Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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1) Anlage 5
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Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 21.02.2002**
Bierwirth, Petra SPD 21.02.2002
Brudlewsky, Monika CDU/CSU 21.02.2002
Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 21.02.2002**
Klaus
Friedrich (Altenburg), SPD 21.02.2002
Peter
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 21.02.2002
Günther (Duisburg), CDU/CSU 21.02.2002
Horst
Heubaum, Monika SPD 21.02.2002*
Höfer, Gerd SPD 21.02.2002**
Holetschek, Klaus CDU/CSU 21.02.2002
Imhof, Barbara SPD 21.02.2002
Irmer, Ulrich FDP 21.02.2002
Jung (Düsseldorf), SPD 21.02.2002
Volker
Knoche, Monika BÜNDNIS 90/ 21.02.2002
DIE GRÜNEN
Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 21.02.2002
Kolbow, Walter SPD 21.02.2002
Kossendey, Thomas CDU/CSU 21.02.2002**
Leidinger, Robert SPD 21.02.2002
Matschie, Christoph SPD 21.02.2002
Nolte, Claudia CDU/CSU 21.02.2002
Pfannenstein, Georg SPD 21.02.2002
Philipp, Beatrix CDU/CSU 21.02.2002
Raidel, Hans CDU/CSU 21.02.2002**
Rauber, Helmut CDU/CSU 21.02.2002**
Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 21.02.2002
Roth (Speyer), Birgit SPD 21.02.2002
Rühe, Volker CDU/CSU 21.02.2002
Schemken, Heinz CDU/CSU 21.02.2002
Schlee, Dietmar CDU/CSU 21.02.2002
Schloten, Dieter SPD 21.02.2002**
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 21.02.2002
Hans Peter
Schösser, Fritz SPD 21.02.2002
Dr. Schubert, Mathias SPD 21.02.2002
Schultz (Köln), SPD 21.02.2002
Volkmar
Seehofer, Horst CDU/CSU 21.02.2002
Strebl, Matthäus CDU/CSU 21.02.2002
Stübgen, Michael CDU/CSU 21.02.2002
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 21.02.2002**
Tappe, Joachim SPD 21.02.2002
Thönnes, Franz SPD 21.02.2002
Volquartz, Angelika CDU/CSU 21.02.2002
Weisskirchen SPD 21.02.2002**
(Wiesloch), Gert
Wimmer (Neuss), SPD 21.02.2002**
Willy
Wolf, Aribert CDU/CSU 21.02.2002
Zapf, Uta SPD 21.02.2002**
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarichen Versamm-
lung der OSZE
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
derAbgeordneten Dr. Margrit Wetzel (SPD) zur
Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Anpassung bestimmter Bedingun-
gen in der Seeschifffahrt an den internationalen
Standard – Drucksache 14/6455 – (Tagesord-
nungspunkt 6 a)
An der Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 6 a und g
(Drucksachen 14/6455 und 14/8108 sowie Drucksache
14/8264) nehme ich nach § 31 Abs. 2 GO nicht teil. Art. 2
des Zweiten Seeschifffahrtsanpassungsgesetzes war
während der Beratungen heftiger Kritik ausgesetzt, die
ich in der Sache teile. Die Küstenländer haben in einer
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
gemeinsamen Empfehlung an die Parlamentarier einen
Alternativvorschlag vorgelegt, den ich für die bessere Lö-
sung halte. Für diese Alternative habe ich in den Koaliti-
onsfraktionen keine Mehrheiten erringen können.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
zes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vor-
schriften (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Karin Rehbock-Zureich (SPD): Heute ist der Ein-
stieg für mehr Wettbewerb auf der Schiene. Die zweite
Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ist dieser
Schritt für mehr Wettbewerb. Es ist ein Schritt für mehr
Verkehr auf der Schiene. Mehr Verkehr auf der Schiene im
Personen- und im Güterverkehr ist ein wichtiges Ziel der
Verkehrspolitik meiner Fraktion und ihr wichtigstes Ziel
im Bereich der Schienenverkehrspolitik.
Die zweite AEG-Novelle verbessert eindeutig die wett-
bewerbliche Situation auf dem deutschen Schienennetz.
Sie stärkt die Kompetenzen von Eisenbahn-Bundesamt
und Kartellamt. Das EBA kann jetzt von Amts wegen er-
mitteln, wenn es diskriminierendes Verhalten vermutet.
Seine Eingriffskompetenzen werden normiert. Die Geset-
zesnovelle sorgt so dafür, dass sich der Wettbewerb der
Schiene mit der Straße zunehmend zu einem Wettbewerb
von Bahnunternehmen untereinander und mit der Straße
ergänzt. Dabei bleiben die hohen Sicherheitsstandards der
Schiene erhalten. Die Zuständigkeiten der Aufsichts-
behörden werden klar geregelt. Überschneidungen wie
bisher wird es nicht mehr geben.
Darüber hinaus bringt die Novelle entscheidende Ver-
besserungen im Bereich des § 11 AEG. Durch unseren Än-
derungsantrag wird aus dem reinen Stilllegungsverfahren
ein Verfahren zum Erhalt von Eisenbahninfrastruktur. Die
Suche nach möglichen Übernehmern für von Stilllegung
bedrohte Strecken wird künftig bundesweit und transpa-
rent erfolgen. Die Bestimmungen der abzugebenden
Grundstücke und Infrastruktureinrichtungen für Eisen-
bahnzwecke müssen künftig bei der Preisbildung ange-
messen berücksichtigt werden. Die Chancen für die Über-
nahme solcher Streckenteile durch interessierte Dritte
steigen dadurch deutlich.
Alle Gutachter unserer Ausschussanhörung waren sich
einig: Die Novelle muss schnellstmöglich verabschiedet
und umgesetzt werden. Die Regelungen der zweiten No-
vellierung seien „aufwärtskompatibel“ und ständen wei-
tergehenden Regelungen für mehr Wettbewerb auf dem
Schienennetz in einem dritten Änderungsgesetz nicht ent-
gegen. Oder um es mit einem der Gutachter, stellvertre-
tend für alle zu sagen: „Wir brauchen den Gesetzentwurf
so bald wie möglich.“ Ich zitiere Herrn Dr. Henke vom
Verband Deutscher Verkehrsunternehmer weiter: „Dieser
Gesetzentwurf ist wichtig und bringt uns weiter“. Auch
die Bundesländer, und zwar alle, haben längst ihre Zu-
stimmung signalisiert. Denn sie brauchen das Gesetz.
Was waren also die Gründe dafür, dass Sie seit letztem
Herbst versuchen, das Gesetzgebungsverfahren zur zwei-
ten Novellierung zu verzögern? Die Regelungen könnten
längst in Kraft sein. Welche Gründe also haben gegen eine
Verabschiedung der Novelle gesprochen? Sie haben im
Ausschuss letztendlich doch zugestimmt. Sie werden
heute dann doch der Vernunft folgen und der Novelle zu-
stimmen. Verzögerung wichtiger Verbesserungen für den
Schienenverkehr aus kurzsichtigen taktischen Erwägun-
gen heraus lautet wohl die richtige Antwort. Aber um dies
klar zu sagen: Ich freue mich natürlich über die einstim-
mige Zustimmung im Ausschuss. Ich freue mich über Ihre
Zustimmung zu diesem wichtigen Schritt für den Wettbe-
werb auf dem deutschen Schienennetz.
Das zweite Änderungsgesetz des AEG ist ein Schritt
auf dem Weg voran. Auf dem weiteren Weg zu mehr Ver-
kehr auf der Schiene braucht es Augenmaß und vernunft-
geleitetes Tempo. Dass dieser Weg hin zu einer Maktöff-
nung und hin zu mehr Wettbewerb auf dem Schienennetz
führen muss und führen wird, steht außer Frage. Die Er-
gebnisse der „Taskforce zur Zukunft der Schiene“ weisen
dabei die richtige Richtung. Sie werden einfließen in die
dritte Novelle des allgemeinen Eisenbahngesetzes und so
die Richtlinien der Europäischen Union 2001/12 bis
2001/14 pünktlich umsetzen.
Die Unabhängigkeit des Netzes wird dann vergrößert,
die Sicherstellung des diskriminierungsfreien Zugangs
zum Netz weiter verbessert werden: durch eine von der
Holding getrennte Bilanz-, Gewinn- und Verlustrechnung
entsprechend den Vorgaben der EU, durch Unabhängig-
keit der Netz AG bei Trassenvergabe und Preisfestset-
zung, durch Einrichtung einer Trassenagentur, die konti-
nuierlich die diskriminierungsfreie Vergabe von Trassen
überwacht, durch Wettbewerbsaufsicht des EBAs und der
Kartellbehörden.
Wir brauchen diese dritte Novelle für die weitere Ent-
wicklung des Schienenverkehrsmarkts unbedingt. Genau
deshalb wird diese ja schon vorbereitet. Aber dazu müs-
sen wir heute erst einmal den Weg freimachen. Heute kön-
nen wir alle zusammen einen wichtigen ersten Schritt zur
unmittelbaren Verbesserung der wettbewerblichen Situa-
tion im deutschen Schienennetz tun. An dieser Stelle muss
daran erinnert werden, dass unser Ziel „Mehr Verkehr auf
der Schiene“ nicht allein durch die Novellen des AEG er-
reicht werden kann. Dazu bedarf es auch vernünftiger Fi-
nanzausstattung und vernünftiger Rahmenbedingungen.
In beiden Bereichen haben wir bereits deutliche Verbes-
serungen für den Schienenverkehr durchgesetzt.
Wir haben zuerst für eine ordentliche Finanzausstat-
tung der Schieneninfrastruktur gesorgt. Seit Regierungs-
übernahme steigen die Investitionen für die Schiene wie-
der. In 2002 stehen rund 4,5 Milliarden Euro zur
Verfügung. Noch nie stand so viel Geld für die Schiene
zur Verfügung. Wir haben die Wettbewerbsbedingungen
für den Verkehrsträger Schiene entscheidend verbessert:
Auf europäischer Ebene bringt die Öffnung der europä-
ischen Netze den Wettbewerb auf der Schiene und gegen-
über der Straße voran. Gerade bei den grenzüberschrei-
tenden, lang laufenden Güterverkehren gibt es großes
Wachstumspotenzial. Die Entfernungspauschale für alle
Verkehrsmittel nützt der Schiene genau wie dem ÖPNV
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und dem Fahrrad. Die LKW-Maut beteiligt ab 2003 erst-
mals in Deutschland die LKWs an ihren Wegekosten. Ein-
nahmen aus der Maut fließen in die Verkehrsinfrastruktur,
und zwar in alle Bereiche. Damit machen wir Ernst mit
unserem integrierten Ansatz und fördern alle Verkehrsträ-
ger – auch die Schiene. Was zählt, ist der Erfolg für das
gesamte Verkehrssystem.
Das einseitige Setzen nur auf einen Verkehrsträger
wäre ein Rückfall in die verkehrspolitische Steinzeit. Da-
vor warne ich entschieden. Mehr Verkehr auf der Schiene
ist, so meine ich, fraktionsübergreifend das gemeinsame
Ziel. Über den richtigen Weg werden wir weiter streiten.
Doch die heutige Novelle – das einstimmige Ergebnis im
Ausschuss zeigt dies – wird nun von allen als wichtig er-
kannt. Machen Sie deshalb mit uns heute den Schritt in die
richtige Richtung und unterstützen Sie die vorliegende
Novellierung.
Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf
zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften, den wir
heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden sollen,
ist ein weiteres Beispiel dafür, wie beharrlich beratungs-
resistent die Bundesregierung im Allgemeinen, hier der
Bundesverkehrsminister im Besonderen, bei der Rege-
lung von wichtigen Wirtschaftsbereichen ist.
Da beteuern die diversen Verkehrsminister dieser Re-
gierungskoalition – immerhin haben wir schon den drit-
ten – immer wieder, dass sie erstens an einer Vergrößerung
des Anteils der Schiene am Güterverkehr interessiert sind,
dass dieses Ziel zweitens nur mithilfe eines wettbewerbs-
neutralen, diskriminierungsfreien Zugangs von Mitbe-
werbern der DB Cargo zu erreichen sein wird, und trotz-
dem liegt uns jetzt ein Gesetzentwurf vor, der genau
diesen Anforderungen nach der Meinung aller unabhän-
gigen Experten nicht gerecht wird. Die vor kurzem an-
gekündigte Ergänzung der jetzt vorliegenden Novelle
noch in diesem Frühjahr soll nun nicht mehr stattfinden.
Das ist eine neuerliche Düpierung des Bundesverkehrs-
ministers, denn damit wird noch nicht einmal umgesetzt,
was die berühmte Taskforce des Herrn Mehdorn vorge-
schlagen hat.
Dabei hatte der gegenwärtige Bundesverkehrsminister
zwischendurch ja durchaus einmal die richtige Erkenntnis
gewonnen. Vor noch nicht einmal einem Jahr, nämlich am
10. März 2001, hat Verkehrsminister Bodewig auf dem
Parteitag der Grünen in Stuttgart zutreffenderweise Fol-
gendes wörtlich ausgeführt:
Unsere Verkehrspolitik muss Wettbewerb für mehr
Verkehr auf der Schiene organisieren. Überall, wo
Wettbewerb auf der Schiene funktioniert, hat er
zusätzlichen Verkehr und Innovationen ausgelöst.
Der Netzzugang muss diskriminierungsfrei möglich
sein. Die Unabhängigkeit des Netzes ist also längst keine
Frage mehr des Ob, sondern eine Frage des Wann und des
Wie.
Herr Bundesverkehrsminister, mit dieser Aussage ha-
ben Sie sich damals als durchaus einsichtsfähig und kom-
petent ausgewiesen. Nur, was nützt dies, wenn Sie sofort
– die Tinte war noch nicht trocken – wieder umgefallen
sind? Und jetzt tun Sie so, als wäre all das gar nicht not-
wendig, was Sie selbst seinerzeit für unverzichtbar erklärt
haben.
Das Ergebnis der von der FDP und uns im Verkehrs-
ausschuss herbeigeführten Anhörung zu den vorgeschla-
genen Änderungen des Eisenbahngesetzes ist im Hinblick
auf die Fragen, ob diese Änderungen den EU-Richtlinien
entsprechen und ob dadurch ein fairer und neutraler Zu-
gang von Wettbewerbern der DB AG zum Schienennetz
gewährleistet werden kann, eindeutig: Keiner der befrag-
ten Experten ist der Meinung, dass die Regelungen den
Richtlinien 2001 Nummern 12 bis 14 der EG entsprechen.
Immer wieder heißt es, dass deren Anforderungen
überhaupt nicht erfüllt werden; so etwa der Verband Deut-
scher Verkehrsunternehmer. Das Eisenbahn-Bundesamt
hat vorsichtig formuliert: Wir halten den Gesetzgebungs-
entwurf für richtlinienkonform, aber die neuen Richtli-
nien werden nicht umgesetzt.
Bemerkenswert eindeutig sind die Antworten auf die
Frage, ob mit der Möglichkeit des Eisenbahn-Bundesamts
diskriminierende Praktiken der Bahn AG künftig von
Amts wegen aufzugreifen, ein diskriminierungsfreier Zu-
gang zum Schienennetz für dritte Bewerber gesichert
wird. Die Antworten lauten klipp und klar: Nein.
Beginnen wir mit dem Bundeskartellamt. Es schreibt:
Es bestehen begründete Zweifel, ob die beabsichtigte
Regelung geeignet ist, ihre angestrebten Ziele zu errei-
chen. Oder zitieren wir den Deutschen Bahnkundenver-
band: Nach Auffassung der DBV reicht das Gesetzespa-
ket noch nicht aus, um ein wettbewerbsneutrales
Verhalten der DB Netz AG zu erzwingen. Auch ein so an-
gesehener Managementberater wie Dr. Ilgmann ist in sei-
nem Urteil eindeutig. Wörtlich schreibt er: Dies läuft
darauf hinaus, dass durch ein Konstrukt vertikaler Inte-
gration von Netz und Transport im DB-Konzern per se
Wettbewerb auf der Schiene behindert wird.
Kein Regulierer – und sei er mit noch so hohen Ein-
griffsrechten ausgestattet – kann den Mangel dieser wett-
bewerblichen Fehlkonstruktion ausgleichen!
Dazu auch der Verkehrsclub Deutschland drastisch:
Dass die möglichen Diskriminierungen von einer Regu-
lierungsbehörde umfassend aufgedeckt werden können,
ist aufgrund deren strategischer Unterlegenheit ein from-
mer Wunsch. Und weiter heißt es: Eine wettbewerbsneu-
trale Mitwirkung der DB AG ist nicht denkbar.
Das bedeutet: Schon der Denkansatz der Bundesregie-
rung ist falsch, weil auf diese Weise Diskriminierungen
überhaupt nicht wirksam ausgeschlossen werden können.
Die Konstruktion ist nicht tragfähig, deshalb sind die vor-
liegenden Änderungen im Eisenbahngesetz zwar nütz-
lich, aber für das Ganze keine Lösung.
