Protokoll:
14196

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 196

  • date_rangeDatum: 19. Oktober 2001

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:08 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Sozialordnung – zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Lebenslagen in Deutsch- land; erster Armuts- und Reichtums- bericht – zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der PDS: Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen – zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und so- zialer Ausgrenzung 2001 bis 2003 (Drucksachen 14/5990, 14/6171, 14/6134, 14/6628) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19149 A Konrad Gilges SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19149 B Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 19152 A Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19154 C Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . . . . . . . . . . . . 19156 B Dr. Gregor Gysi PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19158 B Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin BMA 19159 D Peter Dreßen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19160 B Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 19162 D Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten (Drucksache 14/6709) . . . . . . . . . . . . . . . 19165 D Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 19166 A Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 19168 A Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 19169 A Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19169 D Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19171 A Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 19173 B Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19174 B Dr. Rupert Scholz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 19176 A Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 19178 B Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 19180 A Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 19180 B Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Begrenzung der Arzneimittel- ausgaben der gesetzlichen Kranken- versicherung (Arzneimittelausgaben-Be- grenzungsgesetz) (Drucksache 14/7144) . . . . . . . . . . . . . . . 19180 D Regina Schmidt-Zadel SPD . . . . . . . . . . . . . . 19180 D Dr. Wolf Bauer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 19182 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19185 A Detlef Parr FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19186 B Plenarprotokoll 14/196 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 196. Sitzung Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 I n h a l t : Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19188 C Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 19189 D Dr. Sabine Bergmann-Pohl CDU/CSU . . . . . 19191 D Tagesordnungspunkt 20: – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anni Brandt-Elsweier, Christel Riemann-Hanewinckel, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten (Drucksachen 14/5958, 14/7174) . . . . 19193 B – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Evelyn Kenzler, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der PDS einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur beruflichen Gleichstellung von Pros- tituierten und anderer sexuell Dienst- leistender (Drucksachen 14/4456, 14/7174) . . . . 19193 B Anni Brandt-Elsweier SPD . . . . . . . . . . . . . . 19193 C Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 19195 A Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19197 C Ina Lenke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19199 A Christina Schenk PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19200 B Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD . . . . . . . . . . . . . 19201 B Christel Riemann-Hanewinckel SPD . . . . . . . 19202 C Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19203 C Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur För- derung der ambulanten Hospizarbeit (Drucksache 14/6754) . . . . . . . . . . . . . . . 19204 C Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . . . . . . 19204 C Dr. Friedhelm Repnik, Minister (Baden-Würt- temberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19206 C Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19208 D Detlef Parr FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19209 D Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19211 A Dr. Wolfgang Wodarg SPD . . . . . . . . . . . . . . 19211 D Zusatztagesordnungspunkt 7: – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Be- wertungsgesetzes (Drucksachen 14/6718, 14/7171) . . . . 19213 A – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes (Drucksachen 14/5345, 14/7171) . . . . 19213 B Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung rehabilitie- rungsrechtlicher Vorschriften (Rehabilitie- rungsgesetzeänderungsgesetz) (Drucksache 14/6189) . . . . . . . . . . . . . . . 19213 C Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der PDS: Steuerhinterziehung wirk- sam bekämpfen (Drucksachen 14/4882, 14/6438) . . . . . . . 19213 D Dr. Mathias Schubert SPD . . . . . . . . . . . . . . . 19214 A Otto Bernhardt CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 19214 D Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19215 D Dr. Hermann Otto Solms FDP . . . . . . . . . . . . 19216 C Heidemarie Ehlert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 19217 B Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19218 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 19219 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Be- wertungsgesetzes (Zusatztagesordnungspunkt 7) 19219 D Nicolette Kressl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19219 D Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . . . 19221 B Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19223 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001II Dr. Hermann Otto Solms FDP . . . . . . . . . . . . 19224 B Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19225 A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung rehabi- litierungsrechtlicher Vorschriften (Rehabilitie- rungsgesetzeänderungsgesetz – RehaÄndG) (Tagesordnungspunkt 24) . . . . . . . . . . . . . . . . 19225 D Hans-Joachim Hacker SPD . . . . . . . . . . . . . . 19225 D Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 19227 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19227 C Cornelia Pieper FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19228 B Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19229 B Anlage 4 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19229 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 III Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 Heidemarie Ehlert 19218 (C)(A) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19219 (C) (D) (A) (B) Andres, Gerd SPD 19.10.2001 Dr. Blens, Heribert CDU/CSU 19.10.2001 Bohl, Friedrich CDU/CSU 19.10.2001 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 19.10.2001* Klaus Carstensen CDU/CSU 19.10.2001 (Nordstrand), Peter H. Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 19.10.2001 DIE GRÜNEN Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 19.10.2001 Joseph DIE GRÜNEN Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 19.10.2001 Friedrich (Altenburg), SPD 19.10.2001 Peter Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 19.10.2001 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 19.10.2001 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 19.10.2001 DIE GRÜNEN Grund, Manfred CDU/CSU 19.10.2001 Hartnagel, Anke SPD 19.10.2001 Helias, Siegfried CDU/CSU 19.10.2001 Hermann, Winfried BÜNDNIS 90/ 19.10.2001 DIE GRÜNEN Hofbauer, Klaus CDU/CSU 19.10.2001 Janssen, Jann-Peter SPD 19.10.2001 Kramme, Anette SPD 19.10.2001 Lippmann, Heidi PDS 19.10.2001 Louven, Julius CDU/CSU 19.10.2001 Mogg, Ursula SPD 19.10.2001 Müller (Düsseldorf), SPD 19.10.2001 Michael Neumann (Bramsche), SPD 19.10.2001 Volker Nietan, Dietmar SPD 19.10.2001 Nooke, Günter CDU/CSU 19.10.2001 Ostrowski, Christine PDS 19.10.2001 Pofalla, Ronald CDU/CSU 19.10.2001 Raidel, Hans CDU/CSU 19.10.2001 Rübenkönig, Gerhard SPD 19.10.2001 Schemken, Heinz CDU/CSU 19.10.2001 Schily, Otto SPD 19.10.2001 Schlee, Dietmar CDU/CSU 19.10.2001 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 19.10.2001 Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 19.10.2001 Schösser, Fritz SPD 19.10.2001 Sehn, Marita FDP 19.10.2001 Simm, Erika SPD 19.10.2001 Dr. Spielmann, Margrit SPD 19.10.2001 Dr. Freiherr von CDU/CSU 19.10.2001 Stetten, Wolfgang Strebl, Matthäus CDU/CSU 19.10.2001 Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 19.10.2001 Dr. Thomae, Dieter FDP 19.10.2001 Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 19.10.2001 Türk, Jürgen FDP 19.10.2001 Uldall, Gunnar CDU/CSU 19.10.2001 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 19.10.2001 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 19.10.2001 Wissmann, Matthias CDU/CSU 19.10.2001 Zierer, Benno CDU/CSU 19.10.2001* * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes (Zusatztages- ordnungspunkt 7) Nicolette Kressl (SPD): Vor wenigen Tagen haben wir in diesem Haus bereits unsere Argumente zu einer Verlängerung oder Änderung des Bewertungsgesetzes ausgetauscht – oder jedenfalls wir von der SPD-Fraktion sind auf diesen Tagesordnungspunkt eingegangen, während die Redner der CDU/CSU- und FDP-Fraktion eher bemüht waren, die eigene steuerpolitische Fehl- steuerung, die uns bei der Regierungsübernahme einen hoch verschuldeten Haushalt bescherte, der derzeitigen Regierung anzulasten. Der Versuch der Vertreter der CDU/CSU- und FDP-Fraktion, die Verlängerung des entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Bewertungsgesetzes als eigenen Erfolg zu verkaufen, wa- ren dabei ebenso unglaubwürdig wie die gleichzeitige Unterstellung, wir wollten die Erbschaftsteuer insgeheim erhöhen. Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist keineswegs, wie die FDP irrig glaubt, mit dem FDP-Antrag „wort- gleich“. Vielmehr geht er im Gegensatz zu dem FDP-An- trag vom Februar von einer Grundlage aus, die auch künf- tigen Entwicklungen standhält. Während die FDP in ihrem Antrag einfach aus einer fünfjährigen scheinbaren Stabilität der Immobilienpreise auf eine weitere stabile Lage für die kommenden fünf Jahre schlussfolgert, haben wir leider nicht die prophetische Gabe der FDP-Fraktion. Wie hoch allerdings die Wahrscheinlichkeit der Verwirk- lichung von Prophezeiungen aus dem FDP-Lager ist, lässt sich angesichts der von der FDP getätigten 18-Prozent- Prognosen nur vermuten. Wir von der SPD-Fraktion verlassen uns lieber auf Tat- sachen und seriöse Prognosen und halten eine Verlänge- rung bis zum Jahre 2006 deshalb aus offensichtlichen und nachvollziehbaren Gründen derzeit für erforderlich. Die Beruhigung der Immobilienpreise während der vergange- nen Jahre halten wir dabei nicht wie die FDP-Fraktion für eine garantiert langfristige Entwicklung. Eine Änderung dieser Entwicklung ist möglich. Angesichts der derzeit wieder steigenden Mietpreise ist auch eine Veränderung des Immobilienmarktes und damit der Immobilienpreise nicht auszuschließen. Um aber Rechtssicherheit und eine zuverlässige Rechengrundlage für die steuerpflichtigen Bürger und die steuerberechtigten Länder zu garantieren, findet eine erneute Befristung auf fünf Jahre unsere Zu- stimmung. Mit Interesse haben wir auch den Entschließungsan- trag der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Frak- tion gelesen, die ihre Hausaufgaben dann auch noch ab- liefern wollten. Wer glaubt, etwas ganz Neues liefern zu müssen, schafft damit nicht unbedingt einen krönenden Abschluss. Die Begründungsvorschläge der CDU/CSU- Fraktion enthalten nicht wirklich Neues. Auch die Fehlin- terpretation rechtlicher Vorgaben – wie hier des Bundes- verfassungsgerichtentscheids, der dem § 138 des Bewertungsgesetzes zugrunde liegt – ist bei der CDU/CSU nicht wirklich neu. Entgegen der Auffassung der CDU/CSU-Fraktion hat das Bundesverfassungsge- richt in seinen Beschlüssen im Jahre 1995 gerade nicht eine unterschiedliche Bewertung von Grundbesitz und sonstigem Vermögen für grundsätzlich zulässig gehalten, sondern im Gegenteil dem Gesetzgeber aufgegeben, die Ungleichbehandlung zwischen Grundbesitz und anderem Vermögen zu beseitigen. Eine unterschiedliche Behandlung setzt übrigens laut Bundesverfassungsgericht nicht irgendeine Begründung voraus – wie uns die CDU/CSU-Fraktion glauben machen will – vielmehr bedarf es einer ausdrücklichen gesetzge- berischen Entscheidung, dass „der Gesetzgeber dadurch das wirtschaftliche und sonstige Verhalten der Steuer- pflichtigen aus Gründen des Gemeinwohls fördern und lenken will“. Aus einer zusätzlichen Belastung des Grundvermö- gens gegenüber dem sonstigen Vermögen gleich eine Un- gleichbehandlung als selbstverständlich zu erachten, zeugt von einer seltsamen Auffassung der Steuergerech- tigkeit. Hinzu kommt dann noch, dass Anliegergebühren, die ja wie alle Gebühren für eine konkrete Leistung zu zahlen sind, von der CDU/CSU als „Belastung des Grund- stücks“ dargestellt werden. Dies führe, so der CDU/CSU- Entwurf, ebenso wie die mangelnde Fungibilität – also die fehlende Austauschbarkeit – zu einer Belastung von Grundvermögen, die so unerträglich sei, dass eine Un- gleichbehandlung erforderlich sei. Bemerkenswert ist ins- besondere, dass die Beständigkeit von Grundbesitz, die sonst als der entscheidende Vorteil von Grundbesitz ge- genüber unbeständigeren Werten gesehen wird, von der CDU/CSU plötzlich als belastendes Merkmal hingestellt wird. Für uns von der SPD-Fraktion gibt es das von der CDU/CSU vorgeschlagene Abrücken von verfassungs- rechtlichen Vorgaben an dieser Stelle nicht. Die Verlänge- rung des § 138 des Bewertungsgesetzes ist für uns eine Möglichkeit, für einen überschaubaren Zeitraum Rechts- klarheit zu schaffen. Eine dauerhafte Lösung zur Anglei- chung der unterschiedlichen Maßstäbe und Verfahren für die Bewertung von Grundbesitz einerseits sowie von son- stigem Vermögen andererseits ist weiterhin erforderlich, um den Anforderungen zu entsprechen, die das Bundes- verfassungsgericht im Jahre 1995 vorgegeben hat. Gleichzeitig verfolgen wir von der SPD-Fraktion weiter- hin unser Steuerentlastungsprogramm und werden des- halb die Steuerbasis der Erbschaft- und Schenkungsteuer sichern, indem wir einer neuen Befristung des § 138 des Bewertungsgesetzes bis zum Jahre 2006 zustimmen. Entgegen den Vorwürfen der CDU/CSU-Fraktion gilt: Omas Häuschen ist und wird durch die Steuerpolitik der SPD keineswegs zum „Haus ohne Hüter“. Denn Omas Häuschen bedeutet für die Erben nicht Last statt Gewinn, sondern steht gerade im Blickpunkt unserer familien- freundlichen und mittelstandsfördernden Steuerpolitik. Entgegen der ewigen und langsam unerträglichen Schwarzmalerei der CDU/CSU-Fraktion ist unser Anlie- gen die stetige und auf mehr Steuergerechtigkeit abzie- lende Steuersenkung. Genau dies verwirklichen wir auch seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998. Im Jahre 1999 wurden die Arbeitnehmer bereits um 9,7 Milliarden DM entlastet, 2000 waren es rund 8 Milli- arden DM und für dieses Jahr ist aufgrund des Steuerent- lastungsgesetzes mit einer Steuerentlastung der Privat- haushalte von beinahe 20 Milliarden DM zu rechnen. Um Familien zu fördern, halten wir auch im Rahmen des Be- wertungsgesetzes daran fest, dass das Familienge- brauchsvermögen stets so zu stellen ist, dass normale Ein- familienhäuser durch entsprechende Gestaltung der Freibeträge steuerfrei an die Kinder und Ehepartner ver- erbt werden können. Wir erhöhen nicht nur das Kinder- geld und die Freibetragsgrenzen, um die heranwachsende Generation zu fördern. Wir von der SPD-Fraktion sichern auch das Familienvermögen für die Zukunft, indem wir die Erbschaftsteuer durch die Verlängerung des § 138 des Bewertungsgesetzes bis zum Jahre 2006 ihrer Höhe nach festlegen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 200119220 (C) (D) (A) (B) Aber nicht nur die Familien werden durch unser Steu- erkonzept spürbar besser gestellt als noch zu Zeiten der al- ten Regierung. Auch in anderen Bereichen schaffen wir Steuererleichterungen. So haben wir beispielsweise zur Förderung der Unternehmen die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent abgesenkt und dadurch neue Mittel für zusätz- liche Investitionen frei gemacht. Dass im Hinblick auf die Erbschaftsteuer auch der Mittelstand als Rückgrat unserer Wirtschaft weiterhin gefördert wird, versteht sich auf- grund unserer mittelstandsfördernden Politik von selbst. Deshalb unterstützen wir die steuerlich schonende Über- tragung von mittelständischen Betrieben und den damit zusammenhängenden Vermögenswerten von einer Gene- ration auf die nachfolgenden Generationen. Damit wird einerseits der Fortbestand von Unternehmen gesichert, gleichzeitig werden wichtige Innovationen durch eine neue Unternehmergeneration ermöglicht. Abschließend möchte ich festhalten, dass wir weiterhin unseren Kurs der steuerlichen Entlastung der Arbeitneh- mer und der Familien verfolgen. Dazu zählt auch eine fa- miliengerechte Erbschaftsteuer, um die Vererbung inner- halb von Familien nicht unnötig zu belasten. Wir stimmen dem Antrag des Bundesrats daher zu, die Bewertung des Grundbesitzes für die kommenden fünf Jahre unverändert zu lassen. Gleichwohl dürfen wir nicht den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts außer Acht lassen und müssen uns daher mit der Beseitigung bestehender Ungleichbe- handlungen befassen, bevor die Befristung im Jahre 2006 ausläuft. Aber wie schon heute gilt auch im Jahre 2006: Die SPD steht für eine familienfördernde und investiti- onsfreundliche Steuerpolitik. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Die SPD wird heute der Fortschreibung der Einheitswerte für die nächsten fünf Jahre zustimmen. Es ist erfreulich, dass auch sie zu der Erkenntnis gekommen ist, dass Steuerer- höhungen in diesem Bereich, sei es direkt oder sei es in- direkt über eine höhere Bewertung, fehl am Platze sind. Die SPD ist und bleibt die Partei der Steuererhöhun- gen: Die Steuerquote betrug 1998 23,9 Prozent. Sie stieg 1999 auf 25,0 und 2000 auf 25,4 Prozent. Trotz Zuwei- sung an die Rentenversicherung aus der Ökosteuer stieg die Abgabenquote von 43,2 Prozent im Jahre 1998 über 44,0 Prozent im Jahre 1999 auf 44,1 Prozent im Jah- re 2000. Ein Blick auf die Staatsquote belegt das eben- falls: 1982 betrug sie 50,1 Prozent, 1990 nur noch 46,1 Prozent. Sie stieg durch die Wiedervereinigung 1993 auf 50,6 Prozent an und betrug 1998 48 Prozent, mittler- weile stehen wir wieder bei 47,5 Prozent – und dies nach der angeblich größten Steuerreform mit „Milliarden-Ent- lastungen“ für Bürger und Wirtschaft. Davon ist nichts zu spüren. Steuererhöhungen in dieser Zeit sind ein falsches Si- gnal und wirken verheerend, weil sie den Bürgern weitere Kaufkraft nehmen. Wenn diese für ein und dasselbe Gut mehr aufwenden müssen, dann müssen sie dieses an an- derer Stelle einsparen und können dafür keine Waren kau- fen. Insoweit schwächt jede Erhöhung von Abgaben die Konsumkraft und wirkt damit negativ auf die Konjunktur. Die Früchte Ihrer falschen Politik können Sie dieser Tage „ernten“. Gestern nahmen die Institute die Wachstumserwartun- gen für das laufende Jahr auf 0,7 Prozent zurück. Auch der Finanzminister musste die Realitäten zur Kenntnis neh- men und seine Erwartungen auf 0,75 Prozent zurück- schrauben. Noch vor kurzem hatte er auf 2 Prozent Wachstum „bestanden“. Auch wenn sie heute Vormittag das Thema „Erhöhung der Tabak- und Versicherungsteuer“ von der Tagesord- nung absetzen musste, handele es sich nicht um eine bes- sere Einsicht, sondern schlicht und einfach um die techni- sche Unfähigkeit, einen praktikablen Gesetzentwurf vorzulegen. Eine Blamage für Bundesfinanzminister Hans Eichel, der gerade in dieser Frage persönlich Hand angelegt hatte! Auch an diesem Punkt wurde die Doppelzüngigkeit der SPD wieder einmal deutlich. Das Finanztableau des Ge- setzentwurfs weist in der Drucksache 14/7062 Steuer- mehreinnahmen von 1,55 Milliarden Euro (3,03 Milliar- den DM) im Jahre 2002 aus, die sich auf 1,975 (3,863), 2,040 (3,988) und 2,105 (4,117) im Jahre 2005 steigern sollen. In Wahrheit ist das zu erwartende Aufkommen viel höher; es beträgt 5,6 Milliarden DM. Weil nach der Er- fahrung aus der Vergangenheit der auf eine Steuererhö- hung folgende Konsumverzicht sich schnell wieder aus- gleicht und eine weitere Steigerung des Konsums zu erwarten ist, werden wir ganz schnell wieder bei 140 Mil- liarden Zigaretten oder 2,8 Milliarden Euro (5,6 Milliar- den DM) Steuererhöhung sein. Dazu kommt noch die Mehrwertsteuer von fast 460 Millionen Euro (900 Milli- onen DM). Hier will sich die Bundesregierung durch ei- nen so genannten „Verhaltensabschlag“ eine „zusätzliche Sparkasse“ in Milliardenhöhe zulegen. Ihre Politik senkt die Binnenkaufkraft. Die Ökosteuer brachte im Jahre 2000 zusätzlich 7,8 Milliarden DM mehr als 1999. In dieser Höhe haben Sie die Mehrleistungen an die Rentenversicherung in der Antwort auf die Kleine An- frage, Drucksache 14/4410, beziffert. Das hätte rechne- risch zu einer Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um 0,5 Beitragspunkte reichen müssen. Gesenkt haben Sie nur um 0,2, das heißt, Sie haben 3,3 Milliarden DM zurückgegeben und 7,8 Milliarden DM eingenommen, also 4,5 Milliarden DM abkassiert. Alles andere ist Au- genwischerei. Sie haben den Eindruck erzeugt, die Ökosteuer werde 1:1 zur Beitragssenkung eingesetzt; deshalb belaste sie die Menschen nicht. Im Gegenteil: Die Menschen täten et- was Gutes, indem sie an der Tankstelle einen Beitrag zur Rentenfinanzierung erbringen. Das ist angesichts der Fak- ten ein Betrug an den Menschen. Sie setzen weniger als die Hälfte zur Beitragssenkung ein. Das bezeichne ich als „moderne Wegelagerei“ an der Tankstelle und beim Heiz- öl. Dass die Rentenversicherungsbeiträge nicht in der vollen Höhe der Ökosteuer gesenkt werden, hat Finanz- minister Eichel im Übrigen in der Regierungsbefragung vom 20. Juni 2001 eingeräumt, indem er ausführte: „Der Bürger bekommt das vollständig zurück, denn andernfalls müssten wir eine Erhöhung des Rentenversicherungsbei- trages um 0,2 oder 0,3 Punkte zusätzlich machen“. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19221 (C) (D) (A) (B) Sie haben von uns im Jahre 1998 eine Steuerquote von 23,9 Prozent übernommen. Diese stieg laut Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 1999 auf 25 Prozent und im Jahre 2000 auf 25,4 Prozent. 3 Milliarden DM sind rund 0,07 Prozent des Bruttosozialproduktes des Jahres 2002, wenn man die Zahlen der Steuerschätzung vom Mai 2001 zugrunde legt. Das heißt, die Staatsquote wird allein durch diese Maßnahme um 0,07 Prozent steigen. Geht man von der realistischen Einnahmeerwartung aus, die wesentlich höher liegt, so ergibt sich eine Steigerung um 0,1 Prozentpunkte. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal mit dem Märchen aufräumen, dass Sie diejenigen seien, die die Staatsquote gesenkt haben, und wir diejenigen, die sie erhöht haben. Die Staatsquote betrug nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 1969 39,1 Prozent, 1982 ha- ben wir von der SPD übernommen 50,1 Prozent, 1989 45,8 Prozent und stieg einigungsbedingt 1990 wieder auf 46,1 Prozent an. Damit wird deutlich, dass unsere Refor- men in den Jahren 1982 bis 1989 dazu beigetragen haben, dass die Staatsquote um 4,3 Prozent gesunken ist. Die Wirkungen auf die Konjunktur werden verheerend sein. Zu der Steuererhöhung um 3 Milliarden DM kom- men noch 7 Milliarden DM aus der Ökosteuer hinzu, so- dass allein der Konsum 2002 um 10 Milliarden DM zu- züglich Mehrwertsteuer von 1,6 Milliarden DM niedriger ausfallen müsste, weil den Bürgerinnen und Bürgern die entsprechende Kaufkraft entzogen ist. Allein durch die geplante Erhöhung bei der Versiche- rung- und Tabaksteuer wird die Inflation um 0,3 bis 0,5 Pro- zent steigen. Inflation ist Diebstahl am kleinen Mann, weil sie die Bevölkerung am härtesten trifft. Sie wurde von der Bundesregierung willig durch die Ökosteuer an- geheizt und setzt sich jetzt in diesem Punkte fort. Was der heutige Verzicht auf die Erhöhung der Grundsteuer aller- dings wert ist, wird erst die Zukunft beweisen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man nur vor der Berlinwahl und der Bundestagswahl keine Entscheidung treffen will, die den Bürger verärgern könnte. Dass dies keine endgültige Einsicht ist, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass die SPD eine eindeutige Festlegung auf Dauer und damit eine Festschreibung der Erbschaftsteuer im Finanzausschuss abgelehnt hat. Wir als CDU/CSU-Fraktion hatten einen entsprechenden Ent- schließungsantrag eingebracht, um den Bürgern schon vor anstehenden Wahlen ganz eindeutig unsere Auffas- sung zu sagen. Dass die SPD eine derartige Festlegung scheut wie der Teufel das Weihwasser, ist vor dem Hin- tergrund ihrer wahren Auffassung nur allzu verständlich und muss hier vor den Augen der Öffentlichkeit noch ein- mal deutlich gemacht werden. In Ihrem Bundestagswahlprogramm von 1998 unter der Überschrift „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“ heißt es: „Hohe Privatvermögen an der Finanzierung der Bildung beteiligen. Im Sinne eines gerechten Lastenaus- gleichs werden wir dafür sorgen, dass auch die sehr hohen Privatvermögen wieder einen gerechten Beitrag leisten, um Bildung und andere öffentliche Dienstleistungen fi- nanzieren zu können. Dazu werden wir für eine verfas- sungskonforme Besteuerung dieser sehr hohen Privatver- mögen sorgen. Es bleibt aber dabei: Das Betriebsvermö- gen der Unternehmen werden wir freistellen. Mit hohen Freibeträgen werden wir sicherstellen, dass Normalver- diener von der privaten Vermögensteuer nicht betroffen werden. Normale Einfamilienhäuser werden nicht besteu- ert: Der vorgesehene Freibetrag von zum Beispiel 1 Mil- lion Mark für eine Familie mit zwei Kindern liegt deutlich über dem steuerlichen Wert normaler Einfamilienhäuser.“ Als Bundeskanzler Schröder die Steuerfreiheit für Be- triebsveräußerung bei Kapitalgesellschaften durchsetzen wollte, befand er sich gegenüber den linken Gruppierun- gen in seiner Partei in großer Erklärungsnot. Um diese auf einem der Tiefpunkte seiner Popularität im Dezember 1999 zur Zustimmung zu bewegen, versprach er ihnen Erhöhungen bei der Besteuerung des Grundvermögens und machte dies in einem Parteitagsbeschluss [vom 7. bis 9. Dezember 1999 unter Beschlüsse – Antragsbereich Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Finanzpolitik, Antrag W 1 (Beschluss des Parteitages): Innovation und Gerech- tigkeit Perspektiven sozialdemokratischer Regierungspo- litik. III. Innovation und Gerechtigkeit – Brücken in die Zukunft – Wachstum und Beschäftigung fördern] wie folgt fest: „Eine Reform der steuerlichen Bewertung des Grundbesitzes. Dabei ist einzubeziehen das Ergebnis der Expertenkommission, die von der Bundesregierung auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung eingerichtet wurde. Hier müssen Lösungen erarbeitet werden, die mögliche Probleme beim Generationenwechsel in der mittelständischen Wirtschaft berücksichtigen. Außerdem wird es bei der Vererbung von Grundvermögen an nahe Angehörige ausreichende Freibeträge geben“. Auch der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Wilhelm Schmidt, plädiert of- fensichtlich für eine Erhöhung der Erbschaftsteuer. Bei der Maikundgebung vertrat er laut „Wolfenbütteler Zei- tung“ vom 2. Mai 2001 die Auffassung, dass zur Verbes- serung der Situation von Familien und Beziehern kleiner Einkommen die Einnahmesituation des Staates verbessert werden müsste. Wörtlich: „Dazu seien aber auch Einnah- meverbesserungen erforderlich. Über die Vermögensteuer sei dies nach einem Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht mehr möglich, aber es gebe noch andere Wege (er nannte zum Beispiel die Erbschaftsteuer), um von den Reichen mehr Geld für die Allgemeinheit zu bekommen.“ – Soweit das wörtliche Zitat aus der Zeitung. Daraus spricht purer Neid. Nicht zu vergessen ist auch die Initiative der SPD-ge- führten Länder Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklen- burg-Vorpommern, Niedersachen und Sachsen-Anhalt vom 22. März 2001 im Bundesrat (Bundesratsdrucksache 229/01), mit der die Bewertung des Grundbesitzes für die Zwecke der Erbschaftsteuer auf aktuelle Wertverhältnisse angehoben und damit auf diesem Umweg eine Erhöhung der Erbschaftsteuer durchgeführt werden sollte. Dabei war der Bund nicht unbeteiligt. Wie man einer Pressemeldung des niedersächsischen Finanzministers vom 29. März 2001 entnehmen kann, hat der Bund die entsprechende Formulierungshilfe für die Länder geleis- tet. Aller wies die Kritik von Bundeskanzler Schröder und Bundesfinanzminister Eichel zurück, indem er ausführte: Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 200119222 (C) (D) (A) (B) „Dass sich der Bund jetzt so positioniert (Anmerkung: ab- lehnt), ist für die Beteiligten überraschend: Er sei sogar an der Formulierungshilfe dieses Gesetzentwurfes einer Ländergruppe unter Federführung von Schleswig-Hol- stein beteiligt gewesen“. Deshalb ist es scheinheilig, wenn der Bundeskanzler und der Finanzminister Ende März 2001 plötzlich jegliche Erhöhung der Erb- schaftsteuer abgelehnt haben. Um es noch einmal deutlich zu machen: Die Bundes- regierung lässt nicht von ihren Plänen, die Erbschaftsteuer erhöhen zu wollen. Es geht ihr nicht um die sachgerechte Bewertung von Vermögen, sondern allein um Ideologie. Anders lässt sich doch die gleichmacherische Auslegung des Art. 3 Grundgesetz in der Regierungsstellungnahme in der Bundestagsdrucksache 14/6718, Seite 7 nicht lesen. Dort steht wörtlich: „... dass eine dauerhafte Lösung eine Angleichung der unterschiedlichen Maßstäbe und Verfah- ren für die Bewertung von Grundbesitz einerseits sowie von sonstigem Vermögen andererseits enthalten muss, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen weiterhin zu entsprechen.“ Dabei meint doch der Gleichheitssatz des Art. 3 Grund- gesetz etwas ganz anderes. Die Gleichheit des Grundge- setzes geht von Sachgesichtspunkten aus. Demnach sol- len im Wesentlichen gleich gelagerte Sachverhalte gleich bewertet und im Wesentlichen ungleich gelagerte Sach- verhalte ungleich bewertet werden. Es handelt sich also um eine abgestufte Gleichheit und nicht um die rot-grüne Einheits-Gleichheit. Gerade dieser – vom Grundgesetz gewollten – abge- stuften Gleichheit wird die jetzt bestehende Regelung, die von der CDU/CSU/FDP-Koalition 1997 verabschiedet worden ist, in besonderem Maß gerecht. Wurde bis dahin Grundvermögen nach dem Einheitswert bewertet, hat die damalige Koalition in Umsetzung des Verfassungsge- richtsurteils von 1995 das sachgerechte Prinzip des Er- tragswertverfahrens eingeführt. So wird ein Bewertungs- niveau von 50 bis 70 Prozent der Verkehrswerte erreicht und das Grundvermögen gegenüber Kapitalvermögen an- gemessen niedriger bewertet. Warum angemessen? Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts ist es sachgerecht, Grundvermögen niedriger zu besteuern als Kapitalvermögen, um der geringeren Fungi- bilität, der höheren Sozialbindung, Mieterschutzbestim- mungen, öffentlich-rechtlichen Auflagen und zusätzli- chen Belastungen durch die Grundsteuern gerecht werden zu können. Das alles interessiert die rot-grüne Bundesregierung aber nur vor Wahlen. Dann nämlich wollen die Mieter wissen, ob durch eine höhere Besteuerung des Grundver- mögens die Mieten in die Höhe getrieben werden. Somit können wir auch hier wieder ein Beispiel von Schröders Vernebelungstaktik erleben. Warum sonst wird die Ver- längerung des Ertragswertverfahrens bis 2006 unter den Vorbehalt einer allgemeinen Neuregelung gestellt? Der schon vorher eingebrachte FDP-Antrag liest sich dagegen anders: Der Zeitraum wird nach diesem Vor- schlag zwar ebenfalls bis 2006 verlängert; jedoch wird am sachgerechten Prinzip des Ertragswertverfahrens festge- halten. Wir von der CDU/CSU haben für die kleinen Haus- eigentümer die klarste Lösung: Wir halten ohne Zeitbe- grenzung am bewährten Ertragswertverfahren fest. Wir halten es mit dem Deutschen Siedlerbund, der seine Pres- semitteilung vom 8. Mai 2000 unter der Überschrift ver- öffentlichte: „Einfamilienhaus vor dem Fiskus retten“. Recht haben die Siedler! Die ständige Unsicherheit über den Kurs des Bundes- kanzlers in dieser Frage ist mittlerweile für alle Haus- eigentümer unzumutbar. Die Bundesregierung hat kein klares Konzept. Sie will nach wie vor Grundvermögen neu bewerten. Schröders Beteuerungen in der „Welt“ vom 2. Dezem- ber 1999, „dass ich nicht an Omas Häuschen ran will“ sind doch so viel wert, wie seine damaligen Versprechungen vor der Bundestagswahl, bei 6 Pfennigen Benzinpreiserhöhung für die Ökosteuer, sei für ihn „das Ende der Fahnenstange erreicht“. Mittlerweile haben wir nicht 6 Pfennig Benzin- preiserhöhung für die Ökosteuer insgesamt, sondern 6 Pfennig jedes Jahr! Nein: Wer einmal nicht die Wahrheit spricht, dem glaubt man nicht. Dieses Sprichwort sollen alle Hauseigentümer sorgfältig bedenken, wenn es um die Pläne der Bundesregierung zur Erbschaftsteuer geht. Wir von der Union sagen dagegen: Hände weg von ei- nem neuen Bewertungsniveau beim Grundvermögen! Hände weg von der Erbschaftsteuer! Hände weg von Omas Häuschen! Ich fordere die SPD deshalb noch einmal auf, eine ein- deutige Erklärung dahin gehend abzugeben, dass sie künf- tig keine Erhöhungen der Erbschaftsteuern – weder direkt noch indirekt – plant, um den Menschen tatsächlich Si- cherheit zu geben. Der Bevölkerung rate ich, dieses Ver- halten zu beobachten, damit die Erbschaftsteuer nicht den üblichen Gang einer Chefsache geht nach dem Motto: „Es gilt das gebrochene Wort“. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des Bewertungs- gesetzes auf Vorschlag des Bundesrates wird sicherge- stellt, dass die Länder auch nach dem 31. Dezember 2001 über die erwarteten Einnahmen aus der Erbschaft- und Grunderwerbsteuer verfügen können. Die Bemessungs- grundlage nach dem Ertragswertverfahren für die beiden Steuerarten wird verlängert. Mit diesem notwendigen Schritt werden aber die of- fensichtlichen Mängel des Ertragswertverfahrens nicht aufgehoben. Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Be- steuerung aller Vermögensarten wird weiterhin verletzt, sodass nur vorübergehend mit der Methode der Verlänge- rung der Anwendung des Ertragswertverfahrens gearbei- tet werden kann. Laut Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom 31. Mai 2001 – Wochenbericht Nr. 22/2001 – ergab eine Kaufpreisuntersuchung der Fi- nanzbehörden für das Jahr 1998, dass die steuerlichen Grundstückswerte bei bebauten Grundstücken durch- schnittlich nur 51 Prozent der tatsächlichen Verkehrs- werte und bei unbebauten Grundstücken 72 Prozent der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19223 (C) (D) (A) (B) Verkehrswerte erreichten. Die Auswertung der Stichprobe von 7 000 Fällen ergab, dass die Wertrelationen nach Re- gionen und nach dem Alter der Gebäude erheblich streuen. Diese Tatsache kann die Opposition nicht einfach negieren, wie die CDU/CSU-Fraktion es mit ihrem Ent- schließungsantrag tut. Eine gleichmäßige Besteuerung aller Vermögensarten im Erbschafts- und Schenkungsfall ist mit rund der Hälfte bei bebauten Grundstücken einfach nicht gegeben. Ihr Hinweis auf die Grundsteuer, Anlie- gergebühren oder mangelnde Fungibilität ist einfach ein Vorwand für das Leugnen von Änderungsbedarf. Bereits im Mai 2000 hat eine Sachverständigenkommission, ein- gesetzt vom Bundesministerium der Finanzen, Vor- schläge für ein verbessertes Bewertungsverfahren vorge- legt. Auch der Gesetzentwurf der fünf Bundesländer von Schleswig-Holstein bis Sachsen-Anhalt zeigt mit seinem Vorschlag zur Änderung des Bewertungsgesetzes die Not- wendigkeit, den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Be- steuerung wenigstens annäherungsweise herzustellen. Bei all diesen Vorschlägen wurde Rücksicht darauf ge- nommen, dass der Grundbesitz eine andere Vermögensart ist, als zum Beispiel das Geldvermögen. Außerdem wurde genau differenziert nach bebauten und unbebauten Grundstücken sowie nach Landwirtschaftsflächen. Ich richte deshalb die Aufforderung an die Oppositionspar- teien von CDU und FDP, sich für eine differenzierte und gerechte Ausgestaltung des Bewertungsgesetzes einzuset- zen und nicht den Status quo auf immer zu fordern. Die Bundesregierung schreibt in Ihrer Stellungnahme zur Ver- längerung des Bewertungsgesetzes, „dass eine dauerhafte Lösung eine Angleichung der unterschiedlichen Maß- stäbe und Verfahren für die Bewertung von Grundbesitz einerseits sowie von sonstigem Vermögen andererseits enthalten muss, um den verfassungsrechtlichen Anfor- derungen weiterhin zu entsprechen“; vgl. Drucksache 14/6718, Anlage 2. Ich setze mich dafür ein, dass in der nächsten Legislaturperiode eine Neuregelung angepackt wird, weil der Zustand der ungleichmäßigen Besteuerung auf Dauer nicht hingenommen werden kann. Steuersparen mithilfe der Wahl der Vermögensanlage vor dem Erbschaftsfall ist eine Kultur, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Die Freibeträge im Erbschaftsteuerrecht werden so bleiben, dass selbstgenutztes Wohnungseigen- tum grundsätzlich steuerfrei weitervererbt werden kann. Omas Häuschen bleibt selbstverständlich steuerfrei. Auch für Fälle der Betriebsübergabe sieht das Gesetz umfang- reiche Ermäßigungstatbestände vor. Grundsätzlich gilt es das Verfassungsgerichtsurteil ernst zu nehmen und den vorgegebenen Rahmen zur Anwendung zu bringen. Für uns ist im Gegensatz zu FDP und CDU Steuergerechtig- keit ein anzustrebendes Ziel und Steuersparen kein zu kul- tivierender Lebensstil. Wer finanziell leistungsfähig ist, der kann auch einen größeren Beitrag für die Gesellschaft leisten. Dies gilt insbesondere auch für die Vermögenden. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Die Bewertungsre- geln für Immobilien laufen Ende dieses Jahres aus. Wenn der Gesetzgeber nicht tätig wird, könnte im nächsten Jahr keine Erbschaftsteuer mehr erhoben werden. Die FDP hat die Initiative ergriffen und als erste Partei – unser Gesetz- entwurf datiert vom 13. Februar 2001 – vorgeschlagen, das geltende Bewertungsrecht zu verlängern. Damit wol- len wir Klarheit und Planungssicherheit für die Bürger schaffen. Ich begrüße es für die FDP ausdrücklich, dass der Bundesrat mit seinem Gesetzentwurf vom 1. Juni 2001 unserem Vorschlag wortgleich gefolgt ist. FDP und Bundesrat stimmen darin überein, dass eine Festschreibung der Wertverhältnisse beim Grundbesitz für fünf weitere Jahre gerechtfertigt ist. Der durchschnitt- liche Preisanstieg auf dem Grundstückmarkt führt weder zu inakzeptablen Wertverzerrungen innerhalb des Grund- besitzes noch im Vergleich zur anderen Vermögensarten. Dass die rot-grüne Koalition dieser Auffassung nun- mehr folgt, ist immerhin zu begrüßen. Dass Sie den zuerst eingebrachten Gesetzentwurf der FDP ablehnen, dem gleich lautenden und wohl von der FDP abgeschriebenen Gesetzentwurf des Bundesrates aber zustimmen wollen, ist ein Beispiel für den unfairen Stil der Regierungsmehr- heit im Umgang mit der parlamentarischen Minderheit. Außerhalb der Politik wäre dies eine Verletzung des Ur- heberrechts. Gleichwohl hält die Bundesregierung daran fest, nach Ablauf der Frist die Bewertungsgrundsätze für Immobi- lien zu ändern. Welche Folgen hätte das für die Bürger? Ich darf daran erinnern, dass es im Frühjahr Pläne gab und wohl auch noch gibt, die Erbschaftsteuer massiv zu erhöhen. Einige sozialdemokratische Ministerpräsidenten und auch SPD-Politiker im Bund waren noch im Frühjahr dafür, durch Änderungen des Bewertungsrechts zum 1. Januar 2002 den Bürgern abermals tief in die Tasche zu greifen. Das zeigt, dass weite Teile der SPD in keiner Weise daran interessiert sind, die viel zu hohe Steuerbelas- tung zu senken. Staatsgläubigkeit und Dirigismus herr- schen weiterhin vor. Der Glaube ist weit verbreitet, dass der Staat zugreifen und den Erfolg abschöpfen muss, wo Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit zum Erfolg führen. Kurz nach der Verabschiedung der halbherzigen Steu- erreform sollen bis zum Jahresende die gröbsten Fehler dieser Politik korrigiert werden. Trotzdem können Sie sich bis heute nicht dazu entschließen, den zentralen Feh- ler, nämlich die Benachteiligung von Mittelstand und Ar- beitnehmern gegenüber den Kapitalgesellschaften, zu be- seitigen. Nur durch eine konsequente und gerechte Steuersenkungspolitik kann die Grundlage für mehr In- vestitionen, mehr Arbeitsplätze und mehr Steuereinnah- men gelegt werden. Das bleibt die rot-grüne Bundesre- gierung bis heute schuldig. In dieses Bild passt die bereits beschlossene Erhöhung der Ökosteuer zum 1. Januar. Auch die anstehende Er- höhung der Tabaksteuer sowie der Versicherungsteuer be- legt, dass die SPD und auch die Grünen weder den Willen noch die Kraft haben, wirkliche Steuersenkungen durch- zusetzen. Für die FDP steht fest: Die Politik dieser Regie- rung ist schädlich für Deutschland. Daran ändert auch der Verzicht auf die Erhöhung der Erbschaftsteuer nichts. Der Grund hierfür liegt einzig darin, dass 2002 ein Wahljahr ist. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 200119224 (C) (D) (A) (B) Dr. Barbara Höll (PDS): Die PDS stimmt der vorlie- genden Bundesratsinitiative zur Verlängerung des Bewer- tungsverfahrens von Immobilien im Rahmen der Erb- schaftsteuer zu, da ohne den vorliegenden Gesetzentwurf die Erbschaftsteuer ab Januar 2002 nicht mehr erhoben werden könnte. Damit würden den Ländern fast 6 Milli- arden DM an Steuereinnahmen verloren gehen – und da- rüber hinaus ein wesentliches Instrument zur Finanzie- rung gesellschaftlicher Aufgaben sowie des sozialen Ausgleichs in dieser Gesellschaft. Das Festschreiben der Wertverhältnisse von Immobi- lien für weitere fünf Jahre darf aber nicht eine Absage an die notwendige Reform der Erbschaftsbesteuerung sein. Wir lehnen deshalb alle diesbezüglichen Versuche seitens der FDP und der CDU/CSU ab. So behauptet die CDU/CSU immer wieder, dass das Bundesverfassungs- gericht eine erbschaftssteuerliche Sonderbehandlung des Grundvermögens aufgrund seiner geringeren Fungibilität und stärkeren Sozialbindung geboten hat. Dies ist falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 1995 klar festgestellt, dass die Werte der wirtschaftlichen Einheiten in ihrer Relation realitätsgerecht abgebildet sein müssen. Weiterhin förderte das Bundesverfassungs- gericht, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung von Frei- beträgen – des zur individuellen Lebensgestaltung not- wendigen Vermögens also – Grundeigentümer und Inhaber anderer Vermögenswerte in einem gleichen Indi- vidualbedarf freistellen muss. Grundsätzlich hat das Bun- desverfassungsgericht also die Gleichbehandlung aller Vermögensarten verfügt. Das derzeitige Bewertungsverfahren von Grundbesitz kommt dem nicht einmal annähernd nach: Die nach dem derzeit geltenden Ertragswertverfahren ermittelten Grundstückswerte für bebaute Grundstücke erreichen ge- rade 51 Prozent, die Werte für unbebaute Grundstücke 72 Prozent der Verkehrswerte. Es muss also sowohl eine Ungleichbehandlung innerhalb des Grundvermögens als auch eine massive steuerliche Privilegierung des Grund- vermögens gegenüber allen anderen Vermögensarten fest- gestellt werden. Dies hält die CDU/CSU scheinbar für verfassungs- gemäß. Aber ihr geht es ja ohnehin nicht um die beson- dere soziale Funktion des Grundeigentums – das hat die Politik in ihrer Regierungszeit und haben alle seither statt- gefundenen Diskussionen bewiesen. Ihr geht es vielmehr darum, eine Reform der Erbschaftsteuer und eine mögli- che höhere Erbschaftsbesteuerung reicher Erben zu ver- hindern. Dies muss vor dem Hintergrund der heutigen Diskus- sion zum Armuts- und Reichtumsbericht gesehen werden. Gerade in diesem Bericht wurde ja festgestellt, dass die Polarisierung weiter zunimmt und Erbschaften eine we- sentliche Ursache dessen sind. Sie wollen also auf die Be- steuerung der hohen Erbschaften verzichten und eine Ver- erbung von sozialer Ungleichheit und die damit ver- bundene Polarisierung weiter zulassen. Tatsache ist doch: 100 bis 200 Milliarden DM an Geld- vermögen werden jährlich vererbt. Bei der Verteilung der Erbschaften herrscht eine erhebliche Schieflage. In ge- rade 4 Prozent aller Erbfälle ist der Nachlass höher als 1 Million DM, in der Hälfte der Fälle liegt er unter 100 000 DM. Die Chance einer Reform läge also gerade darin, diejenigen höher zu belasten, die große Vermögen erben, ohne gleichzeitig die kleinen Vermögen oder „Omas kleines Häuschen“ wegzubesteuern. Mit einer sol- chen Reform ließen sich 15 bis 20 Milliarden DM an Mehreinnahmen erzielen. Hinzu kommt, dass Erbschaften zunehmend die sozia- len Gegensätze innerhalb der Gesellschaft verschärfen. Schon immer lautete die Regel, dass vor allem Menschen aus höheren sozialen Schichten zahlreiche und hohe Erb- schaften erhalten, während die benachteiligt sind, die oh- nehin um ihre soziale Position kämpfen müssen. Dies ver- stärkt sich durch die wachsende Kinderlosigkeit. Immer mehr Menschen erben nicht mehr nur von den Eltern, son- dern zunehmend auch von anderen Verwandten. Eine im- mer geringere Zahl an Erben erhalten immer höhere Sum- men. Hier kann die Erbschaftsteuer ein zu unterschätzendes Korrektiv sein. Nicht zuletzt die SPD beschloss ja im Jahr 1999, die „Gerechtigkeitslücke“ durch ein Mehr an Erbschaftsteuer zu schließen. Also: Problem erkannt, wo bleibt die Lösung? Die zweifellos notwendige Reform der Erbschaftsteuer muss die Besteuerung aber auch strukturell verändern. Noch immer können überlebende Ehegatten einen zehn- mal höheren Freibetrag als überlebende Partner bei un- verheirateten Paaren in Anspruch nehmen und zahlen ent- sprechend weniger Steuern – und dies, obwohl sich die Lebensweise der Menschen bereits seit Jahren rapide ver- ändert. Hier muss endlich gehandelt werden, um die ekla- tante Benachteiligung von zum Beispiel unverheirateten Paaren aufzuheben. Die PDS fordert bereits seit Jahren eine Reform der Erbschaftsbesteuerung. Wir fordern einheitliche Freibe- träge, eine realitätsnahe Bewertung des Grundvermögens und einen einheitlichen progressiven Steuertarif. Eine solche Erbschaftsteuer wäre modern und entspräche ver- teilungspolitischen Erfordernissen. Ich fordere die Bun- desregierung auf, bei der Reform der Erbschaftsteuer nicht erst bis zum nächsten Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts zu warten. Legen Sie so schnell wie mög- lich ein Konzept auf den Tisch, das eine sozialgerechte so- wie verfassungsfeste Besteuerung sichert. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif- ten (Rehabilitierungsgesetzeänderungsgesetz – RehaÄndG) (Tagesordnungspunkt 24) Hans-Joachim Hacker (SPD): Nach dem Sturz der SED-Diktatur durch die friedliche Revolution des Herbs- tes 1989 in der DDR waren die Voraussetzungen dafür ge- schaffen, Opfer politischer Verfolgung zu rehabilitieren. Die demokratisch gewählte Volkskammer hat sich dieser wichtigen Aufgabe gestellt. Ich kann mich noch gut an die Anhörung im Sommer 1990 erinnern, als erstmals Opfer Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19225 (C) (D) (A) (B) des SED-Unrechts die Möglichkeit hatten, in der Volks- kammer der DDR über ihre Schicksale zu sprechen, und Parlamentarier fanden, die ihnen zuhörten. Es darf nicht vergessen werden, dass der Deutsche Bundestag in der Ehrenerklärung vom 17. Juni 1992 all jenen tiefen Respekt und Dank bezeugt hat, die durch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben, nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheit wieder zu einen. Der Bundestag hatte damals festgestellt: Die Reha- bilitierung und Entschädigung der Menschen, die in der DDR und zuvor in der SBZ Opfer politischer Verfolgung geworden sind, ist eine Aufgabe von besonderem politi- schen Gewicht, ein wesentlicher Aspekt der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und unverzichtbar für die innere Einheit. Die damalige Bundesregierung hätte bei der Erarbei- tung der Rehabilitierungsgesetze schneller arbeiten müs- sen. Vor allem hätte sie vermeiden müssen, dass in den 1992 und 1994 verabschiedeten SED-Unrechtsbereini- gungsgesetzen schwere Schieflagen Eingang gefunden haben. Die Verantwortung für das Fachressort Justiz lag damals bei der FDP. Insofern wird man die FDP-Fraktion auch mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf für ein Rehabilitierungsgesetzeänderungsgesetz nicht als Vor- reiter bei der Wiedergutmachung von SED-Unrecht be- zeichnen können. Die gravierenden Defizite der beiden genannten Ge- setze waren die Ursache dafür, dass die Opfer und ihre Verbände Protest erhoben haben und auch die damalige Opposition Nachbesserungsvorschläge unterbreitet hat. Für die SPD-Bundestagsfraktion war dies ein wichtiges politisches, aber nicht zuletzt auch moralisches Anliegen. Es bleibt bis heute unerklärlich, warum die damalige Bun- desregierung diese Vorschläge nicht aufgegriffen hat. Diese Tatsachen müssen immer wieder dargestellt wer- den, weil in jüngster Vergangenheit die CDU/CSU-Frak- tion mit Vorschlägen an die Öffentlichkeit getreten ist, die in das damals begründete Entschädigungskonzept nicht passen und weit über die soliden Vorschläge der SPD- Bundestagsfraktion aus den 90er-Jahren hinausgehen. Diese Vorschläge hatte damals die Union mit dem Hin- weis auf fehlende Finanzen abgelehnt. Die SPD hat 1998 vor der Bundestagswahl zu Forde- rungen aus den Opferverbänden Stellung genommen und im Falle einer Regierungsbeteiligung grundsätzliche Nachbesserungen zugesagt. Der damalige Kanzlerkandi- dat Gerhard Schröder hat die Kritik der Verbände auf- genommen und in fünf Punkten Verbesserungen zugesi- chert. Diese Zusagen waren keine Wahlkampfverspre- chen, sondern die SPD hat nach der Bundestagswahl 1998 in Regierungsverantwortung mit dem Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der DDR die Zusagen eingelöst. Die Kapitalentschädigung wurde auf einheitlich 600 DM je angefangenen Haftmonat erhöht. Die Hin- terbliebenen der Todesopfer erhalten von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge Leistungen ohne Prüfung der wirtschaftlichen Situation. Die Antragsfristen in den drei Rehabilitierungsgesetzen wurden um zwei Jahre ver- längert. Der Stiftungsfonds der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge wurde aufgestockt, um die Möglich- keiten zu verbessern, den aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße Zivildeportierten bzw. -internierten Un- terstützungsleistungen zu gewähren. Die Länder wurden aufgefordert, eine nochmalige Überprüfung bei der Aner- kennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden vor- zunehmen. Der finanzielle Kostenrahmen dieses Gesamtpaketes umfasste rund 400 Millionen DM. Er war anteilig vom Bund und den ausführenden Ländern zu tragen. Bei den Haushaltsberatungen für das Jahr 2001 hat die SPD-Bun- destagsfraktion durchgesetzt, dass die Stiftung für ehe- malige politische Häftlinge einen weiteren zusätzlichen Betrag in Höhe von 5 Millionen DM erhält, um die Un- terstützung für die Zivildeportierten bzw. -internierten von jenseits der Oder und Neiße noch weiter zu verbes- sern. Zahlreiche Anfragen und Zuschriften aus den letzten Monaten sind für mich ein Beweis, dass diese massiven und notwendigen Verbesserungen der Rechtsstellung der Opfer der SED-Diktatur und der stalinistischen Verfol- gung bei den Opfern die Entscheidung beflügelt hat, nun- mehr Rehabilitierungsanträge zu stellen. Sicherlich kann man sich fragen, warum die Betroffenen nicht bereits früher Anträge gestellt haben. Das ist jedoch für mich nicht die Kernfrage. Die Kernfrage ist: Wie können wir den Opfern helfen, damit sie zu ihrem Recht kommen? Und: Wie können wir gewährleisten, dass sie in den Ge- nuss gesetzlicher Leistungen kommen? Wenn es richtig ist – davon gehen die Landesbehörden aus –, dass eine nicht unbedeutende Zahl von Verfol- gungsopfern mit Sicherheit auch im nächsten Jahr noch Anträge auf Rehabilitierung stellen werden, dann droht Verfolgungsopfern Rechtsverlust; denn die gesetzliche Antragsfrist nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungs- gesetz wäre abgelaufen, wenn wir jetzt nicht handeln. Nach bereits erfolgter Verlängerung können gemäß § 7 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes Anträge auf Aufhebung rechtsstaatswidriger Entscheidungen erfolg- reich nur noch bis zum 31. Dezember 2001 gestellt wer- den. Von der termingerechten Antragstellung ist der Aus- spruch der Rehabilitierung, jedoch auch die Gewährung der sozialen Ausgleichsleistungen – Kapitalentschädi- gung, Unterstützungsleistungen – abhängig. Die SPD-Bundestagsfraktion würde es als eine unver- tretbare Härte für die Opfer von SED-Diktatur ansehen, wenn in Kenntnis der Tatsache, dass weiterhin Anträge eingehen, die gesetzliche Antragsfrist auslaufen würde. Wir greifen daher die Initiative der FDP-Fraktion auf und unterstützen eine nochmalige Verlängerung der Antrags- frist gemäß § 7 des Strafrechtlichen Rehabilitierungs- gesetzes um zwei Jahre, das heißt bis zum 31. Dezember 2003. Einen solchen Regelungsbedarf sehe ich dagegen bei der Fristverlängerung für das Verwaltungsrechtliche Re- habilitierungsgesetz sowie das Berufliche Rehabilitie- rungsgesetz nicht. Ich plädiere dafür, dass wir die Bera- tungen im Rechtsausschuss zügig beginnen, damit die Fristverlängerung für das Strafrechtliche Rehabilitie- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 200119226 (C) (D) (A) (B) rungsgesetz gesichert wird. Über die weiteren Fragen aus dem FDP-Antrag werden wir dann ebenfalls sprechen können. Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag hat mit zahlreichen Initiativen und Gesetzen versucht, das von der SED-Diktatur zu verant- wortende schreiende Unrecht aufzuarbeiten und, wo es noch möglich war, die Folgen zumindest etwas zu mil- dern. Kernstücke waren die beiden SED-Unrechtsbereini- gungsgesetze vom 29. Oktober 1992 und 23. Juni 1994. Diese Gesetze sind in den Folgejahren weiter verbessert worden. Gerade wir Abgeordnete, die wir uns seit Jahren immer wieder für die Opfer der zweiten Diktatur auf deutschem Boden einsetzen und engagieren, haben es als bitteren Schlag empfunden, dass ausgerechnet die ehemals sys- temnahen Personen – einschließlich der Stasimitarbeiter – rentenrechtlich durch ein Urteil besser gestellt werden mussten. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts war vom Deutschen Bundestag umzusetzen. Der Gesetzgeber war aber frei in seinen Handlungsmöglich- keiten, auch den Rentenbezug der Opfer des SED-Regi- mes zu verbessern. Die Fraktionen vorn SPD und Grünen in diesem Haus haben es zu verantworten, dass die Schere zwischen Tä- tern und Opfern jetzt weiter denn je auseinander klafft. Unser Antrag, für die Haft- und Zersetzungsopfer eine monatliche Ehrenpension von 1 000 DM zu zahlen, wurde alternativlos abgelehnt. Damit wird das Gefühl der SED- Opfer und ihrer Verbände verstärkt, erneut zu den Verlie- rern der deutschen Geschichte zu gehören. Wir sollten auch aus diesen Erfahrungen heraus einen Vorschlag aufgreifen, der uns von den Landesbeauftrag- ten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR bereits im Februar erreichte. Die fünf Landesbeauftragten von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Berlin, Thüringen und Sachsen regten an, die am 31. Dezember dieses Jahres auslaufende Frist zur Antragstellung für die beiden SED-Unrechtsbereini- gungsgesetze unbefristet zu verlängern. Als Begründung wurde genannt, dass noch breite Kreise von Berechtig- ten von den rechtlichen Möglichkeiten der Rehabilitie- rung nichts erfahren hätten. Als Beleg wurden Aktionen der Landesbeauftragten in Thüringen und Sachsen-An- halt genannt, nach denen zahlreiche Personen erstmals Anträge nach Vor-Ort-Beratungen gestellt haben. Die Landesbeauftragten waren selbst überrascht über das plötzliche zahlenmäßige Ansteigen der Antragstellun- gen nach den Aktionen. Auch elf Jahre nach der Wieder- vereinigung besteht immer noch ein Beratungsbedarf. Damit SED-Opfer am 2. Januar 2002 ihren Erfahrun- gen mit dem demokratischen Deutschland nicht eine wei- tere Enttäuschung hinzufügen müssen, sollte der Deut- sche Bundestag die Frist für die Antragstellung beider Gesetze verlängern. Die Landesbeauftragten hatten sogar angeregt, die Fristen aus den Rehabilitierungsgesetzen ganz zu streichen. Die FDP-Fraktion schlägt eine Verlän- gerung um zwei Jahre vor. Von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien hört man überhaupt nichts zu diesem Thema. Obwohl alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zweimal im Februar und Oktober von den Landesbeauftragten und auch von den Opferverbänden VOS, BSVL und Bürgerbüro im Juni angeschrieben wor- den sind, gab es von der Koalition bisher keinerlei Reak- tion. Sie, meine Damen und Herren, sollten die Gelegenheit jetzt nutzen, sich in den Ausschüssen des Deutschen Bun- destages unseren Antrag zu eigen zu machen. Wir werden in den Ausschüssen den Antrag stellen, die Antragsfrist für Leistungen nach dem strafrechtlichen, verwaltungs- rechtlichen und beruflichen Rehabilitierungsgesetz bis zum 31. Dezember 2006 zu verlängern. Wir verbinden diesen Verlängerungsantrag mit dem Wunsch und der Aufforderung, dass diese fünf Jahre von allen öffentlichen und nicht öffentlichen Stellen, die sich mit der SED-Op- fer-Thematik befassen, genutzt werden müssen, um die Betroffenen über die Rehabilitierungsmöglichkeiten zu beraten. Neben den Opferverbänden sollten vor allem die Landesbeauftragten für die Stasiakten ihre Aktionen auch über die anderen Länder ausdehnen. Damit hätten wir ei- nen Beitrag für mehr Rechtsfrieden und mehr Gerechtig- keit in Deutschland geleistet. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ich könnte dem Kollegen Professor Schmidt- Jortzig fast meine Anerkennung aussprechen. Er hat aus seiner Zeit als Justizminister offensichtlich seine Wieder- vorlagemappe für ablaufende Gesetze bei sich behalten. In der Tat stehen die Änderungen der Fristen in den drei genannten Rehabilitierungsgesetzen auf der Tagesord- nung. Es gibt dazu auch die Grundsatzabsprache inner- halb der Koalition über eine Verlängerung, zumindest der Fristen des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Lassen Sie mich zu diesem leidigen Thema der Fristen ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen. Ich habe insgesamt immer große Probleme mit den Befristungen von Rehabilitierungsleistungen und Rentenansprüchen. Ich kenne zu gut das elende Gewürge bei der Verlänge- rung der Fristen beim Bundesentschädigungsgesetz. Auch hier folgten immer wieder neue Verlängerungen. Es ist ein grundlegender Irrtum zu glauben, Geschichte durch Be- fristungen abhandeln zu können. Je ungeduldiger und drängender man das versucht, umso heftiger wird einen die Geschichte einholen. Die Geschichte hat auch gerade in ihren tragischen Teilen ein Gesicht: Das sind die Opfer von Verfolgung. Wir müssen uns immer wieder klar machen, dass Op- fer von Verfolgung nicht im Takt bundesdeutscher Büro- kratie denken und handeln. Wir haben es oft mit Men- schen zu tun, die für ihr Leben gezeichnet sind durch das, was ihnen widerfahren ist. Sie haben alle traumatische Er- fahrungen mit dem Staat gemacht. Wenn ich mir das Elend bei der Anerkennung von Gesundheitsschäden durch so genannte Sachverständige ansehe, kann ich das Misstrauen der Betroffenen sogar verstehen. Diese Probleme bei der Befristung waren schon von Anfang an klar. Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie einmal in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19227 (C) (D) (A) (B) den alten Protokollen nach, was Wolfgang Ullmann schon bei der Verabschiedung des ersten Unrechtsbereinigungs- gesetzes im Oktober 1992 dazu gesagt hat. Immer wieder hat er den damaligen Gesetzgeber vor zu engen Befris- tungen gewarnt. Die Karriere der Rehabilitierungsgesetze hat ihm voll Recht gegeben. Es waren aber die Justizminister der FDP, namentlich Herr Kinkel, Frau Leutheusser-Schnarrenberger und zu- letzt Herr Schmidt-Jortzig, die seit nunmehr neun Jahren die Praxis der kurzen Fristen begründet haben. Alle Jahre wieder sitzen wir seitdem zusammen und verlängern vor uns hin. Dabei wissen wir alle genau, dass sich die Opfer von Verfolgung und staatlicher Gewalt nicht allein an- hand abstrakter Normen an den Staat wenden, sondern wenn es ihre persönliche Aufarbeitung der Leidensge- schichte zulässt. Wer erst nach Jahren die Kraft hat, einen Antrag auf Einblick in die Unterlagen der Bundesbeauf- tragten für die Stasiunterlagen zu nehmen und auf diese Erkenntnisse sein Rehabilitierungsverfahren – etwa für berufliche Benachteiligungen – aufzubauen, sollte dafür nicht bestraft werden. Das Gleiche gilt auch für einen Be- rufstätigen, der erst beim Eintritt in die Rente so weit ist, einen Ausgleich für die Verfolgung zu beantragen. Daraus sollte man den Menschen keinen Vorwurf machen und schon gar keinen Nachteil entstehen lassen. Dieses ewige Hin und Her bei den Antragsfristen ist aus drei Gründen ein rechtspolitisches Ärgernis. Zum ei- nen wissen die Opfer, um die es uns geht, nicht, woran sie sind. Diese Praxis trägt nicht zur Beruhigung und zur Si- cherheit, sondern zu Misstrauen und Verwirrung bei. Zweitens. Der Staat selbst macht sich nicht glaubwürdi- ger, wenn er mal so, mal so agiert. Jeder Frist ist willkür- lich – die Verlängerung ist es letztlich auch. Warum drei Jahre, warum nicht fünf oder zehn Jahre? Drittens. In Er- wartung der ablaufenden Fristen haben die Länder mitt- lerweile ihre Rehabilitierungsbehörden abgebaut. Das heißt natürlich auch, dass immer weniger kompetente Stellen für die Betroffenen zuständig sind. Das ist auch der Grund, warum wir im Ergebnis nicht zu der von mir gewünschten völligen Aufhebung der Fristen gelangen, sondern wieder nur zu einer befristeten Verlängerung. Ich denke, wir werden im Ausschuss keine Mühe ha- ben, uns zügig zu verständigen und eine einvernehmliche Lösung im Interesse der Betroffenen zu finden. Cornelia Pieper (FDP): Der heute von uns in erster Lesung zu beratende Gesetzesentwurf zur Verlängerung der Antragsfristen in den Rehabilitierungsgesetzen sollte eigentlich in diesem Hause allenthalben Zustimmung fin- den können. Denn mit ihm wird einem Problem Rechnung getragen, das ganz grundsätzlich mit dem Rechtsfrieden in unserem Land zusammenhängt: der rechtlichen Aufar- beitung von 40 Jahren DDR-Unrecht zugunsten der Op- fer. Viele Bürger in der ehemaligen DDR haben in unter- schiedlicher Weise unter dem Zwangsregime gelitten: Die einen wurden als missliebige Dissidenten verhaftet, eini- gen wurden grundlos ihr Vermögen und ihre Existenz ent- zogen, andere wiederum wurden in ihren beruflichen Zu- kunftschancen nachhaltig behindert. Diese Bürger, die teilweise bis heute an den unbestritten rechtsstaatswidri- gen Maßnahmen leiden, sollten mit den SED-Unrechts- bereinigungsgesetzen, soweit es im Nachhinein möglich ist, rehabilitiert werden. Daher sehen die betreffenden Ge- setze vor, auf Antrag der Betroffenen die rechtsstaatswid- rigen Maßnahmen aufzuheben und je nach Fallkonstella- tion eine entsprechende Entschädigung zu gewähren. Allerdings existiert in allen drei Fällen für die Opfer eine Ausschlussfrist für die Antragstellung. Wer als Be- troffener nicht spätestens bis zum 31. Dezember dieses Jahres, also in rund zehn Wochen, einen Antrag auf Reha- bilitierung bei dem zuständigen Amt gestellt hat, hat kei- nerlei Möglichkeit mehr, berechtigte Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht zu erhalten. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ebenfalls nicht möglich. Man stelle sich dies vor: Wer beispielsweise zwei Jahre lang in Bautzen eingekerkert worden war, weil er sich weigerte, seinen Freund für die Stasi auszuspionieren, und nun nach der Wiedervereinigung hoffte, endlich für dieses Leiden entschädigt zu werden, dem müsste am 2. Januar 2002 vom Staat beschieden werden, dass sein Anspruch zwar berechtigt wäre, aber leider nicht fristgerecht eingereicht wurde. Malen Sie sich bitte aus, verehrte Kolleginnen und Kollegen, welche Verbitterung dies über die subjektiv so empfundene erneute Rechtsversagung verursachen würde. Ich jedenfalls wollte diese Entscheidung nicht fäl- len müssen. Es wird eingewandt werden, die Betroffenen hätten seit 1994 genug Zeit gehabt, sich um ihr Recht zu kümmern, irgendwann müsse Schluss sein. Dem möchte ich nach- drücklich zwei Gesichtspunkte entgegenhalten. Erstens. Zwar ist es völlig richtig, dass zur Herstellung von Rechtsfrieden auch gehört, Anspruchsausschlussfris- ten gesetzlich festzulegen, um einen überschaubaren Zeit- rahmen für die Rechtsgemeinschaft herzustellen, insbe- sondere den Finanzierungsbedarf verlässlich abschätzen zu können. Dieser Gesichtspunkt sollte aber nicht zur Folge haben, dass eine große Anzahl von berechtigten An- sprüchen von Opfern überhaupt nicht mehr durchdringen kann. Vor dem Gedanken des Anspruchs der Rechtsge- meinschaft auf Rechtssicherheit und -klarheit muss im- mer noch die Herstellung von materiellem Rechtsfrieden stehen. Und den, ich wiederhole es, erlangt man eben nicht durch die endgültige Versagung zu vieler Ansprüche durch Verfristung. Dieses gilt insbesondere dann, wenn der Anspruchsgegner nicht eine Privatperson ist, sondern eben die öffentliche Hand, zudem noch als Rechtsnach- folger eines Unrechtsstaates. Die Praxis zeigt außerdem, dass immer noch nicht alle Betroffenen ausreichend Kenntnis von den Möglichkeiten zur Rehabilitation erlangt haben. Das fängt an bei der an- scheinend verbreiteten Unkenntnis über die Gesetzeslage, geht über Schwierigkeiten, die richtige Behörde zu fin- den, bis hin zu praktischen Problemen bei der Antragstel- lung. Das jedenfalls tragen immer wieder Opferverbände vor und auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: So sind die Antragszahlen höchst unterschiedlich verteilt, obwohl doch eine zumindest ungefähr gleichförmige Ver- teilung zu erwarten gewesen wäre. Dass nach wie vor großer Bedarf besteht, lässt sich auch daran festmachen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 200119228 (C) (D) (A) (B) dass regelmäßig nach Beratungstagen in den neuen Bun- desländern oder ausführlicheren Zeitungsartikeln die An- tragszahlen sprunghaft und signifikant ansteigen. Es braucht also schlicht noch mehr Zeit, um all diesen Men- schen, die Opfer eines Unrechtsstaates waren, Gerechtig- keit widerfahren zu lassen. Zweitens. Auch die Konferenz der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen haben in dem Schreiben an die Vorsitzende des Innenausschusses deutlich gemacht, dass sie eine Verlängerung der Frist um eine Spanne von noch zwei Jahren für erforderlich halten. Es gibt eben noch zu viele nicht rehabilitierte Bürger in unserem Land! So sieht das im übrigen auch das in diesen Fragen besonders ak- tive und über jeden Zweifel erhabene Bürgerbüro von Bärbel Bohley. Wer wollte also ernsthaft behaupten, dass es diesen Be- darf in den neuen Ländern nicht gibt? Wer wollte ernsthaft den Bürgern ihr Recht versagen, nämlich das Recht auf vollständige Rehabilitierung und Anerkennung ihres Le- benswegs? Meine Fraktion und ich meinen, dass eine Verlänge- rung der Antragsfristen um zwei Jahre eine ebenso sinn- volle, berechtigte, ja notwendige, aber auch maßvolle Maßnahme ist, um dem Rechtsfrieden in unserem nun vereinigten Land zu dienen. Ich werbe, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, um ihre Unterstützung in den nun folgenden, zügig durch- zuführenden Beratungen und hoffe, dass Sie genauso wie wir Liberalen willens und entschlossen sind, den Opfern von damals auch heute zu helfen, denn gerade in der Güte gegenüber Opfern zeigt sich die Größe einer Bürgerge- sellschaft. Petra Pau (PDS): Der Vorschlag, der uns heute hier vorliegt, ist offensichtlich notwendig geworden. Auch in meine Sprechstunde kommen immer mehr Menschen, welche in der DDR Repressionen erlitten haben, denen aber bis heute nicht klar ist, welche Ansprüche auf mora- lische wie auch materielle Wiedergutmachung bzw. auch Anerkennung ihrer Leiden ihnen zustehen. Deshalb wer- den wir den Vorschlag der FDP in den Ausschussberatun- gen nicht nur wohlwollend prüfen, sondern wir denken auch über diesen uns nun vorliegenden Antrag hinaus da- rüber nach, auf welche Art und Weise betroffenen Frauen und Männern ihre Ansprüche bekannt gemacht werden können und wie man die offensichtlich vorhandene emo- tionale Hürde vor entsprechender Antragstellung noch weiter absenken kann. Dies ist auch eine Frage, welche ich der Bundesregierung und den Regierungen der Länder in diesem Zusammenhang vorlegen möchte. Nun werden viele von Ihnen einwenden, dass sich die Volkskammer und auch der Bundestag bei der ersten Ver- längerung etwas dabei gedacht haben, und es im Wesen solcher Gesetze liegt, dass auch für alle durchschaubare Fristen zur Antragstellung gesetzt werden Wir haben es aber hier offensichtlich mit einem komplizierteren Sach- verhalt zu tun. Wir versuchen einerseits, Geschichte auf- zuarbeiten und so etwas wie Schuld abzutragen, und gleichzeitig, Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu las- sen – und das nach einem historisch ausgesprochen kur- zen Zeitraum, der für die Betroffenen aber wahrscheinlich unendlich lang ist. Auch deshalb sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir in dieser Bundesrepublik nicht nur zusammen leben, sondern uns mit unserer sehr unterschiedlichen Geschichte und dem, was Menschen im Namen einer Idee angetan wurde, umgehen. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mitge- teilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Ge- schäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nach- stehenden Vorlage absieht: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2001 Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 02 Titel 540 01 – Münzausgaben – – Drucksachen 14/6925, 14/6995 Nr. 4 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- gen bzw. Unterrichtungen durch das europäische Parla- ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Haushaltsausschuss Drucksache 14/6214 Nr. 2.1 Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 14/6395 Nr. 2.2 Drucksache 14/6395 Nr. 2.3 Drucksache 14/6395 Nr. 2.4 Drucksache 14/6395 Nr. 2.5 Drucksache 14/6395 Nr. 2.6 Drucksache 14/6395 Nr. 2.7 Drucksache 14/6395 Nr. 2.8 Drucksache 14/6395 Nr. 2.9 Drucksache 14/6395 Nr. 2.10 Drucksache 14/6395 Nr. 2.11 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19229 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419600000
Guten
Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist
eröffnet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss)

