Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
Kolleginnen und Kollegen nachträglich zum Geburtstag
gratulieren: Den 60. Geburtstag konnten der Kollege
Arne Fuhrmann am 5. Juni, der Kollege Horst
Kubatschka am 10. Juni und die Kollegin Renate Jäger
am 17. Juni feiern. Ihren 65. Geburtstag beging die Kol-
legin Hanna Wolf am 14. Juni. Ihnen allen unsere herz-
lichsten Glückwünsche!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rah-
menplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum
2001 bis 2004 – Drucksache 14/5900 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der
F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Drei-
undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeord-
netengesetzes – Drucksache 14/6311 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel,
Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Beschäftigung
älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshinder-
nisse abbauen – Drucksache 14/5579 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ – Drucksa-
che 14/6028 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Kultur und Medien – Drucksache
14/6331 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel
Dr. Norbert Lammert
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto
Dr. Heinrich Fink
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache
14/6356 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung der
Beratung 164. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
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176. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Beginn: 9.00 Uhr
Änderung reiserechtlicher Vorschriften – Drucksache
14/5944 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
– Drucksache 14/6350 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann
Volker Kauder
Volker Beck
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-
tung der Bundesregierung zu den erneut korrigierten
Wachstumsprognosen der deutschen Wirtschaftsinstitute
und den daraus resultierenden Folgen
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert,
Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der PDS: Pflege reformieren – Lebens-
qualität in Gegenwart und Zukunft sichern – Drucksache
14/6327 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
6. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
schlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates zur Änderung der Verordnung
Nr. 881/92 des Rates vom 26. März 1992 über den Zugang
zum Güterkraftverkehrsmarkt in derGemeinschaft fürBe-
förderungen aus oder nach einem Mitgliedstaat oder durch
einen oder mehrere Mitgliedstaaten hinsichtlich einer ein-
heitlichen Fahrerbescheinigung KOM 751 endg.; Rats-
dok. 13905/00 – Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Hempel,
Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Müller , Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aids-Bekämpfung in den
Entwicklungsländern fördern – Drucksache 14/6320 –
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Birgit Homburger, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine gemeinsame
europäische VN-Politik – Drucksache 14/6083 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
9. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-
punkt 23 – Kulturföderalismus in Deutschland – abzuset-
zen sowie den Tagesordnungspunkt 26 – Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes – ohne Debatte aufzurufen.
Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Überwei-
sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 174. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss auch gemäß § 96 derGeschäfts-
ordnung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Familien-
förderung –Drucksache 14/6160 –
überwiesen:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Sonderausschuss Maßstäbe- /Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den
Ergebnissen des Europäischen Rates in Göte-
borg am 15. und 16. Juni 2001
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich aufdie Ergebnisse des Europäischen Rates in Göteborg ein-gehe, möchte ich ein Wort zu den gewalttätigen Aus-schreitungen am Rande des Gipfels sagen. Ich denke wirsind uns alle darin einig, dass diese Ausbrüche blindwütigund menschenverachtend waren, und ich kann im Namendes ganzen Hauses sprechen, wenn ich sage, unser Mit-gefühl gilt den schwedischen Polizisten, denen von Ran-dalierern zum Teil schwerste Verletzungen zugefügt wur-den.
Eine politische Auseinandersetzung mit diesen Gewalttäternist faktisch unmöglich. Sie haben keine politischen Zieleund waren im Übrigen unter jenen mehr als 20 000 Men-schen isoliert, die friedlich auf ihre Ziele hingewiesen ha-ben.Wir spielten diesen Chaoten nur in die Hände, ließenwir die guten Ergebnisse des Göteborger Gipfels von denBildern jener Ausschreitungen überlagern. In Göteborg
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Präsident Wolfgang Thierse17212
hat eine erfolgreiche schwedische Präsidentschaft ihrenAbschluss gefunden. Dieser Präsidentschaft unter Minis-terpräsident Göran Persson gilt heute erneut mein Dank.
Von Göteborg geht eine überragende Botschaft aus:Der Erweiterungsprozess der Europäischen Union ist un-umkehrbar. Daran kann auch der negative Ausgang desirischen Referendums, den ich bedauere, nichts ändern.Im Gegenteil: Die Verhandlungen zur Erweiterung der EUsind im letzten Halbjahr so gut vorangekommen, dass esin Göteborg möglich war, die Vorgaben von Nizza weiterzu präzisieren. Wir haben uns gemeinsam das Ziel gesetzt,die Beitrittsverhandlungen mit jenen Kandidaten, die bisdahin die Bedingungen erfüllen, zum Jahresende 2002zum Abschluss zu bringen. Wenn dies gelingt, dann solltees auch möglich sein, dass die ersten Kandidatenländer alsMitglieder der Europäischen Union an den Wahlen zumEuropäischen Parlament im Jahre 2004 teilnehmen wer-den.Gewiss, diese Zielsetzung ist ehrgeizig. Mit ihr ver-bunden ist das Bekenntnis zu dem Prinzip, dass jederKandidat ausschließlich nach seinen eigenen Leistungenbeurteilt wird. Hier bedarf es noch erheblicher Anstren-gungen wichtiger Kandidatenländer. Letztlich haben siees selbst in der Hand, ob das Ziel erreicht wird oder nicht.Am Montag habe ich mit dem polnischen Ministerprä-sidenten Buzek bei unserem Treffen in Frankfurt
unseren gemeinsamen Wunsch bekräftigt, dass Polen dasgesteckte Ziel in der ersten Gruppe erreicht. Einfach wirddas nicht sein. Aber ich denke, wir werden gemeinsam al-les dafür tun, dass Polen seine Chance nutzen kann. Dasgilt im Übrigen auch für alle anderen Kandidatenländer.Es hängt von ihnen selbst ab, ob die Fortschritte in denVerhandlungen und bei der Umsetzung des europäischenRegelwerkes ausreichend sein werden.Ich bin recht zuversichtlich, dass wir die in Göteborgfestgelegten Zielvorgaben erreichen werden. Wir habenim ersten Halbjahr erhebliche Fortschritte im Beitritts-prozess verzeichnet. Das ist übrigens nicht zuletzt dasVerdienst einer klugen und sachlich orientierten Ver-handlungsführung des deutschen Kommissars GünterVerheugen.
Mit der Verabschiedung eines gemeinsamen Stand-punktes der Mitgliedstaaten zur Freizügigkeit und zumKapitalverkehr ist – so denke ich – ein wirklicher Durch-bruch gelungen. Ungarn hat als erstes Kandidatenland dersiebenjährigen – im Übrigen flexiblen – Übergangsfrist beider Arbeitnehmerfreizügigkeit zugestimmt und damitdas entsprechende Verhandlungskapitel abgeschlossen.Lettland hat in dieser Woche ebenfalls zugestimmt und ichbin sicher, dass schon bald weitere Länder folgen werden.Damit ist ein wesentliches deutsches, von mir mit beson-derem Nachdruck verfolgtes Verhandlungsziel erreicht.Der Erweiterungsprozess kann insgesamt nur gelingen,wenn er auch künftig die Unterstützung der Menschen inunserem Land findet. Eine für beide Seiten auskömmlicheLösung bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt hierbeieine Schlüsselrolle.
Ebenso müssen die von der Erweiterung besonders be-troffenen Grenzregionen die mögliche und notwendigeUnterstützung erhalten, um absehbar schwierige Anpas-sungsprozesse besser bewältigen zu können.
Auch dies hat der Europäische Rat in Göteborg noch ein-mal bekräftigt. Die Kommission wird schon bald eine ent-sprechende Mitteilung vorlegen.Meine Damen und Herren, die Beratungen zur Erwei-terung in Göteborg standen unter dem Eindruck des iri-schen Referendums. Zu Beginn des Gipfels hat der iri-sche Premierminister Bertie Ahern in einer sehrengagierten und auch überzeugenden Intervention darge-legt, dass er den Ausgang des irischen Referendums unddie damit verbundenen Fragen als ein originär irischesProblem ansieht. Dabei hat er noch einmal unterstrichen,dass weder die irische Regierung noch eine Mehrheit deririschen Bevölkerung eine Verzögerung der Erweiterungwünschen. Er hat deutlich gemacht, dass das Referendumentsprechend zu interpretieren ist. Der Europäische Ratseinerseits hat einhellig zum Ausdruck gebracht, dass erdie irische Regierung bei ihrer Suche nach einer Lösungunterstützen wird.Zugleich wird von allen Partnern der Ratifizierungs-prozess von Nizza fortgesetzt. Nachverhandlungen – hierwaren sich alle Partner einig – wird und kann es nicht ge-ben. Ich bin also zuversichtlich, dass wir die Ratifizierungdes Vertrages im vorgesehenen Zeitraum, das heißt bisEnde des Jahres 2002, wirklich bewältigen können. Aller-dings wären wir schlecht beraten, wenn wir einfach zurTagesordnung übergingen. Eine Politik des „einfach wei-ter so“ wird es nicht geben können.Was auch immer die Gründe für den negativen Ausgangdes Referendums gewesen sein mögen, eines scheint mirunübersehbar: Nicht nur in Irland, sondern auch in den an-deren Mitgliedsländern haben noch immer viele Men-schen mehr Fragen als Antworten, wenn es um Europageht. Nach meiner Auffassung ist dies kein Zufall. DerFortgang des Integrationsprozesses ist – ich glaube, darinsind wir uns einig – eine Zukunftsfrage allerersten Ranges.Wir haben in diesem Hohen Hause über den Umgangmit der Gentechnik diskutiert und uns intensiv mit denHerausforderungen des demographischen Wandels ausei-nander gesetzt. Wir werden über die Zuwanderung unddie damit verbundenen Fragen nach dem Selbstverständ-nis unserer Gesellschaft zu debattieren haben. Genau indiesem Sinne – geleitet von den Prinzipien der Redlich-keit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern – müssenwir auch die Fragen diskutieren, die die Finalität Europasbetreffen.Jahrzehntelang wurde die europäische Einigung nachfolgendemMuster vorangetrieben: Die beteiligten Regie-rungen einigten sich hinter verschlossenen Türen und
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präsentierten dann der Öffentlichkeit die im Konsens ver-abschiedeten Beschlüsse. Ich will nicht missverstandenwerden: Die Ergebnisse, die dabei erzielt worden sind,darf man wahrlich nicht zu gering schätzen. Nach zweigroßen Kriegen und Jahrzehnten der Feindschaft auf un-serem Kontinent wurde so die Grundlage für einen Neu-beginn in guter Nachbarschaft und für eine Zusammen-arbeit zum Nutzen aller Partner gelegt.
Heute leben wir in einem anderen Europa. Spätestensin Nizza ist das soeben gekennzeichnete Konsensmodellan seine Grenzen gestoßen. In einer Union mit jetzt 15und schon bald 20 und mehr Mitgliedstaaten führt dasstarre Festhalten an bisherigen Verfahren nur allzu oftdazu, dass wir statt der größten Gemeinsamkeit nur denkleinsten gemeinsamen Kompromiss finden. Das ist zuwenig, wenn wir eine künftig erweiterte EuropäischeUnion politisch führbar halten wollen.
Deutschland steht – das ist eine gute Tradition und hierbesteht eine lange Kontinuität – unabhängig von der par-teipolitischen Zusammensetzung der Regierungen – fürdie Erweiterung. Wir haben aber immer betont, dass sieohne die gleichzeitige Vertiefung und die damit verbun-dene Stärkung der europäischen Institutionen kaum ver-kraftbar wäre. 27 Mitgliedstaaten können nicht nach dengleichen Spielregeln zusammenarbeiten wie die ur-sprünglichen sechs Gründerstaaten der EuropäischenUnion. Wir sollten uns nicht täuschen: Die Bürgerinnenund Bürger wollen an den Entscheidungsprozessen stär-ker beteiligt werden als in der Vergangenheit.
Sie wollen mitwirken und auf jeden Fall nachvollziehenkönnen, wie die Entscheidungen in der EuropäischenUnion zustande gekommen sind. Diesem Wunsch, der ei-ner demokratischen Notwendigkeit entspricht, kommenwir nicht dadurch nach, dass wir einfach immer nur dieForderung nach mehr Transparenz, Effizienz und Legiti-mität herunterbeten, im Übrigen aber so weitermachen,als sei nichts geschehen.
Im Herbst des vergangenen Jahres habe ich den Vor-schlag gemacht, in der Perspektive über Nizza hinaus einesehr grundsätzliche Debatte über die Ziele und Methodender europäischen Einigung zu führen. Gemeinsam mit demdamaligen italienischen Ministerpräsidenten Amato habeich diesen Vorschlag in die Regierungskonferenz einge-bracht. In Nizza hat er die Zustimmung aller Partner ge-funden. Damit ist die Debatte über die Zukunft Europasauch in diesem Zusammenhang eröffnet. Sie muss breit an-gelegt sein und darf – hier kann es keinen Zweifel geben –nicht von den Regierungen allein geführt werden.