Der Verkehrsclub Deutschland e. V. weist weiter darauf
hin, dass auch alle Entzerrungsverträge und sonstigen
Hürden, die untereinander vereinbart werden, nichts da-
ran ändern, dass die Konzerntochter DB Netz der Kon-
zernleitung untergeordnet sein wird! Das deutsche Ak-
tienrecht erlaubt doch gar nicht, dass die Leitung des
gesamten Konzerns den Interessen diesen Konzerns
zuwiderhandelt, und Gleiches gilt praktisch auch für die
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Konzerntochter! Auch darüber, wohin das Ganze führen
wird, sind sich die Sachverständigen im Wesentlichen ei-
nig. Der Verkehrsclub Deutschland formuliert es so:
Wenn sich weiterhin der Eisenbahnsektor dem Wettbe-
werb verschließt, wird dieser seine eigene Antwort fin-
den: das Überflüssigwerden des Systems Eisenbahn.
In dieser drastischen Feststellung liegt keine Überdra-
matisierung der Situation, denn der permanente Rück-
gang des Schienengüterverkehrs am Gesamtaufkommen
des Güterverkehrs in Europa, zum Beispiel von 21 Pro-
zent im Jahr 1970 auf heute 8 Prozent, belegt diesen ne-
gativen Megatrend. Schon daraus müsste jeder vernünf-
tige Verkehrspolitiker bereits den Schluss ziehen: Wenn
die Rahmenbedingungen, die zu diesem Ergebnis geführt
haben, nicht drastisch geändert werden, dann wird sich
trotz aller Beteuerungen von Rot-Grün an der immer mehr
schwindenden Bedeutung des Schienengüterverkehrs
nichts ändern.
Diese Feststellung beinhaltet zugleich ein vernichten-
des Urteil über die rot-grüne Eisenbahnpolitik. Angeblich
sollte ja gerade die Schiene von dieser Politik profitieren,
aber, wie immer, wenn sich bei Ihnen Ideologie und Wirk-
lichkeit nicht in Einklang bringen lassen, muss die Wirk-
lichkeit weichen, ersetzen Versprechungen und unbe-
gründete Hoffnungen den notwendigen Sachverstand,
betreiben Sie reine Klientelpolitik und verlieren das Ge-
samtinteresse aus den Augen. Der einzig wirksame und
erfolgreiche politische Neuansatz in der Verkehrspolitik
stammt daher unverändert von Union und FDP, nämlich
in der Bahnreform! Die rot-grüne Koalition hat nichts
wirklich Neues zustande gebracht und dabei wird es bis
zum Ende der Legislaturperiode leider bleiben.
Die heute zur Debatte stehenden gesetzlichen Neure-
gelungen sind zwar nicht schädlich und deshalb tragen
wir sie mit, aber es ist deutlich zu erkennen, dass Sie kein
Konzept haben, um das dahinter stehende, nicht weiter to-
lerierbare Problem zu lösen. Sie nehmen die kleinen Ver-
besserungen bei den Rechten des Eisenbahn-Bundesam-
tes als Alibi für Ihre Handlungs- und Reformunfähigkeit.
Die Verantwortung für die daraus resultierenden fatalen
Folgen für den Schienenverkehr tragen der Bundesver-
kehrsminister, weil er wider besseres Wissen mitmacht,
und der Bundeskanzler, weil er kritiklos den Wünschen
des Vorstandsvorsitzenden der DB AG, Herrn Mehdorn,
folgt. Das Opfer ist der Schienenverkehr.
Dass man letztlich nichts Wirksames will, zeigt zudem
die magere Personalausstattung des Eisenbahnamtes für
diese Aufgabe. Ganze zwölf Mitarbeiter sollen das
Marktgeschehen genau beobachten, die Ermittlungen
durchführen, um Diskriminierungen rechtzeitig zu erken-
nen, und sie dann noch schnellstmöglich beseitigen.
Der Sachverständige Dr. Ilgmann hat der Bundesregie-
rung zu den Folgen dieser Politik im Anhörungsverfahren
ins Stammbuch geschrieben: Wenn der Bund weiterhin
seine Ordnungspolitik nach den Bedürfnissen des DB-
Konzerns und nicht nach den Bedürfnissen der Wettbe-
werbsbranche Schienenverkehr ausrichtet, wird er schei-
tern. – Dem ist nichts hinzuzufügen!
Beim Bundesverkehrsminister muss man leider kon-
statieren: Herr Mehdorn hält das Stöckchen hin und
Bodewig springt. Herr Bodewig hat zugelassen, dass die
Bahn-AG eine bombensichere Monopolstellung geschaf-
fen hat und das tut, was sie will. – Herr Bodewig, Sie sind
zum Befehlsempfänger von Herrn Mehdorn geworden. In
ganz Europa ist dies eine Einmaligkeit.
Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Das Zweite Änderungsgesetz sichert dem
Eisenbahn-Bundesamt (EBA) zu, als Wettbewerbsauf-
sicht bei diskriminierendem Verhalten im Bereich des
Netzzugangs von Amts wegen aktiv einzugreifen. Damit
stehen dem EBA alle Befugnisse einer Aufsichtsbehörde
zu, die mit dem Märchen der angeblichen Parteilichkeit
des Eisenbahn-Bundesamtes aufräumt. Es wird Zeit, dass
das EBAbereits im Vorfeld einer Trassen-Vergabe mögli-
cherweise diskriminierende Verhaltensweisen durch Un-
terlassungsverfügungen beseitigen kann.
Das EBA verfügt damit über genau geregelte Ein-
griffsmöglichkeiten wie Betretungsrechte, Einsicht in
Unterlagen, Recht auf Auskunft und die Verhängung eines
Zwangsgeldes bis zu Millionen DM. Personell wird das
EBA in die Lage versetzt, den Netzzugang wirksam zu
kontrollieren. Das Zusammenwirken von EBA und dem
Bundeskartellamt wird dazu führen, einen diskriminie-
rungsfreien Wettbewerb auf dem Schienennetz zu sichern.
Durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen
wird auch die Abgabe von Eisenbahnstrecken besser gere-
gelt und öffentlicher gemacht, sodass „kalte“ Stilllegungen
künftig vermieden werden und interessierte Infrastruktur-
unternehmungen schneller und besser an diesbezügliche
Informationen herankommen können. Statt der bisherigen
Freiwilligkeit sind Eisenbahninfrastrukturunternehmen
künftig verpflichtet, ihre Absicht zur Abgabe oder Stillle-
gung von Strecken in allgemein zugänglicher Form, auch
über das Internet, bekannt zu machen. Damit ist der § 11
AEG kein reiner Stilllegungsparagraph mehr, sondern
kann substanziell zum Erhalt der Eisenbahninfrastruktur
beitragen: In der Veröffentlichung müssen nämlich An-
gaben für die betriebswirtschaftliche Bewertung der je-
weiligen Strecken gemacht werden, und zwar unter
Berücksichtigung ihrer Bestimmung, das heißt für den
Eisenbahnverkehr und nicht als beliebige Immobile.
Die ebenfalls in der Novelle vorgesehene Einführung
der netzbezogenen Zuständigkeiten ist ein längst überfäl-
liger Schritt. Das Wirrwarr von parallelen Zuständigkei-
ten im Netz wird aufgelöst; bei der Nutzung fremder
Netze kommt es nicht mehr zu wettbewerbsfeindlichen
Überschneidungen von Zuständigkeiten. Der Kern der Si-
cherheit sind die infrastrukturellen Bedingungen und das
Zusammenspiel zwischen Netz und Betrieb. Es wird da-
her grundsätzlich der für die Eisenbahninfrastruktur zu-
ständigen Behörde die Aufsicht auch über dasjenige Ei-
senbahnverkehrsunternehmen übertragen, das auf dem
jeweiligen Netzt fährt.
Die Gutachter der am 26. November 2001 durchgeführ-
ten Anhörung im Bundestags-Verkehrsausschuss haben
eine schnelle parlamentarische Beratung des Zweiten Än-
derungsgesetzes empfohlen. Insofern war die Verzöge-
rungstaktik der Opposition hier kontraproduktiv. Das
Gesetzesvorhaben ist von den Regelungen her aufwärts-
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kompatibel zu einem geplanten Dritten Änderungsgesetz
für eisenbahnrechtliche Vorschriften, das die Umsetzung
der Ergebnisse der Taskforce und die Infrastrukturrichtli-
nien der EU beinhalten muss. Das vorliegende Zweite Än-
derungsgesetz kann dies nicht ersetzen und ist daher ein
qualifizierter Zwischenschritt in diese Richtung.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Dieses Gesetzes-
vorhaben hat ein Gutes. Endlich wird in diesem Hause fest-
gestellt, dass die DB AG Wettbwerber diskriminiert. Sonst
müsste man dieses Gesetz ja nicht machen. Damit wird in
dieser Debatte ein kleiner, aber wesentlicher Fortschritt er-
zielt und der Haltung meiner Fraktion in dieser Frage im
Grundsatz gefolgt. Allerdings ist es wirklich nur ein kleiner
Fortschritt – ich erinnere an die Anhörung des Verkehrs-
ausschusses, die wir Liberale hierzu beantragt haben –;
denn die Gefahr der Diskriminierung von Wettbewerbern
durch die DB AG bei der Benutzung des Netzes ist mit den
heute zu beschließenden Regelungen nicht gebannt.
Erstens sollte die Wettbewerbsaufsicht nicht beim Ei-
senbahn-Bundesamt angesiedelt werden, sondern beim
Bundeskartellamt, da das Kartellamt über lange Erfah-
rung mit Monopolen, Diskriminierungen und sonstigen
Wettbewerbsverzerrungen verfügt, egal in welcher Bran-
che. Umgekehrt steht nämlich zu befürchten, dass das im
EBA noch vorherrschende Denken im Sinne einer verti-
kal integrierten Bahn die Wettbewerbsdiskriminierungen
gar nicht so ernst nimmt.
Zweitens ist die Vorstellung, man könne „Chinese
Walls“ im Bahnkonzern einziehen, sehr naiv. „Chinese
Walls“ funktionieren im Finanzsektor, zum Beispiel bei
Banken, zur Verhinderung von Absprachen bei sehr kurz-
fristigen Geschäften. Eine institutionelle Verständigung
zwischen einzelnen Bereichen kann es dann durch den
Zeitdruck einfach nicht mehr geben. Hier geht es aber um
die Prüfung von Angeboten, die Erstellung von Trassen-
fenstern, die Verhandlung von Preisen, was sich nicht wie
bei Termingeschäften auf dem internationalen Finanz-
markt in Sekundenschnelle, sondern meist in Wochen er-
ledigen lässt. „Chinese Walls“ ist zwar ein schönes Wort
aus der BWL, bleibt bei der Bahn aber wirkungslos.
Drittens unterläuft die Bahn mit Blick auf dieses Gesetz
bereits heute diese papiernen chinesischen Wände, indem
sie den Schlüsselbereich des Netzes, die Investitions-
planung, aus der Netz AG herausnimmt und ganz oben in
der Holding, bei dem Bahnchef höchstselbst, ansiedelt.
Dies ist ein weiterer Schlag ins Gesicht des Bundesver-
kehrsministers, der bei jedem noch so kleinen Versuch, der
Bahn Wettbewerbsmanieren beizubringen, durch Struktur-
veränderungen bei der Bahn ins Leere läuft. Die Investi-
tionsplanung des Netzes ist nämlich der eigentliche Kern
des Monopols und Mehdorn weiß das ganz genau. Ich
gebe Ihnen ein Beispiel, wie das funktioniert:
Die Netz AG vergibt absolut gesetzestreu Trassen an
die Wettbewerber, damit das EBAnicht einschreitet. Wel-
che Strecken aber modernisiert, beschleunigt, ausgebaut
oder neu gebaut werden, entscheidet dann wieder der
Konzernchef. Und niemand sollte glauben, dass allzu viel
Investitionsmittel in diejenigen Strecken fließen, die von
den Wettbewerbern befahren werden. Welch Zufall!
Also: Echter Wettbewerb auf der Schiene und damit
mehr Angebote für die Kunden, verschiedene Preissys-
teme und insgesamt ein Anstoß zum Wachsen dieses Ver-
kehrssektors werden nur durch eine echte Trennung von
Netz und Betrieb erreicht. Solange die Netz AG Bestand-
teil der DB AG bleibt, gibt es dafür keine Chance.
Wie anfangs schon gesagt, wird mit diesem Gesetz nur
ein kleiner Fortschritt erzielt. Das Problem ist benannt.
Zwar wird im Hinblick auf den angestrebten Wettbewerb
das Ziel nicht ereicht, allerdings werden einige Kleinig-
keiten im administrativen Bereich geregelt. Daher schadet
es insgesamt auch nicht, was bei Ihren Gesetzen aller-
dings selten ist, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
Wir können zustimmen.
Angelika Mertens, Parlamentarische Staatssekretärin
beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen:Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung eisenbahn-
rechtlicher Vorschriften werden Probleme gelöst, die sich
aus der täglichen Praxis ergeben. Dazu gehören insbeson-
dere folgende Punkte: die Zuständigkeit und die Kompe-
tenzen der Aufsichts- und Genehmigungsbehörden unter
der Bedingung des diskriminierungsfreien Netzzugangs,
die Rolle des Eisenbahn-Bundesamtes bei der Überwa-
chung des diskriminierungsfreien Netzzugangs, die Rechte
und Pflichten von Teilnehmern am Eisenbahnbetrieb, die
keine Eisenbahnen sind.
Im geltenden AEG ist der Sitz des Unternehmens der
Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit der Aufsichts-
und Genehmigungsbehörde. Dies führt in der Praxis zu
Schwierigkeiten. Ein Beispiel: Fährt ein in Bayern ge-
nehmigtes Eisenbahnverkehrsunternehmen in Branden-
burg, müsste die bayerische Aufsichtsbehörde, um ihrer
Aufsichtspflicht nachzukommen, regelmäßig nach Bran-
denburg fahren und das Eisenbahnverkehrsunternehmen
dort kontrollieren.
Um zu vernünftigen Ergebnissen zu gelangen, lag es
nahe, sich vom Sitz des Unternehmens als alleinigem An-
knüpfungspunkt für die Aufsicht zu lösen und als Kriterium
auch die konkrete Nutzung des Netzes durch ein Eisen-
bahnverkehrsunternehmen einzuführen. Dies führt zu der
von allen Praktikern begrüßten Einführung einer netzbezo-
genen Zuständigkeit der Eisenbahnaufsichtsbehörden.
Eine Aufsichtsbehörde kann sich nicht darauf be-
schränken, eine Abweichung vom Sollzustand festzustel-
len. Sie muss auch die Möglichkeit haben zu handeln.
Dazu sind eine Reihe von Befugnissen erforderlich, zum
Beispiel das Recht auf Einsicht in Unterlagen. Die Eisen-
bahnen müssen verpflichtet werden können, Auskünfte zu
erteilen oder Nachweise zu erbringen.
Diese Regelungen sind in § 5 a des AEG-Entwurfs zu-
sammengefasst. Sie orientieren sich an den entsprechen-
den Regelungen im Güterkraftverkehrsgesetz, § 12 Abs. 4.
Die Eisenbahnaufsichtsbehörden können die zur
Durchführung ihrer Aufsichtsaufgaben erforderlichen
Verwaltungsmaßnahmen nach den allgemeinen Vor-
schriften erzwingen. Die Höhe des Zwangsgeldes wird
durch die Novellierung auf bis zu 500 000 Euro festgelegt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21691
(C)
(D)
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(B)
Ein besonderer Teil der Eisenbahnaufsicht betrifft den
Bereich der Netzzugangsstreitigkeiten. Nach der bisheri-
gen Rechtslage entscheidet das Eisenbahn-Bundesamt,
wenn eine Vereinbarung über den Zugang nicht zustande
kommt, auf Antrag eines der beteiligten Unternehmen.
Damit ist die Durchsetzung des diskriminierungsfreien
Netzzugangs vom Antrag eines Unternehmens abhängig.
Diese Regelung ist nicht sehr effizient.
Es besteht erhebliches Interesse aufseiten des Bundes,
das Recht auf diskriminierungsfreien Netzzugang so wirk-
sam wie möglich zu schützen. Es wird daher im Rahmen
der Neuordnung dem Eisenbahn-Bundesamt die Kompe-
tenz zugewiesen, diskriminierendes Verhalten von Amts
wegen im Rahmen der Eisenbahnaufsicht zu untersagen.
Da auch das Bundeskartellamt im Rahmen seiner all-
gemeinen Missbrauchsaufsicht auf der Grundlage des Ge-
setzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gegen die
sachlich nicht gerechtfertigte Verweigerung des Zugangs
zur Eisenbahninfrastruktur vorgehen kann, ist eine Zu-
sammenarbeit der Behörden geboten.
Der Gesetzentwurf regelt dies in Anlehnung an das Te-
lekommunikationsgesetz. Damit entspricht das Verhältnis
Eisenbahn-Bundesamt/Bundeskartellamt dem Verhältnis
zwischen Regulierungsbehörde Telekommunikation und
Bundeskartellamt.
Das Eisenbahn-Bundesamt handelt nur auf der Grund-
lage des Eisenbahnrechts im Rahmen der Eisenbahnauf-
sicht. Durch die Eisenbahnaufsicht wird die Beachtung
des AEG und seiner Vorschriften sichergestellt. Damit
können Verstöße gegen § 14 AEG und die Eisenbahn-
infrastruktur-Benutzungsverordnung verfolgt werden.
Die Kompetenz erstreckt sich insbesondere auf die
Untersagung Allgemeiner Geschäftsbedingungen, in de-
nen technische und betriebliche Anforderungen enthalten
sind, die das erforderliche Maß überschreiten. Dazu ge-
hört auch die Untersagung von Trassenpreissystemen, die
den Anforderungen der Eisenbahninfrastruktur-Benut-
zungsverordnung nicht entsprechen.
