritt gemacht, indem wir das Individuum in das
Zentrum der Arbeitsmarktpolitik gestellt haben. Wir wol-
len mit dem Eingliederungsvertrag, den wir mit den Ar-
beitslosen abschließen, den Schritt zu einer Vereinfa-
chung und zu einer individuelleren Betreuung der
einzelnen Arbeitslosen gehen.

Die Vermittlungsoffensive, die wir begonnen haben,
darf durch das, worüber wir jetzt diskutieren – die Statis-
tiktricksereien, die es gegeben hat –, nicht gefährdet wer-
den. Die Arbeitslosen sind darauf angewiesen, dass wir
eine gute Politik, die ihnen Perspektiven bietet, machen.
Deswegen müssten Sie uns eigentlich dabei helfen, dass
das Job-Aqtiv-Gesetz in den nächsten Monaten zu

100 Prozent umgesetzt wird, weil dies Arbeitslosigkeit
tatsächlich abbauen kann. Ich fordere Sie dazu auf. Je-
denfalls brauchen wir von Ihnen nicht mehr daran erinnert
zu werden, weil wir schon längst auf dem Weg sind. Wir
werden diesen Weg auch konsequent weitergehen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie gehen den Weg nur rückwärts!)


– Nein. Insoweit brauchen wir uns von Ihnen keine Be-
lehrung anzuhören.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421812800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1421812900
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war bei meinem
Auftreten etwas irritiert, weil von Ihnen, Herr Kollege
Brandner, Applaus kam.

Es ist schon erstaunlich, was Sie, Frau Nahles, dem Pu-
blikum vorsetzen. Heute sagen Sie, dass in dem gesamten
Niedriglohnbereich Subventionierung nicht möglich ist.
Aber gerade vor einer Stunde haben wir über Punkte de-
battiert, in denen Sie bis vor drei Jahren die Welt in Un-
ordnung sahen und „Sozialabbau!“ gerufen haben, zum
Beispiel in der Frage der privaten Vermittlung. So wech-
seln Sie Ihre Hemden Jahr für Jahr und Tag für Tag.


(Peter Dreßen [SPD]: Das Hemd muss man wirklich täglich wechseln, sonst mieft es!)


Diese Chance werden Sie bei der nächsten Wahl nicht
mehr bekommen. Denn „Machen, Machen, Machen“, wie
es die Kollegin Schwaetzer gefordert hat, wird für Sie
nicht mehr möglich sein. Der Wähler wird dafür sorgen,
dass Sie sich vom Acker machen müssen. Dann machen
wir es nämlich. Das ist in der derzeitigen Situation auch
dringend notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage das auch im Zusammenhang mit der Debatte über
die Statistiken, die wir vor einer Stunde geführt haben. Ich
habe den Eindruck, Sie führen zurzeit eine große Debatte,
um davon abzulenken, wie die Situation am Arbeitsmarkt
wirklich aussieht.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Es geht mir nicht darum, darüber zu diskutieren, dass
es Fehler in der Statistik gegeben hat. Es geht mir aber da-
rum, nicht zu vergessen, wo wir politisch zu handeln und
welche Vorgaben wir zu machen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht uns ähnlich wie der FDP darum, den Nied-

riglohnbereich flottzumachen. Wenn Sie sagen, dass hier
2 Millionen Menschen tätig sind, so ist das genau der
Punkt. Ich habe heute Mittag einen Termin mit Vertre-
tern von Qualifizierungsverbänden gehabt. Sie versuchen,




Andrea Nahles

21653


(C)



(D)



(A)



(B)


berufliche Qualifizierung zu leisten. Wir waren uns darin
einig, dass es einen Bereich gibt, in dem berufliche Qua-
lifizierung auch durch noch so viele Maßnahmen nichts
bringt. Vielmehr müssen wir einen Bereich für diejenigen
schaffen, die im Niedriglohnbereich Dienstleistungen er-
bringen könnten. Dort müssen Anreize geschaffen wer-
den, damit es sich für den Betreffenden lohnt, eine Arbeit
aufzunehmen, und er mehr in der Tasche hat, als wenn er
in die Schwarzarbeit geht. Genau dieses Konzept ist er-
forderlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was mich auch wundert ist: Die Grünen sind in der Frage,
wie man in diesem Bereich etwas erreichen kann, auch
näher bei uns als bei der SPD.

Das Ergebnis nach über drei Jahren Rot-Grün lautet:
Die Arbeitslosigkeit nimmt zurzeit über 14 Monate sai-
sonbereinigt zu. Dazu sagen Sie, Frau Nahles: Wir tun et-
was.


(Klaus Brandner [SPD]: 16 Jahre!)

– Hören Sie mit den 16 Jahren auf. Wenn ich sehe, was Sie
in den vergangenen drei Jahren geschaffen haben, habe
ich eigentlich den größten Bammel davor, dass wir nach
der nächsten Wahl alles, was Sie an Durcheinander und
Unsinn geschaffen haben,


(Klaus Brandner [SPD]: Weniger Steuern, weniger Sozialabgaben, weniger Arbeitslose!)


zügig zurücknehmen müssen. Was Sie an Umschichtun-
gen vorgenommen haben, ist kaum noch reparierbar. Das
wird die größte Schwierigkeit werden.

Sie haben kein durchgreifendes Arbeitsförderungsre-
formgesetz geschaffen, stattdessen gab es das 630-Mark-
Chaos und Regelungen zur Scheinselbstständigkeit. Das
alles hat dazu geführt, dass der Arbeitsmarkt nicht flott-
gemacht, sondern mit mehr Bürokratie überzogen worden
ist und dass mehr Hemmnisse entstanden sind. Darunter
leiden wir. Es ist dringend nötig, im Niedriglohnsektor
endlich Akzente zu setzen.


(Klaus Brandner [SPD]: Neue soziale Subventionsherrschaft!)


Die Union hat ein Dreisäulenmodell vorgeschlagen,
das ich Ihnen kurz vorstellen möchte. Diesbezüglich gibt
es große Schnittmengen mit dem Antrag der FDP-Frak-
tion.


(Andrea Nahles [SPD]: Was für ein Zufall!)

Sie wissen, dass große Schnittmengen mit der FDP-Frak-
tion ein erster Schritt sind und dass man nach den Wahlen
durchaus zu gemeinsamen Konzepten kommen kann. Das
ist sicherlich eine gute Voraussetzung.


(Peter Dreßen [SPD]: Viel Spaß mit der FDP!)

Dreisäulenmodell heißt, dass wir in der ersten Säule

die Grenze der geringfügigen Beschäftigung von 325 auf
400 Euro erhöhen und später dynamisieren wollen.


(Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie auch was zur Finanzierung?)


– Das mache ich gern. Aber lassen Sie mich nacheinander
darauf eingehen. Hören Sie erst einmal zu. Vielleicht be-
kommen wir dann auch mit Ihnen Schnittmengen. Aber
Sie brauchen wieder vier Jahre länger; das ist Ihr Problem.

Wir wollen außerdem die Gleichbehandlung von ge-
ringfügiger Beschäftigung und geringfügiger Nebenbe-
schäftigung. Das heißt, hiermit können wir durchaus auch
zum Überstundenabbau beitragen. Das führt auch dazu,
dass die Personen, die nicht mehr in den Nebenjobs bzw.
in den alten 630-Mark-Jobs arbeiten wollen, weil sich das
nicht mehr lohnt, wieder Anreize bekommen. Viele Fami-
lien brauchen das. Das ist insofern hilfreich. Was Sie bei
den 630-Mark-Jobs eingeführt haben, nämlich dass man
durch Beiträge in Höhe von 22 Prozent in die Sozialver-
sicherung Rentenansprüche erwerben kann – Sie wissen
doch,


(Klaus Brandner [SPD]: Schade, dass Blüm nicht mehr hier ist! – Erika Lotz [SPD]: Sagen Sie doch mal was zur Sozialversicherung!)


dass man ungefähr 150 Jahre arbeiten muss, um aus die-
sen Beiträgen eine Rente zu bekommen, die noch unter
dem Sozialhilfeniveau liegt –,


(Peter Dreßen [SPD]: Nach Ihrem Modell hätten sie ja wohl gar nichts!)


ist nicht interessant.

(Zurufe von der SPD)


– Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind. Ich
habe den Eindruck, Sie sind so rappelig, weil Sie be-
fürchten, dass die Menschen draußen im Land mit-
bekommen könnten, wie gut unser Modell ist.

Wir wollen, dass der Arbeitgeber wieder nur eine Pau-
schalsteuer von 20 Prozent zahlen muss. Das Aufkommen
aus dieser Pauschalsteuer soll in die Sozialkassen fließen,
damit dort keine Löcher entstehen. Das war bisher nicht
der Fall.

Die zweite Säule unseres Modells betrifft den Nied-
riglohnbereich. Sie alle wissen doch – Frau Nahles,
machen Sie doch Ihre Augen nicht zu –, dass die Nied-
riglohnfalle beginnt, sobald man mehr als 630 DM ver-
dient. Kaum jemand nimmt einen Job an, in dem er zwi-
schen 630 DM und 1 600 DM verdient.


(Andrea Nahles [SPD]: 2,3 Millionen!)

– Das sind viel zu wenige. Wir müssen ein Angebot ma-
chen, damit wieder mehr Menschen solche Jobs anneh-
men.


(Andrea Nahles [SPD]: Sie haben noch vor einer Sekunde behauptet, dass es überhaupt keine Leute gibt, die für diesen Lohn arbeiten! Jetzt sind es auf einmal zu wenige!)


– Frau Nahles, versuchen Sie doch einmal, mir geistig zu
folgen. Es gibt doch eine Beschäftigungslücke. Das ist
doch auch nachvollziehbar: Wenn ich Ihnen, Frau Nahles,
einen Job für 630 DM anbieten würde,


(Andrea Nahles [SPD]: Den hatte ich schon! Ich war Studentin!)





Wolfgang Meckelburg
21654


(C)



(D)



(A)



(B)


dann würden Sie sagen: Okay, den nehme ich an. – Aber
wenn ich Ihnen einen Job für 635 DM anbieten würde,
dann würden Sie sagen: Igittigitt! Finger weg! – Ihre Re-
aktion wäre verständlich; denn ein solcher Job würde sich
nicht lohnen, weil ab 630 DM in vollem Umfang Sozial-
versicherungsabgaben fällig würden. Wer ist denn so
dumm, dafür arbeiten zu gehen?


(Andrea Nahles [SPD]: Haben Sie schon einmal etwas vom Steuerfreibetrag gehört?)


Das gilt für Jobs, in denen man bis 1 600 DM, also unge-
fähr 800 Euro, verdienen kann. In dem Lohnkorridor zwi-
schen 400 und 800 Euro müssen wir etwas tun, weil schon
ab der ersten Mark über 630 DM die Sozialabgaben grau-
sam zuschlagen. Wir wollen die Einkommen bis 800 Euro
degressiv besteuern. Der maximale Steuersatz soll 21 Pro-
zent betragen. Wer dann eine Arbeit aufnimmt, mit der er
mehr als 325 Euro – in unserem Modell gehen wir von
400 Euro aus – verdient, wird nicht mehr das erleben, was
er momentan unter Ihrer Regierung erlebt, nämlich dass
er in vollem Umfang Sozialabgaben entrichten muss. So
machen wir diesen Lohnbereich attraktiv. Es lohnt sich
dann nämlich eine Arbeit anzunehmen, mit der man bis zu
800 Euro verdient, weil mehr Cash in der Tasche bleibt als
jetzt. Sie sind zurzeit nicht bereit, entsprechende Ände-
rungen vorzunehmen. Ich wage aber vorauszusagen, dass
Sie, wenn Sie die Möglichkeit hätten, das tun und dann sa-
gen würden: Ja, das ist es! – Sie sind immer vier, fünf
Jahre zu spät dran. Das ist das Problem in den letzten
dreieinhalb Jahren Ihrer Regierung gewesen. Hätten Sie
vieles von dem, was wir vor vier Jahren vorgeschlagen ha-
ben, unterstützt, dann wären wir in Deutschland wesent-
lich weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vieles von dem, was Sie heute als Ihr Ding verkaufen, ha-
ben Sie vor drei bis vier Jahren noch heftigst bekämpft.

Die dritte Säule betrifft die Anreize für Leistungs-
empfänger zur Aufnahme einer Arbeit. Wir wollen eine
Kombination aus Verstärkung der Anreize zur Arbeitsauf-
nahme und Verschärfung der Sanktionsmaßnahmen. Es
müssen auch strukturelle Änderungen vorgenommen
werden. Nach unserem Modell – über die Details können
wir noch reden, wenn wir nach der Wahl regierungsfähig
sind – wird das Arbeitsentgelt desjenigen, der bislang
Arbeitslosengeld bezogen hat und der eine Arbeit auf-
nimmt, deren Lohn niedriger ist als das Arbeitslosengeld,
bis zur Höhe des Arbeitslosengeldes durch die Bundesan-
stalt für Arbeit aufgestockt. Er erhält außerdem einen Zu-
schlag von 10 Prozent. Das verstärkt den Anreizeffekt,
weil mehr Cash in der Tasche bleibt, als wenn man nur Ar-
beitslosengeld beziehen würde.

Für Arbeitslosenhilfeempfänger haben wir ein ähnli-
ches Modell entwickelt. Ihr Arbeitsentgelt wird um
20 Prozent aufgestockt, weil die Arbeitslosenhilfe etwas
unter dem Arbeitslosengeld liegt. Wir brauchen des Wei-
teren ein Einstiegsgeld für Sozialhilfeempfänger. Ent-
sprechende Modellversuche sind viel versprechend ange-
laufen.

Frau Nahles, wir müssen vor allem dafür sorgen, dass
die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe angeglichen

werden. Ihnen fehlt aber der Mut zu wirklichen Refor-
men. Sie haben zwar alles in die Regierungsvereinbarung
hineingeschrieben. Aber Sie sind mitten in der Arbeit ste-
hen geblieben. Manches haben Sie versprochen. Manches
haben Sie in Ansätzen verwirklicht. Manches haben Sie
gar nicht bis zum Ende gebracht. Sie werden an den ho-
hen Arbeitslosenzahlen erkennen können, dass Sie gerade
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, vor allem bei der Be-
zuschussung von Sozialbeiträgen, große Fehler gemacht
haben. Die Menschen merken, dass das, was Sie politisch
tun, nicht dem entspricht, was Sie versprochen haben.

Deswegen sage ich Ihnen zum Schluss:

(Zuruf von der SPD: Erklären Sie uns das doch noch einmal mit dem Kärtchen!)


– Ich habe das Kärtchen wirklich immer in der Tasche,
weil man dieses Angebot annehmen muss. Sie können
sich zurzeit – das ist ein Tipp auch an die Fernsehzu-
schauer – bei „Spiegel Online“ die Kärtchen anschauen;
dort werden die neun Versprechen von Schröder Tag für
Tag an der Wirklichkeit gemessen. Es ist ein Vergnügen,
das zu sehen.


(Klaus Brandner [SPD]: Eine Mark sind zwei Euro! Stoibers Theorie!)


Als ich den ersten Argumentationsstrang zum Thema
Arbeitsmarkt dort las, habe ich mir gedacht: Schau einmal
an, das entspricht ungefähr der Rede, die du vor drei Wo-
chen hier gehalten hast. Das war Stück für Stück dasselbe.
Lesen Sie es nach, ich brauche es Ihnen jetzt nicht zu sa-
gen.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Wir brauchen also dringend Förderangebote im Nied-
riglohnbereich. Wir haben heute festgestellt, dass Sie
sich weigern, hier etwas zu tun, genauso wie Sie sich vor
vier Jahren geweigert haben, andere Dinge zu tun. Diese
Maßnahmen sind aber notwendig.


(Klaus Brandner [SPD]: Wir sind für Arbeitsplätze, nicht für Subventionen!)


Möglicherweise sind vier Jahre in der Opposition ganz
gut, weil man dann die Zeit hat, freier über die Dinge
nachzudenken. Wir haben das getan und treten mit unse-
rem Modell an. Es wird 700 000 bis 800 0000 neue
Arbeitsplätze in diesem Bereich bringen. Deswegen ist es
ein gutes Modell.

Noch einmal: Die Aufforderung: „Machen, machen,
machen!“ an Sie reicht nicht aus, denn das Ergebnis, das
Sie hinterlassen, ist: „Murks, Murks, Murks“. Machen Sie
sich auf den Weg, wir gehen ihn dann nach dem 22. Sep-
tember weiter!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421813000
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.




Wolfgang Meckelburg

21655


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421813100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Ihrer en-
gagierten Rede, Frau Schwaetzer, in der Sie den FDP-An-
trag eingebracht haben, musste ich daran denken, dass die
FDP im Gegensatz zur CDU/CSU immerhin 28 Jahre an
der Regierung beteiligt war.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Davon waren die letzten 16 Jahre gute Jahre!)


Da hätten Sie Ihre Wunderwaffen in der Arbeitsmarktpo-
litik in die Welt setzen können. Ich glaube, dass Ihre Re-
gierungsbeteiligung eher der Grund ist, warum der Re-
formbedarf heute noch so riesengroß ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Davon waren die letzten 16 Jahre gute Jahre!)


Wir brauchen, Herr Kollege Laumann, natürlich mehr
Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und flexiblere Mög-
lichkeiten im Arbeitsmarkt, aber alles im Rahmen einer
soliden sozialen Sicherung. Wie die Vorschläge der FDP
erkauft werden sollen, kann man beim Durchlesen des
Antrages sehr gut erkennen: durch Abbau sozialer Leis-
tungen. Genau das wollen wir nicht.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! – Walter Hirche [FDP]: Das ist falsch!)


Wir brauchen auch keinen flächendeckend subventionier-
ten Niedriglohnsektor und auch keinen Einstieg in ein
Working Poor, wie wir es aus den USA kennen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir subventionieren doch gar nicht! – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Wir subventionieren doch gar nicht! Sie bauen hier einen Popanz auf!)


Wir brauchen allerdings – und das ist sinnvoll – mehr
Brücken in den Arbeitsmarkt für bestimmte Personen-
gruppen,


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Genau das machen wir!)


die es schwer haben, in den Arbeitsmarkt hereinzukom-
men. Außerdem brauchen wir mehr sozialversicherte Be-
schäftigungsverhältnisse. Das sage ich gerade an Ihre
Adresse, meine Damen und Herren von der FDP.

Die Vorschläge der FDP lassen für mich nur eine
Schlussfolgerung zu: Es ist besser, die Arbeitsmarktpoli-
tik, wie es der Kollege Brüderle nennt, zu verriestern, als
sich mit der Arbeitsmarktpolitik der FDP in irgendeiner
Weise zu verbrüderlen. Ihre Vorschläge sind nämlich sehr
einfach.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Alle erfolgreichen Länder machen es so, wie wir es vorschlagen!)


Sie wollen den Salto rückwärts machen, die 325-Euro-
Grenze auf 630 Euro anheben und gleichzeitig für die ent-
sprechenden Personen die Sozialversicherungspflicht ab-
schaffen, sie dafür aber pauschal besteuern, also Steuern
abkassieren. Das ist nicht nur eine Rolle rückwärts, son-
dern bringt einen klaren Sozialabbau mit sich, den wir so

nicht wollen. Sie treffen damit 4 Millionen Beschäftigte,
die jetzt renten- und krankenversichert sind,


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Damit bekommen Sie doch überhaupt keine soziale Absicherung hin!)


und ungefähr 1 Million Beschäftigte, die zwischen 325
und 630 Euro verdienen und bisher sowohl Beiträge in die
Arbeitslosen-, die Renten- und die Krankenversicherung
zahlen. Diesen Versicherungsschutz wollen Sie streichen.
Das bringt nicht nur Ausfälle in Milliardenhöhe für die
Sozialversicherung und höhlt die Sozialkassen weiter aus,
sondern es zerstört auch den sozialen Schutz der Betrof-
fenen. Das wollen wir im Gegensatz zur FDP nicht.

Wir sind der Ansicht, dass auch die Bezieher kleiner
Einkommen den Schutz durch eine Sozialversicherung
brauchen und dass das soziale Sicherungssystem, wie wir
es von Ihnen übernehmen mussten, nicht ausbluten darf.
Wir wollen für die Probleme am Arbeitsmarkt ökonomi-
sche und sozialpolitisch vernünftige Lösungen finden.

Ihr Antrag hat in dieser Hinsicht nicht nur sozialpoli-
tisch, sondern auch arbeitsmarktpolitisch einen blinden
Fleck. Wenn wir die Grenze bei den geringfügigen Be-
schäftigungsverhältnissen von 325 Euro auf 630 Euro er-
höhen, dann erhöhen wir gleichzeitig die von Ihnen rich-
tig dargestellte Barriere am Arbeitsmarkt, die darin
besteht, dass ab dem Bezug von 630 Euro auf einmal in
voller Höhe die Sozialabgaben gezahlt werden müssen.
Das führt doch zu den gleichen Verwerfungen am Ar-
beitsmarkt, die Sie selbst jetzt beklagen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Die kriegen Sie natürlich nicht bei denjenigen, die eine Arbeit aufnehmen! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die liegen aber oberhalb der Sozialhilfe! Das ist der große Unterschied!)


Wir Grüne haben vorgeschlagen, die so genannte Teil-
zeitmauer dadurch abzubauen, dass die Sozialbeiträge der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezuschusst wer-
den.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Da warten die doch schon seit drei Jahren drauf!)