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-

rung
Lebenslagen in Deutschland
Erster Armuts- und Reichtumsbericht

– zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Maier,
Dr. Klaus Grehn, Monika Balt, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Konsequenzen aus dem Armuts- und
Reichtumsbericht ziehen

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung
von Armut und sozialer Ausgrenzung 2001
bis 2003

– Drucksachen 14/5990, 14/6171, 14/6134,
14/6628 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Pia Maier

Zum Armuts- und Reichtumsbericht liegt ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Konrad Gilges von der SPD-Fraktion das Wort.


Konrad Gilges (SPD):
Rede ID: ID1419600100
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! In den 80er- und 90er-Jahren haben die Kir-
chen, die Gewerkschaften, die Wohlfahrtsverbände, die

nationale Armutskonferenz, Wissenschaftler und viele an-
dere einen Armuts- und Reichtumsbericht für die Bun-
desrepublik Deutschland gefordert. Auch die SPD-Frak-
tion hat auf mehreren Tagungen und durch Anträge bzw.
Anfragen deutlich gemacht, dass sie solch einen Armuts-
und Reichtumsbericht wünscht und fordert.

Wir haben dieses Anliegen umgesetzt: Der Armuts-
und Reichtumsbericht liegt heute vor. Ich kann mich erin-
nern, dass die CDU/CSU-geführte Bundesregierung unter
Bundeskanzler Kohl den Armuts- und Reichtumsbericht
in peinlicher Form verhindert hat. Ihr war kein Argument
zu billig, um öffentlich deutlich zu machen, man wolle so
etwas nicht. Ich möchte auch in dieser Debatte meinen
Dank an die jetzige Bundesregierung aussprechen, dass
sie den Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gilt, kurz daran zu erinnern, dass der damalige
Minister Blüm anlässlich des Weltsozialgipfels in Ko-
penhagen mit seiner Unterschrift die Absicht zum Aus-
druck gebracht hat, einen solchen Armuts- und Reich-
tumsbericht vorzulegen.

Bevor ich auf das eigentliche Thema zurückkomme,
möchte ich zu dem von der CDU/CSU vorgelegten Ent-
schließungsantrag etwas sagen. Sie schreiben unter I. 1.,
dass Sozialhilfe dafür sorgen soll, dass jeder ein „men-
schenwürdiges Dasein“ fristen soll.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Und fristen kann!)


Ich habe darüber nachgedacht, Herr Weiß. Sprache ist
manchmal verräterisch, wie Sie wissen. Es geht nicht da-
rum, dass ein Sozialhilfeempfänger nur ein Dasein fristen
soll. Vielmehr gebietet das Grundgesetz in Art. 1:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Es geht um lebenswertes Leben und nicht um Dasein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In § 1 Abs. 2 BSHG heißt es:

19149


(C)



(D)



(A)



(B)


196. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Aufgabe der Sozialhilfe ist, dem Empfänger der
Hilfe ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des
Menschen entspricht.

Wir lehnen Ihren Entschließungsantrag ab, weil er
schon im ersten Absatz eine Diskriminierung der betrof-
fenen Menschen beinhaltet. Vielleicht ist das mit Ihrem
christlichen Weltbild vereinbar; wir Sozialdemokraten
können das nicht ertragen. Für uns geht es immer wieder
darum, denjenigen Menschen, die in Armut und sozialen
Zwängen leben, in dieser Gesellschaft ein menschenwür-
diges Leben zu garantieren.

In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom 20. Ok-
tober 1998 wurde festgehalten: „Die neue Bundesregie-
rung wird regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbe-
richt erstellen“. Mit Beschluss des Bundestages vom
27. Januar 2000 haben wir noch einmal dargestellt, dass
wir diesen Armutsbericht noch in dieser Legislaturperi-
ode wollen und wie wir ihn uns vorstellen. Die Bundesre-
gierung hat das, so wie wir es uns vorgestellt haben, um-
gesetzt.

Ich will jetzt etwas zur Qualität des Berichtes sagen,
weil einige diese bemängelt haben. Ich gehöre übrigens
ebenfalls dazu. Es ist aber ein guter Bericht, weil es der
erste Bericht ist.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist aber nicht logisch!)


Wäre es der zweite Bericht, würden wir ihn nicht so gut
finden.


(Heiterkeit des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Dann wären vor allem Ihre Daten enthalten!)


Beim zweiten Bericht hätten wir nämlich andere Qua-
litätsmaßstäbe angelegt.

Ich will Ihnen sagen, warum es trotzdem ein guter Be-
richt ist: Er ist erstens gut, weil ihn die Bundesregierung
in einem relativ eng begrenzten Zeitraum erstellt hat. In-
nerhalb von etwas mehr als nur einem Jahr hat sie diesen
erarbeitet und vorgelegt.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zu diesem Bericht!)


Um ihn zu erarbeiten, bedurfte es vieler Gespräche mit
Wissenschaftlern, Vereinigungen, Wohlfahrtverbänden
usw.

Zweitens. Der Bericht hat ohne Zweifel große Mängel
in der Qualität der Daten; das muss man feststellen. Die
Datenbasis dieses Berichts ist nicht zufrieden stellend.
Wäre es der zweite Bericht, würde es uns nicht ausrei-
chen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sie erzählen nur Stuss! Sagen Sie mal einen Satz zum Inhalt des Berichts! – Dirk Niebel [FDP]: Wir wissen jetzt, dass es der erste war!)


– Sie sagen das gerade noch einmal; ich werde gleich da-
rauf eingehen. – Der Bericht hat deshalb eine solch
schlechte Datenbasis, weil die Bundesregierung auf die

Daten der Kohl-Regierung, die planmäßig keine Daten
zur Armut und zum Reichtum erhoben hat,


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Natürlich!)


angewiesen war. Das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie mal was zum Thema! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben planmäßig verhindert, dass wir etwas über die
Armut, oder, viel besser, über den Reichtum in dieser Re-
publik erfahren konnten. Wenn wir gefragt haben, wie
reich diese Republik und die Reichen in dieser Republik
seien, haben Sie immer geantwortet, dass eine solche
Frage nicht zulässig sei und dass nach einer Neiddiskus-
sion aussehe.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut, dass wir Ihre Daten haben! – Dirk Niebel [FDP]: Der Bericht ist noch schlechter als gar keiner!)


Spielen Sie sich also nicht so auf! Sie sind die Verursacher
dafür, dass die Datenbasis so schlecht ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie mal was zum Thema! – Dirk Niebel [FDP]: Sie haben schon wieder Dollarzeichen in den Augen, Herr Gilges!)


Weiterhin ist zu sagen, dass bestimmte Schwerpunkte
und Gruppen – da teile ich die Kritik vieler – zu wenig an-
gesprochen worden sind. Es geht zum Beispiel um die
Gruppe der Nichtsesshaften und auch um die Kinder.
Dazu müsste man eigentlich viel mehr erfahren, es müsste
also wesentlich mehr dazu im Bericht stehen.

Wir begrüßen insbesondere, dass dieser Bericht eine
breite öffentliche Wahrnehmung erfahren hat und dass
viele Zeitungen – auch kritisch – über ihn berichtet haben.
Wir haben uns über die kritischen Berichterstattungen ge-
freut, weil sie zeigen, dass der Bericht angenommen wor-
den ist und Verbesserungsmöglichkeiten bestehen.

Es gilt, den Wissenschaftlern und Verbänden, die sich
in den letzten Monaten mit dem Bericht auseinander ge-
setzt haben, Dank zu sagen. Insbesondere ist zu erwähnen,
dass zum Beispiel auch der Caritasverband eine kritische
Stellungnahme abgegeben hat, die ich sehr gut finde, weil
er auf kritische Punkte hingewiesen hat. Das gilt auch für
die Kritik von Frau Biehn, der stellvertretenden Vorsit-
zenden der Armutskonferenz. Sie hat gesagt, dass in
dem Bericht die verdeckte Armut nicht mehr enthalten ist.
Ich bin auch in diesem Punkt der Meinung, dass Frau
Biehn Recht hat. Darüber könnte in diesem Bericht mehr
stehen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Dann können Sie unserem Antrag auch zustimmen!)


– Nein, es gibt auch Kritisches.


(Dirk Niebel [FDP]: Nicht nein, doch!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Konrad Gilges

19150


(C)



(D)



(A)



(B)


Friedhelm Hengsbach, Professor an der Katholischen
Hochschule in Frankfurt, hat einen kritischen Bericht in
den „Blättern für deutsche und internationale Politik“
dazu geschrieben. Es lohnt sich, diesen zu lesen. Das gilt
auch für den Bericht von Gottfried Erb in den „Frankfur-
ter Heften“ der Neuen Gesellschaft. Ich empfehle Ihnen,
auch diesen zu lesen.

Ich kann nicht mehr dazu sagen, weil die Zeit nicht aus-
reicht. Ich finde es aber in Ordnung, dass viele kompe-
tente Armuts- und Reichtumsforscher etwas dazu gesagt
haben.

Nun einige Bemerkungen zu – –


(Dirk Niebel [FDP]: Was steht denn jetzt im Bericht? – Gegenrufe von der SPD: Lesen, lesen!)


– Herr Niebel, lesen Sie doch mal den Bericht!


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vielleicht interessiert es einen Zuhörer!)


Ich möchte etwas zur Auseinandersetzung über die
Armutsgrenze sagen. Die FDP tut sich ja hier durch ra-
bulistische Reden über die Armutsgrenze hervor.


(Dirk Niebel [FDP]: Von uns hat doch noch niemand geredet!)


– Herr Kolb hat das ja schon im Ausschuss gemacht. Es
geht eigentlich gar nicht um die Frage der Armutsgrenze,
sondern es geht – hier müssen Sie sich schon einmal et-
was bemühen – um die Feststellung, dass es in der Bun-
desrepublik Deutschland arme Menschen gibt. Wenn Sie
durch die Städte und Dörfer dieses Landes gehen, dann
werden Sie mit allen Sinnen erfahren, dass es in diesem
Land Armut gibt. Deshalb verbietet sich jede Diskussion
über den Begriff der Armutsgrenze, in der verhindert wer-
den soll, dass man Armut wahrnimmt. Der eigentliche
Sinn der von Ihnen geführten Debatte ist es doch, zu leug-
nen, dass es in diesem Lande Armut und Reichtum gibt.


(Dirk Niebel [FDP]: So ein Quatsch! Das ist doch die glatte Unwahrheit!)


Daher sollten Sie einmal durch die Städte und Dörfer un-
seres Landes gehen; dann werden Sie sehen, dass Arme
und auch Reiche in unserem Land leben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich finde es gut, dass die Bundesregierung und auch die
Koalitionsfraktionen davon abgekommen sind, dass man
die Armutsgrenze am Einkommen festmacht, und statt-
dessen einen Lebenslagenansatz zugrunde legen. Diesen
Ansatz halte ich für viel zweckmäßiger und sinnvoller als
das Einkommen.

Nun zur Frage, warum jemand in die Armutsspirale
hineinkommt. Der Bericht zeigt erstens auf, dass der
Hauptgrund – es betrifft mehr als 50 Prozent der Fälle –
nach wie vor die Arbeitslosigkeit ist. Aus Langzeit-
arbeitslosigkeit entwickeln sich die Armutsprobleme.
Deshalb ist es die Hauptaufgabe dieses Parlaments, dafür
zu sorgen, dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht.


(Gudrun Kopp [FDP]: Na endlich! Dann machen Sie mal was!)


– Sie haben doch die Arbeitslosigkeit in den 16 Jahren
aufgebaut. Wir sind dabei, sie zurückzuführen. Nehmen
Sie das doch einmal zur Kenntnis!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben etwas gegen die Ursachen von Arbeitslosigkeit
getan, während Sie die Ursachen erst geschaffen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens sagt der Bericht etwas zum Niedriglohn aus.
Es muss festgehalten werden, dass wir in der Bundesre-
publik Deutschland schon einen Niedriglohnsektor ha-
ben. Niemand, der bei voller Erwerbstätigkeit nur
1 600 DM netto im Monat verdient, kann in diesem Lande
leben. Wer fordert, dass man diese 1 600 DM netto noch
weiter reduziert, der verlangt zugleich, dass im Nied-
riglohnsektor mit ergänzender Sozialhilfe gearbeitet wird.
Deswegen sollten Sie diese Forderung weglassen.


(Dirk Niebel [FDP]: Die Tarifverträge machen doch Ihre Gewerkschaften, nicht wir!)


Wir brauchen keine Niedriglohnbereiche, sondern die
Menschen brauchen Einkommen, die auskömmlich sind
und von denen man eine Familie ernähren kann.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie machen wir das praktisch, Herr Gilges? Darauf müssen Sie eine Antwort geben!)


Drittens sind allein erziehende Frauen mit Kindern
nach wie vor eine der Hauptgruppen, die von der Armuts-
spirale betroffen sind. Unsere Aufgabe ist es, auch dage-
gen etwas zu tun.

Da meine Redezeit fast zu Ende ist, komme ich zum
Schluss.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie wollten uns doch etwas erzählen, wie Sie die Armut bekämpfen wollen!)


Zu dieser Armutsfrage tritt die Reichtumsfrage. Wir wis-
sen, dass es in der Bundesrepublik ein unerhört großes
Vermögen gibt und dass sich dieses Vermögen insbeson-
dere in der konservativ-liberalen Regierungszeit progres-
siv entwickelt hat. Diejenigen, die schon vermögend wa-
ren und ein hohes Einkommen und Immobilien hatten,
haben durch Ihre Steuer- und Sozialpolitik noch etwas
dazu bekommen. Den einen haben Sie es abgenommen,
den anderen haben Sie es gegeben. Wir werden dies än-
dern: Wir werden den Armen etwas geben, während die
Reichen etwas abgeben müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Wie wollen Sie das konkret machen? – Walter Hirche [FDP]: Alles nach dem Motto „Wie kommt man zu einem kleinen Vermögen“?)


Wir wollen, dass dieser Bericht öffentlich debattiert
wird. Die Voraussetzung einer vernünftigen Diskussion
ist, dass wir die Öffentlichkeit, die Gesellschaft für Armut
und Reichtum sensibilisieren. Das ist der erste Schritt; das

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Konrad Gilges

19151


(C)



(D)



(A)



(B)


haben wir mit unserem Bericht getan. Ich hoffe, dass wir
damit die Voraussetzung geschaffen haben, um in einer
Demokratie über Ungleichheit reden zu können, sodass
mehr Gleichheit für die in ihr lebenden Bürger hergestellt
werden kann.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Lauter Taschengeldbezieher wollen Sie! Das ist Gleichheit! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schade, dass Sie keine Zeit hatten, Ihre Rede vorzubereiten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419600200
Als
nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) (von Abge-
ordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des
Kollegen Gilges war nach dem Grundmuster gebaut:
16 Jahre schreckliche Zeiten in Deutschland;


(Beifall bei der SPD)


jetzt endlich passiert etwas.


(Konrad Gilges [SPD]: Für die Armen!)


Sie war an Selbstlob nicht mehr zu überbieten.


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der SPD: Guter Einstieg! – Gut zusammengefasst!)


Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich
möchte Sie höflich daran erinnern,


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nicht so höflich! Die haben es nicht verdient!)


dass Sie seit drei Jahren die Bundesregierung stellen.


(Zuruf von der SPD: Das ist gut so!)


Drei Jahre nach Amtsantritt Ihrer Regierung ist es mit dem
Selbstlob vorbei.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Zumal es nichts zu loben gibt!)


Das Negativzeugnis über Ihr konkretes sozialpolitisches
Handeln muss Ihnen gar nicht die Opposition ausstellen;
es wurde Ihnen vielmehr kürzlich schon von der Europä-
ischen Union ausgestellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir beraten heute nicht nur den Armuts- und Reich-
tumsbericht – ein Bericht, der sich gut liest –, sondern wir
beraten auch den so genannten Nationalen Aktionsplan
zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung,
den alle EU-Mitgliedstaaten vorzulegen haben


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dazu hat Herr Gilges gar nichts gesagt! Dazu hätten wir gern etwas gehört!)


und in dem sie darzustellen haben, was sie konkret tun.
Diesbezüglich bescheinigt die EU-Kommission den Nie-

derlanden, Dänemark und Frankreich gute strategische
Ansätze; Deutschland dagegen befindet sich im unteren
Drittel. In der Arbeitsmarktpolitik und bei der Armuts-
bekämpfung schneidet Deutschland besonders schlecht
ab. – So das Urteil der EU-Kommission.


(Zuruf von der SPD: Welcher Berichtszeitraum war das denn?)


– Frau Kollegin, es ist das Urteil über den von Ihrer Re-
gierung vorgelegten Nationalen Aktionsplan. Das ist die
Note, die Sie bekommen haben.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über welchen Zeitraum berichtet er denn?)


Herr Kollege Gilges hat versucht, den berühmten Streit
fortzuführen, wer arm sei. Früher war das vielleicht ein-
mal so üblich. Damals meinten die Vertreter von Rot-
Grün, mit uns von CDU/CSU einen Streit darüber führen
zu müssen, an welchem Punkt Armut beginne, ob jemand,
der Sozialhilfe bezieht, arm sei oder ob die Sozialhilfe vor
dem Absinken in die Armut bewahre.

Betrachte ich Ihre ganz konkrete Politik in Sachen So-
zialhilfe, dann bleibt mir als Resümee nur folgende Fest-
stellung: Nach Auffassung von Rot-Grün scheinen So-
zialhilfeempfänger zu üppig bedacht zu werden.


(Konrad Gilges [SPD]: Nein! Wieso?)


Sehen Sie sich doch einmal an, was Sie gemacht haben:
Wir hatten im letzten Jahr eine Inflationsrate von
1,9 Prozent; Sie haben die Sozialhilfe um 0,6 Prozent er-
höht. Wir haben in diesem Jahr einen Spitzenwert der
Inflationsrate von 3,5 Prozent;


(Widerspruch bei der SPD)


Sie haben die Sozialhilfe um 1,9 Prozent erhöht.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja Sozialabbau!)


Das ist also ein reales Minus für die Sozialhilfeempfän-
ger. Offensichtlich bekommen sie nach Ihrer Auffassung
zu viel.


(Konrad Gilges [SPD]: Nein! – Gegenruf von der CDU/CSU: Herr Gilges, dazu haben Sie gar nichts gesagt! – Gegenruf des Abg. Konrad Gilges [SPD]: Die Inflationsrate stimmt nicht!)


Der Grund dafür ist: 1996 haben wir eine auf zwei
Jahre befristete Übergangsregelung in das BSHG einge-
führt, nach der die Regelsätze der Sozialhilfe entspre-
chend den Rentenerhöhungen steigen sollen. Dann sind
Sie an die Regierung gekommen und haben eine Ver-
schnaufpause eingelegt, um nachzudenken. Sie haben
diese Regelung um zwei Jahre verlängert und Ver-
änderungen im Anschluss daran angekündigt. – Von we-
gen! Am Mittwoch hat das Bundeskabinett beschlossen,
erneut eine Verlängerung dieser Übergangsfrist – jetzt bis
zum Jahr 2004 – zu beantragen.


(Dirk Niebel [FDP]: Pfui!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Konrad Gilges

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Wir hätten nie gewagt, so etwas zu machen. Bis ins Jahr
2004 wollen Sie an der Regelung festhalten.


(Lachen bei der SPD – Konrad Gilges [SPD]: Aber wir verbinden das mit einer Reform! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich hätte mal die SPD hören wollen, wenn wir das gemacht hätten!)


Man wundert sich über die Sozialhilfedebatte bei Rot-
Grün. Im Sommerloch hat ein Bundesminister – er hat so-
wieso keine Lust mehr auf seinen Job; ich meine Rudolf
Scharping –


(Zuruf von der SPD: Na, na! Keine Beleidigung!)


plötzlich entdeckt, dass die Aufgaben des Arbeits- und So-
zialministers etwas Passendes für ihn wären. Er hat des-
halb Vorschläge zum Thema Sozialhilfereform öffentlich
publiziert. Auch das scheint bei Ihnen alles vergessen zu
sein. Nichts zu tun ist die neue Devise von Rot-Grün.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Mit der ruhigen Hand in der Tasche!)


Das ist schon keine Politik der ruhigen Hand mehr, son-
dern das ist schlichtweg eine Politik der eingeschlafenen
Füße.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Haha! – Weiterer Zuruf von der SPD: Gut gebrüllt, Löwe!)


Was zu tun ist, um Armut und Ausgrenzung wirklich
und wirksam zu bekämpfen, liegt eigentlich auf der
Hand: Arbeit muss sich für jeden wieder lohnen. Arbeit
ist der beste Schutz gegen Verarmung und soziale Aus-
grenzung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Aber wer hat denn die Arbeitslosigkeit hochgepowert? Das ist ja eine Selbstanklage!)


Jedem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger muss daher
eine Tätigkeit angeboten werden. Wer als Sozialhilfe-
empfänger eine Arbeit annimmt – sei sie im ge-
meinnützigen Bereich, sei sie im Niedriglohnbereich oder
nur auf Teilzeitbasis –, für den muss sich das finanziell
lohnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb bedarf es eines bundesweiten, flächendeckenden
Systems von Anreizen zur Arbeitsaufnahme im Nied-
riglohnbereich – je nach Bedarf in Form von Kombilöh-
nen, Einstiegsgeldern oder degressiv gestaffelten Zu-
schüssen zu den Sozialversicherungsbeiträgen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Dazu hatten Sie 16 Jahre lang Zeit!)


Was machen Sie von Rot-Grün? – Sie führen Experi-
mentierklauseln ein und doktern in lokal begrenzten Ex-
perimenten herum. Aber Sie entscheiden nichts und wol-
len nichts voranbringen. Bemerkenswert ist immerhin,
dass angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem

Arbeitsmarkt der Bundesarbeitsminister – zumindest ver-
bal – mittlerweile umgefallen ist. Ich darf die „Berliner
Zeitung“ von letzter Woche zitieren:

Angesichts der Stagnation auf dem Arbeitsmarkt will
die Bundesregierung mehr Anreize für Sozialhilfe-
empfänger schaffen, einen Niedriglohnjob anzuneh-
men. Entgegen seiner bisherigen Linie ist Bundes-
arbeitsminister Walter Riester nun offenbar doch
bereit, Geringverdienern die Sozialbeiträge teilweise
zu erstatten und deren Nettoeinkommen aufzubes-
sern. Noch vor wenigen Wochen hatten Riester und
Sozialpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion ent-
sprechende Forderungen der Grünen strikt abge-
lehnt.

Das ist doch bemerkenswert. Es scheint mittlerweile
ein Nachdenken bei Rot-Grün um sich zu greifen.


(Konrad Gilges [SPD]: Wir denken immer nach! Jeden Tag neu!)


Wenn die neuesten Ankündigungen von Walter Riester
nicht nur Schall und Rauch sein sollen, dann machen Sie
jetzt – Sie regieren doch – Nägel mit Köpfen.

Wir werden seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
in den kommenden Wochen einen Antrag zur Zusammen-
legung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe einbringen,
der auf die Aktivierung der Beschäftigungspotenziale im
Niedriglohnbereich abzielt. Unser Angebot an Sie ist:
Machen Sie dabei mit!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der zweite wesentliche Punkt ist: Kinder dürfen kein
Sozialhilferisiko mehr sein. Wir wollen die Kinder aus der
Sozialhilfe herausholen. Mit dem Vorschlag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion für ein Familiengeld ha-
ben wir, wie ich finde, den einzig richtigen und konse-
quenten Weg gewiesen;


(Zuruf von der SPD: Wo nehmen wir das Familiengeld her? Machen Sie einen Deckungsvorschlag!)


denn mit der Einführung eines einheitlichen Familien-
geldes wird die Familienförderung wirkungsvoller, trans-
parenter und einfacher als bisher gestaltet. Chancenge-
rechtigkeit für jedes Kind wird Realität.


(Zuruf von der SPD: Haben Sie einen Deckungsvorschlag?)


Die Anerkennung der Erziehungs- und Betreuungsleis-
tungen, die durch Erziehungsgeld, Kindergeld und Steu-
erfreibeträge bislang finanziell unterschiedlich ausfällt,
soll durch das neue Erziehungsgeld künftig für alle gleich
sein. Keine Familie soll mehr deshalb, weil sie die Kosten
für ihre Kinder nicht alleine aufbringen kann, auf Sozial-
hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sein. Das nennen
wir ein menschenwürdiges Leben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zusätzlich würde durch das neue Familiengeld er-
reicht, dass sich auch für den Sozialhilfeempfänger mit
Kindern eine Erwerbstätigkeit wieder lohnt, weil das

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Peter Weiß (Emmendingen)


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Lohnabstandsgebot besser realisiert wird. Menschen aus
der Sozialhilfe herauszuholen und Eigenverantwortung
zu ermöglichen gibt Eltern und Kindern eine neue Le-
bensperspektive. Ebenso werden neue finanzielle Spiel-
räume für Kommunen geschaffen, um Kinderbetreuungs-
angebote auszubauen und neue Reformmöglichkeiten für
die Sozialhilfe zu eröffnen.

Der Kollege Gilges meinte, sich auch zu der Frage
äußern zu müssen, ob wir es ertragen können, dass es in
Deutschland Arme gibt. Herr Kollege Gilges, ich habe in
den letzten Wochen den Eindruck gewonnen, dass das Ih-
nen nicht mehr so recht ist.


(Konrad Gilges [SPD]: Wieso?)


Viele Arme in unserem Land treffen Sie zum Beispiel in
Bahnhofsmissionen an. Dass ausgerechnet der von Ihnen
ins Amt gesetzte und unterstützte Herr Mehdorn die armen
Leute aus den Bahnhofsmissionen vertreiben will, damit er
sie nicht mehr sehen muss, halte ich für einen Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Konrad Gilges [SPD]: Uns jetzt für Herrn Mehdorn verantwortlich zu machen, finde ich ein bisschen überzogen!)


– Von wessen Regierung ist er denn bestellt worden?


(Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch jetzt ein Privatunternehmen! Sie haben das doch erst zum Privatunternehmen gemacht!)


– Herr Kollege Gilges, wir wissen aber auch, wer Herrn
Mehdorn ins Amt gehoben hat und ihm bis zum heutigen
Tag die Stange hält, obwohl er viel Unsinniges tut und die
Bahn nicht in der richtigen Weise reformiert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: Das ist nur Populismus!)


Der Nicht-mehr-gerne-Verteidigungsminister und ver-
hinderte Sozialminister Rudolf Scharping hat im Sommer
erklärt:


(Klaus Brandner [SPD]: Noch ein Gedicht!)


Auf der Grundlage unserer Grundwerte streben wir
eine starke Verbindung an zwischen nachhaltigem
Wirtschaften und sozialer Verantwortung. Das be-
deutet Chancen und Hilfen organisieren, Menschen
aktivieren und Entscheidungen treffen. Der Staat
sollte Abschied nehmen vom bloßen Verwalten von
Lebensschicksalen.


(Klaus Brandner [SPD]: Haben Sie auch selbst etwas zu sagen?)


Ein schöner Satz, den ich Ihnen von Rot-Grün ins
Stammbuch schreiben möchte. Denn einfach nur schöne
Reden über diesen Armuts- und Reichtumsbericht zu hal-
ten, aber nichts Konkretes zu tun


(Konrad Gilges [SPD]: Natürlich haben wir was Konkretes gemacht! Entschuldigen Sie mal!)


und alle Entscheidungen auf möglichst weit nach der Bun-
destagswahl zu verschieben, das ist keine Antwort auf Ihren

Bericht, sondern Sie stecken den Kopf in den Sand ange-
sichts der Notwendigkeiten, vor denen wir heute stehen.


(Konrad Gilges [SPD]: Nein! Überhaupt nicht!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419600300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ekin Deligöz von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419600400
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Kol-
lege Herr Weiß hat sich wieder einmal im Kreis gedreht
und er ist sich dessen gar nicht bewusst. Er hat hier einen
Bericht angesprochen, der sich auf den Zeitraum bis 1998
bezieht, hat ihn kritisiert und uns zur Last gelegt. Herr
Kollege Weiß, Sie können sich selbst gerne kritisieren;
dagegen haben wir gar nichts. Aber wir möchten nach
vorne schauen, weitermachen und nicht stehen bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte einen Ausspruch aus der letzten Woche hin-
zufügen. Als die CDU/CSU-Fraktion ihr Familienkonzept
vorgestellt hat, das Kosten in Höhe von 50 Milliarden DM
verursachen würde, hat Herr Merz – er sitzt ja hier – ge-
sagt, auch er müsse zugeben, in der vergangenen Regie-
rung Fehler in diesem Bereich gemacht und Defizite in
der Familienpolitik vorzuweisen zu haben.


(Klaus Brandner [SPD]: Hört! Hört!)


Das habe ich noch genau im Kopf, Herr Merz; Sie können
es mir bestätigen oder widersprechen. Aber das ist die
Realität und da stimmen wir Ihnen zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Erste Armuts- und Reichtumsbericht dieser Regie-
rung hat für die künftige Planung unserer Politik ver-
schiedene Fragen beantwortet. Dazu gehören die Fragen:
Wie schaut es mit Wohlstand in diesem Land aus? Wie
schaut es mit Reichtum in diesem Land aus? Wie schaut
es mit Armut in diesem Land aus? Es ging um Teilhabe-
gerechtigkeit, um Chancengerechtigkeit, um die Entwick-
lung dieser Gesellschaft in den verschiedenen Bereichen.
Diesen Berichtsprozess haben kritische Wissenschaftler
und Verbände begleitet und mit verantwortet. Sie alle wa-
ren auch deshalb beteiligt, damit wir schon jetzt ein mög-
lichst transparentes System haben und keine Ergebnisse
verfälschen. Wir wissen noch aus dem Zehnten Kinder-
und Jugendbericht, wie ein solches Berichtsverfahren
ablaufen kann. Genau jene Fehler wollten wir nicht ma-
chen. Deshalb haben wir diesen Prozess so offen gestal-
tet.

Daraus leiten wir jetzt Folgeprojekte ab. Dazu gehört,
dass dieser Bericht regelmäßig jeweils zur Hälfte der Le-
gislaturperiode fortgesetzt wird, damit wir einen Ver-
gleich anstellen können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass,

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Peter Weiß (Emmendingen)


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wenn wir in vier Jahren, in der Mitte der nächsten Legis-
laturperiode, einen Vergleich anstellen, auch für Sie of-
fensichtlich sein wird, dass schon jetzt eine Trendwende
in der Armutspolitik eingesetzt hat. Deren Ergebnisse
werden wir in vier Jahren gerne auf unsere Kappe neh-
men.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Für die Zukunft haben wir ein Verfahren vereinbart,
das mehr Transparenz und mehr Offenheit ermöglicht und
durch das man die Ergebnisse nachprüfen kann. Dazu
gehört, dass zeitgleich mit dem Bericht die zugrunde lie-
genden Gutachten veröffentlicht werden. Das muss unbe-
dingt geschehen, damit Sie die Ergebnisse, die wir vorle-
gen, jederzeit nachprüfen können und damit sich keine
Regierung durch diese Ergebnisse besser stellen kann.

Ich möchte jetzt einen Blick auf die Inhalte des Be-
richts lenken, die uns durchaus Anlass zur Sorge geben.
Eines ist ziemlich deutlich geworden: In diesem Land gibt
es Reichtum, konzentriert auf wenige Personen, es gibt
eine Mittelschicht, aber es gibt auch Armut. Der Lebens-
standard von Familien, das heißt von Partnern mit Kin-
dern, liegt 30 Prozent niedriger als bei kinderlosen Part-
nerschaften.

Diese Armut hat viele Ursachen, die übrigens nicht erst
in den letzten zwei Jahren entstanden sind, sondern deren
Entstehung schon länger zurückliegt. Ein Grund dafür ist
die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von
Beruf und Kindererziehung. Das haben wir nicht unserem
Weltbild und unseren Einstellungen zu verdanken, son-
dern dem konservativen Weltbild, zu dem es gehört, dass
Frauen, die Kinder kriegen, zu Hause bleiben und mög-
lichst nicht am Arbeitsmarkt teilhaben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Dieser Bericht zeigt aber auch, dass es in den letzten
zwei Jahren zu einer Trendwende gekommen ist. Aus dem
Schaubild auf Seite 156 ist zu ersehen, dass die wichtigs-
te Familienförderung das Kindergeld ist und bleibt. Ge-
rade beim Kindergeld haben wir angesetzt und haben es
erhöht.


(Dirk Niebel [FDP]: Wer hat das Kindergeld denn eingeführt? Das waren doch wir!)


– Herr Niebel, wenn Sie unbedingt reden wollen, dann
stellen Sie eine Frage, dann verlängert sich nämlich meine
Redezeit. Sonst halten Sie Ihre Schnauze. – Am 1. Januar
des kommenden Jahres wird die Höhe des Kindergeldes
bei 300 DM liegen. Diese Höhe geht eindeutig auf die rot-
grüne Koalition zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Firlefanz! Ohne uns gäbe es kein Kindergeld! Sie haben es nur erhöht!)


Fangen wir bei der Kindergelderhöhung auf 220 DM
an. Ich kann mich gut daran erinnern, dass diese Höhe nur
deshalb zustande gekommen ist, weil die alte Bundesre-
gierung ihren Haushalt im Bundesrat mit den Stimmen

von Rot-Grün durchsetzen musste. Im Gegenzug musste
sie das Kindergeld auf 220 DM erhöhen. Auch die restli-
che Erhöhung hat Rot-Grün zustande gebracht. Und dann
stehen Sie hier auf und sagen, Sie hätten das Kindergeld
eingeführt. Lesen Sie erst einmal nach, was wirklich pas-
siert ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber wir haben das Kindergeld doch erst geschaffen!)


Eine überzeugende Politik zur Bekämpfung von Armut
muss gleichzeitig an verschiedenen Stellen ansetzen.
Dazu gehört – das ist ganz wichtig – die Kinderbetreu-
ung in diesem Land. Wenn wir unser Kindererbetreu-
ungssystem – ich spreche insbesondere Bayern an, das das
Recht auf einen Kindergartenplatz nach wie vor nicht an-
erkennt und das sich nach wie vor aus dieser Angelegen-
heit heraushält – in Deutschland mit dem vergleichen, was
in den Nachbarländern wie zum Beispiel in Frankreich
gemacht wird, dann muss man feststellen, dass Deutsch-
land noch ein Entwicklungsland ist.

Ich spreche nun Bemühungen bei der Gestaltung der
Berufswelt an. Wir haben ganz bewusst das Recht auf
Teilzeitarbeit eingeführt, damit Eltern die Wahl bleibt,
zeitweise bei ihren Kindern zu bleiben und Zeit für die
Familie zu haben und trotzdem an der Berufswelt teilzu-
nehmen, um nicht in die Spirale der Arbeitslosigkeit hin-
einzufallen. Auch das geht auf das Konto von Rot-Grün.
Was wir brauchen, ist eine Kultur der Teilzeitarbeit auch
in der Berufsausbildung und in den Führungspositionen.

Zur konkreten Armutsbekämpfung braucht man, wie
wir meinen, Visionen, darüber hinaus aber auch konkrete
Projekte, die realistisch und kurzfristig umsetzbar sind.
Deshalb schlägt meine Fraktion die Kindergrundsiche-
rung vor als ein Modell, als eine konkrete bedarfsorien-
tierte Maßnahme zur Bekämpfung von Kinderarmut in
diesem Land. Dieses Konzept setzt zielorientiert an, holt
Familien aus der Sozialhilfe heraus, ist unbürokratisch
und schafft Anreize zur Arbeitsaufnahme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)


– Ich verstehe leider Ihre Zurufe nicht. Sie müssen ein
bisschen lauter schreien, dann könnte ich sie verstehen
und würde darauf reagieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Dann beschweren Sie sich, ich sei Ihnen immer zu laut! – Zuruf von der SPD: Zack! Auf einen groben Klotz einen groben Keil!)


Wir schlagen diese Maßnahme vor, weil es wichtig ist,
gerade in diesem Bereich einzugreifen. Denn 56 Prozent
der Sozialhilfeempfänger sind Alleinerziehende mit Kin-
dern. Das sind Frauen, die Kinder haben und zu Hause
bleiben, um ihre Kinder zu erziehen. Gerade bei diesen
Familien müssen wir eingreifen. Wir müssen diese Perso-
nen aus der Spirale und dem Stigmatisierungseffekt der
Sozialhilfe herausholen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr widersprüchlich bei Ihnen!)


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Ekin Deligöz

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Das Familiengeld, das Sie von der Union vorschlagen,
kostet pro Jahr 50 Milliarden DM. Sie wollen andere so-
ziale Leistungen kürzen, um Maßnahmen für Familien
treffen zu können.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Was haben Sie bei der letzten Kindergelderhöhung gemacht? Die haben Sie doch über die Alleinerziehenden finanziert!)


Sie nehmen es der einen Seite weg und geben es der an-
deren. Wo ist da bitte die Erneuerung? Wo ist da die
Vision? Wo ist da die Gestaltung? Das möchte ich von Ih-
nen wissen. Wie können Sie diesen ungedeckten Scheck
überhaupt einlösen? Welche einzelnen Schritte wollen Sie
machen? Was ist mit den sozialen Leistungen, die für
diese Familien bedarfsorientiert eingesetzt werden kön-
nen? Diese Fragen lassen Sie offen. Sie bleiben uns die
Antwort schuldig.

Glaubwürdig ist eine Politik nur, wenn sie sich einer ra-
tionalen Diskussion stellt und wenn über die Finanzier-
barkeit und Wirksamkeit der Maßnahmen debattiert wird.
Dazu gehört zum einen, dass die Lebenslagen so darge-
stellt werden, wie es in dem vorliegenden Armuts- und
Reichtumsbericht geschehen ist und in den Folgeberich-
ten geschehen soll. Dazu gehört zum anderen, dass wir
daraus Konsequenzen ziehen und Politikziele entwickeln.
Darüber wollen und müssen wir in Zukunft offen disku-
tieren. Wir wollen Maßnahmen, die realistisch sind, nicht
nur Wahlkampfversprechungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419600500
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der FDP-Fraktion das Wort.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1419600600
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Gilges hat heute
Morgen eine schwache Einführung in dieses Thema ge-
geben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Kollege Gilges, vielleicht ist das Ausdruck Ihrer Rat-
losigkeit angesichts der aktuell über Sie hereinbrechen-
den Zahlen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Herr Kolb, Sie sind doch Geschäftsführer und nicht Oberlehrer!)


Ich finde es schlimm – das muss ich deutlich sagen –, dass
die Bundesregierung hier zu einer wirklich herausgeho-
benen Debattenzeit am Vormittag derart schwach vertre-
ten ist.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der PDS)


Außer unserem verehrten Kulturstaatsminister sind nur
zwei Staatssekretäre anwesend. Ich finde es besonders
schlimm, dass drei Ressorts, auf die es bei der Bekämp-
fung von Armut entscheidend ankommt, nämlich das

Wirtschafts-, das Finanz- und das Bildungsressort, über-
haupt nicht vertreten sind, weder durch den Minister noch
durch einen Staatssekretär.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der PDS – Dirk Niebel [FDP]: Da sieht man mal die Wirklichkeit!)


Das zeigt, wie ernst Sie dieses Thema nehmen. Ich finde
das skandalös.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Armutszeugnis!)


– Das ist wirklich ein Armutszeugnis.


(Klaus Brandner [SPD]: Wenn ich die FDP bei den Debatten sehe, dann sind Sie nie da! Klopfen Sie nicht so auf den Busch, Herr Kolb! Sie sind doch nun wirklich nicht glaubwüdig!)


– Herr Kollege Brandner, das ist doch ein Thema, mit dem
Sie immer durch die Lande ziehen und von dem Sie sa-
gen, das sei wichtig. Von daher ist die Präsenz auf der Re-
gierungsbank ein Skandal. Sie sollten sich dafür schämen!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Der Armuts- und Reichtumsbericht ist eine Sammlung
bekannter Daten mit eingeschränktem Neuigkeitswert.


(Klaus Brandner [SPD]: Fensterrede!)


Auch Ihre Definition des Begriffs Armut ist unzurei-
chend und unklar.


(Konrad Gilges [SPD]: Das habe ich doch gesagt, dass Sie damit garantiert kommen!)


– Das muss man auch immer wieder sagen, solange Sie
sich nicht entscheiden, ob derjenige arm ist, der weniger
als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient; das
ist eine Ihrer Varianten.


(Konrad Gilges [SPD]: Sie wissen doch, dass das Quatsch ist!)


Herr Kollege Gilges, dann wären aber die jetzt Armen
selbst dann noch arm, wenn alle auf einen Schlag doppelt
so viel verdienen würden wie zurzeit. Das kann es doch
nicht sein. Oder ist derjenige arm – auch das ist eine Vari-
ante, die Sie anführen –, der Sozialhilfe bezieht?


(Erika Lotz [SPD]: Keine Ahnung!)