Bei dieser Debatte sind alle gefordert: zuallererst dieBürgerinnen und Bürger, aber auch alle Zweige der Zivil-gesellschaft – nicht nur die großen Verbände, Parteien undKirchen, sondern auch die Vielzahl von bürgerschaftli-chen Zusammenschlüssen und Initiativen. Dies gilt auchfür diejenigen, die dem bisherigen Prozedere kritisch ge-genüberstehen. Die nationalen Parlamente und das Euro-päische Parlament müssen im Sinne einer echten Parla-mentarisierung umfassend einbezogen werden. Dabeisollten wir, wo sinnvoll, an die Erfahrungen des Konventszur Erarbeitung der Grundrechtscharta anknüpfen.Meine Damen und Herren, eine ehrliche Debatte umdie Zukunft Europas setzt voraus, dass wir auch den Muthaben, kontroverse Vorstellungen einzubringen. Ich habein den letzten Wochen viel Unterstützung für den Vor-schlag bekommen, die Europäische Union auf lange Sichtüber die Föderation hinaus zu einem föderalen Systemweiterzuentwickeln. Natürlich hat es auch kritische Stim-men gegeben – und das ist gut so. Niemand darf sich ein-bilden, dass er diese Debatte unkritisch, gar alleine führenkönnte. Beim deutsch-französischen Gipfel in Freiburgwar ich mit Präsident Chirac und Premierminister Jospindarin einig, dass wir für diese Debatte jetzt eine Vielfaltvon Stimmen und Meinungen aus allen europäischenStaaten brauchen. Nur so kann sie wirklich Früchte tra-gen. Bei der Regierungskonferenz 2002 – darauf habenwir uns verständigt – wollen wir mit gemeinsamendeutsch-französischen Vorschlägen arbeiten.
Am Ende des in Nizza angestoßenen Zukunftsprozes-ses – da bin ich sicher – wird aus unterschiedlichen An-sätzen, die unterschiedlichen Traditionen in den Ländernfolgen, eine gemeinsame Vision von Europa und seinerFinalität stehen. Dazu gehört unabdingbar, dass wir Eu-ropa über gemeinsame politische Ziele definieren. Nichtsanderes steht hinter unserem Bekenntnis zum euro-päischen Gesellschaftsmodell. Wir haben, so finde ich,bisher schon Beeindruckendes erreicht: Europa ist dergrößte Binnenmarkt der Welt; zwölf Mitgliedstaaten derUnion haben eine gemeinsame Währung; wir sind aufdem Weg zu einer gemeinsamen Verteidigungs- sowie zueiner gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik.Mit der Verabschiedung der Nachhaltigkeitsstrategiehaben wir ein weiteres Kapitel erfolgreicher Zukunftsge-staltung aufgeschlagen. In dieser Diskussion stehen wirnoch am Anfang; aber die Zielrichtung stimmt: Die Stra-tegie identifiziert Felder, auf denen es lohnend und dring-lich erscheint, die Belange der Wirtschafts-, Sozial- undUmweltpolitik noch sehr viel enger miteinander zu ver-schränken, als das bisher der Fall war.
Dies gilt insbesondere auch für die Agrarpolitik. Wir ha-ben uns in Göteborg darauf geeinigt, künftig mehr Ge-wicht auf die Förderung gesunder, qualitativ hochwertigerErzeugnisse und umweltfreundlicher Produktionsmetho-den zu legen.
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Zu einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie gehörtaber über diese Fragen hinaus auch eine engagierte Kli-mapolitik. Im Juli wird in Bonn die Vertragsstaa-tenkonferenz zum Kioto-Protokoll zusammentreten. AllePartner in der Europäischen Union haben in Göteborgnoch einmal bekräftigt, dass sie die Konferenz zu einemErfolg machen wollen. Sie haben dies auch gegenüberdem amerikanischen Präsidenten Bush deutlich gemacht.Keine Frage: Die Differenzen zwischen Europa undAmerika in der Klimapolitik bleiben auch nach unseremTreffen in Göteborg bestehen. Ich habe beim Abendessenmit dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen, dasswir in Bonn auf der Grundlage des gemeinsamen Zieles,den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, denKioto-Prozess nicht aufgrund von Differenzen über In-strumente eskalieren lassen. Mein Eindruck war: Dieamerikanische Seite wird in Bonn eine Lösung nichtblockieren. Wenn das so zuträfe, wäre ein großer Schrittnach vorne gelungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Göteborgund nicht zuletzt durch das Treffen mit allen Beitrittskan-didaten zum Abschluss des Europäischen Rates ist dasgrößere Europa wiederum ein Stück greifbarer geworden.Es ist aber keine Frage: Es ist noch längst nicht Realität.Vor uns liegt ein schwieriger Weg. Unter belgischer Prä-sidentschaft stehen im zweiten Halbjahr Entscheidungenzur Ausgestaltung der Debatte um die europäische Zu-kunft an. Gemeinsam müssen wir dafür Sorge tragen, dassdie Dynamik der Erweiterungsverhandlungen erhaltenbleibt.Bis zum Jahresende soll außerdem eine Zwischenbilanzder Arbeiten in der gemeinsamen Innen- und Rechtspoli-tik gezogen werden. Außerdem wollen wir im Dezembereine erste Einsatzfähigkeit der europäischen Krisenreakti-onskräfte erreichen. Gemeinsam mit Frankreich – das ha-ben wir bei unserem Treffen in Freiburg vor zehn Tagennoch einmal bekräftigt – werden wir alles dafür tun, dassdie belgische Präsidentschaft ihre Aufgaben meisternkann.Wir alle haben die große, die einmalige Chance, unse-ren Kontinent wirklich zu einen und unser Europa für dieMenschen, aber auch mit den Menschen zu einer starkenKraft des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zumachen. Ich finde, wir sollten alles dafür tun.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Bei der Abgabe dieserRegierungserklärung des Bundeskanzlers dürfte nie-mand, der außerhalb dieses Raumes zugehört hat, dasGefühl bekommen haben, dass die Probleme, die in derEuropäischen Union bestehen, und die mangelnde Zu-stimmung, die bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht nurunseres Landes seit längerer Zeit festgestellt wird, jetztmit einem beherzten Sprung nach vorne in der Europä-ischen Union überwunden werden. Im Gegenteil: Das,was Sie, Herr Bundeskanzler, hier mit wohlgesetztenWorten vorgetragen haben, entspricht dem, was wir ausvielen Kommuniqués der Europäischen Union seit vielenJahren kennen. Es fehlt offensichtlich jedes innere Enga-gement, die Probleme, die wir in Europa und in der Bun-desrepublik Deutschland mit Europa haben, beherzt zulösen.
Ich vermute jedenfalls, dass derjenige, der in der heu-tigen Ausgabe der Zeitung „Die Zeit“ den Gipfel vonGöteborg beurteilt, eher Recht behalten wird als Sie, HerrBundeskanzler, mit Ihrer Regierungserklärung. Dort heißtes:... – von diesem ,Europäischen Rat‘ wird wenig inErinnerung bleiben. Allenfalls zweierlei: die Bruta-lität, mit der Hunderte Polithooligans ganze Straßen-züge verwüsteten. Und die Kaltschnäuzigkeit, mitder die EU-15 den Völkern Mittel- und Osteuropasvorgaukelten, das Ziel ihres Langen Marsches genWesten sei nahe.Weiter heißt es:,Bis Ende 2002‘, verheißt das Gipfel-Kommuniqué,könnten die Verhandlungen über den EU-Beitritt,abgeschlossen werden‘. Ende 2002, das verklärtsich in Prag und Warschau nun zum Symbol. Dabeiist es doch nur eine Lüge.
Die Zustimmung, die wir zur europäischen Entwick-lung wollen und brauchen, um auch im 21. Jahrhunderteine erfolgreiche gesamteuropäische Friedens- undFreiheitsordnung zu errichten, lässt sich nicht mehr mitwohlgesetzten Worten herbeiführen. Wir brauchen einenProzess, der nicht nur glaubwürdig ist, sondern in demauch die Zuständigkeiten und die Möglichkeiten der Eu-ropäischen Union auf das Richtige und das Realistischekonzentriert werden.
Die Europäische Union müsste sich doch gerade jetztauf das konzentrieren, was nur sie selber lösen kann undwas die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nichtmehr alleine regeln können. Sie müsste sich auf die Voll-endung des europäischen Binnenmarktes und auf die Voll-endung der europäischen Wirtschafts- und Währungs-union konzentrieren und in der Lage sein, die innere undäußere Sicherheit des europäischen Kontinents zu ge-währleisten. Alles dies ist in Göteborg nicht nur nicht ge-lungen; es hat vielmehr keinerlei Fortschritt gegeben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
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Nun mag es ja sein, Herr Bundeskanzler, dass dasirische Nein – immerhin in einer Volksabstimmung – keinVotum gegen die auch von uns für notwendig und richtigerachtete Osterweiterung der Europäischen Union warund dass dieses Nein mehr innenpolitische Motive hatte,vielleicht die unzureichende Vorbereitung oder die ge-ringe Beteiligung der Bevölkerung. Aber klar ist dochwohl, dass dieses Nein der Iren nicht etwa ein Betriebs-unfall war, den man nun einfach mit einem neuen Refe-rendum reparieren kann, wie es offensichtlich die Außen-minister gesehen haben.Klar ist doch wohl auch, dass dieses Nein zum Vertragvon Nizza nicht nur in Irland, sondern in ganz Europa einWarnsignal, ein Wecksignal eines kleinen Landes seinmüsste, das gegen europäische Formelkompromisse auf-begehrt, die keiner versteht, gegen Reformen hinter ver-schlossenen Türen, an denen die Bevölkerung nicht be-teiligt wird, gegen Bevormundung durch BrüsselerEntscheidungen, die im eigenen Land nicht vermittelbarsind, gegen Ängste vor dem Verlust der Neutralität undkultureller Eigenständigkeit, gegen vorgebliche Integra-tionsfortschritte, die in Wirklichkeit keine sind.
Die europäische Politik hat in der Zwischenzeit – da-ran haben der Gipfel von Göteborg und auch IhreRegierungserklärung nichts geändert – eine derart kom-plizierte und von der Vorstellungswelt der meisten Men-schen so weit entfernte Konstruktion geschaffen, dass einnormaler Mensch keine Chance mehr hat, zu verstehen,was in Europa eigentlich geschieht.
– Die Alternative, die sich stellt, ist zunächst einmal, dasswir im Umgang der Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion miteinander zu dem zurückkehren, was in der Eu-ropäischen Union seit 1949 richtig und Wirklichkeit war.
Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, HerrBundeskanzler, dass ein kleines Volk wie die Iren gegendas aufbegehrt, was in der Europäischen Union geschieht,wenn Sie bis zum heutigen Tage Ihre herabwürdigendeHaltung gegenüber einem anderen kleinen Land in derEuropäischen Union, nämlich gegenüber Österreich,fortsetzen.
Sie brauchen sich auch nicht darüber zu wundern, HerrBundeskanzler,
dass sich die Menschen gegen diese Hochmütigkeit zurWehr setzen, wenn Sie gleichzeitig dem freigewähltenMinisterpräsidenten eines großen Landes der Europä-ischen Union und eines Gründerstaates der EuropäischenGemeinschaften, nämlich dem Ministerpräsidenten SilvioBerlusconi, den Glückwunsch verweigern, nur weil erIhrer parteipolitischen Präferenz nicht entspricht.
Wer so handelt, setzt nicht nur die Solidarität der Mit-gliedstaaten der Europäischen Union aufs Spiel; er ge-fährdet auch jede erfolgreiche politische Führung derEuropäischen Union.
Heute vor genau zehn Jahren, liebe Kolleginnen undKollegen, hat der Deutsche Bundestag – damals noch inBonn – die Entscheidung getroffen, den Sitz des Parla-ments und der Regierung nach Berlin zu verlegen. DieseEntscheidung ist von einer großen Zahl von Rednern be-fürwortet und damit begründet worden, dass von Berlindas Signal ausgehe, wir wollten nach der Wiederherstel-lung der Einheit unseres Landes auch die Einheit deseuropäischen Kontinentes nach Osten zügig und erfolg-reich vorantreiben. Wir haben uns damals nicht vorstellenkönnen, dass von Berlin aus ein Bundeskanzler der Bun-desrepublik Deutschland genau zehn Jahre später eherBedenken und Vorbehalte gegen die Osterweiterung derEuropäischen Union äußert,
als sie in die Hand zu nehmen und sie gerade zu einer Auf-gabe der deutschen Politik zu erklären.
Diese Europäische Union bräuchte gerade jetzt dieklare und beherzte politische Führung des größten Mit-gliedstaates der Europäischen Union in der geopoli-tischen Mitte des europäischen Kontinents, die sich nichtnur an innenpolitischen Opportunitäten, sondern auch aneuropäischen Notwendigkeiten orientiert.
Im größten Mitgliedstaat der Europäischen Union istvon einer solchen europäischen Politik, von einer wirkli-chen europäischen Vision gegenwärtig nichts zu erken-nen. Außer formelhaften Bekenntnissen zur europäischenPolitik hat diese Bundesregierung nichts zu bieten.