Das wäre insbesondere für die Bezieherinnen und Bezie-
her von kleinen Einkommen ein Vorteil. Es wäre kein Vor-
teil für die Arbeitgeber. Deswegen würde es nicht dazu
führen, wie viele fälschlicherweise befürchten, dass die
Arbeitgeber die Arbeitsplätze aufspalten.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Warten Sie einmal ab, was sich da nächstes Jahr tut!)


Das würde keine flächendeckende Subventionierung im
Niedriglohnbereich bedeuten, sondern eine Hilfestellung
für Menschen, die mehr Teilzeit arbeiten wollen.

Ich finde es ganz in Ordnung, dass die FDP unseren
Vorschlag, ein Einstiegsgeld zu zahlen, unterstützt.
Natürlich ist es vernünftig – das wird kaum jemand be-
streiten –, dass Sozialhilfeempfänger von ihrem Zuver-
dienst möglichst viel behalten dürfen. Wenn ein Sozial-
hilfeempfänger etwa jeden zweiten Euro dessen, was er






(C)



(D)



(A)



(B)


dazuverdient, behalten kann, dann ist das eine gute
Größenordnung.

Die volle Wahrheit in Bezug auf das, was Sie vor-
schlagen, ist, dass Sie gleichzeitig den Anspruch von So-
zialhilfeempfängern auf ein soziokulturelles Existenz-
minimum infrage stellen. Lassen Sie uns einmal Ihren
Vorschlag zur Zahlung eines Einstiegsgeldes – er deckt
sich mit unserem Vorschlag – und das, was Sie zusätzlich
vorschlagen, betrachten! Mit Ihren Vorschlägen für bes-
sere Zuverdienstmöglichkeiten für Sozialhilfeempfänger
– sie sind gewissermaßen ein Trojanisches Pferd – soll die
Absenkung der Sozialhilfe anderer Personengruppen ein-
hergehen. Das ist keine vernünftige Sozialpolitik. Wir
wollen diesen Weg nicht.

Außerdem schlagen Sie vor, die Höhe des Kindergel-
des an die Sozialhilfesätze anzugleichen, um das Lohn-
abstandsgebot aufrechtzuerhalten. Auch dieser Vor-
schlag ist sozialpolitisch einäugig.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Überhaupt nicht!)


Ein großes Problem in Deutschland besteht heute darin,
dass das Kinderkriegen dazu führen kann, dass man in die
Sozialhilfe abrutscht.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Der Zuschlag zum Kindergeld führt doch gerade da heraus!)


Der von uns entwickelte Vorschlag, eine Kindergrundsi-
cherung einzuführen, ist deswegen viel vernünftiger. Kin-
der sollen kein Armutsrisiko sein. Durch die Umsetzung
unseres Vorschlags können 4 Millionen Kinder in der
Bundesrepublik erreicht werden. Sozusagen ein Abfall-
produkt der Umsetzung dieses Vorschlags wäre – Sie wol-
len das nur für eine bestimmte Personengruppe – ein ver-
nünftiger Abstand zwischen Sozialhilfe und Löhnen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mich ungeheuer über das gewundert, was ich
in Ihrem Antrag über das Mainzer Modell gelesen habe
– wahrscheinlich haben Sie die neuesten Entwicklungen
nicht mitbekommen –: Die Höhe der Zuschüsse, die Men-
schen bekommen, die am Mainzer Modell teilnehmen,
werden nicht auf die Sozialhilfe angerechnet. Exakt das
fordern auch Sie.


(Andrea Nahles [SPD]: Das haben Sie noch gar nicht mitbekommen! – Gegenruf der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Aber selbstverständlich!)


Schließen Sie sich uns doch an!
Natürlich gibt es – auch dies ist in Ihrem Antrag falsch

dargestellt – eine Möglichkeit der Kombination mit den
Eingliederungszuschüssen. Es kann sein, dass eine Ar-
beitnehmerin oder ein Arbeitnehmer über das Mainzer
Modell gefördert wird und der Arbeitgeber dafür gleich-
zeitig einen Eingliederungszuschuss erhält. Diese Kom-
binationsmöglichkeit gibt es.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das ist Bürokratie im Quadrat!)


Außerdem ist die finanzielle Beteiligung der Länder weg-
gefallen. Machen Sie sich also erst einmal kundig, bevor
Sie hier Anträge stellen. Wenn Sie sich das genau durch-
lesen, machen Sie letzten Endes an dieser Stelle bei uns
vielleicht auch noch mit.

Eines möchte ich zum Abschluss allerdings schon sa-
gen: Auch wir Grünen sind wild entschlossen, weiter für
die Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten ab
dem ersten Euro zu kämpfen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Da müsst ihr erst einmal das ideologische Korsett der SPD knacken!)


Wir haben uns bisher damit nicht durchsetzen können,
aber wir halten diese Veränderung für notwendig und wer-
den uns auch weiterhin dafür einsetzen.

Wenn man sich das, was die FDP vorschlägt, ansieht,
kann man in der Summe nur Folgendes feststellen: Es gibt
Reformbedarf, das ist richtig, aber wir brauchen keine Re-
form mit sozialer Schlagseite.


(Walter Hirche [FDP]: In fünf Jahren kommen Sie da auch noch drauf! Sie brauchen immer eine ganz schön lange Zeit!)


Wir wollen mehr Flexibilität und mehr soziale Sicherheit.
Das ist unser grünes Konzept.


(Walter Hirche [FDP]: Wir wollen mehr Arbeitsplätze haben und nicht mehr Verwaltung!)


Ich glaube, damit tun wir auch viel für die zukünftige Ent-
wicklung in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421813200
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Pia Maier von der PDS-Fraktion.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1421813300
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Schwaetzer, mit diesem Antrag
bekämpfen Sie nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Ar-
beitslosen.


(Beifall bei der PDS)

Sie wollen noch mehr Menschen zwingen, zu niedrigen
Löhnen zu arbeiten.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Alle erfolgreichen Staaten machen es so, wie wir es vorschlagen!)


Ihre Vorschläge sind nichts anderes als ein gigantisches
Programm für Armut trotz Arbeit. Das hält die PDS für
den falschen Weg.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das glaube ich! – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Am besten, die Leute bringen ihr Gehalt gleich mit; dann gibt es ganz viel Arbeit!)


Dass es der falsche Weg ist, kann ich Ihnen an jedem der
sechs Punkte Ihres Antrags nachweisen. Es muss ja auch
noch Unterschiede zwischen uns geben.




Dr. Thea Dückert

21657


(C)



(D)



(A)



(B)


Erstens wollen Sie aus den 630-Mark-Jobs jetzt
630-Euro-Jobs machen, also geringfügige Beschäftigung
weiter ausweiten. Damit fielen die aus der Sozialversi-
cherung wieder heraus, die gerade erst einbezogen wur-
den. Wenig Sozialversicherung ist aber besser als gar
keine. Viele Beschäftigte hätten wieder weniger Schutz,
wenn sie krank oder alt werden. Das ist doch keine Lö-
sung. Sie schaffen damit heute nur die Armen von mor-
gen.


(Walter Hirche [FDP]: Sie drängen sie in die Schwarzarbeit ab!)


Zum Zweiten glaubt die FDP, wenn sie Sozialhilfe-
empfängern erlaubt, mehr dazu zu verdienen, ihnen einen
Anreiz zur Arbeit zu geben. Damit werden die Be-
troffenen erstens nicht aus der Sozialhilfe geholt und
zweitens gibt es bessere Anreize zur Arbeit, zum Beispiel
einen ordentlichen, existenzsichernden Lohn. Dann kä-
men die Menschen aus der Sozialhilfe heraus und das ist
der richtige Weg.


(Beifall bei der PDS)

Die FDP will das Prinzip einführen: Keine Leistung

ohne Gegenleistung. Nur wer eigenes Bemühen nach-
weist, bekäme dann noch genug, alle anderen nur das
Nötigste. Aber was ist mit denen, die sich nicht um Arbeit
bemühen können oder die sich bemüht haben und trotz-
dem keinen Job gefunden haben? Die meisten Arbeitslo-
sen sind nicht faul. Sie wollen arbeiten und sie wollen,
dass die Arbeitslosigkeit bekämpft wird. Dafür machen
Sie keine Vorschläge.

Drittens wollen Sie das Mainzer Modell nicht auf
Bundesebene ausweiten. Da kann ich Ihnen zustimmen,
allerdings aus ganz anderen Gründen. Mit dem Mainzer
Kombilohn soll der Niedriglohnsektor ausgebaut werden.
Das heißt, es werden mehr Jobs angeboten, für die man
nur einen Hungerlohn bekommt. Von diesen Löhnen kann
niemand leben, erst recht keine Familie.

Da lohnt sich stattdessen ein Blick nach Frankreich.
Dort setzt man nicht auf Niedriglöhne, sondern versucht,
die Binnennachfrage anzukurbeln – mit Erfolg. Dort gibt
es einen gesetzlichen Mindestlohn. Wer den verdient, gibt
ihn auch aus, stärkt damit unmittelbar die Nachfrage


(Beifall bei der PDS)

und schafft indirekt neue Arbeitsplätze. Gäbe es in
Deutschland einen existenzsichernden gesetzlichen Min-
destlohn von zum Beispiel 9,20 Euro pro Stunde,


(Zuruf von der CDU/CSU: Den gibt es doch faktisch!)


ich verspreche Ihnen, die Schwarzarbeit würde einge-
dämmt, die Binnennachfrage gestützt und Armut erfolg-
reich bekämpft.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Ganz bestimmt nicht!)


Das ist notwendig, denn von Arbeit muss man leben kön-
nen.

Viertens wollen Sie ordentliche sozialversicherungs-
pflichtige Arbeitsplätze im Haushalt schaffen. Das ist

der einzige Punkt, an dem Sie in Ihrem Antrag wirklich
von neuen Arbeitsplätzen reden; sonst reden Sie nur von
neuen Sanktionen. Das ist ein alter Hut. Damit sind Sie
während Ihrer Regierungszeit schon einmal gescheitert.
Damals wollten Sie 50 000 Jobs damit schaffen.
Daraus ist nichts geworden und das wäre heute nicht an-
ders. Egal, wie es besteuert würde, wer kann es sich schon
leisten, eine ordentliche sozialversicherungspflichtige
Stelle in einem Haushalt zu schaffen? Es gibt nicht genug
gut verdienende oder reiche Familien, die sich eine Haus-
haltshilfe leisten können, um damit ein Signal am Ar-
beitsmarkt auszulösen. Aber genau das gaukeln Sie vor.

Außerdem wollen Sie die Arbeitslosenhilfe ab-
schaffen. Die so genannte Zusammenlegung von Arbeits-
losenhilfe und Sozialhilfe ist vor allem ein Verar-
mungsprogramm für alle qualifizierten Langzeitarbeitslo-
sen und deren Familien. Dazu muss man sich das
Haushaltseinkommen der Familien ansehen. Das kann
schnell um 600 Euro geringer werden, wenn es statt der
Arbeitslosenhilfe nur noch den Anspruch auf Sozialhilfe
gibt; denn vor dem Anspruch auf Sozialhilfe müssen
eventuell das restliche Vermögen aufgebraucht und die
Wohnung gewechselt werden, wenn sie ein paar Quadrat-
meter zu groß ist. All das galt für Arbeitslosenhilfeemp-
fänger und -innen bislang nicht. Die Arbeitslosenhilfe hat
einen Bezug zum letzten Lohn. Hier gilt auch die Qualifi-
kation noch etwas, wenn es um die Zumutbarkeit von Ar-
beit geht. Gerade Betroffene mit einer hohen Qualifikation,
die auch hohe Beiträge in die Arbeitslosenversicherung
eingezahlt haben, bekämen ohne Arbeitslosenhilfe deut-
lich weniger, wenn sie lange Zeit arbeitslos sind.

Nein, diesen Ansatz gegen Arbeitslose wollen wir nicht.
Wir wollen keine Verarmung, sondern wir wollen, dass Ar-
beitslose zumindest eine Grundsicherung erhalten und


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Nein, ihr lasst sie lieber arbeitslos! Lieber arbeitslos als ein bisschen verdienen!)


dass sie sich nicht mit zwei Ämtern herumschlagen müs-
sen. Dazu muss man die Arbeitslosenhilfe nicht abschaf-
fen, sondern die, die arbeiten wollen, aus dem Sozialamt
herausholen.

Am Schluss sprechen Sie auch von einer grundlegen-
den Arbeitsmarktreform. Das heißt bei Ihnen aber nur,
dass das Arbeitslosengeld gekürzt und die Arbeitslosen
gegängelt werden, damit sie schneller wieder arbeiten ge-
hen. Wo sollen sie denn arbeiten? Es gibt gar nicht so viele
Jobs mit niedrigen Löhnen, wie Sie es immer darstellen.


(Beifall bei der PDS – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Fragen Sie doch einmal die Experten!)


Ihr Antrag hilft auch nicht, solche Jobs zu schaffen. Wo-
hin sollen denn die 4,3 Millionen Arbeitslosen vermittelt
werden? Auf jede freie Stelle kommen im Bundesdurch-
schnitt zehn Bewerber.

Eine grundlegende Arbeitsmarktreform bedeutet,
Arbeitsplätze zu schaffen, von denen die Menschen auch
leben können. Dazu braucht man kein Job-Aqtiv-Gesetz.
Man braucht Investitionen in den Kommunen, die dafür
Geld benötigen, und man braucht Initiativen des Bundes




Pia Maier
21658


(C)



(D)



(A)



(B)


und der Länder, um die Wirtschaftsförderung auch be-
schäftigungswirksam einzusetzen. Damit der Auf-
schwung trägt, müssen die Leute auch etwas verdienen,
das sie ausgeben können.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Stimmt!)

Wir brauchen keine niedrigen Löhne, sondern wir brau-
chen bessere Löhne bei mehr Arbeitsplätzen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421813400
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Jäger von der
SPD-Fraktion das Wort.


Renate Jäger (SPD):
Rede ID: ID1421813500
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem heute zu debat-
tierenden Antrag stellt die FDP einige Behauptungen und
Forderungen auf, die man sich in der Tat einmal genauer
ansehen sollte, weil darin einige grundlegende sozial- und
arbeitsmarktpolitische Vorstellungen dieser Partei sehr
deutlich werden. Das geht hin bis zu einem entwürdigen-
den Niedriglohnbereich, der sehr umstritten ist.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Lieber arbeitslos? – Gegenruf des Abg. Klaus Brandner [SPD]: Hören Sie doch erst einmal zu, Frau Schwaetzer!)


Der Hauptangriff der FDP richtet sich gegen die Neu-
regelung der geringfügigen Beschäftigung, die wir zum
April 1999 eingeführt haben. In diesem Zusammenhang
behauptet sie tatsächlich, dass durch diese gesetzliche
Neuregelung die geringfügige Beschäftigung deutlich
zurückgedrängt worden sei.


(Andrea Nahles [SPD]: So ein Quatsch!)

Diese Behauptung ist schlichtweg falsch, Frau Schwaetzer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wie sieht es denn mit der Schwarzarbeit aus? Darüber reden wir morgen früh! – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Schwarzarbeit im Umfang von 360Milliarden!)


Richtig ist, dass die geringfügige Nebenbeschäftigung
neben einem sozialversicherungspflichtigen Haupterwerb
abgenommen hat. Die ausschließlich geringfügigen Be-
schäftigungsverhältnisse haben aber zugenommen, so-
dass sich am Gesamtumfang nahezu nichts geändert hat.
Das können Sie auch in der Erhebung des Instituts für Ar-
beitsmarkt- und Berufsforschung nachlesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Die Billigjobs haben zugenommen, das stimmt!)


Von einer falschen Basis ausgehend kann die FDP
natürlich nicht zu richtigen Schlussfolgerungen kommen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Es wäre wirklich kompliziert, mit Ihnen eine vernünftige Ar beitsmarktpolitik zu machen, das ist richtig! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU], zur Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP] gewandt: Deshalb freut euch, dass wir wieder stark geworden sind!)


Sie will die Schwelle bei der geringfügigen Beschäfti-
gung von derzeit 325 Euro auf 630 Euro anheben und


(Walter Hirche [FDP]: Damit Arbeitsplätze entstehen!)


dabei die Sozialversicherungspflicht wieder gänzlich ab-
schaffen. Wenn wir das machen würden, fielen wir wieder
in den alten Auflösungsprozess bei regulären Arbeitsver-
hältnissen zurück.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Ja, 4,3 Millionen Arbeitslose! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie haben inzwischen eine reguläre Arbeitslosigkeit geschaffen! Das ist das Problem!)


– Herr Meckelburg, reden Sie doch nicht! Die Arbeitslosig-
keit im Januar 1998 betrug 4,8Millionen. Diese Zahl spricht
für sich. Stellen Sie sie bitte der Zahl von heute gegenüber.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie haben 3,9 Millionen übernommen!)


– Das stimmt nicht.
Auch Sie als Opposition müssten die negativen Aus-

wirkungen dieses Verfallsprozesses kennen: kein Sozial-
versicherungsschutz für Arbeitnehmer, Aufweichung des
Kündigungsschutzes sowie der tariflichen Bezahlung,
Mindereinnahmen in den Sozialversicherungskassen.
Vergessen Sie bitte auch nicht, dass in dieser Zeit zuhauf
abhängig Beschäftigte in die Scheinselbstständigkeit ge-
schickt wurden, die ebenfalls nicht in der Lage waren, für
ihre soziale Sicherung aufzukommen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das ist wirklich fast nicht mehr zu ertragen!)


Damit haben Sie Armut und zusätzliche Kosten für die
Gesellschaft, ganz konkret für die Sozialhilfe, produziert.

Vielleicht hätte die alte Regierung die Mindereinnah-
men in den Sozialversicherungssystemen mit Beitrags-
erhöhungen um 0,3 Prozentpunkte ausgeglichen, den wei-
teren Anstieg der Lohnnebenkosten hingenommen und
damit weitere Erschwernisse am Arbeitsmarkt in Kauf
genommen – ein Teufelskreis!


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Ach, Frau Jäger, wenn Sie das wirklich glauben! Das ist ein solcher Unsinn!)


Diesen Teufelskreis haben wir durch unsere gesetzlichen
Regelungen durchbrochen. Wir haben in diesem Bereich
des Arbeitsmarktes Recht und Ordnung wieder hergestellt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/ CSU]: Wer aus den neuen Ländern kommt, sollte die Zusammenhänge etwas anders sehen!)





Pia Maier

21659


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bereinigt um die
geringfügigen Nebentätigkeiten hat sich die Zahl der ge-
ringfügigen, nunmehr aber sozialversicherten Beschäf-
tigungsverhältnisse von 3,6 Millionen im Jahr 1999 auf
4,1 Millionen im Jahr 2001 erhöht.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Mit 8,90 DM Rente! Das ist ja wirklich toll!)


– Aber es ist wenigstens eine Rente, Frau Schwaetzer.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD], an die CDU/CSU und die FDP gewandt: Bei Ihnen ist gar nichts passiert! – Klaus Brandner [SPD]: 4,8 Millionen Arbeitslose bei Ihnen! Wären Sie drangeblieben, hätten wir jetzt 6 Millionen! Bleiben Sie einmal auf dem Teppich!)


Sie wissen genau, dass wir durch diese Regelungen
auch Einnahmen in der sozialen Rentenversicherung von
jeweils 3Milliarden DM in den Jahren 2000 und 2001 und
in der Krankenversicherung von 2,2 Milliarden DM ver-
buchen können. Für mich ist es überhaupt nicht einsehbar,
warum man das alles aufgeben und der Auflösung von so-
zialversicherten Beschäftigungsverhältnissen das Tor
wieder weiter öffnen soll.


(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])

Herr Meckelburg, nun zu Ihrem Problem mit der Über-

schreitung der 325-Euro-Grenze, das Sie angesprochen
haben. Genau diesem Grenzproblem, dass sich der Netto-
lohn bei einer geringfügigen Überschreitung aufgrund der
zu zahlenden vollen Beiträge zur Sozialversicherung trotz
Mehrarbeit verringern kann, begegnen wir mit dem Main-
zer Modell. Das sollten Sie sich einmal anschauen, dann
bräuchten Sie das hier nicht mehr zu kritisieren.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das gilt aber nur für einen sehr eingeschränkten Kreis!)


– Das Mainzer Modell steht allen Personen offen, die über
325 Euro bis 897 Euro verdienen. Es führt in sozialver-
sicherte Beschäftigungsverhältnisse.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Man muss nur vorher arbeitslos sein!)


Die Förderung wird dabei entbürokratisiert. Gefördert
werden Sozialversicherungsbeiträge und ein Kindergeld-
zuschuss. Das hat etwas mit Sozialpolitik zu tun.

Lassen Sie mich noch einige Forderungen der FDP
nennen, die wir nicht mittragen können: Das Arbeitslo-
sengeld ist zu senken, ABM und Strukturanpassungs-
maßnahmen sind einzuschränken – wohlgemerkt unab-
hängig von der Höhe der Arbeitslosigkeit –, Wahltarife
sind einzuführen,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das haben Sie ja sogar gemacht!)


das Tarifrecht soll per Gesetz geöffnet werden, das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz soll wieder aufgeweicht
werden. All das sind Maßnahmen, Frau Schwaetzer, die
ebenfalls keine Arbeitsplätze schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir das machen würden, schlügen wir den Kurs
zu einem Billiglohnsektor nach amerikanischem Vorbild
ein. Mit diesem Sektor geht die US-amerikanische Sozi-
alkritikerin Barbara Ehrenreich hart ins Gericht. Sie
schreibt: „... wenn sich ein gesunder, allein stehender
Mensch trotz zehn Stunden Arbeit am Tag kaum über
Wasser halten kann“, dann ist etwas faul. Damit hat sie
Recht.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da hat sie Recht, ja!)