Aber hier sagen Sie in Ihrem Bericht – übrigens völlig zu
Recht –, dass Sozialhilfebezug fälschlicherweise mit Ar-
mut gleichgesetzt wird. Ich vermute aber ohnehin, dass
Ihr Bericht eher dazu gedacht ist, eine theoretische Grund-
lage für eine praktische Umverteilungspolitik zu schaffen,
unter der die Neue Mitte zu leiden haben wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Das ist der übliche Reflex!)


– Nein, Herr Gilges, Sie müssen einfach die Zusammen-
hänge sehen.

Wenn die Aussage in Ihrem Bericht, mangelhafte Bil-
dung und vor allem Arbeitslosigkeit seien Hauptrisiken

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Ekin Deligöz

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für die Entstehung von Armut, zutrifft, dann – das können
wir hier vielleicht als gemeinsame Position festhalten – ist
ein Arbeitplatz die beste Versicherung gegen Armut.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Erika Lotz [SPD]: Ihr wollt doch Niedriglöhne!)


Wenn aber die gestrigen Zahlen Ihres Finanzministers,
Herrn Eichel, zutreffen, dann ist diese Bundesregierung
aktuell dabei, mit hoher Geschwindigkeit neue Armut zu
produzieren.


(Zurfuf von der CDU/CSU: So ist das!)


Ein Ergebnis Ihrer verfehlten Politik ist nämlich, dass
viele Unternehmen in Deutschland derzeit per saldo
Arbeitsplätze abbauen, das heißt, viele Menschen wer-
den neu mit dem Armutsrisiko konfrontiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch Quatsch! Wer arbeitslos wird, ist noch nicht gleichzeitig arm!)


Deswegen ist Ihr Aktionsplan vom Mai ebenso wie Ihr
Bundeshaushalt, der vom gleichen Monat datiert, heute
nur noch Makulatur.


(Zuruf von der CDU/CSU: Altpapier!)


Sie kurieren an Symptomen, befassen sich aber nicht
grundlegend mit den Herausforderungen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will deshalb in der Kürze der Zeit einen neuen na-
tionalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut ent-
werfen. Sie brauchen da ja offensichtlich etwas Nachhilfe.

Erstens. Investieren Sie in Bildung, schaffen Sie zu-
kunftsträchtige Bildungsgänge.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das tun wir!)


Sie schauen ja so gerne danach, was in der Vergangenheit
gewesen ist. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Hätte Ihr jet-
ziger Bundeskanzler seinerzeit als niedersächsischer Mi-
nisterpräsident nicht den Informatikstudiengang in
Hildesheim abgeschafft, hätte er später die Greencard-
Debatte nicht führen müssen. Auf diese Zusammenhänge
muss man hinweisen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Zweitens. Entfesseln Sie den deutschen Arbeits-
markt. Die vom Bundeskanzler geforderte Zurückhal-
tung der Gewerkschaften bei Lohnforderungen, die ich
unter dem Gesichtspunkt der Schaffung neuer Arbeits-
plätze ausdrücklich begrüße, bringt keinen Nutzen, wenn
Sie im Gegenzug den Arbeitsmarkt weiter regulieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens. Motivieren Sie die Unternehmer zur Schaf-
fung neuer Arbeitsplätze. Nur die Unternehmer können

bestandsfeste, sich auf Dauer selbst tragende Arbeits-
plätze schaffen. Wenn Sie aber die Unternehmer ab-
schrecken bzw. verschrecken, wie Sie es mit Ihrer Politik
die letzten drei Jahre getan haben,


(Konrad Gilges [SPD]: Wir haben noch keinen Unternehmer verschreckt!)


werden Sie in diesem Land keine neuen Arbeitsplätze
schaffen und damit Armut nicht wirksam bekämpfen kön-
nen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Selbst FDP-Unternehmer verschrecken wir nicht!)


Viertens – Herr Gilges, hören Sie genau zu: Durchfors-
ten Sie unser Sozialsystem.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Nur wenn die Mittel, die wir zur Verfügung haben, dort
ankommen, wo es echte Bedürftigkeit gibt, kann Armut
wirksam bekämpft werden. Wir müssen die Bedürftigen
vor den Findigen schützen. Mit der Gießkanne lässt sich
Armut nicht bekämpfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Wenn ich mir allerdings ansehe, wie Ihre Bilanz nach
drei Jahren Regierungszeit aussieht – –


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: So ist es! – Klaus Brandner [SPD]: Sie haben ganz vergessen, dass der Bericht Ihre Regierungszeit widerspiegelt! Da waren Sie verantworlich! Es ist der Armutsbericht für Ihre Regierungszeit!)


– Sie brauchen gar keine 16 Jahre, Sie haben in drei Jah-
ren schon sehr deutlich gezeigt, worauf Ihre Politik hi-
nausläuft.


(Konrad Gilges [SPD]: Im Vergleich zu Ihrer Zeit ist die Arbeitslosenzahl noch positiv! – Klaus Brandner [SPD]: Sie müssen ja die Unternehmer ganz schön verschreckt haben, dass die in Ihrer Zeit so viele Arbeitsplätze abgebaut haben!)


– Herr Gilges, weil Sie das sagen, möchte ich darauf hin-
weisen, dass ich im Januar dieses Jahres von diesem Pult
aus darauf hingewiesen und Sie gewarnt habe, indem ich
gesagt habe: Sie werden sich über die Entwicklung auf
dem Arbeitsmarkt in den nächsten Monaten wundern. Da
hat mich die linke Seite des Hauses ausgelacht.


(Klaus Brandner [SPD]: Ach, Herr Kolb!)


Zehn Monate später sind wir in einer Situation, wo die
Arbeitslosenzahl schon wieder bei 3,7 Millionen liegt
und die Tendenz stark steigend ist.


(Konrad Gilges [SPD]: Ist aber immer noch eine positive Bilanz gegenüber Ihren Zahlen!)


Ich sage Ihnen voraus, Herr Gilges – das müssen Sie mir
wirklich abnehmen, weil ich als Unternehmer in den ge-
samtwirtschaftlichen Leistungszusammenhang in diesem

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

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Land eingebunden und im Produktionsprozess verwurzelt
bin –:


(Klaus Brandner [SPD]: Als Unternehmer wäre ich aus der letzten Regierung in Ihrer Funktion längst ausgetreten!)


Die Stimmung, die sich derzeit insbesondere im Mittel-
stand abzeichnet, wird dazu führen, dass Sie in sehr kur-
zer Zeit, spätestens in diesem Winter, mit 4 Millionen Ar-
beitslosen ernsthaft rechnen müssen, wenn nicht politisch
grundlegend gegengesteuert wird, und dazu sind Sie of-
fensichtlich nicht bereit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: Warten Sie mal ab!)


Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal in
Stichworten: Entlasten Sie die Wirtschaft von Steuerlas-
ten und Bürokratie, führen Sie eine wirkliche Steuer-
reform durch, die auch die Unternehmer, nicht nur die
Unternehmen entlastet, deregulieren Sie den deutschen
Arbeitsmarkt. Nehmen Sie sich einfach ein Beispiel an
unseren europäischen Nachbarn. Man braucht gar nicht
über den Atlantik zu blicken, ein Blick nach Holland
reicht vollkommen aus.

Fazit: Nehmen Sie die Herausforderungen des Armuts-
und Reichtumsberichtes wirklich an, investieren Sie in
Bildung, schaffen Sie Arbeitsplätze.


(Klaus Brandner [SPD]: Hätten Sie alles machen können!)


Das wird Ihnen auf dem Weg der Umverteilung, den Sie
einschlagen wollen, nicht gelingen.


(Klaus Brandner [SPD]: Blablabla!)


Eine allerletzte Anmerkung zum Abstimmungsverhal-
ten: Wir haben im Ausschuss aus bestimmten Gründen
gegen den CDU/CSU-Antrag gestimmt. Dieser Antrag ist
mittlerweile überarbeitet worden. Er ist besser geworden.
Aber aus unserer Sicht ist er immer noch nicht stringent
genug. Deswegen werden wir uns heute hier im Plenum
der Stimme enthalten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419600700
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von der PDS-Frak-
tion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419600800
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Wenn Sie von der FDP-Fraktion hier
vorschlagen, die Bedürftigen vor den Findigen zu schüt-
zen, klingt das so, als ob Sie Schutz vor der FDP fordern.


(Heiterkeit und Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zunächst ist es zweifellos zu begrüßen, dass die Bun-
desregierung erstmalig einen Armuts- und Reichtumsbe-

richt vorgelegt hat. Eine gemeinsame Forderung von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS aus der vergange-
nen Legislaturperiode ist damit erfüllt worden.


(Dirk Niebel [FDP]: Eine seltsame Koalition!)


Die andere Seite des Hauses hatte diese Forderung per-
manent abgelehnt. Dafür werden Sie wohl Gründe gehabt
haben.

Aber ich muss sagen, dass an diesem Bericht eines un-
angenehm auffällt, und zwar, dass er mit dem Jahre 1998
endet. Das heißt, Sie haben sich ausschließlich bis zu der
Zeit über Reichtum und Armut Gedanken gemacht, als Sie
die Regierungsverantwortung übernommen haben. Darü-
ber, wie die Entwicklung danach verlaufen ist, fehlen in
diesem Bericht die Informationen.


(Zuruf von der FDP: Ja, das blenden die aus!)


Das ist nicht fair. Drei Jahre nach Ihrer Regierungsüber-
nahme hätte sich wenigstens ein Absatz dazu gehört, wie
die Entwicklung seitdem weiter gegangen ist.


(Beifall bei der PDS – Konrad Gilges [SPD]: Es gibt dazu keine Datenlage!)


Erstens. Ich sage Ihnen, was diesbezüglich in unserer
Gesellschaft das größte Problem ist: Es sind die Kinder,
die in Armut leben. Inzwischen leben über acht Prozent
der Kinder von Sozialhilfe.


(Zuruf von der SPD: Weil die Männer vor den Kindern flüchten!)


Sie haben in dieser Legislaturperiode zum Beispiel drei
Kindergelderhöhungen beschlossen. Dies ist ja an sich zu
begrüßen. Aber bei zwei von ihnen – das gilt auch für die-
jenige, die ab 1. Januar 2002 in Kraft tritt – ziehen Sie die
Kindergelderhöhungen, gerade bei den armen Kindern,
dann wieder von der Sozialhilfe ab. Ich sage Ihnen: Das
ist skandalös.


(Beifall bei der PDS)


Denn genau diese Kinder hätten es in erster Linie ver-
dient, in den Genuss dieser Kindergelderhöhung zu kom-
men. Doch genau dies findet nicht statt.

Zweitens. Man muss hervorheben, dass Armut in un-
serer Gesellschaft zu einem sehr großen Teil unter Frauen
verbreitet ist. Das gilt sowohl für Rentnerinnen, die im
Schnitt wesentlich niedrigere Bezüge haben als Rentner.
Das hängt natürlich mit dem Arbeitsmarkt und ihrer Be-
rufsentwicklung in den Jahrzehnten zuvor zusammen.
Aber es gilt auch und vor allem für Alleinerziehende, die
in einer ganz schwierigen Situation sind – ihre Zahl hat
übrigens inzwischen in den neuen Bundesländern drama-
tisch zugenommen – und von denen man nichts anderes
sagen kann, als dass sie in Armut leben.

Das hängt dann wieder mit der sehr schlechten Aus-
stattung in Kindertagesstätten und auch mit dem Mangel
an Ganztagsschulen und ähnlichen Bedingungen zusam-
men, sodass sie von vornherein viel schlechtere Chancen
auf dem Arbeitmarkt haben. Selbst wenn sie eine Chance
haben, können sie sie ganz häufig gar nicht wahrnehmen,
weil sie ihre Kinder nicht oder nur zu sehr hohen Kosten,

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Heinrich L. Kolb

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die sie nicht bestreiten können, unterbringen können. Hier
muss sich grundlegend etwas verändern.


(Beifall bei der PDS)


Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Gestern war ich in Tem-
pelhof-Schöneberg. Dort ist von den zuständigen Beam-
ten des Bezirksamtes gesagt worden, dass sie für die Es-
sensversorgung der Kinder in Kindertagesstätten, also für
die Mittagsmahlzeit, pro Tag und pro Kind 1,84 DM zur
Verfügung stellen können. Ich bitte Sie: Überlegen Sie
sich einmal, welch eine Essensversorgung in Kinderta-
gesstätten gewährleistet ist, wenn pro Tag und pro Kind
1,84 DM zur Verfügung gestellt werden.


(Dirk Niebel [FDP]: Wer regiert eigentlich in Berlin?)


Ich glaube, kein Mensch von uns ist in der Lage, sich von
1,84 DM ein Mittagessen zuzubereiten. Das ist organi-
sierte Armut. Diese Situation muss sich zwingend verän-
dern. Hier müssen einfach andere Prioritäten gesetzt wer-
den.


(Beifall bei der PDS)


Deshalb fordern wir erneut, über eine Grundsi-
cherung – gerade auch für Kinder in einer solchen Situa-
tion – nachzudenken.

Übrigens, ich höre häufig von der FDP, aber auch von
der CDU/CSU die Forderung nach der Schaffung eines
Niedriglohnsektors.


(Dirk Niebel [FDP]: Wer regiert eigentlich in Berlin?)


Erstens höre ich diese Forderung immer sehr gerne von
solchen Menschen, die selber nie im Niedriglohnsektor
arbeiten würden. Dies ist also eine Delegierung von Pro-
blemen auf andere Bevölkerungskreise. Zweitens frage
ich Sie: Welch eine Vorstellung haben Sie eigentlich von
der Höhe der bei uns gezahlten Löhne? Fragen Sie doch
einmal eine Verkäuferin, wie viel sie in diesem Land
verdient. Es besteht doch längst ein ausgebreiteter
Niedriglohnsektor. Es ist doch eine Erfindung, wenn
man sagt, dass man ihn erst einführen müsste.


(Beifall bei der PDS)


Was mir in diesem Bericht fast völlig fehlt, sind Daten
bezüglich des Reichtums. Aber ein Blick in den „German
Wealth Report 2000“ hätte genügt, und Sie hätten einige
Daten aufführen können. Ich nenne ein paar Beispiele:
25,7 Prozent des gesamten deutschen Privatvermögens
konzentrieren sich auf lediglich 365 000 Menschen in die-
sem Land. Das sind 0,5 Prozent der Einwohnerinnen und
Einwohner. 3 700 von diesen Personen verfügen über
8 Prozent des gesamten Privatvermögens in Deutschland.
Diese Zahlen muss man sich einmal auf der Zunge zerge-
hen lassen, um die Differenzen zwischen Reichtum und
Armut kennen zu lernen.

Ein anderes Beispiel: Die Zahl der Vermögensmil-
lionäre betrug in den 60er-Jahren 14 000, ist dann bis
1973 auf über 217 000 angestiegen und belief sich 1995
auf 1,5 Millionen. Sie dürfte heute bei etwa 2 Millionen
liegen.

Ein Wort zur Verschiebung der Steuerlast: Während
die Lohneinkommen 1960 zu gut 6 Prozent durch direkte
Steuern belastet wurden, sind es heute rund 20 Prozent.
Daran trägt Ihre Regierung einen großen Anteil. Aber die
Belastung der Gewinn- und Kapitaleinkommen stellt sich
genau umgekehrt dar: 1960 waren es 20 Prozent, heute
sind es im Durchschnitt 5 Prozent.

Man muss sich einmal überlegen: Das alles ist mit dem
Versprechen geschehen, dass das frei werdende Geld in
Arbeitsplätze umgemünzt wird. Nichts davon ist passiert.
Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit hat ständig zugenom-
men. Von unserem gesamten Steueraufkommen kommen
noch 15 Prozent aus Gewinn- und Kapitaleinkommen,
aber 75 Prozent aus Massensteuern; das sind Lohnsteuer,
Umsatzsteuer, Mineralölsteuer und viele andere direkte
Steuern. Das muss sich verändern.

Im Übrigen hat der Reichtum im Land ebenso wie die
Armut zugenommen. Das hängt nämlich miteinander zu-
sammen. Das hat sich auch unter dieser Regierung nicht
geändert, sondern fortgesetzt. Das muss man ganz deut-
lich sagen.


(Beifall bei der PDS – Konrad Gilges [SPD]: Nein, das stimmt nicht!)


Es werden auch Bund, Länder und Kommunen immer
ärmer, obwohl der Reichtum zunimmt. Dadurch sind
Bund, Länder und Kommunen immer schlechter in der
Lage, ausgleichend zu wirken. Das ist ein großes Pro-
blem. Früher war diese Entwicklung verhältnismäßig:
Nahm der Reichtum zu, wurden auch Bund, Länder und
Kommunen reicher. Davon kann heute überhaupt keine
Rede mehr sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419600900
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419601000
Mein letzter Satz, Herr Prä-
sident: Lassen Sie uns andere Prioritäten setzen und in
dieser Gesellschaft Armut wirksam bekämpfen. Das ist
eine Voraussetzung dafür, dass es auch Normalverdienern
besser geht, die zurzeit ebenfalls immer ärmer werden.
Genau diese Spirale muss beendet werden.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419601100
Für die
Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische
Staatssekretärin Ulrike Mascher.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie ist fast die Einzige, die von der Regierung noch da ist! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie muss jetzt wie gestern der Finanzminister eine Beichte ablegen! – Klaus Brandner [SPD]: Herr Kolb, Sie müssen beichten, weil der Bericht Ihre Regierungszeit betrifft!)


U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1419601200
Herr Präsi-
dent! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir sollten

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Gregor Gysi

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versuchen, die heutige Debatte zu nutzen, um über eine
regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung in
der Bundesrepublik zu diskutieren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, wir wollen keine Berichterstattung, sondern eine Bekämpfung der Armut, Frau Kollegin!)


– Die Berichterstattung, der sich diese Bundesregierung
– anders als die alte Bundesregierung – nicht verweigert,
ist für uns die Grundlage für eine zielgenaue Sozialpoli-
tik, die genau diejenigen besser stellt, die das nötig haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das Paradies steht bevor!)


Deswegen begrüßen wir den Antrag der Koali-
tionsfraktionen, der heute zur Beschlussfassung vorliegt
und der die Bundesregierung verpflichtet, zukünftig re-
gelmäßig in der Mitte jeder Wahlperiode einen Armuts-
und Reichtumsbericht vorzulegen. Für den nationalen Ak-
tionsplan gegen Armut und soziale Ausgrenzung wurde
auf europäischer Ebene bereits ein zweijähriger Be-
richtsturnus festgelegt.

Herr Gysi, ich möchte Sie darauf hinweisen: Wenn Sie
sich ein bisschen mit der Materie beschäftigen würden,
dann wüssten Sie, dass bestimmte Daten eben nur bis
1998 vorliegen und dass wir nur diese Daten in dem Be-
richt verwerten konnten. Der nächste Bericht wird selbst-
verständlich die Daten aus der Zeit dieser Bundesregie-
rung berücksichtigen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419601300
Frau Kol-
legin Mascher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Dreßen?

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1419601400
Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419601500
Bitte
schön, Herr Dreßen.


Peter Dreßen (SPD):
Rede ID: ID1419601600
Frau Staatssekretärin, von der
Opposition wurde vorhin behauptet, wir hätten keine
Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht
gezogen. Nun ist Ihnen bekannt, dass wir gerade beim
BAföG zusätzlich 80 000 Schüler und Studenten fördern.


(Walter Hirche [FDP]: Wenn das Frau Mascher bekannt ist, brauchen Sie es nicht zu fragen!)


Wir haben 1,3 Milliarden DM mehr beim Wohngeld aus-
gegeben. Wir haben bei der Steuerreform im unteren Be-
reich den Freibetrag von 12 000 auf 15 000 DM erhöht.


(Walter Hirche [FDP]: Wo ist die Frage?)


Wir haben den Eingangssteuersatz von 25 Prozent auf
15 Prozent gesenkt.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Fragen Sie endlich etwas!)


Glauben Sie, dass diese Maßnahmen genau die Men-
schen betreffen, die im Armuts- und Reichtumsbericht er-
wähnt sind, nämlich die Menschen, die nicht so reich sind
und auf diese Maßnahmen angewiesen sind?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben die Ökosteuer vergessen, Herr Kollege Dreßen!)


U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1419601700
Herr Dreßen, wir
haben dankenswerterweise sowohl auf kommunaler als
auch auf Landesebene, von den Wohlfahrtsverbänden und
den Gewerkschaften Armutsberichte vorliegen. Diese Ar-
mutsberichte haben uns natürlich Hinweise darauf gege-
ben, in welche Richtung eine Politik gegen Armut und
Ausgrenzung formuliert werden muss, zum Beispiel im
Bildungsbereich durch eine Verbesserung des BAföGs,
um Kindern aus Arbeiterhaushalten die Chance eines
Hochschulzugangs zu geben. Die Erhöhung des Wohn-
gelds wird es einer allein erziehenden Frau in einer Groß-
stadt ermöglichen, auch mit einem niedrigen Einkommen
zu leben. Ähnliches gilt für die Erhöhung des Kindergel-
des. Leider sind die Vorschläge, die Herr Weiß hinsicht-
lich des Familiengeldes macht, in den 16 Jahren, in denen
die CDU/CSU regiert hat, nicht aufgegriffen worden. Auf
diesem Feld haben wir einen großen Nachholbedarf.

Die vorliegenden Armutsberichte haben uns also Hin-
weise gegeben, woran wir uns mit unserer Politik zu ori-
entieren haben. Wir wollen aber durch den nationalen Ar-
muts- und Reichtumsbericht noch genaueren Aufschluss
bekommen, insbesondere über die Situation in bestimm-
ten Lebenslagen wie Obdachlosigkeit oder extreme Ar-
mut. An die Ergebnisse des Berichts wollen wir dann an-
knüpfen, was zu Recht auch von Organisationen wie der
Caritas gefordert wurde.


(Beifall bei der SPD)


Bei der Beratung des Berichtes haben wir eine große
Unterstützung durch Fachleute, die Wissenschaft, Ver-
bände, Institutionen, aber auch durch Länder und Kom-
munen erfahren. Deutlich geworden ist, dass wir noch
weitere Berichte brauchen. Wir werden diese Berichte in
bewährter Weise mit Vertretern von Wohlfahrtsverbän-
den, Kirchen, Tarifvertragsparteien und Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern sowie mit Betroffenen und
deren Selbsthilfegruppen, die sich zum Beispiel in der na-
tionalen Armutskonferenz organisiert haben, diskutieren
und beraten.

Wir haben sofort nach der Vorlage des ersten Berichtes
eine Bestandsaufnahme durchgeführt, um die Bereiche,
zu denen der Bericht noch nichts aussagt, feststellen zu
können und die Voraussetzungen für einen zweiten Be-
richt zu schaffen. Wir werden die Grundlagen des Be-
richts und die wissenschaftlichen Gutachten jetzt veröf-
fentlichen, damit die Kontinuität und Transparenz des
Beratungsprozesses weiterhin gewährleistet ist. Wir wer-
den am 13. Dezember dieses Jahres in einem öffentlichen
Symposium die Perspektiven der Berichterstattung und
aktuelle Impulse diskutieren – Herr Dr. Kolb, Sie sind
dazu herzlich eingeladen –, um in Zukunft noch genauer

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher

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(B)


über die Lebenslagen von Menschen in dieser Republik
berichten zu können.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hört sich leider sehr, sehr theoretisch an! Die Menschen erwarten eine faktische Politik!)


Die Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts
spielt für die Bundesregierung, die auf sozialen Aus-
gleich, Vorbeugung und Nachhaltigkeit setzt, eine ganz
wichtige Rolle. Sie soll die empirischen Grundlagen so-
wie die geeigneten Daten und Fakten liefern, damit wir
Orientierungsgrößen für politische Planungs- und Ent-
scheidungsprozesse haben. Wir brauchen Datengrundla-
gen, die auch eine Vergleichbarkeit gewährleisten, weil
wir eine Wirkungskontrolle institutionalisieren wollen.
Auf diese Weise können wir sehen, wie bestimmte politi-
sche Maßnahmen wirken.

Die Behauptung der CDU/CSU, der Bericht nehme
keine ausreichende Differenzierung des Armutsbegriffs
vor, übersieht völlig – offensichtlich ist der Bericht von
den entsprechenden Kollegen nicht gelesen worden –,
dass neben einem breiten statistischen Material zu Ein-
kommen, Vermögen und Überschuldung auch die Le-
benslagen von Familien und Kindern, die Beziehungen
zwischen Bildung und unterschiedlichen Lebenslagen in
der Bevölkerung, die Situation von Behinderten, von
chronisch Kranken, der Komplex der Zuwanderung, dif-
ferenziert nach ausländischen Migranten und Migrantin-
nen und Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen, darge-
stellt wurden; um nur einige Beispiele zu nennen.

Falsch ist auch die Behauptung, die Herr Weiß in Be-
zug auf die Sozialhilfe aufgestellt hat.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die Wahrheit tut weh!)


Wir wollen das System von Regelsatz und Einmalhilfe
überdenken, und zwar auf der Grundlage von Erfahrun-
gen mit einer Reihe von Modellen auf örtlicher Ebene,
zum Beispiel aus Baden-Württemberg. Herr Weiß, Sie
wissen das besser, als Sie das hier behauptet haben.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie können doch handeln!)


Wir wollen auch bei der Hilfe zur Arbeit die Erfahrun-
gen, die wir in Modellprojekten zur Zusammenarbeit von
Arbeits- und Sozialämtern seit Mitte dieses Jahres gewin-
nen, nutzen, um eine große Sozialhilfereform aus einem
Guss zu machen, durch die den Menschen tatsächlich ge-
holfen wird, aus der Sozialhilfe herauszukommen, und
zwar mit Hilfen zur Arbeit und einer besseren, zielge-
naueren Orientierung der Sozialhilfe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihr sucht eine Ausrede bis zur Bundestagswahl! Das ist der Grund, Frau Mascher!)


– Nein, wir suchen keine Ausrede.

Die noch vorhandenen Defizite bei der Datenlage, die
wir vor allem bei Reichtum und Vermögen, aber auch bei
den extremen Armutslagen sowie der Wohnungslosigkeit

haben, wollen wir abbauen. Deswegen haben wir auch be-
reits bei der Abfassung des Ersten Armuts- und Reich-
tumsbericht Forschungsprojekte initiiert, die zu aussage-
kräftigeren Berichten beitragen können.

Die Verbesserung der Datenlage ist eine besondere
Aufgabe, die auf Bundesebene zu erfüllen ist. Aufgrund
der vielfältigen Formen von Armut und sozialer Ausgren-
zung stützt sich die Berichterstattung bisher auf ganz un-
terschiedliche Datenquellen. Wir streben an, die Informa-
tionen dieses Flickenteppichs aus Daten zu bündeln und
– das wäre der Idealfall – in einem Datenpool zusammen-
zuführen und verfügbar zu machen. Dann kann sich auch
die Opposition darüber informieren.

Beim Reichtum beginnen die Probleme bereits bei den
aktuell nutzbaren Datenquellen, die für die Ermittlung
von Umfang und Verteilung des Reichtums herangezogen
werden können. Eine Beschreibung und eine Analyse des
Reichtums scheitert bisher am Fehlen von Datenquellen,
die ein umfassendes und nüchternes Bild des Reichtums
und seiner Entwicklung ermöglichen. Ein erster Schritt ist
deshalb die Entwicklung eines Konzeptes, aus dem her-
vorgeht, welche Daten wir für die Beschreibung des
Reichtums brauchen.

Auch die Erfassung der sehr hohen Einkommen und
der Vermögensbestände wird verbessert. Für den Ersten
Armuts- und Reichtumsbericht wurde zum Beispiel für
die Ermittlung der hohen und sehr hohen Einkommen
erstmals die Einkommensteuerstatistik genutzt. Hierauf
kann aufgebaut werden und gegebenenfalls in Verbindung
mit anderen Datenquellen für die Zukunft ein breiteres
Fundament für eine Armuts- und Reichtumsberichterstat-
tung geschaffen werden.

Der Armuts- und Reichtumsbericht ist kein Selbst-
zweck. Wir wollen zum Beispiel der Frage nachgehen,
welche Gründe es für die Nichtinanspruchnahme von
Sozialhilfeleistungen gibt – Stichwort: verdeckte und
verschämte Armut – und wie groß das Ausmaß dieser
Nichtinanspruchnahme ist. Wir werden uns bemühen, das
aufzuhellen. Wir haben deswegen schon eine Vorstudie
erstellen lassen. Ich denke, dass gerade hier ein großer Be-
darf an Erkenntnissen und Verfahren besteht, die eine zu-
verlässige Bestimmung derjenigen Bevölkerungsgruppen
ermöglichen, die bisher ihren Rechtsanspruch auf Sozial-
hilfe nicht wahrnehmen. Das ist – wenn ich es richtig ver-
standen habe – auch ein Anliegen der Opposition. Sie soll-
ten uns also dabei unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Anforderungen an die Berichterstattung sind durch
den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht eigentlich noch
größer geworden. Das, was Herr Gilges gesagt hat, ist völ-
lig richtig: Die Nagelprobe wird beim zweiten Bericht
kommen; denn dann wollen wir – hoffentlich auf einer
besseren Datengrundlage – ein noch differenzierteres Bild
von Armut und Reichtum zeichnen.

Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung steht als
Teil eines politischen Berichtswesens auch in unmittelba-
rem Zusammenhang mit politischem Handeln. Auf der ei-
nen Seite sind die faktischen Lebensverhältnisse durch
die Folgen politischen Handelns geprägt. Auf der anderen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher

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Seite geben die im Rahmen einer Berichterstattung analy-
sierten Sachverhalte Anlass zu politischem Handeln. Aus
der Armuts- und Reichtumsberichterstattung sollen kon-
krete Handlungskonzepte abgeleitet werden. So wie wir
uns bisher auf der Grundlage der Länder- und Kommu-
nalberichte sowie der Berichte der Gewerkschaften und
der Wohlfahrtsverbände ein Bild von Armut und Reich-
tum zu machen versucht haben, so wollen wir in der
nächsten Legislaturperiode aufgrund unseres eigenen Ar-
muts- und Reichtumsberichts ein noch differenzierteres
Bild bekommen.

Der Erste Armuts- und Reichtumsbericht war das Er-
gebnis einer jahrelangen wissenschaftlichen Diskussion.
Natürlich konnten wir zu Beginn der Berichterstattung
nicht alle Fragen aufarbeiten. Deswegen erhebt der Be-
richt auch nicht den Anspruch, alle Aspekte von Armut
und Reichtum abschließend und erschöpfend zu beleuch-
ten. Aber er ist gemeinsam mit dem Nationalen Akti-
onsplan eine gute Grundlage, auf der wir aufbauen kön-
nen.

Mit der Vorlage des Nationalen Aktionsplans „Soziale
Integration“ im Juni 2001 hat die Bundesregierung den
Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Europä-
ischen Union umgesetzt, wonach die Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung
zu intensivieren ist. Dazu sind auf dem Gipfel von Nizza
im Dezember 2000 gemeinsame Ziele formuliert worden.
Die nationalen Aktionspläne liefern neben einer Analyse
der Situation in den Mitgliedstaaten die Bündelung der
Strategien und Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten in
den nächsten zwei Jahren in ihrer nationalen Politik um-
setzen wollen. Die offene Koordinierung – ein europä-
isches Instrument – bei der Bekämpfung von Armut und
sozialer Ausgrenzung bietet eine gute Grundlage für die
Diskussion auf der europäischen Ebene. Sie stärkt die Po-
litik zur Förderung des sozialen Zusammenhalts in der
EU. Gleichzeitig erhält auch die nationale Politik wich-
tige Impulse.

Gleichwohl brauchen wir genügend Flexibilität für die
regional und lokal unterschiedlichen Strategien zur
Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Wich-
tig ist, dass sich die Bewertung der nationalen Aktions-
pläne an nachvollziehbaren Kriterien orientiert und dass
ein realistisches Bild der sozialen Situation und der Refor-
men in den Mitgliedstaaten gezeichnet wird. Das heißt
konkret, dass auch der bereits erreichte Stand von sozialer
Integration und von Armutsvermeidung zu beachten ist.

Es sind aber auch die Rahmenbedingungen zu berück-
sichtigen, unter denen zum Beispiel in der Bundesrepu-
blik der nationale Aktionsplan erstellt wird. Wesentliche
Beiträge zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Ar-
mut leisten in Deutschland die Städte und Gemeinden,
aber auch die Bundesländer, und die scheinen hier nicht
ausreichend aufzutauchen. Das muss auf europäischer
Ebene noch verbessert werden, damit in Staaten, die, wie
die Bundesrepublik Deutschland, föderal konstruiert sind
und in denen die Städte und Gemeinden Wesentliches zur
Armutsbekämpfung leisten, nichts unter den Tisch fällt,
weil sonst ein völlig verzerrtes Bild dessen entsteht, was
zur Armutsbekämpfung geleistet wird. Wenn das nicht er-

reicht wird, dann besteht die Gefahr, dass die offene Ko-
ordinierung nicht die Akzeptanz europäischer Sozialpoli-
tik erhöht und das Lernen voneinander nicht gefördert
wird.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben die mate-
rielle Lage der Familien verbessert. Wir haben die Basis
für die Alterseinkommen auch für die künftigen Genera-
tionen durch das Altersvermögensgesetz erweitert. Wir
verstärken die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen
für Jugendliche und junge Erwachsene. Wir haben die
Chancengleichheit von behinderten Menschen gefördert.
Auf der Grundlage des vorliegenden Berichts, mit den
Vorarbeiten für den nächsten Bericht und dem Nationalen
Aktionsplan werden wir im Interesse der Betroffenen
diese Politik der aktiven Armutsbekämpfung und der
Bekämpfung der Ausgrenzung bestimmter Gruppen in
unserem Land weiter vorantreiben. Ich denke, dass die
Bundesrepublik damit auf einem guten Weg ist und sie mit
dem nächsten Armuts- und Reichtumsbericht ihre Politik
noch zielgenauer, noch stärker an den Adressaten und
Adressatinnen orientiert formulieren wird.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419601800
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Meckelburg von der CDU/CSU-Fraktion.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1419601900
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich als letz-
ter Redner hierzu spreche, möchte ich mit dem anfangen,
was Sie zur Einführung gesagt haben, Herr Gilges. Das
war, um in den Begriffen dieses Berichts zu bleiben, vom
Zeitverbrauch her sehr reich, aber inhaltlich sehr arm.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Frau Mascher, wenn ich das richtig mitbekommen
habe, dann haben Sie den größten Teil Ihrer Redezeit da-
rauf verwendet, darüber zu sprechen, wie man denn Be-
richterstattung über Armut und Reichtum macht, wie man
das verbessern kann und was man da noch alles tun kann.
Ich möchte im letzten Beitrag dieser Debatte gern darüber
reden, was getan werden muss, welche Konsequenzen zu
ziehen sind und welche Fakten der Bericht liefert, also
zum Inhalt des Berichts sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie haben den Bericht auf den Zeitraum bis 1998 be-
schränkt. Von den Koalitionsfraktionen wird damit der
Versuch unternommen, das als Berichterstattung sozusa-
gen über die Zeit der Regierung Kohl darzustellen. Des-
wegen will ich ein paar Punkte aus dem Bericht heraus-
greifen, die in der Öffentlichkeit und in Ihren Beiträgen
bisher keine Rolle gespielt haben.

Ich will darauf hinweisen, dass sich das durchschnittli-
che Haushaltsnettoeinkommen im Berichtszeitraum bis

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher

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1998 – das steht in dem Bericht; nehmen Sie das auch zur
Kenntnis – von 23 700 DM auf 61 800 DM erhöht hat.


(Konrad Gilges [SPD]: Das hat doch nichts zu sagen! Reine Statistik! Das muss man ins Verhältnis zur Kaufkraft stellen! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Auf einmal ist das reine Statistik!)


Ich will auf diese Tatsache hinweisen, weil das hier un-
tergeht. Es gibt Armut in unserem Land, aber – das muss
hier einmal gesagt werden – es gibt auch die Beteiligung
breiter Kreise der Bevölkerung an der Wohlstandsent-
wicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Im Bericht steht, dass die Verteilung der Einkommen im
langfristigen Trend tendenziell gleichmäßiger geworden ist.

In dem Bericht steht auch – das ist ebenfalls wichtig –,
dass nur 1,3 Prozent der über 65-Jährigen Sozialhilfe be-
ziehen. Das bedeutet, die Rentenreform, die wir in diesem
Land verabschiedet haben – wie übrigens alle großen so-
zialpolitischen Gesetzgebungsmaßnahmen –, hat insge-
samt dafür gesorgt, dass Altersarmut vermieden werden
kann. Ob das auch in Zukunft so bleibt, das ist die große
Frage, über die diskutiert werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Herr Meckelburg, sagen Sie mal etwas zum Anstieg der Zahl der Sozialhilfeempfänger während Ihrer Regierungszeit!)


In dem Bericht steht des Weiteren etwas über die Pfle-
geversicherung. Auch das ist etwas, was wir in den letz-
ten vier Jahren unserer Regierungszeit gemacht haben.
Mit der Pflegeversicherung ist erreicht worden – so der
Bericht –, dass die Menschen aus der Sozialhilfe heraus-
geführt werden konnten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommen sie wieder rein!)


Das ist wichtig für die Pflegebedürftigen. Auch das ist Er-
gebnis unserer Politik. Es steht in dem Bericht.


(Zuruf des Abg. Konrad Gilges [SPD])


– Weil es Sie immer besonders interessiert, Herr Gilges –
Sie hätten vorhin eine bessere Einführung geben können;
dann wäre es einfacher, über Inhalte zu reden –: In diesem
Bericht steht auch, dass sich die Situation hinsichtlich des
Immobilieneigentums verbessert hat. Da die Arbeitneh-
merhaushalte das sind, was Sie stets besonders interes-
siert, will ich Ihnen sagen: Gegenüber 31 Prozent im Jahr
1962 besitzen im Jahr 1998 51 Prozent der Arbeitneh-
merhaushalte Immobilien. Auch das sind Fakten, die in
diesem Bericht enthalten sind. Auch das muss einmal fest-
gehalten werden, bevor wir die Debatte so führen, als
gäbe es in Deutschland nur Arme und Reiche. Die große
Masse der Bevölkerung hat an der Wohlstandsentwick-
lung teilgenommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Konrad Gilges [SPD]: Die große Masse hat eben nicht teilgenommen! Das können Sie lesen!)


– Das ist nicht richtig. Herr Gilges. Sie sollten nicht so
tun, als legte der Bericht dar, dass in den Jahren, in denen
wir regiert haben, alles den Bach runtergegangen wäre.
Das Gegenteil ist der Fall.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das waren gute Jahre für Deutschland!)


Dennoch sage ich, wir haben Probleme und wir müs-
sen heute darüber reden, welche inhaltlichen Konsequen-
zen aus diesem Bericht zu ziehen sind, was Sie tun und
was wir wollen. Das ist die Politik, über die wir hier dis-
kutieren.


(Konrad Gilges [SPD]: Sie haben die Gesellschaft mehr gespalten! Die Reichen sind noch reicher und die Armen sind noch ärmer geworden!)


– Sie haben doch schon geredet.


(Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt!)


Vielleicht haben Sie es verpasst, etwas zum Inhalt zu sa-
gen.

Jetzt komme ich auf Ihre Regierungszeit zu sprechen,
Frau Deligöz und Herr Gilges. In der „Süddeutschen Zei-
tung“ vom 27. Juni 2001wird unter der Überschrift „Kin-
derarmut hat unter Rot-Grün zugenommen“


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


die stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Armuts-
konferenz Frau Biehn zitiert. Ich möchte das wörtlich
wiedergeben: „Die Situation benachteiligter Kinder hat
sich unter der rot-grünen Regierung eher verschlechtert.“
Wir reden jetzt über die Zeit nach 1998.

In diesem Zusammenhang will ich auch einmal erwäh-
nen, was Frau Deligöz – Sie haben eben auch gesprochen –
in der „Welt“ vom 27. Juni 2001 sagt: „Die bereits be-
schlossene Erhöhung des Kindergeldes auf 300 DM pro
Kind reicht in den unteren Einkommensgruppen nicht aus.“


(Lothar Mark [SPD]: Warum haben Sie nichts getan?)


Recht hat sie. Warum tun Sie nichts?


(Dirk Niebel [FDP]: Was Sie uns als Gold verkaufen wollen, ist nur Messing!)


Hören Sie zu, Herr Gilges, was die geschätzte Kollegin
Deligöz über die SPD sagt. Sie sagte, im Gegensatz zu den
Grünen habe die SPD bisher überhaupt kein Konzept. Das
ist das, was Sie über sich selber sagen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Peinlich!)


Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass die Politik,


(Dirk Niebel [FDP]: Wobei die Grünen auch kein Konzept haben, wenn man es genau nimmt!)


die Rot-Grün in den letzten drei Jahren gemacht hat, in
vielen Feldern gegenläufig zur Armutsbekämpfung ist.


(Konrad Gilges [SPD]: Nein! – Lothar Mark [SPD]: Was sind Ihre Konzepte?)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Wolfgang Meckelburg

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Sie belasten die Bürgerinnen und Bürger allesamt – das
trifft insbesondere die Sozialhilfeempfänger und die unte-
ren Einkommensbereiche – mit der Ökosteuer. Ein Stu-
fenplan mit von Jahr zu Jahr steigenden Belastungen, das
ist Ihre Politik.


(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt kommt etwas Wichtiges!)


Sie haben die originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft,
zigtausende Leute in die Sozialhilfe gebracht.


(Zuruf von der SPD: Originäre Arbeitslosenhilfe hat nichts mit Armut zu tun!)


Sie haben bei den Rentenversicherungsbeiträgen
gekürzt, nämlich da, wo es um die Arbeitslosenhilfebe-
zieher geht.


(Klaus Brandner [SPD]: Wir haben die Beiträge gesenkt, Herr Meckelburg!)


– Genau! Sie haben die Beiträge, die der Staat für Arbeits-
lose in die Rentenversicherung zahlt, gekürzt. Das bedeu-
tet nichts anderes, als Altersarmut vorzuprogrammieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Wir haben die Grundsicherung eingeführt! – Franz Thönnes [SPD]: Wer hat denn gegen die Grundsicherung gestimmt?)


Lassen Sie mich noch etwas zur Sozialhilfe sagen. Es
gibt eine Übergangsregelung für die Jahre 1997 bis 1999,
wonach die Sozialhilfeanpassung der Rentenanpassung
gleichgestellt ist. Die Regelung war zeitlich befristet. Sie
haben sie um zwei Jahre verlängert und Sie sind jetzt auf
dem Weg, sie um weitere zwei Jahre zu verlängern. Das
heißt, Sie schummeln sich durch die gesamte Legislatur-
periode hindurch, ohne die Sozialhilfe neu zu regeln. Das
ist Ihre Politik.

Eine Neuregelung wäre jedoch dringend notwendig.
Warum? – Weil die Sozialhilfeempfänger, wenn ihre Be-
züge an die Rentenanpassung gekoppelt sind, genau das
erleben, was auch die Rentner in den letzten Jahren erlebt
haben. Im Jahr 2000 hatten wir eine Inflationsrate von
1,9 Prozent und eine Anpassung der Regelsätze um
0,6 Prozent.


(Klaus Brandner [SPD]: Sie haben die Renten zehn Jahre lang gesenkt! Die Rentner haben weniger gekriegt!)


Sie reden über Armut und tun nichts dagegen im Hinblick
auf die Sozialhilfe. Es wäre dringend notwendig, zumin-
dest einen Ausgleich zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich etwas zur Beschäftigungspolitik sa-
gen. Auch in dem Bereich haben Sie versagt, wie man
feststellt, wenn man sich die Arbeitslosenzahlen betrach-
tet.


(Konrad Gilges [SPD]: Ihre Alternative?)


Bei Ihrer Regierungsübernahme sind Sie mit 3,8 Milli-
onen Arbeitslosen gestartet. Da stehen die Arbeitslosen-
zahlen zurzeit wieder. Auf dem Arbeitsmarkt tut sich
nichts, obwohl das dringend notwendig wäre. Dass mehr

Menschen einer Erwerbsarbeit nachgehen, ist die Voraus-
setzung für weniger Armut.


(Erika Lotz [SPD]: Job Aqtiv!)

Ich erspare es mir, über die weitere Senkung der Höhe

der Hinterbliebenenrenten – für viele Frauen ist damit Al-
tersarmut vorprogrammiert – zu sprechen und auf das
Kindergeld einzugehen. Stattdessen möchte ich etwas zu
unserer Alternative sagen.


(Konrad Gilges [SPD]: Ach was! – Franz Thönnes [SPD]: So ein Quatsch! – Klaus Brandner [SPD]: Sie wollten doch eine glaubwürdige Rede halten!)


– Dass Sie so reagieren, zeigt mir, dass ich bei Ihnen ei-
nen Nerv getroffen habe. Das ist viel wert: Sie sind bei der
Debatte über Armut ein bisschen wach geworden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Entschließungsan-

trag vorgelegt, mit dem sie dazu auffordert, Konsequen-
zen zu ziehen.


(Konrad Gilges [SPD]: Rabulistik ist das!)

Wir fordern Sie erstens auf, das Zehn-Punkte-Programm

zur Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft, das wir in
den Deutschen Bundestag eingebracht haben, umzusetzen.
Eine gesunde Wirtschaft schafft Arbeitsplätze und Arbeit
ist der beste Schutz gegen Armut. Darum muss es gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir fordern Sie zweitens auf, Familien so zu entlasten,

dass der Lebensunterhalt der Kinder nicht mehr durch So-
zialhilfe bestritten werden muss. Das eigentlich Er-
schreckende ist, dass 1,1 Millionen Kinder Sozialhilfe be-
ziehen. Dafür ist die Sozialhilfe – darüber sind wir einig –
eigentlich nicht da.


(Peter Dreßen [SPD]: Ihr Erbe! – Klaus Brandner [SPD]: Richtig! Während Ihrer Regierungszeit sind die Zahlen doch gestiegen!)


Ebenso ist Sozialhilfe nicht für Behinderte vorgesehen.

Nötig ist ein Konzept für eine Politik – wir haben Ih-
nen ein solches vorgelegt –, die dafür sorgt, dass Behin-
derte aufgrund eines Leistungsgesetzes des Bundes nicht
mehr unter die Sozialhilfe fallen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

dass eine Familienförderung auf den Weg gebracht wird,
die ein Familiengeld beinhaltet, weswegen Kinder und
damit deren Familien nicht mehr auf Sozialhilfe angewie-
sen sind. Lassen Sie uns über die Frage diskutieren, wie
wir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen
können, um so die betroffenen Menschen – zu klären ist
natürlich auch, ob sie arbeitsfähig und arbeitswillig sind –
leichter in Arbeit vermitteln zu können. Zunächst einmal
gilt es, dafür zu sorgen, dass Kinder, Familien und Behin-
derte nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sind.


(Lothar Mark [SPD]: Glauben Sie das, was Sie sagen?)


Ich möchte zum Abschluss noch etwas zu dem Be-
schäftigungspotenzial sagen. Die Darstellungen zu die-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Wolfgang Meckelburg

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sem Thema sind meistens negativ. Es geht nicht darum
– Herr Gysi, worüber reden Sie eigentlich? –, neue
Niedriglohnbereiche zu erfinden. Uns geht es darum, vor-
handene Niedriglohnbereiche über Kombilohnmodelle
oder über Zuschüsse zur Zahlung von Sozialver-
sicherungsbeiträgen attraktiver zu machen, um damit
Menschen zu einer Arbeit gerade im unteren Einkom-
mensbereich zu verhelfen. Es geht darum, dass mehr
Menschen für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419602000
Herr Kol-
lege Meckelburg, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Grehn von der PDS?


(Lothar Mark [SPD]: Die Redezeit ist doch vorbei!)



Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1419602100
Muss das sein?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419602200
Erlauben
Sie oder erlauben Sie nicht?


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1419602300
Wir klären das
im Ausschuss. Ich finde, das muss jetzt nicht mehr sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419602400
Dann
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1419602500
Es kommt nicht
so sehr darauf an, wie die Berichterstattung aussieht; wir
müssen vielmehr darüber diskutieren, wie die Politik aus-
sieht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)

Ich habe Ihnen deutlich gesagt, wo die Mängel der letz-

ten drei Jahre liegen und wie unsere Alternativen aussehen.

(Lothar Mark [SPD]: Von Alternativen habe ich nichts gehört!)

Es geht nicht darum, wie Daten verbessert werden kön-
nen. Das ist zwar wichtig, aber nicht das Hauptthema.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419602600
Bevor ich
die Aussprache schließe, habe ich noch eine Bemerkung
zu machen:

Frau Kollegin Deligöz, Sie haben auf einen Zwi-
schenruf des Kollegen Niebel Folgendes gesagt:

Herr Niebel, wenn Sie unbedingt reden wollen, dann
stellen Sie eine Frage, dann verlängert sich nämlich
meine Redezeit. Sonst halten Sie Ihre Schnauze.

Das entspricht nicht dem parlamentarischen Sprachge-
brauch. Ich rüge das.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Mund lassen wir uns nicht verbieten! – Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt aber in Bezug auf Herrn Niebel!)


– Herr Kollege Gilges, Sie machen es durch diesen Zuruf
nicht besser.


(Ilse Janz [SPD]: Herr Niebel, das empfindliche Seelchen!)


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen. Der Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6628, in Kennt-
nis des Ersten Armuts- und Reichtumsberichts, Drucksa-
che 14/5990, und des Nationalen Aktionsplans der Bun-
desregierung zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung, Drucksache 14/6134, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion
angenommen.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU zum Ersten Armuts- und Reichtumsbe-
richt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf
Drucksache 14/7145? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei
Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der
FDP-Fraktion abgelehnt.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/6628 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und So-
zialordnung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/6171 mit dem Titel „Kon-
sequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht zie-
hen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion bei Gegen-
stimmen der PDS-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Wolfgang Bosbach, Dr. Maria Böhmer, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölke-
rung vor Sexualverbrechen und anderen
Straftaten.
– Drucksache 14/6709 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Wolfgang Meckelburg

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Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1419602700
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen und
Wochen steht das Thema der inneren Sicherheit an erster
Stelle auf der politischen Tagesordnung. Der Kampf ge-
gen den Terrorismus hat Vorrang. Die Menschen sind
nach wie vor durch die Anschläge in New York und
Washington betroffen. Das merkt man in jeder politischen
Veranstaltung und das spürt man auch in Gesprächen im
kleinsten Kreis.

Dennoch bleiben andere Themen – auch im Bereich
der inneren Sicherheit – ebenfalls auf der politischen Ta-
gesordnung. Dazu gehört ganz gewiss der Kampf gegen
Gewaltverbrechen und sexuellen Missbrauch. Die Situa-
tion, vor der die Menschen, vor allen Dingen unsere Kin-
der, stehen, muss verbessert werden. In den vergangenen
zwei Jahren verging fast kein Monat, in dem wir nicht von
der Nachricht aufgeschreckt wurden, dass wieder ein
Kind vermisst wird. Wenige Tage später wurde diese
Nachricht dann zur furchtbaren Gewissheit, dass das Kind
Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Eine solche
Nachricht lässt niemanden unberührt.

Der Bundeskanzler hat vor der Sommerpause, als wie-
derum kurz hintereinander zwei Kinder als vermisst ge-
meldet wurden und sich herausstellte, dass sie einem
furchtbaren Verbrechen zum Opfer gefallen waren, in ei-
nem Anflug von Zorn die Forderung erhoben, dass solche
Gewaltverbrecher für immer hinter Schloss und Riegel
gehören. Dieser Appell verhallte aber. Wenige Tage spä-
ter haben die SPD-regierten Bundesländer im Bundesrat
eine Initiative zur nachträglichen Sicherungsverwahrung
– genau das, was der Bundeskanzler wollte – abgelehnt.


(Joachim Stünker [SPD]: Das hat er so nicht gesagt!)


– Sie haben sie abgelehnt. Vielleicht können Sie dazu in
Ihrem Debattenbeitrag gleich noch etwas sagen. Ich habe
es so verstanden.

Dieser Appell ist auch nicht bis zum Bundesjustizmi-
nisterium vorgedrungen. Dort herrscht Schweigen. Seit
drei Jahren warten wir auf einen vernünftigen Gesetzge-
bungsvorschlag im Bereich der inneren Sicherheit. Sie
machen Tabula rasa. Seitens der Bundesjustizministerin
hören wir nichts. Sie ist in den ganzen Debatten um den
Kampf für die innere Sicherheit ausgeschaltet. Sie ist
nicht zu hören.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Aber heute Morgen konnten Sie doch in der Zeitung etwas von ihr lesen!)


Es geht um eines der wichtigsten Themen der Rechtspoli-
tik, nämlich die innere Sicherheit. Sie ist zentraler Be-
standteil der Rechtspolitik.

Niemand soll sagen, wir hätten schon genug Gesetze.
Die alte Koalition hat in der letzten Legislaturperiode
ganz gewiss viele Gesetzgebungsvorlagen – gerade auf
strafrechtlichem Gebiet – erstellt und durchgebracht.


(Jörg van Essen [FDP]: Das waren ganz wesentliche Fortschritte!)


Das gilt zum Beispiel auch für das sechste Strafrechtsre-
formgesetz. Aber niemand ist deswegen aus der Ver-
pflichtung entlassen, darüber nachzudenken, ob wir als
Gesetzgeber angesichts der Terrorakte, aber auch – das ist
unser heutiges Thema – angesichts der Gewaltverbrechen
gegenüber den Menschen und insbesondere den Kindern
in der Bundesrepublik Deutschland alles getan haben.
Diese Frage müssen wir uns stellen und niemand darf die
Hände in den Schoß legen. Genau diesem Anliegen wid-
men wir uns mit unserem Gesetzentwurf, den wir schon
vor der Sommerpause eingebracht haben und heute in ers-
ter Lesung behandeln.

Wir schlagen eine Fülle von Maßnahmen vor. Zum
Ersten schlagen wir vor, die nachträgliche Sicherungsver-
wahrung anordnen zu können. Wir wollen zum Zweiten
dem Vorschlag des Bundesrates folgen und die Grundde-
likte im Sexualbereich, die im Augenblick noch in § 176
Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuches als Vergehen einge-
stuft sind, künftig als Verbrechen charakterisieren. Wir
wollen zum Dritten das Anbahnen von Kontakten, die in
der Regel dem sexuellen Missbrauch von Kindern dienen
sollen, strafrechtlich besser fassen können. Wir wollen
zum Vierten die Telefonüberwachung auf Straftaten des
sexuellen Missbrauchs von Kindern und auf die Vertei-
lung von pornographischen Schriften ausdehnen, die sich
mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern befassen.
Zum Fünften wollen wir die Möglichkeit schaffen, den
genetischen Fingerabdruck weiter verbreitet anzuwen-
den.

Zum ersten Punkt, der nachträglichen Anordnung
der Sicherungsverwahrung: Im Augenblick ist die Si-
cherungsverwahrung, also das Festhalten des Täters nach
Verbüßen seiner Straftat hinter Schloss und Riegel, nur
dann möglich, wenn der Richter sie in seinem Strafurteil
selbst ausgesprochen hat.


(Joachim Stünker [SPD]: Gott sei Dank!)


Nachträglich geht das im Augenblick noch nicht.


(Joachim Stünker [SPD]: Gut so!)


Die Gefährlichkeit des Täters muss sich also bis zum Be-
gehen der Straftat herausgestellt haben; dann ist die
nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich.

Wenn sich aber – was sehr oft der Fall ist – die Ge-
fährlichkeit des Täters erst im Strafvollzug herausstellt,


(Jörg van Essen [FDP]: Richtig!)


weil man erkennt, dass der Täter nicht therapiefähig oder
nicht zu einer Therapie bereit ist, oder weil die Sachver-
ständigen, die sich mit dem Täter während des Strafvoll-
zugs intensiv befassen, erkennen, dass es sich um einen
gefährlichen Wiederholungstäter handelt, dann haben wir
heute noch nicht die Möglichkeit, nachträglich eine Si-
cherungsverwahrung anzuordnen.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das muss schleunigst geändert werden! – Gegenruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]: Da sind wir vor!)


Manche Länder wie Baden-Württemberg und Bayern
wollen sich nun mit dem Polizeirecht behelfen. Ich halte
das für einen falschen Weg. Ich bin der Auffassung, dass

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 200119166


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eine so schwerwiegende Anordnung – es geht immerhin
um einen Freiheitsentzug – von einem Gericht ausgespro-
chen werden muss.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Joachim Stünker [SPD]: Einverstanden!)


Der Betroffene selbst muss die Möglichkeit haben, seine
Einwendungen in einem ordentlichen Gerichtsverfahren
geltend zu machen. Deshalb bin ich dafür, dass das Voll-
streckungsgericht diese Frage zu beurteilen hat. Aber wir
müssen nach meiner Auffassung die Möglichkeit schaf-
fen, die nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuord-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dies muss im materiellen Strafrecht und im Strafprozess-
recht, nicht aber im Polizeirecht verankert werden.

Der zweite Punkt ist die Neucharakterisierung von
Grundfällen des sexuellen Missbrauchs als Verbrechen.
Angesichts von jährlich 8 000 Fällen von sexuellem Miss-
brauch von Kindern – die Dunkelziffer ist noch weit
höher, weil sich dies alles in der Regel im Nahbereich der
Opfer abspielt – scheint mir diese Forderung des Bundes-
rates nicht unangemessen zu sein.