Fast genauso schwer wiegt, dass die deutsche Wirt-schaftspolitik das Voranschreiten der EuropäischenUnion in einem der zentralen Aufgabenbereiche belastetund behindert. Und es ist jetzt nicht mehr allein die deut-sche Opposition, Herr Bundeskanzler, die dies immerwieder zum Ausdruck gebracht hat. Seit Göteborg könnenSie nicht mehr behaupten, das seien nur wir, die Ihnensagten, dass die Wirtschaftspolitik dieses Landes zu ei-nem Hemmschuh für ganz Europa geworden sei.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
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In den so genannten Grundzügen der Wirtschaftspolitikder Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft für 2001, ei-nem Dokument der EU-Kommission, das dem Gipfel inGöteborg vorgelegen hat und dort verabschiedet wordenist, wird Ihrer Bundesregierung – wird Ihnen persönlich,Herr Bundeskanzler – ein denkbar schlechtes Zeugnisausgestellt, was Ihre Wirtschaftspolitik in Deutschlandund in Europa betrifft. Ich will Ihnen die Kernsätze ausdiesem Dokument heute Morgen nicht vorenthalten. Esheißt dort:In Deutschland ist bislang noch kein starker endoge-ner Wachstumsprozess in Gang gekommen. Die Wirt-schaft bleibt deshalb anfällig für außenwirtschaftlicheSchocks. Die Wirtschaftsdynamik wird offenbardurch Verkrustungen insbesondere des Arbeitsmark-tes gebremst. Die Steuer- und Sozialleistungssystemetragen zu dem allgemeinen Arbeitslosigkeitsproblembei, als relativ hohe Grenzsteuersätze bei gleichzeiti-gem Verlust von Sozialhilfeleistungen dazu führenkönnen, dass Geringverdienende in die Arbeitslosig-keitsfalle geraten.
Das ist wörtlich das, was wir Ihnen seit Anfang dieses Jah-res zur Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik Ih-rer Regierung gesagt haben.
Sie haben sich damals, in der Mitte des Jahres 1998,noch in Bonn hingestellt und erklärt, der Aufschwung,den wir im Jahre 1998 wirklich hatten, sei – noch vor demWahltermin des Jahres 1998 – Ihr Aufschwung gewesen.
Heute, im dritten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, ist es zu-mindest Ihr Abschwung, den wir gegenwärtig erleben.
Die EU-Kommission schreibt Ihnen das ins Stammbuchmit den Worten:Es besteht die Gefahr, dass die Wachstumsraten inDeutschland schwach bleiben, wenn Reformen desArbeitsmarktes und der Transfermechanismen aus-bleiben.
Immer noch können sich die Steuer- und Sozialleis-tungssysteme zusammengenommen dahin gehendauswirken, dass kein Anreiz zur Arbeit besteht.Meine Damen und Herren, wir diskutieren seit Mona-ten mit Ihnen, sagen Ihnen seit Monaten, dass Sie Refor-men der sozialen Sicherungssysteme, der Sozialhilfesys-teme, der Arbeitslosenhilfe machen müssen, damit wirendlich eine Wirtschaftsdynamik und Arbeitsplätze inDeutschland bekommen. Sie haben dies immer als Äuße-rungen der Opposition zurückgewiesen. Heute schreibt esIhnen die EU-Kommission ins Stammbuch, Herr Bundes-kanzler.
Das Ganze endet mit der Feststellung:Der deutsche Arbeitsmarkt ist durch einen relativ ho-hen Regulierungsgrad gekennzeichnet. Aktive Ar-beitsmarktprogramme, zumal in den östlichen Bun-desländern, sind offenbar ineffizient und werdenhäufiger als Instrument der Sozialpolitik missver-standen.Besser als das, was Sie beim Gipfel in Göteborg zu hörenbekommen haben, hätten wir das auch nicht zum Aus-druck bringen können, Herr Bundeskanzler.
Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Politik gefährden Sie den Zu-sammenhalt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Sie verschärfen den Abschwung nicht nur der deutschen,sondern der europäischen Volkswirtschaft. Sie vernach-lässigen den Mittelstand. Sie verunsichern mit Ihrer neuenBetriebsverfassung die Unternehmen in Deutschland. Sievergreifen sich mit der Ökosteuer am Geldbeutel des klei-nen Mannes.
Sie verhindern gerade für die kleinen und mittleren Un-ternehmen eine echte steuerliche Entlastung. Sie kommenher und vertrösten die Familien mit ein paar Mark Kin-dergelderhöhung,
die in demselben Atemzug durch die Ökosteuer wiederaufgezehrt wird.
Sie, Herr Bundeskanzler, versagen mit Ihrer Arbeits-marktpolitik, Sie verschärfen das Investitionsklima in derBundesrepublik Deutschland
und Sie, Herr Bundeskanzler, verantworten die Inflations-rate von 3,5 Prozent in Deutschland und ziehen damit dieGeldentwertung in der gesamten Europäischen Unionnach oben. Das ist die europäische und deutsche Wirk-lichkeit im Jahre 2001.
Herr Bundeskanzler, die Inflationsrate beginnt eineernsthafte Gefährdung nicht nur für die europäische Wirt-schafts- und Währungsunion zu werden, sondern auch fürden Fortbestand von Wohlstand und sozialer Gerechtig-keit in der Bundesrepublik Deutschland selbst. Eine In-flationsrate von 3,5 Prozent bedeutet in Wahrheit, dassden Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschlanddurch die Geldentwertung in einem Jahr rund ein halbesMonatsgehalt weggenommen wird.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Friedrich Merz17217
Das ist die Realität Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler. In-flation trifft nicht die Besitzer großer Vermögen, trifftnicht diejenigen, die die Chance haben, mit ihrem Geld inandere Währungsräume auszuweichen. Inflation trifft zu-allererst die Kleinen: die Arbeitnehmer, die Rentner, dieSparer. Inflation ist der Taschendieb des kleinen Mannes,Herr Bundeskanzler.
Wenn wir ein solch großes europäisches Projekt – esgeht nicht allein um den Binnenmarkt und dieWährungsunion; die wirtschaftliche Integration war inder Geschichte der Europäischen Union immer derSchrittmacher für die politische Integration – in der Euro-päischen Union retten wollen, dann müssen wir die Zu-stimmung der Menschen zurückgewinnen, indem wirihnen deutlich machen, dass Binnenmarkt und Wäh-rungsunion für die Menschen auch wirtschaftlich eingroßer Erfolg sein können. Dann bedarf es anderer An-strengungen als groß und lang abgefasster, fein ziselierter,sorgfältig formulierter Gipfelkommuniqués von Lissabonbis Göteborg; dann muss die praktische Politik, HerrBundeskanzler, dafür sorgen, dass endlich wirklich einwirtschaftlicher Aufschwung durch alle Länder der Euro-päischen Union und insbesondere durch die Bundes-republik Deutschland geht.
Das, was Sie hier in Deutschland machen, gefährdet dasgesamte europäische Projekt. Sie gefährden die Zustim-mung der Menschen zu dem, was vor circa 50 Jahren fürEuropa und für die Zukunft unseres Kontinentes auf denWeg gebracht worden ist.Deswegen sage ich Ihnen: Wir bieten Ihnen an, an ei-nem Fünf-Punkte-Programm für Aufschwung, Beschäfti-gung,
Wirtschaftswachstum und politische Zukunft in Europamitzuwirken.Erstens. Stoppen Sie das unselige Betriebsverfas-sungsgesetz.
– Wenn in Ihren Reihen dazu nur Gelächter zu hören ist,dann zeigen Sie damit, dass Sie die Wirklichkeit von Wirt-schaftspolitik in den Betrieben in Deutschland längst ausdem Blick verloren haben.
Funktionäre sind es, die die Politik in diesem Lande be-stimmen.Zweitens. Ziehen Sie die für das Jahr 2005 vorgese-hene Steuerreform auf den 1. Januar des Jahres 2002 vor,damit insbesondere die kleinen und mittleren Unterneh-men in diesem Lande eine Chance haben.
Drittens. Setzen Sie wenigstens die nächsten beidenStufen der Ökosteuer aus, damit die Menschen das Geldin der Tasche behalten und nicht durch Ihre verfehlte Po-litik ein weiterer Inflationsschub auf Deutschland zu-kommt.
Viertens. Beginnen Sie endlich mit dem, was Sie of-fensichtlich doch selbst für richtig halten, nämlich mit ei-ner grundlegenden Reform unseres Gesundheitssystemsin der Bundesrepublik Deutschland,
damit nicht eine große Welle von Beitragserhöhungen aufuns zukommt. Der in diesen Tagen gefasste Beschluss derAOK Hessen, den Beitragssatz um 1 Prozent zu erhöhen,ist ein Menetekel für Ihr Ziel, die Lohnzusatzkosten inDeutschland auf unter 40 Prozent abzusenken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sorgen Sie dafür,dass endlich Reformen auf dem Arbeitsmarkt in der Bun-desrepublik Deutschland – –
Herr Präsident, offensichtlich ist die Akustik in diesemSaal so schlecht, dass große Teile derer – in meiner Frak-tion sind ja einige mehr anwesend als bei Ihnen –,
die in den hinteren Reihen sitzen, nur geringe Möglich-keiten haben zuzuhören. Sie von den Regierungsfraktio-nen können dazu beitragen, das zu ändern, indem Sie sichmit Ihren Zwischenrufen vielleicht zurückhalten und sodafür sorgen, dass wir miteinander reden können.
Dies alles sind die Notwendigkeiten nicht nur der deut-schen Politik, sondern auch der europäischen Politik. Wereine wirklich erfolgreiche Gestaltung der europäischenPolitik will, der darf das nicht alles der EU und ihrenInstitutionen überlassen, sondern er selbst muss hand-lungsfähig sein.Da der Deutsche Bundestag vor zehn Jahren – ich wardamals nicht dabei,
aber ich habe den Beschluss begrüßt – entschieden hat,nach Berlin zu ziehen, erlauben Sie mir, dass ich zum
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Friedrich Merz17218
Schluss einen Hinweis gebe, der jedenfalls uns mit tieferSorge um die Zukunft unseres Landes erfüllt. Sie, HerrBundeskanzler, sind auf dem Weg, die Zusammenarbeitmit denjenigen zu institutionalisieren, auszuweiten und zubegründen, die in Berlin und ganz Deutschland für Mauerund Stacheldraht Verantwortung getragen haben. Das istIhre politische Entscheidung.
Damit werden wir uns bei anderer Gelegenheit ausein-ander zu setzen haben.
Aber wenn Sie eine gute wirtschaftliche Zukunft Deutsch-lands wollen, dann hilft vielleicht zur kritischen Einschät-zung dessen, was Sie vorhaben, ein Blick auf die Länder,in denen die Zusammenarbeit zwischen SPD, Grünen undPDS längst begonnen worden ist. Mecklenburg-Vorpom-mern und Sachsen-Anhalt, Herr Bundeskanzler, sind dieeinzigen Bundesländer, in denen der Saldo der Anmeldun-gen von neuen Betrieben negativ ist: Im letzten Jahr hatdas Land Mecklenburg-Vorpommern über 400, das LandSachsen-Anhalt fast 1 000 Gewerbebetriebe im Saldo ge-genüber den Neuanmeldungen verloren.
Dies ist die politische Botschaft, die Sie nicht nur für Ber-lin, sondern für ganz Deutschland ausgeben, wenn Sie zu-lassen, dass SPD, Grüne und PDS jetzt zusammenarbei-ten.
Die Tatsache, dass Sie gelangweilt in Ihren Dokumen-ten lesen, Herr Bundeskanzler, lässt gewisse Rück-schlüsse auf die Art und Weise zu, wie Sie den parlamen-tarischen Umgang pflegen.
Ich habe Ihnen zugehört, als ich auf meinem Platz geses-sen habe.Welches Bild geht von dieser Stadt und diesem Land zueinem Zeitpunkt aus,
wo wir beherzte politische Entscheidungen für Europabrauchen, wenn eine SPD in Deutschland jetzt die Zu-sammenarbeit mit den Altkommunisten der DDR beginnt.
An dieser Wirklichkeit kommen Sie nicht vorbei. Überdiese Fragen werden wir uns mit Ihnen in den nächstenWochen und Monaten auseinander zu setzen haben, wennes nicht nur um eine bessere Politik für Deutschland geht,sondern auch um eine gute, eine richtige und eine erfolg-reiche Politik für ganz Europa.
Ich erteile dem Kolle-gen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.Dr. Peter Struck (von Abgeordneten der SPDmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Herr Kollege Merz, für mich sindSie der lebende Beweis dafür, dass innerparteilicheSchwäche und Konkurrenz zum Tod der politischen Se-riosität führen.
Dazu möchte ich gerne Dieter Hildebrandt zitieren: „Siesind als Torpedo gestartet und als Flaschenpost gelandet.“Den Beweis hierfür haben Sie eben hier geliefert.
Wir können gerne eine Debatte über Berlin führen.Dazu will ich Ihnen kurz sagen – das ist jetzt nicht die Ge-legenheit; Sie haben völlig am Thema vorbeigeredet –:Die Berliner Situation haben einzig und allein HerrDiepgen und Herr Landowsky zu verantworten, die das4-Milliarden-DM-Defizit in dieser Stadt herbeigeführthaben.