Sie muss es wissen, denn sie hat Billiglohnjobs ausgeführt
und dabei Willkür, Demütigung und Entwürdigung er-
fahren.

Diesen Weg in die völlige Entsolidarisierung der Ar-
beitswelt können wir nicht mitgehen. Jeder muss eine
Chance haben, sich durch Arbeit ein würdiges Leben auf-
zubauen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Sie verhindern das doch!)


Wenn dies nicht möglich ist, muss er das Recht haben, So-
lidarität einzufordern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421813600
Frau Kol-
legin Jäger, kommen Sie bitte zum Schluss.


Renate Jäger (SPD):
Rede ID: ID1421813700
Damit bin ich bereits am
Schluss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ein Bekenntnis: Ich bin fertig! Das gilt für Sie alle!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421813800
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich von der
CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1421813900
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon ein
bisschen beschämend, dass trotz der 4,3 Millionen Ar-
beitslosen jeder neue Ansatz, Strukturen aufzubrechen
und frischen Wind in das System hineinzubringen, nie-
dergemacht wird und von Ihnen ideologische Gra-
benkämpfe geführt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Andrea Nahles [SPD]: Das sind doch keine neuen Vorschläge!)


Liebe Frau Nahles, Sie haben uns eloquent erzählt, was
Sie alles gemacht haben. Wir haben Ihnen von vornherein
gesagt: Das ist Murks und Gesetzgebungsaktionismus.
Sie haben aber nicht auf uns gehört.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist Neues an dem Antrag? – Zuruf von der SPD: Das ist Ideologie, was Sie hier machen!)





Renate Jäger
21660


(C)



(D)



(A)



(B)


Jetzt haben wir 4,3Millionen Arbeitslose. Die Realität hat
also das bestätigt, was wir Ihnen immer gesagt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe heute gehört, Frau Nahles, dass Sie Expertin

für Karl Marx sind.

(Andrea Nahles [SPD]: Dafür schäme ich mich kein bisschen! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist gerade das Problem, Frau Nahles!)


Wahrscheinlich gibt es noch einige Kollegen bei der PDS,
die sich auf diesem Gebiet ebenfalls auskennen. Selbst
Karl Marx würde die Tatsache nicht bestreiten, dass die
wichtigsten Wohlstandseffekte in allen Industriestaaten
dadurch zustande kommen, dass es die Arbeitsteilung
gibt. Ich hoffe, Sie haben diesen Begriff schon einmal
gehört.


(Andrea Nahles [SPD]: Werden Sie jetzt nicht überheblich! Das steht Ihnen überhaupt nicht!)


Unter Arbeitsteilung versteht man, dass jeder das, was er
kann, so gut wie möglich macht. Ich möchte Ihnen im Fol-
genden das Problem erklären, damit Sie es nachvollziehen
können. Frau Jäger, beim Herbert-Wehner-Bildungswerk
könnte man über diese Themen auch einmal diskutieren.

Wir haben den Prozess der Arbeitsteilung in einem
ganz wichtigen Bereich zum Erliegen gebracht, und zwar
ausgerechnet in dem Bereich, der weltweit als Jobma-
schine gilt, nämlich im Dienstleistungsbereich. Wir haben
den Prozess der Arbeitsteilung durch Überbürokratisie-
rung – das ist hier schon mehrfach gesagt worden –, durch
eine produktivitätsunabhängige Kostenbelastung der Ar-
beit und durch eine faktisch voraussetzungslose Ge-
währung von Sozialleistungen und von Transferzahlun-
gen abgewürgt und zum Stillstand gebracht.

Frau Maier, auch das muss ich sagen: Durch unser So-
zialsystem gibt es faktisch Mindestlöhne.Weil es ein be-
stimmtes Sozialhilfeniveau gibt, wird niemand unterhalb
dieses Niveaus arbeiten. Das ist auch nachvollziehbar.
Wir haben also faktisch das System der Mindestlöhne.

Sie werden nicht bestreiten, dass wir ein großes Poten-
zial von – zugegebenermaßen gering qualifizierten –
Menschen aus dem Prozess der Arbeitsteilung ausge-
schlossen haben. Das Problem ist nicht nur, dass wir auf
die Arbeitsleistung dieser gering qualifizierten Menschen
verzichten. Wir verzichten gleichzeitig darauf, die Ar-
beitsbedingungen für besser qualifizierte Menschen zu
verbessern.

Das Beispiel von der Haushaltshilfe in dem Antrag der
FDPmacht das Problem deutlich. Wenn wir nicht die Be-
dingungen dafür schaffen, dass die ungelernte Kraft in ei-
nem Haushalt einen Arbeitsplatz finden kann, dann
ermöglichen wir es der gut ausgebildeten Filialleiterin,
der Handwerkerin oder der Lehrerin nicht, in ihrem Beruf
tätig zu sein und eine höher qualifizierte Leistung zu er-
bringen,


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: So ist es!)


weil sie einkaufen und daheim kochen und waschen muss.
Sie muss also Tätigkeiten verrichten, die eigentlich je-
mand, der weniger qualifiziert ist, genauso gut machen
könnte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Denselben Effekt, wenn gleich nicht so plastisch dar-

stellbar wie das Beispiel von der Haushaltshilfe, gibt es in
der gewerblichen Wirtschaft. Ich habe bei vielen Besu-
chen von Unternehmen festgestellt, dass es in den aller-
meisten deutschen Unternehmen ohne weiteres möglich
wäre – ich wage es jetzt, eine Zahl zu nennen –, die Zahl
der Beschäftigten sofort um 10 Prozent zu erhöhen, wenn
es denn möglich wäre, ohne bürokratischen Aufwand und
in einem angemessenen Verhältnis von Produktivität zu
Arbeitskosten entsprechende Regelungen umzusetzen.
Stattdessen muss die Arbeit von denen miterledigt wer-
den, die aufgrund ihrer Qualifikation im Grunde eine viel
höherwertige Arbeit verrichten und eine höhere Produkti-
vität erzielen könnten.

Meine Damen und Herren, dieser Zusammenhang ist
auch der Grund, warum der Niedriglohnbereich für die
Frage der Mobilisierung von Wachstum eine viel größere
Bedeutung hat, als viele annehmen. Umgekehrt können
Sie dies auch daran sehen, dass sich durch die Vernichtung
Hunderttausender von Arbeitsplätzen im 630-DM-Be-
reich, also bei den geringfügigen Beschäftigungsverhält-
nissen, durch Ihre Gesetzgebung


(Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)


im Grunde genommen ein viel dramatischerer Negativ-
effekt


(Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt nicht, Herr Friedrich! Das müssen Sie noch einmal nachlesen!)


für die Konjunktur eingestellt hat, als sich dies viele vor-
her vorgestellt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen die Wachstumsbremsen beseitigen. Das

heißt: weg mit der Bürokratie, weg mit den motivations-
vernichtenden Kostenbelastungen für Arbeitgeber und
Arbeitnehmer


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

und vor allem her mit Anreizen für die Arbeitsaufnahme.


(Andrea Nahles [SPD]: Bei wem sind denn die Lohnnebenkosten gestiegen? Das war doch unter Ihrer Regierung!)


Dies gilt auch für diejenigen, die jetzt im sozialen Netz
aufgefangen werden, auf deren Leistung wir aber nicht
verzichten dürfen und nicht verzichten können.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir haben doch keine Arbeit mehr für die Leute! Da muss doch neue Arbeit her!)


Ich sehe in einem Punkt eine Differenz zu Ihrem An-
trag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, den ich
ansonsten voll und ganz unterstützen kann. Wir müssen




Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


21661


(C)



(D)



(A)



(B)


diejenigen, die heute Zahlungen aus öffentlichen Kassen
erhalten, zur Arbeitsaufnahme bewegen. Damit bin ich
einverstanden. Wir müssen Anreize für die Arbeitsauf-
nahme und umgekehrt auch Sanktionen verstärken. Auch
damit bin ich einverstanden.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP
– wenn Sie mir einen Moment zuhören, dann werde ich Ih-
nen sagen, was mir an Ihrem Antrag weniger gut gefällt –,
an einer Stelle schütten Sie das Kind mit dem Bade aus.
Sie bestrafen nämlich die eigentlichen Opfer der wirt-
schaftlichen Katastrophe, die diese rot-grüne Regierung
angerichtet hat und für die sie auch verantwortlich ist.


(Andrea Nahles [SPD]: Also wirklich! Das sind ja Plattitüden! Das ist ja nicht zu fassen!)


Es ist nicht in Ordnung – lassen Sie mich das sagen –,
wenn Sie heute einem 53-Jährigen, der seinen Arbeitsplatz
verloren hat, weil sein Unternehmen Insolvenz anmelden
musste, sagen: Jetzt bekommst du noch 12 Monate Ar-
beitslosengeld und dann musst du sehen, wo du bleibst.


(Peter Dreßen [SPD]: Das bekommt er erst mal 18 Monate!)


Ich denke, dass so etwas erst dann gerechtfertigt und fair
ist, wenn wir alle Möglichkeiten der Chancenverbesse-
rung, insbesondere für ältere Arbeitnehmer, ausgeschöpft
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Einzige, was wirklich hilft, ist der Appell an die

Tarifpartner, dass wir in dieser Richtung neue Wege ge-
hen. Es ist völliger Quatsch, sinnlos hohe Lohnforderun-
gen zu stellen. Denn die Menschen bekommen zwar ein
bisschen mehr Geld. Aber dann holt Herr Eichel es ihnen
über Abgaben und Steuern wieder aus der Tasche.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich denke, die Tarifpartner sollten sich vielmehr auf

eine Qualifikationsoffensive in den Betrieben konzen-
trieren.


(Ute Kumpf [SPD]: Es gibt Tarifverträge, Herr Friedrichs! – Gegenruf des Abg. Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann muss der Staat aber auch mit seiner Preistreiberei aufhören!)


Ich bin mir darüber im Klaren, dass dies für die Unter-
nehmen sicher eine teure Angelegenheit wird. Aber diese
Investition in Humankapital kommt den Arbeitgebern wie
den Arbeitnehmern gleichermaßen zugute.

Meine Damen und Herren, was hilft es denn dem Ar-
beitnehmer – auch das sage ich in Richtung Gewerk-
schaften –, wenn er heute 4 oder 5 Prozent mehr Lohn be-
kommt,


(Zuruf von der SPD: Beschäftigungssicherung durch Tarifverträge!)


in drei oder vier Monaten aber ohne eine Chance auf Wie-
derbeschäftigung arbeitslos ist? Besser wäre es, Arbeitge-
ber und Arbeitnehmer würden ihre Kraft und ihr Geld in
betriebsbezogene Qualifikationen investieren. Ich denke,

dann könnten sich die Arbeitgeberverbände auch ihre Arie
von der Zuwanderung sparen.

Erst dann, wenn wir einem 53-Jährigen die Chance
bzw. die Aussicht geben können, dass er, wenn er arbeits-
los geworden ist, noch einen Arbeitsplatz findet, kann
man ihm zumuten, Frau Schwaetzer, mit einer kürzeren
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auszukommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich komme zurück zum Niedriglohnbereich. Ich be-

grüße außerordentlich Ihren Ansatz, der zwar nicht weiter
ausgeführt ist, aber zumindest andeutet, die Rolle der
Kommunen bei der Arbeitsvermittlung zu verstärken.
Denn hier besteht in der Tat die Chance, dass die Arbeits-
vermittlung etwas näher an das reale Arbeitsleben und an
die Unternehmerschaft heranrückt.

Ich habe viel mit Bürgermeistern gesprochen, die im
Hinblick auf den Sozialhilfebereich Vermittler einstellen,
die in die Betriebe gehen, die auch die Zeit haben, mit den
Unternehmern darüber zu reden, was sie brauchen, wen sie
nehmen könnten, die also einen viel besseren Überblick
haben als eine sehr stark zentralisierte und mit Verwal-
tungsaufgaben überlastete Arbeitsverwaltung. In diese
Richtung sollten wir weiter überlegen. Natürlich muss
man den Kommunen – das sage ich von vornherein, damit
unsere Bürgermeister nicht erschrecken – auch das dafür
notwendige Geld geben; das wird ein wichtiger Punkt sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Jedenfalls scheint es mir richtiger und sinnvoller zu

sein, eine Strukturreform der Arbeitsvermittlung anzu-
packen, als in einem ständigen Gesetzgebungsaktionis-
mus, den Sie vonseiten der rot-grünen Koalition hier be-
treiben, weiter mit wenig leistungsfähigen oder gar nicht
mehr leistungsfähigen Strukturen zu hantieren.

Der dramatische Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit
– wir haben das vor zwei Wochen gehört – beweist ja auch,
dass Ihre viel gepriesenen Konzepte wie JUMPund was es
da alles gibt einfach an der Realität gescheitert sind, und
das müssen Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Unsere Vorschläge zur Entbürokratisierung der 630-
DM- oder der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
liegen auf dem Tisch. Wichtig ist vor allem, dass wir auch
eine Senkung der Sozialversicherungsabgaben für Löhne
über 400 Euro durchsetzen. Notwendig ist ein linearer An-
stieg, um genau das zu vermeiden, was vorhin schon an-
gesprochen worden ist – Frau Dückert, ich glaube, Sie wa-
ren es, die das angesprochen hat –, nämlich Sprünge bei
starren Obergrenzen. Solche starren Obergrenzen darf es
nicht geben. Notwendig ist ein linearer Anstieg der Belas-
tungen. Dann, denke ich, kann man auch im Bereich von
Löhnen über 400 Euro etwas bewegen.

Für den Niedriglohnbereich – da stimme ich Ihnen, Frau
Schwaetzer, zu – wird offiziell ein Potenzial von 700 000
bis 800 000 Arbeitsplätzen gesehen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Allein Sozialhilfeempfänger!)





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)

21662


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Potenzial ist, denke ich, sogar größer, wenn es uns ge-
lingt, auch die Existenzgründer im Bereich der personen-
nahen Dienstleistungen wieder stärker zu ermutigen.
Wenn es den Menschen dient, muss man notfalls auch
ideologische Grundpositionen aufgeben. Dazu rufe ich
Sie auf.

Es ist sehr bedauerlich, dass sich Rot-Grün einer ernst-
haften Debatte – das haben wir heute wieder gemerkt –
verweigert. Sie sind am Ende. Sie haben keine Konzep-
tion. Sie haben keinen Ansatz. Sie wissen nicht, wohin Sie
wollen. Sie haben keine Vision für dieses Land.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aber die lesen bei Marx nach!)


Deswegen hofft die Nation auf neue Mehrheiten im Deut-
schen Bundestag.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421814000
Das Wort
hat nun der Herr Kollege Peter Dreßen von der SPD-Frak-
tion.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1421814100
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Friedrich, ich habe mir Ihre Ausführungen
und Ihre Vorstellungen über Tarifgespräche angehört. Dazu
kann ich nur sagen: Gott sei Dank sind Sie da nicht betrof-
fen und müssen da nicht entscheiden. Die letzten
50 Jahre haben gezeigt, glaube ich, dass die Tarifpartner ver-
antwortungsbewusst gehandelt haben. Wir sind noch immer
Exportweltmeister; so schlimm können die Tarifverträge in
den letzten 50 Jahren also nicht gewesen sein. Sie können
sicher sein, dass es auch in Zukunft so sein wird.

Ernsthafte Vorschläge sind bei uns immer gut aufgeho-
ben. Sie werden durchdacht. Der FDP-Antrag „Für sub-
stanzielle Arbeitsmarktreformen im Niedriglohnsektor“
ist insofern nicht sonderlich überraschend, als wieder ein-
mal eine ganze Liste von neoliberalen Forderungen zur
Liberalisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
vorgetragen wird. Die Umsetzung solcher Forderungen
würde wohl kaum zusätzliche Beschäftigungseffekte ha-
ben, wohl aber einen Beitrag dazu liefern, dass Benach-
teiligungen und Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt
weiter zunähmen. Nichts anderes lese ich aus Ihrem An-
trag heraus.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Gucken Sie mal, wie die in Köln ihre Arbeitsmarktprobleme gelöst haben, Herr Kollege!)


Ihr Antrag ist so ein richtig bunter Mix aus Falsch-
informationen, Forderungen nach Maßnahmen, die wir
bereits durchgeführt haben, sowie Vorschlägen, die weder
eine Wende am Arbeitsmarkt herbeiführen noch über-
haupt finanzierbar sind. Über die Finanzierung machen
Sie sich überhaupt keine Gedanken. Als Opposition stel-
len Sie fleißig Anträge und fordern, diese Steuer müsse
weg oder jene Steuersenkung müsse vorgezogen werden,
aber dazu, wie das Ganze finanziert werden soll, hört man
aus der Opposition nie ein Wort.

Beim Lesen Ihres Antrags hatte ich auch den Eindruck,
dass es vonnöten ist, Sie nochmals auf die Leistungen der
Regierung aufmerksam zu machen.


(Lachen der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP])


Sie haben einige Dinge nicht richtig verstanden und Ihr
Wissen muss auch auf den aktuellen Stand gebracht wer-
den.

Wenn Sie zum Beispiel eine organisatorische Zusam-
menarbeit von Arbeits- und Sozialämtern fordern, so
muss ich Sie darauf hinweisen, dass wir mit dem Modell-
versuch MoZArT


(Karl-Josef Laufmann [CDU/CSU]: „Modell“! – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: „Modell“? Wir wollen es machen!)


bereits derzeit die verstärkte Kooperation der Ämter er-
proben. MoZArT steht für Modellprojekt zur Verbesse-
rung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe. Bundesweit werden mit rund 30 Milli-
onen DM 30 Projekte gefördert, die zum Ziel haben, mehr
Menschen in Arbeit zu bringen, Eingliederungsverfahren
effizienter zu gestalten und die Verwaltung zu vereinfa-
chen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Meckelburg und Frau Schwaetzer haben eben
wieder gesagt, wir hätten auf dem Arbeitsmarkt wenig
oder fast nichts getan. Ich will Ihnen einiges in Erinnerung
rufen.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Erst einmal: 4,3 Millionen Arbeitslose!)


Ich will vorausschicken, dass die Bundesregierung keine
Arbeitsplätze schaffen, sondern nur Rahmenbedingungen
festlegen kann. Arbeitsplätze müssen dann in den Betrie-
ben geschaffen werden. Wenn wir uns darüber einig sind,
ist das schon einmal ein Schritt nach vorne.

Was haben wir konkret getan? Wir haben durch die
Steuerreform, die Senkung der Rentenversicherungs-
beiträge sowie die Erhöhung des Kindergeldes und des
BAföGs die Kaufkraft kräftig gesteigert.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Einführung der Ökosteuer!)


Auch die Wohngeldnovelle darf man nicht vergessen.
Wenn Sie das alles zusammenzählen, Kollege Laumann,
dann kommen Sie auf 50 Milliarden Euro mehr in den Ta-
schen von Familien und Arbeitnehmern. Ihre Alternative
war doch, dass Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit
die Lohnnebenkosten von 34 auf 42 Prozent hochgejagt
haben. Wer hat denn dieses Desaster hinterlassen? Doch
nicht wir. Das waren Sie. Ihre Alternativen in Ehren, aber
sie sind nichts wert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Dafür hatten wir keine Ökosteuer!)





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


21663


(C)



(D)



(A)



(B)


Als Regularium müssen natürlich auch faire Bedin-
gungen auf dem Arbeitsmarkt herrschen. Hier haben wir
einiges getan: Wir haben den Kündigungsschutz, den Sie
und auch andere abgelehnt haben, eingeführt. Sie haben
widerrechtlich behauptet, dass die Regelungen der
630-DM-Jobs Arbeitsplätze vernichtet hätten. Sie wissen
genau, dass das Gegenteil der Fall ist.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie werden nur konkret gezählt! Nichts ist passiert!)


Wir haben mit den 630-DM-Jobs einiges erreicht. Ich
möchte darauf nicht näher eingehen. Lesen Sie bitte noch
einmal nach, was die Kollegin Nahles dazu gesagt hat.

Thema Scheinselbstständigkeit: Auch hier haben wir
versucht, wieder faire Bedingungen für Menschen zu
schaffen, die in die Armut getrieben worden waren. Das
Entsendegesetz, das Schlechtwettergeld und das Betriebs-
verfassungsgesetz sind Maßnahmen für faire Wettbe-
werbsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, mit denen wir
Erfolg hatten.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Jobkillerprogramme sind das!)


Ich denke auch an das Sofortprogramm, den Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit durch das JUMP-Programm. Sie
haben es lächerlich gemacht. Es hat aber über 400 000 Ju-
gendlichen wieder zu einer Perspektive verholfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – KarlJosef Laumann [CDU/CSU]: Da passiert doch gar nichts! Dadurch werden nur mehr junge Leute arbeitslos!)


Wir haben eine Initiative für Schwerbehinderte ge-
startet. Sie hat zwar nur einer kleinen Gruppe geholfen,
aber immerhin haben wir schon über 26 000 Schwerbe-
hinderte in Arbeit gebracht. Das Ziel, bis Ende nächsten
Jahres 50 000 Schwerbehinderte in Arbeit zu bringen,
werden wir mit unseren Aktivitäten ebenfalls erreichen.
Sie sehen: Wir haben einiges getan.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu kommt noch das Zukunftsinvestitionspro-

gramm.Auch dazu haben Sie gesagt: Das Geld sollte an-
ders eingesetzt werden. Ich muss Ihnen sagen: In meinem
Wahlkreis freuen sich zwei Gemeinden riesig darüber, dass
sie nun zwei Ortsumgehungen haben; sie haben 40 Jahre
dafür gekämpft. Sie haben das während Ihrer 16 Jahre
Regierungszeit nicht erreicht. Wir haben es nach drei Jah-
ren geschafft.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wo haben Sie denn dafür das Geld her? UMTS!)