Wir selbst haben uns im Jahre 1996, als wir das sechs-
te Strafrechtsreformgesetz beraten haben, dafür entschie-
den, hier zwischen einem Vergehen im unteren Bereich
des sexuellen Missbrauchs und einem Verbrechen im
schwerer wiegenden Bereich des sexuellen Missbrauchs
zu differenzieren. Das hatten wir damals zusammen mit
den Kolleginnen und Kollegen von der FDP so beschlos-
sen. Aber ich glaube, dass wir uns getäuscht haben. Die
Rechtsprechung ist jedenfalls dieser Überlegung nicht ge-
folgt. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom
Mai 1998 festgestellt, dass das heutige Recht, das wir da-
mals geschaffen haben, milder als das vorausgegangene
Recht ist. Das wollten wir nicht. Wir wollten 1996 mit
dem Sechsten Strafrechtsreformgesetz die Straftatbe-
stände im Bereich der Sexualstraftaten verschärfen. Der
Bundesgerichtshof, die Rechtsprechung ist dem nicht ge-
folgt. Deswegen meinen wir dies korrigieren zu müssen;
aus diesem Grund legen wir einen entsprechenden
Gesetzentwurf vor.

Der dritte Punkt betrifft das Anbahnen von Kontakten,
die in der Regel zu Kindesmissbrauch führen. Im Augen-
blick ist das nicht in allen Fällen strafbar. Wir wollen ei-
nen neuen Straftatbestand einführen, damit dies in jedem
Falle strafrechtlich erfasst werden kann.


(Joachim Stünker [SPD]: Einverstanden!)


Der vierte Punkt bezieht sich auf die Ausdehnung der
Möglichkeit der Telefonüberwachung auf die Tatbe-
stände des sexuellen Missbrauchs und der Verbreitung
von Kinderpornographie. Wir wissen, dass die Telefon-
überwachung ein ganz exzellentes Mittel für die Strafver-
folgung ist. Damit das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
gewahrt bleibt, sieht der Gesetzgeber vor, dass nur die in
einem Katalog erfassten Straftaten diese Telefonüberwa-
chung rechtfertigen. Wir sind aber der Meinung, dass in

diesen Katalog auch die schwere Straftat des sexuellen
Missbrauchs und der Verteilung von pornographischen
Schriften, soweit sie den sexuellen Missbrauch von Kin-
dern betreffen, aufgenommen werden muss. Wir wollen
also die Möglichkeit der Anwendung dieses Mittels auch
auf diese Straftaten ausdehnen.

In einem fünften Punkt wollen wir die Möglichkeit der
Anwendung des genetischen Fingerabdrucks erweitern.
Auch von ihm wissen wir, dass er ein ganz exzellentes Be-
weismittel ist. Der genetische Fingerabdruck dient nicht
der Erfassung der gesamten Persönlichkeit des Betroffe-
nen.


(Joachim Stünker [SPD]: Das wollten Sie doch mal, Herr Geis!)


– Ich wollte niemals die Erfassung der gesamten Persön-
lichkeit.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Aber aller Männer!)


Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass dies ein exzel-
lentes Mittel ist, um die Identität einer Person fest-
zustellen. Es gibt dafür kein besseres Mittel.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das hat sich doch in der Vergangenheit gezeigt!)


Vielleicht ermöglicht der Fingerabdruck ähnliche Ergeb-
nisse, aber der genetische Fingerabdruck ist meiner Mei-
nung nach ein exzellentes Mittel der Identitätsfeststel-
lung.

Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf nicht die gene-
relle Ausweitung seiner Anwendung. Ich sage das, damit
Sie keine falschen Zungenschläge in die Debatte bringen.
Wir wollen dessen Nutzung in folgenden zwei Stufen aus-
weiten: Im Augenblick haben wir die Möglichkeit, den
genetischen Fingerabdruck nehmen zu können, wenn eine
schwere Straftat vorliegt und wenn der Richter zu dem Er-
gebnis kommt, dass es sich um einen gefährlichen
Wiederholungstäter handelt. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf wollen wir den Anlass auf jedwede Straftat
ausdehnen, weil sich herausgestellt hat, dass die mit klei-
neren Delikten beginnende Täterkarriere oft mit einer sol-
chen schweren Straftat endet.


(Joachim Stünker [SPD]: Woher weiß man das?)


Diese Prognose muss der Richter allerdings stellen kön-
nen. Das ist die zweite Voraussetzung. Das ist nicht in je-
dem Fall so; diesbezüglich stimme ich mit Ihnen voll
überein.

Wir wollen zum einen den Anlass für die Erhebung des
genetischen Fingerabdrucks herabstufen. Die Prognose,
ob dieser Täter ein schwerer Sexualverbrecher werden
oder andere schwere Straftaten begehen wird, machen wir
zur zweiten Voraussetzung für diese Erhebung.

Dies ist eine vernünftige Überlegung. Wir sollten da-
rüber diskutieren. Es wird andere Meinungen dazu geben,
aber dieser Gesetzentwurf ist eine Grundlage, um im
Ausschuss über diese Fragen der inneren Sicherheit, von

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Norbert Geis

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(D)



(A)



(B)


Sexualverbrechen und von schweren Straftaten in einer
vernünftigen Weise diskutieren zu können.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419602800
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1419602900
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich darf zunächst um Entschuldigung bitten.


(Ein Handy klingelt)


Ich bin etwas erkältet, sodass meine Stimme etwas ange-
griffen ist.


(Zuruf von der PDS: Das geht mir auch so!)


– Dann fühlen wir uns besonders verbunden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419603000
Entschul-
digung, Herr Dr. Pick. – Ich bitte darum, dass derjenige,
der das Handy dabei hat, es wenigstens abstellt.

Bitte schön, Sie haben das Wort.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1419603100
Herr Geis, Sie haben das Jus-
tizministerium besonders angesprochen. Es wird Sie be-
ruhigen, dass das Bundesministerium der Justiz und
insbesondere die Bundesministerin der Justiz im Rahmen
ihrer Zuständigkeiten alles das tun werden, was den
Komplex der Bekämpfung des Terrorismus und der Fra-
gen der inneren Sicherheit betrifft. Sie wissen, dass wir
eine Nachfolgeregelung für die so genannte Kronzeugen-
regelung vorschlagen werden und dass wir eine § 12 Fern-
meldeanlagengesetz entsprechende Regelung in die Straf-
prozessordnung und vor allen Dingen eine Regelung in
§ 129 b StGB aufnehmen werden. Wo wir zuständig sind,
werden wir natürlich tätig werden.


(Beifall bei der SPD)


Ich glaube, das ist allgemein bekannt.

Ich will mich nun besonders dem Schutz vor allem un-
serer Kinder vor Sexualverbrechen widmen. Der Bun-
desrat hat sich schon mehrfach – Herr Geis, Sie haben das
angesprochen – mit diesem Thema beschäftigt. Er hat et-
was sehr Richtiges beschlossen, nämlich dieses Thema
vom Grundsatz her anzugehen und nicht einzelne Be-
standteile zu behandeln. In der Tat muss man sich die
Frage stellen, wie wir den Schutz der Bevölkerung ohne
kurzatmigen Aktionismus sicherstellen können. Sie wis-
sen auch, dass es dazu einen Antrag der großen Koalitio-
nen in den Ländern gab, also auch unter konstruktiver
Mitwirkung der CDU. Das ist ein Beispiel für eine kon-
struktive und parteiübergreifende Zusammenarbeit, die
bei diesem ernsten und wichtigen Thema geboten ist.

Ich sage auch hier noch einmal ganz deutlich – ich habe
es schon im Bundesrat gesagt –: Wir sind für konstruktive
und sinnvolle Vorschläge jederzeit offen. Wenn ein ent-
sprechender Bedarf besteht, werden wir auch bei diesem
Thema unvoreingenommen über die Möglichkeiten reden
können. Das werden wir mit Sicherheit im Rechtsaus-
schuss tun. Wir werden darüber reden, wo mög-
licherweise noch Instrumente für Gerichte und Straf-
verfolgungsbehörden fehlen, um den Schutz der Bevöl-
kerung sicherzustellen. Deswegen sind wir auch im Ge-
spräch mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Bun-
desländern.

Wir wollen die Fragestellungen aber nicht darauf ver-
engen, welche Gesetzesverschärfungen denkbar sind.
Diese Frage hat nichts damit zu tun, was eigentlich erfor-
derlich ist. Deswegen erinnere ich Sie in diesem Zu-
sammenhang an die Entschließung des Bundesrates und
auch an den Beschluss der diesjährigen Justizminister-
konferenz. Dort wird zum Ausdruck gebracht, dass wir
über dieses Thema vertieft und grundsätzlich reden wer-
den.

Ihr Vorschlag, Herr Geis, geht leider einen anderen
Weg. Sie haben das Thema „Sicherungsverwahrung“
– ich setze diesen Begriff in Anführungszeichen – ange-
sprochen. Sie suchen Ihr Heil sozusagen als Zweitver-
werter eines Entwurfs, den der Bundesrat, so kann man
sagen, in den Papierkorb geworfen hat.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Mit einer falschen Mehrheit!)


Sie greifen hier einen Vorstoß auf, der im Bundesrat selbst
keine Mehrheit gefunden hat. Angesichts des Sprichworts
„Scheitern macht gescheiter“ muss ich sagen, dass dies
bei Ihnen nicht zutrifft.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Da müsste die CDU/CSU aber ganz klug sein!)


Sie haben uns einen Entwurf zur „nachträglichen
Sicherungsverwahrung“ vorgelegt. Herr Geis, ich halte
den Begriff „Sicherungsverwahrung“ für ausgesprochen
unglücklich und missverständlich. Es geht nämlich nicht
um die sichernde Sanktion aus Anlass einer Straftat – das
wäre in der Tat die Sicherungsverwahrung –, sondern es
geht um einen sichernden Gewahrsam zur Abwehr künf-
tiger Gefahren. Das ist der Hintergrund des Entwurfs.

Bei diesem Thema sind wir im Bereich der Gefahren-
abwehr, Herr Geis. Die Gefahrenabwehr ist aber nach der
bisherigen Praxis eine Domäne der Länder. Aus verfas-
sungsrechtlichen Gründen sagen wir, dass die Gefahren-
abwehr in der Gesetzgebungskompetenz der Länder und
nicht des Bundes liegt. Dieser Überzeugung waren auch
zwei Bundesländer, die Sie schon erwähnt haben und die
Ihnen nicht fern sind. Diese Länder haben entsprechende
Regelungen selber zum Teil schon getroffen, zum Teil be-
finden diese sich im Gesetzgebungsverfahren. Diese
Frage geht also in erster Linie die Länder an.

Deswegen verstehe ich auch folgende etwas kryptische
Begründung in Ihrem Antrag nicht: „... fällt sie aber nach
gefestigter Staatspraxis in die Kompetenz des Bundes.“
Es gibt weder eine Staatspraxis noch ist sie gar gefestigt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Norbert Geis

19168


(C)



(D)



(A)



(B)


Es ist eine Kompetenz, die Polizeicharakter hat und des-
wegen in die Zuständigkeit der Länder fällt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419603200
Herr Kol-
lege Pick, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Geis?

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1419603300
Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419603400
Bitte.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1419603500
Können Sie mir erklären,
Herr Staatssekretär, weshalb die Möglichkeit, die schon
jetzt gegeben ist – und zwar in § 66 des Strafgesetzbuches
und in der Strafprozessordnung –, mit dem Urteil die Si-
cherungsverwahrung auszusprechen – wir haben die ent-
sprechenden Fälle in den betreffenden Gesetzen geregelt
und sehen ein Gerichtsverfahren vor –, nicht auch bei der
nachträglichen Sicherungsverwahrung so gelten soll?


(Joachim Stünker [SPD]: Weil wir keine Tat haben! Das ist doch ganz einfach! Strafrecht müsste man können!)


D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1419603600
Ich glaube, Herr Geis, der große Un-
terschied liegt darin, dass bei der herkömmlichen Siche-
rungsverwahrung


(Joachim Stünker [SPD]: Bezug zur Tat!)


der unmittelbare Bezug zu einer bestimmten Straftat
besteht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Daran knüpft die Prognose an, die das erkennende Gericht
zu treffen hat.


(Joachim Stünker [SPD]: So ist es!)


Aber das, was Sie wollen, ist eine Prognose für die
Zukunft, die unabhängig von der Tat ist und nach der Ver-
büßung, nach dem Vollzug abgegeben werden soll. In-
sofern ist die Situation eine andere. Deshalb meine ich,
dass Sie darüber noch einmal nachdenken sollten. Sie sind
ein kluger Mensch und haben viel Sachverstand in Ihrer
Fraktion; deswegen wird Ihnen das vielleicht auch noch
klar werden.


(Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD] sowie der CDU/CSU und des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Ich möchte kurz noch etwas zur DNA-Analyse und zur
Telefonüberwachung sagen. Auch dazu enthält Ihr Ge-
setzentwurf nicht sehr viel Neues. Hinsichtlich der Ver-
besserung des Schutzes vor Straftaten besteht zwischen
uns kein Meinungsstreit. Wir sind auch in diesem Bereich
für eine sachliche Diskussion darüber, was die DNA-
Analyse zur Aufklärung und Verhütung schwerer Straf-
taten, gerade im Bereich der Sexualdelikte, beitragen
kann.

Wir sind aber der Meinung, dass die wiederholte Forde-
rung nach einer Absenkung der Eingriffsvoraussetzungen
für eine DNA-Analyse über das Ziel hinausschießt. Die
Arbeit der Ermittlungsbehörden und der Polizei hat doch
deutlich gemacht, dass die vorhandenen Instrumente zur ef-
fektiven Kriminalitätsbekämpfung im Bereich der DNA-
Analyse ausreichend sind; sie müssen nur genutzt werden.

Sie wissen auch, dass das Bundeszentralregister die
bisher angeforderten Auskünfte über die so genannten
Altfälle – es handelt sich dabei um fast 1 Million Da-
tensätze – mittlerweile den Staatsanwaltschaften mitge-
teilt hat. Sie sind noch in der Auswertung. Diese Aufgabe
ist erst noch zu leisten.

Bevor man sich mit einer Erweiterung der Möglich-
keiten der DNA-Analyse beschäftigt, sollte man erst ein-
mal die vorhandenen Möglichkeiten nutzen


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


und schauen, wie weit man damit kommt, um dann
gegebenenfalls Verschärfungen ins Auge zu fassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


In Ihrem Antrag fehlt auch die wissenschaftliche Be-
gründung, Herr Geis. Sie waren, wie ich gelesen habe, bei
der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden und ha-
ben sich erkundigt. Sie haben auf eine Studie dieses Insti-
tuts verwiesen. Wir sind der Auffassung, dass diese Stu-
die nicht zu dem Schluss kommt, dass besondere
Straftaten geringerer und mittlerer Qualität zu einer ent-
sprechenden Karriere führen. Aber über diese Frage wer-
den wir noch zu sprechen haben.

Ein letzter Satz zur Telefonüberwachung. Wir sehen
keinen Anlass, sie zu erweitern. Hier geht es um einen
ganz wichtigen grundgesetzlich geschützten Bereich. Wir
sollten bei der Frage, die Möglichkeiten der Telefon-
überwachung auszuweiten, sehr bedacht sein. In diesem
Zusammenhang warten wir auf eine Expertise des Max-
Planck-Instituts in Freiburg als Grundlage für die Prü-
fung, ob man das vorhandene Instrumentarium erweitern
soll. Ich denke, wir sollten die Ergebnisse dieser Studie
abwarten und dann in Ruhe und Gelassenheit über mögli-
che Konsequenzen nachdenken.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Alfred Hartenbach [SPD]: Mit ruhiger Hand, Herr Staatssekretär!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419603700
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jörg van Essen
von der FDP-Fraktion.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1419603800
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Staatssekretär Pick hat gerade et-
was Richtiges gesagt: Wir sind in der Verpflichtung, alles
das, was wir in der Vergangenheit möglicherweise schon
einmal geprüft haben, was wir vielleicht aus diesen oder
jenen guten Gründen abgelehnt haben, ständig zu über-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick

19169


(C)



(D)



(A)



(B)


prüfen, und zwar insbesondere dann, wenn es um Kinder
geht. Ich glaube, jeder stellt sich, wenn Berichte auftau-
chen, dass ein Kinder verschwunden ist, als Gesetzgeber
die Frage, ob wir alles richtig gemacht haben oder ob man
dieses oder jenes nicht verbessern könnte. Genauso ver-
stehe ich den Gesetzentwurf, der von der CDU/CSU-
Fraktion hier heute eingebracht worden ist, nämlich als ei-
nen Anstoß zum Nachdenken. Wir als FDP greifen ihn auf
und prüfen ihn ganz selbstverständlich – wie das die Kin-
der von uns erwarten können.

Einige der Gedanken, die die CDU/CSU in den Ge-
setzgebungsgang eingebracht hat, sind hier ja schon vor-
getragen worden. Wir haben uns damit beschäftigt und
sagen als FDP ein klares Ja zur nachträglichen Siche-
rungsverwahrung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Staatssekretär Pick hat es schon angesprochen: Ich bin
sehr froh, dass mein Parteifreund, der baden-württember-
gische Justizminister Goll, Vorreiter gewesen ist und
dafür gesorgt hat, dass dies auf polizeirechtlicher Grund-
lage wenigstens in Baden-Württemberg möglich ist. Das
war ein guter, ein richtiger Schritt.

Es war deshalb ein guter und richtiger Schritt, weil wir
alle wissen, dass die Sicherungsverwahrung sehr vorsich-
tig angeordnet wird. Diejenigen, die keine Spezialisten
sind, wissen nicht – das können sie auch gar nicht –, dass
das wahre „lebenslänglich“ in aller Regel nur dann aus-
gesprochen wird, wenn jemand in Sicherungsverwahrung
kommt. Es gibt Fälle, dass jemand 50 Jahre in Siche-
rungsverwahrung sitzt, auch weiterhin gefährlich ist und
deshalb in Sicherungsverwahrung bleiben muss. Deswe-
gen sind Gerichte zurückhaltend.

Ich meine, es ist wirklich überlegenswert, dass es dann,
wenn sich in der Haft und damit auch in Bezug auf die Tat,
die begangen worden ist, neue Gesichtspunkte zeigen, die
deutlich machen, dass ein Täter brandgefährlich ist, und
wenn jeder, der mit ihm befasst ist, die Garantie aus-
spricht, dass er nach der Haftentlassung sofort wieder
schwerste Straftaten begehen wird, beispielsweise ein
Kind umbringen wird, möglich sein muss, in einem
rechtsstaatlichen Verfahren eine Sicherungsverwahrung
nachträglich anzuordnen.


(Joachim Stünker [SPD]: Das kann keiner sagen! – Alfred Hartenbach [SPD]: Behandeln Sie das bitte etwas korrekter!)


– Die Entwicklung kann keiner mit Sicherheit voraussa-
gen. Aber es gibt Anzeichen dafür, die das nahe legen. Sie
alle wissen, dass Praktiker das in den Anhörungen vorge-
tragen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Populismus ist das, was Sie da verbreiten!)


Ich persönlich glaube, dass man das im Polizeirecht re-
geln kann, bin aber der Meinung, dass es in das Strafrecht
und in das Strafprozessrecht hineingehört. Deshalb unter-
stützen wir diese Anregung der CDU/CSU-Fraktion.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie sollten seriöser mit dem Thema umgehen!)


Bei einer anderen Überlegung bin ich sehr zurückhal-
tend. Wir haben uns damals, als wir es beraten haben, sehr
viele Gedanken darüber gemacht – Herr Geis hat das
schon angesprochen –, ob wir den sexuellen Missbrauch
von Kindern immer zum Verbrechen hoch stufen. Wir
haben uns nach guten Beratungen dagegen entschieden
und haben das so gestaltet, wie es jetzt im Gesetzbuch
steht.

Ich habe lange überlegt und bin zu der Auffassung ge-
kommen, dass es auch weiterhin richtig ist; denn die Ge-
richte haben – ich glaube, dass das wichtig ist, um Strafta-
ten zu verhindern – die Strafbarkeit des sexuellen
Missbrauchs von Kindern sehr früh beginnen lassen. Es
gibt ein Beispiel, das in der Kommentarliteratur immer
wieder zu lesen ist: der Zungenkuss. Schon der Zungen-
kuss gilt als sexueller Missbrauch eines Kindes. Das ist
gut und richtig so. Wenn wir das zum Verbrechen hoch-
stufen, fürchte ich, wird die Erheblichkeitsgrenze verla-
gert. Das wäre nicht das Richtige zum Schutz der Kinder.
Deshalb ist es meine Einschätzung zu Beginn der Bera-
tungen, dass wir es bei der jetzigen Regelung belassen
sollten.


(Beifall bei der FDP)


Trotzdem: Wir sind auch dabei in der Verpflichtung,
immer wieder zu prüfen. Deshalb werden wir uns das in
den Beratungen sicherlich genau anschauen müssen.

Wie auch immer wir es rechtlich gestalten, eines ist
klar: Jeder sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein Ver-
brechen an diesen Kindern. Daran sollte kein Zweifel be-
stehen.

Was die Ausweitung der Möglichkeiten des geneti-
schen Fingerabdrucks anbelangt, stimme ich der Bun-
desregierung zu. Es ärgert mich unglaublich, dass es ei-
nige Länder gibt – Baden-Württemberg ist hier wieder
vorbildlich –, denen es ganz offensichtlich gelungen ist,
die bestehenden Möglichkeiten umzusetzen, während
beispielsweise hier in Berlin, wo ein rot-grüner Senat re-
giert,


(Lachen bei der SPD)


mehr als 2 000 Fälle nicht bearbeitet worden sind. Das
darf nicht so sein. Das ist wirklich ein schlimmer Skandal.
In anderen Ländern gelingt dies besser, und zwar unab-
hängig von der jeweiligen Regierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Was machen Sie denn in Hamburg in Ihrem neuen Senat? Das war bis jetzt eine so gute Rede! Das war schwach!)


Das Problem des sexuellen Missbrauchs von Kindern
hat es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie Sie es
gerade tun.


(Joachim Stünker [SPD]: Ein bisschen Wahlkampf muss immer sein!)


Deshalb sollten wir abwarten, bis wir in allen Ländern
zu einer solchen Registrierung kommen. Wir sollten sorg-
fältig und vorurteilsfrei prüfen, welcher neue Schritt gege-
benenfalls zu gehen ist. Es kann nicht sein, dass wir erheb-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Jörg van Essen

19170


(C)



(D)



(A)



(B)


liche Vollzugsdefizite haben und gleichzeitig neue Gesetze
beschließen, bevor die bestehenden umgesetzt sind.

Sie sehen also: Die FDP-Bundestagsfraktion geht offen
in diese Beratungen. Ich sage es noch einmal: Die Kinder,
die Opfer von Sexualstraftaten werden, haben dies ver-
dient. Über einen Punkt, den die CDU/CSU nicht ange-
sprochen hat, werden wir ebenfalls diskutieren müssen:
über die Frage des nachträglichen Schutzes von Opfern.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Wir sind dabei!)


Es gibt eine Rehabilitierung von Strafgefangenen. Kinder,
die Opfer von Sexualstraftaten geworden sind, haben die-
sen Anspruch nicht. Das kann so nicht bleiben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Hier zu klatschen wäre des Guten zu viel!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419603900
Das Wort
hat nun der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die
Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419604000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Schutz
der Opfer von Sexualverbrechen hat für die Koalition
Toppriorität. In der Abwägung mit den Rechten des Täters
genießt für uns der Schutz vor sexuell motivierten Ge-
waltdelikten immer Vorrang.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist ja ganz was Neues! Seit wann?)


Denn diese Taten zählen zu den schlimmsten Straftaten
überhaupt. Sie sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie ver-
langen nicht nur effektive Ahndung, sondern auch jede
Anstrengung, um solche Verbrechen für die Zukunft mög-
lichst auszuschließen.

Doch bei aller gebotenen Entschlossenheit muss ge-
rade im Sexualstrafrecht wie bei allen sensiblen Geset-
zesmaterien mit Behutsamkeit agiert werden. Neue Ge-
setze helfen nur, wenn die Maßnahmen tatsächlich gut
durchdacht und ausgereift sind. Ist dies nicht der Fall
– wie bei dem einen oder anderen Schnellschuss im Ent-
wurf der Union –, so besteht die Gefahr, dass am Ende
mehr Schaden angerichtet wird: Schaden nicht nur für den
Rechtsstaat, sondern auch für die Opfer selbst, um deren
besseren Schutz es uns eigentlich geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, in
gewisser Weise ist Ihre heutige Vorlage gar kein richtiger
Schnellschuss mehr. Staatssekretär Dr. Pick hat es ange-
sprochen: Einige Vorschläge, wie die Verhängung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung, wurden bereits im
Bundesrat erörtert und haben auch dort keine Mehrheit
gefunden.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Schlimm genug!)


Das, was uns heute beschäftigt, ist vielmehr eine ange-
staubte Drucksache, die offenbar schon seit Juli dieses
Jahres auf die Schlussphase des Berliner Wahlkampfes
gewartet hat.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: „Just in time“ sagt man dazu!)


Herr van Essen, ich fand, Ihre Töne gerade klangen ein
bisschen so, als hätte die neue rot-grüne Landesregierung
in Berlin, die erst seit wenigen Monaten im Amt ist, eine
besondere Verantwortung für das, was auf dem Gebiet der
DNA-Analyse gemacht wurde. Das kann man nun wirk-
lich nicht behaupten. Das sollten wir bei dieser Debatte
über ein ernstes Thema außen vor lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion begrüßt die Entschließung des Bun-
desrates, der sich im Hinblick auf diese Straftaten für eine
konsequente Anwendung der geltenden Rechtslage aus-
gesprochen hat. Dies ist aber auch ein Appell an die Län-
der selbst, und zwar an alle Länder. Denn bei der DNA-
Datei, beim so genannten genetischen Fingerabdruck,
werden derzeit die bestehenden Möglichkeiten von den
Ländern noch lange nicht genutzt. Angesichts dessen,
dass wir erst circa 130 000 Täter registriert haben, obwohl
es nach geltendem Recht rund 800 000 Täter sein könn-
ten, ist festzustellen: Dies ist sicher noch keine konse-
quente Anwendung der geltenden Rechtslage.

Wir nehmen den Bundesrat dabei beim Wort. Die Län-
der haben versprochen, ihre Anstrengungen zum Aufbau
der im Gesetz bereits vorgesehenen Gendateien zu verstär-
ken. Das wäre auch der richtige Weg. Wir brauchen dann
keine Ausweitung der gesetzlichen Grundlagen für die Er-
fassung des genetischen Fingerabdrucks. Diese würde
wohl auch in Karlsruhe kaum Bestand haben. Das Bundes-
verfassungsgericht hat doch die Rechtmäßigkeit der gelten-
den Rechtslage gerade mit den engen rechtlichen Voraus-
setzungen begründet. Nur unter dieser Rücksicht ist
nämlich die Verhältnismäßigkeit gewahrt. Der Verzicht auf
das Vorliegen einer erheblichen Straftat als Erfordernis
hierfür, wie ihn die CDU/CSU vorschlägt, wäre demnach
mit aller Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, es ist manchmal schwer, an-
gesichts solch abscheulicher Verbrechen die Fassung zu
bewahren. Ich habe deshalb Verständnis für all diejenigen,
denen unter dem Eindruck dieser Taten die Emotionen
durchgehen. Man muss trotzdem immer die richtigen Fra-
gen stellen und kommt nicht herum, sich auch einmal die
Fakten vor Augen zu führen. Diese lauten, ohne durch ihre
Nennung irgendetwas verharmlosen zu wollen, denn jede
Tat ist einfach eine Tat zu viel: Fast alle Sexualstraftaten,
bei denen ein Kind getötet wurde, wurden bislang aufge-
klärt. Das ist sehr wichtig und sehr gut. Die Anzahl der Se-
xualmorde war trotz des zurzeit herrschenden gegen-
teiligen öffentlichen Eindrucks in den 70er-Jahren mehr
als doppelt so hoch wie heute. Man hat damals nur nicht
so umfangreich berichtet. Wir haben deshalb subjektiv ei-
nen etwas anderen Eindruck. Das soll nichts verharmlo-
sen, weil jede dieser Taten ein dramatisches Verbrechen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Jörg van Essen

19171


(C)



(D)



(A)



(B)


darstellt. Wir müssen alles tun, um solche zu verhindern.
Wir sollten uns bloß selber die Realität vor Augen halten,
bevor wir die Auffassung vertreten, diese Verbrechen hät-
ten in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Dem
ist Gott sei Dank nicht so.

Die Koalition wird gleichwohl im Bereich dieser De-
likte jedwede sinnvolle Weiterentwicklung der geltenden
Rechtslage sorgfältig prüfen. Wir haben beispielsweise
bereits die Telefonüberwachung in unsere Überlegungen
einbezogen. Hier werden wir aber nicht scheibchenweise
die Gesetze reformieren, sondern wollen eine Rundumer-
neuerung der gesetzlichen Regelungen zur Telefonüber-
wachung vornehmen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Seit drei Jahren!)


Gleiches gilt auch für das materielle Strafrecht.
Selbstverständlich werden wir die Detailvorschläge der
Opposition in den Ausschüssen gründlich beraten. Ich
meine zum Beispiel, wir sollten ernsthaft prüfen, ob nicht
schon der Versuch, Kinder für sexuelle Handlungen zu
vermitteln, unter Strafe gestellt wird. Wahrscheinlich wer-
den wir das dann auch festschreiben. Es ist natürlich ein
Skandal, dass im Internet über Telefondienste sexuelle
Handlungen von Kindern angeboten werden, wir aber
nicht zugreifen können, ohne dass es zuvor tatsächlich zu
einer Vermittlung gekommen ist. Das ist absurd; diesen
Leuten muss man frühzeitig das Handwerk legen. Da-
rüber besteht, wie ich glaube, im Hause Einigkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS)


Im Übrigen gilt aber, dass wir zur Bekämpfung von Se-
xualstraftaten ein Gesamtkonzept zur Strafrahmen-
harmonisierung aufstellen müssen. Der ehrenwerte Ver-
such, mit dem sechsten Strafrechtsreformgesetz den
Delikten gegen die Person stärkeres Gewicht als Delikten
gegen Vermögenswerte zuzumessen, ist ja auf halbem
Wege stecken geblieben. Wir brauchen ein schlüssiges
Gesamtkonzept, das gerade auch im Bereich der Sexual-
delikte den Interessen der Opfer gerecht wird.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann bringen Sie halt eins!)


Dies ist allerdings, sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen von der Opposition, bei Ihren Vorschlägen zum
Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch nicht im-
mer der Fall.

Die von Ihnen vorgeschlagene Strafrahmenanhe-
bung des Grundtatbestandes in den §§ 176 und 176 a führt
letztlich dazu, dass schwere Begehensformen nicht mehr
als solche benannt werden. Damit wird aber den Opfern
gerade die Genugtuung genommen, dass die an ihnen be-
gangenen Taten letztlich als schwer eingestuft werden.
Das ist ein falsches Signal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn Sie es aus ideologischen Gründen nicht wahr-
haben wollen – die Anerkennung eines Verbrechens durch

das Gericht als schweres Unrecht ist für die Opfer
manchmal wichtiger als das konkrete Strafmaß.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir wollen es ja ändern!)


Warum wollen Sie diese Taten nicht mehr als das be-
zeichnen, was sie sind?

Ihr Vorschlag, die in § 176 Strafgesetzbuch genannten
Vergehen zum Verbrechenstatbestand heraufzustufen,
würde im Übrigen dazu führen, dass die unbürokratischen
Einstellungsmöglichkeiten nach dem Opportunitätsprin-
zip bei geringer Schuld gemäß § 153 Strafprozessordnung
wegfallen. Herr van Essen hat gerade darauf hingewiesen,
dass wir bei den in § 176 genannten Vergehen zu Recht
die Schwelle der Erheblichkeit sehr weit unten ansetzen.

Das ist vernünftig, weil wir hier sehr frühzeitig ein-
greifen können müssen. Aber wir müssen dann auch se-
hen, welche Konstellationen dieses Gesetz trifft und wo
wir diese Einstellungsmöglichkeiten brauchen. Denn es
kann doch nicht sein, dass der einverständliche Zungen-
kuss eines Vierzehnjährigen mit seiner dreizehneinhalb-
jährigen Freundin dazu führt, dass das Gericht hier ver-
handeln muss und eine Jugendstrafe verhängen soll. Es
wäre doch eine dramatische Verirrung, wenn der Gesetz-
geber diesen Weg beschreiten würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das fällt unter die Schwelle!)


Auch im Bereich pornographischer Schriften müssen
Strafrahmenerhöhungen immer berücksichtigen, dass im
Einzelfall schnell einmal der Bagatellbereich berührt sein
kann. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn eine sol-
che Schrift einmal unsorgfältig aufbewahrt worden ist.
Hier darf nicht gleich ein übertrieben hohes Strafmaß dem
Richter jeden Spielraum nehmen.

Meine Damen und Herren, alle rechtlichen Möglich-
keiten auszuschöpfen, um Sexualstraftaten rechtzeitig
vorzubeugen, ist eine anspruchsvolle Herausforderung.
Der Bundesrat hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies
nur im Einklang mit unserer Verfassung geschehen kann.
Aus eben diesem Grunde hat der Bundesrat Ihren Vor-
schlag zur nachträglichen Sicherungsverwahrung
nicht akzeptiert.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Mit knapper Mehrheit!)


Denn in Ihrer Lösung missachten Sie elementare Verfas-
sungsgrundsätze wie das Verbot der Doppelbestrafung.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist doch dummes Zeug!)


Herr Staatssekretär Pick hat dies heute und auch in den
Beratungen im Bundesrat erläutert. Übrigens sehe ich
auch das verfassungsrechtlich gebotene Ziel der Resozia-
lisierung beeinträchtigt. Denn der Verurteilte weiß
während seiner Haftzeit überhaupt nicht mehr, für wie
lange er inhaftiert sein wird, weil eine spätere Entschei-
dung über die Sicherungsverwahrung wie ein Damokles-
schwert über ihm schwebt.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Volker Beck (Köln)


19172


(C)



(D)



(A)



(B)


Im Jahre 1998 ist das Gesetz zur Bekämpfung von Se-
xualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten in Kraft
getreten. Dieses Gesetz weitet nicht nur den Strafrahmen
bei Sexualstraftaten völlig zu Recht deutlich aus, sondern
es senkt auch die Anforderungen an die Anordnung von
Sicherungsverwahrung drastisch ab.

Die Opferorganisation Weißer Ring, die in der Vergan-
genheit nun wahrlich nicht dadurch aufgefallen ist, dass
sie mit Forderungen nach einem schärferen Vorgehen
gegen sexuellen Missbrauch besonders zurückhaltend ge-
wesen ist, hat hier Zurückhaltung angemahnt. Der Ge-
setzgeber solle erst einmal abwarten, ob sich die verän-
derte Rechtslage in der Praxis bewährt. Im Prinzip teile
ich diese Auffassung.

Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber hat die
Länder 1998 auch dazu aufgefordert, für eine bessere
Ausbildung von qualifizierten Gutachtern und bis zum
Jahre 2003 für mehr Therapieplätze zu sorgen. Ich finde
diese Zeitspanne etwas zu großzügig und würde mich
freuen, wenn die Länder hier etwas zügiger zu Potte kom-
men würden, als der Gesetzgeber es ihnen aufgegeben
hat.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419604100
Herr Kollege Beck,
kommen Sie bitte zum Ende.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419604200

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Der beste
Opferschutz ist immer noch ein erfolgreich resozialisier-
ter und gegebenenfalls therapierter Straftäter. Ich denke,
diese Einsicht sollten wir uns alle bei dieser Diskussion
ins Stammbuch schreiben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419604300
Für die Fraktion der
PDS spricht jetzt die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1419604400
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sexualstraftaten gehören zu
den abscheulichsten Straftaten. Das gilt besonders dann,
wenn Kinder die Opfer sind. Oft fehlen einem angesichts
der physischen und psychischen Qualen, die diese Kinder
erleiden müssen, die Worte. Im schlimmsten Fall verlie-
ren sie sogar ihr Leben. Zu diesem Martyrium der Opfer
kommt noch das Leid der betroffenen Eltern hinzu.

Deshalb stoßen Sexualstraftaten in der Öffentlichkeit
verständlicherweise auf große Empörung. Zu Recht wird
die Forderung nach konsequenter Bestrafung der Täter so-
wie nach einem wirksamen Schutz vor künftigen Verbre-
chen erhoben. Deshalb interessiert mich jeder sachge-
rechte Vorschlag; und zwar unabhängig davon, von
welcher Fraktion er gemacht wird.

Die gerade in jüngerer Vergangenheit geschehenen
grauenhaften Sexualmorde an Mädchen und Jungen kon-

frontieren uns als Gesetzgeber mit dem Wunsch vieler
Bürgerinnen und Bürger nach wirksameren Gesetzen. Da-
her müssen wir sehr ernsthaft prüfen, ob alle uns zu Ge-
bote stehenden rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft
wurden. Denn das zu schützende Rechtsgut ist besonders
kostbar und obendrein sehr verletzlich und hilflos.


(Beifall bei der PDS)


Wir haben aber die unpopuläre Verpflichtung, jeden
einzelnen Vorschlag streng rechtsstaatlich zu prüfen; denn
die Einschnitte in die Persönlichkeitsrechte der Straftäter
sind meist tief und nachhaltig.

Zunächst zur nachträglichen Anordnung der Siche-
rungsverwahrung. Sie gilt seit ihrer Einführung im
Jahre 1933 als kriminalpolitisch umstrittenste Maßregel,
weil sie am einschneidendsten ist. Die verfassungs-
rechtlich gebotene Abwägung zwischen der persönlichen
Freiheit des betroffenen Inhaftierten und dem Schutz des
Einzelnen bzw. der Gemeinschaft vor gefährlichen
Straftätern ist dabei äußerst schwierig. Unter dem Ge-
sichtspunkt eines tatbezogenen Strafrechts ist die
Sicherungsverwahrung, vor allem die nachträgliche Si-
cherungsverwahrung, eine sehr problematische Maß-
nahme.

Da der Gesetzentwurf dazu keine Aussagen enthält,
würden mich vor allem auch die empirischen Daten und
Erkenntnisse interessieren, die eine nachträgliche Siche-
rungsverwahrung notwendig machen. Auch ist aus meiner
Sicht zu fragen: Genügen die in der Begründung genann-
ten Bewertungskriterien zur Feststellung der allgemeinen
Gefährlichkeit? Ist das jetzt vorgeschlagene Verfahren vor
dem Vollstreckungsgericht angesichts dieser drastischen
Maßnahme tatsächlich ausreichend? Über diese Fragen,
aber auch über die Gefahr der möglichen Zurückdrängung
therapeutischer Maßnahmen zugunsten der Sicherungs-
verwahrung als der vermeintlich leichteren Lösung müs-
sen wir deshalb intensiv diskutieren.

Nun zur Verschärfung des Straftatbestandes des se-
xuellen Missbrauchs von Kindern. Bei aller Notwendig-
keit, solche Straftaten konsequent zu verfolgen und zu be-
strafen, darf die Möglichkeit eines differenzierten
Strafausspruchs entsprechend der konkreten Tat und
Schuldschwere nicht eingeebnet werden. Höhere Straf-
rahmen schrecken erfahrungsgemäß in aller Regel nicht
ab und verhindern keine Verbrechen. Die subjektive
Wahrscheinlichkeit, entdeckt und zügig verurteilt zu wer-
den, ist dagegen verhaltensrelevant.

Die Ergänzung des § 176 StGB um einen neuen Tatbe-
stand scheint mir dagegen durchaus überlegenswert zu
sein. Die strafrechtlich wirksamere Erfassung der Anbah-
nung von Kontakten, die dem sexuellen Missbrauch von
Kindern dienen, ist dabei nicht von der Hand zu weisen.
Es ist wichtig, dass Schlupflöcher der Kontaktanbahnung,
zum Beispiel über moderne Kommunikationstechniken,
geschlossen werden, die von solchen Personenkreisen lei-
der zunehmend genutzt werden.

Auch bei der DNA-Analyse habe ich ernsthafte Be-
denken. Hier wird eine sehr weite Herabsetzung für die
Durchführung der DNA-Untersuchung angestrebt. Die
Normklarheit für die Anwendung der vorgeschlagenen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Volker Beck (Köln)


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Regelung erscheint mir fraglich. Auch darüber müssen
wir im Ausschuss reden.

Damit bin ich im Grunde wieder bei meiner Eingangs-
bemerkung. Ich habe eine Reihe von Fragen zu diesen
Vorschlägen. Da ich annehme, dass es nicht mir allein so
geht – das hat auch die Debatte heute erbracht –, und ich
das Anliegen des Gesetzentwurfs ernst nehme, möchte ich
eine Expertenanhörung anregen. Dies kann uns helfen,
auch darüber hinausgehende gesetzgeberische Maßnah-
men zur Verhinderung von Sexualstraftaten zu finden.
Denn ich halte im Rahmen unserer Zuständigkeit die Mit-
tel des Strafrechts – von einigen Ausnahmen abgesehen –
im Großen und Ganzen für ausgeschöpft.

Erwiesenermaßen sind die Täter nicht selten selbst Op-
fer früheren Missbrauchs, Opfer von Gewalt und sozialer
Vernachlässigung. Das soll absolut nichts entschuldigen.
Aber diese Feststellung eröffnet uns einen Zugang zu den
Hauptursachen von Sexualdelikten.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Joachim Stünker [SPD])


Daher sind mir auch Konzepte in Zusammenarbeit mit
den Ländern zur Verhinderung der erstmaligen Begehung
dieser Straftaten sehr wichtig. Das heißt, Auffälligkeiten
bei Kindern und Jugendlichen stärker nachzugehen, die
Hilfsangebote für gewaltgefährdete Minderjährige zu ver-
bessern und über präventive Hilfs- und Beratungsange-
bote – gegebenenfalls zunächst anonym – für Personen
nachzudenken, die auf diesem Gebiet bei sich Probleme
entdecken, aber noch nicht straffällig geworden sind.

Danke.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419604500
Jetzt spricht der Kol-
lege Joachim Stünker für die Fraktion der SPD.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1419604600
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind uns darüber ei-
nig – das ist von allen Seiten gesagt worden; ich denke,
auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in unse-
rem Land stimmt darin mit uns überein –, dass Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen, ins-
besondere der sexuelle Missbrauch von Kindern und
Jugendlichen, zu den abscheulichsten und verachtungs-
würdigsten Straftaten überhaupt gehören. Das ist gar
keine Frage.

Ich darf von mir sagen, dass ich bei diesem Themen-
bereich aus eigener Anschauung nachhaltig weiß, wo-
rüber ich rede. Dies ist meine erste Legislaturperiode im
Deutschen Bundestag, und ich habe bis dato über 25 Jahre
in der ordentlichen Gerichtsbarkeit gearbeitet. Die letzten
zehn Jahre war ich im Bereich des Strafrechts – Straf-
kammer, Jugendstrafkammer – tätig. Zum Schluss war ich
Vorsitzender eines Schwurgerichts, das sich nur mit Tö-
tungsdelikten und anderen Kapitaldelikten zu beschäfti-
gen hat. Ich weiß daher um das Leid, das Elend und die
oft furchtbare Verzweiflung der von solchen Taten unmit-
telbar oder mittelbar Betroffenen. Gerade deshalb weiß
ich aber auch um die unterschiedlichsten Täterpersönlich-

keiten, die vielfältigsten Beziehungsgeflechte, die diffe-
renziertesten sozialen Milieus und die oft unglaublichen
gesellschaftlichen Perversitäten, die hinter solchen Taten
zutage treten.

Der Staat hat die ureigene Aufgabe, die Menschen vor
solchen Tätern zu schützen. In diesem Punkt sind wir uns
alle einig. Ich sage aber auch ganz bewusst: Die An-
nahme, das lebenslange Wegschließen aller Sexual-
straftäter sei die Lösung, ist problematisch, wenn nicht
sogar gefährlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Weiß das auch Ihr Bundeskanzler!)


Eine solche Annahme vernachlässigt den Blick auf die
Opfer, indem sie so etwas wie Sicherheit im Nachhinein
vorgaukelt. Sie vernachlässigt auch eine wirksame Präven-
tion – darauf hat Frau Kenzler zu Recht hingewiesen –,
indem sie sich nicht mit der Verschiedenartigkeit von Ur-
sachen von Sexualstraftaten auseinander setzt, um auf
diese Weise die Entstehung von Verbrechen im Vorfeld zu
bekämpfen.

Ich sage ebenso bewusst und aus Überzeugung: Die be-
stehenden Gesetze reichen im Wesentlichen aus, um Se-
xualstraftäter angemessen bestrafen zu können. Ein Täter,
der ein Kind sexuell missbraucht, vergewaltigt und dann
umbringt, wird als Mörder mit lebenslanger Freiheits-
strafe bedroht und in der Regel auch bestraft. Die Sexual-
straftatbestände des Strafgesetzbuches in der Fassung des
sechsten Strafrechtsreformgesetzes aus dem Jahre 1998
– Herr Kollege Geis, Sie haben davon gesprochen – sehen
hinreichend differenzierte, abgestuft nach einzelnen Tat-
beständen, und ausreichende Strafrahmen vor.

Die Möglichkeiten zur Verhängung der Sicherungsver-
wahrung besonders gefährlicher Täter sind – auch darauf
ist hingewiesen worden – im Jahre 1998 angemessen ver-
schärft worden. Jeder Rückfalltäter einer Vergewaltigung
kann heute in Sicherungsverwahrung genommen werden.

Was den sexuellen Missbrauch von Kindern und Ju-
gendlichen angeht – auch darauf ist hingewiesen worden
und dem stimme ich zu –, gibt es in Bezug auf § 176 StGB
und ähnliche Vorschriften noch Verbesserungsbedarf. Wir
müssen auf neue gesellschaftliche Entwicklungen rea-
gieren. Auf diesem Feld sind wir hinsichtlich der Vor-
schläge, die Sie uns in Ihrem Entwurf gemacht haben,
Herr Kollege Geis, für eine Diskussion offen. Wir werden
Ihnen in den nächsten Wochen einen Entwurf vorlegen, in
dem noch eine Reihe von weiteren Tatbeständen enthalten
ist, weil wir meinen, auf neue Entwicklungen reagieren zu
müssen.

Das gilt vor allem für die Entwicklungen, die sich im
Zusammenhang mit dem Internet abzeichnen. Ich nenne
als Beispiel die Kinderpornographie mit der Vermittlung
von Kindern, die im Grunde zu Kindesentführungen
führt. Das ist ein weites Feld, auf dem dringender Hand-
lungsbedarf für den Gesetzgeber besteht. Ich habe in mei-
nem Manuskript einen kleinen Katalog aufgeführt, den
ich nicht im Einzelnen vortragen will. Wir sind auf diesem
Feld offen. Vor allem Ihrem Vorschlag, dass derjenige be-
straft werden soll, der ein Kind für eine Missbrauchs-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Evelyn Kenzler

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handlung nachzuweisen verspricht – ein völlig grausames
Phänomen –, stehen wir sehr positiv gegenüber. Das kön-
nen wir regeln.

Ganz entschieden werden wir aber diejenigen Vor-
schläge ablehnen, die rechtsstaatlichen Anforderungen
nicht genügen. Dies trifft den Kerngehalt des von Ihnen
vorgelegten Entwurfs. Sie wollen eine nachträgliche An-
ordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah-
rung im Strafgesetzbuch normieren. Das heißt, die An-
ordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
soll nach einem rechtskräftigem Urteil – Jahre später –
durch Beschluss einer Strafvollstreckungskammer ohne
erneute Begehung einer Straftat ermöglicht werden. Vo-
raussetzung dafür soll sein, dass eine nicht näher defi-
nierte besondere Gefährlichkeit des Verurteilten während
der Verbüßung der verhängten Freiheitsstrafe zutage tritt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann müssen Sie das über das Polizeirecht machen!)


Hiergegen sprechen schwerwiegende verfassungs-
rechtliche Bedenken und rechtssystematische Einwände.
Die Sicherungsverwahrung ist für einen Straftäter nach
der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe die gra-
vierendste Sanktion, die ein Strafgericht verhängen kann.
Wenn der vorliegende Entwurf vorschlägt, diese schwere
Rechtsfolge durch Beschluss im Wege eines Anhörungs-
verfahrens vor der Strafvollstreckungskammer nachträg-
lich zu verhängen und damit die materielle und formelle
Rechtskraft eines Strafurteils zu durchbrechen, so unter-
läuft dieses in Aussicht genommene Verfahren die rechts-
staatlichen Garantien der Strafprozessordnung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Evelyn Kenzler [PDS])


Dem bereits rechtskräftig Verurteilten werden im End-
effekt die wichtigsten Garantien eines fairen Hauptver-
fahrens vorenthalten. Diese sind: mündliche öffentliche
Hauptverhandlung, die Beteiligung von Schöffen, Laien-
richtern an der Urteilsfindung, die Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision
gesicherte Beweisantragsrecht sowie die Pflichtvertei-
digung in der Hauptverhandlung. Stattdessen schlagen
Sie ein unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindendes
Beschlussverfahren vor. Das wäre doch ein Geheimver-
fahren. Damit wären wir fast wieder im Mittelalter des
Strafprozessrechts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das muss ja nicht so sein!)


Ich frage: Warum gehen Sie von der CDU/CSU und der
FDP in der Opposition – es hat mich vom Hocker ge-
hauen, dass Sie, Herr van Essen, dem zustimmen wollen –
so fahrlässig mit den bewährten Grundsätzen der
Strafprozessordnung um? Ich bin auf die Ausführungen
von Herrn Professor Scholz gespannt, der nach mir reden
wird.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Ich werde die Antwort geben!)


Schließlich ist er Verfassungsrechtler. Ihr Vorschlag ver-
stößt gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Doppel-
bestrafung – ne bis in idem – gemäß Art. 103 Abs. 3 des
Grundgesetzes. Das habe ich vor 30 Jahren in den Vorle-
sungen an der Freien Universität Berlin gelernt.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Aber übersehen, dass das kein Strafrecht ist!)


– Wenn es kein Strafrecht ist, dann gehört es auch nicht in
das Strafrecht hinein, wie es die CDU/CSU in ihrem Ge-
setzentwurf fordert, Herr Scholz; dann gehört es nämlich
in das Polizeirecht hinein. So einfach ist das. So habe ich
es bei Ihrem Kollegen Herzog vor 30 Jahren gelernt.

Der Entwurf bleibt zudem den Beleg dafür schuldig,
dass diese Maßnahme geeignet ist, die Gefahren für die
öffentliche Sicherheit zu verringern. Die grausamen Ver-
brechen, auf die der Entwurf in pauschaler Weise Bezug
nimmt, sind nach den vorliegenden rechtstatsächlichen
Untersuchungen gerade nicht von Tätern begangen wor-
den, die nach Verbüßung ihrer Strafe in Kenntnis ihrer Ge-
fährlichkeit aus der Haft entlassen werden mussten. Sie
wurden vielmehr begangen von flüchtigen Tätern, von Tä-
tern, deren Risikopotenzial aufgrund unauffälligen, ange-
passten Verhaltens im Vollzug gerade nicht bemerkt wurde


(Margot von Renesse [SPD]: Schläfer!)


– richtig, Schläfer –, oder von Tätern, die bereits seit ge-
raumer Zeit als vermeintlich ungefährlich aus der Haft
entlassen worden waren. Das sind die Täterper-
sönlichkeiten, über die wir in diesem Zusammenhang re-
den müssen.

Den Entscheidungen, solche Täter vorzeitig zu entlas-
sen, lagen häufig fehlerhafte Sozialprognosen zugrunde –
Sozialprognosen, die in der Regel auf der Grundlage ei-
nes Sachverständigengutachtens abgegeben worden sind.
Nunmehr wollen Sie diese Prognose durch die entgegen-
gesetzte Prognose – ich betone: Prognose! – ersetzen, der
Täter sei auf Dauer gefährlich. Aber auch diese Prognose
kann falsch sein.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber Sie müssen doch einmal sagen, wie Sie es machen wollen! Wollen Sie gar nichts machen?)


Was machen wir dann, Herr van Essen, wenn jemand
50 Jahre in Sicherungsverwahrung untergebracht war,
ohne dass eine sichere Prognose vorgelegen hat?


(Jörg van Essen [FDP]: Es wird doch regelmäßig überprüft!)


– Regelmäßig überprüfen? Das kennen wir. 50 Jahre!

Daraus folgt für mich zwingend: Die Beurteilung der
Gefährlichkeit eines Täters, die Beurteilung des Vorlie-
gens der Voraussetzungen für die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung, ist allein die verantwortliche Aufgabe
des Tatgerichtes, des Gerichtes, das mit Berufs- und Lai-
enrichtern besetzt ist, das nach umfassender, erschöpfen-
der und öffentlicher Beweisaufnahme in der Hauptver-
handlung sowohl die Tat als auch die Persönlichkeit des
Täters beurteilen kann.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wollen Sie auch keine länderpolizeilichen Regelungen?)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Joachim Stünker

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– Zu der länderpolizeilichen Regelung, von der Sie, Herr
Kollege Geis, eben gesprochen haben, möchte ich Fol-
gendes sagen: Ich habe mit Entsetzen das baden-würt-
tembergische Gesetz dazu gelesen. Ich garantiere Ihnen:
Der oder die Erste, der oder die nach dem baden-würt-
tembergischen Polizeirecht in Sicherungsverwahrung un-
tergebracht wird und anschließend zum Bundesverfas-
sungsgericht „marschiert“, wird Recht bekommen, dass
diese Regelung verfassungswidrig ist; denn nach der dort
geltenden Regelung kann jeder, der nach Meinung eines
Sachverständigen gefährlich ist, eingesperrt werden. So
geht es nicht!


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Aber das heißt, Sie wollen die Verbrecher auf die Kinder wieder loslassen!)


Lassen Sie uns lieber über sinnvolle und angemessene
Regelungen auf dem Boden unserer Verfassung, der
Rechtsstaatsgarantien und des fairen Strafprozesses, wie
er sich historisch-kulturell entwickelt hat, reden.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419604700
Jetzt spricht der Kol-
lege Dr. Rupert Scholz für die Fraktion der CDU/CSU.


Dr. Rupert Scholz (CDU):
Rede ID: ID1419604800
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kinder sind
der wehrloseste Teil unserer Gesellschaft. Wenn es darum
geht, Menschen vor Kriminalität zu schützen, müssen
Kinder an allererster Stelle stehen. Rund 15 000 Fälle
sexuellen Missbrauchs von Kindern haben wir im Jahr zu
verzeichnen. Die Dunkelziffer ist, wie zu fürchten ist, ein
Mehrfaches davon. Das ist der Hintergrund. Das ist die
Basis unserer Vorschläge.

Ich finde es schon enttäuschend, dass diese Vorschläge
von der Koalition im Grunde mehr oder weniger in
Bausch und Bogen verworfen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Margot von Renesse [SPD]: Das ist so nicht der Fall!)


Herr Staatssekretär Pick, Sie haben gesagt – ich habe es
mir aufgeschrieben –: Wenn Bedarf ist, dann werden wir
prüfen.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Leider ist Bedarf da!)


Wenn die Zahlen, die ich eben genannt habe, nicht bele-
gen, dass Bedarf vorhanden ist, dann weiß ich nicht, was
Bedarf ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist schon eigentümlich, dass das Wort Populismus
gefallen ist. Populistisch ist für mich zum Beispiel das,
was Ihr Bundeskanzler gesagt hat: Sexualtäter weg-
schließen! So in der „Bild“-Zeitung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist keine verantwortliche Politik und das wissen Sie
ganz genau.

Herr Beck – er ist leider nicht mehr hier – hat ein
scheinbar bewegendes Bekenntnis zum Schutz von Kin-
dern abgelegt. Meine Damen und Herren, es geht bei die-
sen Fragen auch ganz entscheidend um gesellschaftliches
Bewusstsein. Ich hätte mir an dieser Stelle einmal eine
Stellungnahme gewünscht zu jenen abstrusen, entsetzli-
chen Äußerungen eines Mannes wie Cohn-Bendit,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)


die da gewissermaßen lauten: „Pädophilie ist auch ein
Stück Selbstverwirklichung – muss man mal „ausprobie-
ren“!


(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)


Das sind doch entsetzliche Dinge. Diese Debatte wäre
eine Gelegenheit gewesen, sich davon einmal sehr klar zu
distanzieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Gesinnungsfreund von Fischer! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Scholz, Sie diffamieren! – Joachim Stünker [SPD]: Reiner Populismus! Unglaublich! Unterstes Niveau! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]: Das gehört mit hierher!)


– Populismus ist etwas anderes, lieber Herr Stünker. Ich
erinnere zum Beispiel an die Debatte, die wir im Zusam-
menhang mit der Änderung des § 1631 BGB geführt ha-
ben. Dabei ging es darum, Kinder vor Gewalt in der Er-
ziehung zu schützen. Dabei ging es um die
Menschenwürde.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wie lange hat das denn bei Ihnen gedauert? Das hätten Sie doch alles viel früher machen können!)


– Herr Schmidt, wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann
tun Sie das! Stehen Sie auf und benutzen Sie das Mikro-
fon! Dann bekommen Sie auch eine Antwort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Richtig! Nicht rumbrüllen!)