Es bleibt als letzter großer Regelungsbereich das Pro-
blem von Teilnehmern am Eisenbahnbetrieb, die selbst
keine Eisenbahnverkehrsunternehmen sind, beispiels-
weise Unternehmen, die Schienenbaufahrzeuge oder Pri-
vatgüterwagen einsetzen. Mit der zunehmenden Differen-
zierung des Eisenbahnsektors eröffnen sich gerade in
diesem Bereich eine Fülle von Möglichkeiten, zum Bei-
spiel durch die Vermietung von Lokomotiven durch so ge-
nannte Lokpools.
Unstreitig ist wohl, dass derartige Unternehmen Eisen-
bahnvorschriften unterliegen und von Eisenbahnauf-
sichtsbehörden beaufsichtigt werden. Dies wurde im Ge-
setz klargestellt.
Die Reformgesetzgebung im Eisenbahnbereich ist mit
dem Zweiten Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften nicht beendet.
Das Dritte Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften – mit der Umsetzung der EU-Richtlinien
des „Infrastrukturpaketes“ und der Ergebnisse der Task-
force – wird folgen. Das war auch das Ergebnis unserer
Ausschussanhörung am 26. November 2001. Die Gutach-
ter empfahlen eine schnelle parlamentarische Beratung
des Zweiten Änderungsgesetzes, da die neuen Vorschrif-
ten unter anderem ein wichtiger Schritt zu mehr Wettbe-
werb im Eisenbahnbereich sind.
In diesem Sinne bitte ich – jetzt im zweiten Anlauf –
um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än-
derung des Gentechnikgesetzes
– des Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung
des Gentechnikgesetzes
– der Unterrichtung: Zweiter Bericht der Bun-
desregierung über Erfahrungen mit dem Gen-
technikgesetz
– der Beschlussempfehlung und des Berichts
zur Unterrichtung: Bericht der Bundesregie-
rung über Erfahrungen mit dem Gentechnik-
gesetz
(Tagesordnungspunkt 8 a und d)
Dr. Carola Reimann (SPD): Wir haben seit mehr als
zehn Jahren in Deutschland ein Gentechnikgesetz. Dabei
hat sich das deutsche Gentechnikrecht bewährt – sowohl
unter dem Gesichtspunkt des Vorsorgeprinzips, als auch
dem Schutz der Beschäftigten und der Bevölkerung. Bei
allen Ängsten, die es vor der Nutzung dieser Technologie
gab und die der Gentechnik eine besondere Aufmerksam-
keit haben zukommen lassen, muss man sagen: Es ist
nichts passiert. Es gab keine Probleme mit Freisetzungen
von Mikroorganismen aus Labors und Produktionsanla-
gen, die eine Gefährdung für die Bevölkerung dargestellt
hätten. Das ist auch ein Verdienst der gesetzlichen Rege-
lung und gleichzeitig Beweis dafür, dass sich das Gesetz
bewährt hat. Daneben ist dieses Gesetz Beispiel dafür,
dass Forschung auch in einem begrenzenden rechtlichen
Rahmen sich gedeihlich entwickeln kann.
Die deutsche Gesetzgebung beruht dabei auf europä-
ischem Gemeinschaftsrecht. Dass das keine Einbahnstraße
darstellen muss, sieht man auch an dieser Richtlinie. In der
geänderten Richtlinie sind die genetisch veränderten Or-
ganismen – wie im deutschen Gentechnikrecht – in vier
Gruppen in Abhängigkeit von ihrem Gefährdungspoten-
zial eingeteilt. Diese Einordnung der Mikroorganismen in
Sicherheitsklassen hat sich bewährt und Brüssel hat dies
aus dem deutschen Gentechnikrecht übernommen.
Aber auch Bewährtes muss ab und an überprüft und
angepasst werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen
der vergangenen Jahre sind die Regelungen hinsichtlich
Anmelde-, Anzeige- und Genehmigungspflichten ange-
passt worden. Zu den Anpassungen gehört, dass es keine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221692
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Unterschiede mehr zwischen Forschungs- und Gewerbe-
anlagen gibt. Dies ist auch deshalb zu begrüßen, da wir
alle hoffen, dass Gentechnik die Basis für eine zuneh-
mend produzierende Zukunftsbranche ist.
Ich halte es für richtig, dass man sich auf EU-Ebene
und auch im eigenen Land bemüht, die Vorschriften bei
Genehmigungen und Umgang mit gentechnisch verän-
derten Mikroorganismen zu vereinfachen, um die Verfah-
ren auch zu beschleunigen – da, wo es verantwortbar
ist –, ohne dabei den Schutz der Beschäftigten und der Be-
völkerung zu reduzieren. Deshalb sollen die Vorschriften
bei Arbeiten mit harmloseren Organismen der Sicher-
heitsstufe 1 und 2 vereinfacht und abgebaut werden.
Unter die Sicherheitsstufe 1 fallen alle harmlosen
Mikroorganismen, von denen keine Gefährdung für Be-
schäftigte und Bevölkerung ausgehen. Für den Bau einer
Anlage und erstmalige Arbeiten mit diesen Organismen
soll zwar wie bisher eine Anmeldung notwendig sein,
weitere Arbeiten sollen jedoch nur noch einer Aufzeich-
nungspflicht für Forschung und Gewerbe unterliegen.
Bisher mussten Arbeiten in gewerblichen Anlagen ange-
meldet werden. Damit befreien wir auch die Industrie von
überflüssigen bürokratischen Hürden.
Zur Risikogruppe 2 gehören so harmlose Erreger wie
der Karieserreger Streptococcus mutans, aber auch schon
weniger harmlose wie der Eitererreger oder auch einige
Salmonellen. Für Anlagen und erstmalige Arbeiten mit
Organismen der Stufe 2 soll nicht wie bisher eine Geneh-
migung notwendig sein, sondern nur noch eine Anmel-
dung mit der Option einer Genehmigung. Für weitere Ar-
beiten soll für Forschung wie für Gewerbe in Zukunft eine
Anzeige mit Option der Genehmigung ausreichen. Hier
galten bisher für Forschung und Gewerbe unterschiedli-
che, strengere Regelungen: Anmeldung für die Forschung
und Genehmigung für das Gewerbe.
Dass bei allen Bemühungen, das Verfahren zu verein-
fachen und überflüssige Regelungen abzubauen, der
Schutz vor einer möglichen Gefährdung der Beschäftigten
und Bevölkerung nicht aus dem Blick gerät, zeigt, dass für
Arbeiten mit gefährlicheren Organismen der Gruppe 3 und
4 für den Bau einer Anlage und erstmalige Arbeiten eine
Genehmigung erforderlich sein soll und auch weitere Ar-
beiten mit diesen Organismen immer einer Genehmigung
unterliegen sollen. An dieser Stelle verschärfen sich damit
die Anforderungen für die Forschung, da Forschung und
Gewerbe jetzt gleich behandelt werden.
Der ganz überwiegende Teil der Arbeit wird jedoch mit
Organismen der Stufen1 und 2 durchgeführt. Ein Beispiel
sind Arbeiten mit dem E. coli-Stamm K 12. E. coli ist ein
Darmbakterium und gehört ohne genetische Veränderung
in die Risikogruppe 2. Die Erfahrungen der letzten Jahre
zeigen jedoch – E. coli K12 ist quasi das Haustier des
Gentechnikers –, dass für Arbeiten mit diesem veränder-
ten Stamm keine erhöhten Sicherheitsanforderungen not-
wendig sind, da die genetische Veränderung den Stamm
nicht gefährlicher, sondern harmloser macht.
Ich begrüße es deshalb an dieser Stelle ausdrücklich,
dass der Gesetzesentwurf eine Ermächtigungsgrundlage
vorsieht für den Erlass einer Rechtsverordnung, um be-
stimmte Mikroorganismen aus dem Regelungsbereich des
Gesetzes ganz oder teilweise entlassen zu können, wenn
die Erfahrungen dafür sprechen.
Gesetzliche Regelungen sind kein Selbstzweck, sie
dienen der Wahrnehmung der Verantwortung für Bürge-
rinnen und Bürger und dem Schutz der Beschäftigten,
müssen aber auch Raum lassen für Kreativität und Eigen-
initiative. Deshalb, glaube ich, ist mit dem vorliegenden
Gesetzesentwurf die Balance zwischen „so viel Freiraum
wie möglich“ und „so viel Regelung wie nötig“ gefunden.
Helmut Heiderich (CDU/CSU):
Biowissenschaften und Biotechnologie bilden nach
allgemeiner Einschätzung die nächste Phase der
technologischen Revolution in der wissensbasierten
Wirtschaft. Und sie schaffen neue Möglichkeiten für
unsere Gesellschaft und Volkswirtschaft.
So formuliert die Europäische Kommission in einer ak-
tuellen Vorlage für den Europäischen Rat im kommenden
Monat in Barcelona. Gleichzeitig lese ich in der Begrün-
dung der SPD zur Beschlussempfehlung des Gesundheits-
ausschusses zum heutigen Thema, „dass die anfänglich
dynamische Entwicklung im Gentechnikbereich sich
auch im Hinblick auf EU-Gentechnikrecht und nationales
Gentechnikrecht verlangsamt habe“. Der Gentechnik-
bericht solle demzufolge nur noch alle fünf Jahre
vorgelegt werden.
Welch ein Unterschied in der Beurteilung! Genauso
unterschiedlich ist das politische Handeln. „Biowissen-
schaften und Biotechnologie entwickeln sich schnell und
weltweit weiter“, so Romano Prodi für die EU. Während
die Europäische Kommission zu Aktivität und Aufbruch
mahnt, hinkt die Bundesregierung der Entwicklung weit
hinterher.
Die heute vorgelegte Änderung des Gentechnikgeset-
zes beruht auf einer europäischen Richtlinie von 1998.
Die Frist für die Umsetzung in nationales Recht ist bereits
am 5. Juni 2000 abgelaufen, wie der Bundesrat – auf
Initiative Bayerns – in seinem Gesetzentwurf zu Recht
moniert. Davon aufgeschreckt, hatte die Bundesregierung
versprochen, auch die Richtlinie 2001/18-EG vom
12. März 2001 in einen einheitlichen Gesetzentwurf ein-
zubringen.
Dieser Gesetzentwurf soll noch in der parlamentari-
schen Sommerpause vom Kabinett beschlossen
werden.
Damit war die Sommerpause 2001 gemeint. Eingelöst
ist dieses Versprechen, wie so viele andere, bis heute
nicht.
Obwohl die Bundesregierung so viel Zeit hat verstrei-
chen lassen, obwohl sie in ihrem eigenen Gentechnikbe-
richt auf Seite 22 mehrfach zu dem Urteil kommt, dass es
„keine Hinweise auf unvorhergesehene Ereignisse oder
Risiken durch die gentechnischen Veränderungen gebe“,
obwohl der Gentechnikbericht weiter feststellt: „Schäden
für Mensch oder Umwelt, die auf gentechnische Arbeiten
oder gentechnisch veränderte Organismen zurückzu-
führen wären, sind der Bundesregierung aus Deutschland
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21693
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nicht bekannt“, obwohl alle diese positiven Erfahrungen
vorhanden sind, traut die Bundesregierung ihren eigenen
Erkenntnissen nicht.
Deregulierung und Verfahrensvereinfachungen wer-
den nur zum Teil umgesetzt. Obwohl von der EU aus-
drücklich eine Sicherheitsstufe 1 geschaffen worden ist,
die alle Arbeiten „ohne Risiko oder mit vernachlässigba-
rem Risiko“ umfasst, kann sich die Bundesregierung nicht
durchringen, dafür ein Anzeigeverfahren, wie von der EU
beschlossen, als ausreichend zu akzeptieren. Da Arbeiten
nach Stufe 1 laut Gentechnikbericht rund drei Viertel aller
Maßnahmen betreffen, wäre hier eine Chance, um die
Möglichkeiten der Deregulierung bei unverändert hohem
Sicherheitsniveau zu nutzen. Trotzdem besteht die Bun-
desregierung weiter auf einem Anmeldeverfahren, was
für den Forschungsstandort Deutschland nicht gerade
hilfreich ist.
Damit wir uns richtig verstehen: Das Gentechnikrecht
muss auch weiterhin, wie es in der Verantwortung von
CDU/CSU konzipiert worden ist, garantieren, dass die
Entwicklung und Anwendung von Biowissenschaft und
Biotechnologie sicher für Mensch, Tier und Umwelt sind.
Gerade diese Erfahrung wird vom Gentechnikbericht der
Bundesregierung durchweg positiv bestätigt, zum Bei-
spiel in den jährlichen Zwischenberichten an das Robert-
Koch-Institut. Bei den Freisetzungsversuchen ergaben
sich „bislang keine Hinweise auf unvorhergesehene Er-
eignisse oder Risiken durch die gentechnischen Verände-
rungen“.
Ganz im Gegensatz dazu wird das Handeln der Bun-
desregierung beschrieben:
Seit März 1998 wurde trotz zahlreicher vorliegender
Anträge keine Produktgenehmigung mehr erteilt. Es
ist ein Zulassungsstau entstanden, der zunehmend zu
handelspolitischen Spannungen mit Nicht-EU-Part-
nern führt.
Auch an dieser Stelle passen fachlich-wissenschaftli-
che Erkenntnis und politisches Handeln nicht zusammen.
Die Bundesregierung hinkt nicht nur an dieser Stelle
der europäischen Entwicklung hinterher. Sie hängt nach
bei der von ihr selbst versprochenen Umsetzung der Frei-
setzungsrichtlinie. Sie hängt nach bei der Anwendung der
Kennzeichnungsregeln, die Ministerin Künast beim Eu-
ropäischen Agrarrat noch begrüßt hat. Sie hängt nach bei
der Festlegung von Schwellenwerten. Das ist ein Ver-
säumnis, das jährlich für Negativschlagzeilen sorgt, wenn
wieder einmal einige Körner gentechnischen Saatguts an
der Nachweisgrenze der technischen Möglichkeiten ge-
funden worden sind oder gefunden worden sein sollen.
Anstatt die europaweit vorgeschlagenen Toleranzgren-
zen von 1 Prozent zu akzeptieren, besteht Künast weiter
auf null Toleranz. Doch die gibt es nicht einmal bei
Reinstraumproduktionen der Industrie. Die Bundesregie-
rung hängt nach bei dem von ihr selbst zugesicherten
Drei-Jahres-Anbauprogramm auf landwirtschaftlichen
Praxisflächen mit einer Größenordnung von 10 000 bis
15 000 Hektar. Die Bundesregierung hängt nach bei der
Zulassung von gentechnisch fortentwickelten Sorten, ob-
wohl diese alle Prüfungen einschließlich der Zustimmung
der ZKBS, der Zentralen Kommission für Biologische Si-
cherheit, erfolgreich durchlaufen haben.
Um auch hier allen falschen Argumenten entgegenzu-
treten, sei die Bundesregierung selbst zitiert. Sie betont in
diesem Zusammenhang ausdrücklich, „dass das In-Ver-
kehr-Bringen von Lebensmitteln, die gesundheitlich be-
denklich sind, ohnehin und grundsätzlich untersagt ist,
ohne Rücksicht auf das Herstellungsverfahren“. Wenn
also über Kennzeichnungsverfahren oder Schwellenwerte
diskutiert wird, so geht es dabei nicht um gesundheitliche
Risiken oder gar Gefährdungen des Verbrauchers, wie
dies häufig öffentlich dargestellt wird. Es geht vielmehr
einzig um die Frage der Information des Verbrauches und
der Öffentlichkeit. Zur Klarstellung dieses Zusammen-
hangs könnte sicherlich auch der Diskurs von Ministerin
Künast hilfreich sein, wenn er denn nicht nur auf Verzö-
gerung angelegt ist. Diese Verzögerungsstrategie von
Rot-Grün, wie sie in vielen Bereichen der Biotechnologie
erkennbar ist, entmutigt zunehmend öffentliche und pri-
vate Forscher, Züchter und Entwickler sowie Geldgeber
der Biotechnikbranche in Deutschland.
So ist es kein Wunder, dass selbst der Gentechnikbe-
richt der Bundesregierung zu der Feststellung kommt,
dass in Deutschland ab dem Jahr 2000 ein Rückgang der
Freisetzungsvorhaben festgestellt worden sei. So ist es
kein Wunder, dass die Bundesregierung in ihrem eigenen
Bericht darauf hinweist, dass Freisetzungen in Ländern
mit günstigeren Rahmenbedingungen abgewandert sein
könnten, wie in den Medien berichtet werde.
Zur neuen strategischen Vision der EU für Biowissen-
schaften und Biotechnologie, die in wenigen Wochen in
Barcelona beschlossen werden soll, hat die Bundesregie-
rung bis dato nichts, was erkennbar wäre, beigetragen.
Nicht einmal die Regelungen der Zuständigkeiten zwi-
schen der angeblich jetzt verantwortlichen Ministerin
Künast und dem bisher zuständigen Gesundheitsministe-
rium sind nachvollziehbar geklärt. Allerdings hat Minis-
terin Künast durch Verzögerungen, rechtsbeugende Ein-
griffe und Düpierung der Wissenschaft dafür gesorgt, dass
Gutachter und Beiräte reihenweise zurückgetreten sind.