Ich denke – auch das wird von Ihnen immer lächerlich
gemacht – an das Bündnis fürArbeit. Beim Bündnis für
Arbeit haben wir es immerhin geschafft, dass ein Ausbil-
dungskonsens und eine positive Ausbildungsbilanz er-
reicht wurden. Das haben Arbeitgeber, Gewerkschaften
und Regierung als gemeinsames Ergebnis erzielt. Auch
wurde – das war nicht so erfolgreich – der Abbau von
Überstunden vereinbart. Hier haben die Arbeitgeber zwar
zugesagt, etwas zu tun. In der Praxis haben sie leider

Gottes zu wenig getan. Aber immerhin hat man zumindest
etwas erreicht.

Dann haben wir das Teilzeitgesetz und die befristeten
Arbeitsverträge geschaffen. Auch Ihnen müsste es entge-
genkommen, dass wir dadurch mehr Flexibilität haben.
Auch die Qualifizierungsoffensive ist hier zu nennen. Ich
meine, wir haben einiges getan.

Wenn Sie sich jetzt unser neues Projekt, das Job-
Aqtiv-Gesetz anschauen, dann werden Sie erleben, dass
damit die größte Vermittlungsoffensive, die es in diesem
Land je gab, durchgeführt wird. Es ist zwar bedauerlich,
was bei der Bundesanstalt für Arbeit passiert ist. Aber ich
bin mir sicher: In zwei oder drei Wochen haben wir es mit
dem Job-Aqtiv-Gesetz in den Arbeitsämtern erreicht, dass
wir die Arbeitslosen wirklich zielgenauer, effizienter und
unbürokratischer schnell in Arbeit bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Sie sind gescheitert!)


Das Thema Arbeitsplatz hängt natürlich auch mit Bil-
dung zusammen. Wir haben das Meister-BAföG, das Sie
abgeschafft haben, wieder eingeführt, weil wir gesehen
haben, dass es 40 000 Handwerksbetriebe ohne Nachfol-
ger gibt. Es war notwendig, das Meister-BAföG wieder
einzuführen, damit auch Menschen, die nicht so viel Geld
haben, zu einem Meisterbrief kommen. Also auch dies ist
eine dauerhafte Investition.


(Beifall bei der SPD)

Letzter Punkt. Sie reden immer von innovativen Ar-

beitsplätzen. Was haben wir denn mit dem Förderpro-
gramm für erneuerbare Energien und dem 100 000-
Dächer-Programm getan? Ich will Ihnen nur in
Erinnerung rufen, wie viele Handwerker dadurch Arbeit
gefunden haben.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Deswegen steigt auch die Arbeitslosigkeit dauernd!)


Oder wenn ich an die Windkraft denke: Da arbeiten in-
zwischen 30 000 Menschen. Die Windkraftindustrie hat
heute einen so hohen Stahlverbrauch wie die gesamte
Werftindustrie.

Wenn wir die alte Politik weitergemacht hätten, wären
wir heute bei 5 bis 6 Millionen Arbeitslosen. Wenn Sie die
Bilanz hätten, die wir haben, dann würden Sie sich beim
Papst den Heiligenschein holen.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein, ganz bestimmt nicht für so einen Murks!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421814200
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8143 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.




Peter Dreßen
21664


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 g auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-

regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Anpassung bestimmter Bedingun-
gen in der Seeschifffahrt an den internationalen

(Zweites Seeschifffahrtsanpassungsgesetz – SchAnpG 2 –)

– Drucksache 14/6455 –

(Erste Beratung 182. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Hans-Michael Goldmann, Rainer
Funke, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP einge-
brachten Entwurfs eines Seeunfalluntersu-
chungsgesetzes (SeeUG)

– Drucksache 14/6892 –

(Erste Beratung 190. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/8264 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

Helmut Wilhelm (Amberg)

Hans-Michael Goldmann
Dr. Winfried Wolf

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Annette Faße, Reinhard Weis (Stendal),
Hans-Günter Bruckmann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Er-
richtung des Deutschen Binnenschifffahrtsfonds

(Binnenschifffahrtsfondsgesetz – BinSchFondsG)

– Drucksache 14/6159 –

(Erste Beratung 173. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/7882 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission für den Europäischen
Rat von Biarritz über die Gesamtstrategie der
Gemeinschaft für die Sicherheit im Seeverkehr
KOM (00) 603 endg.; Ratsdok. 11997/00
– Drucksachen 14/4945 Nr. 2.24, 14/6251 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Konrad Kunick

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christine
Lucyga, Annette Faße, Gerd Andres, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Optimierung der Ostseesicherheit im Bereich
der Kadetrinne
– Drucksachen 14/6211, 14/5752, 14/6909 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Mitteilung derKommission an das Europäische
Parlament und den Rat
Verbesserung der Dienstqualität in Seehäfen:
Ein zentralerAspekt für den europäischen Ver-
kehr
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über den Marktzu-
gang für Hafendienste
KOM (2001) 35 endg.; Ratsdok. 06375/01
– Drucksachen 14/6214 Nr. 2.2, 14/7890 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Konrad Kunick

f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Margrit Wetzel, Reinhard Weis

(Stendal), Hans-Günter Bruckmann, weiterer Ab-

geordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
ILO-Übereinkommen über die soziale Betreu-
ung der Seeleute ratifizieren
– Drucksachen 14/5247, 14/7898 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

21665


(C)



(D)



(A)



(B)


g) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer

(Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiteren

Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes über die Untersuchung von See-

(Seeunfalluntersuchungsänderungsgesetz – SeeUÄndG)

– Drucksache 14/8108 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Angelika Mertens, Parlamentarische Staatsse-
kretärin, das Wort.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421814300
Herr
Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung bekräftigt ihre Auffassung, daß
die breite Palette der teilweise gemeinsam mit den
Küstenländern eingeleiteten Vorsorge- und Bekämp-
fungsmaßnahmen die Sicherheit und den Schutz der
maritimen Umwelt in der Deutschen Bucht gewähr-
leisten.

Das war die Antwort der ehemaligen Bundesregierung auf
die Kleine Anfrage „Sicherheit in der Deutschen Bucht“
vom 28. September 1998. Die ehemalige Regierung sah
also genau einen Monat vor der „Pallas“-Havarie keine
Veranlassung, ihr maritimes Notfallkonzept zu überarbei-
ten.


(Iris Gleicke [SPD]: Hört, Hört!)

Wir haben umgehend nach der Havarie Verantwortung

für die Verbesserung der maritimen Sicherheit übernom-
men. Wir stützen uns dabei auf drei Komponenten: ein op-
timiertes Notfallmanagement, den sicheren Verkehrsweg
und das sichere Schiff. Wir haben die Empfehlungen der
unabhängigen Expertenkommission „Havarie Pallas“
unter dem Vorsitz von Senator a. D. Claus Grobecker vom
Februar 2000 als Grundlage genommen und das bisherige
Notfallvorsorgekonzept umfassend auf den Prüfstand ge-
stellt, um es, wo erforderlich, zu verbessern. Zur Bewer-
tung und Umsetzung der Empfehlungen der Experten-
kommission wurde im März 2000 eine interministerielle
Projektorganisation eingerichtet. Im November 2000 hat
die Bundesregierung ihren ersten und im Oktober 2001
ihren zweiten Sachstandsbericht dieser Projektgruppe
vorgelegt.

Dabei ist besonders hervorzuheben, dass eine Einigung
auf eine Organisationsstruktur für ein Havariekommando
erfolgte, das heißt, auf eine Struktur für eine zentrale, ein-
heitliche Einsatzleitung für alle Einsatzkräfte des Bundes
und der Küstenländer. Einsatzzentrale wird ein maritimes
Lagezentrum mit 24 Stunden Dienstbetrieb sein, das aus
dem Bereich der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des

Bundes und den Wasserschutzpolizeien der Küstenländer
aufgebaut wird. Bei einer schweren Havarie übernimmt
der Leiter des Havariekommandos die Führung des Ein-
satzes. Arbeitsstäbe für Schadstoff- und Brandbekämp-
fung, Verletztenversorgung, Bergung und Öffentlichkeits-
arbeit werden ihn beraten.

Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiff-
brüchiger, deren Arbeit ich an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich würdigen möchte, ist eine Organisation, die
sich gänzlich aus Spendengeldern finanziert. Ich kann nur
sagen: Hut ab vor dem, was die Gesellschaft zur Rettung
Schiffbrüchiger leistet.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
und die Marine werden durch Kooperationsvereinbarun-
gen in die Arbeit des Havariekommandos eingebunden.
Zurzeit werden die für die Einrichtungen des Havarie-
kommandos erforderlichen Vereinbarungen zwischen
Bund und Küstenländern abgestimmt. Ich gehe davon
aus, dass das Havariekommando voraussichtlich noch in
diesem Jahr, also in 2002, seine Arbeit aufnehmen wird.

Große Erfolge haben wir auch bei dem wichtigen
Thema Notschleppkapazität erzielt. Wir haben erreicht,
dass seit Beginn der Schlechtwetterperiode in der Nord-
see weiterhin vollständig und in der Ostsee an den Ver-
kehrsschwerpunkten, also in der Kieler Förde, im Kiel-
Ostsee-Weg und in der Kadetrinne, ausreichende
Notschleppkapazitäten zur Verfügung stehen. Damit stel-
len wir sicher, dass es keine Sicherheitslücken bei der
Notschleppkapazität in Nord- und Ostsee gibt.


(Beifall bei der SPD –Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nachdem wir Sie zu Ihrem Glück getrieben haben!)


Die laufende Charter des Hochseeschleppers „Oceanic“
endet am 15. April 2002. Wir haben Ende Januar die Aus-
schreibung für eine Anschlusscharter gestartet. Die Aus-
schreibung orientiert sich an den Zielvorgaben, die von
Experten nach neuestem Stand von Wissenschaft und
Technik formuliert worden sind. Der zu charternde
Schlepper soll diese Zielvorgaben bestmöglich erfüllen.

In absehbarer Zeit wird zusätzlich ein Interessenbe-
kundungsverfahren durchgeführt, in dem alle interessier-
ten Schleppreedereien aufgefordert werden, zur Vorberei-
tung längerfristiger Lösungen ihre Möglichkeiten zur
optimalen Notschleppversorgung in Nord- und Ostsee
und ihr Interesse daran darzulegen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Gut, dass wir uns gemeldet haben!)


Wir haben für die Ostsee den stufenweisen Ausbau der
Notschleppkapazität, die im November 2001 mit der Be-
reitstellung von zwei Schleppern in Kiel und War-
nemünde eingeleitet worden ist, planmäßig fortgesetzt.

Der sichere Verkehrsweg gehört auch zu dem, was wir
uns vorgenommen haben. Sie wissen, dass wir zur Erken-
nung und Überwachung von Schiffen die IMO gebeten




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
21666


(C)



(D)



(A)



(B)


haben – das ist auf unser Drängen zustande gekommen –,
die Einführung eines automatischen Schiffsidentifizie-
rungssystems, AIS, vorzusehen. Im Juli dieses Jahres wer-
den alle neuen Schiffe mit derartigen Systemen ausgerüs-
tet sein und bis 2008 werden alle größeren Schiffe mit AIS
nachgerüstet sein.

Ich komme zu einer weiteren Empfehlung der
Grobecker-Kommission. Sie hat 30 Empfehlungen gege-
ben; die Empfehlung 24 lautet:

Die Expertenkommission empfiehlt, unverzüglich
den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des See-
unfalluntersuchungsgesetzes... an den internationa-

(nach dem Vorbild des Flugunfall-Untersuchungsgesetzes)


In Tokio haben 22 Staaten vor kurzem ein internatio-
nales Programm zu den Qualitätssicherungsaufgaben der
Flaggenstaaten im Seeverkehr beschlossen. Dazu zählt
ausdrücklich auch die Staatenverpflichtung zur interna-
tionalen Zusammenarbeit bei der Unfalluntersuchung.

Bisher fehlen unserer Verkehrsverwaltung nahezu alle
Voraussetzungen dafür. Deutsche Untersuchungsführer
können eigentlich noch nicht einmal mit ihren ausländi-
schen Kollegen telefonieren, ohne gegen den Datenschutz
zu verstoßen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch nicht Ihr Ernst!)


Der Regierungsentwurf trennt erstmals die unabhängige,
objektive Ermittlung der Unfallursachen zum Zwecke des
Lernens und Vorbeugens von der individuellen Fehleran-
lastung und dem Patententzug. Hierfür gibt es weder nach
dem internationalen Standard noch nach dem deutschen
Verfassungsrecht eine Alternative. Sie wissen, dass die
Seeämter Behörden sind und nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes nicht unabhängig tätig
sein dürfen, wie es für die Unfalluntersuchung unerläss-
lich ist. Damit würden sie gegen das Demokratiegebot
verstoßen.

Der Gesetzentwurf,

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist Schrott!)


den wir vorlegen, greift auf Bewährtes zurück. Bei der Ei-
senbahn wird seit hundert Jahren und beim internationa-
len Luftverkehr seit einem halben Jahrhundert so unter-
sucht. Alle Bundesländer verfahren in dieser Weise und
die IMO hat das Verfahren des Luftverkehrs auf den See-
verkehr übertragen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421814400
Frau
Staatssekretärin – –

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421814500
Ich
komme zum Schluss.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421814600
Eigent-
lich müssten Sie zum Schluss kommen. Erlauben Sie zu-

vor aber noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421814700
Ja,
Herr Koppelin.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421814800
Bitte
schön, Herr Koppelin.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1421814900
Frau Staatssekretärin, hal-
ten Sie es auch mit der Demokratie für vereinbar, dass die
Presse und die Öffentlichkeit aus dem Verfahren ausge-
schlossen werden, wie Sie es jetzt vorgesehen haben?


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt ja gar nicht! Das ist nicht wahr!)


A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421815000
Der
Fehler, den auf der rechten Seite des Hauses alle machen,
ist folgender: Sie unterscheiden nicht genügend. Auch
Seeamtsverhandlungen werden weiterhin öffentlich statt-
finden können.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen einfach nicht unterscheiden. Das ist das Pro-
blem in Ihrer Argumentation, in der Sie auch von interes-
sierter Seite unterstützt werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Von allen! Das ist Ihr Problem!)


Sie müssen einfach zwischen dem unterscheiden, was
dem Vorbeugen und Lernen gilt, und dem, was zum Pa-
tententzug führen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: 10 Prozent der Fälle! Das wissen Sie doch!)


Wenn Sie darüber noch einmal nachdenken oder wenn wir
darüber noch einmal reden,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das hätten Sie mit uns tun können! Das haben wir oft angeboten!)


dann werden Sie diesen Unterschied feststellen und hof-
fentlich dem, was an der Küste verbreitet wird, keinen
Glauben mehr schenken.

Dieses Gesetz, das wir jetzt vorlegen, ist ein Schutz für
die Seeämter.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach du grüne Neune!)


– Es ist ein Schutz für die Seeämter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens

21667


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Seeämter sind darin ausdrücklich festgeschrieben. In-
sofern sollten Sie bitte davon Abstand nehmen, an der
Küste zu verbreiten, die Seeämter würden geschlossen.
Das ist nicht der Fall. Ich bin, wie gesagt, jederzeit bereit,
mit Ihnen darüber auch noch einmal einen kleinen Dis-
kurs zu machen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das haben Sie ein halbes Jahr nicht getan! Das brauchen Sie jetzt auch nicht!)


Diese Unterscheidung aber zwischen dem Patentent-
zug und dem, was wir mit diesem Gesetz beabsichtigen,
also auch den internationalen Anschluss zu finden, bitte
ich zu treffen. Wir liegen in dieser Frage wirklich auf ei-
nem Platz ganz hinten. Mit diesem Gesetz werden wir
wieder an den internationalen Standard anknüpfen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421815100
Frau Kol-
legin Mertens, erlauben Sie eine weitere Frage des Kolle-
gen Koppelin?

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421815200

Bitte, Herr Koppelin.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1421815300
Frau Staatssekretärin, wür-
den Sie, da Sie gesagt haben, dass unsere Argumentation
falsch sei, behaupten, dass die norddeutschen Küstenlän-
der einschließlich der Sozialdemokraten in diesen Län-
dern der Opposition auf den Leim gegangen sind?

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421815400
Da
unterscheiden Sie meines Erachtens auch nicht richtig.
Der Bundesrat hat dieses Gesetz ausdrücklich begrüßt.
Das ist die Grundlage, auf der wir auch mit den Bundes-
ländern diskutieren. Dass es in der einen oder anderen
Frage vielleicht ein paar Unterschiede gibt, ist in diesem
Fall relativ unerheblich. Der Bundesrat hat diesen Ge-
setzentwurf begrüßt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421815500
Jetzt bitte
ich aber, zum Schluss zu kommen.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421815600
Ja,
ich komme zum Schluss.

Die Bundesregierung nimmt die Sorgen der Bürgerin-
nen und Bürger an der Nord- und Ostsee sehr ernst. Des-
halb steht die Sicherheit für die internationale Schifffahrt
in Nord- und Ostsee im Bereich unserer Hoheitsgewässer
im Zentrum unserer politischen Zielsetzungen. Ich sage
noch einmal: Wir haben mit dem SeeUG wieder den Stan-
dard erreicht, den uns andere vorgegeben haben. Mit AIS
und mit Notschleppkapazitäten setzen wir Standards. Ich

denke, das, was wir gemacht haben, kann sich mehr als se-
hen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421815700
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Adam
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Ulrich Adam (CDU):
Rede ID: ID1421815800
Frau Staatssekretärin, Sie
haben eben beschrieben, dass die Öffentlichkeit zukünftig
nicht außen vor ist. Dann würde ich Sie aber noch fragen,
warum der Deutsche Journalisten-Verband Mecklenburg-
Vorpommern mir ein dringendes Schreiben genau mit
dem Inhalt schickt,


(Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bestellt!)


– dies ist nicht bestellt! –, dass man das befürchtet.
Ich will Ihnen noch eines sagen: Ich habe mich in die-

sem Zusammenhang jetzt bewusst gemeldet,

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ich dachte, das wäre unbewusst geschehen!)

weil wir im Augenblick im Petitionsausschuss einen Fall
auf dem Tisch haben, nämlich das Seeunglück der „Be-
luga“ vor – fast auf den Tag genau – drei Jahren, den wir
nur deswegen auf dem Tisch haben, weil Journalisten sich
darum gekümmert und nicht das akzeptiert haben, was
Seeämter getan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen halte ich es schon für wichtig, wenn hier da-

rüber gesprochen wird. Ich bitte Sie, das zu erklären.

(Annette Faße [SPD]: Das machen wir!)


Denn gerade bei solchen Fällen haben zumindest die
Hinterbliebenen ein Anrecht darauf, alle Möglichkeiten
wahrnehmen zu können, dass sie über das Schicksal ihrer
verunglückten Männer genau Bescheid wissen, dass alles
ausgeschöpft ist. Es darf jetzt nicht die Möglichkeit außen
vor bleiben, dass Journalisten sich darum noch kümmern
können. Die schreiben darüber doch nicht aus reinem
Übermut heraus, sondern haben gute Gründe dafür. Inso-
fern ist, so meine ich, auch unsere Kritik an dieser Sache
gerechtfertigt.

Ich erwarte, dass das entsprechend geändert wird.
Denn das sind wir gerade denen schuldig, die letztendlich
an diesen Unglücken zu tragen haben. Das sind in jedem
Fall und im speziellen Fall der „Beluga“ die Hinterblie-
benen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421815900
Frau
Staatssekretärin, wollen Sie erwidern? Bitte schön.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1421816000
Jour-
nalisten sind sicherlich manchmal kluge Leute, aber in
diesem Falle sind Sie auf dem Holzweg. Ich sage noch




Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens
21668


(C)



(D)



(A)



(B)


einmal: Die Seeamtsverhandlungen werden weiterhin
stattfinden.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und öffentlich sein!)


Wie bei der Flugunfalluntersuchung, wie bei der Ei-
senbahn geht es hier darum, dass wir diese Unfälle unter-
suchen und aus ihnen lernen. Alles, was zivilrechtlich da-
hinter steht, wird weiter so gemacht, wie es nach Recht
und Ordnung geschehen muss. Die Seeämter werden auch
weiterhin Patententziehungen vornehmen. Ich bin
manchmal ganz verzweifelt, weil überall auf der Welt an-
ders verfahren wird und nur wir uns mit unseren Verfah-
ren total abgekoppelt haben.

Ich sage noch einmal: Ein Seeamt ist eine Behörde und
darf nach dem Grundgesetz sowie der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts nicht unabhängig agieren.
Ich glaube, der große Unterschied in der Argumentation
zwischen uns liegt darin, dass Sie das einfach nicht wahr-
haben wollen. Ich kann auch verstehen, dass die Seeämter
vielleicht um ihren Bestand fürchten. Aber das ist nicht
das Problem. In dem Entwurf des SeeUG ist ausdrücklich
festgelegt worden, dass die Seeämter weiterhin ihren Auf-
gaben nachkommen sollen. Diese liegen zum Beispiel
auch beim Patententzug.

Ungewöhnlich ist – man kann das an dieser Stelle auch
einmal sagen – die Tatsache, dass das Verfahren immer öf-
fentlich stattgefunden hat. Wenn Sie beispielsweise Ihren
Führerschein verlören und es gäbe eine Verhandlung da-
rüber, dann würden Sie sich wundern, wenn 150 Leute im
Publikum säßen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau das findet weiter öffentlich statt!)