Meine Damen und Herren, das Thema ist viel zu ernst,
als dass man damit in dieser vordergründigen, verdrän-
genden oder populistischen Manier, die Sie hier an den
Tag legen, umgehen könnte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun will ich mich auf einige der Einwände konzen-
trieren, die Sie zu dem gebracht haben, was der Kollege
Geis in seiner Einbringungsrede vorgetragen hat. Ich
wende mich zunächst der Frage der nachträglichen
Sicherungsverwahrung zu. Sicherungsverwahrung
– das werden Sie wohl noch einräumen – ist eine legitime
rechtsstaatliche Maßnahme. Herr van Essen hat völlig zu
Recht darauf hingewiesen, dass die Sicherungsverwah-
rung im Zusammenhang mit einem Strafurteil auf einer zu

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Joachim Stünker

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diesem Zeitpunkt zu treffenden verantwortlichen Pro-
gnose basiert. Jeder weiß aber, dass sich Prognosen als
irrig erweisen können. Herr Stünker, insofern könnte ich
das, was Sie gesagt haben, auch umkehren, nach dem
Motto: Ich muss den Täter rauslassen, damit er eine neue
Straftat begeht, um anschließend feststellen zu können,
was angesagt ist.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das ist die Logik! – Norbert Geis [CDU/CSU]: So ist es!)


Das ist natürlich unverantwortlich.

Meine Damen und Herren, durch das Vollstreckungs-
gericht angeordnete nachträgliche Sicherungsverwahrung
– wohlgemerkt: durch das hierfür kompetente Gericht! –
ist ein durchaus legitimes rechtsstaatliches Instrument,
wobei die Verhältnismäßigkeit selbstverständlich zu
wahren ist. Wenn aber Verfahren wie die Führungsauf-
sicht, die natürlich das mildere Mittel darstellen, nicht
ausreichen – das hat das Vollstreckungsgericht nach unse-
rem Vorschlag zu prüfen –, dann ist das ein legitimes Ver-
fahren. Das ist auch ein verhältnismäßiges und rechts-
staatliches Verfahren. Es verstößt nicht gegen Art. 103
Grundgesetz, nicht gegen das Verbot der Doppelbe-
strafung.


(Joachim Stünker [SPD]: Aber ja! Natürlich!)


– Nein, es verstößt nicht dagegen, und zwar deshalb,


(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist keine Strafe! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!)


weil hier keine Strafe verhängt wird zu dem, weshalb der
Straftäter verurteilt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist ein neuer Sachverhalt, der sich während der
Zeit der Strafvollstreckung ergeben hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie benutzen die Sicherungsverwahrung als Strafe! – Gegenruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]: Wieso denn? Die steht im Gesetz!)


Der Strafvollzug, die Verhängung von Strafe also, hat
bekanntlich nicht nur die Aufgabe der Sühne und der Re-
sozialisierung, sondern auch – schauen Sie mal ins Straf-
vollzugsgesetz hinein! – die Aufgabe des Schutzes der
Allgemeinheit.

Jetzt komme ich wieder zu der Feststellung: Der wehr-
loseste Teil unserer Allgemeinheit sind die Kinder. Wir
sind aufgerufen, insbesondere für sie etwas zu tun. Des-
halb kann ich nicht abwarten, ob jemand, bei dem sich
eine Prognose als irrig erwiesen hat, möglicherweise er-
neut eine solche schreckliche Tat begeht.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Nein, an dieser Stelle muss ich präventiv tätig werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Zusammenhang mit der Prävention will ich auch
die Frage der Kompetenz ansprechen. Es ist richtig, Ge-

fahrenabwehr und Prävention liegen natürlich im Schnitt-
feld von dem, wofür der Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1
GG zuständig ist – Rechtspflege –, und dem, wofür die
Länder im Rahmen ihrer polizeirechtlichen Zuständig-
keiten zur Regelung der Gefahrenabwehr zuständig sind.

Solche Überschneidungen sind aber keineswegs etwas
Neues. Beide Bereiche sind aufgerufen. Das, was wir in
unserem Gesetzentwurf vorschlagen, liegt im Hinblick
auf die Sachlogik und den Sachzusammenhang, der be-
kanntlich der legitime Kompetenzmaßstab ist, näher, als
wenn wir sagen, die Länder sollen es in ihren Polizeige-
setzen regeln. Unser Vorhaben ist also richtig und ist kom-
petenzgerecht. Deshalb sind wir definitiv der Meinung,
dass hier keine kompetenzrechtlichen Bedenken geltend
gemacht werden können.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das haben sie nicht verstanden! – Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Zur DNA-Analyse. Jeder weiß doch, hierbei geht es al-
lein um die Identitätsfeststellung. Zu einer effektiven
Strafrechtspflege gehört ein Maximum an Wahrheitsfest-
stellung – das ist eine Binsenweisheit – und gehört natür-
lich auch das Gebot, alles zu unternehmen, was zu einer
effektiven Wahrheitsfindung beiträgt.

Es geht auch beispielsweise nicht nur darum, Täter zu
überführen. Die DNA-Analyse ist genauso dazu geeignet,
Unschuldige festzustellen, Unschuld nachzuweisen. Das
heißt, das, was Sie tun, nämlich das Ganze in ein rechts-
staatliches Abseits hineinzuargumentieren, ist völlig un-
gerechtfertigt. Das ist völlig falsch. Die DNA-Analyse ist
ein richtiger, ein sinnfälliger und effektiver Maßstab für
eine effektive Strafrechtspflege.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit dem Terrorismusbekämpfungspaket von Herrn
Schily zum Beispiel wollen Sie biometrische Verfahren
einführen. Biometrische Verfahren aber – das weiß man
nun wirklich – sind ein äußerst begrenzter Maßstab. Die
DNA-Analyse hat diesen Mangel eben nicht und das ist
wichtig gerade bei so schweren Straftaten wie den hier in
Rede stehenden von erheblicher Bedeutung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie überhaupt, was das ist?)


Nein, die DNA-Analyse ist gerechtfertigt,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist eine sichere Identitätsfeststellung!)


und sie ist entgegen Ihren Prognosen mit Sicherheit kein
Verfahren, das vor dem Bundesverfassungsgericht schei-
tern wird. Davon kann keine Rede sein.

Sie sollten die Judikatur des Bundesverfassungsge-
richts zur Strafrechtspflege einmal intensiver nachlesen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in vielen Entscheidun-
gen in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass es
eine Kernaufgabe des Staates ist, für eine effektive Straf-
rechtspflege zu sorgen. Das Bundesverfassungsgericht
hat mit Recht darauf hingewiesen, dass gerade der Schutz
der Menschen vor Straftaten, die Gewährleistung der

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Rupert Scholz

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Rechtssicherheit, die entscheidende Grundlegitimation
der Staatlichkeit überhaupt ist.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Das gilt aber für alle!)


Aber das pflegen Sie immer wieder und zunehmend zu
vergessen.


(Joachim Stünker [SPD]: Oh Mann! Das ist ja unglaublich! – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es doch!)


Wir werden das in den kommenden Wochen


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Scholz-Keule wird wieder geschwungen! Immer wieder!)


mit großer Aufmerksamkeit beobachten.


(Zuruf von der SPD: Wahlkampf!)


Wir werden ja sehen, was Ankündigung von Umsetzung
unterscheidet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Wir messen sie an ihren Taten!)


Bisher sind Sie – das haben Sie heute wieder bewiesen –
in der Sicherheits- und Strafrechtspolitik schlichte
Ankündigungstäter, nichts anderes. Wir werden das nicht
hinnehmen; wir werden Sie in diesen Fragen stellen. Wir
werden darauf dringen, dass Sie auch vor der Öffentlich-
keit Rechenschaft darüber ablegen – jetzt komme ich zu
unserem Thema zurück –, ob Sie das Notwendige tun oder
verweigern, das vor allem für unsere Kinder unabweisbar
ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419604900
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Margot von Renesse für
die SPD-Fraktion.


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1419605000
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Man müsste schon ein Herz
aus Stein haben, wenn man bei den Berichten über Kin-
der, die geschunden, vergewaltigt und ermordet wurden,
nicht außer sich geraten würde, an seine eigenen Kinder
denken müsste und in Solidarität mit den betroffenen El-
tern nur noch Grauen empfinden würde. Die Vorstellung,
dass die Kinder, die man geboren und aufgezogen hat, für
die man nachts aufgestanden ist und die man getröstet hat,
Opfer eines Menschen wurden, der sie nur noch als Ob-
jekte behandelte und sie letztendlich ums Leben gebracht
hat, ist grauenhaft. Darum verstehe ich die spontane
Äußerung des Bundeskanzlers.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)


Ich verstehe jeden, der nach Rache schreit. Ich glaube, ich
selbst wäre in dieser Gefahr.

Der Staat selbst muss stellvertretend einen Teil dessen
tun, was er den Menschen nicht erlaubt, nämlich Rache

zu üben. Das – die Übelzufügung – ist ein Teil des Straf-
rechts. Kein Mensch kann in dem Bewusstsein leben, dass
sich eine Person, die sein Kind umgebracht hat, ihres Le-
bens freut. Dem muss Rechnung getragen werden.

Der Staat übt stellvertretend für eine Privatperson Ra-
che, um sie im Zaum zu halten: damit kein Unschuldiger
Opfer einer Straftat wird – man kann schnell zum Opfer
von Lynchjustiz werden – und damit der Schuldige be-
grenzt bestraft wird. Die Begrenzung begründet sich in
der Schuld für eine Tat, die in diesen Fällen schlimm ge-
nug ist.

Darum – nicht aufgrund eines allgemeinen Prinzips,
das viele Menschen nicht verstehen und das sie blass fin-
den – ist Rechtsstaatlichkeit auch in diesen Fällen von
zentraler Bedeutung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es geht hier nicht um irgendeine theoretische, rein ver-
fassungsrechtliche Frage; es geht vielmehr um vitale In-
teressen von Unschuldigen und von Schuldigen.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Deshalb DNA-Analyse!)


– Lieber Herr Scholz, auf Sie komme ich gleich zu spre-
chen.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Das, was ich dann sagen werde, wird Sie nicht freuen.

Eine rechtsstaatliche Strafe ist von großer Bedeutung,
damit Straftaten angemessen geahndet werden können.

Es kann nicht angehen, dass als Konsequenz jeder Tat,
die durch die Medien geht – so schrecklich sie auch sein
mag –, ein neues Gesetz in Kraft tritt. Das wird gefordert,
weil ja etwas geschehen muss und weil man das, was ge-
schehen ist, ja nicht hinnehmen kann. Man zieht die
Schlussfolgerung, dass die bestehenden Gesetze offen-
sichtlich nicht ausreichend sind. So sieht in etwa die Ar-
gumentation derer aus, die so denken. Glauben Sie, dass
ein Strafgesetz Straftaten letztendlich zu 100 Prozent ver-
hindern kann?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagt doch keiner!)


Wollen Sie die Menschen in falscher Sicherheit wiegen?
Wenn dem so wäre, dass Strafgesetze Straftaten verhin-
derten – genau so sieht Ihre Argumentation aus –, dann
müsste nicht nach jeder neuen Straftat sofort gesagt wer-
den: Die Gesetze reichen offensichtlich nicht aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber diese Straftaten haben wir doch schon seit hundert Jahren!)


Wenn Sie sagten: „Die Anzahl der Straftaten hat sich dra-
matisch vermehrt“, dann könnte ich Ihnen folgen. Sie re-
den aber davon, dass es Straftaten gegeben hat, und Sie
tun so, als wäre das Strafgesetz in der Lage, Straftaten zu

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Rupert Scholz

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100 Prozent zu verhindern. Da wiegen Sie die Leute in
falscher Sicherheit.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Tut doch keiner! – Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Das ist ja nicht wahr! Hat ja keiner gesagt!)


Herr Scholz, ich sage Ihnen in Bezug auf das, was Sie
über Sicherheitsverwahrung gesagt haben, Folgendes:
Ich habe von einem Verfassungsrechtler eigentlich etwas
mehr erwartet.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was Sie jetzt sagen, ist reine Polemik!)


Sie argumentieren nach dem Motto: Wenn jemand der
Verhängung der Sicherheitsverwahrung aufgrund einer
falschen Prognose entschlüpft ist, weil nicht alle Ge-
sichtspunkte vorlagen – zum Beispiel weil man sie erst im
Verzug kennen gelernt hat –, dann muss die Sicherungs-
verwahrung nachträglich angeordnet werden. Warum um
alles in der Welt wollen Sie jemanden, der schon längst
entlassen ist, nachdem er eine Straftat begangen hatte und
dafür verurteilt worden ist, in Sicherungsverwahrung neh-
men, wenn sich neue Anhaltspunkte gezeigt haben? Wohl-
gemerkt: Es geht nicht um das Problem einer neuen Tat.
Für diesen Fall könnte man ohne weiteres Sicherungsver-
wahrung verhängen. Ihre Forderung lautet, wenn zum
Beispiel jemand wegen Exhibitionismus eine Strafe be-
kommen hat – früher musste man eine Geldstrafe zahlen –
und später irgendwelche schrecklichen Reden öffentlich
hält: „Sicherungsverwahrung! Warum denn nicht?“


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Weil die Tat fehlt! – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Joachim Stünker [SPD]: Von Strafrecht keine Ahnung!)


– Ja eben, Herr Geis! Jetzt haben Sie wirklich erkannt,
dass Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung etwas mit
einer Tat zu tun haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419605100
Frau von Renesse, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1419605200
Herr Geis, ich habe
nicht mehr so viel Zeit. Ich möchte im Augenblick mei-
nen Redefluss nicht verlieren.

Die strafrechtliche Behandlung einer Tat ist etwas an-
deres als die Ermittlung einer Gefährlichkeit; denn dem
Anlass einer Straftat, der in der Vergangenheit lag, könnte
man auch mit einer Vollverbüßung gerecht werden. Mir
scheint eine Sicherungsverwahrung im Nachhinein nicht
der richtige Weg zu sein. Der Kollege Stünker – er besitzt
die Erfahrung eines Richters – hat mit Recht auf die pro-
zessualen Probleme hingewiesen.

In diesem Zusammenhang liebe ich das Wort Therapie
nicht. Vielfach handelt es sich nicht um Kranke im Sinne
medizinischer Behandlungsbedürftigkeit, sondern um
Fehlhaltungen. Die entscheidenden Fehlhaltungen, die
mir immer wieder begegnen, sind, lieber Kollege Stünker,
die mangelnde Verantwortungsübernahme, mangelnde

Empathie und das Wegdrängen der Straftaten nach dem
Motto „Das Kind hat es ja gewollt“, „Es hat mich provo-
ziert“ oder irgendetwas dergleichen.

Menschen neigen heute zunehmend dazu, andere für
das verantwortlich zu machen, was Straftäter heute häufig
„die Tat“ nennen, als hätten sie mit ihr nichts zu tun. Das
ist nicht ein Problem der Strafgesetzgebung, sondern ein
Problem unserer allgemeinen gesellschaftlichen Vorstel-
lungen. Darüber nachzudenken, wie man Menschen dazu
bringt, die Verantwortung zu übernehmen und diese Em-
pathie zu empfinden, scheint mir eine gesellschaftliche
Aufgabe ersten Ranges zu sein. Dazu würde ich gerne
Sachverständige anhören.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU])


Ich komme zu Ihnen, Herr Scholz. Das, was Sie hier als
Mitglied einer C-Partei geleistet haben, ist ein Verstoß ge-
gen das achte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
wider deinen Nächsten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen ganz genau, dass sich der von ihnen genannte
Cohn-Bendit und die anderen, die diese Unsäglichkeiten
vor zwanzig Jahren von sich gegeben haben, längst davon
distanziert haben. Ihr Aufruf, sie sollten sich davon
distanzieren, bedeutet die Unterstellung, dass sie es
– nachdem sie zunehmend reifer wurden; dies steht jedem
zu – nicht getan haben.


(Dr. Rupert Scholz [CDU/CSU]: Ich möchte die Distanzierung sehen!)


Ich halte so etwas von einem Menschen Ihrer Qualität, Ih-
res Intellekts und Ihrer Partei für unmöglich. Das ist nicht
angemessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, den Opfern – neben den
kindlichen Opfern zähle ich auch die Eltern dazu – gehört
unser ganzes Mitgefühl. Wir tun alles, was wir können.
Sollte sich in Ihrem Vorschlag – einiges ist ja wirklich
nachdenkenswert – das eine oder andere gute Körnchen
befinden, werden Sie uns dazu bereit finden. Herr Stünker
hat bereits darauf hingewiesen, dass es diese Bereitschaft
gibt. Ich denke zum Beispiel an Ihre Vorschläge bezüglich
des Internets. Darüber muss nachgedacht werden, weil es
neue Sachverhalte sind, mit denen wir umgehen müssen.
Bezogen auf die DNA-Analyse sage ich: Ich möchte
nicht, dass noch nicht abgeschlossene Verfahren – einige
Möglichkeiten zur Durchführung haben wir bereits be-
schlossen – dadurch verstopft werden, dass weitere Mög-
lichkeiten geschaffen werden, eine DNA-Analyse durch-
zuführen. Allein das ist schon ein Grund für mich, dabei
jetzt nicht weiterzugehen.

Ich bin auf die Diskussionen gespannt und hoffe, dass
wir sie sachlich führen. Das Problem ist dabei nicht der
Populismus. Bei einer Vernebelung unseres Verstandes

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Margot von Renesse

19179


(C)



(D)



(A)



(B)


würden wir es nicht schaffen. Gefordert ist, eine ver-
nünftige Kriminalprävention zu betreiben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419605300
Bevor ich die Aus-
sprache schließe, erteile ich jetzt dem Kollegen Norbert
Geis zu einer Kurzintervention das Wort.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1419605400
Verehrte Frau Kollegin
von Renesse, ich glaube, dass Sie bei Ihren Überlegungen
zur nachträglichen Sicherungsverwahrung immer überse-
hen, dass es sich um einen Zusammenhang zwischen Er-
kenntnisverfahren, Urteil und Strafvollzug handelt. Der
Täter befindet sich nach wie vor im Strafvollzug. Der Zu-
sammenhang wird durch die Tat, aufgrund derer er sich im
Strafvollzug befindet, hergestellt.

Wir sehen für den Täter die Möglichkeit vor, dass der
Ausspruch der Sicherungsverwahrung rückgängig ge-
macht und gelöscht wird, wenn sich, nachdem die Siche-
rungsverwahrung ausgesprochen wurde, nachträglich,
also während des Strafvollzugs, herausstellt, dass die
Feststellungen, die das Gericht getroffen hatte, nicht rich-
tig waren. Wenn wir dies vorsehen, müssen und sollten
wir uns auch überlegen, die Möglichkeit in Betracht zu
ziehen, die Sicherheitsverwahrung nachträglich anzuord-
nen, nämlich dann, wenn sich Tatsachen herausstellen, die
dem Gericht vorher so nicht bekannt gewesen sind, weil
es keine Möglichkeit gab, den Täter so genau zu be-
obachten.

Den Vorwurf, es fehle die Tat, weise ich zurück. Die Tat
ist vorhanden. Es liegt ein rechtskräftiges Urteil vor. Der
Zusammenhang mit der Tat ist durch den Strafvollzug ge-
geben. Deswegen können Sie nicht sagen, dass wir jeden
Täter, auch einen, der sich außerhalb des Strafvollzuges
befindet, festnehmen und bei ihm die Sicherungsverwah-
rung nachträglich anordnen müssten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn der Unterschied?)


Das wäre eine Frage des Polizeirechtes. Wenn Sie das,
was wir vorschlagen, die Sicherungsverwahrung über den
prozessualen Bereich hinaus, also durch das Voll-
streckungsgericht, gar nicht wollen, was sagen Sie denn
dann zur Sicherungsverwahrung über das Polizeirecht?
Oder wollen Sie überhaupt keine Sicherungsverwahrung
vorsehen, auch dann nicht, wenn Sie wissen, dass es sich
um einen potenziell ganz gefährlichen Wiederholungstä-
ter handelt?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419605500
Frau Kollegin Margot
von Renesse zur Erwiderung, bitte.


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1419605600
Es gibt, wie Sie sehr
wohl wissen, eine Reihe von Möglichkeiten, wie wir
Menschen unterbringen können, die die öffentliche Ord-
nung und Sicherheit erkennbar gefährden. Die Länder ha-

ben dafür entsprechende Regelungen getroffen, in Nord-
rhein-Westfalen zum Beispiel im Rahmen des PsychKG;
hier lässt sich also einiges machen.

Auf der anderen Seite bitte ich Sie, zu bedenken, wo
das enden soll. Wollen Sie etwa für einen Täter, der zu ei-
ner Bewährungsstrafe verurteilt worden ist, während der
Bewährungsstrafe eine Sicherungsverwahrung anordnen,
wenn der Bewährungshelfer meldet, der Täter habe ganz
furchtbare Reden darüber gehalten, was er mit Kindern zu
machen gedenke? Sie werden feststellen, dass Sie an die-
ser Stelle an der formellen und materiellen Rechtskraft
des Urteils scheitern.

Wir können durchaus darüber nachdenken, was wir mit
Menschen machen, die auffällig werden. Aber ich erin-
nere mich bei der Frage, wer auffällig ist und wer für ge-
fährlich gehalten wird, an eine Szene, als mein ältester
Sohn seine kleine Tochter wickelte, hochguckte und
sagte: Manche Leute dürften gar nicht sehen, was ich hier
mache.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419605700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/6709 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
grenzung der Arzneimittelausgaben der Gesetzli-

(Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz – AABG)

– Drucksache 14/7144 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
Fraktion der SPD ist die Kollegin Regina Schmidt-
Zadel.


Regina Schmidt-Zadel (SPD):
Rede ID: ID1419605800
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Entwicklung der Arznei-
mittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen im ersten
Halbjahr 2001 ist besorgniserregend. Die Krankenkassen
haben pro Mitglied sage und schreibe 11 Prozent mehr als
im ersten Halbjahr 2000 ausgegeben. Wenn das so wei-
tergeht, dann werden uns am Ende des Jahres beunruhi-
gende Zahlen vorgelegt werden.

Hätten diese Mehrausgaben ausschließlich dazu ge-
dient, Unterversorgungen und Qualitätsmängel bei der

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Margot von Renesse

19180


(C)



(D)



(A)



(B)


Pharmakotherapie zu beseitigen, hätte niemand etwas ge-
gen diese exorbitante Steigerungsrate einzuwenden, am
allerwenigsten wir Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten. Denn wir, meine Damen und Herren, sind
schließlich diejenigen, die vehement dafür eintreten, die
Versorgungsqualität spürbar und nachhaltig zu verbes-
sern.


(Beifall bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Mit dem Ergebnis, dass sie sinkt! – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Alles zu niedrigeren Preisen?!)


Wir müssen aber feststellen, dass die Arzneimittelthe-
rapie nach wie vor gravierende Mängel aufweist. Über-,
Unter- und Fehlversorgungen sind an der Tagesordnung.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Bei Unterversorgung müsste eigentlich mehr verordnet werden!)


Außerdem haben wir es mit erheblichen Wirtschaftlich-
keitsdefiziten zu tun. In der Arzneimittelversorgung
stecken erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven. Der
brandneue Arzneimittelverordnungsreport, der vor weni-
gen Tagen vorgestellt wurde, quantifiziert sie auf 8,1 Mil-
liarden DM. Das sind etwa 22 Prozent der Arzneimittel-
ausgaben der Krankenkassen. Der Arzneimittelreport ist
zwar, wie üblich, von der Pharmaindustrie postwendend
heruntergemacht worden – wir haben nichts anderes er-
wartet –; fest steht aber, dass er ein Schlaglicht auf die Si-
tuation wirft und Ansatzpunkte für Einsparungen und de-
ren finanzielle Größenordnung aufzeigt.

Als Hauptkostentreiber erweisen sich einmal mehr die
Analogpräparate. Bei diesen von der Industrie gerne als
„Schrittinnovationen“ bezeichneten Arzneimitteln stimmt
das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht. Der Fortschritt ist
oft klein, der Preisschritt oft groß.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Präparate weisen gegenüber bereits am Markt be-
findlichen Medikamenten entweder gar keinen oder einen
nur marginalen therapeutischen Zusatznutzen auf. Unab-
hängige Experten sprechen deshalb von „Scheininnova-
tionen“.

Höchst real ist dagegen ihr exorbitant hoher Preis. Im
Durchschnitt kosten diese Me-too-Präparate immerhin
knapp 120 DM. Auch das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen. Ihr Umsatz wuchs im ersten Halb-
jahr 2001 um 15 bis 20 Prozent. Die massive Zunahme der
Verordnung von Analogpräparaten hat im Wesentlichen
– hören Sie gut zu, meine Damen und Herren! – den Kos-
tenschub bewirkt, gegen den wir jetzt angehen wollen,
werden und müssen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: „Jetzt“? Ihr habt ihn doch selbst verursacht!)


Das Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz, das wir
heute beraten, nimmt diese Medikamente deshalb gezielt
aufs Korn.

Der Anteil der preisgünstigen Generika am GKV-Ver-
ordnungsmarkt ist geschrumpft. Dieser Trend muss drin-
gend gestoppt und umgekehrt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weitere Wirtschaftlichkeitsreserven können ohne Ein-
bußen an der Versorgungsqualität dadurch aktiviert wer-
den,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das können Sie schon mit dem jetzigen § 34 regeln!)


dass teure Medikamente durch preisgünstigere Medika-
mente und Präparate mit einem anderen Wirkstoff ersetzt
werden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: „Mit einem anderen“?)


Der Anteil der „umstrittenen Arzneimittel“ – auch da-
rauf muss man eingehen – ist in den letzten zehn Jahren
erfreulicherweise deutlich zurückgegangen. Noch immer
werden aber für rund 3,7 Milliarden DM pro Jahr um-
strittene Arzneimittel zulasten der gesetzlichen Kranken-
kassen verordnet. Hier wird die von uns in der Gesund-
heitsreform 2000 durchgesetzte Positivliste Abhilfe
schaffen.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Die wäre das Allerletzte, was jetzt noch fehlt!)


Das Gebot der Stunde lautet, Herr Zöller, sämtliche
Einsparpotenziale in der Pharmakotherapie konsequent
auszuschöpfen. Wir können es uns nicht leisten, Geld für
überteuerte oder fragwürdige Medikamente auszugeben.
Das ist im Moment noch der Fall; Sie stimmen mir sicher
zu.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das haben wir über den § 34 schon geregelt!)


Die dadurch frei werdenden Mittel werden zum einen
benötigt, um Unterversorgungen – zumal bei den chroni-
schen Volkskrankheiten – zu kompensieren, zum anderen
könnten sie auch an die Beitragszahler zurückgegeben
werden.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das sähe ich aber gern!)


Der vorliegende Gesetzentwurf enthält eine Mischung
aus kurz- und langfristig wirksamen Maßnahmen. Sie
sind zum einen darauf gerichtet, die Arzneimittelausga-
ben der Krankenkassen kurzfristig zu senken. Zum ande-
ren sollen den Ärzten strukturelle Einsparpotenziale er-
schlossen werden.

Der Gesetzentwurf beteiligt alle Akteure an der Wert-
schöpfungskette Arzneimittel fair, angemessen und aus-
gewogen an den Einsparungen. Die pharmazeutischen
Unternehmer sollen durch einen Abschlag von 4 Prozent
auf den Abgabepreis verschreibungspflichtiger, nicht der
Festbetragsregelung unterliegender Arzneimittel ihren
Beitrag zur Stabilisierung der Arzneimittelausgaben leis-
ten.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Regina Schmidt-Zadel

19181


(C)



(D)



(A)



(B)


Alle Auguren haben von Anfang an erwartet, dass die
Pharmaindustrie schwerstes Geschütz gegen das ihnen
abgeforderte Opfer auffahren würde. Damit haben wir ge-
rechnet, meine Damen und Herren;


(Detlef Parr [FDP]: Zu Recht!)


das haben wir einkalkuliert. Diese Erwartung ist nicht ent-
täuscht worden.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Und die Wirkung auf die Arbeitsplätze?)


Wieder wird das Schreckgespenst beschworen, der Phar-
mastandort Deutschland stehe auf dem Spiel. Ungefähr
20 000 Arbeitsplätze müssten abgebaut werden, Neuein-
stellungen unterblieben und Investitionen würden ver-
schoben bzw. gestrichen.

Die Pharmaindustrie lässt also wieder einmal ihre
Muskeln spielen. Sie hüllt sich gern in die Aura einer in-
novativen Schlüsselbranche. Wie kommt es dann aber
– hören Sie gut zu! –, dass viele Pharmaunternehmen
mehr Geld für Marketing als für Forschung und Entwick-
lung ausgeben?


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Unglaublich! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die machen es wie die Bundesregierung!)


Konzentrieren sie ihre Kreativität etwa auf Marketing und
Geld bringende Analogpräparate, statt echte Innovationen
marktreif zu machen? Ihre einstige Stellung als Apotheke
der Welt hat die deutsche Pharmaindustrie längst einge-
büßt. Das hat nichts mit einer von Ihnen beklagten
falschen Politik zu tun.


(Detlef Parr [FDP]: Womit hat es denn dann zu tun?)


Sie tragen selbst die Verantwortung dafür.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Und Sie wollen ihr jetzt den Rest geben!)


Viele pharmazeutische Unternehmen könnten die bis
zum 31. Dezember 2003 befristete 4-prozentige Senkung
des Herstellerabgabepreises vermutlich spielend verkraf-
ten, wenn sie ihre Marketingaktivitäten auf den Umfang
beschränkten, der in anderen Wirtschaftssektoren üblich
ist.

Ich will Ihnen einige nachgewiesene Zahlen nennen,
damit der Sachverhalt deutlich wird: Für Forschung und
Entwicklung wurden in diesem Zeitraum 18 Prozent, für
die Herstellung 18 Prozent, für Marketing und Vertriebs-
kosten 29 Prozent ausgegeben. Der Gewinn betrug
31 Prozent. Das sind doch Zahlen, die für sich sprechen.

Mit der vorgesehenen Umkehrung des bisherigen Re-
gel-Ausnahme-Verhältnisses bei der Aut-idem-Verord-
nung wollen wir mittel- und langfristig Wirtschaftlich-
keitsreserven erschließen und vor allen Dingen höchste
Qualität für den Patienten einbringen. Wir wissen, dass
diese Umstellung Fragen aufwirft, denen wir uns stellen

und die im weiteren Gesetzgebungsverfahren intensiv
diskutiert werden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Bundeskanzler hat es schon wieder geregelt!)


– Der Bundeskanzler regelt sehr viel – er regelt fast alles –
und er regelt es gut, Herr Zöller. Das sind Regelungen, die
Ihnen zwar nicht gefallen, die wir aber in Ordnung finden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Detlef Parr [FDP]: Er ist wohl der politische Papst?)


Diese Regelung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass
Pharmaunternehmen die äußerst erfolgreiche Strategie
entwickelt haben, teure Medikamente über das Kranken-
haus in den Markt zu drücken. Wie mir Patienten erzählt
haben, ist es so, dass der Krankenhausarzt und der Patient
den niedergelassenen Arzt unter Druck setzen, das im
Krankenhaus verordnete Medikament auch für Zuhause
zu verschreiben. Die Patienten selber sagen dann oft, dass
sie die im Krankenhaus verordneten „roten“ Pillen haben
wollen – die „schwarzen“ Pillen gibt es ja noch nicht –,
die aber teurer sind. Dem wollen wir einen Riegel vor-
schieben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419605900
Frau Kollegin, das
rote Licht blinkt. Ihre Redezeit ist zu Ende.


Regina Schmidt-Zadel (SPD):
Rede ID: ID1419606000
Rotes Licht ist mir
sehr angenehm, Frau Präsidentin.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da gibt es noch kein schwarzes Licht!)


Die SPD-Fraktion stellt sich ihrer Verantwortung für
die Patienten und für die Solidargemeinschaft. Der vor-
liegende Gesetzentwurf trägt dazu bei, das bewährte So-
lidarsystem zu stabilisieren, damit kranke Menschen – das
ist der wichtigste Ansatz für uns – auch in Zukunft mit den
notwendigen Medikamenten versorgt werden und das be-
kommen, was sie aufgrund ihrer Krankheit benötigen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419606100
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Wolf Bauer.


Dr. Wolf Bauer (CDU):
Rede ID: ID1419606200
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! „Der Kanzler regelt die
Dinge gut.“


(Beifall bei der SPD)


Ich weiß aufgrund dieser Aussage daher nicht, warum er
die Arbeitsgruppe „Gesundheit“ der SPD noch braucht.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Er braucht sie nicht mehr!)


Sie ist doch vollkommen überflüssig. Die Vorschläge, für
die Sie heute streiten, müssen schnell nachgebessert wer-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Regina Schmidt-Zadel

19182


(C)



(D)



(A)



(B)


den, weil der Kanzler längst andere Ideen entwickelt hat.
Im Übrigen sind das Ideen, die ganz andere Kompromisse
beinhalten.

Aber das ist nicht das eigentliche Problem. Das eigent-
liche Problem ist vielmehr: Jedes Mal wenn ein gesund-
heitspolitisches Thema aufgerufen wird, dann fragen wir
uns: Wann kommt endlich das Gesamtkonzept auf den
Tisch?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jedes Mal – ob es gestern oder heute war –: Fehlanzeige
und Stückwerk, also nichts, was uns hilft.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Flickschusterei!)


Die Konzeptlosigkeit von Ihnen und der Bundesregie-
rung ist an der Beratung der beiden Gesetzentwürfe ges-
tern und heute deutlich geworden. Wenn Sie sich an die
gestrige Debatte erinnern, dann wissen Sie, dass eine
ganze Reihe von Änderungen des geplanten Arzneimit-
telbudget-Ablösungsgesetzes beraten wurden. Am Ende
der Debatte haben Sie aber auf einmal gemerkt: Wenn
diese Änderungen beschlossen werden, dann kann der
heute vorgelegte Gesetzentwurf nicht durchgebracht wer-
den, weil die Änderungen diesem Gesetzentwurf wider-
sprechen.


(Detlef Parr [FDP]: So ist es!)


Die Änderungen wurden also schnell wieder zurückgezo-
gen.

Genau dieses Vorgehen kritisieren wir. Wir wollen eine
sorgfältige Vorbereitung von Gesetzentwürfen, möglichst
eingebettet in einem Gesamtkonzept.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen aber nicht, dass Gesetzentwürfe sozusagen auf
die Schnelle hingeschludert werden. Wenn es nur die Par-
lamentsarbeit und uns beträfe, könnte man darüber strei-
ten, ob man dieses Vorgehen noch hinnehmen könnte.
Aber Sie verunsichern damit die Patienten draußen im
Land. Das ist das Schlimme.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Quatsch! – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Kommen Sie zur Sache! Wie wollen Sie die Arzneimittelkos-ten senken?)


Die Patienten bekommen das Hin und Her, das Hü und
Hott mit. Das ist das eigentlich Gefährliche an der Sache.

Auf der Suche nach Einsparmöglichkeiten sollte ein
runder Tisch etabliert werden. Es wurden Arbeitsgruppen
gebildet und es sollte über die Positivliste, die Überarbei-
tung der Arzneimittelpreisverordnung, die Aut-idem-
Regelung und viele andere Dinge mehr diskutiert werden.
Dann sollte im Herbst ein Gutachten des Sachverständi-
genrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswe-
sen auf den Tisch gelegt werden, das mit dazu beitragen
sollte, dass wir hier zu vernünftigen Ergebnissen kom-
men. Selbst die Gesundheitsministerin hat großartig an-
gekündigt, dass an einem runden Tisch gemeinsam erör-

tert werden solle, was für die Problemlösung erforderlich
sei.

Was ist daraus geworden? In einer Nacht-und-Nebel-
Aktion haben Sie ein paar Gesetzentwürfe auf den Tisch
gelegt und keiner weiß genau, was am Ende daraus wird.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Herr Dr. Bauer, wir können uns immer sehen lassen! Wir haben Nacht und Nebel nicht nötig!)


Sie waren noch nicht einmal in der Lage, verehrte Frau
Kollegin, dies zwischen dem Gesundheitsministerium
und dem Wirtschaftsministerium abzustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber sei es, wie es wolle. Interessant ist die Frage, wie
sich die Vorgehensweise damit verträgt, dass die Gesund-
heitsministerin am 15. Februar dieses Jahres hier erklärt
hat:

Ich setze dabei auf einen ernsthaften und konzen-
trierten Dialog aller Beteiligten am runden Tisch...

Ich stehe

für eine Gesundheitspolitik, in der nicht partielle In-
teressen Zielrichtung und Marschgeschwindigkeit
angeben, sondern in der allein das Wohl der Patien-
tinnen und Patienten Maßstab der Entscheidungen
ist.

Genau das ist der Knackpunkt: Wenn wirklich allein
das Wohl der Patienten der Maßstab Ihres Handelns wäre,
dann würden Sie diese Gesetzentwürfe gar nicht erst auf
den Tisch bringen, sondern dann würden Sie darauf ver-
zichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe es bereits gesagt: Dadurch verunsichern Sie
die Patienten. Sie haben über Rationierung gesprochen;
das können Sie nicht mehr leugnen.

Zur Zweiklassenmedizin, liebe Freunde von der Koali-
tion.


(Lachen bei der SPD)


– Die haben wir doch durch Ihre Politik bekommen!


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Ja, genau!)


Hören Sie sich draußen doch einmal um!


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Mir kommen gleich die Tränen!)


– Da können Ihnen ruhig die Tränen kommen. Mir kom-
men sie bei dieser Politik auch, das muss ich ehrlich zu-
geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich frage mich wirklich: Kann das das Ziel der rot-grünen
Gesundheitspolitik sein? Das kann doch wohl nicht wahr
sein! Auf jeden Fall ist das der falsche Weg.

Zum Wohl der Patienten. Wir haben Ansatzpunkte
dafür geschaffen, wie man das Wohl der Patienten in den

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Wolf Bauer

19183


(C)



(D)



(A)



(B)


Vordergrund stellen kann, wie man Eigenverantwortung
stärken kann. So, wie Sie es jetzt machen, geht es nicht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir schaffen die Fehlversorgung ab! – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Da hat er eben nicht hingehört!)


Ich kann Ihnen noch einmal aufzählen, was zur Eigenver-
antwortung gehört: Kostenerstattung, Selbstbehalte, Bei-
tragsrückgewähr bei Nichtinanspruchnahme von Leistun-
gen. Damit ziehen Sie den Patienten in die Überlegungen
und in Bezug auf die Ausgaben mit ein.

Aber zurück zum AABG-Entwurf. Hier sind es – wie
einfallsreich! – wieder einmal die Arzneimittelausga-
ben, die ins Visier genommen werden. Noch Anfang Sep-
tember hat die Gesundheitsministerin Folgendes erklärt:
Der Anstieg der Ausgaben in Höhe von 11 Prozent hängt
auch mit einem erheblichen Zuwachs der Arzneimittel-
ausgaben für die Verordnung von Arzneimitteln zur Be-
handlung von schwerwiegenden und lebensbedrohenden
Erkrankungen zusammen. So sind insbesondere die Aus-
gaben für die Krebsmedikation und die Aidstherapie deut-
lich angestiegen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das war richtig!)


In diesen Therapiebereichen hat es in letzter Zeit wichtige
Innovationen gegeben.

In der „Wirtschaftswoche“ von gestern steht das Glei-
che; das brauche ich insofern nicht zu wiederholen. Es ist
nicht nachvollziehbar, dass Sie genau das jetzt kritisieren
und sagen, wir müssten einen anderen Weg einschlagen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Nein, da haben Sie nicht richtig zugehört!)


– Ich habe genau zugehört. Wir können im Ausschuss
noch über das eine oder andere diskutieren.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Ich schicke Ihnen meine Rede!)


– Nein, das brauchen Sie nicht, das können Sie sich spa-
ren.

Es ist für uns nicht nachvollziehbar, warum Sie, wenn
die Ministerin und Sie die entsprechenden Erkenntnisse
haben, diese nicht in die Tat umsetzen.

Das vorgelegte Maßnahmenpaket ist auch ordnungs-
politisch falsch. Es vernichtet – da können Sie sagen, was
Sie wollen; es ist so – Arbeitsplätze in der pharmazeuti-
schen Industrie und schwächt den Standort Bundesrepu-
blik Deutschland.


(Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Ich dachte, wir reden über Qualität!)


Die Investitionen werden darunter leiden. Sie können sich
auf den Kopf stellen; es wird so sein. Das hat selbst Ihr
Kanzler eingesehen; sonst wäre er nicht schon längst auf
eine Kompromissformel eingeschwenkt.


(Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Bis jetzt ist das Thema verfehlt! – Dr. Carola Reimann [SPD]: Über das Gesetz hat er noch nicht gesprochen!)


– Über das Gesetz braucht man im Grunde nicht zu reden.
Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Marschrichtung
falsch ist. Das, was Sie nicht machen, muss man Ihnen
vorwerfen, nicht Ihren Aktionismus. Da können wir uns
schnell einigen. Das Gesetz bringt uns letztendlich nicht
weiter. Außerdem ist mit großen Fragezeichen zu verse-
hen, ob Sie dieses Gesetz überhaupt bis zur dritten Lesung
bringen können. Wenn, dann ist es so abgeändert, dass es
mit dem, was Sie heute vorgelegt haben, nicht mehr über-
einstimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen, meine Herren, eine generelle Zwangs-
absenkung der Arzneimittelpreise um 4 Prozent und das
Einfrieren dieser Preise für die nächsten beiden Jahre ist
völlig inakzeptabel. Dabei ist es Augenwischerei, ob Sie
das expressis verbis beim Namen nennen oder als Rabatt
bezeichnen. Es ist willkürlich und wird sich auf Innova-
tionen auswirken.

In diesem Zusammenhang muss ich darauf hinweisen,
dass die deutschen Arzneimittelpreise im europäischen
Vergleich im unteren Drittel liegen. Das Preisniveau der
zulasten der GKV verordneten Medikamente ist in den
vergangenen fünf Jahren mit einem Anstieg um weniger
als einem halben Prozent nahezu gleich geblieben. Wenn
Sie die Lebenshaltungskosten dagegensetzen, dann müs-
sen Sie feststellen, dass sie in dieser Zeit um 5,5 Prozent
gestiegen sind.

Die Bundesregierung gibt in ihrem Gesetzentwurf an,
dass der Anstieg der Ausgaben für die Arzneimittel sie zu
dieser Gesetzesinitiative gezwungen habe. In Wahrheit ist
der Grund eine logische marktwirtschaftliche Reaktion,
die nahezu zwangsläufig auf die verfehlte Budgetie-
rungspolitik im Arzneimittelbereich folgen musste.
Diese Budgetierungspolitik hat – das können Sie im Ge-
setzentwurf der Bundesregierung übrigens nachlesen – zu
einer drastischen Unterversorgung der Versicherten ge-
führt. Insofern werden also nur Versorgungsdefizite aus-
geglichen. Dies haben Sie als Begründung selbst ange-
geben.

Zum Schluss möchte ich die Aufforderung an Sie wie-
derholen, uns endlich ein Gesamtkonzept auf den Tisch
zu legen, ein Gesamtkonzept, das erkennen lässt, auf wel-
che Weise Sie unsere gesetzliche Krankenversicherung
sanieren wollen. Vor allem die Versicherten haben ein
Recht darauf, das endlich einmal zu erfahren.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Und zwar vor der Wahl! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vor welcher?)


– Vor der Wahl. – Es muss zuverlässig, solide und vor al-
lem dauerhaft sein. Zurzeit kann man sich nicht des Ein-
drucks erwehren, dass sich SPD und Grüne selbst Miss-
stände schaffen, damit sie deren Abschaffung dann als
erfolgreiche Gesundheitspolitik verkaufen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Wolf Bauer

19184


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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419606300
Jetzt spricht für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Monika
Knoche.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1419606400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Da-
men! Der hier von der Opposition angemahnte große
Wurf in der Gesundheitspolitik ist in Kenntnis der politi-
schen Absichten, die Sie haben, das größtmögliche Risiko
für das Gesundheitssystem.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Mit Wahl- und Regelleistungen und mehr Zuzahlungen
würden Sie die Patientinnen und Patienten gegenüber den
freien ökonomischen Verwertungsinteressen im Gesund-
heitswesen alleine stehen lassen. Das wäre chaotisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Wir wollen etwas über Ihren Entwurf hören! Wir sprechen hier nicht über unseren!)


Wir brauchen dieses komplizierte und der Öffentlich-
keit gegenüber transparent zu machende Regelwerk der
Politik, um die sozialen Garantien des Gesundheitswe-
sens fortentwickeln zu können.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weniger Geld und mehr Versprechungen, das ist eure Logik!)


Ich gebe gerne zu, dass es nicht allzu opportun erscheint,
in den Medien und anderswo die Feinsteuerung als den
wahren politischen Kern der Kärrnerarbeit darzustellen.
Alle wollen alles anders machen, aber niemand sagt, was
für die Patientinnen und Patienten am Ende dabei heraus-
kommt. Das halte ich für verantwortungslos.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Ich möchte nun über das Gesetzeswerk sprechen. Ges-
tern wurde hier über die Verabschiedung der Ablösung der
Arzneimittelbudgets beraten und dabei der Fokus auf die
Selbstverwaltung gelegt. Die Kassen haben gemeinsam
mit der Ärzteschaft eine indikationsbezogene Preisliste zu
erstellen, damit sie im Rahmen des Richtgrößenbudgets
ihrer Therapieverantwortung nachkommen können. Da-
ran können Sie nicht herumkritteln und nicht herum-
mäkeln, als CDU schon gar nicht.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Wenn sie weniger verschreiben, kriegen sie mehr Geld! Sie nennen das Ethik! Das ist „Monetik“!)


Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf zur
Arzneimittelausgabenbegrenzung. Zur Arzneimittelpo-
litik gibt es bekanntlich eine Menge anderer Gesetze. Sie
alle sollen die Flut der Arzneimittelangebote sinnvoll
strukturieren und die Ausgaben sinnvoll begrenzen. Sie
müssen im Sinne der Gesetzesfolgeabschätzungen auch
eine politische Kosten-Nutzen-Relation aufweisen. Hier-
bei sind immer Interessen im Spiel. Man muss sagen, zu
wessen Gunsten oder zu wessen Lasten man sich ent-
scheidet. Die Gesundheitsministerin hat sich – entgegen

den Einwendungen des Wirtschaftsministers – zulasten
der forschenden Arzneimittelindustrie und ihrer patentge-
schützten Produkte, die einen hohen Preis haben, ent-
schieden. Das halte ich für eine richtige Entscheidung.
Diese Entscheidung trifft nicht die Schwächsten im Ge-
sundheitssystem.

Auch heute schon gibt es im Rahmen der Festbetrags-
regelung die Option auf aut idem. Es gibt den Vorrang der
Verschreibung von Generika und die Möglichkeit der Nut-
zung von Reimporten bei Originalpräparaten. Wir sollten
die Ergebnisse des diese Woche erschienenen „Arzneimit-
tel-Reports“ zur Kenntnis nehmen. Niemand kann bestrei-
ten, dass die gesetzlich Versicherten in Deutschland mit
übermäßigen Arzneimittelverordnungen in Milliarden-
höhe belastet werden. Für mich ist das ein Indiz für eine
nicht durchgreifend effiziente Arzneimittelversorgung der
Patienten – und deshalb müssen wir etwas tun.


(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])


Darüber hinaus ist es meine politische Grundüber-
zeugung, dass staatliche Eingriffe, wie zum Beispiel die
Absenkung der Arzneimittelpreise, immer begründungs-
pflichtig sind. Ein zentraler Grund ist der Kosten-Nutzen-
Effekt für die Patienten, die Mitglied der gesetzlichen
Krankenversicherung sind, und die Garantie, dass alle an
Innovationen partizipieren können. Das ist der eigentliche
Grund für staatliche Eingriffe. Ausschließlicher Grund
kann also nicht die Beitragssatzstabilität sein, die wir
natürlich auch im Auge behalten müssen.

Ob die in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorge-
schlagene Aut-idem-Regelung im Ansatz zusätzlich zu
dem gestern verabschiedeten Arzneimittelbudget-Ablö-
sungsgesetz zu sehen ist oder ob es sich in der Praxis nicht
als additiv, sondern im Einzelnen vielleicht sogar als kon-
traproduktiv erweisen wird,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wird wohl das Letztere sein!)


darüber wird zurzeit zum Teil diskutiert. Ob die darüber
stehenden Prinzipien und Rechte, die Patientencom-
pliance, die Stabilisierung des Behandlungsverlaufs und
die Therapieeffekte, berücksichtigt worden sind und ob
die in diesem Zusammenhang thematisierten Frage, ob es
haftungsrechtliche Lücken gibt, negativ beantwortet wer-
den kann, all diese Fragen möchte ich im Zuge der an-
stehenden Beratungen in aller Seriosität, sofern das heut-
zutage überhaupt noch möglich ist, behandelt wissen.
Denn in dem vorgesehenen Gesetz sollten nur sich mit
dem Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz sinnvoll er-
gänzende Maßnahmen getroffen werden. Alle, die den jet-
zigen Gesetzentwurf eingebracht haben, haben daran, so
glaube ich, ein großes Interesse. So jedenfalls ist die poli-
tische Intention meiner Fraktion. Wird die Aut-idem-
Regelung richtig eingebettet und eingeordnet, wird sie
sich nicht – auch von der Opposition nicht – zu einem ge-
nerellen Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob es
gelingt oder misslingt, eine moderne Arzneimittelpolitik
zu betreiben, hochstilisieren lassen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Was gucken Sie mich immer so böse an, Frau Knoche?)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001 19185


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Beachtet man, dass in dem vorliegenden Gesetzent-
wurf strukturelle Veränderungen einen positiven Nie-
derschlag gefunden haben, zum Beispiel durch die Rege-
lung der Fortsetzung der Arzneimitteltherapie nach einer
Behandlung im Krankenhaus, durch die Erhöhung des
Apothekenrabatts, die keine Staffelung vorsieht, und
durch viele andere Maßnahmen, die ich nicht wiederho-
len will, so muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Tra-
dition der CDU/CSU, was die Aut-idem-Regelung an-
geht, in dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eine
Fortschreibung erfährt.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Mit einem weiteren Kästchen! Der Bundeskanzler möchte zwei Kästchen auf dem Rezept haben!)


Ich bin gerne dazu bereit, während des weiteren Beratungs-
verlaufs über eine präzise Ausgestaltung der Aut-idem-
Regelung in aller Sachlichkeit zu diskutieren. Außer der von
mir genannten geringfügigen Kritik lässt sich an diesem Ge-
setzentwurf nichts festmachen, was kritikwürdig ist.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)


Denn jede Regierung – darüber wurde schon gestern
Abend debattiert – muss sich der Anforderung stellen, den
legitimen Interessen der Pharmaindustrie die Interessen
der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüberzustel-
len. Eine Regierung muss Entscheidungen treffen. Wenn
sie keine Entscheidungen trifft, hat sie ihren politischen
Auftrag nicht erfüllt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wichtig ist, dass sie richtige Entscheidungen trifft! Darauf kommt es an!)


Der darüber stehende Auftrag, den wir in der Politik zu er-
füllen haben, ist, dass in Deutschland nicht nur heute, son-
dern auch in Zukunft alle gesetzlich Versicherten an In-
novationen partizipieren können,


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist ein guter Hinweis! Aber Sie verjagen die Innovationen!)


und das ohne Ausweitung der Zuzahlungen und ohne
Leistungsausgrenzungen. Das wird mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf erzielt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419606500
Das Wort hat der Kol-
lege Detlef Parr für die FDP-Fraktion.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1419606600
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Frau Knoche, gestern Abend haben wir über
Deregulierung und die Abschaffung des Arznei- und Heil-
mittelbudgets – die ich für richtig halte – diskutiert. Heute
erklären Sie hier, warum zusätzliche staatliche Eingriffe
nötig sind. Diese innere Logik müssen Sie mir einmal er-
läutern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frau Ministerin, Ihre Vorgängerin Andrea Fischer und
Sie haben bereits die gesetzliche Krankenversicherung
zum Steinbruch für den Bundeshaushalt bzw. für andere
soziale Sicherungssysteme gemacht. Hunderte von Mil-
lionen D-Mark, Frau Schmidt-Zadel, sind in den Riester-
Etat hinübergeschoben worden.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Inzwischen Milliarden!)


Damit haben Sie den Krankenversicherten das Geld aus
der Tasche gezogen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Der Verschiebebahnhof war in Ihrer Zeit doch viel größer!)


Jetzt nutzen – eher müsste man sagen: missbrauchen – Sie
die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung als weiteren
Steinbruch zur vermeintlichen Sanierung des maroden
Gesundheitssystems.

Schon seit einiger Zeit erkennen wir keinerlei ord-
nungspolitische Linie in der Gesundheitspolitik der Bun-
desregierung. Erst kündigen Sie an, Frau Ministerin, die
Arznei- und Heilmittelbudgets sollten abgeschafft wer-
den. Sie legen keine Alternative vor und wundern sich an-
schließend über die Konsequenzen. Dann legen Sie einen
Gesetzentwurf vor, der aber vom Grundsatz her nichts än-
dert, weil über die Richtgrößen nach wie vor ein Budget
gelegt wird. Die nächste Rationierungswelle ist damit be-
reits angekündigt.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: So ist das!)


Dann vermelden Sie spontanen Handlungsbedarf. Quasi
über Nacht muss ein Defizit bei der gesetzlichen Kran-
kenversicherung entstanden sein; denn anderenfalls hät-
ten Sie ja schon vor Monaten gehandelt.

Nun wird gehandelt, aber nicht etwa, wie das zu er-
warten gewesen wäre, indem Sie die verbraucherfreund-
lichen Kräfte des Wettbewerbs nutzen. Nein, Sie greifen
in die Trickkiste dirigistischer Eingriffsinstrumente mit
willkürlichen Preisabsenkungen im Arzneimittelbereich,
mit einer Erhöhung der Zwangsrabatte, die die Apotheker
gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung zu leis-
ten haben, und mit einer Degradierung der Apotheker zu
Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen durch eine völlig
unzulängliche Aut-idem-Regelung.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: So ist es!)


Die Arzneimittelpreise sollen um 4 Prozent abgesenkt
werden, aber nicht differenziert, sondern heckenschnitt-
artig. Das ist und bleibt ein ordnungspolitisch außeror-
dentlich bedenklicher Schritt,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


der zudem in einer konjunkturellen Abschwungphase
dazu führen wird, dass Arbeitsplätze zweifellos in erheb-
lichem Umfang vernichtet werden.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Mit Sicherheit! Das interessiert euch ja nicht! Aber das werden eure Arbeitslosen sein!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Monika Knoche

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Zukünftig sollen im Regelfall nicht mehr die Ärzte,
sondern die Apotheker darüber entscheiden, welches Arz-
neimittel konkret abgegeben wird. Der Arzt soll nur noch
den Wirkstoff bestimmen. Diese Aut-idem-Regelung
– davon sind wir überzeugt – wird zu großen haftungs-
rechtlichen Problemen führen; Frau Knoche, Sie haben
darauf hingewiesen. Darüber müssen wir reden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wer ist dem Patienten gegenüber denn eigentlich verant-
wortlich, wenn die Therapie nicht anschlägt, der Arzt oder
der Apotheker? Zudem kann dem Arzt eine finanzielle
Verantwortung für die Einhaltung der Richtgrößen nicht
mehr abverlangt werden, wenn er keinen Einfluss mehr
auf das Medikament und damit auf den Preis hat, sondern
der Apotheker diesen für ihn bestimmt.

Auf diesem Weg kommen wir nicht weiter. Sie tasten
sich nur mühsam von Schlagloch zu Schlagloch vor


(Zuruf von der CDU/CSU: Zickzack!)


bzw. fahren einen Slalomkurs – wie die „Süddeutsche
Zeitung“ es richtig formuliert –, der kein gutes Ende neh-
men kann. Wenn dieser Bewusstseinsprozess, dass wir
eine Kursänderung vornehmen müssen, nicht bald ein-
setzt, zahlen Patienten, Versicherte, Arbeitnehmer, Ar-
beitgeber und Industrie die Zeche mit gravierenden Kon-
sequenzen für den Gesundheits-, Wirtschafts- und
Forschungsstandort Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist eigentlich schade, dass Ihr Wirtschaftsminister
Müller – vielleicht, weil er parteilos ist; eigentlich ist das
eine vorbildliche Sache – zwar wohlklingend redet, aber
offensichtlich im Kabinett keine Durchsetzungskraft hat.
Einen solchen Wirtschaftsminister können wir uns auch
sparen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Treten Sie einmal aus der FDP aus!)


Schade auch, dass der Bundeskanzler es zulässt, dass auf
diese Weise weitere Arbeitsplätze vernichtet werden, die
Pharmaindustrie auf Jahre hinaus mit Standortnachteilen
zu kämpfen hat


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: 31 Prozent Gewinne bei der Pharmaindustrie!)


und die Patienten mit Billigstmedikamenten abgespeist
werden sollen. Ich erinnere mich noch an das Plakat zu
den letzten Bundestagswahlen mit der Aufschrift: Arbeit,
Arbeit, Arbeit.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Aber der Wirtschaftsminister arbeitet nicht!)


Hier aber wird der Wachstumsmarkt Gesundheit über-
haupt nicht genutzt.

Meine Damen und Herren, das alles geschieht, obwohl
nur 15 Prozent der Gesamtausgaben der GKV auf den
Arzneimittelsektor entfallen. Dabei wäre doch nur Fol-
gendes sinnvoll:

Erstens muss endlich das Wachstumspotenzial im Ge-
sundheitswesen mit seinen knapp 2 Millionen Beschäf-
tigten und einem Umsatz von 500 Milliarden DM genutzt
werden.