Während die Bundesregierung in ihrem eigenen Erfah-
rungsbericht von einer „zunehmenden Bedeutung der
Gen- und Biotechnologie als Innovationsmotor“ spricht,
tut sie mit ihrer praktischen Politik alles, um diesen Mo-
tor abzubremsen bzw. abzuwürgen. Der heutige Trippel-
schritt, nach mehr als drei Jahren Nichtstun, zeigt, wie
sehr die Biotechnologie in unserem Land inzwischen ver-
nachlässigt wird. Während sich selbst China in der neuen
Ausgabe des „SCIENCE Magazins“ als „Global Leader“
in der Pflanzengentechnik bezeichnet, ist Deutschland
drauf und dran, den Anschluss in der europäischen Bio-
wissenschaft und Biotechnologie zu verlieren.
Fazit: Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung
macht durchweg deutlich, dass die Entwicklungen der
Gentechnik sicher und ohne Risiko für Mensch, Tier und
Umwelt sind. Das Vorsorgeprinzip hat sich bewährt. Nach
den durchweg positiven Erfahrungen könnten zahlreiche
Vorschriften vereinfacht und Verfahren beschleunigt wer-
den. Dies käme dem Forschungsstandort Deutschland sehr
zugute. Die aktuelle Politik von Rot-Grün widerspricht
jedoch in weiten Bereichen dem Erfahrungsbericht der
eigenen Bundesregierung. Während der Europäische Rat
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221694
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zu neuen Visionen in der Biotechnologie aufruft, steht Rot-
Grün in Deutschland noch immer auf der Bremse. Lassen
Sie deshalb endlich die alten verstaubten Einstellungen
zurück und nutzen Sie die positiven Erkenntnisse des Gen-
technikberichts! Behandeln Sie die Gentechnik als Schlüs-
seltechnik der Zukunft und reden Sie nicht nur hinter ver-
schlossenen Türen davon!
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei
der Gentechnik handelt es sich um eine grundlegend neue
Dimension von Eingriffen in die Natur, die weit über eine
Weiterentwicklung der Evolution und klassischer Züch-
tung hinausweist. Gerade diese grundsätzliche Dimension
führt aber dazu, dass immer intensiver geforscht werden
wird und mit der notwendigen Vorsicht und Sorgfalt auch
geforscht werden muss. Das hat die Debatte um embryo-
nale Stammzellen der letzten Monate einer breiten Öf-
fentlichkeit klar gemacht.
Eine solche Situation erfordert eine Information und
Aufklärung aller Menschen in der Gesellschaft, wie sie
bislang bei naturwissenschaftlichen Entwicklungen nicht
üblich war. Zugleich verlangt sie eine Verständigung der
Gesellschaft darüber, welche Chancen sie nutzen, welche
Risiken sie vermeiden will und wo Grenzen gesetzt wer-
den müssen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass alles getan
wird, um die optimale Sicherheit für Mensch und Umwelt
unter Vorsorgegesichtspunkten zu wahren. Das gilt glei-
chermaßen für Bereiche, in denen in absehbarer Zeit ein
breiter gesellschaftlicher Konsens für gentechnische Ver-
fahren zu erwarten ist, wie die Herstellung von pharma-
zeutischen Produkten, und ebenso für hoch umstrittene
Anwendungen wie den Einsatz von Gentechnik in der Le-
bensmittelproduktion.
Diese optimale Sicherheit zu gewährleisten – bei
gleichzeitiger Wahrung der Rechtssicherheit für die For-
schung und die Wirtschaft –, das soll die Änderung des
Gentechnikgesetzes leisten. Das begrüßen wir ausdrück-
lich. Gleichzeitig werden Verfahrensvereinfachungen und
-beschleunigungen vorgenommen, wo das möglich und
verantwortbar ist. Das entlastet Anwender und Behörden
gleichermaßen. Auch das begrüßen wir.
Das nun vorgelegte Gesetz wird die Änderung der
Richtlinie des Ratens über die Anwendung gentechnisch
veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen
– die so genannte Systemrichtlinie – vom 26. Oktober
1998 in deutsches Recht umsetzen. Die geplante gleich-
zeitige Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie konnte
leider nicht realisiert werden, weil es auf EU-Ebene noch
keine klare Positionierung in den zentralen Punkten
„Rückverfolgbarkeit“ und „Kennzeichnung“ gibt. Des-
halb ist es richtig, zum jetzigen Zeitpunkt nur die Vor-
schriften der Systemrichtlinie umzusetzen.
Wir sehen Änderungsbedarf in zwei Punkten:
Zum ersten halten wir eine Verordnungsermächtigung,
die gentechnisch veränderte Mikroorganismen aus dem
Geltungsbereich des Gentechnikgesetzes herausnimmt,
für kontraproduktiv. Sie ist auch überflüssig. Der hohe Si-
cherheitsstandard in deutschen Labors hat sich bewährt
und soll auf jeden Fall aufrechterhalten bleiben. Schon
gibt es erste Forderungen aus Industrieverbänden, auch
einzelne Pflanzen und Tiere auszunehmen. Da kann ich
nur sagen: Nicht mit uns! Letztlich wird jede Aufwei-
chung von Sicherheitsstandards in der Gentechnik auch
negativ auf die Forschung und Produktion in diesem Be-
reich zurückfallen und die gesellschaftliche Akzeptanz
verringert.
Zweitens wird der Bundesrat aus der Praxis der Ge-
nehmigungsbehörden einige Anregungen geben, welche
Vorschriften praktikabel sind und welche weniger. Das
werden wir aufgreifen. Insbesondere ist zu hinterfragen,
ob das neu eingeführte Anzeigeverfahren der Verfah-
renserleichterung dient oder ob der vorgeschlagene Weg
nicht neue Unübersichtlichkeiten schafft. Unsere Gesetze
sollten doch lesbar und übersichtlich sein und Planungs-
sicherheit schaffen. Das ist unser Ziel. In diesem Sinne
wünsche ich uns eine konstruktive und zügige Beratung
dieses Gesetzes.
Detlef Parr (FDP): Die Vereinfachung und Beschleu-
nigung von Verwaltungsverfahren im Gentechnikbereich,
der führenden Zukunftstechnologie, dulden eigentlich
keinen Aufschub. 18 Monate Umsetzungsfrist einer ent-
sprechenden EU-Richtlinie sollen eigentlich ausreichend
sein. Umso verwunderlicher ist, dass die Bundesregie-
rung diese Frist weit überschritten hat und erst nach einem
Vertragsverletzungsverfahren der Kommission in die
Gänge gekommen ist. Dafür haben wir kein Verständnis.
Wir begrüßen den nunmehr vorgelegten Entwurf eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes
einer deregulierenden EU-Richtlinie vom Oktober 1998.
Die bisherigen Verwaltungsverfahren standen in keiner
Relation zum eigentlichen Risiko der Verwendung in ge-
schlossenen Systemen. Aber im Beratungsverfahren wird
sehr stark darauf zu achten sein, ob die selbst gesetzten
Ansprüche durch die vorgelegten Regelungen tatsächlich
erfüllt werden. Es reicht nicht, dass wir hier in Berlin Ge-
setze mit notwendigen und richtigen neuen Zielsetzungen
verabschieden, auf der Länderebene aber von subalternen
Beamten die Umsetzung nur schleppend oder widerwillig
erfolgt. Ziel muss es sein, den Schutzgedanken für die
Menschen mit einer deutlichen Förderung dieser Techno-
logie zu verbinden. Im Bereich der roten Gentechnik war-
ten viele Patientinnen und Patienten auf Hilfe. Die Ent-
wicklung entsprechender Diagnose- und Therapiemög-
lichkeiten darf nicht durch überzogene bürokratische Vor-
schriften behindert werden. Gleichwohl muss sicher-
gestellt werden, dass von der Gentechnik selbst keine un-
verantwortlichen Gefahren für die Menschen ausgehen.
In der grünen Gentechnik stellt sich die Situation ähn-
lich dar. Auf ihr ruhen viele Hoffnungen. Es muss zukünf-
tig gelingen, mehr Menschen mit Lebensmitteln zu ver-
sorgen. Aber auch die Möglichkeit, zum Beispiel durch
den Anbau von gentechnisch verändertem Raps mit einem
höheren Eiweißgehalt die Lücke zu schließen, die durch
das Verfütterungsverbot von Tiermehl entstanden ist, darf
nicht unterschätzt werden.
Gentechnisch hergestellte Medikamente machten in
Deutschland 1999 7 Prozent des Umsatzes der pharma-
zeutischen Industrie aus. Es gab danach 176 deutsche Pa-
tentanmeldungen zu Arzneimitteln mit biotechnologi-
schem Bezug, ein Anstieg um 3 Prozent. Deutschland
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21695
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liegt seither europaweit an der Spitze. Weltweit führend
sind die USAmit 660 Patenten.
Dort hat die FDA frühzeitig unter der Präsidentschaft
von Clinton Deregulierungsinitiativen normativ umge-
setzt. Diese Deregulierungen zielten auf eine massive
Entlastung der pharmazeutischen Unternehmen in Bezug
auf Verwaltungsaufwand und Kosten – ein wichiger
Grund für die Spitzenstellung der USA in der Welt. Auch
in Großbritannien werden Verfahrenserleichterungen in
konsequenter Umsetzung der EU-Richtlinie eingeführt.
Wir müssen der europäischen Harmonisierung Rechnung
tragen, wollen wir unser Land wettbewerbsfähig halten.
Die Bundesregierung muss alles tun, um die Akzeptanz
der Gentechnik in der Bevölkerung zu verbessern. Der Aus-
führung im Erfahrungsbericht – ich zitiere: „Die Bundes-
regierung sieht es weder als ihre Aufgabe an, die Akzeptanz
dieser Technik zu fördern noch aus Gründen geringer
Akzeptanz Verbote auszusprechen.“ – stimmen wir nur im
zweiten Halbsatz zu. Wenn über Annahme oder Ablehnung
der Gentechnik und ihrer Produkte nicht zuletzt der infor-
mierte und sachkundige Verbraucher entscheidet, darf die
Bundesregierung nicht länger „toter Mann“ spielen. Wir
brauchen eine Informationsoffensive, wenn wir eine
führende Rolle in Europa und weltweit spielen wollen.
Kersten Naumann (PDS):Was lange währt, wird gut,
heißt es im Volksmund. Mit der Umsetzung der EU-Richt-
linie von 1998 zur Anwendung gentechnisch veränderter
Mikroorganismen schießt die Bundesregierung mit dem
vorliegenden Änderungsgesetz jedoch weit über das Ziel
hinaus. Auf Seite 1 der Begründung wird deutlich, worauf
es der Bundesregierung ankommt: Es sollen „weitgehend
die Regelungen deregulierender Natur“ umgesetzt wer-
den.
Der Bundesrat formuliert darüber hinaus unmissver-
ständlich, dass mit der Novelle vor allem eine Entlastung
der Unternehmen von Verfahrensfragen und der Länder-
haushalte von Kosten der Behörden vorgesehen ist.
Wir fordern, dass die bereits im novellierten Gentech-
nikgesetz von 1993 weit abgesenkten Anforderungen be-
züglich Anzeige, Anmeldung und Genehmigung vor al-
lem in den unteren Sicherheitsstufen S 1 und S 2 nicht
weiter abgesenkt werden. Eine Selbsteinstufung durch
den Antragsteller in die Sicherheitsstufe S 2 ist prinzipiell
abzulehnen. Konkret sollte mindestens dem Gesetzent-
wurf des Bundesrates gefolgt werden. Hier ist die Anzeige
bei gewerblichen, weiteren gentechnischen Arbeiten in
der Sicherheitsstufe S 1 und die Anmeldung mit Option
der Genehmigung bei weiteren gentechnischen Arbeiten
in der Sicherheitsstufe S 2 vorgesehen.
Zudem lehnt die PDS die vorgeschlagenen Änderungen
zur Selbstklonierung ab. Das bedeutet doch, dass be-
stimmte gentechnisch veränderte Mikroorganismen – wenn
auch mit so genannten Erfahrungswerten – nicht mehr als
solche betrachtet werden und aus der Richtlinie heraus-
fallen.
Bezüglich der Neufassung von § 36 zur Deckungsvor-
sorge ist anzumerken, dass wie im alten Text das Inver-
kehrbringen von GVO und deren Produkte daraus nicht
erwähnt ist. Haftungsregelungen samt der notwendigen
Deckungsvorsorge müssen aber auf jeden Fall nicht nur
für freigesetzte, sondern auch für in den Verkehr ge-
brachte GVO gelten.
Fallen Anmelde- und Genehmigungsverfahren weg,
auch die in geringeren Sicherheitsstufen, kann die Zuläs-
sigkeit jedes einzelnen Vorhabens nicht mehr geprüft wer-
den. Dabei dürfte das Beispiel aus Australien, wo ein un-
gefährlicher Mikroorganismus, der Mäusepockenvirus,
mit einem ungefährlichen Gen kombiniert wurde und so
ein tödlicher Erreger entstand, gerade aktuellen Anlass für
eine Verschärfung der Sicherheitsregeln geben. Das alte
Konzept „Ungefährlich und ungefährlich ist gleich unge-
fährlich“ stimmt offensichtlich nicht.
Mit der Kürzung der Entscheidungsfristen setzen sich
Behörden zudem selbst unter Zeitdruck. Intervenierung
wird unmöglich.
Die vorgesehene Deregulierung des GenTG ist nicht zu
akzeptieren. Meines Erachtens wird hier eine Risikovor-
sorge dem Sparprinzip geopfert.
Wir fordern die Bundesregierung auf, nur die Punkte
der EU-Systemrichtlinie in deutsches Recht umzusetzen,
die zwingend umzusetzen sind. Die Absenkung des Si-
cherheitsstandards, die Herabsetzung der Anforderungen
und die Beschleunigung der Verfahren, wie im Gesetzent-
wurf vorgesehen, laufen dem Vorsorgeprinzip entgegen.
Sie sind nicht zwingend in nationales Recht umzusetzen.
Deshalb sollte Deutschland im Sinne des vorsorgenden
Verbraucherschutzes handeln und nicht überschnell un-
korrigierbare Prämissen setzen.
Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin bei
der Bundesministerin für Gesundheit: Die modernen Me-
thoden der Bio- und Gentechnik sind in vielen For-
schungs- und Anwendungsfeldern etabliert. Als Quer-
schnittstechnologie spielt die Gentechnik eine wichtige
Rolle. In der Medizin wird sie bei der Bekämpfung be-
stimmter Krankheiten sowie bei der Entwicklung neuer
Therapie- und Diagnosemöglichkeiten eingesetzt. Aber
auch in der Landwirtschaft, der Lebensmittelherstellung
und des Umweltschutzes eröffnet die Gentechnik neue
Perspektiven, die auch die Chance auf neue, zukunfts-
sichere Arbeitsplätze beinhaltet.
Wir verkennen aber nicht, dass die Freisetzung gen-
technisch veränderter Organismen in die Umwelt mit
Risiken verbunden sein kann, die auch heute noch im
Einzelfall schwer abschätzbar sind. „Chancen nutzen,
Risiken vermeiden“ ist deshalb nach wie vor unsere Ma-
xime im Umgang mit der Gentechnik. Wir wollen die ver-
antwortbaren Innovationspotenziale nutzen und systema-
tisch weiterentwickeln. Gleichzeitig muss der Schutz von
Mensch und Umwelt gewährleistet sein.
Ausgehend von diesem Vorsorgegedanken hat sich das
deutsche Gentechnikrecht, wie im Bericht der Bundes-
regierung dargestellt, bewährt. Bei der Novellierung des
Gentechnikgesetzes geht es deshalb um die behutsame Fort-
entwicklung des vorhandenen Instrumentariums und um die
Anpassung an vorliegende Erfahrungen und Erkenntnise,
die in langjähriger praktischer Arbeit erworben wurden. Die
Grundstrukturen des Sicherheitskonzeptes müssen aber er-
halten bleiben. Sie lauten: primäre Verantwortung des Be-
treibers, sorgfältige Risikobewertung auf wissenschaftlicher
Grundlage in jedem Einzelfall, weitgehende präventive
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221696
(C)
(D)
(A)
(B)
behördliche Kontrolle und kontrolliertes, schrittweises Vor-
gehen vom Labor bis zur Anwendung im Freiland.
Das deutsche Gentechnikrecht beruht im Wesentlichen
auf europäischem Gemeinschaftsrecht. Mit dem Zweiten
Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes setzen wir
eine Änderungsrichtlinie der EU um (Richtlinie 98/81/EG).
Sie regelt den Umgang mit gentechnisch veränderten
Mikroorganismen in geschlossenen Systemen, zum Bei-
spiel in Laboratorien oder Produktionsanlagen. Hier geht
es vor allem um Maßnahmen zum Schutz der menschli-
chen Gesundheit und der Umwelt. Dabei ist die im deut-
schen Gentechnikrecht verankerte Unterteilung von vier
Sicherheitsstufen bei gentechnischen Arbeiten in die Än-
derungsrichtlinie weitgehend übernommen worden.
Neben den Regelungen zum Sicherheitsniveau enthält
die Änderungsrichtlinie auch Vorschriften zur Deregulie-
rung. Durch eine Verordnungsermächtigung soll es mög-
lich werden, einzelne Typen gentechnisch veränderter Mi-
kroorganismen aus dem speziellen Regelungsbereich des
Gentechnikrechts auszunehmen. Voraussetzung ist, dass
sie sich als sicher für die menschliche Gesundheit und die
Umwelt erwiesen haben.