– Es sei denn, jemand macht von seinem Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung Gebrauch.

Wir befinden uns wirklich auf sehr sicherem Gebiet.
Insofern können Sie Ihrem Journalistenverband sagen,
dass er auch weiterhin Seeamtsuntersuchungen mit Pa-
tententzug erleben wird. Er wird auch die Erkenntnisse ei-
ner unabhängigen Unfalluntersuchung verwerten und da-
rüber diskutieren können. Die zivilrechtliche Ebene muss
davon getrennt werden; das ist eine völlig andere Sache.
Wir diskutieren über die Materie seit eineinhalb Jahren.
Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass man solche Pro-
bleme bereits am Anfang hätte klären können. Dann
wären Sie auch nicht in die falsche Richtung gelaufen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Walter Hirche [FDP]: Das Protokoll dieser Debatte wird an der Küste Entzücken verbreiten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421816100
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von der
CDU/CSU-Fraktion.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1421816200
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn
man den Gesetzentwurf ganz genau liest, kommt man zu

einer anderen Auslegung als der, wie sie von der Parla-
mentarischen Staatssekretärin vorgenommen worden ist.
Dieser Gesetzentwurf ist kein Schutz für die Seeämter,
sondern eine Schande für die Demokratie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will das auch genau begründen.
Heute brennen an der Nordsee die traditionellen Bijke-

Feuer, mit denen in alter Zeit die Winterstürme ausgetrie-
ben und die Walfänger zu ihrer Frühjahrsfahrt verab-
schiedet wurden. Doch die Bevölkerung ist zornig. An
Nord- und Ostsee läuft man Sturm gegen einen Gesetz-
entwurf, den niemand will und der heute von Rot-Grün
durchgepeitscht werden wird. Die geballte Bürgerwut
richtet sich gegen einen Bodewig-Gesetzentwurf, der als
fachlich falsch, zeitlich unpassend und inhaltlich anti-
demokratisch angesehen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der vorliegende Entwurf eines Seeunfalluntersu-

chungsgesetzes schließt in Zukunft die Öffentlichkeit
weitgehend von Seeamtsverhandlungen aus,


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Auch durch ständige Wiederholungen wird das nicht wahrer!)


verlagert die Fachaufsicht auf die Bundesbehörde, er-
möglicht die Weitergabe aller personengeschützten Daten
und schafft das Widerspruchsverfahren ebenso ab wie die
Einbeziehung von ehrenamtlichen Fachleuten.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist doch falsch!)


Der Gesetzentwurf verstößt gegen den Grundsatz der
Transparenz bei der Untersuchung von Seeunfällen, bei
denen der Staat oder eine Behörde eine Mitschuld tragen.
Der Angeklagte ist in Zukunft sein eigener Richter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Gesetzentwurf verstößt gegen die Pressefreiheit,

weil aus den bisher öffentlichen Seeamtsverhandlungen
jetzt behördeninterne Verfahren werden.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt verstehe ich endgültig nichts mehr! Wir reden, glaube ich, über ein anderes Gesetz!)


Den Journalisten ist es in Zukunft weitgehend verboten,
an Seeamtsverhandlungen teilzunehmen.

Außerdem verstößt der Gesetzentwurf gegen den Per-
sönlichkeitsschutz. Kommt es zu einem Seeunfall und
wird ein Matrose oder ein Offizier beschuldigt, können sie
sich nicht mehr öffentlich dagegen wehren.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber selbstverständlich! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das steht doch drin! § 29! Das musst du lesen, Helmut!)





Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens

21669


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Verhandlungen erfolgen hinter verschlossenen Türen.
Auch wenn der Beschuldigte schuldlos ist, den Makel
behält er. Dem Rufmord sind Tür und Tor geöffnet. Recht
hat in Zukunft nur noch die Behörde.

Das Gesetz verstößt gegen eine Reihe grundsätzlicher
Prinzipien unserer Demokratie.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)

Deshalb kämpfen aufrechte Demokraten wie Hans von
Wecheln von der Schutzgemeinschaft Deutsche Nord-
seeküste, Fachleute von Nord- und Ostsee sowie Verbände
gegen dieses Kritikverhinderungsgesetz von Rot-Grün.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gewerkschafter und Greenpeace protestieren dagegen.
Die Lotsenkammer, die Reeder, die Nautischen Vereine,
die Schiffsingenieure, die Seglerverbände, die Wasser-
schutzpolizei,


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Die Schwimmbäder!)


Betriebs- und Personalräte aus der maritimen Wirtschaft,
Umweltschützer, Fischer und auch die norddeutschen
Journalistenverbände protestieren dagegen. Obwohl sich
unter dieser geballten Front von Küstenkritikern Sympa-
thisanten der Koalition befinden, lässt Bundesminister
Kurt Bodewig dieser Protest völlig kalt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Diese Kaltschnäuzigkeit im Umgang mit kritischen
Bürgern gilt auch für Teile der SPD und der Bündnisgrü-
nen. Keine Anregung, kein Ratschlag von uns – so ein
Sprecher der „Aktionskonferenz Nordsee“ – wurde von
Bodewigs Ministerium oder von SPD und Grünen akzep-
tiert. Zweimal standen wir als Bittsteller vor verschlos-
senen Türen. Dieser außergewöhnliche Vorgang lässt
nach den Beweggründen des Bundesverkehrsministers
Bodewig fragen. Warum soll hier ein Gesetz in undemo-
kratischer Weise mit der Brechstange durchgesetzt wer-
den?


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist hier undemokratisch?)


Zuerst einmal geht es um das Reformgesetz des Minis-
ters. Mit diesem Gesetz werden die Seeämter von
Emden, Bremerhaven, Hamburg und Rostock im Prinzip
aufgelöst und das Seeamt Kiel verkleinert.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie behalten ihre Befugnisse wie bisher!)


Es bleibt das Oberseeamt in Hamburg, das in Zukunft für
die Seeamtsverhandlungen zuständig sein wird – unter
Ausschluss der Öffentlichkeit. Jetzt kommt es: Die Auf-
sicht über dieses Amt übt das Berliner Bundesverkehrs-
ministerium aus.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!)

Verwaltungstechnisch ist das Hamburger BSU beim

Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie angesie-
delt. Auch diese Behörde wiederum ist Berlin unterstellt.
Reformziel erreicht, kann Bodewig dem Bundeskanzler

melden: mehr Zentralisierung, weniger Personal und dop-
pelte Abhängigkeit der neuen Behörde vom eigenen Mi-
nisterium.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Einen weiteren Beweggrund dieser eiskalten Seeamts-

reform sehen die Küstenkritiker in der Tatsache, dass sich
nach der Havarie der „Pallas“ Seeämter, also Behörden-
vertreter, erdreistet haben, ebenso wie viele Fachleute
Kritik an dem dilettantischen Krisenmanagement von
Rot-Grün in Kiel, aber auch am Berliner Ministerium zu
üben. Der schleswig-holsteinische Journalistenverband
spricht mit Recht von einer Lex „Pallas“, die heute ver-
abschiedet werden wird. Gleichzeitig wird in diesem
Transparenzverhinderungsgesetz eine Mauer des Schwei-
gens um das zukünftige Havariekommando errichtet. Da-
mit wird verhindert, dass mögliche zukünftige Behörden-
fehler aufgedeckt werden, wie Greenpeace heute noch
einmal öffentlich angeprangert hat.

Noch nie hat diese Bundesregierung eine so klare Aus-
sage zu ihrem politischen Grundverständnis getroffen wie
in der Begründung für das neue Seeunfalluntersuchungs-
verfahren. Darin heißt es wörtlich, dass eine öffentliche
Verhandlung Ausdruck einer – jetzt kommt es –

von alters her überkommenen, staatlich geordneten,
als konfrontativ verstandenen Streitkultur

ist. Ich wiederhole: Die Bundesregierung, Frau Staatsse-
kretärin, hält ein transparentes öffentliches Verfahren für
das Instrument einer überkommenen Streitkultur. Das
steht in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, abenteuerlich! – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist antidemokratisch!)


Ich bin tief enttäuscht, dass Kollegen von den Sozial-
demokraten und den Grünen, die ich sehr schätze, heute
ihre Hand für diesen Gesetzentwurf heben werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, traurig!)

Schließlich – daraus ergibt sich ein drittes Motiv – hat

Bundesverkehrsminister Bodewig seine Sparbringschuld
gegenüber dem Bundesfinanzminister noch nicht erfüllt.
Es ist aufmerksamen Gewerkschaftern zu verdanken,
dass im Spätsommer vergangenen Jahres die Pläne des
Bundesministers für einen radikalen Stellenabbau von
6 200 Planstellen im Bereich der See- und Wasserbe-
hörden bekannt wurden.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat aber mit dem Seeunfalluntersuchungsgesetz gar nichts zu tun!)


Durch Privatisierung von Diensten, Ausgabenverlagerung
und Abbau von Arbeitsplätzen will Bodewig sein ehrgei-
ziges Ziel durchsetzen. Zwar hat ihn der Protest der Perso-
nalräte derzeit einknicken lassen. Doch die Gutachten ha-
ben ihre Aktualität nicht verloren. Die jetzt beginnende
personelle Entleerung der Seeämter wird von Gewerk-
schaftern als Anfang des größten Personalabbaus in der
Geschichte des Bundesverkehrsministeriums gesehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)





Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

21670


(C)



(D)



(A)



(B)


Auch wenn Bodewig seine Pläne zurzeit in der Schublade
hat verschwinden lassen: Unruhe, Besorgnis und Ängste
an der Küste sind gewachsen.

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich,
warum SPD und Grüne mit Hast und Hetze den vor-
liegenden Gesetzentwurf durchpeitschen.


(Susanne Kastner [SPD]: Oh! Oh!)

Man will nämlich vor dem Wahlkampf Ruhe an der Küste
haben. Kennzeichnend für diese Strategie von Rot-Grün
ist ein Vorgang, der sich im federführenden Verkehrsaus-
schuss abgespielt hat und den die Öffentlichkeit ruhig er-
fahren sollte: Änderungsanträge mit einem Umfang von
fast 50 DIN-A-4-Seiten wurden uns am Beginn der Aus-
schusssitzung auf den Tisch geknallt. Trotz der Bitte von
CDU/CSU, FDP und PDS, die Debatte so lange zu ver-
schieben, bis man die Vorlagen gelesen habe, haben Sie
Ihre Mehrheit rücksichtslos genutzt, um eine Behandlung
der entsprechenden Punkte zu verhindern.


(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Unerhört! – Undemokratisch!)


Dafür bestand weder eine zeitliche noch eine sachliche
Notwendigkeit. Das, was hier mit den Abgeordneten der
Opposition getrieben worden ist, war in höchstem Maße
unkollegial. Ich habe mich richtig getroffen gefühlt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist gegen jede parlamentarische Kultur, so mit der Op-
position zu verfahren.

Auch aus den Reihen der Sozialdemokraten gibt es
Widerstand gegen das SeeUG. Ich gehe davon aus, dass
er echt ist und keine Alibifunktion hat. So teilte der aus
Schleswig-Holstein stammende Kollege Opel in einem
Rundbrief, der an viele Verbände ging, mit, ihn bedrücke
die Tatsache, dass alle Bundesländer, insbesondere die be-
troffenen Küstenländer, gegen das Gesetz seien, Frau
Staatssekretärin, und dass es bisher strikt vermieden wor-
den sei, einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubrin-
gen, der eindeutig auf die Ablehnung der betroffenen
Bundesländer stoße. Doch das geschieht heute! Vorletzten
Monat hat sich die rot-grüne Koalition in Schleswig-
Holstein und gestern hat sich die große Koalition in
Bremen gegen das Gesetz entschieden, und zwar mit
großer parlamentarischer Mehrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421816300
Herr Kol-
lege Börnsen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Weis?


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1421816400
Nein,
ich möchte im Zusammenhang vortragen.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das stimmt nicht! Die Frage will er sich nicht stellen lassen! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr habt euch nie bemüht, Gemeinsamkeit herzustellen, auch Sie nicht, Herr Kollege!)


Die Stellungnahme des Bundesrates ist eindeutig: Der
vorliegende Gesetzentwurf ist nicht vertretbar; denn im
Kern bleibt dieser Entwurf bei seinem für jeden Demo-
kraten unvertretbaren Ansatz der Geheimhaltung.

Ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion lehnt den vorliegenden Entwurf eines Seeunfallun-
tersuchungsgesetzes ab, weil das bisher unabhängige, öf-
fentlich tagende Seeamtsgericht zugunsten eines internen
Behördenverfahrens abgeschafft werden soll, weil hoch-
kompetente Fachleute wie Kapitäne, Lotsen und Rechts-
anwälte aus dem Ehrenamt zugunsten weisungs-
gebundener Behördenbeauftragter ausgesperrt werden
sollen, weil die bisherigen Sofortmaßnahmen der See-
ämter wie zum Beispiel Patententzug bei Trunkenheit von
Steuerleuten zugunsten eines bis zu zwölf Monaten dau-
ernden bürokratischen Verfahrens abgeschafft werden
sollen,


(Annette Faße [SPD]: Das ist falsch! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Doch, das stimmt, Frau Faße!)


weil auf der Basis von Seeamtssprüchen, die bisher in
70 Prozent der Fälle zu außergerichtlichen Vergleichen
geführt haben, eine Einigung nicht mehr möglich sein soll
und weil es jetzt zu langwierigen Verhandlungen vor den
Zivil- und Strafgerichten kommen wird.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist rechtsstaatlich!)


Alles wird wesentlich teurer und komplizierter. Das sagen
die Reeder, die Hafenlotsen, die Fachleute von Green-
peace und die Betriebsräte.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Die haben ein besonderes Interesse! Das wissen wir doch!)


Die Versicherungskosten werden steigen. Das sagen die
Vertreter der Kleinschifffahrt. Alle befürchten eine Ruf-
schädigung durch unkontrollierbare Verfahren. Nur das
Bundesverkehrsministerium behält in Zukunft stets eine
weiße Weste.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, über den die Öf-
fentlichkeit ständig falsch informiert worden ist. Aus-
gangspunkt der Gesetzesinitiative ist die EG-Richtlinie
1999/35, die die Mitglieder der IMO verpflichtet, den
Code A849 (20) bei der Untersuchung von Schiffsunfällen
anzuwenden. Andere EU-Länder haben mit einer Rechts-
anpassung darauf reagiert. Auch das wäre bei uns durch die
Änderung von zwei Paragraphen möglich gewesen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ganz einfach! – Annette Faße [SPD]: Nein!)


Ohne aufwendiges Gesetz wäre das bei uns machbar.

(Annette Faße [SPD]: Falsch!)


So sehen es die Bundesländer, so sah es die Mehrzahl der
Rechtsexperten bei der öffentlichen Anhörung.

Doch das Verkehrsministerium produziert 26 Seiten
mit neuen Paragraphen allein mit dem Ziel, die bestehen-
den Seeämter zu disziplinieren und die Beachtung, die die
Öffentlichkeit Seeamtsverhandlungen widmet, zu mini-
mieren, wohl wissend, dass vonseiten der EU ein eigenes




Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


21671


(C)



(D)



(A)



(B)


Verfahren vorbereitet wird. Aber anstatt abzuwarten – wie
der Reederverband geraten hat –, wird stur dem Eigenin-
teresse des Bodewig-Ministeriums gefolgt. Auch der
heute hier vorliegende Gesetzentwurf der Union geht von
der Notwendigkeit einer Veränderung aus.

Wir schlagen eine unbürokratische Anpassung an die
EU-Norm vor. Mit diesem Ansatz erreichen wir, dass Ha-
varieverhandlungen weiterhin öffentlich stattfinden und
die Strukturen demokratisch bleiben. Täglich sind folgen-
schwere Unfälle auf See möglich. Allein in der Deutschen
Bucht verkehren pro Jahr über 80 000 große Boote, in der
Kadetrinne, in diesem gefährlichsten Bereich der Ostsee,
60 000. Das heißt, wir haben immer wieder mit neuen Ri-
siken zu tun. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die
Risiken abgebaut werden und Strukturen geschaffen wer-
den, aus denen klar hervorgeht, dass Vorsorge von den po-
litisch Handelnden als wichtigste Maßnahme angesehen
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen deshalb, dass die riesigen Lücken, die noch
weiterhin bestehen, geschlossen werden.

Schwerpunkt der maritimen Strategie muss die Unfall-
vermeidung und nicht die Unfallnachsorge sein.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Machen wir durch unser Gesetz!)


Das im Sommer konzipierte Havariekommando ist ein
erster Schritt, erfüllt jedoch nicht die notwendigen Anfor-
derungen, die für ein maritimes Sicherheitskonzept aus ei-
nem Guss erforderlich sind. Deshalb hält die Union an ih-
rer Forderung nach einer nationalen Küstenwache mit
einheitlicher Führung und einem übergreifenden Hand-
lungskonzept fest. Das Havariekommando steht nur in ei-
nem konkreten Havariefall unter einheitlicher Führung,
sonst nicht. Kontraproduktiv ist, dass die Landesbehörden
und die Bundesmarine außen vor gelassen werden. Auch
die Einbeziehung der SAR-Hubschrauber, der Ölauf-
klärungsflugzeuge und der Ölauffangschiffe der Bundes-
marine erfolgt nicht. Erst wenn das alles in einem Zusam-
menhang gesehen wird und entsprechende Regelungen
getroffen werden, halten wir die Vorsorgemaßnahmen für
effektiv. Die über 100 Boote des Bundes fallen immer
noch in die Zuständigkeit von fünf verschiedenen Minis-
terien und Behörden. Deshalb bleibt es dabei, dass immer
noch ein Risiko bleibt, wenn wir nicht eine Krisenmana-
gementzentrale aus einem Guss und mit einer Zielrich-
tung schaffen.

Handlungsdruck kommt unter anderem vom Bundes-
rechnungshof und vom Haushaltsausschuss des Deut-
schen Bundestages. Alle sagen, dass die Seedienste kon-
zentriert werden müssen. Handlungsdruck kommt auch
von der EU: Beide, das Parlament und die Kommission,
wollen eine europäische Küstenwache. Doch diese Küs-
tenwache kann nur dann geschaffen werden, wenn vorher
eine nationale See- und Küstenwache geschaffen wurde.
Mit dem Havariekommando wird das nicht möglich.


(Annette Faße [SPD]: Ist der erste Schritt in die richtige Richtung!)


Es stellt nur einen ersten Schritt dar und ist aufgrund der
fehlenden Einheitlichkeit keine Voraussetzung dafür.


(Beifall des Abg. Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU])


Was muss man tun? Man muss dafür sorgen, dass durch
eine Grundgesetzänderung endlich die auf eine Vielfalt
von Behörden verteilte Kompetenz zusammengefasst
wird. Davor hat man sich bisher immer gedrückt,


(Annette Faße [SPD]: Ihr auch!)

obwohl sich inzwischen die Parlamente in Niedersachsen,
in Schleswig-Holstein und in Mecklenburg-Vorpommern
dafür ausgesprochen haben. Man hätte nach der „Pallas“-
Katastrophe wirklich anders reagieren und Nägel mit
Köpfen machen müssen. Stattdessen kommt man nicht
über erste Schritte zur Erreichung wirklich guter Ziele hi-
naus.


(Annette Faße [SPD]: Sie haben ja gar keinen Handlungsbedarf gesehen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421816500
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1421816600
Ich
komme zum Schluss.

In dieser Situation – das wird auch durch die heutige
Abwesenheit des Bundesverkehrsministers deutlich –
wird das Seeunfalluntersuchungsgesetz viel wichtiger
– das haben auch die Ausführungen der Staatssekretärin
gezeigt – als ein praktikables Konzept zur Vorbeugung
von Schiffsunfällen mit einem Notfallmanagement aus ei-
ner Hand.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421816700
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Herr Kollege Börnsen, über weite Strecken Ihrer
Rede hatte ich den Eindruck, dass Sie von einem völlig
anderen Gesetzentwurf als von dem gesprochen haben,
der heute auf der Tagesordnung steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wie so oft: Ein Blick ins Gesetz fördert die Rechts-
kunde. Auch und gerade im Bereich der Seefahrt muss die
Tätigkeit des Gesetzgebers darauf ausgerichtet sein, die
deutsche Rechtslage neuen, aktuellen Entwicklungen und
Standards ebenso wie internationalen Anforderungen an-
zupassen. Die Bundesregierung setzt sich im Rahmen der
Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, IMO, aktiv
für die ständige Verbesserung der Seeschifffahrt ein. Da-
rum wird heute der präventive maritime Umweltschutz




Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

21672


(C)



(D)



(A)



(B)


verbessert und etwas für die Umsetzung der europaweiten
Sicherheitsanforderungen getan.

Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist insbesondere die
Unfallverhütung. Die Bevölkerung und die Natur der Küs-
ten sollen zukünftig effektiver als bisher geschützt werden
können. Darum muss die Frage der persönlichen Vor-
werfbarkeit in Bezug auf einen Unfallhergang von der
systematischen, objektiven Unfalluntersuchung und den
Lehren, die daraus zu ziehen sind, getrennt werden.

Der Gesetzentwurf sieht daher eine Reform der Seeun-
falluntersuchung nach internationalem Standard vor. Er
trennt erstmals die objektiven Ermittlungen der Unfallur-
sachen – zuständig hierfür ist zukünftig eine unabhängige
und weisungsungebundene Bundesstelle – von der indivi-
duellen Verantwortlichkeit und dem damit unter Umstän-
den verbundenen Entzug der Patente, wofür weiterhin die
Seeämter zuständig sind.