Zweitens ist das System von seinen unzeitgemäßen,
staatlich vorgegebenen Fesseln zu befreien.

Drittens ist allen Beteiligten mehr zuzutrauen. Sie kön-
nen im System mehr leisten und sich konformer verhalten,


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Selbstverantwortung!)


wenn Sie den Beteiligten nur mehr zutrauen würden.

Meine vierte und letzte Forderung ist, auf den Wettbe-
werb und seine Wahlmöglichkeiten zu setzen, um das
System wirklich mit mehr Effizienz zu gestalten.

Uns allen liegen die Protestschreiben von Pharmafir-
men vor. Sie spielen das herunter. Aber ich erinnere Sie
an Folgendes: Es geht um große und kleine Firmen und
um den Pharmamarkt, der auch von vielen kleinen und
mittleren Unternehmen bedient wird und der in erhebli-
chem Ausmaß Arbeitsplätze bietet.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bisher haben Sie nur für die Großen gesprochen! – Gegenruf der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Also, Herr Schmidt, davon verstehen wir mehr als Sie!)


Ließen wir den Gesundheitsmarkt sich entwickeln, würde
er viele neue Arbeitsplätze schaffen können. Wir jeden-
falls nehmen diese Schreiben ernst.


(Zuruf der Abg. Regina Schmidt-Zadel [SPD])


– Es ist richtig, Frau Schmidt-Zadel, dass das Sparpa-
ket den Arzneimittelsektor einseitig belastet. Es ist rich-
tig, dass die eigentlichen Probleme der GKV unangetastet
bleiben.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)


Es ist richtig, dass der Forschungs- und Produktionsstand-
ort Deutschland weiter ins Abseits gerät.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frau Ministerin, Sie setzen mit Ihren willkürlichen
ordnungspolitischen Eingriffen, gerade in Zeiten dro-
hender Rezession, völlig falsche Signale. Sie ziehen die
staatliche Interventionsspirale immer enger. Sie hangeln
sich von Kostendämpfungsmaßnahme zu Kostendämp-
fungsmaßnahme; wohl wissend, dass unser Gesundheits-
system nur durch mutige, neue Strukturen wieder vom
Kopf auf die Füße gestellt werden kann. Schaffen Sie
Transparenz in einem System, das immer weniger von So-
lidarität und immer mehr von Vollkaskomentalität geprägt
ist.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nur Parolen!)


Geben Sie der Eigenverantwortung aller Beteiligten mehr
Raum.


(Klaus Kirschner [SPD]: Höhere Zuzahlungen!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Detlef Parr

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(B)


– Ja, Herr Kirschner, auch höhere Zuzahlungen sind zu
diskutieren.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was heißt das denn?)


Vor zwei Jahren hatten die Menschen längst verstanden,
dass es ohne mehr eigene Leistungen nicht weiter geht.


(Zurufe von der FDP und der CDU/CSU: So ist das!)


Entsprechend sollten wir die Gelder, die wir ausgeben
können, denjenigen zukommen lassen, die sich all dies
nicht leisten können; lassen Sie Wahlfreiheiten zu.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Deshalb hat man Sie auch abgewählt!)


– Dies haben wir gelernt und wissen, dass wir – weil wir
dies nicht getan haben – abgewählt worden sind. Aber das
Jahr 2002 gibt uns eine neue Chance, die Fehler, die Sie
in der Gesundheitspolitik gemacht haben, deutlich zu ma-
chen;


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


aber sachlicher und nicht mit solcher Polemik wie Sie.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419606700
Herr Kollege Parr,
jetzt müssten Sie bitte zum Schluss kommen.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1419606800
Ich komme zu meinen letzten Sät-
zen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419606900
Nein, nein. Nicht
Sätze, sondern Satz.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1419607000
Also komme ich zu meinen letzten
Satz. – Lassen Sie Wahlfreiheiten zu. Machen Sie sich die
Kräfte des Wettbewerbs zunutze. Für eine solche Ge-
sundheitsreform haben Sie uns auf Ihrer Seite; mit einer
kleinen Gesetzesnovelle hier und einer kleinen Gesetzes-
novelle dort aber nicht. Hier, Frau Schmidt-Zadel, zeigt
die Ampel rot – das ist ja Ihre Lieblingsfarbe. Nehmen Sie
das zur Kenntnis. Stoppen Sie diesen Kurs. Begeben Sie
sich mit uns auf einen richtigeren Weg, der der Gesund-
heitspolitik dient.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie hören sich nicht nach einem idealen Partner an!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419607100
Dieser Satz war aber
wirklich von Thomas Mann.

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die PDS-
Fraktion.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie Fußball gespielt? – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Sie humpeln ja! Sie lahmen ja!)



Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1419607200
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Es ist so: Auch Gesundheitspoli-
tikerinnen und Gesundheitspolitiker werden mal krank.
Ich habe Knieprobleme. Ich hoffe, mein Arzt verschreibt
mir noch meine Medikamente. Ich habe damit keine Pro-
bleme.

Eine Bemerkung zum Kollegen Parr. Es geht hier nicht
um den gesamten Bereich des Gesundheitsmarktes. Es
leugnet doch niemand, dass dieser einen Umfang von
500 Milliarden DM hat. Dies kann auch noch mehr wer-
den. Wir sprechen hier über den Erhalt der gesetzlichen
Krankenversicherung. Hier geht es um einen bestimmten
Betrag. Jeder Gesundheitspolitiker und jeder Kranken-
kassenvertreter ist verpflichtet, mit dem zur Verfügung
stehenden Geld im Interesse der Patienten ordentlich um-
zugehen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Detlef Paar [FDP]: Aber „Weiter so!“ geht nicht!)


– Ja, „Weiter so!“ geht nicht. Deshalb wird ja etwas ande-
res getan.

Dass die Steigerungsrate bei den Arzneimittelausga-
ben im Vergleich zu anderen Sektoren des Gesundheits-
wesens wesentlich höher ist und dass die Kassen am Jah-
resende ein Defizit von 4 Milliarden DM befürchten, ist
bereits gesagt worden. Es ist nun einmal so, dass diese Be-
fürchtung für viele Kassen der Tropfen war, der das Fass
zum Überlaufen gebracht hat, und sie ihre Beiträge daher
erhöhten oder Beitragserhöhungen ankündigten.

Folgendes scheint Realität zu sein: dass die verant-
wortlichen Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheits-
politiker offensichtlich nicht danach bewertet werden,
was sie für die gesundheitliche Versorgung tun, sondern
in erster Linie nach der Entwicklung der Beitragssätze.
Daran sind Sie selber, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der rot-grünen Koalition, durch die Aussagen, die Sie
im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 gemacht haben,
nicht ganz schuldlos. Denn die Absenkung der Beitrags-
sätze ist ja eines Ihrer Hauptziele gewesen.

Richtig ist, dass die Gesundheitsministerin jetzt unter er-
heblichen Druck geraten ist. Sie muss die Frage beantwor-
ten, wie diesen Beitragserhöhungen entgegengewirkt wird.
Leider sind durch diese Entwicklung auch die Befürworter
einer weiteren Privatisierung der Krankheitskosten in brei-
ter Front gegen sie angetreten. Ihr Ziel dabei ist es, die soli-
darisch finanzierte, vollwertige Krankenversicherung ana-
log zur Altersversorgung zu kippen. Das wird mit uns nicht
zu machen sein.


(Beifall bei der PDS)


Richtig ist, dass vor allen Dingen aus dem Arbeitge-
berlager ein marktradikaler Umbau des Gesundheitswe-
sens gefordert wird. Genau das ist aber in keiner Weise
mit einem medizinisch leistungsfähigen Gesundheitswe-
sen für alle und einer sozial gerechten Absicherung im
Krankheitsfall zu vereinbaren.


(Beifall der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner [PDS])


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Detlef Parr

19188


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(A)



(B)


Wir aber wollen genau das erhalten. Wir halten es für rich-
tig und geradezu für eine Pflicht der Ministerin, energi-
sche Schritte zur Stabilisierung der Finanzen in der ge-
setzlichen Krankenversicherung zu unternehmen.

Nach Lage der Dinge sollte es niemanden verwundern,
dass dazu in erster Linie weitere Maßnahmen zur Be-
grenzung der Arzneimittelkosten gehören. Die dabei der
Pharmaindustrie und den Apothekern abverlangten finan-
ziellen Beträge halten sich unserer Meinung nach in mo-
deraten Grenzen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das war von Sozialisten nicht anders zu erwarten!)


Auf keinen Fall rechtfertigen sie das lautstarke Feldge-
schrei der Betroffenen. Im Gegenteil: Es ist nicht nur be-
rechtigt, sondern geradezu überfällig, wenn durch die
Neuregelung der unverfrorenen Abzockerei vieler Her-
steller gerade bei den Analogpräparaten ein gewisser Rie-
gel vorgeschoben wird. Gleiches gilt für bestimmte Prak-
tiken der Generikaproduzenten und für eine maßvolle
Erhöhung des Apothekenrabatts.

Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, so-
lange die Pharmaindustrie mehr Geld für die Werbung als
für die Forschung ausgibt, kann es doch um den Pharma-
standort Deutschland wahrlich nicht so schlecht bestellt
sein.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei dem Geschrei, dass in diesem Bereich Arbeitsplätze
verloren gehen könnten und der Pharmastandort Deutsch-
land in der Welt kein Ansehen mehr habe, muss dies ein-
mal gesagt werden. Es ist vertretbar, dass jetzt auch
Hersteller und Apotheker einen Beitrag zur Ausgabenbe-
grenzung leisten.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Die PDS möchte am liebsten alles auf niedrigstem Einkommensniveau halten!)


– Erzählen Sie doch nicht so etwas! Darum geht es jetzt
doch nicht. Es wird doch nicht weniger Medikamente,
sondern zielgerichtete und medizinisch wirksamere Me-
dikamente geben. Die Masse wird doch nicht verändert.
Es geht um die Qualitätsverbesserung.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Im Ausland!)


– Ich habe es doch gesagt: Es wird bei uns weiterhin die
gleiche Menge hergestellt. Hören Sie doch auf mit dem
Argument, es seien Arbeitsplätze gefährdet.

Ich möchte etwas sagen, was nicht ganz hierher passt:
Ich glaube, Gesundheitspolitiker sind dafür verantwort-
lich, Qualität in der medizinischen Versorgung zu garan-
tieren. Auch die Arbeitsplatzsituation fällt in die Verant-
wortung der Regierung. Aber das ist im Moment nicht
unser Problem, sondern dafür haben wir verantwortliche
Arbeitsmarktpolitiker.


(Zuruf der Abg. Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP])


– Ich weiß, Sie sind privat versichert.


(Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Genau wie Sie!)


Die Sorgen der gesetzlich Krankenversicherten kümmern
Sie doch gar nicht. Das ist das Problem.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Ich bin genau wie Sie Abgeordnete!)


Wir jedenfalls wünschen uns, dass dieses Gesetz grei-
fen wird.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Ich warte auf den Moment, wo Ihr Orthopäde sagt, er kann Ihnen die Spritze ins Knie nicht geben!)


Wir zweifeln aber daran, Frau Ministerin, dass es aus-
reichen wird. Darin stimmen wir überein, liebe Frau
Schwaetzer von der FDP. Es ist richtig: Die Frau Ministe-
rin muss, wenn sie eine Ausgabenbegrenzung erreichen
will, darüber nachdenken, wie die Krankenversicherun-
gen mehr Geld zurückbekommen und der Bundeshaushalt
anders finanziert wird. Ich hoffe, die Tür ist noch nicht zu.
Sie werden es allein mit diesem Gesetz nicht schaffen.
Wir werden darüber nachdenken müssen, wie wir bei der
neuen Gesundheitsreform


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Bei welcher?)


den so genannten Beitragsklau – ich gebrauche dieses
Wort wieder einmal – stoppen können, um so die gesetz-
liche Krankenversicherung zu finanzieren.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Wenn Sportler einmal in Fahrt sind, sind sie nicht zu bremsen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419607300
Jetzt spricht die Kol-
legin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion.


Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1419607400
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Eine bedarfsgerechte und
dabei wirtschaftliche Arzneimittelversorgung ist eine der
zentralen Säulen unseres Gesundheitssystems. Die Ausga-
ben der gesetzlichen Krankenversicherung – das haben wir
schon mehrfach gehört – sind im ersten Halbjahr dieses Jah-
res dramatisch angestiegen. Das bedeutet für die Kassen zu-
sätzliche Ausgaben um 2 Milliarden DM.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Aber das Defizit ist doch 5 Milliarden DM!)


Natürlich sehen wir diese Entwicklung der Arzneimit-
telausgaben mit Sorge. Auch mit Blick auf die Kostenent-
wicklung bei den Krankenkassen bleibt es unser erklärtes
Ziel, die Beitragssätze stabil zu halten. Dafür tragen
meiner Ansicht nach alle Akteure des Gesundheitswesens

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Ruth Fuchs

19189


(C)



(D)



(A)



(B)


Verantwortung, nicht nur die Politik, sondern alle: von
den pharmazeutischen Herstellern über die Ärzte und die
Apotheker bis hin zum Patienten.


(Beifall bei der SPD)


Wir legen heute ein Maßnahmenpaket im Bereich der
Arzneimittel vor, das die Akteure der Selbstverwaltung in
ihren Bemühungen um eine solche wirtschaftliche und
dabei bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung unter-
stützt. Dabei nehmen wir alle Beteiligten entlang der ge-
samten Wertschöpfungskette in Bezug auf Arzneimittel
solidarisch in die Verantwortung.

Sie, liebe Kollegen von der Opposition, nennen das
blinden Aktionismus. Vor ein paar Wochen haben Sie
noch Wortspielchen bezüglich ruhiger Hände gemacht.
Ich denke, man kann es Ihnen nicht recht machen. Auch
heute habe ich von Ihnen keinen einzigen konstruktiven
Vorschlag gehört.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Keine Alternativen!)


Von Ihnen wurde ein Dialog gefordert. Der vorlie-
gende Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Arz-
neimittelausgaben ist das Ergebnis von Gesprächen, die
auch unter Beteiligung der Industrie geführt wurden. Die
Industrieverbände versuchen zwar gegenwärtig, diese
Tatsache durch aggressive Töne zu verschleiern. Wer sich
die unbestreitbaren Tatsachen ansieht, wird unserem Han-
deln Recht geben und zugeben, dass das Ganze anders
aussieht.

Gerade auf dem Marktsegment der nicht durch Festbe-
trag geregelten Medikamente gibt es erhebliche
Ausgabenzuwächse. Das hohe Niveau der Arzneimittel-
ausgaben hat hierin seine Ursache. Der Bereich der Me-
dikamente, für die keine Festbetragsregelung besteht, hat
in den vergangenen Wochen bei der Steigerung der Arz-
neimittelausgaben mit zweistelligen Zuwachsraten über-
proportional zugelegt. Deshalb wollen wir einen Preisab-
schlag von 4 Prozent für dieses Segment erreichen.

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie
merkt an, der überwiegende Teil der von den Kassen er-
statteten Arzneimittel sei seit Jahren preisstabil; das ist
richtig. Aber der Löwenanteil der Ausgaben entsteht in
dem Segment der Medikamente, die keiner Festbetragsre-
gelung unterliegen. Das Gesamtvolumen steigt, weil den
Krankenkassen höhere Kosten durch Ausgaben für Medi-
kamente dieser Segmente entstehen. An dieser Stelle
sollte man auch nicht verschweigen, dass dies Minderein-
nahmen für die pharmazeutischen Hersteller bedeutet.
Wir denken, dass dies vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass die Gewinnmargen der pharmazeutischen Hersteller
für innovative Arzneimittel im Mittel weit über 50 Pro-
zent liegen, ein zumutbarer Beitrag ist.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Sie haben ja im medizinischen Marketing gearbeitet! Sie müssen das ja wissen! – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Sie müssen doch wissen, wie lange es dauert, bis man etwas dafür kriegt, wenn man ein solches Medikament auf den Markt bringt!)


Wenn Sie uns in Bezug auf die vorgesehene Abschlag-
höhe Willkür vorwerfen, müssen Sie zur Kenntnis neh-
men, dass die Preisbildung in Deutschland gewisse
willkürliche Elemente enthält. Alle Akteure müssen Ver-
antwortung übernehmen. Das gilt auch für diejenigen, die
von unserem Gesundheitssystem ganz massiv profitieren.

Sie haben Sorge um den Forschungsstandort; ich
kann Ihnen gerne noch einmal die Zahlen nennen: F und
E 18 Prozent, Marketing 29 Prozent. Wenn man sich Sor-
gen machen muss, dann um den Marketingstandort, aber
nicht um den Forschungsstandort.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Jetzt weniger, wo Sie nicht mehr im Marketing sind! – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das ist nur wegen des hohen Anteils nicht forschender Pharmaunternehmen! Das ist so abenteuerlich!)


Als weitere Maßnahme erhöhen wir den Rabatt, den
die Apotheker der gesetzlichen Krankenversicherung ein-
räumen, um 1 Prozentpunkt auf 6 Prozent. Auch hierzu
gab es im Vorfeld Gespräche. Die ursprünglich diskutierte
Abhängigkeit des so genannten GKV-Rabatts vom Um-
satz ist dabei auf Wunsch der Apotheker in einen einheit-
lichen Rabattsatz umgewandelt worden.

Gleichzeitig betonen wir die Kompetenz der Apothe-
ker durch eine wesentliche Maßnahme des Pakets, näm-
lich die generelle Einführung der Aut-idem-Regelung.
Der Apotheker soll künftig die Möglichkeit haben, ein
preisgünstigeres, aber wirkstoffgleiches Medikament an
die Patienten abzugeben. Das ist eine Lösung, die sich in
Ausnahmefällen bereits bewährt hat.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Bundeskanzler hat gestern etwas anderes gesagt! Es ist alles überholt, was Sie vortragen!)


Bislang wird diese Regelung angewandt, wenn ein Pati-
ent am Wochenende oder an Feiertagen einen Apotheker
im Notdienst aufsucht und das verschriebene Medika-
ment in der Apotheke nicht vorrätig ist.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie machen nur noch Notdienst in Deutschland!)


Wir wollen nun die Ausnahme der Aut-idem-Substitution
zum Regelfall machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Die versicherungsrechtlichen Konsequenzen hat Kollege Parr aufgezeigt! Dafür haben Sie keine Lösung!)


Die Aut-idem-Lösung erschließt Wirtschaftlichkeitsreser-
ven, die wir nicht ungenutzt lassen wollen, Frau
Schwaetzer. Wenn Sie weiter so reinreden, verspüre ich
den Wunsch, Ihnen den neuen „Arzneimittel-Report“
nicht nur verbal um die Ohren zu hauen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist eine gefährliche Frau! Frau Präsidentin, schützen Sie Frau Schwaetzer! – Ina Lenke [FDP]: Schauen Sie sich Ihre Kinderstube an! Sind Sie da mit dem Hubschrauber durchgerast?)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Carola Reimann

19190


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(B)


Die Aut-idem-Lösung erschließt Wirtschaftlichkeitsre-
serven, die in dem neuen „Arzneimittel-Report“ detail-
liert erläutert worden sind. Die Aut-idem-Lösung soll
nicht nur für den normalen Besuch beim Hausarzt, son-
dern auch für die ambulante Behandlung im Anschluss an
einen Krankenhausaufenthalt gelten. In dem Entlassungs-
bericht bzw. vorläufigen ärztlichen Kurzbericht sollen
künftig ebenfalls die für die Behandlung notwendigen
Wirkstoffe angegeben werden.

Es wird oft beklagt, dass diese Maßnahmen die The-
rapiefreiheit der Ärzte einschränken. Dabei ist das Ge-
genteil der Fall. Es ist noch immer der Arzt, der aufgrund
seiner Kompetenz den Wirkstoff aufschreibt, der zu einer
wirksamen Therapie notwendig ist. Es bleibt dem Arzt
weiterhin vorbehalten, in Ausnahmefällen – wenn es um
die Galenik geht – auf bestimmten Medikamenten zu be-
stehen. Aber die Fülle der Präparate, die auf dem Markt
sind – das müssen alle zugeben –, ist vom verordnenden
Arzt nicht mehr zu überblicken, vor allen Dingen nicht
vom Allgemeinmediziner, der eine riesige Bandbreite von
Krankheiten behandelt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er wird auch nicht gezwungen! Er kann doch selber auswählen!)


Der Pharmazeut in der Apotheke jedoch – das wissen
Sie, Herr Bauer, ganz genau – ist dafür Experte. Mit der
Aut-idem-Lösung wird diese Fachkompetenz endlich ge-
nutzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Es hat gute Gründe gegeben, weshalb wir das bisher nie gemacht haben! Die Apotheker fanden das auch!)


Denn letztlich sind es ja die Wirkstoffe, die helfen, und
nicht der Markenname auf der Packung. Für den Pharma-
kologen – das sollten Sie wissen; schließlich sind Sie
einer – gibt es keinen Unterschied zwischen Aspirin und
anderen Produkten, in denen der Wirkstoff Acetylsalicyl-
säure enthalten ist. Deshalb werden wir dem Bundesaus-
schuss der Ärzte und Krankenkassen zusätzlich die
Aufgabe auferlegen, für bestimmte Arzneimittel mit phar-
makologisch vergleichbaren Wirkstoffen oder therapeu-
tisch vergleichbarer Wirkung eine Bewertung des the-
rapeutischen Nutzens im Verhältnis zum Abgabepreis
vorzunehmen. Es wird also in Zukunft zur Unterstützung
der Ärzte eine neutrale Empfehlung vonseiten dieses Aus-
schusses zum Preis-Leistungs-Verhältnis von Analog-
präparaten geben.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das ist doch logo!)


Sie, meine Damen und Herren von der Opposition
– das kann man nachlesen –, meinen, es würden zukünf-
tig billigere statt bessere Medikamente abgegeben wer-
den. Sie verwechseln anscheinend hohe Preise mit Qua-
lität.


(Beifall bei der SPD)


Dass das teure Präparat nicht zwingend auch das qualita-
tiv hochwertigere Präparat ist, wissen wir alle.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Aber tendenziell ist es schon so!)


Etliche teure Präparate sind keine echten Innovationen,
sondern nur Scheininnovationen, die eigentlich keinen
oder nur einen marginalen therapeutischen Mehrwert
bringen. Gleichwohl sind diese Me-too-Präparate sehr
teuer. Meine Kollegin Schmidt-Zadel hat gesagt, dass sie
im Durchschnitt 120 DM teurer seien. Man muss beden-
ken, dass das nur ein Durchschnittswert ist. Dass die Ent-
scheidung, einen bewährten Wirkstoff mit bekannter Ver-
träglichkeit in der Langzeittherapie einzusetzen, auch
Arzneimittelsicherheit bedeuten kann, haben wir alle,
glaube ich, an den UAW-Meldungen über Lipobay gese-
hen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit Ihrem Gesetz gäbe es einen größeren Skandal als den um Lipobay!)


Wir hoffen, mit dem vorgestellten Maßnahmenpaket
ein Ausgabenvolumen von bis zu 3 Milliarden DM zu er-
schließen – das halte ich für notwendig –, so die Ausga-
ben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel auf
ein vertretbares Maß zu begrenzen und trotzdem eine be-
darfsgerechte und gleichermaßen wirtschaftliche Versor-
gung der Patienten mit Arzneimitteln zu erreichen.

Ich danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419607500
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich gehe davon aus, dass der Schlagab-
tausch im Deutschen Bundestag auch weiterhin nur auf
verbaler Ebene stattfinden wird.

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Sabine Bergmann-Pohl für die CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1419607600
Frau Prä-
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeit der
Bundesgesundheitsministerin wird immer chaotischer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Erst gestern haben die Regierungsfraktionen das Arznei-
mittelbudget-Ablösungsgesetz beschlossen. Heute, also
bereits zwölf Stunden später,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Entschuldigung, es waren 14 Stunden!)


soll der gestrige Beschluss mit dem Entwurf des so ge-
nannten Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetzes wie-
der geheilt werden. Ich frage mich, ob der Gesetzentwurf,
über den wir jetzt debattieren, überhaupt noch gültig ist;
denn ich habe gehört, dass die Frau Ministerin mit dem
Bundesärztekammerpräsidenten, Herrn Hoppe


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, mit dem Kanzler!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Carola Reimann

19191


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– ach, sogar mit dem Kanzler? –, etwas Neues vereinbart
hat. Also, liebe Leute, euer Kanzler ist wirklich derjenige,
der das Sagen hat.


(Lachen bei der SPD – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Bei Ihnen war das überhaupt nicht der Fall! Der Kanzler hatte bei Ihnen nichts zu sagen!)


Das ist der beste Beweis für kopfloses Handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung ist von der Wirksamkeit ihrer Ge-
setze nicht einmal mehr so überzeugt, dass sie deren In-
Kraft-Treten abwartet.

Lassen Sie mich als Ärztin nur eine Regelung des ge-
planten Gesetzes herausgreifen. Die Bundesregierung
plant mit der jetzigen Aut-idem-Regelung, dass die
Ärzte nur noch Wirkstoffe verordnen sollen. Die Be-
stimmung des abzugebenden Medikamentes obliegt den
Apothekern nach Preisgesichtspunkten, nach dem
Motto: Je billiger, desto besser. Das ist eine Einschrän-
kung der Therapiefreiheit der Ärzte auf Kosten der Pati-
enten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hansjörg Schäfer [SPD]: Diese Behauptung wird durch ständige Wiederholung nicht besser!)


Frau Ministerin, Sie zerstören das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient, soweit Sie das mit Ihren bis-
herigen Gesetzen nicht schon längst geschafft haben.
Mich haben in den letzten Tagen viele Briefe von Patien-
ten erreicht, insbesondere von älteren und schwer kranken
Menschen. Aus dem Brief einer Dame möchte ich nur eine
Passage zitieren:

Jeder Patient weiß, dass es schwierig für den Arzt ist,
die richtige Zusammenstellung der Medikamente zu
finden, wenn der Patient unter verschiedenen Krank-
heiten leidet. Das macht in Zukunft alles der Apo-
theker, toll. Also finden nach der Meinung der Bun-
desministerin die Beratungen in der Apotheke statt,
im Beisein anderer Kunden. Der Arzt ist fast über-
flüssig.

Frau Ministerin, das sind die Auswirkungen Ihrer Ge-
setze.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wo liegen eigentlich die
Probleme?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Bei der Regierung!)


Der Apotheker hat keine Kenntnis von der genauen Dia-
gnose und Indikationsstellung. Gleiche Wirkstoffe fin-
den sich zwar in verschiedenen Medikamenten, aber die
Arzneimittel sind heute vielfach sehr komplex. Hilfs-
stoffe zum Beispiel können für die adäquate Wirkungs-
weise eines Medikaments und für dessen Verträglichkeit
entscheidend sein. Besonders betroffen davon sind übri-
gens Allergiker.

Frau Ministerin Schmidt, es wäre ganz gut, wenn Sie
zuhörten. Jetzt geht es nämlich um Sachkunde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So einen Unsinn muss man sich wirklich nicht anhören! – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Sie hätten Ihren Minister früher einmal belehren sollen!)


Hinzu kommt, dass ein Organismus auf verschiedene
Medikamente, die zwar chemisch gleiche Wirkstoffe, je-
doch unterschiedliche Hilfsstoffe und zusätzlich wirk-
same Bestandteile enthalten, mit heftigen Nebenwirkun-
gen reagieren kann. Aber der Arzt und nicht der Apotheker
ist für die Folgen seiner Arzneimitteltherapie verantwort-
lich.

Die geplante Regelung bestraft insbesondere die chro-
nisch kranken Patienten. Auf die Verordnungen für
diese Gruppe entfallen heute circa 60 Prozent der Arznei-
mittelausgaben. Die Patienten laufen Gefahr, bei jedem
neuen Rezept unterschiedliche Präparate mit verschiede-
nen Farben, Darreichungsformen, Dosierungen und An-
wendungsvorschriften zu bekommen. Können Sie sich
vorstellen, dass dies auf die Therapietreue der Patienten
einen positiven Einfluss hat? – Ich nicht. Wir reden hier
über kranke, vielfach ältere Menschen, die Sie damit ver-
unsichern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum lassen Sie sich eigentlich Ihre Reden von der Pharmaindustrie vorschreiben?)


– Herr Schmidt, Sie sollten sich mit solchen Äußerungen
zurückhalten. Ich habe gesagt, dass ich hier als Ärztin
rede. Von der Sache verstehe ich, glaube ich, mehr als Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir machen mal einen Textvergleich!)


Wenn durch die geplanten Maßnahmen die Compli-
ance der Patienten herabgesetzt wird und der Behand-
lungserfolg nicht eintritt, dann werden Sie nicht Kosten in
der prognostizierten Höhe einsparen; Sie werden sich
vielmehr zusätzlichen Kosten im Gesundheitswesen ge-
genübersehen.

Noch etwas anderes. Wer haftet denn nach der von Ih-
nen geplanten Regelung eigentlich, wenn bei der Verord-
nung etwas schief geht: der Arzt oder der Apotheker?


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Ministerin! – Ulla Schmidt, Bundesministerin: Der Arzt!)


– Der Arzt weiß doch gar nicht, was der Apotheker abgibt.
An dieser Äußerung merkt man, dass Sie von der Sache
wirklich nichts verstehen, Frau Schmidt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Arzt muss die Therapie- und Kostenverantwor-
tung weiterhin behalten. Nur er kann durch sinnvolles
Therapieverhalten beides beeinflussen. Mit dem vorge-
legten Gesetzentwurf wird die ehemals individuelle
Therapieverantwortung des Arztes durch Pfennigfuchse-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Sabine Bergmann-Pohl

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(B)


rei im Rahmen von Billigverordnungen ersetzt. Das wer-
den die Ärzte nicht mitmachen. 71 Prozent der Hausärzte
in Deutschland sehen die Versorgungsqualität gefährdet,
wenn diese Aut-idem-Regelung kommt.

Frau Ministerin, nachdem Sie die erste Hälfte dieses
Jahres mit runden Tischen vertrödelt haben,


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das ist ja unglaublich! Sie haben vier Jahre als Staatssekretärin vertrödelt!)


verfallen Sie jetzt in blinden Aktionismus. Sie muten den
Versicherten und Beteiligten im Gesundheitswesen eine
Vielzahl unstimmiger Gesetze zu, statt eine umfassende
und notwendige Reform anzugehen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Reform haben Sie doch im Bundesrat verhindert!)


– Wir haben Ihnen eine Reform vorgelegt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit finanziellem Überschuss!)


Sie haben viele Dinge zurückgenommen und die Folgen
haben Sie jetzt zu tragen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Ministerin, Sie doktern am Gesundheitswesen
herum, beherrschen aber weder Diagnostik noch Thera-
pie. Wissen Sie, wie man das in der Medizin nennt? –
Kurpfuscherei!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419607700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/7144 an die in der Tagesordnung
aufgeführte Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 20:

– Zweite und dritte Beratung des von den Ab-
geordneten Anni Brandt-Elsweier, Christel
Riemann-Hanewinckel, Dr. Jürgen Meyer (Ulm),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Irmingard Schewe-
Gerigk, Volker Beck (Köln), Gila Altmann (Au-
rich), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
rechtlichen und sozialen Situation der Prosti-
tuierten
– Drucksache 14/5958 –

(Erste Beratung 168. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Christina Schenk, Dr. Evelyn Kenzler, Ulla
Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur beruflichen Gleichstellung von Prostituier-
ten und anderer sexuell Dienstleistender

– Drucksache 14/4456 –

(Erste Beratung 143. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(13. Ausschuss)

– Drucksache 14/7174 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ilse Falk
Irmingard Schewe-Gerigk
Anni Brandt-Elsweier
Ina Lenke
Christina Schenk

Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Also ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
Fraktion der SPD ist die Kollegin Anni Brandt-Elsweier.


Anni Brandt-Elsweier (SPD):
Rede ID: ID1419607800
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Theodor Fontane stellte fest: „Courage ist gut, Aus-
dauer ist besser.“ Als ich im Januar 2000 die Leitung der
koalitionsübergreifenden Unterarbeitsgruppe „Prostitu-
tion“ übernahm, habe ich nicht gewusst – das sage ich
ganz offen –, wie viel Courage und vor allem Ausdauer
wir alle brauchen würden, um am heutigen Tag endlich
das Gesetz zur rechtlichen und sozialen Besserstellung
der Prostituierten zu verabschieden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Besserstellung ist ein altes Thema, mit dem wir uns
schon zu Oppositionszeiten beschäftigt haben. Ich erin-
nere an unseren Gesetzentwurf von 1997, der ebenfalls
eine lange Vorlaufzeit hatte. Mit der Vorlage des Gesetzes
haben wir heute endlich unser Ziel erreicht. Ich gestehe
ganz offen, ich freue mich, dass ich diesen Tag erleben
darf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle haben lange daran gearbeitet. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, meinem Kollegen Professor Dr. Meyer
und meiner Kollegin Frau Schewe-Gerigk für die kon-
struktive und gute Zusammenarbeit zu danken.


(Beifall bei der SPD)


Ich bedanke mich auch für die sachliche Auseinander-
setzung mit den anderen Fraktionen.

Uns alle einte das Ziel, eine rechtliche und soziale Bes-
serstellung der Prostituierten zu erreichen. Dies haben die
Vereinten Nationen bereits im vergangenen Jahr ange-
mahnt. Freilich waren wir uns über den Weg dorthin nicht
immer einig.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Sabine Bergmann-Pohl

19193


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(B)


Ich bin mir bewusst, dass vor allem die Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion mit der Abschaf-
fung der Sittenwidrigkeit sehr große Schwierigkeiten ha-
ben. Ich erlaube mir, auf eine Äußerung Ihres stellvertre-
tenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Bosbach in
einem Interview mit der Katholischen Nachrichtenagen-
tur im Juli dieses Jahres hinzuweisen – ich zitiere –:

Prostitution ist eine gesellschaftliche Realität, und
dies seit Jahrtausenden und in jeder Gesellschaft.
Also können wir sie uns nicht einfach wegwünschen,
sondern müssen versuchen, mit ihr möglichst nahe an
den Wertvorstellungen dieser Gesellschaft umzuge-
hen.

Dem kann ich nur zustimmen. Aber ich sage auch deut-
lich: Diese Wertvorstellungen werden nicht allein von der
CDU/CSU geprägt, sondern von unserer gesamten Ge-
sellschaft.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


Diese Wertvorstellungen sind auch keine starre Größe,
sondern einem immerwährenden Wandel unterworfen.
Prostitution wird heute von großen Teilen der Gesell-
schaft eben nicht mehr als sittenwidrig angesehen. Auch
die Gerichte schließen sich zunehmend dieser Auffassung
an. Ich verweise beispielhaft auf das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Berlin vom 1. Dezember 2000, das aus-
drücklich erklärt hat, Prostitution, die ohne kriminelle Be-
gleiterscheinungen und freiwillig ausgeübt werde, sei
grundsätzlich nicht mehr als sittenwidrig anzusehen. Die-
ses Urteil ist auch aus dem Grund wegweisend, weil sich
das Gericht die Mühe gemacht hatte, vorher eine Umfrage
bei allen gesellschaftlich relevanten Gruppen durchzu-
führen und sein Urteil auf deren Ergebnisse stützte. Wir
haben also mit diesem Gesetzentwurf nichts anderes ge-
tan, als die Gesetzeslage dem Wandel im Bewusstsein der
Gesellschaft anzupassen.

Mit der Abschaffung der Sittenwidrigkeit für freiwil-
lige Prostitution setzen wir ein unmissverständliches
Zeichen für die gesellschaftliche Anerkennung und die
Entdiskriminierung der Betroffenen. Ich bin mir übri-
gens sicher, dass damit kein dramatischer Sittenverfall
droht.


(Beifall bei der SPD und der PDS)


Im Gegenteil: Sachverständige, die sich mit dem
Thema Prostitution und ihren engen Verknüpfungen mit
der organisierten Kriminalität beschäftigen, haben festge-
stellt, dass die anhaltende Bewertung der Prostitution als
sittenwidrig eines der zentralen Probleme ist. Der Sach-
verständige Schnelker führte in der Anhörung aus, dass
die mit dem Wegfall der Sittenwidrigkeit verbundene
Möglichkeit, Bordellbetriebe als gewerbliche Zimmer-
vermietung zu konzessionieren, seiner Ansicht nach
„mehr Transparenz im Milieu“ bedeute und deshalb
durchweg positiv zu bewerten sei. Experten der Krimi-
nalpolizei fordern folgerichtig, Prostituierten endlich ei-
nen besseren rechtlichen Schutz zu geben, damit diese
nicht länger von ihren Zuhältern abhängig sind. Das, liebe

Kolleginnen und Kollegen, ist doch wohl genau das Ziel,
das wir gemeinsam erreichen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit der Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs sind
noch weiter gehende Folgen verbunden. Das Gesetz eröff-
net den Betroffenen den Zugang zu den Sozialversiche-
rungen, und zwar mit der klaren Bezeichnung ihrer Tätig-
keit. Prostituierte können sich in Zukunft also selbst – sei
es als Selbstständige oder als abhängig Beschäftigte, zum
Beispiel in einem Bordell – sozial absichern. Ich freue
mich, dass Versicherungsträger – zum Beispiel die Ren-
tenversicherung LVA Sachsen oder auch die AOK Sach-
sen – schon deutliche Signale gegeben haben, dass bei ih-
nen für Prostituierte der gleiche Beitragssatz und der
gleiche Versicherungsschutz wie für alle anderen gelte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und der Abg. Ilse Falk [CDU/CSU])


Das stimmt mich optimistisch, dass unser Vorhaben in die
Praxis umgesetzt werden kann.

Ein Journalist merkte mir gegenüber in diesem Zu-
sammenhang an, dass durch unser Gesetz die Preise im
Milieu steigen könnten, weil die Bordellbetreiber die So-
zialversicherungskosten an die Kunden weitergäben. Ich
kann dazu nur sagen: Das ist ohne weiteres billigend in
Kauf zu nehmen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wer eine sexuelle Leistung in Anspruch nimmt, der soll
dafür auch bezahlen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dieser Gesetzentwurf wurde im Interesse der Prostitu-
ierten gemacht und nicht – das möchte ich betonen – zum
Wohle von Freiern und Zuhältern. Im Übrigen gilt das Ge-
setz natürlich auch für ausländische Prostituierte, so-
weit sie einen legalen Aufenthaltsstatus haben. Frauen-
handel und Zwangsprostitution kann das Gesetz
allerdings nicht erfassen. Das ist eine völlig andere Pro-
blematik.

Wir haben auch den Bedenken, Prostitution sei kein
Beruf wie jeder andere, Rechnung getragen, indem wir
bewusst das Konstrukt des einseitig verpflichtenden Ver-
trages gewählt haben. Die Frauen erhalten durch das Ge-
setz eine Handhabe, aus ihrer Tätigkeit auszusteigen oder
einen Kunden abzulehnen. Das geschieht nicht, weil wir
Prostitution im Grunde unseres Herzens als irgendwie sit-
tenwidrig ansehen – das ist schon einmal unterstellt wor-
den –, sondern weil wir ein Auge für die Realität haben
und wissen, dass diese Tätigkeit häufig in einem Milieu
stattfindet, in dem Nötigung, Ausbeutung und Gewalt an
der Tagesordnung sind. Wir wissen, dass es erforderlich
ist, den Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, weitgehend
selbst zu bestimmen, wie sie ihre Tätigkeit ausüben wol-
len. Wir zwingen niemanden in einen Vertrag.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Anni Brandt-Elsweier

19194


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben diesbezüglich die Bedenken der Sachver-
ständigen aus der Anhörung berücksichtigt und ausdrück-
lich klargestellt, dass das eingeschränkte Weisungsrecht
einer Sozialversicherungspflicht nicht entgegensteht. Ich
bin mir sicher, dass wir mit diesem Gesetz einen gesell-
schaftspolitischen Meilenstein setzen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darum kann ich die betroffenen Frauen abschließend
nur noch auffordern: Nehmen Sie das Gesetz selbstbe-
wusst in Anspruch! Machen Sie im eigenen Interesse von
der Chance Gebrauch, sich für das Alter oder den Krank-
heitsfall abzusichern! Wenn dies geschieht, bin ich mir
auch sicher, dass der von uns geforderte Bericht der Bun-
desregierung nach Ablauf von drei Jahren so positiv aus-
sehen wird, dass wir wissen: Wir haben ein gutes Gesetz
gemacht.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419607900
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.


Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1419608000
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute soll der
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der rechtlichen
und sozialen Situation der Prostituierten verabschiedet
werden.

Lea Ackermann, die engagierte katholische Ordens-
frau, bezeichnete dieses Gesetz als einen „Schritt in die
falsche Richtung“. Die Position der Frauen bleibe
schlecht und die der Zuhälter werde gestärkt. – Ich kann
mich dieser Meinung nur anschließen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir jetzt aber einmal erklärt haben!)


Der Gesetzentwurf befasst sich nur mit wenigen Teil-
aspekten der tatsächlichen Problematik. Etwa die Hälfte
der 400 000 Prostituierten in Deutschland lebt als Opfer
von Menschenhandel oder als Ausländerinnen und Aus-
länder, die diese Tätigkeit illegal in Deutschland ausüben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind sie bisher auch völlig rechtlos!)


Für sie bietet der Entwurf keinerlei Verbesserungen oder
Alternativen. Die andere Hälfte der Prostituierten hat sich
mehr oder weniger freiwillig dafür entschieden. Die
selbstständigen Prostituierten, die in keinerlei Be-
schäftigungsverhältnis stehen, sind ausgeschlossen. Nur
wenige betrifft das Gesetz. Aber auch diese können kaum
mit Verbesserungen ihrer rechtlichen und sozialen Situa-
tion rechnen.

Dazu kommt, wie uns die Erfahrungen in den Nieder-
landen zeigen, dass viele Prostituierte in die Illegalität
flüchten, weil sie keine Sozialabgaben bezahlen wollen.

Dieser Gesetzentwurf begegnet der Doppelmoral, mit
der über dieses Thema gesprochen wird, nicht. Im Ge-
genteil: Er zementiert diese noch. Durch dieses Gesetz
wird kein Bewusstseinswandel bei den Menschen statt-
finden.


(Anni Brandt-Elsweier [SPD]: Hat er schon!)


Der Kauf einer sexuellen Dienstleistung, die den Körper
zu einer Ware degradiert, widerspricht der menschlichen
Würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele Prostituierte leben in großer Not: in seelischer Not,
die durch Herabwürdigung, Gewalt und Ausbeutung her-
vorgerufen wird. Sie leben aber auch in großer finanziel-
ler Not; denn Miete und Abgaben müssen bezahlt werden;
40 bis 60 Prozent des Lohns schröpfen die Zuhälter und
Bordellwirte ab.


(Hanna Wolf [München] [SPD]: Deshalb wollen wir sie ja befreien!)


Wir von der CDU/CSU-Fraktion werden Prostitution
nicht als normalen Beruf anerkennen. Er ist kein Beruf
wie Friseurin oder Sachbearbeiterin.


(Christina Schenk [PDS]: Das ist wahr! Das ist ein anderer Beruf!)


Die Degradierung des Körpers zur Ware widerspricht der
Wertordnung des Grundgesetzes.


(Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU])


Prostitution ist sittenwidrig. Wenn es stimmt, was Statis-
tiken sagen, dann verschweigen täglich 1 Million Männer
ihrer Frau oder Partnerin, dass sie Sex gegen Bezahlung
hatten.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sind nicht alle verheiratet!)


Die Vermarktung des menschlichen Körpers verletzt nicht
nur das Anstandsgefühl der überwältigenden Mehrheit
der Bevölkerung, sondern verletzt die Würde der Prosti-
tuierten selbst.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit ist ein falsches
Signal. Die Gesellschaft wandelt sich; unwandelbar bleibt
aber die Menschenwürde. Der Gesetzgeber darf grund-
legende Wertvorstellungen nicht leichtfertig preisgeben.
Die gegenseitige Achtung und Respektierung der Men-
schenwürde darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es ist
moralisch fragwürdig, wenn der Körper zur Ware wird.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entspricht leider der Situation in Deutschland!)


Sozialarbeiterinnen, die in der Szene tätig sind, bestäti-
gen: Prostitution zerstört die Persönlichkeit und sie schä-
digt Körper und Seele. Der Gesetzgeber hat die Pflicht,
seine schützende Hand über einen ausgebeuteten und

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Anni Brandt-Elsweier

19195


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schwachen Teil der Gesellschaft zu halten. Das tun Sie mit
Ihrem Gesetz nicht.

Ich kann Alice Schwarzer nur zustimmen. Sie sagt,
dass man Prostitution nicht aus der Sicht der Freier be-
trachten darf. Sie ist der Meinung, dass die gesellschaftli-
che Debatte dazu neigt, das Problem zu verharmlosen.


(Christina Schenk [PDS]: Auch Alice Schwarzer hat schon viel Unsinn gesagt!)


Es besteht die Gefahr, dass die Prostitution in dieser De-
batte salonfähig gemacht wird. Wir müssen die Wahrneh-
mungen und täglichen Erniedrigungen der Prostituierten
bei unseren Initiativen im Blick haben.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die entwürdigende
Lebens- und „Arbeitssituation“ der Prostituierten ver-
bessert werden muss.

Es geht um die Verbesserung der hygienischen Zu-
stände, um die Stärkung der Rechte der Prostituierten und
um ihre soziale Absicherung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, eben!)


Es geht aber auch um die Schaffung von Alternativen und
um Ausstiegsmöglichkeiten für die Frauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die wenigsten dieser Frauen – die Regierungskoalition
will uns etwas anderes glauben machen – gehen der Pros-
titution freiwillig nach. Das geht auch aus Umfragen ganz
deutlich hervor, wonach sich die Prostituierten für ihre
Töchter oder Söhne keinesfalls die gleiche Arbeits- und
Lebenssituation wünschen.

Über die Hälfte der Prostituierten ist zwangsprostitu-
iert oder lebt als Opfer von Menschenhandel in sehr star-
ker Abhängigkeit von Zuhältern und Bordellbetreibern.
Die von Ihnen geplante Abschaffung des § 180 a Abs. 1
Ziffer 2 wird diese Abhängigkeit noch verstärken.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden werden
dadurch eingeschränkt; das kriminelle Milieu kann sich
weiter ausbreiten. Die Schaffung günstiger Arbeitsbedin-
gungen, also hygienischer und menschenwürdiger Ver-
hältnisse, hätten Sie durch eine klarstellende Änderung
der Vorschrift erreichen können. Das haben die Fachleute
in der Anhörung unmissverständlich zum Ausdruck ge-
bracht. So aber fördern Sie die persönliche und wirt-
schaftliche Abhängigkeit der Prostituierten.

Den Strafverfolgungsbehörden wird ein wichtiges Ins-
trument aus der Hand geschlagen, um gegen die Ausbeu-
tung von Prostituierten durch die Bordell- und Zuhälter-
szene vorzugehen. Von den Betreibern einschlägiger
Einrichtungen wird der Druck der Strafverfolgung ge-
nommen. Dadurch neu geschaffene Freiräume werden zur
Maximierung der eigenen Profite genutzt, ohne irgend-
eine Verbesserung für die Prostituierten dabei im Blick zu
haben. Das ist unsere Befürchtung.

Die von Ihnen vorgeschlagene Neufassung des § 181
Abs. 2 bringt nach meiner festen Überzeugung den Pros-
tituierten keine Verbesserung. Sie unterscheiden nun le-
diglich zwischen „guten“ und „schlechten“ Zuhältern.
Wem soll damit geholfen sein, wenn Sie in dem zu verab-
schiedenden Gesetz festlegen, dass sexuelle Ausbeutung
nur da vorliegt, wo „die wirtschaftliche oder persönliche
Bewegungsfreiheit der Prostituierten“ beeinträchtigt sei?
Wie wollen Sie das denn beurteilen? Wo ist hier die
Grenze? Diese Formulierung ist lebens- und realitätsfern
und wird höchstens, wie Sie selber zugestehen, die Ge-
richte beschäftigen. Prostituierte werden von Zuhältern
ausgenutzt und ausgebeutet. Nur der allergeringste Teil
der Prostituierten ist organisiert und kann sich zur Wehr
setzen.

Meine Damen und Herren, insgesamt werden 12,5 Mil-
liarden DM pro Jahr durch Prostitution in Deutschland er-
wirtschaftet. Der geringste Teil davon geht an die Frauen,
die dieses Geld anschaffen. Ihre Zuhälter verdienen an ih-
nen, ebenso Drogenkartelle und Geldwäscher. Die
wohlverdienende Edelprostituierte ist die absolute Aus-
nahme. Der allergrößte Teil der Frauen wird schlicht aus-
gebeutet.

Die Bereitstellung hygienischer und guter Arbeitsbe-
dingungen ist erstrebenswert. Mit dieser Gesetzesrege-
lung werden Sie jedoch dieses Ziel nicht erreichen. Im
Gegenteil, die Folgen dieser Regelung wären für die
Frauen fatal. Sie bedeuten nämlich auch, dass Zuhälter
auf dem Straßenstrich legal „arbeiten“ können. Die Fol-
gen für die Frauen: Sie werden in diesem Milieu noch
mehr unter Druck gesetzt; ihnen werden noch mehr Vor-
schriften gemacht.

Zudem hat die Legalisierung eine Stärkung der organi-
sierten Kriminalität zur Folge. Zuhälterringe zwingen
Frauen zur Prostitution. Gegen sie vorzugehen wird für
die Polizei und die Staatsanwaltschaft noch schwerer.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erklären Sie das mal!)


Zwangsprostitution ist anhand von Gewalt oder Drohung
schwer nachzuweisen. Genauso ist es bei einer Anklage
wegen Nötigung oder Erpressung. Bleibt also nur die An-
klage wegen Zuhälterei. Bei der Legalisierung gehen die
Männer dann straffrei aus. Hilft das den Frauen?

Wir wollen den Prostituierten helfen. Dazu soll eine
bessere soziale Absicherung beitragen. Die Abschaffung
der Sittenwidrigkeit ist zur Erreichung dieser Ziele nicht
notwendig, ganz abgesehen von der Tatsache, dass dies
nicht unsere Überzeugung ist. Der Tatbestand der Sitten-
widrigkeit muss bleiben.

Wir haben Ihnen einen Weg vorgeschlagen, wie auch
Prostituierte sozial abgesichert werden können, ohne dass
man die Sittenwidrigkeit aufgibt. Die Fachleute haben Ih-
nen bestätigt, dass das möglich ist. Sie jedoch haben die-
sen Weg, den wir mitgegangen wären, abgelehnt.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, durch Ihren Gesetzentwurf werden zahlreiche, von
Ihnen wahrscheinlich noch gar nicht bedachte Nebenfol-
gen für andere Regelungen verursacht. Beispielsweise

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Maria Eichhorn

19196


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müssen die Arbeitsämter jetzt entsprechende Ausnahme-
regelungen finden; Ähnliches gilt für die Unfallversiche-
rung und auch für die gesetzliche Krankenversicherung.
Ohne diese Ausnahmeregelungen könnte man zum Bei-
spiel die Arbeitsämter mit der Vermittlung von Huren be-
auftragen. Das ist natürlich absurd und zeigt, dass Ihre
Gesetzesvorlage nicht zu Ende gedacht ist.

Für uns ist wichtig, dass es Ausstiegsmöglichkeiten
für Prostituierte gibt. Hierfür sind konkrete Maßnahmen
erforderlich. Bereits heute können zum Beispiel Umschu-
lungsmaßnahmen für Prostituierte bewilligt werden. Das
Sozialministerium des Freistaates Bayern fördert in
Nürnberg ein Projekt „Umstiegsbegleitung“, das die
Frauen über einen längeren Zeitraum begleitet, berät und
unterstützt und die Aufgabe hat, Lebensperspektiven für
sie zu finden. Der bayerische Arbeitsmarktfonds und das
zuständige Arbeitsamt fördern das Projekt KOBRA. Auch
hier werden unter Berücksichtigung der besonderen
Situation und Lebensumstände Prostituierter Perspekti-
ven und Strategien für die ausstiegswilligen Frauen ent-
wickelt.

Es ist positiv zu bewerten, dass den Prostituierten nun-
mehr alle gesetzlichen Möglichkeiten der Arbeitsämter
zur Verfügung stehen, um den Schritt aus ihrer Tätigkeit
zu gehen. Dies muss das Ziel aller Maßnahmen sein. Es
geht um so viel Absicherung wie nötig, aber so viel Aus-
stieg wie möglich.

Prostitution ist eine gesellschaftliche Realität. Wir
werden sie nicht abschaffen können. Dadurch aber, dass
man diese Realität zur Normalität erklärt, macht man sie
für die Betroffenen nicht besser und auch nicht leichter.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie ist es mit der Kriminalisierung?)


Wir brauchen über dieses Thema eine gesellschaftliche
Diskussion auf breiter Basis. Wir brauchen ein gesell-
schaftliches Klima, das Angebot und Nachfrage in glei-
cher Weise als menschenunwürdig ansieht. Wir müssen
gegen die Doppelmoral angehen, die zu diesem Thema in
unserer Gesellschaft herrscht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie mal einen Vorschlag! – Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Wie tun Sie das denn?)


Man kann nicht das Handeln der Prostituierten und das ih-
rer Kunden unterschiedlich beurteilen. Es ist empörend,
dass der Freier moralisch weitgehend unbelangt bleibt
– in manchen Bereichen gilt es sogar als besonders männ-
lich, ein Bordell zu besuchen –, während auf die Prostitu-
ierte mit dem Finger gezeigt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Freier zahlen und halten sich damit für ehrenwerte
Leute. Dem müssen wir begegnen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann tun Sie das einmal!)


Ich wünschte mir, die Regierungskoalition hätte die
Chance dazu genutzt. Wir zeigen Ihnen in unserem Ent-
schließungsantrag die gravierenden Mängel dieses Ge-
setzentwurfs auf.


(Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Ein besserer Gesetzentwurf liegt von Ihnen nicht vor!)


Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit verharmlost die
Prostitution und ihr Umfeld. Das ist ein falsches Signal.
Den Frauen muss geholfen werden, nicht der Prostitution.
Deshalb lehnen wir als Unionsfraktion diesen Gesetzent-
wurf ab.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Welch eine Überraschung!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1419608100
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Irmingard Schewe-Gerigk.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Eichhorn, ich glaube nicht, dass Sie mit Ihrer heuti-
gen Rede die Mehrheit Ihrer Fraktion repräsentiert haben.
Wir haben mit vielen einzelnen Ihrer Fraktionskollegen
Gespräche geführt. Ich dachte eigentlich, wir seien schon
einen Schritt weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Heute ist ein wichtiger Tag nicht nur für Prostituierte,
die endlich die gleichen Rechte wie andere Arbeitnehme-
rinnen erhalten und die ab heute nicht mehr Bürgerinnen
zweiter Klasse sind, die zwar Pflichten, aber keinerlei so-
ziale Rechte haben. Es ist auch ein guter Tag für unsere
Demokratie; denn es ist eines Rechtsstaats nicht würdig,
dass er einem Teil seiner Bürgerinnen wichtige Rechte
vorenthält. Diesen Zustand beenden wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Gesetz ist zugleich ein großer Erfolg grüner Frau-
enpolitik. Schon 1990 haben die Grünen als erste Fraktion
einen Gesetzentwurf zur Antidiskriminierung von Prosti-
tuierten in den Bundestag eingebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damals wurde das noch belächelt. Wir haben aber er-
reicht, dass dadurch eine Debatte angestoßen wurde, die
inzwischen die gesamte Öffentlichkeit für die bestehen-
den Ungerechtigkeiten sensibilisiert hat. Wenn heute
diese Position eine große Mehrheit im Parlament findet,
dann sind wir schon ein wenig stolz darauf.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Allerdings gilt: Ohne das Engagement einer Reihe von
Bundestagskolleginnen aller Fraktionen wären wir heute
nicht so weit. Aber auch ohne den enormen Einsatz der
Hurenbewegung und einzelner Frauen wäre dieser Erfolg

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Maria Eichhorn

19197


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nicht zustande gekommen. Stellvertretend nenne ich
Christine Drössler und begrüße auf der Tribüne Stefanie
Klee und Felicitas Weigmann, die sich nicht hat unter-
kriegen lassen, immer wieder auf die Doppelmoral hinzu-
weisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie lieferte den Grund dafür, dass Ende 2000 das Verwal-
tungsgericht Berlin zum ersten Mal seit 100 Jahren ein Ur-
teil gesprochen hat, wonach die freiwillige Prostitution von
Erwachsenen nicht mehr als sittenwidrig anzusehen ist.
Richter McLean und seinem Kollegium sei gedankt; denn
das Urteil hat der Politik enorme Schubkraft verliehen.

Dieses Urteil teilen Sie, meine Damen und Herren von
der CDU/CSU, nicht.


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Aus gutem Grunde!)


Sie möchten die Sittenwidrigkeit weiter festschreiben.
Dennoch teilen Sie die Ziele dieses Gesetzes, wie ich
gehört habe. Das ist sicherlich auch ein Verdienst der Kol-
legin Falk. Aber wenn man die entsprechenden Gesetze
nicht ändert, kann man diese Ziele einfach nicht errei-
chen. Darum bitte ich Sie: Springen Sie doch einfach über
Ihren Schatten und stimmen Sie diesem Gesetz zu!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ CSU]: Sie hätten unsere Vorschläge aufgreifen können!)