Die neuen Regelungen entlasten damit Unternehmen
und Behörden von unnötigen Verwaltungsverfahren.
Gleichzeitig wird die präventive behördliche Kontrolle
beim Umgang mit riskanten Mikroorganismen entspre-
chend dem Vorsorgegrundsatz gestärkt.
Die neuen Regelungen tragen so zu mehr Sicherheit bei
gentechnischen Arbeiten in gentechnischen Anlagen bei.
Im Gegensatz zum Bundesrat nutzt die Bundesregie-
rung in ihrem Entwurf den von der EU gesetzten Deregu-
lierungsspielraum stärker, ohne dabei unser hohes Sicher-
heitsniveau zu ändern. Er umfasst dabei neben der
Änderung des Gentechnikgesetzes auch die notwendigen
Änderungen in den dazugehörenden Verordnungen. Zu-
dem erfolgt eine Anpassung an neuere Entwicklungen im
Bereich des Arbeitsschutzes.
Schließlich – und das ist uns auch wichtig – wird die
ZKBS um einen Vertreter bzw. eine Vertreterin des Ver-
braucherschutzes erweitert.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– des Antrags: Weißbuch der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften: Strategie für
eine zukünftige Chemikalienpolitik
– der Beschlussempfehlung und des Berichts:
Für eine wirksame und vernunftgeleitete Che-
mikaliengesetzgebung
(Tagesordnungspunkt 9 a und b)
Dr. Carola Reimann (SPD): Das vor gut einem Jahr
vorgelegte Weißbuch „Strategie für eine zukünftige Che-
mikalienpolitik“ ist – da sind die meisten in diesem Hause
einig – ein richtiger Schritt und ein echter Fortschritt im
Bereich der Chemikalienpolitik. Es ist die Grundlage und
der Orientierungsrahmen für eine umfassende Reform der
Chemikalienpolitik, die Umwelt-, Arbeits- und Verbrau-
cherschutzinteressen genauso berücksichtigt wie die In-
teressen der Industrie.
Wir beobachten, dass die Inzidenz einiger Erkrankun-
gen wie Krebs und Allergien zunimmt, bei denen die be-
rechtigte Sorge besteht, dass Zusammenhänge zwischen
Chemikalienexposition und Erkrankung existieren. Wir
begrüßen daher die Betonung des Vorsorgeprinzips im
Weißbuch, mit dem ein wirkungsvoller Schutz der Ge-
sundheit von Verbraucherinnen und Verbrauchern mög-
lich wird.
Die im Weißbuch vorgeschlagene Strategie ist eine
notwendige und überfällige Reaktion auf die festgestell-
ten Defizite in der Risikobewertung sowie im Manage-
ment von Altstoffen. Bislang besteht die unbefriedigende
Situation, dass nur Stoffe, die seit 1981 auf den Markt
kommen, einem Zulassungsverfahren unterliegen, das die
Gefährdung für Mensch und Umwelt beurteilt. Alle Stoffe
jedoch, die schon vor 1981 auf dem Markt waren – das ist
die Mehrzahl aller verwendeten Chemikalien –, sind nie-
mals einer systematischen Bewertung hinsichtlich ihrer
Gefährlichkeit für Umwelt und Gesundheit von Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern unterzogen worden.
Die Datenlage für die circa 30000 Altstoffe am Markt
kann man getrost als katastrophal bezeichnen. Von den
2600 HPV-Stoffen – High-Production-Volume-Stoffen mit
einer Produktion von mehr als 1 000 Tonnen pro Jahr – sind
gerade mal 3 Prozent getestet. Nur für 11 Prozent liegt ein
vollständiger Grunddatensatz vor. Für 15 Prozent liegen
zwar Daten vor, aber kein vollständiger Grunddatensatz.
Für weitere 15 Prozent gibt es aber gar keine Daten. Für den
ganz überwiegenden Teil, nämlich 56 Prozent dieser Stoffe
mit hoher Produktionskapazität, gibt es nur Daten zur aku-
ten Toxizität. Wenn man bedenkt, dass diese Chemikalien-
gruppe mit Produktionskapazitäten über 1 000 Tonnen im
Jahr 95 Prozent aller Chemikalien am Markt ausmacht,
kann einen das schon sehr nachdenklich stimmen.
Eine nachhaltige, verbraucherschutzorientierte Chemi-
kalienpolitik braucht eine systematische, seriöse Daten-
grundlage und ein einheitliches Verfahren für Alt- und
Neustoffe. Das sieht das Weißbuch vor.
Ein wegweisender Ansatz des Weißbuches ist auch die
grundsätzliche Umkehrung der Beweislast. Die Hersteller
sollen künftig die Ungefährlichkeit ihrer Produkte nach-
weisen. Außerdem sollen die Produzenten von Chemika-
lien auch für die Vorlage von Informationen über diese
Substanzen verantwortlich sein.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie ha-
ben nun einen Antrag eingebracht, in dem Sie die Strate-
gie des Weißbuches für eine zukünftige Chemikalienpoli-
tik grundsätzlich gutheißen. Daher will ich Sie nicht mit
einer Aufzählung weiterer positive Aspekte langweilen.
Über vieles haben wir schon gesprochen und über vieles
brauchen wir nicht mehr zu sprechen.
Das gilt allerdings auch für die Forderungen, die Sie
hier beschließen lassen wollen. Ihr Antrag ist ein weiterer
Beitrag zur Diskussion um ein Weißbuch, um das die
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21697
(C)
(D)
(A)
(B)
Debatte im Europäischen Parlament bereits abgeschlos-
sen ist. Voraussichtlich noch in diesem Jahr wird eine Ver-
ordnung oder eine Richtlinie auf den Weg gebracht. Eine
nachträgliche Diskussion scheint mir da wenig hilfreich.
Viele Ihrer Forderungen sind darüber hinaus längst obso-
let, manche sind einfach nur unverständlich.
Herz des Weißbuches für eine zukünftige Chemikali-
enpolitik ist das Reach-Verfahren. R steht dabei für Regis-
trierung, E für Evaluierung und A für Autorisierung, also
Zulassung von Chemikalien. Das Reach-System bietet
eine realistische Perspektive, die enormen Datenlücken
und Bewertungsrückstände sowie Managementdefizite
bei Altstoffen zu beseitigen. Das System basiert auf Ko-
operation der Behörden mit der Industrie, die ich aus-
drücklich begrüße.
Reach sieht vor, dass alle Substanzen in einer zentralen
Datenbank registriert werden und zwar mit abgestufter
Priorität. Chemikalien mit einer hohen Jahresproduktion
von über 1 000 Tonnen pro Jahr sollen bis Ende 2005 re-
gistriert werden. Ihre Forderung, für diese Substanzen
eine kurzfristige Regelung zur Registrierung und Eva-
luierung zu finden, ist damit hinfällig. Das ist doch er-
klärtes Ziel des Weißbuches! Substanzen mit einer Jahres-
produktion von 100 Tonnen pro Jahr sollen bis Ende 2008
registriert werden und einer Bewertung unterzogen wer-
den. Alle übrigen Substanzen mit geringerer Jahrespro-
duktion sollen bis Ende 2012 in die zentrale Datenbank
aufgenommen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie schlagen weiter vor, auf europäischer Ebene eine
Rechtsverordnung zu erlassen. Der Bundestag sollte sich
aber darüber im Klaren sein, dass er sich selbst um Ge-
staltungsspielräume bringt, wenn er eine Rechtsverord-
nung fordert. Eine Rechtsverordnung muss punktgenau
umgesetzt werden. Eine Richtlinie dagegen bietet uns, den
Parlamentarierinnen und Parlamentariern im Deutschen
Bundestag, immerhin noch Gestaltungsspielräume, eigene
Vorstellungen einzubringen.
Meine Damen und Herren von der Union, außerdem
möchten Sie die im Weißbuch konzipierten Zulassungs-
verfahren für besonders gefährliche Stoffe durch „un-
bürokratische Alternativen“ ersetzt wissen.
Worum geht es denn hierbei überhaupt? CMR-Stoffe
– also Carcinogene, Mutagene, Reprodutoxische Stoffe –
sowie POP-Substanzen – persistierende organische Schad-
stoffe – sollen laut Weißbuch ein Zulassungsverfahren
durchlaufen. Dies betrifft voraussichtlich 1 400 Substan-
zen. Das sind nun wirklich die Gefährlichen unter den Ge-
fährlichen.
Man kann ja für den Abbau bürokratischer Hemmnisse
streiten, aber den Schutz der Verbraucherinnen und Ver-
braucher darf man dabei nicht aus den Augen verlieren.
Deshalb können wir auf diese Verfahren nicht verzichten.
Abgesehen davon ist die Diskussion um diese Zulas-
sungsverfahren längst vom Tisch. Fragen Sie mal das eu-
ropäische Parlament! Fragen Sie die Bundesregierung!
Ein Weißbuch ist ein politischer Orientierungsrahmen
und kein Gesetzesentwurf. Das bedeutet, es bedarf an ver-
schiedenen Punkten weiterer Konkretisierungen und De-
tailfragen müssen geklärt werden. Aber das ist in vielen
Punkten doch schon längst geschehen.
So wollen Sie kleine und mittelständische Unterneh-
men vor zu hohen Kosten bei den Zulassungsverfahren
schützen. Sie sollen nicht unverhältnismäßig belastet und
damit in ihren Wettbewerbschancen gegenüber den
Großen benachteiligt werden. Das ist in der Sache ja sehr
ehrenwert, aber eben nicht gerade neu. Alles das haben
wir längst problematisiert, und zwar im Frühjahr letzten
Jahres!
Sie möchten außerdem eine „Institution zur Beratung
und Förderung kleiner und mittelständischer Unterneh-
men“ einrichten lassen. Beratung ist aber doch ureigenste
Aufgabe der Kammern und Verbände. Ihre Aufgabe ist es
doch, Unternehmen in allen Fragen beratend zu unterstüt-
zen.
Wer soll denn die von Ihnen gewünschte Einrichtung
eigentlich bezahlen? Darüber sagen Sie vorsorglich lieber
nichts. Letztlich müsste – wenn es nach Ihnen ginge – der
Steuerzahler, also der Staat dafür aufkommen. Die Indus-
trie verdient und die Kundinnen und Kunden helfen ihr
dann noch bei der Prüfung ihrer Produkte.
Ich meine dagegen, wir sollten die vorhandenen Insti-
tutionen stärken, anstatt aufwendig neue einzurichten.
Und es muss – wie im Weißbuch schon festgeschrieben –
das Verursacherprinzip auch für diesen Industriebereich
gelten: Die chemischen Hersteller müssen selbst dafür
Sorge tragen, dass ihre Produkte keine Gefährdung für
Mensch und Umwelt darstellen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak-
tion, im letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs offenba-
ren Sie nun endlich, dass Sie mit Ihrem Antrag vor allem
die Interessen der Industrie im Auge haben. Dafür haben
Sie zum Teil schon ganz kalten Kaffee aufgewärmt. Sie
haben sich Forderungen zu Eigen gemacht, die wir längst
behandelt und diskutiert haben. Sie setzen sich damit dem
Verdacht aus, diesen Antrag nur eingebracht zu haben, um
sich das Image der Wirtschaftsfreundlichkeit anheften zu
können, wohlwissend, dass dieser Antrag an sich sub-
stanzlos ist.
Wir werden Ihren Antrag daher ablehnen.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Die Europäische
Kommission hat mit ihrem Weißbuch zur Strategie für
eine zukünftige Chemikalienpolitik den Anstoß zu einer
grundlegenden Neuorientierung der gesamten europä-
ischen Chemikaliengesetzgebung gegeben. Das Euro-
päische Parlament hat dieser Neuorientierung im Grund-
satz und in der Tendenz zugestimmt und damit den Weg
frei gemacht für ein europäisches Gesetzverfahren, das
die europäische, aber auch ganz besonders die deutsche
Chemieindustrie vor neue, große Herausforderungen stellt.
Worum geht es? Kernpunkt der Vorschläge ist die Ein-
führung eines Systems zur Erfassung, Bewertung und Zu-
lassung aller in der EU hergestellten, importierten und
verwendeten Chemikalien. Das sind allein 30 000 Alt-
stoffe. Nach dem so genannten Reach-System sollen die
Hersteller und Importeure von Stoffen innerhalb be-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221698
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(D)
(A)
(B)
stimmter Fristen ihre Stoffe in einem zentralen europä-
ischen Register melden – unter Angabe von Prüfdaten,
Verwendungszwecken, Risikobewertungen und Risiko-
managementmaßnahmen. Für Stoffe ab einer gewissen
Größenordnung ist darüber hinaus ein Verfahren zur Be-
wertung der eingereichten Informationen durch die
zuständigen Behörden vorgesehen. Darüber hinaus sollen
besonders gefährliche Stoffe nur noch nach einer Erlaub-
nis durch die Behörden produziert, importiert oder ver-
wendet werden dürfen.
Um es klar zu sagen: Meine Fraktion begrüßt diese Ini-
tiative der EU und unterstützt die Ziele des Weißbuchs.
Das heute existierende Chemikalienrecht zerfällt in viele
Einzelrichtlinien, ist unübersichtlich und im Vollzug un-
nötig bürokratisch und ineffizient. Mit den Vorschlägen
des Weißbuchs soll es zu einer systematischen Überprü-
fung neuer und alter Stoffe gleichermaßen und zu einem
EU-weit verbindlichen Verfahren kommen; auch dies
wäre ein Fortschritt, mit dem Schwächen des geltenden
Chemikalienrechts beseitigt werden. Positiv ist auch die
feste Terminsetzung, die alle Beteiligten zur Disziplin
zwingt.
Allerdings ist für uns auch eines sehr deutlich gewor-
den: Die Vorschläge des Weißbuchs weisen noch erheb-
liche Schwachpunkte und offene Fragen auf, die beseitigt
bzw. beantwortet werden müssen, um das Vorhaben zum
Erfolg zu führen. Einige wichtige Beispiele möchte ich
nennen:
Es gibt eine Sicherheitslücke bei importierten Waren,
weil für chemische Stoffe in eingeführten Erzeugnissen
nicht die gleichen Anforderungen gelten wie für solche,
die in Reinform oder Gemischen nach Europa kommen.
Doch auch für solche importierten Waren mit unbe-
kannten Stoffzusammensetzungen sind entsprechende
Regelungen unerlässlich. Viele im Ausland hergestellte
Produkte enthalten chemische Substanzen, die in ihrer
Auswirkung auf Mensch und Umwelt noch unbekannt
sind. Dies ist nicht nur unter Umständen gefährlich, son-
dern könnte auch zu Wettbewerbsverzerrungen zulasten
europäischer und deutscher Firmen führen. Deshalb muss
die Kommission hier nachbessern.
Ein weiterer Punkt ist das propagierte Recht der Öf-
fentlichkeit auf Information über die chemischen Stoffe.
Es ist noch nicht deutlich, wie das Informationsbedürfnis
der Verbraucher einerseits mit dem Bedürfnis der Her-
steller nach Schutz vertraulicher Informationen anderer-
seits verbunden werden kann. Hier brauchen wir noch
praktikable Vorschläge, wie Eigentumsrechte und Prüf-
daten zu behandeln sind, um Unternehmer vor in- und
ausländischen Wettbewerbern fair zu schützen, die den
gleichen Stoff vermarkten wollen – aber ohne aufwendige
Prüfung und Bewertung.
Ungeklärt ist außerdem die Abgrenzung der Hersteller
oder Importeure zu den Firmen, die die Produkte weiter-
verarbeiten oder für ihre neuen Produkte anwenden. Auch
hier fehlen noch eindeutige Kriterien, die jedoch wichtig
sind, damit die so genannten „down stream users“ – sehr
oft kleine und mittelständische Betriebe – nicht heillos
überfordert werden.
Der größte Schwachpunkt des Weißbuchs liegt jedoch
für mich in dem vorgeschlagenen Zulassungsverfahren
für Stoffe mit besonders gefährlichen Eigenschaften.
Auch hier ist noch manches unklar, aber das, was bekannt
ist, dürfte erneut zu einer gewaltigen Bürokratie, zu erheb-
lichen Entscheidungsverzögerungen und zu gewaltigen
Kostensteigerungen bei der Industrie führen. Dies be-
deutet aber gleichzeitig auch massive Wettbewerbs-
nachteile der Europäer zum Beispiel gegenüber den
Vereinigten Staaten, die ein relativ schlankes Anzeige-
verfahren haben, aber auch gegenüber kleinen und mittel-
ständischen Betrieben, die unter der Bürokratie ohnehin
am meisten leiden.
Gerade beim Zulassungsverfahren, bei dem es um
rund 1 500 von 30 000 Stoffen geht, müssen sich alle
Beteiligten noch etwas Besseres einfallen lassen. Wir soll-
ten zum Beispiel den Vorschlag prüfen, bei diesen beson-
ders aufwendigen Zulassungsverfahren die geprüften
Stoffe nicht mit einem gigantischen Aufwand einzel-
firmenbezogen zu prüfen, sondern stoffbezogen – und mit
Verfahren, die dann europaweit einheitlich, zumindest für
die wichtigsten Verwendungen, in allgemein verbindliche
Verbote führen könnten. Dabei könnten auch Verwen-
dungen, die zu besonderen Risiken führen, vorrangig be-
wertet werden.