Auch können wir über die PDS reden. Ich habe eineListe von Mitgliedern Ihrer Fraktion dabei, die der Block-partei CDU teilweise seit 1952 angehört haben. Von Ihnenlassen wir uns nicht solche Vorwürfe machen, Herr Kol-lege Merz! Das werden wir noch bei Gelegenheit bereden,damit das klar ist.
– Das tut Ihnen weh. Das weiß ich. Sie können ja einmalmit Ihren Kollegen, die seit 1952 in der Block-CDU sind,darüber reden, wie sie sich gegenüber der SED verhaltenhaben. Wenn Sie schon ein solches Thema ansprechen,dann wird hier über alles geredet. Dann kommt alles aufden Tisch!
Es ist schon eine Unverschämtheit, wenn Sie, HerrMerz, sich hier hinstellen und von ein paar Mark mehrKindergeld reden. Wir haben das Kindergeld für das ersteund zweite Kind um 80 DM erhöht. Das haben Sie in Ih-rer gesamten Regierungszeit nicht geschafft. Das ist einegute politische Leistung!
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Friedrich Merz17219
Dann sagen Sie, Sie wollen die Steuerreform vorzie-hen. Sie waren es doch, die dagegen waren, dass wir dieSteuerreform machen.
– Natürlich waren Sie dagegen. Sie haben doch eineschwere Niederlage im Bundesrat erlitten, weil Ihre eige-nen Leute nicht mitgemacht haben.
Nun hören Sie bloß auf!Ich möchte einige Worte zur wirtschaftlichen Lage sa-gen. Natürlich macht uns die Preissteigerungsrate Sorgen,das ist selbstverständlich.
Natürlich macht uns die konjunkturelle Lage Sorgen; dasist keine Frage. Aber wir sollten auch darauf hinweisen,dass die Preissteigerungsrate im Wesentlichen auf dieÖlpreisentwicklung – das ist eine globale Entwicklung –
und natürlich auch auf die Situation bei den Preisen fürLebensmittel zurückzuführen ist. Wir haben an andererStelle oft genug darüber diskutiert, dass wir die Gewiss-heit haben müssen – dafür danke ich der Landwirtschafts-und Verbraucherministerin sehr –, dass wir gesunde Le-bensmittel essen können. Das wirkt sich natürlich auf diePreise aus.Wir werden die Entwicklung der Preissteigerungsrateund der Konjunktur im Auge behalten. Aber es ist falsch,meine Damen und Herren, wenn Sie mit dazu beitragen,die Stimmung schlechter zu reden, als die Lage tatsäch-lich ist. Die Lage ist nämlich besser als die Stimmung, dieartikuliert wird.
Wir werden keine hektischen Aktivitäten entfalten.
Es geht jetzt darum, darauf hinzuweisen – diesbezüg-lich finde ich die Beiträge von Herrn Professor Siebertsehr vernünftig –, dass wir, jedenfalls nach den Erfahrun-gen, die wir aus Amerika haben, im dritten und viertenQuartal dieses Jahres und erst recht im ersten und zweitenQuartal des nächsten Jahres eine positive Entwicklung ha-ben werden.
Es ist klar, dass unsere wirtschaftliche Entwicklungeng mit der Entwicklung der Weltwirtschaft verbundenist. Reden Sie unser Land nicht herunter! Die Stimmungin der Wirtschaft, beispielsweise in der Maschinen- undAnlagenbauindustrie, ist besser.
Ich möchte zu dem Thema sprechen, zu dem auch Siehätten sprechen sollen, Herr Kollege Merz, nämlich zuEuropa.
Sie sollten lernen, Herr Merz, dass Europa nur mit einemrealistischen Optimismus und nicht mit Miesmacherei zubauen ist.
Wenn Sie Göteborg kritisieren, dann kritisieren SieJacques Chirac und Aznar und nicht nur den Bundes-kanzler. Das, was in Göteborg, zum Beispiel im Bereichder Nachhaltigkeitsstrategie verabredet worden ist,kann sich sehen lassen, und zwar Nachhaltigkeit nicht nurin der Umweltpolitik, sondern insgesamt. Dabei ist einneuer, ein guter Impuls gesetzt worden.
Die Diskussion über das Abkommen zum Klima-schutz hat auch uns natürlich Sorge gemacht. Ich finde esgut, dass wir, die SPD-Fraktion, aber auch die Bundesre-gierung, die Haltung des amerikanischen Präsidenten zumKioto-Protokoll zu Recht kritisieren. Die USAwerden ih-rer globalen Verantwortung für den Klimaschutz mit derHaltung ihrer neuen Administration nicht gerecht. AlleMitgliedstaaten haben zugesagt, das Kioto-Protokoll zuratifizieren.Die Europäische Union geht dabei mit gutem Beispielvoran. Wir werden dafür werben, dass andere Vertrags-partner diesem Beispiel folgen. Die Amerikaner solltenden Faden nicht ganz abreißen lassen. Wir ermuntern sie,mit uns weiter konstruktiv darüber zu reden.
Es ist über den Fahrplan für die Erweiterung diskutiertworden. Bis Ende 2002 sollen die Erweiterungsverhand-lungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Beitritts-ländern abgeschlossen sein. Das ist ein sehr ehrgeizigesZiel. Ich kann Gerhard Schröder gut verstehen, dass erbeim Europäischen Rat in Göteborg ein Fragezeichen hin-ter dieses Datum gesetzt hat.Der Bundeskanzler und die Bundesregierung habendie Erweiterungspolitik der Europäischen Union in denletzten Jahren maßgeblich vorangebracht. Wir haben unsimmer wieder für eine zügige Erweiterung eingesetzt.Bisher gab es im Deutschen Bundestag einen parteiüber-greifenden Konsens, dass die Erweiterung kommt, wenndie Beitrittsländer die entsprechenden Kriterien erfüllen.Politische Rabatte – das ist bisher unstrittig gewesen –darf es nicht geben. Wer aus Verantwortung gegenüber derEU und den Beitrittsländern ein Fragezeichen hinter einbestimmtes Datum setzt, der sollte deshalb nicht kritisiertwerden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der Vor-gänger von Bundeskanzler Gerhard Schröder, AltkanzlerHelmut Kohl, im Hinblick auf den Beitritt von Polen das
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Dr. Peter Struck17220
Jahr 2000 genannt hat. Wir wissen alle genau, dass das ab-solut unrealistisch war.Für die erfolgreiche Politik der Erweiterung gibt es eingutes Beispiel: Noch im letzten Herbst sah es so aus, alskönnten die Verhandlungen über die Freizügigkeit derArbeitnehmer zu einem Stolperstein werden. Was istseitdem passiert? Bundeskanzler Schröder hat im Dezem-ber 2000 die Initiative ergriffen und in Weiden öffentlichdie Eckpunkte benannt, die dafür von Bedeutung sind.Dabei hat er auf Maximalpositionen verzichtet und statt-dessen von Anfang an ein Modell vorgeschlagen, das dieAkzeptanz in den heutigen Mitgliedstaaten, aber auch dieAkzeptanz in den Beitrittsländern im Blick hat. Es waralso ein flexibler Vorschlag.Kurz vor der Einigung zwischen den Mitgliedstaatenkam die Verknüpfung von Freizügigkeit und der künftigenFinanzausstattung der Strukturfonds durch Spanien insSpiel. Dieser Versuch ist glücklicherweise gescheitert.Vor allem Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben eszusammen mit den anderen Partnern geschafft, diesen An-griff abzuwehren. Denn wie viele Junktims zu demThema Beitritt hätte es noch gegeben, wenn der erste mas-sive Versuch nicht gestoppt worden wäre, wenn man die-sem Angriff nicht standgehalten hätte?
–Aznar; Sie haben nicht zugehört, Herr Repnik. Aber dasist Ihr Problem und nicht meins.
Damit konnten die Erweiterungsverhandlungen überdieses schwierige Kapitel, wie im Verhandlungsfahrplanvorgesehen, fortgeführt werden.Ungarn hat die EU-Vorschläge inzwischen als erstesBeitrittsland akzeptiert. Wir wissen, dass das für Ungarnzu Hause und im Verhältnis zu den anderen Beitrittslän-dern nicht leicht war. Wir sollten diese mutige Entschei-dung würdigen und wir sollten uns bei den Ungarn dafürausdrücklich bedanken.
Inzwischen hat auch Lettland die Vorschläge zur Freizü-gigkeit akzeptiert. Das unterstreicht, dass wir auf einemguten Wege sind.Ich will an dieser Stelle betonen, dass die Frage der Fi-nanzierung für die Erweiterung bis 2006 geklärt ist. Weretwas anderes sagt, der hat von vornherein keine Bereit-schaft zu substanziellen Reformen in der gemeinsamenAgrarpolitik. Das ist die Wahrheit. Wir können das heu-tige System nicht einfach auf die erweiterte EuropäischeUnion übertragen. Helfen Sie uns, in diesem schwierigenFeld voranzukommen! Das – nicht Ihre Miesmacherei –wäre konstruktiv.
Wir wussten jedenfalls immer, dass die Erweiterung nichtzum Nulltarif zu haben sein wird. Um das zu begreifen,brauchen wir keine Nachhilfestunden von Ihnen.Über das irische Referendum ist gesprochen worden.Herr Kollege Merz, wenn Sie mit Ihrer Rede allerdingssuggerieren wollten, dass die Bundesregierung auch da-ran Schuld habe, dann zeigt das, wie wenig Sie von derSache verstehen. Mit dem irischen Referendum haben wirnun wirklich nichts zu tun. Das haben die irischen Bürge-rinnen und Bürger allein erledigt, auch wenn es nicht inunserem Sinne war. Wir können zwar nicht einfach zurTagesordnung übergehen; es ist aber richtig, dass uns dasErgebnis des Referendums Anlass geben muss, über dieZukunft der Europäischen Union intensiv nachzudenken.Wir werden diese Fragen bis 2004 auf einer Regierungs-konferenz zu entscheiden haben.Meine Partei, die SPD, hat einen Leitantrag für die Dis-kussion über Europa für den Bundesparteitag in Nürnbergim November vorgelegt. Der SPD-Parteivorsitzende hatdiesen Entwurf eines europapolitischen Grundsatzpa-piers vorgestellt. Wir werden die Diskussion darüberführen. Wir stehen erst am Anfang dieser Diskussion unddeshalb kann es nicht bereits jetzt darum gehen, überKompromisse zwischen den unterschiedlichen Positionennachzudenken.Mir und sicherlich auch dem Bundeskanzler ist klar,dass wir mit solchen Vorschlägen mit unseren französi-schen oder britischen Freunden nicht von vornherein inallen Punkten übereinstimmen werden. Aber das ist docheine Selbstverständlichkeit. Wir können nicht erwarten,dass auch von befreundeten Parteien in vielen PunktenPositionen vertreten werden, wie wir sie in dem Leitan-trag aufgelistet haben. Das hängt auch mit den unter-schiedlichen Traditionen und mit der unterschiedlichennationalen Geschichte dieser Länder zusammen. In derVergangenheit ist es häufig so gewesen, dass sich beideSeiten, von unterschiedlichen Positionen kommend, an-genähert haben und dass die erzielten Kompromisse vonden übrigen Partnern als Ausgangspunkt für eine gesamt-europäische Lösung akzeptiert worden sind. Ich bin si-cher, das wird auch mit unseren Vorschlägen geschehen,über die wir mit unseren französischen und britischenFreunden Gespräche führen.
Die Frage einer europäischen Verfassung wird einerder zentralen Punkte der belgischen Präsidentschaft sein.Der Verabschiedung dieser Verfassung soll und muss einebreite öffentliche Diskussion vorausgehen. Es ist wichtig,dass in Göteborg auf der Ebene der Staats- und Regie-rungschefs zuerst darüber gesprochen wurde. In dennächsten Wochen und Monaten kommt es darauf an, denRahmen für die öffentliche Debatte über die europäischeVerfassung zu bestimmen und gleichzeitig – das möchteich deutlich betonen – die Einsetzung eines parlamenta-risch besetzten Konvents zu beschließen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Dr. Peter Struck17221
Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass Göte-borg der letzte Beleg für die Unumkehrbarkeit des Bei-trittsprozesses gewesen sei. Damit verwirklicht sich eineVision, die in diesem Hause, zwar nicht an dieser Stelle,aber in diesem Parlament, vor 50 Jahren zum ersten Malformuliert wurde. Damals, 1951, bei der Verabschiedungder Montanverträge zwischen den Beneluxländern,Frankreich, Italien und Deutschland, nahm das heutigeEuropa mit dem Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahlseinen Anfang. Einer meiner Vorgänger in meinem jetzi-gen Amt, Herbert Wehner, hat in der damaligen Debattegesagt:Die europäische Gemeinschaft muss bestrebt sein,das ganze Europa zu umgreifen, einschließlich derLänder, die heute noch der demokratischen Freiheitberaubt sind.Dieses Zitat von Herbert Wehner wird langsam Realität.Die Visionen, die damals formuliert worden sind, rückenimmer näher und werden immer greifbarer. Wir sind aufeinem guten Wege.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Werter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die deut-schen Liberalen, aber auch unsere Kollegen im Europa-parlament bewerten den Gipfel von Göteborg hinsichtlichder Osterweiterung positiv. Wir haben seit Monaten dieKonkretisierung des Beitrittsfahrplans mit erreichbarenBedingungen eingefordert, was nichts mit Datumsfeti-schismus zu tun hat, Herr Außenminister Fischer. Wirglauben, Göteborg hat dank der schwedischen Präsident-schaft dazu geführt, dass die Einigung Europas irreversi-bel ist und der Fahrplan für die Osterweiterung eingehal-ten werden kann.