Sie hätten dann nicht nur 70 Prozent der Bevölkerung hin-
ter sich. Inzwischen werden Sie sogar schon von Teilen
der Kirche dazu aufgefordert, so zu handeln. Wenn etwas
sittenwidrig ist, Frau Kollegin Eichhorn, so höchstens die
von Doppelmoral geprägte Rechtspraxis, die nicht die
Kunden und die Profiteure der Sexindustrie – einschließ-
lich des Staates mit seinen Steuereinnahmen – be-
nachteiligt, sondern ausschließlich die Prostituierten. Ich
finde, das ist sittenwidrig.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Wir verabschieden heute ein Gesetz, das die Lebens-
und Arbeitsbedingungen von Prostituierten deutlich
verbessern wird. Prostituierte können künftig rechtswirk-
same Vereinbarungen mit Kunden und Arbeitsverträge
mit Arbeitgebern schließen. Sie können in die Sozialver-
sicherung aufgenommen werden und haben dadurch,
wenn sie es wollen, gute Ausstiegsperspektiven. Sie ha-
ben ein Recht auf gute Arbeitsbedingungen. Wir schaffen
die rechtlichen Voraussetzungen, dass Prostituierte nicht
länger im gesellschaftlichen Abseits stehen.

Sie sprechen die Menschenwürde an, Frau Eichhorn.
Menschenwürde heißt auch, angemessen am gesellschaft-
lichen und sozialen Leben teilhaben zu können. Das be-
deutet soziale Absicherung, sei es im Falle einer Krank-
heit oder im Alter.


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Dagegen haben wir ja nichts! Aber wir wollen einen anderen Weg!)


Das ist dringend notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS)


Hierzu einige Zahlen: Das Bild der Porsche fahrenden,
im Luxus schwelgenden Prostituierten trügt. Das Durch-
schnittsseinkommen beträgt 2 000 DM monatlich. 20 Pro-
zent aller Prostituierten sind überhaupt nicht kranken-
versichert. Über 70 Prozent sind nicht rentenversichert
und 98 Prozent verfügen über keinerlei Vermögen. Das er-
gab eine Untersuchung der Universität Kiel. Diese un-
haltbare Situation werden wir ändern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir stärken ganz bewusst einseitig die Rechte der
Frauen, indem wir den Arbeitgebern nur ein einge-
schränktes Weisungsrecht zugestehen. Danach können
Arbeitgeber zwar über Ort und Zeit bestimmen, nicht aber
über die Art der Leistungen und die Auswahl der Kunden.

In der Bundestagsanhörung über dieses Gesetz hatten
einige Sachverständige Zweifel, ob bei dieser Konstruk-
tion tatsächlich auch ein Beschäftigungsverhältnis vor-
liegt, das eine Sozialversicherung begründet. Darum
haben wir in dem vorliegenden Änderungsantrag aus-
drücklich die Aufnahme in die Sozialversicherung vorge-
sehen.

Wir haben mit einem weiteren Paradox aufgeräumt,
dass sich nämlich jemand strafbar macht, wenn er der
Prostituierten hygienische, sichere oder gut ausgestattete
Arbeitsbedingungen schafft, während derjenige straflos
bleibt, der einer Prostituierten in menschenunwürdigen
Verhältnissen gegen eine überhöhte Miete Unterkunft ge-
währt. Das ist menschenverachtend. Auch damit machen
wir heute Schluss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Daher streichen wir den Paragraphen „Förderung der
Prostitution“. Strafbar bleibt weiterhin die Ausbeutung
von Prostituierten. Zusätzlich haben wir klargestellt, dass
sich ein Arbeitgeber nicht strafbar macht, wenn er Prosti-
tuierte in der Sozialversicherung anmeldet. Durch diese
Änderung ist der Gesetzentwurf erheblich rechtssicherer
geworden. Unsere Hartnäckigkeit in dieser Sache hat sich
also ausgezahlt.

Viele zustimmende Zuschriften haben mich in den letz-
ten Wochen erreicht; ich vermute, auch Sie. Erst gestern,
Frau Eichhorn, hat auch die Diakonie moralische Verur-
teilung abgelehnt und die Sozialversicherung für Prostitu-
ierte befürwortet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit diesem Gesetzentwurf haben wir einen Riesen-
schritt auf dem Weg zur rechtlichen Gleichstellung von
Prostituierten gemacht. Ich bin sicher, dass wir dadurch
auch einem Teil der Kriminalität die Grundlage entzie-
hen. Natürlich hätte ich mir gewünscht, auch die Sperr-
bezirksverordnung zu streichen, weil sie Sexarbeiterinnen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Irmingard Schewe-Gerigk

19198


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gettoisiert und zur Kriminalität beiträgt. Das hätte jedoch
der Zustimmung des Bundesrates bedurft, womit das ge-
samte Gesetz verzögert, wenn nicht gar ganz verhindert
worden wäre.

Lassen Sie mich mit einem Satz aus der bereits zitier-
ten Kieler Studie schließen:

Am Beginn des 3. Jahrtausends wird es für einen
Staat, dessen Grundgesetz die unantastbare Würde
des Menschen als oberste Maxime nennt, Zeit, die
Anachronismen in der Rechts- und Sozialsituation
der Prostituierten aufzuarbeiten.

Das haben wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ge-
tan. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419608200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1419608300
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die FDP als liberale Partei wendet sich ge-
gen jegliche Diskriminierung von Gruppen in unserer
Gesellschaft. Prostituierte werden bisher mit dem Makel
der Sittenwidrigkeit belegt. Mit dem Gesetzentwurf wird
endlich die längst nicht mehr zeitgemäße Sittenwidrigkeit
der Prostitution abgeschafft und dem stimmen wir zu.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Endlich haben Prostituierte nicht mehr nur Pflichten,
sondern auch Rechte. Unsere Gesellschaft ist in vielen
Bereichen von einer bemerkenswerten Doppelmoral ge-
prägt, mit der mancher gut lebt. Hunderttausende Prosti-
tuierte, Frauen und Männer, und eine große Anzahl von
Freiern bestimmen das Bild eines Teils unserer Gesell-
schaft. Da mag jeder für sich seinen eigenen moralischen
Maßstab bestimmen. Der Gesetzgeber – das ist das Parla-
ment – hat jedoch die Aufgabe, Gesetze zu überprüfen
und bestimmten Personengruppen Rechte nicht vorzuent-
halten.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Aber auch hier haben, wie im Bereich des Steuerrech-
tes, Gerichte eher als das Parlament Entscheidungen
vorgeprägt. Das Berliner Verwaltungsgericht hat im De-
zember letzten Jahres dem rot-grünen Gesetzentwurf zu-
sätzlich Flügel verliehen. Das Gericht entschied in einem
Fall, dass Prostitution nicht mehr als sittenwidrig anzuse-
hen ist. Hier besteht und bestand somit gesetzgeberischer
Handlungsbedarf.

Das hat auch die öffentliche Anhörung, die wir als
Bundestagsausschuss vorgenommen haben, deutlich ge-
macht. In dieser Anhörung haben wir die gesetzlichen Än-
derungen diskutiert, mit Fachleuten aus den Bereichen
Zivilrecht, Sozialversicherungsrecht, Kriminalitätsbe-

kämpfung bis hin zur Mitternachtsmission. Danach haben
die Fraktionen von SPD und Grünen noch einmal Teile
des Entwurfes geändert.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist auch gut so!)


– Darauf wollen wir nicht abheben. Wir bleiben jetzt erst
einmal hier im Parlament, Frau Schewe-Gerigk,


(Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Wovon hat sie denn geredet?)


und konzentrieren uns nicht auf den Wahlkampf, der am
Sonntag endlich sein Ende finden wird. Für uns wird er
ein gutes Ende finden.

Die FDP hat selbst einen Änderungsantrag und einen
Entschließungsantrag in den Ausschuss eingebracht. Da-
nach soll – das war ja hier Streitpunkt – § 181 a Abs. 2 des
Strafgesetzbuches ersatzlos gestrichen und durch eine
klarere Formulierung im Gesetz ersetzt werden. Es bleibt
aber festzustellen, dass Rot-Grün dies ein wenig mutlos
abgelehnt hat. Ihre Formulierung ist meines Erachtens
– das ist auch bei den Beratungen in der Fraktion deutlich
geworden – nicht so gut und nicht so klar, wie wir das
gerne gehabt hätten. Aber das wurde von Ihnen ja abge-
lehnt. Wir werden sehen, wie Ihre Formulierung im Ge-
setz letztendlich trägt.

Wir haben ferner einen Entschließungsantrag einge-
bracht, der auch das Ordnungswidrigkeitengesetz be-
trifft. Sie wissen, es gibt das Werbeverbot. Besonders
nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes ist es sehr skurril,
was sich durch die §§ 119 und 120 OWiG ergibt. Hier sind
auch die Bundesländer gefragt. Sie haben zugestimmt,
dass wir die Bundesregierung beauftragt haben, zusam-
men mit ihnen Änderungen zum Ordnungswidrigkeiten-
gesetz zu erarbeiten. Ich erwarte, dass das nicht auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. Frau Brandt-
Elsweier, wir sind uns sicherlich einig, dass uns vielleicht
bis zum Frühjahr nächsten Jahres eine Lösung, an deren
Erarbeitung auch die Bundesländer beteiligt waren, vor-
gelegt wird und wir darüber beraten können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich will hier ganz deutlich betonen, dass sich die ge-
setzlichen Regelungen, die wir heute beraten, nur auf die
hier legal tätigen Prostituierten beziehen. Ausbeutung von
Menschen, sie in Abhängigkeit bringen, illegaler Men-
schenhandel und andere Straftaten stehen auch weiterhin
unter Strafe.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Dr. Irmgard Schwaetzer [FDP]: Das ist auch gut so!)


Was bisher fehlt, war die soziale Absicherung, also
der einklagbare Rechtsanspruch auf Entlohnung. Der Zu-
stand, dass zum Beispiel bereits die Bereitstellung von
Kondomen nach geltendem Recht als Förderung von
Prostitution angesehen wurde, wird jetzt beseitigt.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das möchte Frau Eichhorn weiter aufrechterhalten!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Irmingard Schewe-Gerigk

19199


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(B)


Mit diesem Gesetz wird erstmals die Möglichkeit einer
Arbeitnehmertätigkeit eingeführt. Die Möglichkeit für
Prostituierte, sozialversichert tätig zu sein, also ein le-
gales Arbeitsverhältnis einzugehen – das wurde ja gefor-
dert –, wurde jetzt ermöglicht.

Ob Prostituierte und Bordellbetreiber solche Vertrags-
verhältnisse eingehen werden, bleibt abzuwarten. Des-
halb ist es erforderlich, das Gesetz nach drei Jahren zu
überprüfen; denn ein Gesetz kann nicht nur etwas Positi-
ves ergeben, sondern es kann auch Entwicklungen geben,
die wir vielleicht regulieren müssen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, nachbessern!)


Wir werden sehen, ob von den gesetzlichen Regelungen
hinsichtlich der Sozialversicherung Gebrauch gemacht
wird.

Zum Schluss: Alles, was mit Zwang einhergeht – darin
sind wir uns einig –, ist und bleibt weiterhin strafbar. Des-
halb bleibt es dabei: Jeglicher Zwang zur Prostitution so-
wie die Ausbeutung von Prostituierten bleiben weiter un-
ter Strafe gestellt. Die FDP sieht in diesem Gesetzentwurf
ein Stück Entdiskriminierung einer Personengruppe. Des-
halb werden wir dem Gesetzentwurf unsere Zustimmung
geben.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419608400
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christina Schenk.


Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1419608500
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Heute wird der lange, ebenso nach-
drücklich wie fantasievoll geführte Kampf der Huren und
Stricher nun endlich zu einem ersten gesetzgeberischen
Schritt führen. Die PDS-Fraktion begrüßt das ausdrück-
lich.


(Beifall bei der PDS)


Allerdings sind die Unzulänglichkeiten des rot-grünen
Gesetzentwurfs ebenso offensichtlich wie aus unserer
Sicht unnötig, sodass es in den Reihen der PDS nicht nur
Zustimmung, sondern auch Enthaltungen geben wird.

Die Anerkennung der Prostitution als Beruf ist über-
fällig. Dafür gibt es in der Bevölkerung längst eine Mehr-
heit und auch Rückendeckung bei den Gerichten. SPD
und Grüne haben aus dieser Situation, wie ich finde, sehr
wenig gemacht. Ihre erklärte Absicht, die rechtliche und
soziale Situation der Prostituierten zu verbessern, ist löb-
lich. Aber das, was Sie hier vorgelegt haben, ist nicht mehr
als der kleinstmögliche Schritt, dessen Praxistauglichkeit
zudem von den Expertinnen und Experten, den Prostitu-
ierten selbst, noch bezweifelt wird.

In der Anhörung haben die Sachverständigen den rot-
grünen Entwurf massiv kritisiert. Ich bin enttäuscht, dass
angesichts der deutlichen Worte nur geringfügig nachge-
bessert worden ist. Die Prostituierten sagen zu Recht, dass
dieses Gesetz zwar die Tür öffnet, aber eben nur einen
winzigen Spalt breit.

Ich will hier klar sagen, worin aus unserer Sicht die
Mängel des rot-grünen Gesetzentwurfes bestehen: Es ist
ein Gesetz speziell für Prostituierte. Das heißt, ihnen wird
im Vergleich mit anderen Erwerbstätigen eine Sonder-
stellung zugewiesen. Eine gleichrangige Behandlung mit
anderen Tätigkeiten findet nicht statt. Eigens für die Pros-
titution wurde die Konstruktion eines einseitig verpflich-
tenden Vertrages erfunden, mit dem die Rechte der Ar-
beitgeber und Arbeitgeberinnen gegenüber abhängig
beschäftigten Prostituierten unverhältnismäßig beschnit-
ten werden. Dieser Vertrag wird von den Prostituierten
selbst abgelehnt. Das Abtretungsverbot von Forderungen
bewirkt sogar eine Verschlechterung gegenüber der
jetzigen Situation. Notwendige Änderungen im Auslän-
dergesetz wurden unterlassen. Die Veränderungen im
Strafgesetzbuch sind völlig unzureichend. Auch das Wer-
beverbot und die Sperrgebietsverordnung bleiben unan-
getastet. Hier ist der Hinweis auf den Bundesrat sicher an-
gebracht und zu berücksichtigen; dennoch hätte ich mir in
diesem Zusammenhang mehr Engagement erwartet und
erhofft.

Meine Schlussfolgerung ist, dass die Prostitution wei-
terhin – so befürchte ich zumindest – in einer rechtlichen
Grauzone stattfindet. Der Grund ist offensichtlich: In der
Koalition dominiert immer noch das Bild der unterdrück-
ten und in die Prostitution gepressten Kreatur, die nur über
ein eingeschränktes Maß an Selbstbestimmung verfügt
und daher eines besonderen Schutzes bedarf. Von der
CDU/CSU-Fraktion möchte ich in diesem Zusammen-
hang gar nicht erst sprechen.

Die Prostituierten indes haben gezeigt, dass dieses Bild
mittlerweile nicht mehr der Realität entspricht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch sehr unterschiedlich!)


Das ist in diversen kriminologischen Studien nachgewie-
sen worden. Der weit überwiegende Teil der Prostituier-
ten hat sich freiwillig zur Aufnahme und Fortsetzung ih-
rer Tätigkeit entschlossen. Die Hure von heute hat mit
dem gefallenen Mädchen von einst nichts mehr gemein.
Sie entspricht eher dem Typ einer Unternehmerin oder ei-
ner selbstbewussten Angestellten. Die Politik täte gut da-
ran, das endlich zur Kenntnis zu nehmen und zu respek-
tieren.

Die PDS hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem
sie im Unterschied zu dem von Rot-Grün die bis heute
praktizierte rechtliche Diskriminierung von Personen,
die sexuelle Dienstleistungen erbringen, vollständig be-
seitigen will. Prostituierte und Stricher könnten normale
Arbeitsverträge abschließen und hätten dadurch Zugang
zu den sozialen Sicherungssystemen. Sie müssten ihre
Dienstleistung nicht länger als Massage tarnen und könn-
ten bereits in Anzeigen darauf hinweisen, dass es mit ih-
nen nur Safer Sex gibt. Die Sperrgebietsverordnung wäre
aufgehoben und Bordellbesitzer würden sich nicht länger
strafbar machen, wenn sie für ihre Beschäftigten gute Ar-
beitsbedingungen schaffen. Im Gegenteil: Die Konkur-
renz um gutes Personal würde sie, wie das Beispiel Nie-
derlande zeigt, regelrecht dazu zwingen, sich um ein
angenehmes Betriebsklima zu bemühen. Der Weg wäre
frei für Standesinnungen, die die gewerblichen Interessen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Ina Lenke

19200


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der Huren und Stricher vertreten. Prostitution wäre ein
normaler Beruf. Sonderregelungen gäbe es nur insofern,
als sie – wie auch bei anderen Berufen – durch die Be-
sonderheiten des Berufsbildes geboten sind.

Wir wollen die vollständige rechtliche Gleichstellung
von Prostitution mit anderen Berufen und haben daher in
unserem Gesetzentwurf die Einordnung der Prostitution
in das Dienstvertragsrecht des BGB vorgeschlagen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Eine Gleichbehandlung von Prostituierten mit anderen
Berufstätigen erfordert auch die Streichung aller geson-
derten Strafrechtsnormen. Dieser bedarf es nicht, da Ge-
walt, Nötigung, Körperverletzung und Erpressung bereits
durch allgemeine Regelungen im Strafgesetzbuch erfasst
sind. Die rechtliche Anerkennung der faktisch ohnehin
vorhandenen Arbeitsverhältnisse würde diese unter ar-
beitsrechtlichen und sozialen Schutz stellen, der letztend-
lich bedeutend effektiver wäre als der durch das Straf-
recht.

Ich bin sicher, dass wir spätestens bei Wiedervorlage
des rot-grünen Gesetzes in drei Jahren auf die Vorschläge
der PDS zurückkommen werden.

Danke schön.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419608600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.


Prof. Dr. Jürgen Meyer (SPD):
Rede ID: ID1419608700
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzgeber kann
die gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen, die der
– in der Rechtssprache bis heute so bezeichneten – ge-
werbsmäßigen Unzucht nachgehen, nicht mit einem Fe-
derstrich beseitigen. Aber er kann Zeichen setzen. Aus un-
serer Sicht muss es dabei um die Beseitigung der
rechtlichen und sozialen Benachteiligung von Prosti-
tuierten gehen, nicht aber um eine Verbesserung der
Rechtsposition von Freiern oder Zuhältern.

In der schwierigen Debatte der vergangenen Jahre
schienen wir manchmal einem fraktionsübergreifenden
Konsens unter Einschluss der CDU/CSU-Fraktion nahe
zu sein. Ich zitiere die geschätzte Kollegin Ilse Falk aus
der Debatte vom 11. Mai 2001 in diesem Hause:

Seien wir doch ehrlich: Die Gesetze, die wir über all
die Jahre so heftig verteidigt haben, haben Zustände
und Entwicklungen, die wir heute diskutieren, mit-
nichten verhindert.

Versuchen wir doch einmal neue Ansätze. Fesseln
wir uns doch nicht immer wieder selber mit dem Be-
griff der Sittenwidrigkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Christina Schenk [PDS]: Recht hat sie!)


Frau Kollegin, Sie hätten auch den CDU-Kollegen
Professor Scholz zitieren können, den derzeitigen Vorsit-
zenden des Rechtsausschusses, der vor 20 Jahren im

Kommentar von Maunz-Dürig zu Art. 12 des Grundge-
setzes die Auffassung vertreten hat, dass die Prostitution
nicht sittenwidrig ist. Sie hätten auch die Frauenminister-
konferenz zitieren können, die unter Mitwirkung der
zuständigen Ministerinnen aller 16 Bundesländer im Juni
1995 bei nur zwei Gegenstimmen die Bundesregierung
aufgefordert hat, Maßnahmen zur Verbesserung der recht-
lichen und sozialen Situation von Prostituierten zu ergrei-
fen. Die Ministerinnen haben diese Forderung folgender-
maßen konkretisiert – ich zitiere –:

Auf bundesgesetzgeberischer Ebene sollte klarge-
stellt werden, dass der Dienstleistungsvertrag zwi-
schen Prostituierter und Freier nicht sittenwidrig ist,
damit die Prostituierten einen rechtlich durchsetz-
baren Anspruch auf Bezahlung haben.

Damit haben die Frauenministerinnen genau den archi-
medischen Punkt getroffen, denn das Sittenwidrigkeitsur-
teil ist nicht nur im Bereich des Sozialrechts, sondern auch
im Bereich des Zivilrechts, wie die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes zum Beispiel zur Schadensersatz-
leistung nach unverschuldeten Unfällen im Straßenver-
kehr zeigt, und vor allem im Strafrecht ganz wesentlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ausführungen, die wir immer wieder vonseiten der
CDU/CSU hören, gleichen ein wenig – gestatten Sie mir
diesen Vergleich – der Echternacher Springprozession,
die sich seit Jahrhunderten mit zwei Sprüngen vorwärts
und einem Sprung rückwärts der Krypta mit den Gebei-
nen des heiligen Willibrord nähert.


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Respektieren Sie doch unterschiedliche Meinungen!)


Ich mache Sie allerdings darauf aufmerksam, dass diese
Bewegungsart sogar in Echternach seit mehr als 50 Jah-
ren abgeschafft und einem langsamen Voranschreiten ge-
wichen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich bitte als Beleg, Frau Kollegin
Eichhorn, den eben von Ihnen vertretenen Änderungsan-
trag der CDU/CSU-Fraktion erwähnen. Sie setzen sich in
diesem Antrag immerhin dafür ein, dass die Sittenwidrig-
keit der Beschäftigung der Sozialversicherungspflicht
nicht entgegenstehen solle. Vorgestern ist dieser Antrag
der CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuss von sechs
der neun anwesenden CDU/CSU-Mitglieder abgelehnt
worden. Nur drei CDU/CSU-Mitglieder haben für den ei-
genen Antrag gestimmt. So viel zur Echternacher Spring-
prozession.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das ein Chaos bei der CDU/ CSU! Absolut regierungsunfähig! – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Der ist ja nicht federführend!)


Ich komme zum Strafrecht und zitiere hier im Zusam-
menhang mit dem § 180 a des Strafgesetzbuches den Kol-
legen Horst Eylmann, CDU, den früheren Vorsitzenden

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Christina Schenk

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des Rechtsausschusses. Er hat in der Plenarsitzung vom
17. April 1997 zunächst festgestellt:

Die Situation der Prostituierten ist schlimm. Sie wer-
den gesellschaftlich diskriminiert und gesetzlich kri-
minalisiert. Ihre soziale Lage ist mies.

Zu § 180 a des Strafgesetzbuches – Sie lehnen in Ihrem
Antrag heute ja die Streichung von Abs. 1 Nr. 2 dieses Pa-
ragraphen ab – hat er dann festgestellt:

§ 180 a StGB: Also, Eroscenter sind erlaubt; damit
verdienen Leute viel Geld. Bordelle aber, die etwas
aufwendiger zu führen sind, auch was die Hygiene
angeht, sind plötzlich nicht mehr erlaubt. Wer will
das einsehen? Da müssten wir eigentlich etwas tun.

Recht hatte Herr Eylmann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Er hätte auch eine Klarstellung geben können!)


Sie lehnen nun in Ihrem Antrag, den Sie heute vertreten
haben, die Streichung des § 180 a Abs. 1 Nr. 2 ab


(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Aus gutem Grund!)


und beziehen sich dabei auf eine Äußerung des Sonder-
ausschusses für die Strafrechtsreform aus der 7. Legisla-
turperiode,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wann war das denn?)


die etwa 25 Jahre zurückliegt. Sind Sie nicht bereit, ein-
mal darüber nachzudenken, dass sich gesellschaftliche
Wertvorstellungen auch ändern können und sich der Ge-
setzgeber damit beschäftigen muss?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Gesetz war damals schon Mist, Herr Kollege!)


Ähnlich diffus ist die Situation bei der Kommentierung
des § 181 a Abs. 2 StGB, in dem es um die Vermittlung se-
xuellen Verkehrs geht und der teilweise so ausgelegt wird
– wie auch Sachverständige in unserer Anhörung bestätigt
haben –, dass die reine Vermittlung sexuellen Verkehrs
mit Prostituierten unter Strafe gestellt werden soll. Dies
ist wiederum nur durch das Sittenwidrigkeitsurteil zu
rechtfertigen. Wir stellen durch unseren Gesetzentwurf
klar, dass die Kommentierung von Lenckner im führen-
den Strafrechtskommentar von Schönke-Schröder richtig
ist, wonach das geschützte Rechtsgut sinnvollerweise in
diesem Paragraphen nur das Selbstbestimmungsrecht der
Prostituierten ist. Darum geht es! Dieses Rechtsgut ver-
dient Schutz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben viele, zu
viele Jahre nur geredet. Heute endlich handeln wir als Ge-
setzgeber. Wir hoffen, dass uns die Bundesregierung in

dem Erfahrungsbericht über die Anwendung des neuen
Rechts in drei Jahren bestätigt, dass wir zumindest eine
kleine Verbesserung der sozialen und rechtlichen Situa-
tion von Frauen erreicht haben.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419608800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christel Riemann-Hanewinckel.


Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1419608900
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte,
liebe Vertreterinnen der Hurenverbände! Der Weg der Ak-
zeptanz des ältesten Gewerbes der Welt in Deutschland ist
lang, uneben und mit Scheinheiligkeit und Doppelmoral
geradezu gepflastert. Uneben und holprig ist er vor allem
für die Frauen, die dem Gewerbe freiwillig nachgehen.
Die 1,2 Millionen Männer, die täglich in Deutschland Hu-
ren aufsuchen – in Bordellen, auf der Straße, in Klubs –,
haben bisher geradezu Schleichwege benutzt. Verächtlich
angesehen und diskriminiert werden nicht sie, sondern die
Frauen. Mit dem Gesetz, das wir hier heute hoffentlich
mit breiter Mehrheit verabschieden werden – das hat sich
ja schon angedeutet –, werden wichtige und notwendige
Schritte in eine Richtung getan, die mit der Scheinheilig-
keit und der Doppelmoral endlich aufräumt.

1993 hatte ich erste Gespräche mit der Hurenvereini-
gung Kassandra in Nürnberg. 1994 reichte Kassandra eine
Petition beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundes-
tages ein, in der die gesetzlichen Regelungen im Zivil-
und Strafrecht als frauenfeindlich und unzeitgemäß kriti-
siert und Änderungen vorgeschlagen wurden. Diese Peti-
tion hat dann der Petitionsausschuss 1996 als Material an
das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend überwiesen. Der Ausschuss unterstrich damals,
dass es erheblich sei, ob es sich um Zwangs- oder freiwil-
lige Prostitution handelt. In der Beschlussempfehlung
wurde herausgehoben, dass überlegt werden müsse, ob
sich im Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denken-
den nicht ein Wandel vollzogen habe, was die freiwillige
Prostitution angehe. Das war 1996.

Die Bundesregierung wurde aufgefordert, innerhalb ei-
nes Jahres einen Bericht vorzulegen, um zu prüfen, wie
die Situation geändert werden kann. Dieser Bericht
der Bundesregierung, den damals die Staatssekretärin
Gertrud Dempwolf erst im Januar 1998 vorlegte, zeigte
aber, dass die Bundesregierung trotz der Entschließung
der Frauenministerkonferenz, trotz der Entschließung des
Petitionsausschusses bzw. des gesamten Deutschen Bun-
destages, keinerlei Prüfung ihrer Positionen übernommen
hatte. Man zog sich bequemerweise darauf zurück, dass
kein unmittelbarer gesetzlicher Handlungsbedarf für die
Bundesregierung bestehe.

Die SPD legte dann im Juni 1996 einen Gesetzentwurf
vor – Sie haben das schon gehört –; von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen gab es auch einen Gesetzent-
wurf. Es gab dann 1998 eine entsprechende Anhörung.
Schon da wurden entsprechende Änderungen gefordert;

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Jürgen Meyer (Ulm)


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dabei hatte man zum Beispiel die Sittenwidrigkeit im
Blick. Auch wurde deutlich, dass in den §§ 180 a und
181 a StGB Änderungen notwendig sind.

Ich finde es wichtig und richtig, dass 1998 erstmals in
dem Koalitionsvertrag einer Regierung genau festge-
schrieben worden ist, dass beide Fraktionen die rechtliche
und soziale Situation von Prostituierten verbessern wol-
len. Dazu gab es die entsprechende Arbeitsgruppe. Das
haben wir schon gehört. Es gab nicht nur Kontakte mit
den entsprechenden Hurenverbänden, sondern wir haben
uns auch intensiv damit beschäftigt, wie die Situation in
den Niederlanden und in Schweden aussieht, aber auch
Projekte in Deutschland – auch die gibt es –, zum Beispiel
in Bonn, wurden sehr genau geprüft.

Wichtig war auch die Empfehlung des UN-Frauen-
rechtsausschusses an die Bundesregierung im Fe-
bruar 2000. Ich möchte zitieren:

Der Ausschuss ist besorgt, dass Prostituierte immer
noch nicht den Schutz von arbeits- und sozialrechtli-
chen Bestimmungen in Anspruch nehmen können,
obwohl diese verpflichtet sind, Steuern zu zahlen.
Der Ausschuss empfiehlt der Bundesregierung, die
rechtliche Stellung dieser Frauen zu verbessern, um
die Ausbeutung zu reduzieren und den gesellschaft-
lichen Schutz zu stärken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch der UN-Ausschuss hat Deutschland deutlich ge-
macht, dass es mit der Scheinheiligkeit und der Doppel-
moral ein Ende haben muss.

Im Ausschuss gestern ist eine Mehrheit dem Gesetz-
entwurf und den Änderungs- bzw. Entschließungsanträ-
gen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefolgt. Als
Ausschussvorsitzende bin ich darüber sehr froh. Ich hoffe
sehr, dass wir das hier verabschieden können.

Für einen Wandel dessen, was die billig und gerecht
Denkenden – was immer wir heute darunter verstehen
mögen – von der Prostitution halten, sprechen noch fol-
gende Stellungnahmen. Das Diakonische Werk mit seiner
Stellungnahme vom Oktober 2000 wurde schon zitiert.
Ich erinnere aber auch an die Forsa-Umfrage vom Au-
gust 1999. Dabei wurde deutlich, dass 71 Prozent der
Deutschen der Meinung sind, die rechtliche Stellung der
Prostituierten müsse verbessert werden. Das Urteil des
Berliner Verwaltungsgerichtes wurde ebenfalls schon ge-
nannt.

Ich möchte zum Schluss noch die Evangelische
Frauenarbeit in Deutschland zitieren. Ihre Arbeit ist in
zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Das Erste ist, dass die
Evangelische Frauenarbeit gestern in ihrer Mitgliederver-
sammlung festgestellt hat, dass sich die kirchliche Män-
nerarbeit einmal mit dem Thema intensiver beschäftigen
muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


– Ich denke, das ist einen Applaus wert. – Das Zweite ist,
dass sie uns, den Deutschen Bundestag, aufgefordert hat,
endlich die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen
zu schaffen.

Wir alle können das jetzt tun, indem Sie der Be-
schlussempfehlung unseres Ausschusses zustimmen. Da-
mit ebnen Sie den Weg weg von der Holperstrecke und hin
zu einer rechtlichen und sozialen Besserstellung von Hu-
ren in Deutschland.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609000
Zu einer Kurz-
intervention erhält die Kollegin Falk das Wort.


Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1419609100
Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, es tut mir Leid, wenn ich die Debatte verlängere.
Aber der Kollege Meyer hat mich direkt angesprochen.
Darauf möchte ich gerne antworten, weil er in der Tat den
Dreh- und Angelpunkt des Gesetzentwurfs – und auch
mich – getroffen hat.

Ich habe gesagt – Sie haben das zitiert –, dass wir uns
von dem Begriff der Sittenwidrigkeit bei dem Thema
nicht einengen lassen dürfen, wenn wir Verbesserungen
erreichen wollen.


(Zustimmung der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dazu stehe ich. Wir sind uns immer einig gewesen, dass
wir alle miteinander eine Verbesserung der rechtlichen Si-
tuation von Prostituierten wollen. Über den Weg, wie wir
dies erreichen können, haben wir unterschiedliche Vor-
stellungen, die wir an dem Begriff der Sittenwidrigkeit
festgemacht haben.

Wir haben jetzt einen Vorschlag gemacht, wie wir trotz
des Verdikts der Sittenwidrigkeit diesen Beschäftigten
dennoch den Zugang zur Sozialversicherung ermöglichen
können. Dass wir in unserem Änderungsantrag an dem
Begriff festgehalten haben, beruht auf dem, was uns in
den letzten Jahren und Monaten verstärkt als Normalität
der Sitten gerade im sexuellen Bereich vorgeführt wird,
und zwar nicht nur in einzelnen Veröffentlichungen, son-
dern in den Medien insgesamt, besonders in den Bildme-
dien. Das hat mich dazu veranlasst, sehr kritisch zu über-
legen, inwieweit wir unsere Ansprüche zurücknehmen
und was wir als Normalität akzeptieren müssen.

Ich meine nicht das Umfeld, in dem Prostitution unter
guten Bedingungen stattfindet. Wir haben uns immer für
gute Bedingungen ausgesprochen. Wir alle wissen aber,
dass Frauen Dinge zugemutet werden, die nicht mehr zu-
mutbar sind. Der Staat muss sich dabei schützend vor die
Menschen stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vor dem Hintergrund einer solchen Schutz- und Fürsor-
gepflicht wollen wir einerseits unseren Anspruch an die

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Christel Riemann-Hanewinckel

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guten Sitten hochhalten, andererseits keine Verbesserung
des Rechts verhindern und Abhilfe schaffen, um das ge-
meinsame Ziel zu erreichen.

Ein Letztes noch: Der Gesetzentwurf ist nach unserer
Meinung juristisch-technisch nicht überzeugend. Wenn er
das gewesen wäre, hätten Sie uns hinsichtlich einer Zu-
stimmung in größere Konflikte gebracht. An dem Entwurf
ist viel zu beanstanden; wir befürchten, dass sehr viele
Fragen erst vor Gericht geklärt werden. Diese Klärung ge-
schieht auf dem Rücken der Prostituierten, die mit dem
heutigen Tage keine Klarheit bekommen werden. Das ist
ein weiterer Grund, weshalb wir nicht zustimmen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609200
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des von Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung
der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten.
Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/7174 empfiehlt der Ausschuss für Familie, Seni-
oren, Frauen und Jugend die Annahme des Gesetzentwur-
fes in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP
und den meisten Stimmen aus der PDS gegen die Stim-
men der CDU/CSU angenommen worden, wobei es bei
der CDU/CSU und bei der PDS jeweils zwei Enthaltun-
gen gab. Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit dem eben festgestellten
Stimmenverhältnis angenommen worden.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6781. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
CDU/CSU abgelehnt worden.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/7174 empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
CDU/CSU angenommen worden.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der PDS zur be-
ruflichen Gleichstellung von Prostituierten und anderer
sexuell Dienstleistender, Drucksache 14/4456: Der Aus-

schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend emp-
fiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/7174, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS ab-
gelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der am-
bulanten Hospizarbeit
– Drucksache 14/6754 –
Überweistungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung haben wir
für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeord-
nete Horst Schmidbauer.


Horst Schmidbauer (SPD):
Rede ID: ID1419609300
Frau Präsi-
dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute beschäftigt sich das deutsche Parla-
ment zum dritten Mal mit der Hospizfrage. Ich finde, das
ist gut so. Das ist auch eine gute Gelegenheit, den 35 000
Frauen und Männern Dank zu sagen, die ehrenamtlich in
der Hospizarbeit tätig sind, Sterbebegleitung leisten und
aus dieser Arbeit nicht mehr wegzudenken sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Es ist auch den rund 10 000 Frauen und Männern Dank
zu sagen, die sich mit großer Kompetenz und starkem En-
gagement als Fachleute, als Ärztinnen und Ärzte, aber vor
allem als Pflegekräfte, einbringen und Tag für Tag – wenn
es sein muss, 24 Stunden, rund um die Uhr – den Ster-
benden zur Verfügung stehen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Dieses vorbildliche Engagement ist für uns Verpflich-
tung und macht uns Mut, den Auf- und Ausbau der Hos-
pizbewegung schneller voranzubringen. Deshalb ist es
gut, dass heute auch der Bundesrat mit seinem einge-
brachten Gesetzentwurf dazu beiträgt.

Bereits am Mittwoch ist bei der Anhörung zur Initia-
tive der SPD-Fraktion und zum Änderungsantrag der Ko-
alition deutlich geworden, dass wir auf dem richtigen Weg
sind. Dass die Krankenkassen und das Gesundheitsminis-
terium nun auch die Forderung der ambulanten Hospizar-
beit als Pflichtaufgabe der GKV sehen, ist der besondere
Erfolg unserer politischen Vorfeldarbeit.

Die Hospizidee verträgt aber keine Lösung im Kon-
flikt. Ich persönlich – ich glaube, das auch für meine Kol-
leginnen und Kollegen sagen zu können – bin ganz sicher,

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Ilse Falk

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dass wir Konsens über die Weiterentwicklung der Hospiz-
idee erzielen werden, und zwar schnell. Die Anhörung am
Mittwoch hat auch gezeigt, dass noch Klärungsbedarf be-
steht. Zu klären ist, wie die Sicherung der Quali-
tätsstruktur von Hospizeinrichtungen durch palliativme-
dizinische Kompetenz gewährleistet werden kann. Zu
klären ist, welchen finanziellen Rahmen die Entwicklung
der ambulanten Hospizarbeit bei der GKV erforderlich
macht. Zu klären ist, wie sichergestellt werden kann, dass
der Hospizarbeit keine Finanzmittel der Länder und der
Kommunen entzogen werden, wenn nun auch die GKV in
die Finanzierung der ambulanten Hospizarbeit einsteigt.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Ganz richtig! Jawohl!)


Ich weiß um den langen Weg der Hospizbewegung in
Deutschland. Ich weiß, welche lange Wegstrecke zu be-
wältigen war; denn ich war von Anfang an dabei. Ich habe
mich ab 1991 am Aufbau der Bundesarbeitsgemeinschaft
Hospiz beteiligt. Ich habe 1993 zusammen mit meinen
Kolleginnen und Kollegen die erste Kleine Anfrage zur
Situation sterbender Menschen in Deutschland initiiert
und eingebracht. Damit ist die Hospizfrage erstmals 1993
im Deutschen Bundestag behandelt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich war der Initiator der Kleinen Anfrage von 1996 zur
schmerztherapeutischen Versorgung in Deutschland und
habe zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen
damit die fachliche und gesellschaftliche Entwicklung
angeschoben, weil erkennbar war, dass die Hospizbewe-
gung in Deutschland ohne schmerztherapeutische Ent-
wicklung keine Chance hat. Ich habe 1998 daran mitge-
wirkt, dass die gesetzlichen Krankenkassen die stationäre
Hospizarbeit als Regelfinanzierung unterstützen. Wir sind
dem Bundesrat seinerzeit dankbar gewesen, dass er uns
tatkräftig dabei unterstützt hat, die Regierung auf den
richtigen Weg zu bringen.

Mein Schlüsselerlebnis – ja, ich möchte sagen: mein
Urerlebnis – mit der Hospizarbeit geht aber auf England
zurück. Das hatte ich bei meinem ersten Besuch des
St. Christophers‘ Hospice in London. Ich habe dieses
Hospiz sehr gut kennen gelernt. Prägend war, das Hos-
pizteam der McMillan-Schwestern bei seiner Arbeit zu
begleiten. Die McMillan-Schwestern sind – das ist das
Besondere an der Struktur in England – nicht nur exami-
nierte Pflegekräfte. Sie leisten auch – so würden wir es in
Deutschland nennen – Familienhilfe und haben eine Zu-
satzausbildung in Palliativmedizin. Sie verfügen also über
umfangreiche Kompetenzen. Ich habe dort gelernt, was
diese Qualifikation bedeutet und was Engagement und
Ehrenamt in der ambulanten Hospizarbeit eigentlich sind.

Gelernt habe ich im St. Christophers‘ Hospice, dass es
das historische Verdienst der Hospizbewegung ist, Ster-
bebegleitung auf der einen Seite mit Schmerztherapie auf
der anderen Seite zusammenzubringen. Erst das Zusam-
menführen von Schmerztherapie und Sterbebegleitung
rechtfertigt den Namen Hospiz. Dieser Name steht dafür
verbunden, dass beide Elemente zusammengeführt wer-
den.

Ich habe des Weiteren gelernt, dass der Kern der Hos-
pizarbeit die ambulante Hospizarbeit ist; denn die Men-
schen wünschen sich sehr, dass sie zu Hause sterben kön-
nen, also in der vertrauten Umgebung, im Kreis ihrer
Angehörigen.

Außerdem habe ich dort gelernt, dass das Hospiz als
stationäre Einrichtung gewissermaßen das Rückgrat für
die ambulante Seite ist, vielleicht der Kristallisations-
punkt, an dem man sich immer wieder für ein paar Tage
aufhalten kann, wenn die notwendige Versorgung ambu-
lant nicht gewährleistet werden kann; denn dort gibt es ja
eine Versorgung rund um die Uhr. Beeindruckend war für
mich, dass die Menschen, die dort betreut werden, im
Durchschnitt nur 14 Tage stationär im Hospiz verbringen
und die übrige Zeit – bis auf wenige Ausnahmen – in der
häuslichen Umgebung versorgt werden.

Ich habe gelernt, dass im Bereich des St. Christophers‘
Hospice zurzeit 70 Prozent der Menschen zu Hause ster-
ben können, weil sie von einem multidisziplinären Hos-
pizdienst sowohl psychosozial als auch palliativmedizi-
nisch betreut werden. Ich mag nicht einsehen, dass wir
von diesem Ziel noch so weit entfernt sind, dass es bei uns
immer noch so langsam vorangeht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Aufgabe ist, die gesellschaftliche Akzeptanz der
Hospizidee in Deutschland zu erhöhen. Wir sind dem
Bundespräsidenten Johannes Rau sehr zu Dank verpflich-
tet, der dies in seiner Berliner Rede angesprochen hat. Ich
zitiere:

Ja, wir brauchen einen anderen Umgang mit dem
Sterben und dem Tod. Wir müssen wieder lernen: Es
gibt viele Möglichkeiten, sterbenskranken Menschen
beizustehen, sie zu trösten und ihnen zu helfen. Oft
ist schon entscheidend, sie nicht allein zu lassen.

Die wirksamste medizinische Hilfe ist in vielen Fäl-
len eine gute Schmerztherapie. Mich hat tief beein-
druckt, was neulich einer der Pioniere der deutschen
Schmerztherapie, Professor Eberhard Klaschik, in
einem Interview dazu sagte: „Ich behandele seit fast
20 Jahren Patienten, die nicht heilbar sind. Viele, die
zu uns kommen, sagen: So kann ich nicht mehr leben,
so will ich nicht mehr leben, die Schmerzen sind zu
groß ... All diesen Patienten haben wir helfen kön-
nen.“ Viele Ärzte bestätigen diese Erfahrung.

Wenn das so ist, dann ist der Streit um die aktive
Sterbehilfe die falsche Debatte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Mit Sicherheit!)


Wir können und wir müssen viel mehr als bisher für
die Schmerztherapie tun. Das ist ein Feld, das lange
Zeit sträflich vernachlässigt worden ist. Ich wünsche
mir, dass Deutschland bei der Schmerzforschung und
bei der Schmerztherapie so schnell wie möglich vor-
bildlich wird. Das ist nun wirklich zutiefst human
und ist im Interesse eines jeden von uns.

Der Präsident hat es auf den Punkt gebracht.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Horst Schmidbauer (Nürnberg)


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In einer Frage, glaube ich, haben wir dem Präsidenten
durch unsere parlamentarisch-politische Arbeit schon hel-
fen können. Im Bereich des Forschungsministeriums ist
der zweite große Forschungsauftrag für Schmerztherapie
in der Größenordnung von 30 Millionen DM vergeben
worden. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, um in
der Frage voranzukommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wie sieht die Praxis in Deutschland aus? Immer noch
werden viele Patienten in ihrer letzten Lebensphase ins
Krankenhaus eingewiesen, obwohl sie bei entsprechender
Hilfe zu Hause versorgt werden könnten, wie es sich
80 Prozent der Menschen wünschen. Immer noch sterben
rund 70 Prozent aller Tumorpatienten im Krankenhaus
und nur 30 Prozent in ihrer vertrauten Umgebung.

Ich denke, dass wir im Hinblick auf die Hospizidee
noch mehr Bereitschaft wecken müssen, dass wir der Un-
kenntnis, die in der Bevölkerung noch besteht, entgegen-
wirken müssen. Denn ein Grund für die jetzige Situation
ist in der Tat die Unkenntnis und der andere Grund ist,
dass es in Deutschland noch zu wenig qualifizierte ambu-
lante Hospiz- und Palliativdienste gibt. Das müssen wir
weiterentwickeln. Daran sieht man auch, dass die Ent-
wicklung der Schmerztherapie in der ambulanten Hospiz-
arbeit einen ganz zentralen Aufgabenbereich darstellt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609400
Herr Kollege
Schmidbauer, ich fürchte, Sie werden in der ausgemach-
ten Redezeit nicht mehr Ihren gesamten Text unterbringen
können.


Horst Schmidbauer (SPD):
Rede ID: ID1419609500
Wir hatten
uns verständigt, dass wir die Redezeit unter uns aufteilen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist ja interessant! Ist das denn möglich?)


Unsere Hauptaufgabe ist es also, den Menschen ein
Bild davon zu vermitteln, was Schmerztherapie tatsäch-
lich leisten kann. Ich glaube, das ist notwendig. Wir müs-
sen in der Bevölkerung das Bild davon, wie die Schmerz-
therapie auch in der letzten Phase des Lebens zur
Lebensqualität beitragen kann, stärker verankern. Dann
werden die Akzeptanz und die Bereitschaft dazu größer
werden. Dann werden die Defizite, die wir in Deutschland
haben, abgebaut werden.

Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind
es aus humanitären Gründen den Menschen schuldig, al-
les daranzusetzen, die Arbeit in der Hospizversorgung ab-
zuschließen und abzurunden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609600
Das Wort hat
jetzt der Sozialminister des Landes Baden-Württemberg,
Friedhelm Repnik.


(Baden-Württemberg)

Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden ist ein
Gradmesser dafür, wie human unsere Gesellschaft ist.

Herr Schmidbauer, Sie haben vieles gesagt, was richtig
ist. Ich möchte mich wegen der Kürze meiner Redezeit
beim Thema Hospizarbeit etwas beschränken und nicht
erläutern, wo ich gelernt habe, was ich alles getan habe
und was wir vor allem in Baden-Württemberg schon alles
tun.

Sie wissen, aus den Niederlanden ist zu uns die Dis-
kussion über die aktive Sterbehilfe herübergeschwappt.
Das kann doch wohl nicht der Weg sein. Ich sage immer
Ja zu einem humanen Sterben, aber Nein zu einer aktiven
Sterbehilfe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wissen natürlich, dass sich die Menschen teilweise
deshalb aktive Sterbehilfe wünschen, weil sie Angst ha-
ben vor Schmerzen, Angst haben vor dem Alleinsein und
Angst haben vor dem einsamen Sterben. In der heutigen
Zeit, in der die Gesellschaft immer mehr vereinsamt,
brauchen wir also eine aktive Sterbebegleitung.


(Detlef Parr [FDP]: So einfach ist es aber nicht!)


– Ich weiß natürlich, dass es nicht ganz so einfach ist.
Aber man sollte einmal den ersten Schritt wagen.

Wir haben in Baden-Württemberg als bisher einziges
Bundesland eine Schmerzkonzeption mit einem interdis-
ziplinären Schmerzkolloquium entwickelt. Wir haben die
Hospizbewegung gestärkt. Wir geben aus Landesmitteln
Gelder dazu und unterstützen das sehr stark. Ich glaube
nicht, dass viele Bundesländer das machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Phase des Sterbens ist ein Teil des Lebens. Jeder
Mensch behält auch in seinem Sterben uneingeschränkt
seine Würde. Diese Würde zu erhalten und die letzte Le-
benszeit gemeinsam mit den Sterbenden und seinen An-
gehörigen angemessen zu gestalten, das ist die Aufgabe
der Hospizbewegung. Dafür muss ihr gedankt werden.

Die Hospizbewegung zeigt damit eine beispielhafte,
von vielen Menschen getragene bürgerschaftliche Initia-
tive. Dieses bürgerschaftliche Engagement, auf das wir in
Deutschland und ganz besonders in Baden-Württem-
berg – wir sind ein Ehrenamtsland – stolz sein können, gilt
es zu unterstützen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: NordrheinWestfalen ist auch ein Ehrenamtsland!)


– Ich möchte nicht darüber streiten, wo mehr gemacht
wird. Ich weiß aber, dass wir in diesem Bereich sehr viel
tun.

Für unser soziales System sind Bewegungen wie diese
von unschätzbarem Wert. Hierbei werden Probleme und
Krisen nicht durch Rückzug und Vermeidung, sondern
durch gemeinsame aktive Bewältigung gelöst. Dass wir

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Horst Schmidbauer (Nürnberg)


19206


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diesen Gruppen helfen müssen, ist keine Frage. Die Frage
ist nur, wie wir helfen müssen und können.

Meine Damen und Herren, Sie wissen, seit 1997 wer-
den die stationären Hospize von den Krankenkassen mit-
finanziert.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 1997!)


– 1997. Das war unter Seehofer, wenn ich mich richtig er-
innere.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Ich möchte nicht darauf eingehen, wer das Thema Hos-
pize zuerst im Bundesrat, im Bundestag oder wo auch im-
mer angesprochen hat. Wir sollten nicht darüber streiten,
wer diesbezüglich das Urheberrecht hat. Mir geht es um
die Sache. Wir sollten in der Sache endlich vorankommen
und das Ganze nicht wieder auf den Sankt-Nimmerleins-
Tag hinausschieben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich meine, es wird langsam Zeit, dass wir die ambu-
lanten Hospizdienste unterstützen. In Baden-Württem-
berg gibt es – Tendenz steigend – 259 ambulante Hospiz-
gruppen und bundesweit sind es inzwischen schon
927 entsprechende Dienste. Der Grundsatz „ambulant vor
stationär“ muss – wenn man ihn ernst nimmt – ganz be-
sonders für ambulante Hospizdienste gelten, weil gerade
sie für viele Menschen – womöglich nach der Entlassung
aus dem Krankenhaus – eine wesentliche Hilfe und Un-
terstützung dabei sind, zu Hause, also in ihrer gewohnten
Umgebung, zu sterben. In Baden-Württemberg gibt es
übrigens an Einrichtungen mit einem onkologischen
Schwerpunkt so genannte Brückenschwestern. In vielen
anderen Ländern ist das, soweit ich weiß, nicht der Fall.
Man braucht in der Tat die gewohnte Umgebung, um in
Würde sterben zu können. Sterben ist ein Teil des Lebens.

Mit dem Gesetzentwurf, der auf Initiative des Bundes-
rats in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden
ist, wollen wir die ehrenamtliche Arbeit in Hospizdiensten
fördern. Wir haben ausdrücklich hervorgehoben, dass wir
mitmenschliche Zuwendung im Rahmen einer Sterbebe-
gleitung nicht bezahlen wollen. Diejenigen Menschen,
die diese Zuwendung erbringen, wollen dafür kein Geld.
Sie wären beleidigt, wenn man es ihnen anbieten würde.
Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die es ermög-
lichen, dass die Hospizdienste stabilisiert und gesichert
werden können.

Was brauchen unsere Hospizkräfte? Sie müssen auf
ihre schwierige Arbeit zunächst vorbereitet werden. Sie
müssen wissen, wie man mit Sterbenden, mit dem Tod,
mit den Angehörigen und mit der eigenen Befindlichkeit
umgeht. Es ist nicht ganz einfach, einen Sterbenden zu
begleiten. Wegen der großen Belastung brauchen die Hos-
pizkräfte mit Sicherheit auch eine Supervision, um auf
diese Weise ihr Tun zu reflektieren. Sie brauchen darüber
hinaus – das ist ganz wichtig – eine Einsatzleitung. Wer
ein Ehrenamt ausübt, der darf nämlich nicht durch büro-
kratische Angelegenheiten überfordert werden. Das Eh-
renamt muss durch das Hauptamt begleitet werden.

Natürlich können Hospizkräfte im Palliativbereich
durch professionelle Hilfe unterstützt werden. Herr
Schmidbauer, ich sage ausdrücklich an Ihre Adresse ge-
richtet: Die Sicherstellung der Palliativmedizin und der
Palliativpflege sollte den Hospizgruppen nicht aufgebürdet
werden; denn damit wären sie mit Sicherheit überfordert.

Ehrenamtliche Helfer sollen sich selbst die für ihre Be-
dürfnisse notwendigen professionellen Dienstleistungen
einkaufen können; deswegen halten wir den Förderweg,
Hospizgruppen in ähnlicher Form wie die Selbsthilfe-
gruppen chronisch Kranker, die von Krankenkassen orga-
nisiert werden, zu unterstützen, für besonders zweck-
mäßig und richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Qualitätssicherung – Sie haben dieses Thema ange-
sprochen – ist natürlich wichtig. Ich meine, dass Hospiz-
gruppen, die sich als Vereine konstituiert haben und die
Mitglied anerkannter Fachverbände sind, aufgrund der
zutiefst menschlichen Arbeit, die sie leisten, selbst einen
großen Teil der Überwachung der Qualität ihrer Leistun-
gen übernehmen können. Wie will man in diesem Be-
reich, in dem es um Menschlichkeit geht, Qualität über-
prüfen und sichern? Das wird ungeheuer schwierig sein.
Dass die Hospizgruppen dazu in der Lage sind, die Über-
prüfung der Qualität ihrer Leistungen zu übernehmen,
dafür spricht zumindest in Baden-Württemberg und in an-
deren Ländern, wo es schon viele dieser Gruppen gibt, der
hohe Organisationsgrad der Hospizbewegung.

Durch die Betonung der Ehrenamtlichkeit wird auch
ein Signal für die Weiterentwicklung professioneller
Handlungsfelder gesetzt. Hauptamtlich Tätige müssen
sich der Sichtweise derjenigen stellen, die ohne eine
langjährige Aus-, Fort- und Weiterbildung und ohne ein
professionelles Rollenverhalten an ein Thema herange-
hen. Ehrenamtliche nehmen dabei die wichtige Rolle ei-
nes Anwalts der Interessen der Leistungsempfänger und
ihrer Angehörigen ein.

Auf diese Art und Weise – es darf nicht zu viel Haupt-
amtlichkeit geben, sondern nur eine hauptamtliche Beglei-
tung – kommt eine unverzichtbare Dynamik zwischen
hauptamtlichen und ehrenamtlichen Leistungserbrin-
gern zustande. Wir können mit der Förderung der ambu-
lanten Hospizdienste einen wichtigen Impuls für ein neues
Miteinander zwischen Ehrenamtlichkeit und Hauptamt-
lichkeit geben. Wir sollten diese Aufgabe anpacken.

Die Rolle der Einsatzleitung ist allein schon deswegen
von hervorgehobener Bedeutung, weil damit die Koordi-
nation der Einsätze, die Begleitung der Fachkräfte und der
ehrenamtlichen Kräfte sowie die Beratung in Fachfragen
gebündelt werden. Auch das können Fachkräfte in der Tat
tun. Es ist absehbar, dass die Bedeutung der Einsatzlei-
tung auf dem Gebiet der Pflege zunehmen wird. Wir soll-
ten jede Gelegenheit nutzen, solche Rollen nachhaltig zu
stärken. Mit der Hospizförderung können wir diesen
neuen Weg sehr sinnvoll beschreiten.

Mit der Initiative des Bundesrates wurde ein breiter
Konsens erzielt.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Minister Dr. Friedhelm Repnik (Baden-Württemberg)


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(B)


Baden-Württemberg hat – gemeinsam mit Bayern – mit
seiner Initiative vom Juli 2000 den Anstoß dazu gegeben.


(Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU]: Die Südschiene war da!)


– Die Kraft des Südens ist nicht ohne Bedeutung. Sie soll
auch in den nördlichen Bereich ausstrahlen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Baden-Württemberg hat es angeregt, Bayern hat daran
mitgearbeitet. Rheinland-Pfalz ist mit seiner Initiative die-
sem Anliegen gefolgt. Nach einer Sachverständigenan-
hörung, vor dem Gesundheitsausschuss des Bundesrates
haben wir angeregt, beide Initiativen – die baden-würt-
tembergisch-bayerische und die rheinland-pfälzische; das
Land soll ja immer noch von der SPD regiert werden, – zu
einer Gesetzesinitiative zusammenzufügen. Dabei ist es
gelungen, die inhaltlichen Ansätze beider Gesetzentwürfe
sinnvoll zu verbinden. Dank der konstruktiven Mitarbeit
und Zusammenarbeit aller Länder bei diesem wichtigen
Thema konnten wir unseren Gesetzentwurf im Bundesrat
einstimmig verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Parr [FDP])


Herr Schmidbauer, unsere gemeinsamen Anstrengun-
gen bei diesen Anliegen haben an vielen Stellen große Be-
achtung und Anerkennung gefunden. Selten habe ich ei-
nen so umfassenden gesellschaftlichen Konsens, der über
die Parteigrenzen hinweg reicht und die Fachverbände so-
wie die Krankenversicherungen einschließt, erlebt.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Eben!)