Jedenfalls glauben wir, dass die vorgesehene Regis-
trierung und Bewertung von Stoffen im Rahmen des
Reach-Systems die Datenlage über die gefährlicheren
Stoffe soweit verbessert, dass man Verwendungsbe-
schränkungen und Verwendungsverbote schneller und ef-
fektiver aussprechen kann, als dies bisher vorgesehen zu
sein scheint.
Es ist für mich klar, dass weltweit und europaweit die
Anstrengungen erhöht werden müssen, um gefährliche
chemische Rückstände in den Griff zu bekommen und zu
vermeiden. Das Weißbuch geht dazu zumindest für die
EU in die richtige Richtung. Aber wir müssen auch
ökonomisch klug vorgehen. Deutschland ist eine
Chemienation; mehr als ein Viertel der Umsätze der EU
wird in Deutschland erzeugt. Die Chemieindustrie in un-
serem Land ist der fünftgrößte Arbeitgeber des Verarbei-
tenden Gewerbes. Sie ist in weitem Umfang mittel-
ständisch strukturiert. Auch in den neuen Bundesländern
wie in Sachsen und Sachsen-Anhalt hängen Tausende von
Arbeitsplätzen von der Chemie ab.
Wir müssen deshalb dafür kämpfen, dass die
Auswirkungen der europäischen Pläne auf die Innova-
tions- und Wettbewerbsfähigkeit unserer chemischen
Wirtschaft und auf die kleinen und mittelständischen Un-
ternehmen genau geprüft werden. Die Regelungen
müssen im Konkreten so ausgestaltet werden, dass sie
praxisgerecht und kosteneffizient, das heißt möglichst un-
bürokratisch und durchschaubar sind.
Bei den Altstoffbewertungen der Vergangenheit gab
es für die einzelnen Stoffe Handreichungen bis zu
700 Seiten. Jetzt haben wir die Chance, mittelstands-
freundlicher zu handeln, und diese Chance sollten wir
nutzen. Wir schlagen auch eine Institution zur Beratung
und Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen für
das Chemikalienmanagement vor; damit könnten gerade
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21699
(C)
(D)
(A)
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kleinere Unternehmen direkt bei der Registrierung und
Evaluierung unterstützt werden. Wir fordern auch, dass
die umfangreichen Vorarbeiten der deutschen Chemie im
Bereich der Altstoffbewertung in das neue europäische
Verfassungsverfahren mit einfließen. Man braucht das
Rad nicht immer neu erfinden.
Für die Umsetzung des Weißbuchs liegen noch keine
Rahmenrichtlinien auf dem Tisch. Die deutsche Politik
hat noch Zeit und Gelegenheit, ihre Vorschläge einzubrin-
gen und auf Schwachpunkte hinzuweisen. Hier ist die rot-
grüne Bundesregierung in der Pflicht, die Weichen richtig
zu stellen. Es geht einmal mehr darum, umweltpolitische
Ziele mit den effizientesten volkswirtschaftlichen Metho-
den zu erreichen. Bisher haben Sie sich dabei nicht mit
Ruhm bekleckert; aber jetzt haben Sie bei der Umsetzung
des Chemikalienweißbuchs eine neue Chance und die
sollten Sie nutzen.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zwar gibt es den sprichwörtlich gewordenen Ausspruch
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Aber auch
umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer zu früh bellt, der
bellt – mangels Baum – ins Leere. Längst hat die EU-
Kommission einen Verordnungsentwurf zum Weißbuch
angekündigt. Die sollten Sie von der Opposition doch erst
einmal abwarten, bevor Sie unseren Unterhändlern In-
struktionen mitgeben. Andererseits haben Sie die Frist für
eine Stellungnahme zum Weißbuch schon längst ver-
säumt. Dort hätten Sie mit einem Beschluss des Bundes-
tags tatsächlich in der Substanz etwas ändern können.
Für das eine sind Sie zu früh, für das andere ewig zu
spät. Politik ist die Kunst des richtigen Zeitpunkts und des
richtigen Adressaten. Eines zeigt uns Ihr Antrag aber klar
und deutlich: Die Chemiepolitik der Union ist noch im-
mer und vor allem ausschließlich marktwirtschaftlich ori-
entiert. Arbeitsschutz, Umwelt- und Verbraucherschutz
spielen darin keine Rolle. Sie machen sich einfach die Po-
sition der Chemieindustrie zu Eigen. Dagegen haben wir
nichts; einige Ihrer Punkte sprechen Probleme an, die
tatsächlich erst noch gelöst werden müssen. Aber als
große Volkspartei müssten Sie wissen: Politik ist mehr als
Wettbewerbsfähigkeit, sie ist dem Schutz der Umwelt –
sie ist dem Menschen verpflichtet! Und deren Gesundheit
ist bedroht – angesichts von 100 000 Chemikalien, deren
Risikopotenziale wir gar nicht oder nur unzureichend
kennen.
Da ist das Weißbuch ein enormer Schritt nach vorne –
auch weil es eine Umkehrung der Beweislast enthält. Aber
bevor Sie Verantwortungsbereiche abgrenzen wollen
– zwischen Herstellern, Weiterverarbeitern und Anwen-
dern –, sollten Sie die Verantwortlichkeiten der Chemie-
industrie selbst klären. Denn „Umkehr der Beweislast“ er-
fordert auch ein Umdenken hin zum Vorsorgeprinzip: Wie
kann ich Mensch und Umwelt schützen, ohne Wettbewerb
und Arbeitsplätze kaputtzumachen? Statt Antworten auf
diese zentralen Fragen des Weißbuchs zu geben, finden wir
bei Ihnen nur die diffusen Ängste der Chemieindustrie vor
dem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit.
Kaum ist das Weißbuch „Strategie für eine zukünftige
Chemikalienpolitik“ auf dem Markt, geht ein Aufschrei
durch die Chemieindustrie: Als einer der größten Arbeit-
geber sieht sie wieder einmal ihre Innovations- und Wett-
bewerbsfähigkeit gefährdet – lapidar ausgedrückt: ihren
Umsatz. Und damit seien einmal mehr Zigtausende von
Arbeitsplätzen bedroht.
Aber: Geht denn die Rechnung „Weniger Umwelt-
recht, mehr Umsatz, mehr Beschäftigung“ überhaupt auf?
Nein, sie tut es nicht. Seit 1980 hat die chemische Indus-
trie ihren Umsatz auf 190 Milliarden DM fast verdoppelt.
Nur die amerikanische und japanische Chemieindustrie
hat höhere Umsätze zu verzeichnen. Gerade die großen
Konzerne im Inland fuhren bis vor wenigen Jahren einen
Rekordumsatz nach dem anderen ein. Aber hat sie es den
Beschäftigten auch gedankt? Im Gegenteil, noch nie gab
es seit über 20 Jahren so wenige Beschäftigte in der Che-
mieindustrie wie heute. Gerade einmal 470 000 im Ver-
gleich zu den 590 000 vor der Wende oder gar den über
700 000 danach. Also: 100 Prozent mehr Gewinn und
20 Prozent weniger Beschäftigte, so die Bilanz. Waren die
Umweltgesetze daran schuld?
Mann, müssen das scharfe Umweltgesetze gewesen
sein – und das in Ihrer Regierungszeit, meine Damen und
Herren von der Opposition – Hut ab. Schade nur, dass es
keiner gemerkt hat und die Chemieindustrie am allerwe-
nigstens. Vielmehr war es doch so, dass in der Zeit Ihrer
Regierung das damalige chemische Dreigestirn Hoechst,
Bayer und BASF ungeniert bis in das Chemikalien- und
Gefahrstoffrecht hineinregierte. Beste Aussichten also für
mehr Arbeitsplätze?
Seien Sie versichert, wenn es danach geht, wird durch
das Weißbuch auf europäischer Ebene kein einziger Ar-
beitsplatz verloren gehen. Man sollte also nicht so tun, als
wäre das Weißbuch – wie der deutsche Chemieverband
gerne in ganzseitigen Anzeigen inseriert – das Ende der
chemischen Produktion in Deutschland. Gerade der von
Ihnen besonders hervorgehobene Mittelstand – nämlich
der Mittelstand der Recyclingwirtschaft – begrüßte das
Weißbuch ausdrücklich.
Und dennoch: Keine Wirtschaftsbranche hat über ihren
Lobbyverband und über deren Interessenvertretung – die
Chemiegewerkschaft – eine beständigere Kultur des Jam-
merns geschaffen wie die großen Chemiekonzerne. Wir
haben nichts gegen Interessenpolitik. Aber wir kennen
doch unsere Pappenheimer: Statt Sprachrohr der Chemie-
konzerne zu sein, sollten Sie auch Sprachrohr der Men-
schen sein. Deren Gesundheit steht beim Umgang mit
Chemikalien auf dem Spiel.
Dabei sind wir in einigen Punkten doch recht nah bei-
sammen. Die Umsetzung des Weißbuchs sollte endlich
Anlass zu einer Chemiewende sein. Das heißt: Stärkung
von Umwelt- und Verbraucherschutz und gleichzeitig
Entbürokratisierung. Wie soll das gehen? Zum Beispiel
durch die Schaffung einer einzigen, starken und kompe-
tenten Zulassungsbehörde – wie die EPA in den USA.
Dafür müssen wir die stoffpolitischen Kompetenzen aller
Zulassungsbehörden bündeln. Völlig gleich, ob es sich
um die Zulassung neuer Chemikalien, Biozide und Pesti-
zide oder um die Prüfung von Altstoffen handelt: Wir
brauchen einfache, einheitliche und effiziente Strukturen
und Verantwortlichkeiten.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 200221700
(C)
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Das ist ein Projekt, das wir in der nächsten Legislatur-
periode gemeinsam anpacken sollten, dann, wenn die
Umsetzung der zu erwartenden Chemikalienverordnung
erfolgen muss. Das Motto dieses Projekts muss lauten:
Eine Chemiepolitik des „Responsible Care“ kann nur eine
Politik für und mit den Menschen sein – er steht im Mit-
telpunkt unserer Politik.
Birgit Homburger (FDP): Die FDP hat die Bedeu-
tung der Chemikaliengesetzgebung und die jüngsten Ent-
wicklungen in diesem Bereich frühzeitig erkannt. Als
erste Fraktion hat die FDP ihren heute erneut zur Debatte
stehenden Antrag zur Chemikalienpolitik dem Deutschen
Bundestag vorgelegt. Das war vor beinahe einem Jahr.
Die FDP bleibt dabei: Das wichtigste Ziel der Chemi-
kalienpolitik ist, für Mensch und Umwelt die Sicherheit
im Umgang mit Chemikalien zu gewährleisten. Die FDP
nimmt dieses Ziel sehr ernst: Es geht um eine wirksame,
praktikable und vernünftige Chemikaliengesetzgebung.
Die Gelegenheit, hier endlich ein widerspruchsfreies und
transparentes System zu entwickeln, darf nicht versäumt
werden. Insoweit teilen wir die Ziele des Weißbuchs der
EU-Kommission zur Chemikalienpolitik.
Schon vor einem Jahr hat die FDP darauf hingewiesen,
dass es Grund zur Sorge gibt; denn die europäischen Be-
strebungen schießen weit über das Ziel hinaus. Dieser Re-
gulierungseifer wird weitreichende wirtschaftliche Folgen
für den Chemiestandort Deutschland haben, ohne um-
welt- und gesundheitspolitischen Nutzen. Bundesminister
Trittin trägt hier besondere Verantwortung. Bisher sind
die Appelle der FDP jedoch auf taube Ohren gestoßen.
Nichts hat die Bundesregierung unternommen, um die eu-
ropäischen Bestrebungen im Bereich der Chemikaliensi-
cherheit in vernünftige Bahnen zu lenken. Im Gegenteil
erleben wir mit schöner Regelmäßigkeit, dass Minister
Trittin sich von niemandem übertreffen lässt, wenn es um
Regulierungswut und Bürokratieverliebtheit geht, schon
gar nicht von der EU-Kommission. Das lässt Schlimmes
befürchten.
Die FDP weist nochmals darauf hin, dass es keinen
Sinn macht, ganze Stoffgruppen allein wegen bestimmter
gefährlicher Eigenschaften zu verbieten. Dies wäre weder
ein Vorteil für die Gesundheit der Verbraucher noch für
den Schutz von Umwelt und Natur. Entscheidend für eine
Risikobewertung ist neben diesen Eigenschaften aber vor
allem die Art der Anwendung von Chemikalien.
Eine allein stoffbezogene Risikobewertung kann büro-
kratische und kostenträchtige Folgen haben, ohne dass da-
mit ein gesundheits- oder umweltpolitischer Nutzen ver-
bunden wäre. Eine nachhaltige Chemikalienpolitik muss
sowohl den Umwelt- und Verbraucherschutz verbessern
als auch die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit die-
ser für den Industriestandort Deutschland eminent wich-
tigen Branche sichern. Allein in Deutschland beschäftigt
die chemische Industrie beinahe eine halbe Million Men-
schen. In keinem Land Europas hat die chemische Indus-
trie auch nur annähernd eine so zentrale wirtschaftliche
Bedeutung wie in Deutschland. Es geht also auch um die
Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze in einer der
wichtigsten Branchen in Deutschland. Zu Recht weist
auch der Antrag der Unionsfraktion ausdrücklich darauf
hin und beschreibt noch einmal detailliert den dringenden
Nachbesserungsbedarf. Der Antrag findet deshalb unsere
ausdrückliche Unterstützung.
Vor einem Jahr, bei der ersten Beratung des FDP-An-
trags zur Chemikalienpolitik, hat sich Herr Kollege
Hermann von den Grünen an dieser Stelle noch über den
Antrag der FDP lustig gemacht. Die Mahnung der FDP,
bei allem Aktionismus und rot-grüner Regulierungswut
die wirtschaftliche Existenz auch der kleinen und mittel-
ständigen Unternehmen nicht aus dem Auge zu verlieren,
trifft bei der Bundesregierung nur auf spöttische Arro-
ganz. Hochmütig hat Rot-Grün den FDP-Antrag im Um-
weltausschuss abgelehnt.
Dem Antrag der Unionsfraktion wird es nicht besser er-
gehen. Erst vor wenigen Tagen hat sich derselbe Kollege
nämlich wieder lustig gemacht: Die chemische Industrie
„heule und jammere“, nach dem Motto: „Stellt euch nicht
so an“. Im Angesicht von mehr als 4 Millionen Arbeitslo-
sen wird Ihnen das Lachen noch vergehen, Herr Hermann!
Die Belastung insbesondere auch der kleinen und mitt-
leren Chemieunternehmen darf durch ökologisch sinnlose
Anforderungen nicht gefährdet werden. Wenn überzoge-
ner Dirigimus zu Standortverlagerungen führt, fügt dies
dem Gesundheits- und dem Umweltschutz letztlich Scha-
den zu. Dies wäre ein Bärendienst für Mensch und Natur.
Eva Bulling-Schröter (PDS): Bei der Gesstaltung
der künftigen europäischen Chemikalienpolitik sieht es
ganz danach aus, als dass sich diesmal die Umwelt- und
Verbraucherschutzpolitik gegenüber einer der mächtigs-
ten Wirtschaftsverbände durchsetzen wird – anders als im
Agrarsektor. Natürlich mit Kompromissen und verwäs-
serten Umsetzungen, wie stets, aber die neuen Ansätze
des Weißbuchs Chemikalienpolitik sind sicherlich ein
Umbruch, ein Systemwechsel, hin zu mehr Vorsorge in
Umwelt und Gesundheit.
Kein Wunder also, dass die Chemieverbände Sturm lau-
fen. Der Standortkollaps droht wieder einmal. Das
Schreien hat zwar inzwischen etwas abgenommen. Doch
in empfindlichen Teilen steht das Weissbuch weiter unter
Beschuss.
Abgefunden hat sich die Chemielobby – das kann man
ja immer ganz gut an den Koalitionsanträgen ablesen –
anscheinend mit der Prüf- und Registrierungspflicht für
die rund 30 000 Stoffe mit geringen Produktionsmengen.
Wir verstehen allerdings nicht, warum die Koalition hier
den Schwellenwert zum Registrierungsverfahren von ei-
ner Jahrestonne auf das Zehnfache anheben will. Dann
würden wohl von den 100 000 bekannten Stoffen nicht
mehr knapp ein Drittel, sondern noch deutlich weniger ge-
prüft werden.
Zudem will die Union teilweise die Kosten des Ver-
fahrens den öffentlichen Haushalten aufbrummen. Ich
denke aber, wer mit seinen Produkten Geld verdient, der
sollte auch den Nachweis dafür finanzieren, was er über-
haupt herstellt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 218. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Februar 2002 21701
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Grundsätzlichen Widerstand gibt es wohl auch nicht
mehr gegen die erweiterte Evaluierung und die zusätzli-
chen Tests bei Stoffen, die mit einer Jahresmenge von
mehr als 100 Tonnen produziert werden.
Die größten Auseinandersetzungen scheinen leider
ausgerechnet bei den Chemikalien zu liegen, die als be-
sonders gefährlich gelten. Hier wollen Union und FDPein
Verfahren vom Tisch haben, welches diese Stoffe nicht
einmal verbietet, sondern nur ein strenges Zulassungs-
recht für sie einführt. Nach der EU-Kommission soll der
Beweis, dass der Verwendungszweck des jeweiligen Stof-
fes in allen Lebenszyklen nur ein zu vernachlässigendes
Risiko birgt, vom Hersteller erbracht wird. Eine Beweis-
lastumkehr also, weil vorher ja die Behörden gegebenen-
falls die Gefährlichkeit der Verwendung nachzuweisen
hatten, um diese zu verbieten.