Das Verfahren vor den Seeämtern bleibt, wie es ist: Es
bleibt öffentlich, wenn nicht – das ist eine datenschutz-
rechtlich notwendige Neuerung – die betroffene Person,
um deren Patent und damit berufliche Zukunft es geht, be-
antragt, die Öffentlichkeit auszuschließen. Gegen die Ent-
scheidung des Seeamtes kann Widerspruch bei der Was-
ser- und Schifffahrtsdirektion Nord eingelegt werden.
Hiergegen ist wiederum die Klage vor dem Verwaltungs-
gericht zulässig. Dort ist das Verfahren dann natürlich,
wie bei jedem anderen Gericht, ebenfalls öffentlich.
Sämtliche Seeämter bleiben erhalten. Sie haben auch
künftig das zu klären, was bereits heute ihre Aufgabe ist.
An der Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums
ändert sich durch den Gesetzentwurf ebenfalls nichts We-
sentliches.

Ich will die Arbeit der Seeämter an dieser Stelle aus-
drücklich loben. Sie haben ihre Unfalluntersuchungsauf-
gaben – gerade mithilfe des Sachverstands von ehrenamt-
lichen Beisitzern – bislang in guter Art und Weise erledigt.
Für die neue Bundesstelle sehe ich demgegenüber aller-
dings noch deutlich bessere Möglichkeiten bei der Un-
falluntersuchung. Die Vorteile gegenüber den Seeämtern
liegen zum einen in ihrer Unabhängigkeit und zum ande-
ren in ihrer internationalen Untersuchungsbefugnis.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Welches Seeamt soll international untersuchen?)


Weit über die persönliche Anhörung hinaus können im
Rahmen der Untersuchung Praktiker und Wissenschaftler
nach Wahl dieser Behörde als Sachverständige hinzuge-
zogen werden.

Das Unfalluntersuchungsverfahren der Bundesstelle
wird nicht öffentlich sein. Das ist gewollt und wegen des
Untersuchungsvorgangs praktisch auch nicht anders
denkbar. Auch das Eisenbahn-Bundesamt, die Polizei und
die Staatsanwaltschaft untersuchen nicht öffentlich. Aus
praktischen Gründen können sie das nicht.

Genauso verhält es sich bei dieser Behörde. Die
Behörde untersucht zukünftig weltweit Unfallszenarien
vor Ort und kraft eigener Untersuchungszuständigkeit,
wenn deutsche Schiffe oder deutsche Bürger beteiligt
sind. Bisher ist das nur begrenzt möglich.

Die weisungsunabhängige Behörde soll neben der um-
fassenden Unfalluntersuchung auch Vorschläge – das ist
das Entscheidende, meine Damen und Herren – zur
zukünftigen Unfallvermeidung unterbreiten. Der Bericht,
den die Bundesstelle erarbeitet, hat den Sinn und Zweck,
gerade die Öffentlichkeit über den Unfall und über mög-
liche Präventionsmaßnahmen zu unterrichten. Der Be-
richt soll Fakten liefern, die in erster Linie die Politik un-
terstützen sollen, um geeignete Gegenmaßnahmen
beschließen zu können.


(Iris Gleicke [SPD]: So ist es!)

Der Gesetzentwurf entspricht damit voll dem 1998 in die-
sem Haus einstimmig verabschiedeten Flugunfalluntersu-
chungsgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das neue Verfahren greift auf Bewährtes zurück. Bei
der Eisenbahn wird seit über 100 Jahren so untersucht, im
internationalen Luftverkehr ist es seit mehr als 50 Jahren
Praxis. Dazu gibt es meines Erachtens auch bei der See-
schifffahrt keine stichhaltige Alternative.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421816800
Das Wort
hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von der FDP-
Fraktion.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1421816900
Ob Sie hinterher
noch etwas zu Lachen haben, wage ich sehr zu bezwei-
feln. Lächerlich ist die Sache sicherlich nicht.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Geschätzte Kollegin Mertens, die FDP ist für
Sicherheit auf See; dafür hat sie eine Menge getan. Wenn
Sie all die Dinge zusammenfügen, die wir gerade in der
letzten Zeit als Anfragen und Anregungen an Sie heran-
getragen haben, werden Sie zu dem gleichen Urteil kom-
men.


(Beifall bei der FDP)

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass der Kollege
Koppelin Sie vor einiger Zeit gefragt hat, was aus den
Empfehlungen der Grobecker-Kommission geworden ist.
Damals hatten Sie nichts aufzubieten. Heute gibt es Gott
sei Dank das Havariekommando. Wir stehen hundertpro-
zentig zu dieser Entwicklung.

Zweiter Punkt: Sie sagen, dass die „Pallas“-Kommis-
sion die 24. Empfehlung ausgesprochen hat. Liebe Kolle-
gin, das ist falsch. Ihr Haus hat dafür gesorgt, dass diese
Empfehlung in den Bericht aufgenommen wurde. Ich
weiß das hundertprozentig. Die Empfehlung passt über-
haupt nicht in die Systematik dessen, was der Grobecker-
Bericht vorgibt. Sie haben also zunächst eine falsche
Grundlage angeführt.




Helmut Wilhelm (Amberg)


21673


(C)



(D)



(A)



(B)


Drittens. Sie haben behauptet, die EU zwinge Sie zu ir-
gendetwas. Sie haben immer behauptet, es gebe ein
Schreiben, eine Verfahrensandrohung seitens der EU. Wir
haben uns vor Ort erkundigt. Es stimmt nicht. Mittler-
weile gibt es ein solches Schreiben, weil Sie so lange da-
rum gebettelt haben, bis die EU-Kommission endlich ge-
sagt hat: In diesem Bereich muss sich etwas tun.


(Iris Gleicke [SPD]: Quatsch!)

Ihr Referentenentwurf, den Sie 2000 ins Verfahren ge-

geben haben, ist eine Katastrophe.

(Beifall bei der FDP)


Das sagen nicht wir, sondern das sagen alle, die von der
Materie Ahnung haben. Die Ablehnungsfront ist beein-
druckend. Ich fand es interessant, Herr Kollege Weis, dass
Sie vorhin, als der Kollege sagte, der VDR wende sich da-
gegen, sagten, das sei typisch. Der VDR wehrt sich gar
nicht besonders dagegen. Die haben ihre Sache nämlich in
trockenen Tüchern; das wissen Sie sehr genau.

Der Bundesrat, die Deutsche Schutzgemeinschaft
Nordseeküste, alle deutschen nautischen Vereine, der Ver-
band der Schiffsingenieure, der Verband der See- und Ha-
fenlotsen, die Bundeslotsenkammer, die Direktionen der
Wasserschutzpolizei, der Bundesgrenzschutz See, der
Deutsche Journalistenverband, Greenpeace, Verdi-West-
küste, der Landtag Schleswig-Holstein, die Bürgerschaft
Bremen, der Landesverband Niedersachsen-Bremen von
Bündnis 90/Die Grünen – alle sind dagegen, weil sie sa-
gen, dass der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf dem,
was wir brauchen, nicht Rechnung trägt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sind in diesem Punkt außerordentlich unaufrichtig.
Nun will ich Ihnen aus meiner Sicht einmal sagen, wie

das mit den Seeämtern ist. Die Seeämter haben im Mo-
ment bei etwa 10 bis 15 Prozent der Verfahren mit Patent-
entzug zu tun. Nur diese Verfahren behalten die Seeämter.
Ihre Regelung sieht ganz klar vor, dass von den zurzeit be-
stehenden fünf Seeämtern nur ein Seeamt bleibt, nämlich
das Seeamt Kiel. Von Kiel sollen die anderen Seeämter im
Bedarfsfall beschickt werden. Noch einmal: Die Seeäm-
ter sind nur noch für die Patententzugsverfahren zustän-
dig.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das waren sie doch bisher auch!)


Nur noch diese Verfahren finden öffentlich statt – sofern
nicht einer der Beteiligten sagt: Ich will nicht, dass das
Verfahren öffentlich ist. – Sie sagen: Das ist Datenschutz.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Vorhin hat die Frau Staatssekretärin einen sehr interes-
santen Vergleich gezogen. Sie hat gesagt, wenn jemandem
der Führerschein entzogen wird, sei das ja auch nicht öf-
fentlich. Genau das ist der Punkt. Seeamtsverhandlungen,
die sowieso nur noch 10 bis 15 Prozent der Fälle ausma-
chen werden, sollen in Zukunft nicht öffentlich sein. Sie

wollen mauscheln, Sie wollen vertuschen und den Dingen
nicht auf den Grund gehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist die Basis für das, was Sie hier machen. Das ist

eine eindeutig falsche Behauptung, Kollege Wilhelm. Ich
schätze sonst Ihre Fachlichkeit sehr – hier liegen Sie
falsch. Orientieren Sie sich an Ihrer Kollegin Eichstädt-
Bohlig; die hat das scharf kritisiert und sie hat Recht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme zu den Auslandsuntersuchungen. Sie be-
haupten, dass Auslandsuntersuchungen nicht möglich
sind. Mich ärgert das maßlos. Sie haben es auch erhalten
und es liegt Ihnen vor. Die Wasser- und Schifffahrtsdirek-
tion Nord schreibt in der Pressemitteilung – ich lese vor –
zum Seeunfall der „Prins Richard“:

Das Seeamt Kiel hat die Untersuchung des Fährun-
glücks der dänischen Fähre „Prins Richard“ gemein-
sam mit der dänischen Untersuchungsbehörde zum
Abschluss gebracht.

Sie sagen, dass heute keine Untersuchung möglich ist, die
einen anderen Partner hat. Was soll der Blödsinn, den Sie
hier in den Raum stellen?


(Widerspruch bei der SPD)

Sie wissen ganz genau – das steht in Ihrem Gesetz –, dass
Sie solche Dinge untersuchen können. Das setzt aber vo-
raus, dass die Länder, die davon betroffen sind, das mit-
machen.

Die Situation wird mit Ihrem neuen SeeUG – im Ver-
gleich zu der mit dem jetzt schon bestehenden SeeUG –
kein Stück besser. Ganz im Gegenteil, sie wird schlechter,
weil Sie dafür noch nicht einmal die Mittel bereitstellen,
die nötig sind.


(Annette Faße [SPD]: So ein Quatsch!)

– Frau Faße, in dem Bericht, der Ihnen auch vorliegt, kön-
nen Sie das bestens nachlesen.

Ich komme zum nächsten Punkt. Sie sprechen von ei-
ner Culture of Blame und tun so, als ob die Leute vor den
Seeämtern irgendwie schändlich behandelt würden. Bei-
spielhaft sage ich, dass 80 bis 90 Prozent aller Fälle, die
vor Seeämtern verhandelt werden, zu einer Befriedung
führen. Es kommt sehr selten zum Anrufen des Obersee-
amtes. Die Dinge sind vor Ort bestens geregelt. Die Un-
tersuchungen vor den Seeämtern entsprechen dem IMO-
Code. Ihr SeeUG entspricht dem IMO-Code nicht. Das ist
eindeutig festzustellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie wissen genau, dass die vom Ministerium beabsichtigte
Abschaffung der Feststellung fehlerhaften Verhaltens ge-
gen die Anforderungen des IMO-Codes verstößt. Ihr Ge-
setz ist fachlich dilettantisch gemacht.

Lesen Sie nach, was die Wasser- und Schifffahrtsdi-
rektion Nordwest – Seeamt Bremerhaven – schreibt. Sie
behaupten ja, die Seeämter würden keine Empfehlungen
geben. Dort stehen Empfehlungen auf acht Seiten. Sie




Hans-Michael Goldmann
21674


(C)



(D)



(A)



(B)


müssen die Unterlagen, die Ihnen die Fachbehörden zu-
leiten, einmal lesen.

Ich komme zur Öffentlichkeit. Ich habe eben schon
gesagt, dass Sie die Öffentlichkeit ausschließen. Sie
führen die ganze Sache im Grunde genommen klamm-
heimlich durch. Dafür haben Sie gute Gründe. Bei der Un-
tersuchung des „Pallas“-Unglücks hat sich nämlich he-
rausgestellt, dass in einigen Fällen Behördenversagen
– vor allen Dingen ein Versagen des Ministeriums – vor-
lag.


(Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!)

Deswegen wollen Sie mit Ihrem neuen SeeUG ein Behör-
denschutzverfahren einführen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Und den Minister schützen!)


Ich komme zur Umsetzung des IMO-Codes und zur
Unverständlichkeit des Regierungsentwurfs. Herr Weis,
Sie haben vorhin Beifall geklatscht, als gesagt wurde,
man würde die Flugunfalluntersuchungen auf das
SeeUG übertragen. Es tut mir Leid, Herr Weis, in diesem
Fall haben Sie keine Ahnung. Die Flugunfalluntersu-
chung ist sehr speziell. Sie basiert vor allen Dingen da-
rauf, dass technisches Versagen die häufigste Unfallursa-
che ist.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das gibt es bei Schiffen ebenfalls!)


Bei Seeunfällen ist das aber größtenteils anders.

(Beifall bei der FDP)


Dort kommt es häufig zu einer Vernetzung von techni-
schem und menschlichem Versagen.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Deshalb muss beides untersucht werden!)


– Herr Kollege Wilhelm, dabei wird derjenige, der den
Unfall verursacht hat, nicht als nackt hingestellt. Tun Sie
doch nicht so! Die Seeamtsuntersuchungen haben auch
bei den Kapitänen eine hohe Akzeptanz.

Es gibt einen, der das nicht will. Ich unterstelle demje-
nigen, dass er ein ganz spezielles Interesse daran hat. Sein
Verband will das, was er will, nicht. Ich sage Ihnen hier
ganz deutlich: Machen Sie nicht eine Person, die sich in
dieser Frage kritisch äußert, zum Zeitzeugen. Ich habe es
vorhin vorgelesen; Sie können noch jede Menge mehr ha-
ben. Ich bin bei vielen Verhandlungen und Veranstaltun-
gen an der Küste gewesen. Ich habe nicht einen Einzigen
getroffen, der Ihrem SeeUG zuneigte. Ihr SeeUG ist – das
habe ich vorhin schon gesagt – wirklich maritimer
Schrott. Nehmen Sie das zurück!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Weis, wir haben Ihnen in diesem Verfahren – in

dem Zusammenhang bin ich auch menschlich ent-
täuscht – unseren eigenen Gesetzentwurf viele Male zur
gemeinsamen Diskussion angeboten. Wir haben Ihnen
Kompromissvorschläge auf der Basis der Bundesrats-

initiativen vorgelegt. Wir haben an den Bundeskanzler ge-
schrieben. Ich habe Frau Mertens angeschrieben und Frau
Faße angesprochen. Wir haben versucht, zu retten, was zu
retten ist. Sie waren taub und blind und haben ein Gesetz
durchgesetzt. Das hat meiner Meinung nach entscheidend
etwas damit zu tun, dass sich hier ein Ministerialbeamter
verwirklichen will. Ein solches Gesetz kann Ihre Zustim-
mung nicht finden. Ihre Kollegen vor Ort sind dagegen.
Hier im Raum sitzen Leute, mit denen ich Ver-
anstaltungen durchgeführt habe. Die haben gesagt, dass
das Gesetz nichts taugt und dass es den neuen Herausfor-
derungen nicht gerecht wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421817000
Herr Kol-
lege Goldmann, kommen Sie bitte zum Schluss.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1421817100
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie noch einmal, Ihr Gesetz
zurückzunehmen. Lassen Sie uns in eine neue Diskussion
einsteigen! Wir haben die Zeit und die Gelegenheit dazu.
Sie wissen ganz genau, dass wir uns hier auf einem ge-
meinsamen Weg bewegen können. Ich würde es sehr be-
dauern, wenn wir in dieser Frage, bei der es eigentlich kei-
nen Parteienstreit geben müsste, nicht zu einer
gemeinsamen Lösung kommen würden. Ich bitte Sie da-
rum.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421817200
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Wolf von der PDS-Frak-
tion.


Dr. Winfried Wolf (PDS):
Rede ID: ID1421817300
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! In der heutigen
Debatte, in der es auch viele andere wichtige Punkte gibt,
sind wir jetzt bei einem Thema, das hier am meisten dis-
kutiert wird: dem Zweiten Seeschifffahrtsanpassungsge-
setz. Meine Partei kommt bei diesem Thema zu der glei-
chen Position wie CDU/CSU und FDP.


(Annette Faße [SPD]: Das ist ja kein Wunder!)

Dazu kommen wir nicht, Frau Kollegin Faße, aufgrund ir-
gendeiner Voreingenommenheit, sondern aufgrund des
Versuchs, die Unterlagen zu studieren, und nach der kriti-
schen Auswertung dessen, was in der Anhörung vorgetra-
gen wurde.

Die Frau Staatssekretärin hat hier vorgetragen, dass
eine Verfahrensweise kritisch bilanziert werde, weil sie
althergebracht sei. Es ist eine Verfahrensweise, von der
bisher alle vor Ort gesagt haben, sie funktioniere einiger-
maßen gut und sie habe einen hohen Anerkennungsgrad;
es sei wichtig, dass die Seeämter unter anderem große Re-
vierkenntnisse haben. Sie ist auch auf die richtige, die
ideale Zusammensetzung von ehrenamtlicher und haupt-
amtlicher Tätigkeit eingegangen. Aber das alles wird ab-
getan und die Verfahrensweise soll abgeschafft werden,
weil angeblich eine Anpassungsnotwendigkeit besteht.




Hans-Michael Goldmann

21675


(C)



(D)



(A)



(B)


Zweitens. Ich möchte unterstreichen, dass die Argu-
mentation, dass die Anhörungen weiterhin öffentlich
seien, falsch ist, nicht allein wegen dem, was die Ver-
bände, die angeblich voreingenommen sind, sagen, son-
dern auch wegen dem, was Sie schreiben. Sie schreiben in
der Begründung Ihres Gesetzentwurfes:

Die öffentliche Verhandlung im Seeamtsverfahren
ist Teil einer von alters her überkommenen, staatlich
geordneten, als konfrontativ verstandenen Streitkul-
tur: alle Interessierten machen „Einfluss“ geltend ...
Dagegen ist das vorgesehene neue Verfahren einer
unabhängigen Bundesstelle für Seeunfallunter-
suchung Teil einer modernen kooperativen Sicher-
heitskultur. ... An die Stelle des Streitregulativs
„mündliche Verhandlung“ tritt in der Verkehrs-
verwaltung das Sicherheitsregulativ der Produk-
tion von Expertenwissen und Qualitätsressourcen
sicherheitsorientierter Sachkompetenz sowie der Si-
cherheitspartnerschaft der Verantwortlichen ...

Das ist einfach lächerlich. Vor dem Hintergrund und mit
der gleichen Begründung können Sie jede öffentliche Ge-
richtsverhandlung ad absurdum führen


(Beifall bei der PDS und der FDP – HansMichael Goldmann [FDP]: Wenn er Recht hat, hat er hundertprozentig Recht!)


und sagen, das sei eine falsche, überkommene Streitkul-
tur und man müsse stattdessen eine neue, sicherheitsori-
entierte Streitkultur einführen.

Ich zitiere dazu die „Bremer Nachrichten“, die vor ei-
nigen Tagen geschrieben haben:

Gerade die Regierung Schröder/Fischer hat während
des Spendenskandals jedwede Geheimniskrämerei
vehement angeprangert und Öffentlichkeit als
wesentliches Element demokratischer Kontrolle ge-
fordert. Dass Rot-Grün sich jetzt bei der Seeunfall-
untersuchung von diesem Prinzip radikal verab-
schiedet, hat vielfach an der Küste Verwunderung
ausgelöst.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: „Verwun derung“ ist geschmeichelt!)

– Ist geschmeichelt, einverstanden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die sind platt!)


Auch die Behauptung, dass hier eine Anpassung an
EU-Recht erforderlich wäre, ist mehrfach widerlegt wor-
den. Es ist gesagt worden, dass die entsprechende Anpas-
sung unter anderem durch zwei konkrete Änderungen
realisiert werden könne.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die Dänen haben es mit einem Satz gemacht!)


Der vielfache Verweis auf die Unfallursache im Fall
der „Pallas“ erscheint bei Ihnen, Frau Staatssekretärin, ei-
nerseits konstruiert und andererseits ein bisschen so, als
wären Sie schlechte Verlierer. Wir haben uns bei der „Pal-
las“-Untersuchung differenziert geäußert und nicht alles
geteilt, was FDP und CDU/CSU vorgetragen haben. Aber

jetzt in der Folge dessen das althergebrachte Verfahren
aufzulösen, das ist meiner Ansicht nach problematisch.


(Helmut Wilhelm [Amberg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es wird nicht aufgelöst! Es ist parallel! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Selbstverständlich wird es aufgelöst!)


Letzte Anmerkung. Sie alle sagen, die breite Phalanx
derjenigen, die für die Aufrechterhaltung des Verfahrens
seien, bestehe aus der interessierten Seite von der Küste,
Frau Kollegin Mertens. Das würde heißen, es ginge nur
um eine einzige Seite. Wenn aber alle Seiten, Arbeitgeber
und Arbeitnehmer, Küstenländer und Verbände, diese Po-
sition einnehmen,


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Keiner ist dafür!)


dann müssten Sie doch vielleicht ein Moratorium schaffen,
dann müsste noch einmal darüber nachgedacht werden,
wieso versucht wird, die Auflösung des Verfahrens gegen
alle Stimmen auch der eigenen Basis durchzusetzen. Ich
bitte Sie um den Versuch, ein Moratorium zu schaffen.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421817400
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Faße von der
SPD-Fraktion das Wort.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Die zieht jetzt den Antrag zurück, weil sie eingesehen hat, dass er Quatsch ist!)