Nicht positiv bewerten wir die Rolle der Bundesregie-rung am Anfang, wenn die Presseberichte stimmen. Wir,die wir immer der Anwalt der osteuropäischen Länder wa-ren, haben lange gezögert. Davon war in vielen Pres-seberichten die Rede. Am Schluss mussten sich Deutsch-land und Frankreich dem schwedischen Wunsch beugen,einen konkreten Beitrittsfahrplan vorzulegen. Herr Bun-deskanzler, wenn es Ihre Absicht war, eine zu kleineOsterweiterung zu verhindern und einen konkreten Wegfür das wichtigste Beitrittsland, nämlich Polen, offen zuhalten, dann findet dies unsere Zustimmung. Wir haltendas für sehr wichtig.
Polen ist unser wichtigster Partner und das größte Bei-trittsland. Wir wollen, dass Polen zur ersten Beitrittsrundegehört.
Aber wir sollten nicht nur die Reformanforderungen anPolen wiederholen, sondern auch unsere Hausaufgaben inDeutschland machen, damit die Menschen in Deutschlandnicht Angst vor neuen Wettbewerbern auf dem Arbeits-markt haben.
Wer den Arbeitsmarkt nicht reformiert, die Ökosteuerweiterhin erhebt und das Betriebsverfassungsgesetz zu-ungunsten des Mittelstandes verschärft, trägt nicht dazubei, dass neue Arbeitsplätze für Deutsche entstehen. Des-halb haben die Deutschen Angst vor neuen Wettbewer-bern um Arbeitsplätze.
Hier ist der enge Zusammenhang zwischen der Fähigkeitzu inneren Reformen in Deutschland und der Bereit-schaft zur Aufnahme neuer Länder in die EuropäischeUnion evident.
Insofern, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPDmit Ihrer großen Europatradition im Sinne von WillyBrandt, ist die Schaffung einer Übergangsfrist von siebenJahren für die Gewährung eines europäischen Grundrech-tes, nämlich der Freizügigkeit, 21 Jahre nach Ende desEisernen Vorhangs keine europäische Heldentat der Sozi-aldemokraten und der deutschen Gewerkschaften.
1990: Versprechen an die Osteuropäer. Im Jahr 2000:weitere vier Jahre bis zur Aufnahme neuer Mitglieder,dann weitere sieben Jahre Übergangsfrist. Das bedeutetfür die Länder in Osteuropa, dass erst im Jahre 2011 volleFreizügigkeit in Europa herrscht. Ich glaube, viele Osteu-ropäer haben sich diese Art von europäischer Wiederver-einigung anders vorgestellt.
Ich glaube, dass mit dem im Feuilleton der „FAZ“ vonheute erwähnten „traurigen Dokument historischen Ver-gessens“ gemeint ist, dass wir eben wegen mangelnder ei-gener Reformbereitschaft nicht wirklich aufnahmefähigsind.
Die Frage der Aufnahmefähigkeit stellt sich aber nichtnur in wirtschaftspolitischer, sondern auch in politisch-in-stitutioneller Hinsicht, und zwar gerade den Altmitglie-dern und dem größten europäischen Land, Deutschland.Es geht nach wie vor um die Frage der Organisation derEntscheidungsprozesse, der Mehrheitsfähigkeit und derEntscheidungsfähigkeit.Nur so viel zu unserer Haltung zu Nizza – der Frakti-onsvorsitzende der F.D.P. wird in der nächsten Woche un-
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Dr. Peter Struck17222
sere Position präzisieren –: Die F.D.P. und die europä-ischen Liberalen im Parlament sind keine Neinsager. Viel-mehr sind sie die besseren Europäer, weil sie versuchen,Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig zu erreichen.
Sie müssen die wichtige Position Deutschlands im euro-päischen Einigungsprozess unter der Führung einesliberalen belgischen Ministerpräsidenten dazu nutzen,dass der Europäische Rat von Laeken erbringt, dassder Vertragsentwurf von Nizza im Bereich der Ent-scheidungsfähigkeit so verbessert wird, dass er zustim-mungsfähig wird. Wir wollen dem Entwurf von Nizza zu-stimmen, aber nicht um jeden Preis.
Klar ist auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, HerrGloser, dass nicht der ein guter Europäer ist, der internsagt: Nizza ist schlecht, Augen zu und durch. Es ist viel-mehr der ein guter Europäer, der alles versucht, um denEntwurf von Nizza so zu verbessern, dass sich eine Euro-päische Union von 20 bis zu 27 Mitgliedern nicht nachdem Prinzip der Vetoentscheidung, sondern nach demPrinzip von wichtigen politischen Mehrheitsentscheidun-gen organisiert.
Aus dem irischen Nein – und dies ausgerechnet amVorabend des wichtigsten Projektes, nämlich der europä-ischen Wiedervereinigung; täuschen wir uns nicht, diesentspricht einer allgemeinen Europamüdigkeit, auch inunserem Land – ergeben sich aus unserer Sicht drei ge-meinsame Aufgaben aller Parteien und aller Fraktionenim Deutschen Bundestag.Erstens. Wir sollten die Debatte um die Zukunft Euro-pas, um die Vision Europa, durchaus mit unterschiedlichenAnsätzen führen. Wir sollten aber gleichzeitig bei den be-vorstehenden konkreten europäischen Projekten alles tun,damit die Einführung der europäischen Währung – einwichtiges Projekt – zu einer stärkeren projektbezogenenEuropa-Zustimmung führt. Hier ergibt sich ein Zusam-menhang mit der Reformpolitik: Wer innenpolitisch, wirt-schaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht refor-miert, wird eine weitere Schwächung des Außenkursesder europäischen Währung zulassen. Dies wird im wich-tigsten Land Europas erneut zu einer Europamüdigkeitführen. Wer die Diskussion über die Erweiterung nachOsteuropa weitgehend auf die Frage der Freizügigkeitbzw. der Einschränkung der Freizügigkeit verkürzt, derdarf sich nicht wundern, dass viele Menschen die Ost-erweiterung nur noch unter dem Aspekt des Wettbewerbesam Arbeitsmarkt sehen und nicht mehr unter dem Aspektder politischen Einigung Europas, der Stabilisierung desFriedens und letztlich auch der Exportchancen deutscherFirmen.
Zweitens. Wir haben die Aufgabe, uns selbst, aber auchdie Bevölkerung durch ausreichende innere Reformen aufmehr Wettbewerb vorzubereiten. Es ist ungerechtfertigt,so zu tun, als sei die Osterweiterung Europas der Haupt-grund für mehr Wettbewerb. Die Globalisierung insge-samt erfordert von unserer Gesellschaft ein sehr vielhöheres Maß an Flexibilität, an Wettbewerbsfähigkeit undan Qualifikation. Die Osterweiterung ist eigentlich nur einkleines Modell der Globalisierung. Deshalb ist der Zu-sammenhang zwischen innerer Reform in Deutschlandund Aufnahmefähigkeit für neue Partner in Europa soenorm wichtig.
Drittens. Nicht zuletzt gilt: Das europäische Projektmuss mithilfe des Konventmodells, also mit einer anderenForm der Verhandlungen auf europäischer Ebene, dafürsorgen, dass sich die Menschen wieder stärker beteiligtfühlen. Herr Außenminister, dem deutschen Parlament– Sie wissen es aus dem Europaausschuss – kommt dabeieine wichtige Aufgabe zu. Wir haben die große Bitte auchan Sie, bei Ihren Überlegungen hinsichtlich der Strukturund Organisation des Konventmodells die Rolle des na-tionalen Parlamentes ausreichend zu würdigen und insbe-sondere die Opposition rechtzeitig zu beteiligen.Wenn diese drei Anforderungen an die europäische Po-litik erfüllt werden, besteht die große Chance, dass dieOsterweiterung von den Menschen nicht als Bedrohunghinsichtlich ihrer persönlichen Lage, sondern als Chanceempfunden wird.Vielen Dank.
Ich erteile dem
Außenminister Joseph Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorsit-zende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, hat heuteMorgen die Skizze einer neuen christdemokratischenEuropapolitik, gewissermaßen von den lichten Höhenseiner sauerländischen Heimat herunter, entworfen:
Es ging um die AOK Hessen, das Betriebsverfassungs-gesetz, die Inflation, die Ökosteuer, die PDS und Bürger-ferne.
Unter dem Strich hieß es dann: An allem sei die Bundes-regierung und vor allem der Bundeskanzler schuld.
Das sind, für sich genommen, alles wichtige Themen,Herr Merz. Das will ich gar nicht abstreiten. Nur mit Gö-teborg haben diese Punkte fast nichts und zum Teil garnichts zu tun.
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Ich verstehe ja die Leidenschaft für Wahlkampf; ichkann das weiß Gott nachvollziehen. Darum ist es in Gö-teborg aber nicht gegangen. In Göteborg ging es vielmehrum eine der entscheidenden historischen Herausforderun-gen für die europäische Zukunft, nämlich um die Erwei-terung.Eine erweiterte Union wird im Jahre 2006 vor schwie-rigen Finanzverhandlungen stehen. Es war daher sehrwichtig, dass es der Bundesregierung gelungen ist, ge-meinsam mit unseren Partnern – an dieser Stelle habenwir uns bei der schwedischen Präsidentschaft zu bedan-ken – gelungen ist, die unsachgemäße Verknüpfung desFreizügigkeitskapitels, also Freizügigkeit für Personenund für Dienstleistungen sowie Freizügigkeit im Rahmendes Kapitalverkehrs, mit den Struktur- und Kohäsions-fonds nach 2006 aufzulösen. Diese Verknüpfung hätte inder Tat ein Problem aufgeworfen, bei dem es nicht nur umdie Frage der Finanzierbarkeit nach 2006 gegangen wäre,sondern auch um die Frage der Akzeptanz einer erweiter-ten Union und um die Möglichkeit, hier die notwendigenKompromisse zu erreichen. Es ist der Bundesregierungalso gemeinsam mit unseren Partnern gelungen, dieseVerknüpfung aufzulösen. Das war eine der ganz wichti-gen Entscheidungen, die schon vor dem Gipfel gefallenist.
Der Gipfel hat klargemacht, dass die Erweiterung un-umkehrbar ist. Aber es ist doch geradezu grotesk, HerrMerz, wenn Sie dem Bundeskanzler und dieser Bundes-regierung vorwerfen, sie würden sich nicht mit aller Kraftdafür einsetzen, mit der Erweiterung voranzukommenund – vor allen Dingen – sie zum Abschluss zu bringen.Es war diese Bundesregierung und nicht die Vorgän-gerbundesregierung, die mit der visionären Datumsdis-kussion Schluss gemacht hat. Wir haben darauf gedrun-gen, dass mit dem Beschluss von Helsinki die konkreteGrundlage für die Erweiterung geschaffen wurde. Jetztgeht es nicht mehr um eine Wiedereröffnung der Datums-diskussion, sondern darum, die Erweiterung Kapitel umKapitel anzugehen und abzuschließen. Die Verträge müs-sen möglichst schnell unterzeichnet und mit dem Ratifi-kationsverfahren muss möglichst schnell begonnen wer-den; denn das sind die praktischen Voraussetzungen dafür,dass die Erweiterung endlich – ich wiederhole: endlich –Realität wird.
Es war diese Bundesregierung, die das gemacht hat.
Kollege Haussmann, Ihre Vermutung trifft zu: Wir ha-ben überhaupt kein Interesse daran, eine neue Datumsdis-kussion zu beginnen. Andere haben durchaus Interesse aneiner neuen Datumsdiskussion. Ich meine nicht die Bei-trittsländer, die teilweise unter schwerem innenpoliti-schen Druck stehen. Dafür müssen wir großes Verständ-nis haben; denn sie haben auch große Anstrengungen zuleisten. Es gibt noch andere, die – wie man auf Neu-deutsch sagt – durchaus „second thoughts“ haben. Das hatdie Bundesregierung nicht.Wir wollen alles tun – der Bundeskanzler hat dies zuRecht unterstrichen –, allerdings auf der Grundlage derBeschlüsse von Helsinki und der konkreten Fortschrittebei den Erweiterungsverhandlungen, damit Polen in derersten Runde mit dabei ist.
Umgekehrt kann dieses aber nicht bedeuten, dass es poli-tische Kulanzentscheidungen gibt. Das möchte ich hierzweifelsfrei feststellen.