Diese Umkehr halten Union und FDP für zu bürokra-
tisch. Wir reden hier über Chemikalien, die krebserzeu-
gend, erbgutverändernd oder fortpflanzungshemmend
sind. Da dürften wohl die Hersteller in der Lage sein nach-
zuweisen, was sie da eigentlich produzieren. Es drängt
sich ja der Verdacht auf, solche Nachweise könnten teil-
weise gar nicht erbracht werden.
Die größte Gefahr für die Vorschläge des Weißbuchs
scheint aber nicht von der Opposition, sondern, wie bei
der Altauto-Richtlinie, von Kanzler Schröder auszugehen.
Für ihn führt diese ja „zur Vertreibung der Chemieindus-
trie aus Europa“.
Ich hoffe aber, das man sich im Kanzleramt noch ein-
mal mit den Sachthemen beschäftigt und dass sich da-
durch Deutschland nicht wieder so blamiert wie damals.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung
– des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände-
rung des Unterhaltsvorschussgesetzes
– des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände-
rung des Unterhaltsvorschussgesetzes
(Tagesordnungspunkt 10 a und b)
Christel Humme (SPD): Auch dem Letzten in diesem
Hause dürfte mittlerweile klar geworden sein: Die finan-
ziellen Ressourcen von Bund, Ländern und Gemeinden
sind begrenzt. Vor diesem Hintergrund verwundert mich
die Gelassenheit, mit der die PDS-Fraktion für ihr Erstes
und Zweites Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvor-
schussgesetzes rund 3 Milliarden Euro einfordert, schon
sehr. Belassen diese beiden Gesetze gerade die Länder
und Kommunen!
Sie regieren doch seit einigen Wochen mit in einer
Stadt, die von der CDU geführten Regierung nahezu an
den finanziellen Abgrund geleitet wurde. Sie müssten
doch wissen: Die Lage der öffentlichen Haushalte lässt
nur noch eine Politik zu, nämlich eine Politik, die Pro-
bleme sehr zielgerichtet löst, und eine Politik, die dabei
die knappen finanziellen Mittel sehr effizient einsetzt.
Ihre Vorschläge, meine Herren und Damen von der
PDS, erfüllen diese Anforderungen nicht. Denn Ihr Kon-
zept ist nicht zielgenau genug. Die Armut von Familien
würde nicht entscheidend bekämpft. Und Ihr Konzept ist
schlicht und einfach zu teuer!
Für uns Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen
bedeutet Familienpolitik dreierlei: Erstens die finazielle
Stärkung von Familien, insbesondere die Bekämpfung
von Kinderarmut, zweitens die Schaffung von Bildungs-
chancen für Kinder und Jugendliche völlig unabhängig
vom Elternhaus sowie drittens die Schaffung von Rah-
menbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf. Dies sind sehr ehrgeizige Ziele. Zur wahren Herkules-
aufgabe aber wird die Familienpolitik durch die Lage der
öffentlichen Haushalte.
Von dieser Familien- und Steuerpolitik profitieren auch
die Alleinerziehenden. Kritisiert wird in der öffentlichen
Debatte der Wegfall bzw. die allmähliche Abschmelzung
des Haushaltsfreibetrags. Rund 60 Prozent der Alleiner-
ziehenden in Deutschland zahlen – laut Armuts- und
Reichtumsbericht – gar keine Steuern. Sie profitieren also
nicht von einem steuerlichen Haushaltsfreibetrag. Sie
profitieren aber sehr wohl von unseren Kindergelder-
höhungen. Außerdem kommen Ihnen weitere Bausteine
unserer Familienpolitik zu Gute: die Anhebung der Ein-
kommensgrenzen beim Erziehungsgeld, die BAföG- und
die Wohngeld-Reform.
Jeder, der sich seriös an der Debatte beteiligt, erkennt
sofort, dass wir mit unserer Familienförderung auch die
Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach Gleich-
stellung von Alleinerziehenden und Ehepaaren mit Kin-
dern erfüllt haben.
Unsere bisherige Familienpolitik war und ist richtig.
Wir gehen auf dem eingeschlagenen Weg weiter und wer-
den die noch anstehenden Probleme Schritt für Schritt lö-
sen. Unbestritten gibt es nach wie vor Familien in sehr be-
drückenden finanziellen Verhältnissen. Familien sind
einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt – so eine der
traurigen Lehren des Armuts- und Reichtumsberichts und
eine der traurigsten Erblasten der Regierung Kohl. Diesen
Armen oder von Armut bedrohten Familien muss zielge-
richtet geholfen werden. Wir müssen vor allem die Kin-
der aus der Armut herausholen. Denn Armut und Sozial-
hilfebezug bedeuten den Einstieg in einen Teufelskreis
aus schlechteren Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und
damit der Verfestigung von Armut.
Die Diskussion über die anstehende Sozialhilfereform
und der 11. Kinder- und Jugendbericht zeigen uns die
richtige Lösung. Wir müssen die Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf verbessern und eine Existenzsicherung für
Kinder, die der Sozialhilfe vorgelagert ist, schaffen. Vor
allem Alleinerziehende würden profitieren. Denn wie soll
eine Alleinerziehende einer Erwerbstätigkeit nachgehen,
wenn sie nicht weiß, wie und wo sie ihr Kind betreuen las-
sen soll? Außerdem sind Kindertagesstätten und Ganz-
tagsschulen die zentralen Voraussetzungen für erfolg-
reiches Lernen. Sie eröffnen Kindern und Jugendlichen
bessere Zukunftschancen – so ein Ergebnis der PISA-
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Studie. Wir haben in Deutschland – verschuldet durch
konservative Familienpolitik – jahrzehntelang aufs fal-
sche Pferd gesetzt.
Ich erzähle Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage,
dass die Betreuungssituation in Deutschland völlig unzu-
reichend ist. Deshalb ist eine unserer wichtigsten Aufga-
ben, ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot für Kinder
aller Altersgruppen im Westen zu schaffen und im Osten
zu erhalten. Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept
für außerschulische und schulische Beteuungs- und Bil-
dungsangebote. Dieses werden wir im Rahmen eines fö-
derativen Gipfels unter Beteiligung von Bund, Ländern,
kommunalen Spitzenverbänden und Verbänden der freien
Wohlfahrtspflege erarbeiten.
Der Armutsprävention dient auch der zweite Baustein,
die Einführung einer der Sozialhilfe vorgelagerten Exis-
tenzsicherung von Kindern. Mit einer solchen vorgela-
gerten Sicherung würde Armut von Familien vermieden,
könnten alle Kinder aus der Sozialhilfe herausgeholt wer-
den und würden die Selbsthilfekräfte von Familien ge-
stärkt. Das ist der richtige Weg. Ich lade Sie ein, uns auf
diesem Weg zu begleiten.
Rolf Stöckel (SPD): Die Absicht der PDS-Fraktion,
Leistungen aus dem Unterhaltsvorschuss-Gesetz und das
Anspruchsalter von 12 auf 18 Jahre zu erhöhen, ist auf den
ersten Blick und aus fachlicher Sicht betrachtet, ja durch-
aus wünschenswert. Tatsache ist aber, dass trotz der An-
rechnung der Kindergelderhöhung auf den Unterhaltsvor-
schuss unter dem Strich die Hälfte der Erhöhungen bei
den Einelternfamilien verbleibt. Sie wissen genau, dass
eine dadurch zusätzlich zu erwartende Mehrbelastung in
Höhe von mindestens 3 Milliarden Euro im Zusammen-
hang mit der angespannten Finanzlage bei Bund, Ländern
und Kommunen zurzeit völlig unrealistisch ist. Wenn es
eine Forderung der Länder und Kommunen gibt, bei der
sich alle über Parteigrenzen hinweg einig sind, dann ist es
das Konnexitätsprinzip. Wer die Musik bestellt, bezahlt
sie auch.
Selbst wenn wir die 1 Milliarde Euro, die der Bund
mehr zu tragen hätte, in einem Kraftakt zusammenbekä-
men, spätestens im Bundesrat würde das doch am Wider-
stand der Länder scheitern. Und in der Tat, die Kollegin
Humme hat völlig Recht, wenn sie hier die Frage nach
der Seriosität einer solchen Forderung, angesichts ihrer
Regierungsbeteiligung im hochverschuldeten Land Ber-
lin aufgeworfen hat. Es läuft doch immer nach demselben
populistischem Muster, und einen Finanzierungsvor-
schlag, wenn schon nicht für die Länder, zumindest für
den Bundeshaushalt, machen sie erst gar nicht.
Die Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz
stellen eine besondere Sozialleistung für das Kind und
den allein erziehenden Elternteil dar, eine Hilfe in beson-
ders schwierigen Lebens- und Erziehungssituationen. Der
Gesetzgeber, der das Bezugsalter bereits einmal von sechs
auf zwölf Jahre erhöht hat, wollte durch die hier in Rede
stehende Leistungsbeschränkung auch zum Ausdruck
bringen, dass er keine Ausfallgarantie für unterhalts-
berechtigte Kinder bis zu deren wirtschaftlicher Selbst-
ständigkeit konzipieren wollte. Bei der Gestaltung dieser
Sozialleistung ist der Gesetzgeber weitgehend frei. Bei
über die Existenzsicherung hinausgehenden staatlichen
Leistungen müssen aber neben anderen Aufgaben auch
die vorhandenen Mittel berücksichtigt werden.
Wir haben in der Tat trotz des Schuldenabbaus im
Interesse der Kinder und zukünftiger Generationen in
einem Kraftakt 24 Milliarden DM mehr für die Familien
zur Verfügung gestellt. Und ich sage es noch einmal:
Durch Steuerreform, dreimalige Kindergelderhöhungen,
Umgestaltung der Steuerfreibeträge sowie die Absetzbar-
keit erwerbsbedingter Betreuungskosten haben wir alle
Familien deutlich finanziell entlastet. Von dieser Fami-
lien- und Steuerpolitik profitieren auch die Alleinerzie-
henden, genauso wie von der Anhebung der Einkom-
mensgrenzen beim Erziehungsgeld, und den in Euro und
Cent auszurechnenden Verbesserungen bei der BaföG-
und Wohngeldreform.
Es geht hier nicht darum, über vorhandene Mängel in
einzelnen Sozialgesetzen hinwegzureden, die wir auch
sehen und anpacken wollen. Aber erst recht angesichts der
Versäumnisse der CDU/CSU und der FDP in den 80er-
und 90er-Jahren wissen sie doch genau, was wir in drei-
einhalb Jahren bereits für Kinder und Familien geleistet
haben. Die angespannte Lage der öffentlichen Finanzen
im Bund, in den Ländern und Gemeinden, die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichtes zum Familienleistungs-
ausgleich, selbst die kompliziertesten Leistungssysteme
der Welt werden uns nicht davon abhalten, weitere Re-
formschritte zugunsten der Kinder und der Familien ein-
zuleiten. Gerade weil diese Leistungssysteme den aktuel-
len Realitäten nicht immer gerecht werden, nicht immer
zielgenau wirken und Selbsthilfe fördern und zudem viel
zu viel Bürokratie erfordern, werden wir sie weiter umge-
stalten.
Anstatt im Namen der Gerechtigkeit mit der Gieß-
kanne immer mehr und nichtvorhandenes Geld auch der
Länder und Kommunen über Spezialleistungsgesetze wie
den Unterhaltsvorschuss auszuschütten, sollten wir im In-
teresse der Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut
dringend dreierlei tun: Erstens. Im Interesse der Genera-
tionengerechtigkeit weiter öffentliche Schulden abbauen,
sonst sind alle Leistungssysteme auf Dauer nicht zu-
kunftsfähig; zweitens: gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen über neue Strukturen und Schwerpunkte der
staatlichen Finanzen verhandeln, weil das Schwarze-
Peter-Spiel den Betroffenen nicht hilft und drittens: un-
sere sozialen Leistungssysteme zum Beispiel mit dem
Ziel einer sozialen Grundsicherung für Kinder einfacher,
bedarfsgerechter und effizienter zu machen. Es bleibt also
noch eine Menge zu tun. Und deshalb wollen die Familien
auch, dass wir nach dem 22. September weiterregieren.
Antje Blumenthal (CDU/CSU): Das Gesetz zur Si-
cherung des Unterhalts von Kindern allein stehender Müt-
ter und Väter durch Unterhaltsvorschüsse oder -ausfall-
leistungen, kurz: Unterhaltsvorschussgesetz, will die PDS
mit zwei Gesetzesentwürfen ändern. Die Drucksache
14/7225 sieht eine deutliche Erweiterung der Ansprüche
auf Unterhaltsleistungen durch Ausweitung der Höchst-
leistungsdauer vor. Die zweite Drucksache will § 2 des
Unterhaltsvorschussgesetzes dahin gehend verändern,
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dass die Anrechnung des hälftigen Kindergeldes bei Al-
leinerziehenden, deren Kinder Unterhaltsvorschuss be-
kommen, aufgehoben wird.
Mit dem Titel des Gesetzes ist man bereits mitten in der
Sozialproblematik allein erziehender Mütter und Väter.
Dabei ist anzumerken, dass die Mehrzahl allein erzie-
hende Mütter sind. Für Alleinerziehende erfolgt die Er-
ziehung ihrer Kinder unter erschwerten Bedingungen. Die
Rate der allein erziehenden Eltern in Deutschland steigt.
War noch vor 30 Jahren der Tod des Partners die häufigs-
te Ursache dafür, dass ein Elternteil allein erziehend
wurde, ist der Hauptgrund heute die Trennung oder die
Scheidung. In den allermeisten Fällen bleiben die Kinder
bei der Mutter. Der Anteil allein erziehender Mütter steigt
ständig. Mehr als 1,8 Millionen Alleinerziehende gibt es
mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland. Die
wirtschaftliche Situation vieler Alleinerziehender ist
angespannt. So leben 15 Prozent der Alleinerziehenden
von 715 Euro, weitere 25 Prozent leben von weniger als
1125 Euro monatlich.
Für die Mehrzahl der allein erziehenden Mütter ist die
Erwerbstätigkeit nach wie vor die wichtigste Einkom-
mensquelle. Erst an zweiter Stelle stehen Sozialleistungen.
Obwohl die Mehrzahl der allein erziehenden Mütter ge-
schieden ist, lebt nur eine geringe Zahl der Alleinerziehen-
den von Unterhaltszahlungen des geschiedenen Mannes.
Die wirtschaftliche Situation verschärft sich, wenn das
Kind nicht den üblichen Regelunterhalt von dem anderen
Elternteil erhält oder wenn der Unterhalt nicht rechtzeitig
gezahlt wird. Diese besondere Lebenssituation soll mit
der Unterhaltsleistung nach dem seit dem 1. Januar 1980
geltenden UVG erleichtert werden.
So leistete beispielsweise meine Heimatstadt Hamburg
nach dem UVG in 2001 für fast 14 000 Kinder und Ju-
gendliche bis zwölf Jahren den Unterhalt. 7,5 Prozent die-
ser Altersgruppe beziehen nur deshalb Gelder nach dem
UVG, weil der unterhaltspflichtige Elternteil nicht bereit
war zu zahlen. Die Ausgaben, mit denen die öffentliche
Hand in Vorlage treten musste, beliefen sich dabei allein
in Hamburg auf 21,79 Millionen Euro. Bundesweit haben
die Jugendämter für 452 000 Kinder Unterhaltsvorschuss
als „Ersatzväter“ gezahlt. Das Geld ist nur geborgt, wie es
der Name des Gesetzes schon aussagt. Es dient zur Über-
brückung für die Alleinerziehenden, bis der andere El-
ternteil seiner Unterhaltspflicht nachkommt.
Wir wollen alle – davon gehe ich aus – die Situation der
Alleinerziehenden verbessern. Doch die Änderungsan-
träge der PDS sind unserer Ansicht nach Flickschusterei.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion wollen ein ganzheitli-
ches Konzept für den Gesamtkomplex Familienunter-
haltsrecht. An dieser Stelle möchte ich meine Kollegin
Wülfing zitieren, die in der Sitzung des Bundestages in
der Debatte um das Zweite Gesetz der Familienförderung
gesagt hat:
Ich finde es immer gut, wenn man seine Kinder er-
ziehen kann, ohne daneben einen Steuerberater ste-
hen zu haben.
Wie Recht sie doch hat. Das Unterhaltsrecht ist teil-
weise so unübersichtlich geworden, dass sich Betroffene
dort nicht mehr zurechtfinden.
Die Situation der Alleinerziehenden hat sich außerdem
deutlich einseitig verschlechtert; denn sie werden steuer-
lich künftig behandelt wie Singles. Als Antwort auf das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November
1998 wurde durch die Bundesregierung mit dem am 1. Ja-
nuar 2002 in Kraft getretenen Zweiten Gesetz der Fami-
lienförderung die stufenweise Abschmelzung des Haus-
haltsfreibetrages eingeführt. So viel zum Thema
Familienförderung!
Nur, das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt,
dass Alleinerziehende schlechter gestellt werden sollen.