Annette Faße (SPD):
Rede ID: ID1421817500
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! In einem Punkt sind wir uns heute
sicherlich einig: Die Vermeidung von Schiffsunfällen
steht an erster Stelle.


(Beifall der Abg. Dr. Christine Lucyga [SPD])

Präventive Maßnahmen müssen zum Schutz der Seeleute,
der Passagiere und der Meeresumwelt eindeutig Priorität
vor der Schadensbegrenzung und der Schadensbekämp-
fung haben.

Ich möchte jetzt, abweichend von meinem Konzept, zu
einigen Punkten Stellung nehmen.

Erster Punkt. Warum wollen wir eine Änderung und le-
gen einen entsprechenden Gesetzentwurf vor? Es ist rich-
tig, dass wir uns den internationalen Standards anpassen
müssen. Dazu gibt es keine Alternative. Es ist auch rich-
tig, dass die EU von uns verlangt, dass wir ihre Richtlinie
umsetzen.

Zweiter Punkt. Ich halte es aber für eine Unterstellung,
Herr Kollege Goldmann, wenn Sie sagen, dass der zweite
Brief, der eingetroffen ist, ein bestellter Brief der EU ge-
wesen sei. Diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dritter Punkt. Sie sagen, dass die 24. Empfehlung der

„Pallas“-Kommission bestellt gewesen sei. Die „Pallas“-




Dr. Winfried Wolf
21676


(C)



(D)



(A)



(B)


Kommission hat vollkommen unabhängig getagt. Fragen
Sie bitte einmal den Vorsitzenden Grobecker danach, wie
er seine Arbeit beurteilt. Wer behauptet, dass dies eine be-
stellte Formulierung sei, dem muss ich sagen, dass das
nicht wahr ist.

Wir haben 1998 die Flugunfalluntersuchung in die-
sem Haus einstimmig neu geregelt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da gab es auch keine Flugunfalluntersuchungsämter, Frau Kollegin!)


Diese unterscheidet zwischen dem persönlichen Ver-
schulden und der Frage die Unfallursache.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kann man nicht vergleichen! Das wissen Sie doch!)


Die entsprechenden Regelungen übertragen wir zwar
nicht wörtlich, aber im Kern.

Ich habe die Jahre zuvor keinerlei Kritik an der zu-
ständigen Bundesstelle in Braunschweig gehört. Wenn
Sie auch dieser Bundesstelle Geheimniskrämerei vorwer-
fen, dann muss ich diesen Vorwurf zurückweisen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie Kritik an den Seeämtern gehört?)


Die Flugunfalluntersuchungsstelle in Braunschweig leis-
tet sachliche und transparente Arbeit. Auch das Eisen-
bahn-Bundesamt geht genauso vor.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie nicht zugehört?)


Sie müssen also schon einen Antrag stellen, der zum In-
halt hat, wie diese Arbeit verändert werden soll.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Sie hat nichts begriffen!)


Wir teilen Aufgaben auf. Diese Feststellung ist richtig
und korrekt. Die Seeämter bleiben erhalten. Das ist in al-
len Protokollen und auch im Ausschussprotokoll eindeu-
tig nachzulesen. Die Aufgabenstellung ist klar.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber sie ist nicht mehr die alte!)


Die Seeämter tagen weiter öffentlich, es sei denn, der Be-
troffene widerspricht. Ich sage ganz deutlich: Das Recht des
Betroffenen ist an dieser Stelle höher zu bewerten als das In-
teresse der Öffentlichkeit. Das dient dem Schutz des Ein-
zelnen. Wer meint, in öffentlichen Veranstaltungen würde
die Wahrheit eine größere Rolle spielen als in geschlossenen
Veranstaltungen, der möge dieses erst einmal belegen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist keine Veranstaltung! Das ist ein Verfahren!)


Ich komme jetzt zur Bundesstelle für Seeunfallunter-
suchung. Diese Bundesstelle ist unabhängig. Sie kann wei-
terhin Experten hinzuziehen, wenn sie es für richtig hält.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie hat doch kein Geld dafür!)


Es gibt keine Vorgabe des Ministeriums oder des Minis-
ters. Diese Bundesstelle erstellt einen Bericht, der veröf-

fentlicht wird und zu dem alle Beteiligten Stellung neh-
men können.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Seeamtsberichte werden auch öffentlich gemacht!)


Es gibt an dieser Stelle auch die Möglichkeit eines Min-
derheitenvotums. Eine große Geheimniskrämerei zu un-
terstellen ist also nicht korrekt. Auch den Vorwurf, dass
wir Verwaltungen, einzelne Personen oder Mitglieder des
Ministeriums schützen wollen, weise ich zurück. Das
Wort Kungelei, das hier an verschiedener Stelle gefallen
ist, ist nicht berechtigt. Es ist eindeutig falsch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die SPD-Arbeitsgruppe hat sich sowohl im Rahmen
einer Fachkonferenz in Cuxhaven als auch in der An-
hörung sehr früh mit dem Entwurf befasst.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Strikte Ablehnung! Alle waren dagegen!)


Der Bundesrat hat die Bundesstelle begrüßt.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt nicht!)

Die Länder haben im Nachhinein eine andere Stellung-
nahme abgegeben. Dieser Stellungnahme können wir
nicht folgen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Zu dem Inhalt!)


Es ist nach diesem Text nicht möglich, die Regelungen be-
züglich des IMO-Codes und die EU-Richtlinie zu berück-
sichtigen. Wir müssen sie aber Stück für Stück in deut-
sches Recht umsetzen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist eine rechtliche Einbindung, wie sie auch die Dänen und die Engländer gemacht haben!)


Jetzt lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Än-
derungsanträgen sagen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: 40!)

Es ist eindeutig falsch, dass sie erst als Tischvorlage vor-
handen waren.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Doch, genauso war es! Wir haben sie überhaupt nicht gehabt!)


Es ist eindeutig korrekt, dass der Bote diese Unterlagen
am Nachmittag des Vortages verteilt hat.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie viele waren es denn, Frau Faße? – Zuruf von der CDU/CSU: Falsch!)


Sie können gerne sagen, dass es viele Blätter waren. Wir
haben eine wunderbare Synopse aufgestellt. In dieser Sy-
nopse gab es Seiten, in denen überhaupt keine Verände-
rungen vorgenommen worden waren. Damit Sie es leich-
ter haben, waren die Veränderungen auch aufgeführt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben in Ihr tolles Gesetz 40 Änderungen eingebracht!)





Annette Faße

21677


(C)



(D)



(A)



(B)


Auf Wunsch der Küstenländer haben wir Veränderun-
gen vorgenommen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: In Ihr ausgereiftes Gesetz haben Sie einen Tag vorher 40 Änderungen eingebracht!)


Das zweistufige Verfahren ist wieder eingeführt worden.
Wir haben die Petition, die jetzt angesprochen worden ist,
berücksichtigt. Wir haben zum ersten Mal datenschutz-
rechtliche Fragen geklärt. Wir haben dafür Sorge getragen,
dass das Parlament für die Umsetzung zukünftiger inter-
nationaler Regelungen alleine zuständig ist. Die im Ent-
wurf vorgesehene Regelung haben wir herausgenommen.

Ich sage ganz deutlich: Wir haben viele Punkte aufge-
nommen, die die Küstenländer über den Bundesrat einge-
bracht haben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt nicht!)


Wir haben viele Punkte eingeführt, die in der Anhörung
angesprochen wurden. Aber wir sind bei dem Grundprin-
zip, das wir für richtig halten, geblieben. Es ist auch rich-
tig so, dass wir dies getan haben.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421817600
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gila Altmann vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn
möchte ich daran erinnern, dass auch noch andere The-
men bzw. Anträge auf der Tagesordnung stehen. Auf die
Frage, warum diese keine bzw. fast keine Berücksichti-
gung finden, komme ich gleich zu sprechen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Weil das ein Skandal ist! Weil wir heute ein Gesetz verabschieden, Frau Kollegin!)


Ich versuche es mit Sachlichkeit.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie und Sachlichkeit!)

Deshalb, Herr Goldmann, sage ich Ihnen: Auch ich war
hinsichtlich des Seeunfalluntersuchungsgesetzes zu Be-
ginn skeptisch.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nicht zu Beginn! Vor drei Tagen waren Sie noch skeptisch! – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Ich habe dieselben Schwierigkeiten gesehen und diesel-
ben Zweifel gehabt, die auch Sie hier lautstark formuliert
haben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben noch in den letzten Tagen Interviews gegeben und gesagt, dass Sie dagegen sind! – Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist doch die typische Masche: Zuerst in den Interviews dagegen sein und dann dafür stimmen!)


Nur ging es darum, eine gerechte Abwägung zwischen
Transparenz und Datenschutz zu schaffen. Denn genau
diesen demokratischen Anspruch haben wir.

Dann habe ich mich intensiv in diesen Gesetzentwurf
eingearbeitet. Ich verstehe überhaupt nicht, warum auch
seitens der PDS ein relativ einfaches und klares Verfah-
ren, das jetzt in Angleichung an die Flugunfalluntersu-
chung und die Eisenbahnuntersuchung vorgesehen wird,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kann man doch nicht vergleichen!)


so schwer zu vermitteln ist – es sei denn, man möchte es
gar nicht vermitteln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was jetzt neu ist, ist die Tatsache, dass zu einem bisher
üblichen Verfahren ein weiteres hinzukommt, das von ei-
ner unabhängigen Bundesstelle geführt wird.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt doch nicht, Frau Altmann! Die Seeämter sind nur noch für den Patententzug zuständig!)


– Das waren sie vorher auch. An der Rolle der Seeämter
ändert sich in dieser Hinsicht überhaupt nichts.


(Weitere Zurufe von der FDP)

– Herr Präsident, würden Sie den Herrn bitte etwas in die
Schranken weisen? Sonst muss ich noch lauter brüllen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist in Ihrem Gehalt inbegriffen! Das müssen Sie aushalten! Seien Sie nicht so empfindlich, Sie haben früher auch immer dazwischen gerufen!)


Es geht darum, dass in Zukunft zwei verschiedene Ver-
fahren angewendet werden. Das heißt, ein Verfahren
kommt hinzu. Ich muss sagen: Wenn die verehrte Oppo-
sition nicht zwischen Ermittlungen und Verhandlungen
unterscheiden kann, dann tut sie mir wirklich Leid.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Denn diese Nichtöffentlichkeit bezieht sich eben nicht auf
Verhandlungen, sondern auf Ermittlungen. Das ist ein
ganz übliches Verfahren. Die Berichte darüber sind nach
wie vor öffentlich.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das trifft doch gar nicht zu!)


Insofern wird sich an dem Bisherigen nichts ändern.

(Zuruf von der FDP: Sie haben es nicht richtig gelesen!)

Ich habe einen ganz anderen Verdacht. Die Opposition

schwingt sich zum Rächer der Enterbten auf, schürt dabei
Ängste – das ist das Problem –


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist das Ihr Ernst, was Sie gerade reden?)





Annette Faße
21678


(C)



(D)



(A)



(B)


und will damit letztlich von den Verfehlungen ihrer eige-
nen Regierungszeit ablenken. Wir haben in den letzten
dreieinhalb Jahren die Schiffssicherheit vorangetrieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bitte?)


– Genau so ist es!
Wenn wir nach dreieinhalb Jahren über Schiffssicher-

heit reden, dann ist auch eine Bilanz dessen zu ziehen, was
wir übernommen haben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bei der „Pallas“ haben Sie sich doch bis auf die Knochen blamiert!)


Als wir kurz nach dem „Pallas“-Unfall die Regierung
übernommen haben, haben wir eine Zersplitterung der
Zuständigkeiten vorgefunden, die Sie zu verantworten
hatten und die mit dazu beigetragen hat, dass dieser Un-
fall überhaupt stattfinden konnte.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nachher haben wir noch Schuld gehabt!)


Wir haben in der Zwischenzeit entschieden, dass ein zen-
trales Havariekommando aufgebaut wird, das seine Effi-
zienz beweisen wird.

Herr Börnsen, Ihr neues Problembewusstsein ist sehr
schön. Die neuen Vorschläge, die Sie hier bringen, muss
ich aber wirklich mit Skepsis sehen. Ich verstehe über-
haupt nicht, wie Sie sich echauffieren können; denn als
Sie es in der Hand hatten zu handeln, haben Sie jegliche
Gefahr geleugnet. Das bezog sich besonders auf die Ge-
fahren in der Ostsee. Wenn Sie eine hellere Stimme hät-
ten, dann hätte ich vorhin, als Sie die Gefahren in der Ost-
see beschworen haben, geglaubt, die Englein singen zu
hören.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es reicht, wenn Sie die am 22. September singen hören!)


Ich persönlich habe damals in Anfragen und Nachfragen
und Anträgen immer wieder darauf hingewiesen. Immer
ist gesagt worden: Es ist alles in Butter.

Selbst Ihr Antrag zum Ostseeschutz ist irgendwie nicht
auf der Höhe der Zeit. In der Antragsbegründung – das
darf ich einmal herausgreifen – benennen Sie drei an-
scheinend – Sie haben es eben immer noch nicht gelernt –
unumstößliche Aspekte für ein erhöhtes Gefahrenpoten-
zial in der Ostsee. Ich zitiere:

Da es sich um ein internationales Gewässer handelt,
gibt es hier weder eine Lotsannahmepflicht noch eine
Radarüberwachung, noch ist es ein Verkehrstren-
nungsgebiet.

Sie haben nicht gemerkt, dass die Bundesregierung längst
gehandelt hat. Bezüglich der Lotsannahmepflicht sind in-
zwischen deutliche Schritte eingeleitet worden. Die Bun-
desregierung hat eine Initiative bei der IMO ergriffen
– das ist Ihnen anscheinend durchgegangen – und sie wird
sich auch weiterhin genau darum kümmern.

Bei der Radarüberwachung ist es genau dasselbe. Die
Radarüberwachung ist unabhängig vom Status der Ka-
detrinne. Anfang 2001 wurde die neue Revierzentrale
„Rostock-Warnemünde“ in Betrieb genommen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr löblich!)


– Genau! – Die Bundesregierung hat für das gesamte Sys-
tem 13,5 Millionen DM bereitgestellt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das haben Sie doch nicht auf den Weg gebracht, Frau Altmann!)


Die bisherige Verkehrszentrale ist durch ein hochleis-
tungsfähiges Verkehrssicherungssystem ersetzt worden,
das unter anderem mit einer Radar- und Schiffsdatenver-
arbeitung ausgerüstet ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421817700
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Als Letztes möchte ich noch etwas zum Problem
der Verkehrstrennung sagen. Auf Initiative von Deutsch-
land und Dänemark hat die IMO bereits den Verkehrsweg
T verlängert, quasi einen Lückenschluss hergestellt. In
das Ganze ist jetzt die Kadetrinne einbezogen worden.
Damit ist genau diese Sicherheitslücke geschlossen wor-
den.

Herr Börnsen und Herr Goldmann, Sie sehen also:
Während Sie noch diskutieren, hat Rot-Grün längst tat-
kräftig angepackt; Sie haben es, wie gesagt, nur nicht ge-
merkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421817800
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Lucyga von der SPD-
Fraktion.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die hat demnächst auch kein Seeamt mehr! Es ist schon jetzt kein Personal mehr da!)



Dr. Christine Lucyga (SPD):
Rede ID: ID1421817900
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen Börnsen und
Goldmann, eines kann man Ihren Beiträgen nun wahrlich
nicht absprechen: Sie hatten einen beträchtlichen Unter-
haltungswert.


(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja, es ging so! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr Leserbrief aber nicht!)


– Herr Goldmann, darauf komme ich gleich. – Bei dem,
was Sie gesagt haben, musste ich an den alten Pennäler-
spruch denken: Wir wissen zwar nicht so recht, was wir
wollen, aber das wollen wir mit ganzer Kraft.




Gila Altmann (Aurich)


21679


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir wissen, was wir wollen. Wir wollen die Schifffahrt
sicherer machen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach Gott!)

– Reden Sie oder rede ich jetzt? Sie haben Ihre Redezeit
schon gehabt. Jetzt müssen Sie mir zuhören. Ich habe mir
den ganzen Stuss, den Sie erzählt haben, lange genug an-
hören müssen.

Wir wollen, dass die Schifffahrt in der Ostsee sicherer
wird. Wir wollen Schiffsunfälle möglichst verhindern und
ein effektiveres Notfallmanagement betreiben. Das sind
unsere erklärten Zielsetzungen.

Ich möchte jetzt aber auf etwas anderes zu sprechen
kommen, nämlich auf die Maßnahmen, die seit dem
30. März des vergangenen Jahres durchgeführt wurden,
als die deutsche Ostseeküste von einer Ölpest bedroht
wurde. Sie wissen: Eine der riskantesten Passagen in der
Ostsee ist die so genannte Kadetrinne, die jährlich circa
60 000 Schiffspassagen zu verzeichnen hat. Es hat dort
seit 1990 etwa 20 Kollisionen oder Grundberührungen
gegeben. Die schwerste davon war die Kollision des Tan-
kers „Baltic Carrier“ mit dem Massengutfrachter „Tern“.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie groß das Entset-
zen war, als die dänischen Strände kilometerweit ver-
seucht wurden und Mecklenburg-Vorpommern noch ein-
mal mit dem Schrecken davonkam, wie die öffentliche
Berichterstattung immer wieder von den Bildern toter
Seevögel, aber auch vom mühevollen Kampf der Men-
schen gegen die Ölpest beherrscht wurde.

Ich erinnere mich aber mit genauso großem Unbeha-
gen daran, dass seinerzeit etwas geschah, was hier im
Grunde genommen wieder geschieht: dass die Ängste der
Menschen und diese Katastrophe in einer üblen Form po-
litisch instrumentalisiert wurden.


(Beifall bei der SPD)

Die geschmackloseste und zynischste Darbietung hat im
Übrigen die Truppe von Stoiber-Berater Rehberg im
Schweriner Landtag abgezogen. Ich erinnere mich noch
sehr gut an diese Vorstellung. Das Prinzip ist immer das
gleiche: Sie setzen nicht auf Problemlösung, sondern auf
Schlammschlacht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hilfreich ist das nicht und verantwortungsbewusst

schon gar nicht. Da wir von gemeinsamer Verantwortung
reden, möchte ich noch einmal sagen, dass sich gerade die
Kollision in der Kadetrinne wie kaum ein anderes Bei-
spiel dafür eignet, noch einmal die Notwendigkeit einer
Änderung am Seeunfalluntersuchungsverfahren darzule-
gen; denn keines der fünf Seeämter ist bis jetzt in der Lage
oder befugt, einen solchen Unfall zu untersuchen. Das
kann uns doch nur nahe legen, die Unfalluntersuchung
diesen Erfordernissen anzupassen. Ich frage Sie: Was hin-
dert Sie, einer Verbesserung des Seeunfallverfahrens
zuzustimmen? Warum verweigern Sie sich?

Unsere Anträge zur Schiffssicherheit in der Ostsee ent-
standen unmittelbar nach dem 30. März 2001 aus der Si-
tuation heraus; denn unser erklärtes Ziel ist es, in Ost- und
Nordsee die Schiffssicherheit und maritime Notfallvor-

sorge entsprechend den Sicherheitsbedürfnissen von
Mensch und Umwelt auf einheitlich hohem Niveau zu ge-
währleisten. Konkrete Maßnahmen sind bereits sehr rasch
eingeleitet worden. Ich brauche nicht das zu wiederholen,
was Frau Staatssekretärin Altmann dazu ausgeführt hat.

Ich erinnere unter anderem an die deutschen Initiativen
zur Verlängerung des Tiefwasserweges der Kadetrinne
und zur Verbesserung der Betonnung. Auch wurden auf
deutsche Initiative sehr rasch wichtige Beschlüsse in der
Ostseeministerkonferenz gefasst. Deutschland wird im
Übrigen in nächster Zeit zu einem Workshop einladen, um
die Wirksamkeit und Umsetzung dieser Maßnahmen zu
bewerten. Ich glaube und meine, dass das Parlament in
diesen Prozess gleichberechtigt einbezogen sein muss.
Das werden wir so durchsetzen.

Den in unserem Antrag enthaltenen Prüfauftrag neh-
men wir genauso ernst wie die Beschlüsse und Anfor-
derungen, die aus der HELCOM-Sonderkonferenz her-
vorgegangen sind. Ich denke zum Beispiel an die
Notwendigkeit, die Problematik von Nothäfen und Not-
reeden ausreichend zu klären. Es gibt viel zu tun; denn
Schiffssicherheit in der Ostsee ist für uns keine
Showveranstaltung wie für Sie, sondern ein Prozess, den
wir konstruktiv gestalten müssen.

Danke.

(Beifall bei der SPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ganz dumme Polemik ist das!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1421818000
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSU-
Fraktion.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1421818100
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir beraten heute Abend in dieser
hitzigen Diskussion auch über den Binnenschifffahrts-
fonds, über den im Verkehrsausschuss gemeinsam beraten
worden ist. Dem Gesetzentwurf über die Errichtung des
Deutschen Binnenschifffahrtsfonds stimmen wir im Inte-
resse der deutschen Binnenschifffahrt zu, da die Mittel
des Fonds zur Förderung der Binnenschifffahrt und im
Falle einer schweren Marktstörung für Abwrackmaßnah-
men verwendet werden können. Der Fonds verfügt über
Einnahmen, die die deutschen Binnenschifffahrtsunter-
nehmen im Rahmen der so genannten Alt-für-Neu-Rege-
lung bei Erweiterung ihrer Schiffskapazitäten entrichten.
So weit, so gut.