Wir haben unseren polnischen Freunden auf dem deutsch-polnischen Gipfel nochmals gesagt, dass wir nach Kräf-ten dazu beitragen werden, damit es hier zu konkretenFortschritten kommt.Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang istnatürlich die Ratifikation des Vertrages von Nizza. Kol-lege Haussmann, an dem Punkt machen Sie es sich zu ein-fach. Sonst wurde in der Regel behauptet, es würde imdeutsch-französischen Verhältnis knirschen, und dieswurde kritisiert.
Die F.D.P. weiß nur zu gut, dass es, wenn es hier zumSchwur kommt, auf sie nicht ankommt. Dennoch glaubeich, dass Ihre Tradition Sie dazu verpflichtet, unterZurückstellung der Punkte, die Sie kritisieren, dem Ver-trag von Nizza im Ratifikationsverfahren zuzustimmen.Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße, esnicht wieder zusammenzubekommen und gleichzeitig se-henden Auges in ein schweres deutsch-französisches Zer-würfnis hineinzulaufen. Auch das muss klipp und klar ge-sagt werden.
Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße – auchwenn es nicht in einem formellen Zusammenhang steht –,dass der entscheidende Punkt nicht umgesetzt werdenkönnte, nämlich 2004 die Vertiefung zu erreichen, mit derauf deutsch-italienische Initiative hin – wie der Bundes-kanzler zu Recht gesagt hat – im Rahmen des europä-ischen Prozesses konkret begonnen wurde; es ist alsonicht mehr nur eine theoretische Diskussion, sondern wirbeginnen praktisch damit, die europäische Demokratiefortzuentwickeln und 2004 auch durchzusetzen. Es gehtdarum, die Union – wie allseits gewünscht – bürgernäher,transparenter, verständlicher zu gestalten, was die Kom-petenzverteilung, die Aufgabenverteilung zwischen denNationalstaaten der Union angeht. Es soll mehr demokra-tische Anbindung geschaffen werden. Wenn wir den Ver-trag von Nizza nicht ratifizieren, werden wir uns auch von
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Bundesminister Joseph Fischer17224
diesem Projekt verabschieden. Das ist Bestandteil des Ge-samtpakets; das darf man nicht vergessen. Ich sage das ge-rade in Richtung der Opposition.
Jeder interpretiert jetzt seine Sicht in die irische Ent-scheidung hinein. Das war schon beim Europäischen Ratso. Aber es ist an erster Stelle eine nationale Entscheidungdes irischen Souveräns. Der Respekt gebietet es – das hatder Bundeskanzler unterstrichen – abzuwarten, wie das iri-sche Parlament und die irische Regierung diese Entschei-dung jetzt auswerten und welche Schlussfolgerungen siedaraus ziehen. Welchen Eindruck hätte es gemacht, wennder Europäische Rat irgendwelche Vorschläge gemachthätte, bevor die irische Regierung und der irische Gesetz-geber dazu gesprochen haben? Das hätte so ausgesehen,als wenn von oben herab in die irischen Verhältnisse hättehineinregiert werden sollen. Der Respekt gebietet es, dassman sich an die Reihenfolge hält. Wenn dann Hilfe oderVeränderungen notwendig sind, wird man auf europä-ischer Ebene darüber reden müssen.Nach der neuen merzschen Europapolitik liegen dieUrsachen für das irische Nein bei Österreich und vorallem dem Umstand, dass der Bundeskanzler HerrnBerlusconi nicht gratuliert hat.
Herr Merz, ich will Ihnen einmal einen Brief vom 11. Junidieses Jahres vorlesen:Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,zur Übernahme Ihres verantwortungsvollen Amtesan der Spitze der italienischen Regierung gratuliereich Ihnen.Die freundschaftliche Verbundenheit unserer beidenLänder hat einen besonderen Stellenwert. Deutsch-land und Italien haben durch ihre enge Zusammen-arbeit immer wieder wichtige Beiträge zur Entwick-lung der Europäischen Union leisten können. Ich binmir sicher, dass wir diese Partnerschaft erfolgreichfortsetzen werden.Ich freue mich darauf, Sie bei der Tagung desEuropäischen Rates in Göteborg persönlich kennenzu lernen. Für die vor Ihnen liegenden Aufgabenwünsche ich Ihnen Glück und Erfolg.Mit freundlichen GrüßenGerhard SchröderBundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
Es gratulierte also der Bundeskanzler – –
– Am 11. Juni, direkt nach der Vereidigung, noch vor derWahl im italienischen Parlament.
Es gratulierte der Bundeskanzler der BundesrepublikDeutschland dem neuen, gerade vereidigten italienischenMinisterpräsidenten. Herrn Berlusconi nicht gratuliert hatder Parteivorsitzende der SPD. Dafür habe ich allerdingsVerständnis, meine Damen und Herren.
Auf welches Niveau ist denn die Europadiskussion inder CDU gesunken, wenn die Frage der GratulationBerlusconis Ursache für das Nein in Irland gewesen seinsoll?
Herr Merz, darüber sollten Sie wirklich noch einmalnachdenken. Ich frage mich übrigens auch, was WolfgangSchäuble bei Ihren Äußerungen über die Entwicklung inBerlin gedacht hat. Es wäre hochinteressant, das hier ein-mal zu hören.
Ich komme zurück zu Europa: Ganz entscheidend warin Göteborg noch die Nachhaltigkeitsfrage. Wir könnenjetzt Umsetzungsschritte für sie ausarbeiten; dass wir dieNachhaltigkeit als konkretes praktisches Programm derKommission und der verschiedenen Räte in der Unionhaben, ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Auch dieTatsache, dass sich die Union verpflichtet hat, am Kioto-Prozess festzuhalten, ist ein entscheidender Schritt nachvorne: für die Umweltpolitik nicht nur der Union, sondernauch weltweit.Noch wichtiger ist Folgendes: In diesem Zusammen-hang ist klar geworden, dass sich die gemeinsame Außen-politik derUnion enorm in positiver Richtung entwickelthat. Das gilt im Zusammenhang mit Nahost wie auch imVerhältnis zu den USA. Der Besuch von Präsident Bushhat klargemacht, welches Niveau die Gemeinsamkeit derEuropäer in zentralen außenpolitischen, aber auch in an-deren wichtigen internationalen Fragen wie der Umwelt-politik oder etwa in der Handelspolitik, erreicht hat. Dasist ebenfalls ein Ergebnis von Göteborg, das ich nicht ge-ring veranschlage, auch wenn dies nicht direkt in dieKonklusionen und Beschlussfassungen eingeflossen ist.Einen letzten Punkt möchte ich in diesem Zusammen-hang ansprechen: die Bedeutung des Jahres 2004. Hierliegt die Betonung auf der belgischen Präsidentschaft. Ichhabe vorhin schon angesprochen, wie wichtig es ist, dassder Vertrag von Nizza im Hinblick auf den 2004-Prozessratifiziert wird. Auch wenn dies nicht Bestandteil des zuratifizierenden Vertrages, sondern in den Schlussfolge-rungen von Nizza enthalten ist, gehört es dennoch sub-stanziell zusammen.
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Bundesminister Joseph Fischer17225
Jeder, der das Ratifikationsverfahren bezüglich des Ver-trages von Nizza ablehnt, wird den Vertiefungsprozessebenfalls infrage stellen, dessen konkrete Organisationwir jetzt begonnen haben und der auf ein Mehr an Demo-kratie und Transparenz sowie auf eine Klärung der Zu-ständigkeiten zwischen Nationalstaaten und Union, alsoder europäischen Verfassungsfrage, hinauslaufen wird.Deswegen appelliere ich an Sie alle, den Vertrag von Niz-za nicht schlecht zu reden, sondern ihn zu ratifizieren.
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Als ich vorhin der Rede desKollegen Friedrich Merz lauschte, hatte ich für einen Mo-ment den Eindruck, er habe sich zum Maoismus bekehrt.Er stellte die Forderung nach einem „großen europäischenSprung“. Die Forderung nach einem großen Sprung warKern maoistischer Politik.
Die CDU als späte Rache des Maoismus – das wäre eineneue, sehr interessante Variante.
Aber ernsthaft: Das eigentliche Problem ist der schlei-chende Rechtspopulismus, der sich in dieser Partei immermehr durchsetzt und auch in der Rede von Friedrich Merzdeutlich geworden ist:
Die CDU droht zu einer Partei rechts der Mitte zu werden.
Das ist nicht nur ein Problem der CDU, sondern das wirdein Problem unseres Landes insgesamt sein.
Nicht mit großen Sprüngen, auch keinen großen Sprüngenà la Friedrich Merz – damit ist bereits Mao Tse-tung ge-scheitert –, sondern mit kleinen, verlässlichen, nachprüf-baren Fortschritten muss Europa gestaltet werden. Des-wegen muss man über die Probleme sehr ernsthaft reden.Viel nüchterner als zum Beispiel Kanzler Schrödersprach aus meiner Sicht der französische Ministerpräsi-dent Jospin von einer gewissen Ernüchterung und Unsi-cherheit, die sich in Europa breit macht. Diese Ernüchte-rung und Unsicherheit hat der Gipfel von Göteborg nichtaufgefangen, im Gegenteil. Das muss man doch endlicheinmal kritisch zur Kenntnis nehmen. Die Bevölkerungvon Irland hat den Vertrag von Nizza abgelehnt. Das EU-Parlament hat eine positive Empfehlung zu diesem Ver-trag verweigert und der Bush-Besuch hat außer Fototer-minen im Wesentlichen keinen Fortschritt gebracht.Um endlich voranzukommen, müssen wir uns über fol-gende Fragen verständigen: Welches sind die wesentli-chen Defizite Europas? Warum knirscht es auch und ge-rade, wenn es um die Erweiterung geht? Wo liegenmögliche Schlüssel, um diese Probleme zu lösen?Die deutsche Europapolitik ist aus meiner Sicht nochzu sehr in der Vergangenheit verhaftet. Sie klebt an altenÜberzeugungen; sie klebt an westeuropäischen Erfahrun-gen. Sie hat das neue Europa, das sich erweitert, inhaltlichnoch nicht begriffen. Ich finde, sie steht in der Gefahr, diefalsche Strategie beim Aufbau Ost auf europäischer Ebenezu wiederholen. Genau das wollen wir nicht.
Nicht die Erweiterung der Europäischen Union ist die Ur-sache der Probleme, sondern die Art und Weise, in der siestattfindet, und ihr Inhalt sind es.Bundeskanzler Schröder hat hier – gar nicht in Frage-form, sondern als Festlegung – gesagt: Die Zielrichtungstimmt. Ich sage dagegen: Genau diese Zielrichtungstimmt nicht. Seitens der Europäischen Union ist Mess-latte für die Beitrittskandidaten, ob sie das neoliberaleWirtschaftsmodell glaubwürdig und verlässlich einge-führt haben. Das ist aus unserer Sicht genau der falscheMaßstab. Richtig wäre, die soziale Entwicklung in denMittelpunkt zu stellen.
Dazu gibt es Erfahrungen aus dem deutsch-deutschen Ei-nigungsprozess. Warum bringen wir diese Erfahrungennicht in den europäischen Prozess ein?
Wir wissen aus den Erfahrungen: Ein marktradikalesProgramm allein bringt Verwerfungen, die eine Gesell-schaft kaum ertragen kann, in ärmeren Ländern alsDeutschland schon gar nicht. Deshalb muss die EU in denmittel- und osteuropäischen Beitrittsländern die Schaf-fung der Bedingungen für einen sozialen und umweltver-träglichen Strukturwandel fördern. Da in den Altindus-trien und in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätzeentfallen, muss sie sich um umweltverträgliche und so-ziale Ersatzarbeitsplätze in neuen Sektoren kümmern.Das kostet in erster Linie Umdenken und kostet selbst-verständlich in zweiter Linie auch Geld. Das ist doch ganzklar. Gefördert werden muss die ökologische und sozialeGestaltung des Strukturwandels in den Beitrittsländern.Sie brauchen deutlich erhöhte finanzielle Transferleistun-gen zum Aufbau der Infrastruktur, funktionsfähiger öf-fentlicher Dienste und nachhaltiger Beschäftigung. Im al-ten wie im neuen Europa müssen existenzsicherndeEinkommensstandards, Standards für Renten und Min-destlöhne gelten.
In diese Richtung denkt Jospin. Er hat einen Vor-schlag dazu unterbreitet. Der Bundeskanzler hat hier keinWort zum Inhalt des Vorschlags seines französischen Kol-legen gesagt. Jospin hat ein europäisches Sozialrecht vor-geschlagen; er hat vorgeschlagen, unsichere Beschäfti-gungsverhältnisse und Sozialdumping zu bekämpfen.
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Er hat – was mir sehr wichtig ist – vorgeschlagen, die kul-turelle Vielfalt in Europa zu verteidigen. Wären das nichtauch Vorschläge, die ein deutscher Bundeskanzler positivaufgreifen kann?
Jospins Ziel ist der Abschluss eines europäischen Sozial-vertrages. Das unterstützt die Fraktion der PDS nach-drücklich.