Umso unverständlicher ist mir bei diesem nach langer
Vorarbeit und sorgfältiger Abstimmung erreichten Erfolg,
dass die Koalitionsfraktionen quasi über Nacht im Rah-
men des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes einen eige-
nen Entwurf zur Hospizförderung aus dem Hut gezaubert
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich weiß nicht, ob Sie sich selbst etwas an den Hut
binden wollen. Wenn aber wirklich etwas Gutes vorge-
schlagen wird, sollte man das Ganze nicht noch überho-
len wollen. Ihr Entwurf schwenkt zwar teilweise auf die
gemeinsame Bundesratsinitiative ein, hat aber, so meine
ich, gravierende Mängel. Er sieht immer noch vor, dass
der Hospizdienst unter der fachlichen Verantwortung
einer pflegerisch oder fachlich qualifizierten Kraft stehen
muss. Sie muss Erfahrung in der Sterbebegleitung haben
sowie eine Weiterbildung für die Wahrnehmung von Lei-
tungsfunktionen oder in der Palliativpflege aufweisen.
Wenn ich die Hürde so hoch lege, dann weiß ich schon
jetzt, dass es im Jahre 2006 mit Sicherheit noch keine För-
derung der ambulanten Hospizdienste geben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen glaube ich auch, dass Sie – wir alle –
Schwierigkeiten haben werden, solche Fachkräfte auf
dem Markt zu finden. Vielleicht wird das sogar unmöglich
sein. Man darf doch die im Aufbau befindlichen Hospiz-

dienste – gerade in den neuen Bundesländern werden sie
gerade erst aufgebaut – nicht mit einer solchen Überqua-
lifikation erschrecken, sodass aufgrund dessen das Ehren-
amt gar nicht mehr angestrebt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Schmidbauer, wir sollten nicht schon an dem
Punkt beginnen, an dem Sie vielleicht einmal enden wol-
len. Wenn wir wollen, dass sich diese Initiativen weiter
entwickeln – zum Wohle der sterbenden Menschen –,
dann sollten wir versuchen, die Hilfe zur Selbsthilfe zu
stärken und diese zum Teil professionell begleiten zu las-
sen. Die Qualifikationen dürfen nicht zu hoch gesetzt wer-
den.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen
mit unserem Gesetzentwurf nicht, dass die gesamte Ver-
antwortung für die Finanzierung der Hospizdienste von
den Krankenkassen übernommen wird. Die finanzielle
Unterstützung der Hospizdienste ist eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Parr [FDP])


Es müssen sich auch andere mit Mitgliedsbeiträgen,
Spenden, Sponsorengeldern und auch Zuschüssen – der
öffentlichen Hand – daran beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das sollte auch ganz klar im Gesetz stehen.

Ich nenne einen weiteren wichtigen Punkt unseres Ge-
setzentwurfes: Auf der Bundesebene sollten nur Rahmen-
empfehlungen über den Inhalt der Leistungen vereinbart
werden. Art und Umfang der zu fördernden Leistungen
sollten auf der Landesebene geregelt werden.

Dieses zweistufige Verfahren berücksichtigt die fö-
deralen Interessen der Länder mit ihrem zum Teil noch
sehr unterschiedlichen Ausbaustand der Hospizbewe-
gung; sie steht ja vor allem in den neuen Ländern noch am
Anfang. Der Entwurf der Koalitionsfraktionen sieht dem-
gegenüber nur eine Vereinbarung auf Bundesebene vor.
Damit käme die Differenzierung der Hospizbewegung in
den einzelnen Ländern unter die Räder.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetz-
entwurf des Bundesrates wurde von allen Ländern über
alle Parteigrenzen hinweg beschlossen. Ich bitte Sie, im
Sinne einer raschen Lösung und im Interesse der sterben-
den Menschen zu handeln und diesen Gesetzentwurf mit-
zutragen.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609700
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kristin Heyne.


Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609800
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Steriles Sterben
ist allzu häufig Alltag, ja sogar Normalfall in unserer Ge-
sellschaft. Ein technischer Tod, anonym und klinisch, ist

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Minister Dr. Friedhelm Repnik (Baden-Württemberg)


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(A)



(B)


nicht das, was wir unseren Angehörigen, Freunden und
Bekannten und uns selbst wünschen. Vielmehr wollen wir
für andere und uns selbst den natürlichen Tod als Teil un-
seres Lebens in Geborgenheit und Ruhe. Sterben zu wol-
len in der Nähe der Menschen, die uns vertraut und wich-
tig sind, ist menschlich und ein Menschenrecht.
Menschen ein würdiges, humanes Sterben zu ermögli-
chen, muss stärker gefördert und wieder in den Mittel-
punkt gerückt werden. Darin sind wir uns, wie ich glaube,
in dieser Debatte einig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)


Die Betreuung eines Sterbenden in der Familie ist
eine Aufgabe, bei der niemand allein sein sollte. An-
gehörige, Freunde und Bekannte sind mit dieser Aufgabe
oftmals überfordert, weil sie selbst Betroffene sind. Sie
brauchen deshalb professionelle und regelmäßige Hilfe,
die nur die vielfältigen und zahlreichen Pflegedienste der
Hospizbewegung leisten können. Menschen, die die
schwere Aufgabe auf sich genommen haben, Sterbende in
diesem schwierigen Lebensabschnitt zu begleiten und ih-
nen ein humanes Sterben zu ermöglichen, müssen die Un-
terstützung und Anerkennung der Gesellschaft spüren.

Daher bin ich froh, dass wir mit dem heutigen Gesetz-
entwurf die ambulante Hospizarbeit verbessern. „Hos-
piz“ heißt übersetzt: Herberge. Die in der Hospizbewe-
gung engagierten Menschen fühlen sich gerade diesem
Sinn des Wortes verpflichtet. Sie wollen den Sterbenden
ein Gefühl von Geborgenheit und Aufgehobenheit geben.
Eine ehrenamtliche ambulante Sterbebegleitung ist inner-
halb der Hospizbewegung in vielfältiger Weise möglich:
Es gibt Hausbetreuungsdienste, Sitzwachen, Besuchs-
und Begleitdienste; die Sterbebegleitung findet zu Hause,
aber auch in den Krankenhäusern und in Pflegeheimen
statt.

Das Sterben zu Hause zu fördern und Angehörige und
Pflegende bei dieser Aufgabe zu unterstützen ist Ziel die-
ses Gesetzentwurfs. Meine beiden Vorredner haben auf
die Möglichkeiten der Schmerztherapie hingewiesen, die
gerade in der letzten Lebensphase aus Angst vor Medika-
mentenabhängigkeit noch immer nicht in genügendem
Maße eingesetzt wird. Im Hinblick auf das Gespräch mit
dem betreuenden Arzt kann es für die Angehörigen eine
Hilfe sein, von Menschen aus der Hospizbewegung un-
terstützt zu werden, die sich mit den Problemen der häus-
lichen Pflege auskennen. Daher ist es gut, auf diesem Weg
weitere Schritte zu gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit dem Gesetz zur Förderung der ambulanten Hos-
pizarbeit sollen die ambulanten Hospizdienste bei der Ge-
winnung, Vorbereitung und Koordination der ehrenamtli-
chen Hilfskräfte und bei der Vernetzung mit anderen
palliativen Pflegediensten unterstützt werden. Wir schla-
gen eine Zuschussregelung für die Personalkosten vor, die
beinhaltet, dass die Zuschüsse von den Krankenkassen
getragen werden. Die zusätzlichen Belastungen für die
Krankenkassen werden im Jahre 2002 bei etwa 20 Milli-
onen DM liegen. Angesichts dieser dringenden gesamtge-

sellschaftlichen Aufgabe halten wir diesen Aufwand für
gerechtfertigt.

Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es nicht, die mit-
menschliche und ehrenamtliche Sterbebegleitung zu ver-
güten.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Von welchem Gesetzentwurf sprechen Sie eigentlich?)


Meine Vorredner haben bereits darauf hingewiesen, dass
dies auch nicht der Wunsch jener Menschen ist, die diese
Aufgabe übernehmen. Vielmehr sollen die Rahmenbedin-
gungen für diese ehrenamtliche Arbeit geschaffen wer-
den. Es sollen die Ausbildung gesichert und der Einsatz
der ehrenamtlichen Kräfte koordiniert und geplant wer-
den. Dafür sind Fachkräfte notwendig.

Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Kompetenz
und die Möglichkeiten der ambulanten Hospizarbeit, die
für unsere Gesellschaft an sich wertvoll ist, unterstützen.
Wir wollen denen die Hand reichen, die tagtäglich selbst
anderen die Hand reichen.

Der Gesetzentwurf wird heute eingebracht. Ich bin si-
cher, er wird in den Ausschüssen intensiv diskutiert wer-
den.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Schön wäre es! Aber Sie haben es ja anders vor!)


Auch die hier vorgebrachten Vorschläge müssen sicher-
lich bedacht werden; denn die Hospizarbeit ist aus regio-
nalen Initiativen entstanden. Das war der Ursprung der
in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgepräg-
ten Hospizarbeit. Ich habe diesen Prozess seit über zehn
Jahren in Hamburg und in Norddeutschland begleiten
können. Leuchtfeuer war eine der ersten dieser Organisa-
tionen. Es haben sich dabei eigenständige Formen gebil-
det, die man erhalten sollte. Ich bin mir sicher, dass wir
das mit diesem Gesetz ermöglichen werden. Deswegen
bitte ich Sie alle, daran mitzuarbeiten, damit wir zu einem
guten Gesetz zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit
kommen.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419609900
Das Wort hat
jetzt der Kollege Parr.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1419610000
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist:
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates,
der auf einem Teil des GKV-Neuordnungsgesetzes der al-
ten Bundesregierung von FDP und CDU/CSU aufbaut.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Das ist ein Beweis für die mögliche kontinuierliche
Weiterentwicklung einer Gesundheitspolitik bei der die
Krankenkassen noch schwarze Zahlen schrieben und der

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Kristin Heyne

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Versicherte nicht zum Spielball einer mittlerweile nicht
mehr berechenbaren Gesetzesmaschinerie wurde.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Dieses Thema eignet sich nicht für billige Polemik!)


Wie gut wäre es gewesen, wenn sich die neue Bundes-
regierung auch in den übrigen gesundheitspolitischen Be-
reichen ähnlich kontinuierlich verhalten hätte. Das hätte
uns manch langen Sitzungstag mit fruchtlosen Debatten
erspart.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist somit nicht verwunderlich, dass die FDP den Ge-
setzentwurf des Bundesrates begrüßt. Er wird den Wün-
schen der Mehrzahl der Sterbenskranken gerecht, in ver-
trauter Umgebung die letzten Stunden ihres Lebens zu
verbringen, und er würdigt die ehrenamtliche Arbeit der
Hospizbewegung in einer angemessenen Weise; denn de-
ren Kompetenz wird mit der Arbeit professioneller Fach-
kräfte und Dienste verknüpft, ohne die Eigenständigkeit
der Hospize einzuschränken.

Wir müssen allerdings bei den weiteren Beratungen da-
rauf achten, dass wir einerseits die für eine wirklich spür-
bare Förderung der ambulanten Hospizarbeit erforderli-
chen Förderbeträge bereitstellen – die Einsparungen bei
den stationären Angeboten müssen entsprechende
Berücksichtigung finden –; andererseits dürfen die Koor-
dinationsaufgaben für einen ambulanten Hospizdienst
nicht allein von Krankenschwestern oder Krankenpfle-
gern durchgeführt werden, sondern auch von anderen Be-
rufsgruppen. Gerade auch das ehrenamtliche Engagement
birgt sehr viel Professionalität. Man denke allein an die re-
gelmäßigen Fort- und Weiterbildungen für die Mitarbeiter
dieser Einrichtungen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Über die Bedeutung der Hospizarbeit sind wir uns alle
einig. Ein menschenwürdiges Sterben ohne diese Beglei-
tung ist für viele nicht denkbar. Dann dürfen wir aber
nicht zulassen, dass sich die Krankenkassen vor dem
Hintergrund dieses Gesetzentwurfs oder auch der Vorstel-
lungen in Ihrem Änderungsantrag zum Pflegeversiche-
rungs-Ergänzungsgesetz klammheimlich aus der Förde-
rung ambulanter Hospizdienste wegstehlen; diese Gefahr
droht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Das steht da drin? – Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Was haben Sie wieder gelesen? – Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Der braucht eine neue Brille!)


Belassen wir es im Jahr 2001, dem Jahr des Ehrenamts,
nicht allein bei Lobeshymnen auf die Menschen, die frei-
willig Dienst am Nächsten tun. Fördern wir dieses Enga-
gement in der Hospizbewegung so, dass sich diese Men-
schen auf dem Weg zu ihrem Ziel nicht ausgenutzt,
sondern anerkannt fühlen. Dieses Ziel, das ich gern zi-
tiere, ist in der Hospiz-Zeitschrift vom 1. Oktober 1999
nachzulesen: ein Leben in Würde bis zuletzt und dauer-
haft eine neue Kultur des Sterbens zu schaffen.

Auf diesem Weg ist es dringend erforderlich, die Be-
deutung der Palliativmedizin zu erkennen und herauszu-
stellen. Es ist mir und der FDP wie uns allen völlig un-
verständlich, dass es bundesweit bisher nur einen
Lehrstuhl für Palliativmedizin gibt. Sie spielt auch in der
Approbationsordnung für Ärzte nahezu keine Rolle. Das
müssen wir ändern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass viele
Ärzte sich scheuen, Opiate an Sterbende zu verabreichen.
Sie schrecken vor Bürokratismus bei Opiatsverordnungen
zurück, sie erliegen Vorurteilen und wollen sich nicht dem
Vorwurf der Förderung von Sucht aussetzen. Angesichts
des sterbenden Menschen dürften das doch keine Argu-
mente sein.

Nutzen wir bei den weiteren Beratungen die Chance,
Gedanken über ein Sterben in Würde und die Autonomie
des Menschen am Lebensende aus der Tabuzone heraus-
zuholen und ohne Vorbehalte zu diskutieren.

Lassen Sie mich abschließend noch ein Thema anspre-
chen, das mir besonders am Herzen liegt und mit dem sich
der 63. Deutsche Juristentag im vergangenen Jahr in
Leipzig beschäftigt hat: die Notwendigkeiten gesetzlicher
Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie
am Lebensende. Der Juristentag kam mit großer Mehr-
heit zu dem Schluss, dass das Selbstbestimmungsrecht
Regeln braucht. Die Grenzen zwischen der Hilfe beim
Sterben und der Hilfe zum Sterben sind fließend. Auch
aus der Sicht der Ärzte wurde in Leipzig eine gesetzliche
Regelung der Patientenrechte für wünschenswert gehal-
ten. Es gibt bei uns offensichtlich eine Grauzone zwischen
Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung, indirekter Sterbe-
hilfe und passiver Sterbehilfe.

Dabei dürfen wir auch nicht über die Reaktionen in der
deutschen Öffentlichkeit – Herr Minister Repnik hat dies
erwähnt – auf die Verabschiedung des niederländischen
Gesetzes über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf
Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung hinwegse-
hen. So heißt dieses Gesetz zur aktiven Sterbehilfe bei un-
serem Nachbarn. Die Niederländer haben über ein Jahr-
zehnt offen über diese Fragen diskutiert. Die FDP hält die
Zeit für gekommen, dass auch in Deutschland offen und
ohne Tabu eine solche Debatte beginnt.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Was soll das heißen?)


Herr Minister Repnik, Sie haben sich die Sache mit
Ihrem kategorischen Nein ein bisschen leicht gemacht.
Ich hoffe, Sie haben es nicht so gemeint. Es gibt nämlich
ausweglose Situationen, in denen ein Mensch im Rahmen
seines Selbstbestimmungsrechts eine vorher von ihm at-
testierte Erlösung wünscht.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist aber eine ganz gefährliche Aussage!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Detlef Parr

19210


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(D)



(A)



(B)


– Das ist zwar eine gefährliche Aussage, Herr Lohmann.
Aber wir müssen dennoch darüber reden dürfen. Dafür
setzen sich die FDP und ich mich persönlich ein.


(Beifall bei der FDP)


Ich danke Ihnen für das nachdenkliche Zuhören.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419610100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1419610200
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Nur wenige reden gern über
das Sterben. Viele denken noch nicht einmal darüber
nach. Dabei gehört das Sterben zu unserem Leben.

Es gibt aber einige Menschen, die täglich darüber
nachdenken, die auch darüber reden und sogar entspre-
chend handeln, indem sie die Hand halten, Schweiß ab-
wischen und einfach da sind. Das ist aller Ehren wert. Da-
rüber sind wir uns hier offensichtlich alle einig.


(Beifall im ganzen Hause)


Aber das mit der aktiven Sterbehilfe zu vermischen,
lieber Herr Kollege Parr, ist ein sehr gefährlicher Weg.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das ist genau der Punkt!)


Es geht nämlich um das Menschenbild, das dahinter steht.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: So ist es!)


Die eine Position besagt, dass das Sterben zum Leben da-
zugehört und dass wir versuchen können, mithilfe bei-
spielsweise der Schmerztherapie das Sterben so weit wie
möglich zu erleichtern. Die andere Position besagt: Jetzt
fühle ich mich jung und gesund. Aber wenn ich schwer er-
krankt bin, möchte ich, dass mein Leben beendet wird. –
Zwischen beiden Positionen besteht ein großer Unter-
schied. Wie man in der konkreten Situation denkt, das
kann keiner vorher wissen. Demzufolge warne ich davor,
das eine mit dem anderen zu vermischen.

Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der nichts
anderes will, als die ambulante Sterbebegleitung finan-
ziell ein wenig besser zu unterstützen. Ich möchte mich
auf diesen Punkt beschränken, obwohl ich weiß, wie not-
wendig es wäre, darüber zu reden, dass Ärzte erst einmal
ausgebildet werden müssen, bevor sie palliativ behandeln
können.

Auf der Anhörung vor zwei Tagen wurde von den Ver-
treterinnen und Vertretern der ambulanten Hospizdiens-
te klipp und klar gesagt: Die nun in Aussicht gestellten
15 Cent pro Versicherten reichen nicht einmal aus, die
jetzt bestehenden ambulanten Hospizdienste zu erhalten,
geschweige denn, neue aufzubauen oder irgendetwas an-
deres zu tun.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Wir wollen sie doch nicht ersetzen! Sie sollen doch dazukommen!)


– Lieber Herr Kollege Wodarg, Sie haben die Anhörung
genauso gehört wie ich und Sie wissen so gut wie ich, dass
in den vorbereitenden Gesprächen mit den Menschen, die
in dieser Bewegung seit Jahren tätig sind, immer von
1 DM, also 50 Cent, die Rede war. Jetzt ist von 15 Cent
die Rede.

Wir wollen doch bitte – das sage ich ganz ausdrück-
lich – die Kirche im Dorf lassen. Hier geht es darum – der
Minister und andere haben es gesagt –, die ambulant täti-
gen ehrenamtlichen Personen, die für ihre Tätigkeit gar
kein Geld wollen, denen man aber nicht zumuten kann,
dass sie das Geld mitbringen, so anzuleiten, einzusetzen,
auszubilden und weiterzubilden und ihnen Supervision
anzubieten, dass sie diese unglaublich wichtige Arbeit mit
der erforderlichen Ruhe und Gelassenheit tun können.
Dafür soll von den Krankenkassen Geld bereitgestellt
werden.

Wir müssen in den weiteren Gesprächen – wir haben ja
erst die erste Lesung – und Verhandlungen im Ausschuss
darum kämpfen. Es muss eigentlich unser aller Ziel sein
– da müssen wir vielleicht einmal gemeinsam gegen den
Finanzminister und auch gegen die Kassen denken –, dass
aus den 15 Cent am Ende 50 Cent werden. Dann wird von
den Menschen, die das wollen und können, eine vernünf-
tige und anständige Arbeit geleistet werden können. Sie
sollten von uns für ihre Arbeit wenigstens nicht bestraft
werden, indem sie ihr eigenes Geld mitbringen müssen.


(Beifall bei der PDS)


Das ist das eigentliche Ziel dieses Gesetzes. Dafür bitte
ich uns alle, nicht mit angezogener Handbremse vorzuge-
hen, sondern offen an die Sache heranzugehen und zu be-
schließen, den ehrenamtlich tätigen Menschen das Geld
zu geben, das sie brauchen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf
gute Gespräche.


(Beifall bei der PDS und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419610300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Wodarg.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1419610400
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben heute
schon viel über die Situation der ambulanten Hospizdiens-
te in Deutschland, über die Palliativmedizin und die Pal-
liativpflege gehört. Ich will mir deshalb ersparen, die
Szene noch einmal darzustellen.

Ich möchte nur auf einige Dollpunkte hinweisen. Wir
haben, wenn wir den Stand unserer Palliativmedizin mit
England oder auch mit Holland vergleichen, eine Menge
zu verbessern. Wenn wir von Holland sprechen, sprechen
wir immer nur von der aktiven Sterbehilfe.


(Detlef Parr [FDP]: Natürlich! Das gehört zusammen!)


Es gibt dort aber auch Palliativ-Care, die sehr intensiv in
der Kommune verankert ist und die sehr gute Dienste leis-
tet. So viel zu unseren Nachbarn.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Detlef Parr

19211


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(B)


Ein weiterer Punkt, auf den ich zu sprechen kommen
möchte, ist die ärztliche Verantwortung im Bereich der
Palliativmedizin, die wir hier nicht als Schwerpunkt ha-
ben, die aber erwähnt werden muss. Mir ist das Thema
sehr gegenwärtig. Wir hatten am Mittwoch gemeinsam
mit der Evangelischen Kirche in Berlin eine Veranstaltung
zur Palliativmedizin. Dort waren aus Ihrem Lande, Herr
Minister, die Brückenschwestern vom Deutschen Krebs-
forschungszentrum Heidelberg-Mannheim anwesend. Sie
haben gesagt, sie vermitteln Hilfe zwischen dem Kran-
kenhaus und der häuslichen Pflege und sie sorgen dafür,
dass die Sterbenden alles, was sie brauchen, bekommen.
Das ist ein guter Ansatz. Aber sie haben dann auch von ih-
rer Not berichtet, dass, wenn sie häusliche Schmerzthe-
rapie für den Patienten vermitteln wollen, es keinen Arzt
gibt, der dazu in der Lage ist. Zwei Ärzte in dem Ein-
zugsbereich des großen Tumorzentrums Heidelberg-
Mannheim sind ausgebildete Schmerztherapeuten.

Das ist das Defizit auf ärztlicher Seite, über das wir seit
Jahren Bescheid wissen. In diesem Zusammenhang, Herr
Minister, wünsche ich mir eine Initiative der Länder
– denn auch das liegt in der Verantwortung der Länder –
dahin gehend, dass die Ärzte in der Schmerztherapie aus-
gebildet werden, dass die Schmerztherapie Bestandteil
der Prüfungsinhalte der Approbationsordnung wird, und
zwar möglichst bald, sodass die Studenten, wenn sie ihr
Studium abgeschlossen haben, wissen, wie man Opiate
einsetzt, und keine Angst haben, damit umzugehen, weil
sie fürchten, man könne davon süchtig werden oder man
könne damit irgendwelche Schäden anrichten.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Sie haben Angst, sie könnten selbst süchtig werden!)


Es gibt kaum Medikamente, deren Wirkung so gut be-
kannt ist und die so beherrschbar sind wie die Opiate,
diese wirksamen Schmerzmittel.

Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir durch
die Änderung der Betäubungsmittelverschreibungsver-
ordnung Erleichterung für die Palliativmedizin gebracht.
Diese Medikamente dürfen für diese Patienten nun in
größeren Dosen, auf Vorrat, verordnet werden. Was wir
bisher nicht ausreichend geschafft haben, ist – das richte
ich auch an die Adresse der Länder –, dass Ärzte in ver-
nünftiger Schmerzbehandlung ausgebildet werden. Das
ist eine unbedingte Notwendigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ziele der Palliativ-Care-Bewegung sind eindeutig
und sind von uns allen anerkannt: Das ist die Schmerz-
freiheit bei Sterbenden. Das ist der Wunsch des Patienten,
nicht allein zu sein, sondern begleitet zu werden und je-
manden zu haben, mit dem man sprechen kann, über
Dinge, die noch nicht erledigt sind und die einen bewe-
gen. Und das ist der Wunsch, jemanden zu haben, den
man fragen kann „Wozu das alles?“, dem man die Sinn-
fragen stellen kann. Das muss nicht immer jemand sein,
der professionell ausgebildet ist. Gerade in diesem Be-
reich haben die ambulanten, auf ehrenamtlicher Basis ar-
beitenden Dienste gute Arbeit geleistet. Die Zahl der am-

bulanten Hospizdienste hat in den letzten Jahren zum
Glück sehr zugenommen; sie hat sich mehr als verdoppelt.

Ich denke, dass es überfällig ist, dieses Anliegen nicht
auf dem Rücken von Einzelinitiativen wachsen lassen,
sondern dass wir, wie das bei uns heißt, „Butter bei die
Fische tun“. Wir müssen also auch finanziell eine Unter-
stützung geben. Die Unterstützung darf eben nicht darin
bestehen, das Ehrenamt durch Profis zu ersetzen, sondern
müssen im Gegenteil das Ehrenamt stärken,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dafür ist es erforderlich, dass wir Informationen zur
Verfügung stellen und dafür sorgen, dass diejenigen, die
zu den sterbenden Menschen kommen, für die Sterbenden
nicht eine zusätzliche Belastung sind. Das könnte im
schlimmsten Falle nämlich passieren: dass jemand guten
Willens ist und helfen will, aber in gewisser Weise hilflos
ist. Das darf nicht passieren. Deshalb brauchen wir in die-
sem Bereich Qualitätssicherung. Wir müssen sicherstel-
len, dass diejenigen, denen wir als Ehrenamtlichen den
Zugang zu Sterbenden vermitteln, sicher und stark genug
sind. Sie müssen wissen, worum es geht und müssen auf
die Situationen, denen sie dort begegnen werden, vorbe-
reitet sein. Im Antrag des Bundesrates fehlt uns die Aus-
sage zur Qualitätssicherung.

Die von Ihnen zitierten Punkte aus unserem Antrag
– dass es speziell ausgebildete Pflegekräfte sein müssen,
die Leitungserfahrung haben, die Erfahrungen in der Pal-
lia-tivmedizin haben – sind Zielvorstellungen. Wir wis-
sen, dass das heute nicht überall der Fall sein kann. Trotz-
dem erlauben wir uns, diese Zielvorstellungen zu
formulieren. In den Verhandlungen über diese Anträge müs-
sen wir gemeinsam einen Weg suchen, wie wir diesen Zie-
len näher kommen. Ob das über Übergangsfristen oder die
Anerkennung ähnlicher Fähigkeiten geschehen kann, das
werden wir verhandeln müssen. Wir werden Wege finden.

Auf keinen Fall wollen wir das ehrenamtliche Engage-
ment, das wir jetzt haben, in irgendeiner Weise schwä-
chen. Wir wollen es fördern, indem wir es finanziell mehr
unterstützen und indem wir die Krankenkassen in die
Lage versetzen, sich hier zu engagieren. Das haben wir ja
auch schon bei der Förderung der Selbsthilfe gemacht, wo
die Krankenkassen eine wichtige Rolle übernommen ha-
ben – allerdings ist das noch nicht ausreichend in Gang
gekommen –, genauso wie bei präventiven Verfahren, wo
wir den Krankenkassen eine bestimmte Summe zur Ver-
fügung gegeben haben, damit Prävention ausgebaut wer-
den kann. Dies ist ein Bereich, in dem wir Gutes tun wol-
len und in dem wir das, was vor Ort getan wird, finanziell
unterstützen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden in den Verhandlungen über den vorliegen-
den Gesetzentwurf – den wir natürlich immer neben un-
seren Antrag stellen werden, auch wenn das verfahrens-
technisch etwas schwierig erscheint – das Thema
zusammenhalten; da bin ich mir ziemlich sicher. Insofern
werden wir hoffentlich nicht gewissermaßen eine Dop-
pelveranstaltung haben, obwohl ich heute gehört habe,
dass es Ansinnen gibt, das nebeneinander herlaufen zu

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Wolfgang Wodarg

19212


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(B)


lassen. Ich hielte das für schade und für eine Zeitver-
schwendung. Ich hoffe, dass wir uns in der Sache auf die
von uns gemeinsam vorgetragenen Ziele konzentrieren
werden und dass dabei eine Stärkung derjenigen heraus-
kommt, die schon jetzt vor Ort tätig sind und die in einer
Gesellschaft, in der die Zahl der Einpersonenhaushalte
zunimmt, in der immer mehr Menschen einsam sind und
in der das einsame Sterben immer häufiger vorkommt,
eine wichtige Arbeit leisten. Wir brauchen neue Formen
des Füreinander-verantwortlich-Seins, bei denen das Eh-
renamt eine große Rolle spielt. Wir wollen das Ehrenamt
stärken.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419610500
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/6754 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Bewertungsgesetzes
– Drucksache 14/6718 –

(Erste Beratung 192. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun

(Augsburg), Rainer Brüderle, weiteren Abgeord-

neten und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewer-
tungsgesetzes
– Drucksache 14/5345 –

(Erste Beratung 192. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 14/7171 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Nicolette Kressl
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Barbara Höll

Alle Reden zu diesem Punkt – das sind die Reden der
Abgeordneten Kressl, Fromme, Scheel, Solms und Höll –
sind zu Protokoll gegeben worden.1) Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall.

Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-
rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung

des Bewertungsgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des
Gesetzentwurfes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Stimmt
jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen
worden.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
FDP zur Änderung des Bewertungsgesetzes, Druck-
sache 14/5345. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7171,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
FDP und CDU/CSU bei Enthaltung der PDS abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen,
Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher

(Rehabilitierungsgesetzeänderungsgesetz – RehaÄndG)

– Drucksache 14/6189 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

Sind Sie damit einverstanden, dass alle Reden – es han-
delt sich dabei um die Reden der Abgeordneten Hacker,
Büttner (Schönebeck), Ströbele, Cornelia Pieper und
Petra Pau – zu Protokoll gegeben worden sind?2) – Das ist
der Fall.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/6189 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Wolfgang Wodarg

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1) Anlage 2 2) Anlage 3

– Drucksachen 14/4882, 14/6438 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ludwig Eich
Heidemarie Ehlert

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. – Es gibt
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Mathias Schubert.


Dr. Mathias Schubert (SPD):
Rede ID: ID1419610600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Antrag han-
delt es sich ja darum, durch die Streichung des § 30 a
Abs. 3 der Abgabenordnung das Bankgeheimnis abzu-
schaffen. Nun spielt natürlich – das wissen wir alle – seit
den Attentaten auf New York und auf Washington am
11. September innenpolitisch auch die Frage eine zentrale
Rolle, wie der terroristische Sumpf finanziell ausgetrock-
net werden kann, und zwar möglichst effizient und mög-
lichst schnell. In dem Zusammenhang taucht immer
wieder die Frage auf, ob die Abschaffung des Bankge-
heimnisses dazu ein wirksames Mittel darstellt. Nun ist
der Antrag der PDS vor den Attentaten abgefasst und dem
Bundestag zugeleitet worden. Deshalb ist die Abschaf-
fung des Bankgeheimnisses von der PDS nicht als Instru-
ment zur Terrorismusbekämpfung gedacht, sondern stellt
ein finanzpolitisches Instrument zur Schließung von Steu-
erschlupflöchern dar. So muss man es ja wohl nennen.

Bevor der Bundestag eine solch einschneidende und
weit reichende Entscheidung trifft, müssen natürlich
äußerst sorgfältig die Konsequenzen geprüft werden, die
mit der Abschaffung des Bankgeheimnisses verbunden
sein würden. Das ist ja klar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eines der Probleme, die hierbei sofort auftauchen,
äußert sich in einem Konflikt zwischen Staat und Bür-
gern, den ich auch ziemlich klar benennen möchte: Wird
vom Steuerzahler angenommen, er sage bei seiner
Steuererklärung grundsätzlich die Wahrheit, oder gilt das
Prinzip des Misstrauens? Aus der Beantwortung dieser
Frage lässt sich ableiten, wie der Staat mit seinen Bürgern
umgeht. Ich halte dieses für einen schwer wiegenden
Konflikt, der noch nicht endgültig geklärt ist.

Manche sagen – aus Kreisen von Bankern kann man
das hören –, Geld sei scheu wie ein Reh, je mehr Geld,
umso scheuer. Uns kann natürlich einerseits nicht daran
gelegen sein, Beschlüsse zu fassen, die zur Kapitalflucht
ins Ausland einladen. Vielleicht gibt es andererseits je-
doch Erfahrungen – zum Beispiel aus Frankreich oder
auch aus Dänemark, wo man ja das Bankgeheimnis in der
Form, wie wir es haben, nicht kennt –, die auch für unser
Finanz- und Steuersystem von Bedeutung sein können.
Auch das ist zu prüfen.

Klar ist in jedem Falle eines: Der Bund muss dafür sor-
gen, dass die Steuergesetze von allen Bürgern eingehalten
werden. Das ist durch hinreichende Kontrollmöglichkei-

ten abzusichern; ansonsten verschwendet der Bund das
Steuergeld vor allen Dingen derer, die ehrlich ihre Steu-
ern zahlen. Auch das ist ein Problem; hier muss eine Ab-
wägung erfolgen.

Weiterhin darf die Wirkung von § 30 a der Abgaben-
ordnung nicht auf die steuerliche Erfassung der Kapital-
erträge reduziert werden. Es gibt schon jetzt die Pflicht,
dem Finanzamt Mitteilung zu machen; diesbezügliche
Regelungen finden sich zum Beispiel im Erbschaftsteuer-
recht. Weiterhin wurde durch das Steuerentlastungsgesetz
1999/2000/2002 die Möglichkeit verbessert, im Ver-
anlagungsverfahren Kapitalerträge zielgenauer aufzu-
spüren. Im Steuersenkungsgesetz ist geregelt, dass neben
und getrennt von Zinsen jeweils auch die Höhe des Be-
trages gemeldet werden muss, für den bei Dividenden die
Erstattung von Kapitalertragsteuer und die Vergütung von
Körperschaftsteuer beantragt worden ist.

Außerdem: Die Streichung des § 30 a Abs. 3 der Abga-
benordnung allein bildet noch keine ausreichende Grund-
lage für die Einführung eines Meldeverfahrens über Kon-
ten von den Kreditinstituten an die Finanzbehörden. Ein
solches Meldeverfahren müsste seinerseits auf eine ge-
setzliche Grundlage gestellt werden und zwischen Finanz-
verwaltung und Kreditwirtschaft abgestimmt werden, da-
mit es praktikabel ist und mit möglichst geringem
bürokratischen Aufwand auskommt. Nach einer jüngsten
Bewertung des Bundesfinanzministeriums ist zumindest
der Verwaltungsaufwand schwer abschätzbar. Ein Großteil
der Meldungen ist vermutlich steuerlich völlig irrelevant.

Zusammengefasst ist zu sagen, dass eine Reihe von po-
litischen, gesetzestechnischen und verwaltungstechni-
schen Problemen bestehen. Deshalb kann es ohne eine
sorgfältige Prüfung und Folgenabschätzung keine
Entscheidung über die Aufhebung des so genannten
Bankgeheimnisses geben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419610700
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt.


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1419610800
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag,
über den wir jetzt abstimmen sollen, trägt die Überschrift
„Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen“. Damit kein
falscher Eindruck entsteht, will ich gleich am Anfang mei-
nes Beitrags feststellen, dass ich davon ausgehe, dass alle
Mitglieder dieses Hauses und damit alle Fraktionen darin
übereinstimmen, dass alle Gesetze eingehalten werden
müssen – das gilt auch und gerade für Steuergesetze – und
dass wir alle dafür sind, dass Leute, die Steuern hinterzie-
hen, mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden.
Ich glaube, darin besteht hier im Hause Einigkeit.

Beim PDS-Antrag geht es aber nicht, wie die Über-
schrift sagt, um Steuerhinterziehung. Vielmehr geht es im
Wesentlichen darum, das viel zitierte Bankgeheimnis ab-
zuschaffen.


(Heidemarie Ehlert [PDS]: Das ist doch bereits abgeschafft!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

19214


(C)



(D)



(A)



(B)


Da ich, wie Sie wissen, Banker bin und viele Jahre Kre-
ditinstitute geleitet habe, kenne ich mich natürlich mit
dem Bankgeheimnis sehr gut aus. Bankgeheimnis heißt
ganz schlicht: das Verbot der Kreditinstitute, bestimmte
Daten anderen gegenüber offen zu legen.

Wir wissen, dass es von diesem Bankgeheimnis eine
ganze Reihe von Ausnahmen gibt, sodass Ihrem Petitum
längst entsprochen ist. Es reicht ein Anfangsverdacht, um
das Bankgeheimnis für die Staatsanwaltschaft völlig auf-
zuheben. Ein zweiter Punkt, der genannt wurde: Im Falle
des Todes eines Kunden sind entsprechende Meldungen
an die Finanzverwaltung fällig.

Wenn wir uns mit dem Bankgeheimnis beschäftigen,
dann müssen wir natürlich zur Kenntnis nehmen, dass es
in Bezug auf dieses Thema in den verschiedensten Län-
dern unterschiedliche Traditionen gibt: In der Schweiz hat
das Bankgeheimnis Verfassungsrang; in Österreich und
Luxemburg wird es sehr eng ausgelegt; die Vereinigten
Staaten und auch andere Länder kennen so etwas wie ein
Bankgeheimnis nicht. Angesichts der europäischen und
gerade der deutschen Mentalität wird aber die Gefahr ei-
ner Kapitalflucht mit Sicherheit zunehmen, wenn man
das Bankgeheimnis noch weiter aushöhlt. Dies kann
natürlich für den Standort Deutschland nicht unerwähnt
bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bei dem Antrag der PDS geht es nun konkret darum,
§ 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung zu streichen. Ich lese
Ihnen einmal aus diesem Paragraphen vor, damit Sie wis-
sen, worum es geht. Es heißt dort:

Die Guthabenkonten oder Depots ... dürfen anläss-
lich der Außenprüfung bei einem Kreditinstitut nicht
zwecks Nachprüfung der ordnungsmäßigen Ver-
steuerung festgestellt oder abgeschrieben werden.

Der Finanzausschuss hat sich mit diesem Antrag beschäf-
tigt. Sie können der Vorlage entnehmen, dass sowohl SPD
und Grüne als auch die Unionsfraktionen und die FDP
diesen Antrag abgelehnt haben. Dennoch gibt es innerhalb
der sozialdemokratischen Partei offensichtlich unter-
schiedliche Auffassungen zu diesem Thema.

Kollege Schubert hat eben darauf hingewiesen, dass
man dieses Thema differenziert betrachten muss. Dem
stimme ich zu. Sein stellvertretender Fraktionsvorsitzen-
der, Herr Poß, ist da offensichtlich anderer Meinung. Er
hat klar zum Ausdruck gebracht, dass er gegen das Bank-
geheimnis in jeder Form ist und hat in einem Brief einen
Satz formuliert, den man in den Zeitungen lesen konnte
– Ihre internen Briefe bekomme ich nicht –: „Falls die Re-
gierung damit nicht rüberkommt, werden wir das als Frak-
tion machen“. Es heißt weiter in dem Brief: „Möglicher-
weise nimmt Eichel Rücksicht bei diesem Thema auf den
zögernden Bundeskanzler“. Jetzt wird immer wieder ar-
gumentiert, man müsse zur Bekämpfung des Terroris-
mus das Bankgeheimnis aufheben. Meine Damen und
Herren, Bin Laden wird seine Konten nicht unter dem Na-
men Bin Laden führen. Das ist nun wirklich dummes
Zeug, um es ganz klar zu sagen.

Es ist ganz interessant, dass eine Sprecherin des Bun-
desfinanzministeriums – ich zitiere das „Handelsblatt“
vom 11. Oktober – wörtlich gesagt hat:

„Das Thema Bankgeheimnis ist für die Regierung
nicht vordringlich.“ Das Maßnahmenpaket gegen die
Geldwäsche und Terrorismusbekämpfung habe Prio-
rität. Sie sagt weiter:

– diese Auffassung teile ich –

„Dazu ist es nicht erforderlich, das Bankgeheimnis
weiter einzuschränken.“

Lassen Sie mich mit aller Deutlichkeit feststellen:
Diese Argumentation, die wir immer wieder finden – sie
ist bisher nicht von Ihnen vorgetragen worden; vielleicht
kommt sie noch von den anderen Rednern –, wer für das
Bankgeheimnis sei, stehe auf der Seite von Steuerhinter-
ziehern, ist nicht nur falsch, sondern auch unanständig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Bankgeheimnis in Deutschland ist ein wichtiges In-
strument der Vertrauensbildung zwischen Kunden und
Kreditinstitut. Mit diesem Instrument sollten wir alle sehr
vorsichtig umgehen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419610900
Das Wort hat die
Kollegin Christine Scheel.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419611000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist unbestritten, dass der Antrag mit der Überschrift
„Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen“ vom Dezem-
ber 2000 einen aktuellen Bezug hat. Auf den haben beide
Vorredner hingewiesen.

Wir haben es hier mit einer sehr komplexen Situation
zu tun, die sehr differenziert zu betrachten ist. So unter-
stützen wir das am 5. Oktober 2000 vorgelegte Programm
von Finanzminister Eichel zur Bekämpfung von Miss-
bräuchen im Rahmen von internationalen Finanzströmen
im Zusammenhang mit dem geplanten Vierten Fi-
nanzmarktförderungsgesetz. Hier soll es Veränderungen
geben. Wir wissen, dass Geldwäsche und Steuerhinterzie-
hung in einer direkten Wechselbeziehung stehen können.

Ich halte es für richtig, dass eine Steuerhinterziehung
leichter entdeckt wird bzw. das Risiko, entdeckt zu
werden, größer wird. Im Rahmen des Steuerverkür-
zungsbekämpfungsgesetzes – ich nenne als Beispiel den
Umsatzsteuerbetrug, um ihn handelt es sich hier – haben
wir angedacht, das Strafmaß für schwere Steuerhinterzie-
hung anzuheben, indem gemäß § 370 der Abgabenord-
nung statt einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu
zehn Jahren eine Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn
Jahren verhängt werden kann. Damit wird aus einem Ver-
gehen ein Verbrechen. Die Ermittlungsmethoden, die den
Kriminalbeamten zur Verfügung stehen, werden erwei-
tert. Ich denke, alle in diesem Haus halten dies für eine

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Otto Bernhardt

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(C)



(D)



(A)



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wirksame Maßnahme, um gegen Betrug zumindest in die-
sem Bereich vorgehen zu können.

Der zweite Punkt ist die angekündigte Errichtung einer
Kontenevidenzzentrale beim Bundesaufsichtsamt für
das Kreditwesen. Diese wird alle in Deutschland geführ-
ten Konten und Depots bei Banken erfassen können. Hier-
bei werden nicht Geldströme und Kontobestände, sondern
lediglich der Name des Kontoinhabers bzw. Unterneh-
mens erfasst, die bei verschiedenen Instituten Konten un-
terhalten. Im Falle von Ermittlungsmaßnahmen wird das
Sichtbarmachen von Geldströmen, die dem Terrorismus
und der Geldwäsche dienen, leichter ermöglicht. Daneben
wird eine Zentralstelle für verfahrensunabhängige Finanz-
ermittlungen zur Bekämpfung der Geldwäsche im Ge-
schäftsbereich des BMF eingerichtet, die ebenfalls die-
sem Ziel dient.

Wir wissen, dass fast alle Staaten, die Mitglied der „Fi-
nancial Action Task Force on Money Laundering“ sind,
bereits vergleichbare Einrichtungen geschaffen haben.
Deswegen ist es gut, dass diese Stellen international
kooperieren können und dass man alle erstatteten
Geldwäscheverdachtsanzeigen im ganzen Land anneh-
men, analysieren und auswerten kann, um dann die not-
wendigen Schritte einzuleiten.

Wir haben das nachgeholt, was seit Jahren überfällig
war, aber von der alten Regierung nicht aufgegriffen
wurde, um eben auch hier ein Stück voranzukommen. Von
den Banken wird verlangt, dass sie mit einem EDV-ge-
stützten Konten-Screening interne Sicherungssysteme
gegen Geldwäsche und Finanzbetrug anwenden. Mit die-
sem Programm wird dann offensichtlich, dass auf diesem
Gebiet ein Handlungsdefizit behoben werden muss.

Ein vergleichbares Defizit gibt es beim Thema Steuer-
hinterziehung, das nun von Ihrer Seite aufgegriffen wor-
den ist. Das Defizit bezieht sich konkret auf § 30 a der Ab-
gabenordnung. In diesem Zusammenhang bitte ich
darum, auch hier eine sehr differenzierte Betrachtungs-
weise vorzunehmen. Der Abschnitt, zu dem § 30 a Abga-
benordnung zählt, hat – ich würde sagen: irrsinniger-
weise – die Überschrift: Schutz des Bankkunden. Im
Abs. 3 des § 30 a Abgabenordnung ist geregelt, dass Gut-
habenkonten oder Depots anlässlich einer Außenprüfung
eines Kreditinstituts nicht zwecks Nachprüfung der ord-
nungsgemäßen Versteuerung abgeschrieben werden dür-
fen. Das ist der Inhalt. Die Ausstellung von Kontrollmit-
teilungen soll insofern unterbleiben.

Ich finde, wir sollten an diesem Punkt weiterdiskutie-
ren. In den USA spielt die Frage von Kontrollmiteilungen
überhaupt keine Rolle. Wenn ein Anleger oder eine Anle-
gerin aus Deutschland Geldanlagen in den USA hat, ist es
selbstverständlich, dass es Kontrollmitteilungen gibt.
Auch in anderen Ländern wird über ein solches Vorgehen
diskutiert. Wir meinen aber, dass man die Frage interna-
tional – zumindest auf europäischer Ebene – regeln muss,
um ein einheitliches Vorgehen erreichen zu können.

Wir haben uns in diesem Zusammenhang sehr intensiv
mit der Frage des Verhältnisses von Finanzamt und Ban-
ken auseinander gesetzt. Beides sind Institutionen, die un-
ter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten den Schutz
des Kunden gewähren. Deswegen ist das Problem, dass

hier gewissermaßen eine Aufhebung eines Geheimnisses
stattfindet, differenziert zu beurteilen, weil wir es in bei-
den Fällen mit einem Vertrauensschutz hinsichtlich der
datenschutzrechtlichen Bestimmungen und Grundlagen
zu tun haben.

Nichtsdestotrotz meinen wir: Wir brauchen ein Ge-
samtbündel an Maßnahmen, das auf nationaler Ebene an-
gegangen wird. Es bedarf aber noch internationaler Ab-
sprachen, um verschiedene Punkte zu klären. Deswegen
bitte ich darum, dem Antrag nicht zuzustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419611100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Otto Solms.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1419611200
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorlie-
gende Antrag geht an seinem formulierten Ziel vorbei. Ein
Bankgeheimnis im allgemeinen Sprachgebrauch, mit all
dem, was man sich darunter vorstellt, gibt es in Deutsch-
land nicht, denn schon bei einem Anfangsverdacht wer-
den – wie es der Kollege Schubert gesagt hat – in straf-
rechtlichen wie in steuerrechtlichen Fragen die Banken zu
einer Auskunft verpflichtet. Deswegen kann eine Ab-
schaffung des Restes des Bankgeheimnisses weder der
Terrorismusbekämpfung noch der Bekämpfung der Steu-
erhinterziehung dienen. Daher lehnen wir den Antrag ab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir lehnen den Antrag aber auch deshalb ab, weil sich

in der gegenwärtigen Hysterie bei der Diskussion über die
Vorschläge hinsichtlich der Terrorismusbekämpfung eine
Tendenz abzeichnet, die den Eindruck erweckt, man wolle
in Wirklichkeit auch den von der Verfassung geschützten
Teil der Privatsphäre voll durchleuchten und einen glä-
sernen Bürger schaffen. Das ist nicht richtig. Dagegen
wendet sich die FDP ganz entschieden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen keinen gläsernen Bürger und wir brauchen
auch keine Kontenevidenzzentrale. Ich will mein Bank-
konto – wie Wolfgang Gerhardt neulich so schön formu-
liert hat – in Zukunft weiterhin bei der Bank und nicht
beim Finanzminister geführt haben. Das geht den nämlich
gar nichts an.


(Beifall bei der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der will das doch auch gar nicht!)


Was werden denn die Beamten, ist eine solche Konten-
evidenzzentrale einmal eingerichtet, dort machen? Sie
werden dann selbstverständlich auch die Bewegungen auf
den Konten verfolgen, weil ein Handlungsdruck entste-
hen wird, wenn die Konten erst einmal erfasst sind. Nein,
das Erforderliche können die Banken bereits heute leisten,
nämlich in kürzester Zeit über jedes Konto Auskunft zu
geben.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2 800 Banken!)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Christine Scheel

19216


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie brauchen keine Evidenzzentrale, Sie müssen nur die
Banken verpflichten, auf Nachfrage innerhalb von
24 Stunden – das geht heute mit Internet und moderner Te-
lekommunikation – Auskunft zu geben, ob ein konkret
Verdächtiger bei einer bestimmten Bank, Sparkasse oder
Volksbank ein Konto führt.

Also: Die Umsetzung Ihrer Pläne ist nicht notwendig;
es braucht keine staatliche Bürokratie. Das Bankgewerbe
kann die geforderten Aufgaben selbst erfüllen. Man sollte
sich an die Banken wenden, um diese Ziele organisato-
risch zu gewährleisten.

Das, was hier beabsichtigt wird, dient auch nicht der
Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Im Gegenteil: Das
schafft mehr Misstrauen. Alle, die in der Volkswirtschaft
tätig sind, wissen: Geld ist ein flüchtiges Gut. Wenn Miss-
trauen entsteht, dann wandert das Geld aus, dann gibt es
Kapitalflucht. Wenn die Bundesregierung hier aktiv wer-
den will – das halten wir für richtig –, dann sollte sie sich
darauf konzentrieren, dass international die Schließung
von Offshorezentren und Steueroasen vereinbart wird.
Eine solche Vereinbarung hat es bislang nicht gegeben.
Dadurch könnten Sie der Geldwäsche viel effizienter auf
die Spur kommen als durch solche Methoden, die Sie jetzt
in Deutschland einführen wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist die Auf-
weichung des Bankgeheimnisses ein untaugliches Mittel.
Auch Kontrollmitteilungen nutzen hier nichts. Wir sollten
bei der Zinsbesteuerung zu einer Abgeltungssteuer auf
niedrigem Niveau übergehen, die an der Quelle erhoben
wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dann sind Kontrollmitteilungen nicht mehr notwendig,
weil die Steuern erhoben werden, bevor die Zinsen aus-
gezahlt werden. Dann könnten wir auch die Steuerflucht
verhindern. Im Übrigen würde das Steueraufkommen
selbst dann, wenn Sie die Steuersätze senken würden,
deutlich steigen. Das wäre ein liberales und effizientes
Vorgehen. Das sollten Sie sich zu Eigen machen, anstatt
die Einrichtung einer neuen Überwachungsbehörde vor-
zuschlagen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419611300
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Heidemarie Ehlert.


Heidemarie Ehlert (PDS):
Rede ID: ID1419611400
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon als wir unseren
Antrag eingebracht haben, war mir klar, welchen Auf-
schrei es hier geben wird. Wir rütteln schließlich an einer
heiligen Kuh. Deshalb lehnten sowohl die Koalitionsfrak-
tionen wie auch die Oppositionsparteien – wenn auch aus
unterschiedlichen Gründen – unseren Antrag im Finanz-
ausschuss in gewohnter Geschlossenheit ab.

Heute erwarte ich eigentlich ein anderes Abstim-
mungsverhalten; denn der Bundeskanzler sagte in der
Haushaltsdebatte:

Ich verstehe ja, dass sehr viele Menschen das Bank-
geheimnis gleichsam für die Magna Charta der inne-
ren Sicherheit halten, aber das ist nicht so.

Auch der Kollege Poß möchte nun § 30 a der Abgaben-
ordnung streichen, wenn auch erst im nächsten Jahr. Da
wir in unserem Antrag die Bundesregierung nur aufgefor-
dert haben, einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
der Abgabenordnung in diesem Punkt vorzulegen, dürften
Sie heute eigentlich keine Schwierigkeiten haben, unse-
rem Antrag zuzustimmen.


(Beifall bei der PDS)


Selbst die Begründungen widersprechen sich nicht. Uns
geht es gemeinsam um die Verhinderung von Steuerhin-
terziehungen in Milliardenhöhe.

§ 30 a der Abgabenordnung – aus ihm wurde schon zi-
tiert – hat die Überschrift „Schutz von Bankkunden“. Im
Klartext heißt das, dass der Kunde vor dem Finanzamt ge-
schützt werden soll. Es ist schon etwas seltsam, wenn der
Gesetzgeber einerseits Steuerehrlichkeit von den Bürgern
einfordert und andererseits deutlich macht: Liebe Leute,
bei den Banken seid ihr vor dem Finanzamt sicher.

Die derzeit laufenden Ermittlungen der Steuerfahn-
dung wegen Nichtversteuerung von Kapitalerträgen zei-
gen sehr deutlich, dass Steuerhinterziehung in großem
Umfang möglich ist. Mit der Streichung des § 30 a der Ab-
gabenordnung und der Möglichkeit, bei Außenprüfungen
Kontrollmitteilungen zu schreiben, hätte die Finanz-
behörde endlich ein effektives Instrument zur Verhinde-
rung von Steuerverkürzungen.


(Eduard Lintner [CDU/CSU]: Sie haben ihm nicht zugehört!)


– Ich habe mir die Ohren gewaschen. – Sicher, sobald ein
Strafverfahren eingeleitet ist, erhält das Finanzamt schon
jetzt freien Einblick in die Konten. Nur, dann ist es
manchmal schon zu spät.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der FDP, Sie verteidigen das so genannte Bankge-
heimnis mit besonderer Vehemenz. Zwar fordern Sie ein
noch schärferes Sicherheitspaket mit weit gehenden Ein-
griffen in die Bürgerrechte. Da soll und darf jeder über-
wacht werden. Aber wie heißt es so schön: Beim Geld hört
die Freundschaft auf. Außerdem haben einige in diesem
Hause leider vergessen, dass das so genannte Bankge-
heimnis für Hunderttausende hierzulande längst nicht
mehr gilt, nämlich nicht für alle Sozialhilfeempfänger und
deren Verwandten. Sie müssen nachweisen, dass sie be-
dürftig sind. Damit diese Menschen nicht doch noch ir-
gendwo eine Mark versteckt halten, wird jetzt auch noch
dafür gesorgt, dass die betreffenden Ämter vernetzt wer-
den. Dabei steht der in diesem Bereich anzutreffende
Missbrauch wohl in keinem Verhältnis zu der Steuerhin-
terziehung.


(Beifall bei der PDS)


Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 196. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Oktober 2001

Dr. Hermann Otto Solms

19217


(C)



(D)



(A)



(B)


Übrigens: Eine verstärkte Kapitalflucht wegen Strei-
chung dieses Paragraphen wird es nach dem Präsidenten
des Bundesverbandes deutscher Banken voraussichtlich
nicht geben; denn das Schwarzgeld hat das Land längst
verlassen. Also können Sie auch zustimmen.

Ich glaube nicht, dass die Aufhebung des Bankge-
heimnisses die entscheidende Maßnahme zur Bekämp-
fung des Terrorismus ist, aber man muss jede Möglichkeit
zur Eindämmung des Terrorismus sorgfältig prüfen.

Wenn ich die Nachrichten über die Attentäter vom
11. September richtig verfolgt habe, dann war es so, dass
diese unauffällig und angepasst lebten und offenbar keine
größeren Bargeldmengen eingezahlt haben; denn sonst
hätte das Geldwäschegesetz zugeschlagen.

Geldströme müssen kontrolliert werden, national und
international. Dafür müssen die Voraussetzungen ge-
schaffen werden. Auf dem EU-Gipfel im Juni 2000 wurde
eine Kompromissformel bezüglich EU-Zinsbesteuerung
und Kontrollmitteilungen erzielt und damit verliert der
§ 30 a der Abgabenordnung seine Europatauglichkeit. Das
sollten Sie nicht vergessen. Ich verweise auch noch ein-
mal auf die geplanten Änderungen im Vierten Finanz-
marktförderungsgesetz und der 2. EU-Geldwäscherichtli-
nie.

Wir möchten die Aufhebung dieses Paragraphen, um
– ich betone das – die Gleichmäßigkeit der Besteuerung
zu sichern, Steuerhinterziehung wirksam zu bekämpfen
und letztlich einen Schritt hin zu größerer Gerechtigkeit

im Sinne des Art. 3 Grundgesetz zu tun. Meine Damen
und Herren, ich möchte nicht, dass das Bankgeheimnis
weiter mit ins Grab genommen werden muss, wie es
Friedrich der Große bereits 1776 gefordert hat.

Also: Unterstützen Sie unseren Antrag!


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1419611500
Danke schön. –
Ich schließe damit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/6438
zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Steu-
erhinterziehung wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hause gegen die Stimmen der PDS angenommen
worden.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 7. November 2001, 13 Uhr, ein.

Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie
den Besucherinnen und Besuchern eine gute Heimreise.

Die Sitzung ist geschlossen.