Statt einer Abschaffung des Haushaltsfreibetrages hätte
die rot-grüne Bundesregierung auch die Möglichkeit ge-
habt, die Familien mit Kindern im Sinne des Bundesver-
fassungsgerichtes besser zu stellen, ohne dabei die Al-
leinerziehenden zu benachteiligen. Das Ergebnis dieses
„Zweiten Familienförderungsprogramms“ ist eine Sam-
melklage des Verbandes allein erziehender Mütter und
Väter beim Bundesverfassungsgericht. Die Familienpoli-
tik der Bundesregierung ist – wie Sie auch an diesem Bei-
spiel sehen – ungerecht und unsozial. Aber die vorliegen-
den Änderungsvorschläge der PDS bieten hierbei keine
grundlegende Abhilfe.
Mit diesen von der PDS vorgeschlagenen Änderungen
des UVG kämen außerdem erhebliche zusätzliche Kosten
auf den Bund und die Länder zu. Allein der Änderungs-
vorschlag im Zweiten Gesetz, Drucksache 14/7226, sieht
eine deutliche Ausdehnung der Leistungszeit vor, was
mindestens eine Verdreifachung der Ausgaben bedeuten
würde. Weitere Kosten würden wegen des höheren Re-
gelunterhaltes der Zwölf- bis Siebzehnjährigen entstehen.
Insbesondere die Unterhaltsvorschusskassen der Länder
und Kommunen, die nach der neuen geltenden Regelung
zwei Drittel des Unterhaltsvorschusses zu leisten hätten,
sind nicht in der Lage, diese Mehrkosten zu finanzieren.
Aber es gibt auch andere Vorschläge: das Familiengeld!
Es ist meines Erachtens dringend notwendig, ein Fami-
liengeld nach den Vorstellungen der CDU/CSU einzu-
führen; denn nur dadurch wird man eine echte Familien-
förderung mit einer Grundsicherung der Kinder erreichen.
Mit dieser neuen Basis des CDU/CSU-Konzepts der
staatlichen Familienförderung kann auch die Ein-Eltern-
Familie, die laut Armutsbericht der Bundesregierung die
am stärksten von Armut betroffene Bevölkerungsgruppe
ist, aus der Sozialhilfe herausgeholt werden.
Die Verfolgung des Unterhaltsrückstandes beim UVG
ist unbefriedigend gelöst. Lassen Sie mich auch hier auf
Hamburger Erfahrungen zurückgreifen. Lediglich bei
rund 17 Prozent lag im Jahr 2001 beispielsweise in Ham-
burg die Rückgriffquote durch Erstattung durch die säu-
migen Unterhaltspflichtigen, obwohl in Hamburg bereits
intensiv versucht wurde, die Quote durch Zwangsmaß-
nahmen zu erhöhen. Bundesweit liegt die Rückgriffquote
nur geringfügig höher.
In Hamburg ist zurzeit angedacht, dank der neuen So-
zial- und Familiensenatorin Birgit Schnieber-Jastram, in
einem Modellprojekt durch Einschalten von Rechtsan-
waltskanzleien eine deutliche Steigerung der Rückgriff-
quoten zu erreichen bzw. dadurch die Bereitschaft zur
freiwilligen Zahlung bei den Unterhaltspflichtigen zu ver-
stärken. Gemeinsames Ziel muss es doch sein, dass sich
derjenige, der seiner Zahlungspflicht für Kinder nicht
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nachkommt, nicht in der Sicherheit wiegen darf, dass er
nicht belangt werden wird. Hier liegen die wahren Rege-
lungsbedarfe und deshalb sind die hier vorliegenden An-
träge der PDS nicht der richtige Ansatz
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): „Vater Staat“ so wird oft der Staat genannt,
wenn es um seine Fürsorgefunktion geht. Im wahrsten
Sinne des Wortes gilt das, wenn der Staat anstelle der un-
terhaltspflichtigen Väter quasi als Ausfallbürge den Un-
terhalt für die Kinder von Alleinerziehenden zahlt.
Für 450 000 Alimente verweigernde Väter springt der
Staat zurzeit ein, Tendenz steigend. Und das kommt ihn
teuer zu stehen. 770 Millionen Euro zahlen Bund, Länder
und Gemeinden zu je einem Drittel für säumige Väter.
Zwar ist die Rückgriffquote seit 1998 von 15 auf 22 Prozent
erhöht worden, die Zahl der säumigen Väter steigt jedoch,
wie der Deutsche Städettag klagt. Und die Jugendämter der
Kommunen erhalten immer häufiger die Antwort: Vater un-
bekannt, Vater untergetaucht, Vater zahlungsunfähig, Va-
ter zahlungsunwillig. – So wird es immer schwieriger, die
als realistisch angesehene Rückgriffquote von 40 Prozent
zu erreichen.
In den USAwird Unterhaltsentzug radikal bestraft: mit
Führerscheinentzug. Sicherlich eine sehr rigide Maß-
nahme. Es darf aber bei uns nicht länger ein Kavaliers-
delikt sein, sich vor den Unterhaltszahlungen zu drücken.
Ich sehe daher mit großem Interesse, dass die Justizminis-
terin das Sanktionenrecht erweitern will. Die Leidtragen-
den sind aber letztendlich die Betreuungsunterhalt leis-
tenden Mütter und ihre Kinder. Denn in dem seit 1980
geltenden Unterhaltsvorschussgesetz ist festgelegt, dass
die staatlichen Vorschuss-Zahlungen nur 72 Monate ge-
leistet werden; maximal bis zum zwölften Lebensjahr des
Kindes. Insofern ist das Anliegen der PDS, die Zeiten zu
verlängern, unterstützenswert. Allerdings, verehrte Kolle-
ginnen von der PDS, schießen Sie weit über das Ziel hi-
naus. Bis zum 27. Lebensjahr des Kindes einen Unter-
haltsvorschuss zu zahlen, das brächte den wolhabendsten
Papa Staat wohl in Bedrängnis. Das wären 5,5 Milliarden
Euro jährlich für Bund, Länder und Kommunen. Der
blaue Brief aus Brüssel wäre wohl garantiert.
Ähnlich sieht es bei der Anpassung des Unterhaltsvor-
schussgesetzes an das Unterhaltsrecht aus, was wir inhalt-
lich begrüßen. Die Grünen werden sich in der nächsten
Wahlperiode sowohl für eine angemessene Ausweitung
der Anspruchsdauer als auch für effektivere Rückzahlun-
gen der Väter stark machen.
Wir wollen aber auch insgesamt die Situation der Al-
leinerziehenden verbessern. Familienfreundliche Ar-
beitszeiten, ganztätige Kinderbetreuungseinrichtungen,
Ganztagsschulen, Absetzbarkeit der erwerbsbedingten
Kinderbetreuungskosten ab dem ersten Euro – das ist das
Gebot der Stunde, um die wirtschaftliche Absicherung
von Einelternfamilien zu gewährleisten.
In den vergangenen Jahren haben wir die Leistungen
für die Familien bereits deutlich ausgebaut. Über 50 Mil-
liarden Euro gehen jährlich in die verschiedenen Formen
der Familienförderung von BAFöG über Kindergeld, über
Baukindergeld und Erziehungsgeld. 300 DM Kindergeld
haben die Grünen ihren Wählerinnen und Wählern 1998
versprochen. Wir haben Wort gehalten. Ab Janaur 2002
beträgt das Kindergelt 154 Euro.
Ich komme zu einer weiteren aktuellen Diskussion:
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil eine
Besserstellung Alleinerziehender Eltern gegenüber Ver-
heirateten untersagt. Dieses Urteil hat die Bundesregie-
rung durch einen stufenweisen Abbau des Haushaltsfrei-
betrages für Alleinerziehende umgesetzt, was in einigen
Fällen trotz der Erhöhung des Betreuungsfreibetrages zu
steuerlichen Mehrbelastungen führen wird. Wäre es nach
uns gegangen, hätten wir den Haushaltsfreibetrag über-
haupt nicht angetastet. Allerdings betrifft das nur 40 Pro-
zent der Alleinerziehenden, denn 60 Prozent zahlen keine
Steuern. Aber solange das Ehegattensplitting für Verhei-
ratete existiert, das zwar den Trauschein subventioniert,
nicht aber zwangsläufig Kinder fördert, sehe ich keine
Besserstellung von Alleinerziehenden. Wenn wir sagen:
„Familie ist da, wo Kinder sind“, dann können wir Al-
leinerziehende nicht wie Singles behandeln. Auch aus die-
sen Gründen setzen sich Bündnisgrüne für eine weitge-
hende Reduzierung des Ehegattensplittings ein, um mit
dem Geld das Leben mit Kindern zu fördern, unabhängig
davon, ob ihre Eltern verheiratet sind oder nicht. So wol-
len wir dieses Geld sinnvoll für eine Kindergrundsiche-
rung einsetzen, um Armut und soziale Ausgrenzung von
Familien zu verhindern. Es bewirkt, dass über 4 Millionen
Kinder in Deutschland eine zusätzliche Förderung von bis
zu 100 Euro pro Monat erhalten.
Kinder sind unsere Zukunft; die materielle Existenzsi-
cherung ist unabdingbar. Aber Kinder brauchen auch die
Unterstützung der gesamten Gesellschaft. Lassen Sie uns
zu Beginn des 21. Jahrhunderts die vaterlose Gesellschaft
beenden.
Ina Lenke (FDP): Die Zahl der Väter, die sich ihren
Unterhaltspflichten gegenüber ihren Kindern entziehen,
nimmt zu. Mit dem Unterhaltsvorschussgesetz über-
nimmt der Staat die Aufgabe eines Ersatzvaters. Im Jahr
2001 tut er das für 450 000 Kinder bei staatlichen Kosten
von 1,5 Milliarden DM. Mit dem vorliegenden Entwurf
zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes will die
PDS erreichen, dass Unterhaltsvorschüsse oder -ausfall-
leistungen für Alleinerziehende künftig nicht mehr um die
Hälfte des Kindergelds gekürzt werden.
Im letzten Jahr trat lediglich eine Neuregelung für Kin-
der von getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern in
Kraft, nicht für allein stehende Mütter und Väter. Diese
Neuregelung war aufgrund eines Bundesverfassungsge-
richtsurteils geboten und soll verhindern, dass das säch-
liche Existenzminimum des Kindes angetastet wird.
Soweit – so gut: Es wurde aber versäumt, auch für Ein-
Eltern-Familien im Unterhaltsvorschussgesetz die exis-
tenzsichernde Funktion des Kindergelds rechtlich zu
schützen. Nach den jetzt geltenden Regelungen ist es fol-
gerichtig, alle Kinder im Unterhaltsvorschussgesetz
gleichzustellen.
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Das werden wir im Ausschuss beraten müssen. Wenn
die Alleinerziehenden benachteiligt sind, muss eine Kor-
rektur erfolgen.
Mit dem zweiten Antrag, dem Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes,
will die PDS-Fraktion die Höchstleistungsdauer des Un-
terhaltsvorschusses auf den gesamten Zeitraum der Kin-
dergeldberechtigung ausdehnen. Das bedeutet eine erheb-
liche Ausweitung des finanziellen Sicherungssystems,
dessen Funktionsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit ich be-
zweifle. Die Bundesregierung hat ihre Zahlung zum Un-
terhaltsvorschussgesetz zulasten der Städte und Gemein-
den zurückgefahren, die jetzt erstmals ein Drittel der
Kosten zu tragen haben. Das ist wieder einmal eine Sa-
nierungsmaßnahme im Bundeshaushalt zulasten der
Kommunen. Die Kommunen aber haben nicht nur ihr
Drittel zu finanzieren, sondern auch den erheblichen Ver-
waltungsaufwand zu tragen, der mit der Umsetzung des
Gesetzes verbunden ist. Insbesondere die Pflicht zur
Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen ist in den Kom-
munen äußerst personalintensiv und steht in einem
schlechten Verhältnis zu den Erfolgen. Dies gilt umso
mehr, als die mühsam eingezogenen Beträge zu je einem
Drittel an Bund und Länder weitergegeben werden müs-
sen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, dass Alleinerzie-
hende, die für ihre Kinder nicht regelmäßig Unterhalt vom
anderen Elternteil oder Waisenbezüge erhalten, eine be-
sondere finanzielle Unterstützung brauchen, steht außer
Frage. Aber das derzeitige System des Unterhaltsvor-
schusses ist wenig effizient und sehr bürokratisch. Durch
die von der PDS geforderte Ausweitung wird das nicht
besser, sonder schlechter.
Ziel der FDP-Fraktion ist eine insgesamt verbesserte
finanzielle Absicherung von Kindern. Unter diesem
Aspekt sollten wir uns im Ausschuss das Unterhaltsvor-
schussgesetz vornehmen und intensiv beraten.
Christina Schenk (PDS): Zur Existenzsicherung von
Kindern allein Erziehender gehören monatliche Unter-
haltszahlungen des getrennt lebenden Elternteils. So weit
die Theorie. Wie viele Kinder ihren Unterhalt tatsächlich
erhalten, weiß niemand genau. Die letzte statistische Er-
hebung stammt von 1978. Wir begrüßen deshalb, dass die
Bundesregierung eine entsprechende Studie in Auftrag
gegeben hat. Heute wird geschätzt, dass nur etwa an ein
Drittel der Kinder der Unterhalt regelmäßig und in voller
Höhe gezahlt wird. Ein weiteres Drittel erhält ihn unre-
gelmäßig oder in zu geringer Höhe und das letzte Drittel
bekommt ihn selten oder nie. Wird der Unterhalt nicht ge-
zahlt, streckt seit 1979 der Staat aus der Unterhaltsvor-
schusskasse einen Teil des geschuldeten Betrages vor. Der
Unterhaltsvorschuss wird jedoch maximal 72 Monate und
längstens bis zum 12. Lebensjahr des Kindes gezahlt. Ge-
rade dann, wenn die Kinder teuer werden, bekommen sie
nichts mehr. Hier spart der Staat auf Kosten der Kinder.
Und er spart auf Kosten desjenigen Elternteils, der mit
dem Kind zusammenlebt. Das darf nicht länger so blei-
ben. Der Unterhaltsvorschuss muss solange gezahlt wer-
den, wie es einen Anspruch auf Kindergeld gibt. Beim
Unterhaltsvorschuss erhalten Kinder ohnehin nur den
Mindestunterhalt, wovon allerdings wieder die Hälfte des
Kindergeldes abgezogen wird. Demgegenüber geht das
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur
Änderung des Kindesunterhaltsrechts, das zum 1. Januar
2001 in Kraft getreten ist, eindeutig und zu Recht davon
aus, dass der niedrigste Mindestunterhalt den Bedarf des
Kindes nicht deckt. Seitdem darf der Unterhalt nur dann
um die Hälfte des Kindergeldes gemindert werden, wenn
er mindestens in Höhe von 135 Prozent des Regelsatzes
gezahlt wird. Im Unterschied dazu mindert der Staat den
Unterhaltsvorschuss nach wie vor um die Hälfte des Kin-
dergeldes – Existenzminimum hin oder her. Hier wird
erneut auf Kosten der Ärmsten gespart. Kinder, die den
Unterhaltsvorschuss in Höhe des Mindestunterhalts be-
kommen, erhalten somit monatlich 77 Euro weniger als
Kinder, denen der zahlungspflichtige Elternteil den Min-
destunterhalt zahlt. Die PDS-Fraktion hat bei der Reform
des Unterhaltsrechts auf diese Ungleichbehandlung hin-
gewiesen. Die rot-grüne Mehrheit des Hauses hat diese
Ungerechtigkeit billigend in Kauf genommen. Wir wollen
sie beenden. Bei Beibehaltung der jetzigen Regelungen
zum Unterhaltsvorschuss verfestigt das Armutsrisiko bei
allein Erziehenden. Wenn kein Unterhalt gezahlt wird
und die Bezugsdauer für den Unterhaltsvorschuss ausge-
schöpft ist, muss derjenige Elternteil einspringen, bei dem
das Kind lebt. In 85 Prozent der Fälle ist das wegen der in
Deutschland noch immer traditionellen Rollenverteilung
die Mutter. Sie ist finanziell damit doppelt belastet. Sie
versorgt das Kind, hat damit oft genug berufliche und da-
mit auch finanzielle Nachteile. Und sie übernimmt noch
zusätzlich den Unterhalt, den der Vater zahlen müsste und
nicht zahlt. Für sie gibt es – anders als für diesen – keinen
Selbstbehalt. Sie kann dem Kind nicht den benötigten Un-
terhalt mit dem Argument verweigern, der eigene Bedarf
gehe vor. Sie muss mit allem, was sie hat, für den Unter-
haltsausfall eintreten – solange, bis sie in die Sozialhilfe
fällt. Weil immer mehr Väter und in geringer Zahl auch
Mütter ihrer Zahlungspflicht nicht nachkommen, muss
der Staat gegenwärtig rund 450 000 Kindern Unterhalts-
vorschuss gewähren. Das ist teuer: Allein im vergangenen
Jahr beliefen sich die Kosten, die zu jeweils einem Drittel
vom Bund, den Ländern und den Kommunen getragen
werden, auf etwa 1,5 Milliarden Mark. Die Rückholquote
ist erbärmlich gering. Nur etwa ein Fünftel der Väter zahlt
das quasi zinslose Darlehen zurück. Für den Rest der Vä-
ter ist der Unterhaltsvorschuss praktisch ein Geschenk.
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