Von einem sozialen Europa sind wir leider noch weitentfernt. Wir sollten uns alle klar darüber sein: Würdendie Völker über das real existierende Europa entscheiden,dann käme in vielen Ländern ein Ergebnis wie in Irlandzustande. Das ist nicht nur ein Problem Irlands; wir habendiese Probleme in allen europäischen Ländern. Das hat ei-nen einfachen Grund: Das EU-Europa ist von seinen Bür-gerinnen und Bürgern meilenweit entfernt. Es ist seinenBürgerinnen und Bürgern fremd geworden.Wer jetzt aber trotzig über die Entscheidung der Insel-bewohner hinweggeht, der demonstriert nur einmal mehrdie Arroganz der Macht. Von der allerdings haben dieMenschen im kleinen und im erweiterten Europa genug.Wir brauchen eine andere Europa-Strategie einschließlicheiner anderen Strategie der Erweiterung. Diese andere Eu-ropa-Strategie beginnt im Kleinen und Alltäglichen.Herr Außenminister, den Teil Ihrer Rede, in dem Sieüber die alltäglichen Fragen, die Herr Merz aufgeworfenhat, gespottet haben, fand ich sehr unklug. Wenn die Men-schen den Eindruck haben, wir bewegten uns nur überihren Köpfen von Gipfel zu Gipfel, nähmen ihre Alltags-probleme – und seien es die der Bürger des Sauerlandes– nicht wahr und diskutierten nicht über diese, dann wer-den wir die Fragen, die Europa betreffen, nicht lösen.
Wir müssen insbesondere die Alltagsprobleme in denGrenzregionen zu Polen und Tschechien wahrnehmenund das Problem aufgreifen, dass auch in DeutschlandAngst vor Billigkonkurrenz herrscht. Mit dieser Angstkann man sich aktiv auseinander setzen. Wir sind für In-frastrukturmaßnahmen und Sonderaktionsprogramme aufbeiden Seiten der Grenze zur Verhinderung von illegalerBeschäftigung sowie von Lohn- und Sozialdumping.Wenn das geschieht, werden Übergangsfristen hinsicht-lich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern überflüssig. Esist ohnehin abstrus, dass sich in Europa das Kapital freibewegen kann, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmeraber nicht. Wir wollen ein Europa der Menschen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Präsident BushPräsident Putin in die Augen gesehen hat – das sagte er imFernsehen –, hat der eine erkannt, dass der andere einPartner sein könnte. Das hat mich an den Film „Casab-lanca“ und an Bogarts „Schau mir in die Augen, Kleines“erinnert. Bei „Casablanca“ ging es allerdings um wahreLiebe und Verlässlichkeit. Ich weiß nicht, ob PräsidentBush auch unserem Kanzler Schröder in die Augen gese-hen hat; das dürfte ja schwer funktionieren. Ich würdemich freuen, wenn aus dem europäischen Gesicht, den eu-ropäischen Augen deutlich würde, dass dieses Europa dieRaketenpläne des amerikanischen Präsidenten ablehntund wir als Europäer das auch offen und selbstbewusstdem Präsidenten der USA sagen. Mit „Schau mir in dieAugen, Kleines“ kommt die Politik nicht weiter.Danke sehr.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion.
Guten Morgen, HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gehrcke, ich glaube nicht, dass der Gipfel in Göte-borg Anlass dazu bieten sollte, antiamerikanische Res-sentiments zu pflegen.
Wenn sich die Europäer souverän und auch kritisch in denDialog mit den Vereinigten Staaten begeben, dann wer-den wir auch manches Problem, welches es gegenwärtigim Verhältnis zwischen der Europäischen Union alsGanzer auf der einen und den Vereinigten Staaten auf deranderen Seite gibt, lösen können. Wir sollten dies selbst-bewusst angehen! Auch das war eine Botschaft des Göte-borger Gipfels.
Der Göteborger Gipfel hat vor allem diejenigen vonuns, denen die Erweiterung am Herzen liegt, einen or-dentlichen Schritt nach vorn gebracht. Das beschlosseneSignal ist begrüßenswert.
– Herr Müller, bei der CDU/CSU-Fraktion ist nie ganzklar, wie sie zur Erweiterung steht. Sie sehen das so, dieanderen sehen das anders und Ihr Ministerpräsident siehtes noch einmal ganz anders. Diesen Klärungsprozess soll-ten Sie erst einmal in Ihren eigenen Reihen führen, bevorSie hier den Mund aufmachen. Dazu können Sie nachherja auch noch etwas sagen.
Es ist ein begrüßenswertes Signal, zu sagen, 2002 seinicht nur das Jahr des Euros und es werde nicht nur derRatifizierungsprozess abgeschlossen, sondern nach Mög-lichkeit werden ab 2003 die ersten neuen Mitgliedstaatender EU beitreten.
In dieser ständigen Termindebatte sehe ich aber auchein Problem: Martin Winter, ein von mir geschätzter
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Wolfgang Gehrcke17227
Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ in Brüssel,hat gesagt, dass sich der Fortschritt nicht nach der Stopp-uhr, sondern allein anhand des Aufgabenzettels misst. Dasist das Entscheidende.
Wir haben noch große Probleme vor uns liegen, wenn ichmir allein einmal die Agrarpolitik anschaue, die auch inIhrem Interesse, Herr Müller, und in dem Interesse derMenschen, die Sie hier im Deutschen Bundestag zu ver-treten beabsichtigen, liegt. Wir sollten den Menschen ehr-lich sagen, dass es da ein paar Probleme gibt, die wir lö-sen müssen. Das tun wir nicht dadurch, dass wir sagen:„Wir öffnen 2002 die Türen“, sondern die Beitrittsländermüssen, bevor sie die Türen öffnen – das Signal dafürwurde gegeben –, noch eine Menge Hausaufgaben erledi-gen.Bis zu Ihnen, Herr Haussmann, scheint es sich nochnicht herumgesprochen zu haben, dass der Vorschlag desBundeskanzlers – dieser liegt ja glücklicherweise auf ei-ner Linie mit den Vorstellungen der Europäischen Union –zwei Seiten beinhaltet: zum einen eine Übergangsfrist vonzwei bis maximal sieben Jahren,
zum anderen ein gewisses Maß an Flexibilität. Wenn wirmit Kolleginnen und Kollegen aus den mittel- und osteu-ropäischen Ländern sprechen, kommen wir alle gemein-sam zu dem Schluss, dass diese Übergangsfrist nachzwei bis drei Jahren schon beendet sein könnte. Das kannman auch in diesen Ländern vertreten, die – darauf habenSie zu Recht hingewiesen – ihre Bevölkerung davon zuüberzeugen haben, dass die Mitgliedstaaten aus dem Wes-ten die osteuropäischen Länder in der EuropäischenUnion willkommen heißen.
Der Ehrlichkeit halber sollten wir aber auch immer wie-der erwähnen, dass hierfür Flexibilität erforderlich ist.Im Vorfeld des Göteborger Gipfels wurde ein weitereswichtiges Signal gesetzt: Erpressungsversuche, die Er-weiterung gegen andere, noch zu behandelnde europapo-litische Felder wie Regional- und Strukturpolitik auszu-spielen, sind endgültig gescheitert. Das spanischeMemorandum wird, wie ich glaube, einzigartig bleiben.Das sollte uns alle sehr zufrieden stellen. Wenn wir näm-lich diese Büchse der Pandora öffnen, also schwierigeAufgabenfelder aus verschiedenen Ressorts miteinanderverknüpfen und daraus einen Teig machen, der nicht auf-geht und niemandem in der Europäischen Unionschmeckt, wird uns der ganze Laden um die Ohren flie-gen.
Es mag da Differenzen, auch zwischen den Europapo-litikern hier im Hause, geben, aber ich finde es bedenk-lich – dabei bleibe ich –, wenn in einer von Berlusconi an-geführten italienischen Regierung neofaschistischeKräfte sitzen.
Das kann ich nicht akzeptieren. Ich kann es genauso we-nig akzeptieren, wenn Vertreter der FPÖ, einer aus meinerSicht rechtspopulistischen Partei, in der österreichischenRegierung sitzen. Das muss man doch öffentlich sagenkönnen. Das muss, wie ich meine, auch ein Parlamenta-rier sagen dürfen. Vor dem Hintergrund unserer Ge-schichte hielte ich es für notwendig und richtig, ein paarkritische Signale in die entsprechenden Länder auszusen-den.
Ein paar Anmerkungen noch zum irischen Nein. Ichsehe das irische Nein schon als Warnruf an die Europä-ische Union als Ganzes. Es liegt – da hat der Außenminis-ter zweifellos Recht – natürlich erst einmal in der innen-politischen Verantwortung Irlands, zu analysieren, wiees zu dem Nein beim Referendum gekommen ist. Es istaber, so denke ich, eine gemeinsame Aufgabe, Konse-quenzen daraus zu ziehen. Dass das Referendum ein Neinzum Resultat hatte, darf nicht dadurch relativiert werden,dass man sagt, es wird irgendwann einmal ein zweites Re-ferendum geben. Vielmehr sollten wir versuchen, daraufeine selbstbewusste Antwort zu geben. Diese kann nurlauten – der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungser-klärung ja auch zum Ausdruck gebracht –: mehr Parla-mentarisierung, mehr Öffentlichkeit und vermehrter kriti-scher Diskurs.Es hilft nicht, wenn der Fraktionsvorsitzende derCDU/CSU die Europapolitik wieder einmal für innenpo-litische Zwecke missbraucht und zwischen 80 und 90 Pro-zent seiner Rede nur mit innenpolitischen Themen be-streitet, die ihm gerade in den Kram passen. Es muss auchüber Europa geredet werden. Man braucht da gar keineAngst zu haben. Das Europa-Thema gehört hier in denDeutschen Bundestag und nicht nur in Fachkreise. Damüssen wir uns auch einmal an die eigene Nase fassen. Je-der von uns sollte das tun und versuchen, einen eigenenBeitrag zu leisten.
Der Göteborger Gipfel ist von Krawallen überschattetworden. Als Reaktion darauf gibt es zwei Antworten. Dieeine Antwort hat der Bundeskanzler gegeben: Gewalt istkein Mittel für Auseinandersetzungen. Mich treibt es aberschon um, wenn junge Leute, die 16, 17 oder 18 Jahre altsind, aus vermeintlicher Angst vor der Globalisierung dieEU zum Mittelpunkt ihrer Kritik machen. Wir sollten ge-meinsam deutlich machen, was die wesentliche Grund-lage der Europäischen Union ist. Unsere Basislage für deneuropäischen Integrationsprozess ist ein gemeinsames zi-
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Michael Roth
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vilgesellschaftliches Modell, das auf Solidarität, kulturel-ler Vielfalt und Toleranz beruht. Das sollten wir nochselbstbewusster in unseren Debatten zum Ausdruck brin-gen.
Es geht eben nicht nur um Binnenmarkt und Handels-politik. Die Europäische Union ist unsere demokratischeund Mut machende Antwort auf die Globalisierungsängs-te vieler Menschen. Davor sollten wir nicht in die Kniegehen. Wir sollten diesen Punkt, insbesondere im Ge-spräch mit kritischen jungen Leuten, stärker in den Mit-telpunkt rücken. Es kann nicht die Lösung sein – das istauch diskutiert worden –, die zukünftigen Gipfeltreffenvon der Öffentlichkeit abzuschotten und auf irgendwel-chen Panzerkreuzern außerhalb der schönen Städte Euro-pas zu tagen. Die Gipfeltreffen gehören in die Mitte derGesellschaft. Aus diesem Grunde sollten wir im Vorfeldder nächsten Gipfeltreffen versuchen, das Thema „euro-päische Zivilgesellschaft“, unser gemeinsames Modell ineiner globalisierten Welt, nach außen zu tragen. Ichglaube, es wartet noch eine Menge Arbeit auf uns. Sie sindzum Mitmachen herzlich eingeladen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat
heute in seinem eher etwas trocken geratenen Bericht
davon gesprochen, dass es zu seinem Vorschlag zur Wei-
terentwicklung der Europäischen Union im Sinne eines
föderalen Systems auch kritische Stimmen gegeben habe.
Das ist durchaus richtig. Er hat uns aber vorenthalten, wer
die kritischste Stimme zu seinem Vorschlag war. Das war
nämlich der Bundesaußenminister. Deswegen haben wir
eigentlich erwartet, dass die Bundesregierung im Rahmen
dieser Debatte klarstellt, wie es in Europa – nach ihrer ge-
meinsamen Auffassung – weitergehen soll.