Es handelt sich hier um einen Gesetzentwurf von Rot-
Grün. Die Bundesregierung war laut Verordnung des Ra-
tes vom März 1999 eigentlich zum Handeln aufgefordert,
ist aber untätig geblieben. Wahrscheinlich ist die Angele-
genheit beim ständigen Ministerwechsel im Ministerium
untergegangen. Deshalb wurde sie vom Parlament aufge-
griffen.

Kollegin Faße von der SPD, es gibt noch eine frakti-
onsübergreifende Gruppe Binnenschifffahrt, die seit 1995
gemeinsam – ich betone: gemeinsam – viel für das deut-
sche Gewerbe getan hat, insbesondere in den Jahren bis




Dr. Christine Lucyga
21680


(C)



(D)



(A)



(B)


zur Bundestagswahl 1998. Mit Ihrem Entwurf – ohne je
mit mir oder dem Kollegen Goldmann darüber gespro-
chen zu haben, obwohl Sie sicherlich ahnten, dass wir uns
einem gemeinsamen Gesetzentwurf nicht verweigern
würden – haben Sie den Weg der gemeinsamen Be-
mühungen für die Binnenschifffahrt verlassen, aus wel-
chen Gründen auch immer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was ist das Ziel des Binnenschifffahrtsfonds? Nach

der in den letzten zehn Jahren zur Verbesserung der wirt-
schaftlichen und sozialen Lage des Gewerbes realisierten
Strukturbereinigung in der Güterschifffahrt der Europä-
ischen Union ist das erreichte Ergebnis durch weitere
Marktbeobachtung und -regulierung abzusichern. Vor al-
lem ist der Neuzugang an Frachtraum zu regeln, um das
erneute Entstehen struktureller Überkapazitäten zu ver-
hindern. Das Schifffahrtsgewerbe, die EU und die betei-
ligten Mitgliedstaaten Belgien, Frankreich, die Nieder-
lande, Österreich und Deutschland kamen überein, das
Inverkehrbringen neuer Kapazitäten für eine Übergangs-
phase von vier Jahren nur unter bestimmten Vorausset-
zungen zu ermöglichen. Die vier Jahre sind bald um. Des-
wegen muss weiter im Interesse des deutschen Gewerbes
gehandelt werden.

Das deutsche Gewerbe braucht dringend Unterstüt-
zung. Es genügt nicht, sich in Sonntagsreden hinzustellen
und vom umweltfreundlichen Verkehrsträger Binnen-
schiff zu sprechen, was insbesondere die Grünen gerne
tun. Es muss gehandelt werden. Dazu gehört nun einmal,
dass man sich um die Wasserstraßeninfrastruktur küm-
mert, damit die Binnenschifffahrt in der Lage ist, Logis-
tikketten aufzubauen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie alle Ausbaumaßnahmen ablehnen oder

verzögern, hilft dies der Verlagerung von Verkehr auf das
Binnenschiff überhaupt nicht. Die gestrige Anhörung zum
Donau-Ausbau hat doch deutlich gemacht, dass die Bun-
desregierung endlich tätig werden muss. Alles, aber auch
wirklich alles, ist nun untersucht und begutachtet worden.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Allein in den letzten zehn Jahren sind es mindestens
30 Gutachten gewesen. Minister Bodewig muss das
Raumordnungsverfahren nun zügig einleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dabei sind die Maßnahmen aufzunehmen, die gewähr-
leisten, dass die im Jahre 1996 zwischen dem Bund und
Bayern vertraglich vereinbarte Ausbautiefe erreicht wird.
Mit flussbaulichen Maßnahmen allein – das ist gestern
deutlich geworden – ist die Abladetiefe von 2,5 Metern
nicht zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir brauchen gut ausgebaute Verkehrswege, ausrei-

chende Transportkapazitäten, Maßnahmen zum Abbau
des Harmonisierungsdefizits auf EU-Ebene im fiskali-
schen und sozialen Bereich, Hilfen für den Modernisie-
rungsbedarf der Flotte, verkehrspolitische Maßnahmen,

um die Kooperation auszuschöpfen, die Förderung von
Umschlageinrichtungen, ein Konzept für eine gesamteu-
ropäische Binnenschifffahrtspolitik, eine Reform der Be-
satzungsordnung, die Einhaltung und Kontrolle der Ka-
botagebestimmungen und der Tarife in den bilateralen
Binnenschifffahrtsabkommen sowie im Hinblick auf die
Osterweiterung Maßnahmen, um die Wettbewerbssitua-
tion des deutschen Gewerbes zu erhalten und zu sichern.

Die Bundesregierung hat die deutsche Binnenschiff-
fahrt vernachlässigt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Mittlerweile scheint sie aber erkannt zu haben, dass
Handlungsbedarf besteht, weshalb sie sich dazu durchge-
rungen hat, ein Gutachten „Potenziale und Zukunft der
deutschen Binnenschifffahrt“ auszuschreiben. Allerdings
wird dieses Gutachten erst Mitte 2003 vorliegen. Bis da-
hin aber werden die Partikuliere in Deutschland noch we-
niger geworden sein. Aber es besteht eine Hoffnung für
das Binnenschifffahrtsgewerbe, wenn wir am 22. Sep-
tember wieder die Regierungsverantwortung überneh-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421818200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1421818300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sie erinnern sich an die Kol-
lision des Tankers „Baltic Carrier“ mit dem kleinen
Frachter „Tern“ in der Ostsee. Zur Reparatur lief die
„Tern“ Rostock an. Lassen Sie uns für einen Moment zu
den philippinischen, rumänischen und polnischen Seeleu-
ten an Bord gehen.

Durch die Kollision schwer traumatisiert, darf die Be-
satzung dennoch nicht von Bord. Sie muss aufräumen und
steht dabei oft knöchelhoch im Ölschlamm. Telefonieren
ist erlaubt: fünf Minuten pro Mann und Tag unter Aufsicht
der Schiffsleitung oder eines Reedereivertreters. Nach ei-
ner Woche dürfen die Männer erstmals an Land. Sie kön-
nen im Rostocker Seemannsclub aufatmen und ungestört
und lange mit der Familie telefonieren. Seelsorge wird
möglich; auf Wunsch der Besatzung wird eine gemein-
same Andacht abgehalten.

Begleiten Sie mich nach Hamburg in den Internatio-
nalen Seemannsclub „Duckdalben“, eine von zahlrei-
chen Einrichtungen der weltweiten Seemannsmission.
Sonntagabend, 19 Uhr: Ein Seemann aus Tuvalu bittet um
Teststreifen für sein Diabetesmessgerät von einem deut-
schen Hersteller und geht davon aus, dass sie bis Mon-
tagmittag wohl zu besorgen sein sollten. Die Realität sieht
anders aus. Das Testgerät wurde in Frankreich gekauft
und die passenden Streifen gibt es nur dort. Die Interna-
tionale Apotheke braucht 14 Tage, um sie zu besorgen.
Vom „Duckdalben“ wird der Kollege in Le Havre ange-
rufen. Er kauft sie und schickt sie zum nächsten Hafen
voraus. In Felixstowe wartet der Seemannsdiakon mit den
Teststreifen auf den Seemann aus Tuvalu.




Renate Blank

21681


(C)



(D)



(A)



(B)


Ohne die Missionen wären Seeleute oft hilflos: ohne
Telefonkarten oder -zellen, allein zwischen Containern,
Kränen und Kaimauern, kein Taxi weit und breit. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist soziale Betreuung
von Seeleuten.


(Beifall bei der SPD)

Kennen Sie das weltweit einschlägige Symbol für

festen Boden unter den Füßen? – Es ist der Billardtisch.
Können Sie sich die unbändige Freude des nigerianischen
Seemanns vorstellen, der mitten im Winter in leichter
Sommerkleidung von Bord kommt, im Seemannsclub zu-
fällig einen Fußball sieht und dem auf seine Frage ein
ganzjährig bespielbares Fußballfeld bestätigt wird sowie
Winterkleidung und feste Schuhe aus dem ITF-Fonds ge-
zeigt werden? Verwunderung im Club: Er lässt sich sofort
zurück an Bord bringen. Dort erst zeigt sich das ganze
Ausmaß seiner Begeisterung. Aus allen Ecken stürmen
Seeleute hervor: in Kochskleidung, im Blaumann, mit
Helm, mit Sicherheitsschuhen und Badelatschen. So viele
wie möglich quetschen sich in den Kleinbus und stürmen
die Schuh- und Kleidungskiste im Club. Sie genießen das
Fußballspiel, wie es sich wohl kaum jemand von uns je-
mals vorstellen könnte. Dank ITF und Seemannsmission
ist dies eine gute, freundliche, liebevolle Visitenkarte ei-
nes deutschen Hafens.

1,2 Millionen Seeleute sind immer in der Ferne, fremd
unter Fremden. Sie finden Fürsorge, Zuwendung, Freund-
lichkeit, Hilfe, wenn nötig auch ein Stück Zuhause im
Seemannsheim, im Club und manchmal sogar in der
Home Mission, der Aufnahme in die Familie des See-
mannsdiakons. Können Sie ermessen, was Seeleute emp-
finden, wenn sie – oft monatelang fern von der eigenen
Familie, fern von den eigenen Kindern – möglicherweise
gerade in der Weihnachtszeit in einem Seemannsclub
plötzlich auf ein kleines Kind oder auf einen Hauskater
treffen? Ich glaube, wir können uns kaum vorstellen, was
dann in den Seeleuten vorgeht.

Support of Seafarer’s Dignity – das kann man nicht
kaufen, das muss man leben. In unseren Missionen wird
das gelebt. Deshalb hat der Bundespräsident die Schirm-
herrschaft über die Weltkonferenz der Seemannsmissio-
nen übernommen und deshalb beschließen wir heute die
Ratifizierung der ILO-Resolution 163.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Sie hätten im Bundeshaushalt etwas machen können! Das haben Sie abgelehnt!)


Ich danke Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dafür, dass das möglich ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421818400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Konrad Kunick.


Konrad Kunick (SPD):
Rede ID: ID1421818500
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich will noch einmal ganz
kurz die Debatte zum SUG aufnehmen. Wenn man eini-
gen Debattenrednern heute zugehört hat, dann wird ja

wohl die Axt an ein demokratisch-rechtsstaatliches Ge-
richtsverfahren zugunsten der Einschränkung von Trans-
parenz gelegt.


(Heiterkeit bei der SPD)

So klang das zumindest.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auch das haben Sie falsch verstanden!)


– Herr Goldmann, nun bleiben Sie mal ganz ruhig!
Worum geht es wirklich? Das bisherige Seeamtsver-

fahren ist in einem Behördenakt zugleich Unfalluntersu-
chung und Schuldzuweisung durch ein Expertengre-
mium, bestehend aus einem Volljuristen als Vorsitzenden
und drei Beisitzern, die aus den Verbänden vorgeschlagen
werden, sachverständigen Beisitzern aus Seefahrts- und
mit der Seefahrt eng verbundenen Berufen.

Parallel zu diesem Verfahren laufen in der Praxis die
Verhandlungen über den Schadensausgleich zwischen
den Juristen der Reeder und den Juristen der Versicherer.
Wenn es für den Abschluss des Verfahrens erforderlich ist,
folgt als Abschluss der Schuldspruch gegen den Kapitän.
Der ist nämlich für das Schiff umfassend verantwortlich
und hinter dem tritt der Reeder völlig zurück. Wenn es ge-
lingt, nachzuweisen, dass der Kapitän schuld ist, haftet
nach deutschem Recht der Reeder nicht mehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist der Kern der Angelegenheit. Darum geht es – und
weniger um Transparenzfragen.

Dieses bisherige Verfahren der Seeamtsverhandlung ist
nur dann wirksam, wenn Unfälle in deutschen Hoheitsge-
wässern verhandelt werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum hat sich dann die Bremer Bürgerschaft geschlossen dagegen ausgesprochen? Ist die SPD nicht mehr darin?)


Unfälle deutscher Schiffe und deutscher Staatsbürger auf
hoher See und in anderen Hoheitsgewässern können so
nicht untersucht werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt nicht!)


Wir führen deshalb jetzt eine Unfalluntersuchungs-
behörde ein, die zuständig ist für die technische Unfall-
untersuchung auf Schiffen „round the world“, wenn deut-
sche Schiffe, deutsche Mannschaften oder deutsche
Staatsbürger betroffen sind.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt nicht! „Kann“ steht da!)


Sie ist außerdem für die technische Unfallermittlung in
deutschen Hoheitsgewässern zuständig.

Wir führen eine Untersuchungsbehörde mit einem
technischen Unfalluntersuchungsverfahren ein, das dem
der Flugunfalluntersuchung entspricht. Das ist eine der
Forderungen der Grobecker-Kommission, der Sie nun un-




Dr. Margrit Wetzel
21682


(C)



(D)



(A)



(B)


terstellen wollen, sie hätte dies aber nicht aus vollem Her-
zen empfohlen.


(Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!)


Kritiker wie Sie, Herr Goldmann, empören sich, die Ar-
beit der zukünftigen Untersuchungsbehörde für Schiffs-
unfälle, die beim Oberseeamt angesiedelt wird, werde nun
nicht öffentlich sein. Wie ist denn die kriminaltechnische
Untersuchung bei einem an einen Baum gefahrenen Om-
nibus? Wird der im Zweifelsfall nicht erst einmal be-
schlagnahmt und untersucht? Wird der Fahrer nicht erst
einmal zu dem Unfallhergang ohne Öffentlichkeit gehört,
bevor ein öffentliches Gerichtsverfahren eingeleitet wird?
Oder wurde das ICE-Unglück von Eschede nicht zunächst
nicht öffentlich durch das Eisen-Bahnbundesamt unter-
sucht? Wird denn zum Beispiel der Unfall eines Omni-
busses hinsichtlich der technischen Ursachen wie eventu-
ellen menschlichen Versagens vor einem „Amt“
genannten Gremium aus einem hauptamtlichen Juristen
und Beisitzern aus den Reihen des ADAC, von Fahrleh-
rern, Busherstellern und Reparateuren untersucht?


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Herr Kunick!)


Und ist der Busunternehmer dann aus allen Kalamitäten
heraus, wenn sich die Juristen der Versicherer und der Be-
troffenen geeinigt haben und dem Busfahrer der Führer-
schein abgenommen wird? So nämlich sieht es ver-
gleichsweise in unserem alten Seeunfallsverfahren aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider richtig! Deshalb ändern wir es!)


Bedeutende und schwerwiegende Unfälle in der Luft
und an Land werden zunächst durch Untersuchungs-
behörden ohne die Öffentlichkeit der Interessenten vor-
untersucht, ehe es zu öffentlichen Gerichtsverfahren
kommt, von denen Sie, Herr Börnsen, sagen, man wisse
dann ja nicht, was dabei herauskommt. Ein unkontrollier-
tes Verfahren vor den Gerichten drohe.


(Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Wir führen eine Untersuchungsbehörde ein, die die
Weiterentwicklung von internationalen Schiffsführungs-
vorschriften, Arbeitssicherheitsvorschriften und Schiff-
bauvorschriften im nationalen und internationalen Rah-
men zur Aufgabe hat.

Die Kompetenzen der Seeämter für den Entzug von
Schifffahrtspatenten bleiben im bisherigen Maße erhal-
ten. Die technischen Unfallursachen werden zukünftig
genauer geklärt, als dies bisher bei den Seeämtern der Fall
war.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich werden dabei keinem Beteiligten die Rechte be-
schnitten, Gegengutachten zu bestellen und gegebenen-
falls den Weg der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu be-
schreiten. Gegen die Seeamtssprüche kann auch
zukünftig die Wasser- und Schifffahrtsdirektion angeru-

fen werden und gegen Entscheidungen der Wasser- und
Schifffahrtsdirektion die Verwaltungsgerichtsbarkeit


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421818600
Herr Kollege
Kunick, Sie müssten nun eine elegante Wendung zum
Schluss finden.


Konrad Kunick (SPD):
Rede ID: ID1421818700
Ich fasse also zusammen: Das
neue Schiffsunfallrecht dient der Verbesserung der Siche-
rung der maritimen Umwelt, dem Schutz der Bevölkerung
an der Küste, der Sicherheit der Schiffsbesatzungen und
der Stärkung der Rechte des Kapitäns; auf ihn kann nicht
mehr alles abgeladen werden. Es berücksichtigt die neues-
ten internationalen IMO-Bestimmungen sowie die Praxis
der Unfallermittlung in Deutschland bei anderen Ver-
kehrsmitteln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das müssen Sie einmal in Bremen erzählen! In Bremen glaubt Ihnen das niemand!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421818800
Wir sind an sich
am Schluss der Debatte. Herr Kollege Börnsen, wollten
Sie noch eine Kurzintervention machen?


(Annette Faße [SPD]: Wer geredet hat, darf doch keine Kurzintervention machen! Ich dürfte das nicht!)


Da Sie geredet haben, wäre es nicht so glücklich, eine
Kurzintervention zu machen, zumal wir am Ende der De-
batte sind.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1421818900
Frau
Präsidentin, ich werde darauf verzichten, Herrn Kunick
zu fragen, warum sich gestern die Bremer Bürgerschaft
einstimmig gegen das SeeUG ausgesprochen hat.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1421819000
Es wird keine
Antwort erwünscht. – Wir sind damit am Schluss dieser
Debatte.

Tagesordnungspunkt 6 a: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zwei-
ten Seeschifffahrtsanpassungsgesetzes. Der Auschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wenn Sie dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, bitte ich Sie, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung angenommen.




Konrad Kunick

21683


(C)



(D)



(A)



(B)


Abstimmung über den von der Fraktion der FDP ein-
gebrachten Entwurf eines Seeunfalluntersuchungsgeset-
zes auf Drucksache 14/6892. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8264, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 6 b: Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen eingebrachten Entwurf eines Binnenschifffahrts-
fondsgesetzes auf Drucksache 14/6159. Der Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7882, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die die-
sem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie
dem Gesetzentwurf auch in der dritten Beratung zustim-
men wollen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen
worden.

Tagesordnungspunkt 6 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den
Bericht der Kommission für den Europäischen Rat von
Biarritz über die Gesamtstrategie der Gemeinschaft für
die Sicherheit im Seeverkehr. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6251, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 6 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/6909. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 14/6211 mit dem Titel „Schiffs-
sicherheit auf der Ostsee verbessern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen,
der FDP und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/5752 zur Optimierung der Ostseesicher-
heit im Bereich der Kadetrinne abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-

haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der ge-
samten Opposition angenommen.

Tagesordnungspunkt 6 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung über die
Mitteilung über die Verbesserung der Dienstqualität in
Seehäfen und über einen Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über den Markt-
zugang für Hafendienste. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7890, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.

Tagesordnungspunkt 6 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksa-
che 14/7898 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel: „ILO-Über-
einkommen über die soziale Betreuung der Seeleute rati-
fizieren“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5247 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen worden.

Tagesordnungspunkt 6 g: Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksa-
che 14/8108 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
– Drucksache 14/6929 –

(Erste Beratung 190. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/8176 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)


Die Parlamentarische Staatssekretärin Mertens, die
Kollegin Rehbock-Zureich sowie die Kollegen Brunnhu-
ber, Schmidt (Hitzhofen) und Goldmann möchten ihre
Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Gesetzent-
wurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzei-
chen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
21684


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3

Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in dritter Lesung angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/8247. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung der PDS abgelehnt.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/8311. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Gentechnikgesetzes
– Drucksache 14/8230 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Gentechnikgesetzes
– Drucksache 14/5929 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Zweiter Bericht der Bundesregierung über Er-fahrungen mit dem Gentechnikgesetz
– Drucksache 14/6763 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

gierung
Bericht der Bundesregierung über Erfahrun-
gen mit dem Gentechnikgesetz
– Drucksachen 13/6538, 14/272 Nr. 119, 14/6894 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Kahl

Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Reimann,
Heiderich, Höfken, Parr und Naumann sowie die Parla-
mentarische Staatssekretärin Schaich-Walch möchten
ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8230, 14/5929 und 14/6763 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 14/6894 zu dem Bericht der Bundesregierung
über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz. Der Aus-
schuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die
Bundesregierung auf Drucksache 13/6538, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten

Dr. Christian Ruck, Dr. Peter Paziorek, Dr. Klaus
W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Weißbuch der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften: Strategie für eine zukünftige
Chemikalienpolitik
– Drucksache 14/8029 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita
Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

21685


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4

Für eine wirksame und vernunftgeleitete
Chemikaliengesetzgebung
– Drucksachen 14/5761, 14/6422 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Christian Ruck
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Reimann, Dr. Ruck,
Hermann, Homburger und Bulling-Schröter möchten ihre
Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall.

Tagesordnungspunkt 9 a: Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8029 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/6422 zu
dem Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel „Für eine
wirksame und vernunftgeleitete Chemikaliengesetzge-
bung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/5761 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rosel

Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Barbara Höll,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS

eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
– Drucksache 14/7225 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christina Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Barbara
Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Unterhaltsvorschuss-
gesetzes
– Drucksache 14/7226 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Die Kolleginnen und Kollegen Humme, Stöckel,
Blumenthal, Schewe-Gerigk, Lenke und Schenk möchten
ihre Reden zu Protokoll geben. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/7225 und 14/7226 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges auf morgen, Freitag, den 22. Februar 2002, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.