Denn wenn man die Menschen mitnehmen will, muss
man diesbezüglich Klarheit schaffen. Ich stehe aber nicht
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Erfreulicherweise ha-ben Sie – insofern ist Ihnen eine gewisse Lernfähigkeit zubescheinigen, und zwar stärker als Ihrem Außenminister –Vorschläge, die die CDU/CSU-Fraktion – die KollegenSchäuble, Lamers, Pflüger und ich – gemacht hat, aufge-griffen und durch einige Elemente erweitert haben. Damitgibt es eine Grundrichtung, über die wir uns vielleicht ver-ständigen können. Sie sollten sich jedoch auch mit IhremAußenminister darüber verständigen, allerdings nach die-ser Debatte.Meine Damen und Herren, welche Botschaft liegt imNein der irischen Bevölkerung zum Vertrag von Niza? –Die eilig angestellten Untersuchungen der Meinungsfor-scher signalisieren unterschiedliche Gründe. Die einenbeschäftigte die irische Neutralität, andere die BSE-Pro-blematik, wieder andere das Gewicht der kleineren Staa-ten. Ich meine, das Entscheidende ist: Wir dürfen unsnicht der Illusion hingeben, die Skepsis der Iren daran,wie es in Europa weitergeht, sei ein regionales Sonder-problem. Ich sage ganz kritisch: Wären auch in anderenLändern Volksabstimmungen über den Vertrag von Nizzadurchgeführt worden, hätte auch dort eine Verweigerunggedroht. Irland ist überall. Deswegen muss uns das irischeVotum als Europapolitiker beschäftigen und darf nicht soignoriert werden, wie das die Staats- und Regierungschefsin Göteborg mit leichter Hand getan haben.
Welche Lösungsvorschläge gibt es? – EU-KommissarVerheugen sieht ein Defizit im mangelnden positiven Ein-treten für Europa. Andere suchen das Heil in mehr Infor-mationen. Ich sage kritisch: Eine Verdoppelung der Hoch-glanzbroschüren und eine Verstärkung der Politikerappellelösen das Problem nicht. Für mich ist das Kernproblem derMangel an Demokratie. Den verspüren die Bürger. Siesind unsicher und suchen nach Abhilfe. Es ist der Mangelan Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Brüssel, der dieWähler verunsichert. Weil sie den Gang der politischenEntscheidungen nicht beeinflussen können, wenden siesich gegen den Integrationsprozess insgesamt. Wenn wirdie Bürger für den Integrationsprozess gewinnen wollen,wenn wir sie mitnehmen wollen in das vereinte Europa, indie Osterweiterung, in die großen historischen Aufgaben,dann müssen wir ihnen auch ein demokratisches Mittel andie Hand geben, ihr Ja oder ihr Nein zu Brüssel zu sagen.Dann brauchen sie ein Europa, das demokratischer, trans-parenter und effizienter ist.
Das heißt im Klartext: Sie müssen die Möglichkeit be-kommen, bei der Europawahl darüber zu bestimmen, wiees in Europa weitergeht. Bei der letzten Europawahl ha-ben wir ja ein tolles Ergebnis erzielt, zugegebenermaßennicht allein aus europapolitischen Gründen, sondern weildie Bürger empört über die Maßnahmen Ihrer Regierungwaren, Herr Bundeskanzler. Es ist ja nicht so, dass uns dasgeärgert hätte; aber es weist aus, dass die Europawahlenzu vielen Zwecken benutzt werden und auch taugen, demBürger jedoch kein wirkliches Mittel an die Hand geben,die europäischen Dinge zu beeinflussen.Deswegen bin ich dafür, dass das Europäische Parla-ment das Recht bekommt, auch die Spitze der europä-ischen Exekutive, den Kommissionspräsidenten und dieseArt „europäischer Regierung“ zu wählen. Die Bürgerinnenund Bürger müssen über die Wahl des Europaparlamentsauch tatsächlich bestimmen, den Daumen heben oder sen-ken können, ob ihnen das, was in Brüssel vorgeht, gefälltoder nicht gefällt. Wenn sie diese Mitwirkungsmöglichkeitbekommen, dann werden sie auch Europa viel näher sein.
Lassen Sie mich einen zweiten Komplex ansprechen.Ein für Europa wichtiges Thema ist die Zukunft des
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Michael Roth
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Vertrages von Nizza.Wir werden darüber ja in der nächs-ten oder übernächsten Woche noch im Detail diskutieren.Dieser Vertrag stellt keinen von uns zufrieden und, wenndie Regierung ehrlich ist und in sich geht, sie selbst auchnicht, weil wir das, was wir uns vorgenommen haben,hiermit nicht erreichen konnten. Trotzdem ist der Vertragwichtig. Er ist ein Schlüssel für die Erweiterungsfähigkeitder Europäischen Union.Nun müssen wir uns natürlich mit der Frage auseinan-der setzen, was passiert, wenn die Iren bei ihrem Nein zuNizza bleiben. Das kann ja keiner ausschließen. Was istdann mit dem großen historischen Projekt, vor dem wirstehen? Ich trete nachdrücklich dafür ein, dass wir das his-torische Projekt der Osterweiterung der EuropäischenUnion nicht auf Gedeih und Verderb an diesen Vertrag vonNizza binden, meine Damen und Herren, sondern dass wirdie Kraft aufbringen, wichtige, erweiterungsrelevanteAspekte im Rahmen der Beitrittsverträge, verbunden miteinem mutigen Verfassungsvertrag, zu lösen. Wir müssenauf dem Weg der Integration vorangehen. Wir müssen eindemokratisches, transparentes und größeres Europa schaf-fen und dürfen es nicht an diesem nicht gut gelungenenVertragswerk von Nizza scheitern lassen.
Eines haben Nizza und Göteborg gezeigt – KollegeHaussmann hat das eben schon angesprochen –: Die Me-thode „Regierungskonferenz“ ist an eine kritische Grenzegeraten, sie hat sich erschöpft. Sie hat in den letzten an-derthalb Jahrzehnten einiges zuwege gebracht; aber jetztmuss offensichtlich ein neuer Weg gefunden werden. Die-ser neue Weg, der gefunden werden muss, ist eine verfas-sungsvorbereitende Versammlung, in der Parlamentarierder nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments,die nationalen Regierungen, die Europäische Kommissiongemeinsam Arbeiten an einem Verfassungsvertrag fürEuropa leisten. Wir dürfen uns nicht im Hickhack der Re-gierungskonferenzen auf Beamtenebene jahrelang festfah-ren und die Zeichen und Chancen der Zeit verpassen.Deswegen müssen wir diesen mutigen Schritt tun.Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstehe, gibt es aucheine gewisse Bereitschaft dazu,
ein solches Gremium rasch einzuberufen, und zwar untereiner sinnvollen Beteiligung derer, die morgen mit dabeisein werden. Wir dürfen das den zukünftigen Mitglied-staaten nicht einfach vor die Füße werfen,
sondern müssen sagen: Das Europa, das wir bauen, wol-len wir mit euch gemeinsam bauen.In dem Sinne verstehe ich auch die Arbeit des Euro-paausschusses in diesem Hause. Wir haben uns bei-spielsweise mit dem Europaausschuss des polnischenSejm getroffen, um deutlich zu machen, dass Europakeine Veranstaltung ist, in der Westeuropa sagt, wo es langgeht, sondern in der wir unsere historische Aufgabe wahr-nehmen, die Dinge gemeinsam zu beraten. Ich danke auchdem Vorsitzenden unseres Europaausschusses, HerrnKollegen Pflüger, für seine Initiativen, die über die Gren-zen unseres Landes immer wieder hinausweisen.
Ich möchte auch nicht, dass diese Debatte zu Endegeht, ohne dass wir der schwedischen Präsidentschaft einWort des Dankes sagen. Die schwedische Präsident-schaft hat nicht alles zuwege gebracht; aber sie hat sichauf die Frage der Osterweiterung konzentriert. Wir kön-nen feststellen, dass die Beitrittsverhandlungen unter derschwedischen Präsidentschaft deutlich vorangekommensind. Ich möchte – ich denke, das im Sinne des ganzenHauses sagen zu können – der schwedischen Präsident-schaft für dieses Signal von Göteborg, dass die Europä-ische Union an der Osterweiterung, an dem entscheiden-den Projekt in diesem Jahrhundert, festhält und arbeitet,auch ein Wort des Dankes sagen. Das ist eine große Leis-tung unserer schwedischen Partner.
Nun lassen Sie mich mit einigen kritischen Wortenschließen. Herr Bundeskanzler, Sie sind, was die Frageder Förderung der Grenzregionen angeht, mit leerenHänden zurückgekommen. Wir haben dazu im Deut-schen Bundestag eine Initiative gestartet. Die Regierunghat dankenswerterweise gesagt, dass sie das unterstützt.Es stand auch auf der Tagesordnung, aber leider sind Siemit leeren Händen zurückgekommen. Der DeutscheBundestag wird darüber wachen, ob diese wichtige Pro-blematik, die ebenfalls aus der Mitte des Europaaus-schusses heraus entwickelt wurde, auf der Tagesordnungbleibt. Das muss spätestens im zweiten Halbjahr 2001 ge-leistet werden. Auch das gehört zu einer gelingenden Er-weiterung.
Die zentrale Frage, von Irland bis zu den Diskussionendes heutigen Tages, wird in Zukunft sein: Wer macht inEuropa was? Die Übermacht des Rates ist ein Wider-spruch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Auchhier haben wir ja Vorschläge gehört, über die man disku-tieren kann. Wir müssen zu einer fairen Gewaltenteilungkommen, die die Bürger durchschauen. Es muss klar sein:Was ist die Rolle des Rates? Was ist die Rolle des Parla-mentes? Was ist die Rolle der Kommission?
– Der Kollege Austermann ruft gerade dazwischen, dassvielleicht auch die Regierung hätte nachdenklich werdenmüssen – der Bundeskanzler hat das heute ja selbst ange-sprochen –, als sie sah,
wie Gewalttäter die Regierungschefs daran hinderten,sich frei in Göteborg zu bewegen, weil Polizisten von ge-walttätigen Demonstranten massiv attackiert wurden.
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Peter Hintze17230
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben unsfür Europa eine Menge vorgenommen. Das Projekt ver-dient den Einsatz aller, aber das Wichtigste ist – das findeich gut; das wird auch in den Reden des heutigen Tagesdeutlich –: In der Grundlinie sind sich die großen demo-kratischen Kräfte dieses Hauses einig.
Wir wissen, dass wir einen historischen Auftrag haben,und wir werden ihm nachkommen.
– Dass heute – lieber Herr Poß, auf Ihren Zwischenruf –in dieser Debatte auch andere Dinge angesprochen wur-den, ist ja mehr als berechtigt. Wenn sich Ihr Fraktions-vorsitzender, Herr Struck, hier hinstellt – und dem deut-schen Volk verspricht, er werde die Inflationsrate weiterim Auge behalten, dann antworte ich Herrn Struck: Wirerwarten von der Regierung nicht, dass sie das selbst pro-duzierte Elend im Auge behält sondern
dass etwas getan wird, um die Geldwertstabilität in die-sem Lande wieder sicherzustellen. Das musste eben auchgesagt werden.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Sterzing.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Es ist, glaube ich, bei der fortschreitenden Debatte schonzu beobachten, dass wir uns dem Gegenstand dieser Dis-kussion nähern. Das ist wichtig, weil Göteborg wirklichkeine Routinetagung, kein Routinegipfel gewesen ist. Dievielfältigen Themen, die dort besprochen worden sind,werden die Integrationsentwicklung in den nächsten Jah-ren prägen. Ich will nur kurz auf vier Punkte eingehen: dasThema Erweiterung, das Thema Nachhaltigkeit, die bis-her leider nur am Rande erwähnten Beschlüsse und Ge-spräche zum Thema der Gemeinsamen Außen- und Si-cherheitspolitik und schließlich die Zukunftsdebatte.Das Signal der Unumkehrbarkeit des Erweiterungs-prozesses war, so denke ich, nach Irland absolut notwen-dig. Insofern ist hinsichtlich der Präzisierung des Zeit-fensters für die erste Beitrittsrunde ein weiterer Schrittgetan worden, um das Vertrauen gerade in den Beitritts-ländern in den Prozess zu sichern und zu stärken. Nachalldem, was wir bislang gehört haben, ist dieses Signal an-gekommen. Es ist wichtig und es war notwendig, dass die-ses Signal in Göteborg ausgesandt worden ist.Der zweite Punkt, der in der Öffentlichkeit und auch inden Medien leider etwas in den Hintergrund getreten ist,ist das Stichwort Nachhaltigkeit. Die schwedische Präsi-dentschaft hatte sich ja drei E als Schwerpunkte vorgenommen: Enlargement, Environment und Employment.Ich glaube, es ist wichtig, dass nach den Fortschritten beimThema Umweltschutz in den europäischen Verträgen nuneinmal das Thema Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt derBeratungen eines Gipfels und dessen Vorbereitung gestelltworden ist, dass nicht nur Worte gefunden worden sind,sondern an der Operationalisierung dieses Themas ge-arbeitet worden ist. Das unterstreicht die wirklich grund-sätzliche Bedeutung des Nachhaltigkeitsprinzips für diepolitische Entwicklung in Europa in allen Bereichen, indenen im Rahmen der Europäischen Union politisch zu-sammengearbeitet worden ist. Dieses Gipfelthema wirddem Thema Nachhaltigkeit weiter zum Durchbruch ver-helfen und sicherlich – das ist in den Schlussfolgerungendurchaus zum Ausdruck gekommen – auf europäischerwie auf nationaler Ebene zur Weiterarbeit anregen. Das isteine Verpflichtung, die die Mitgliedstaaten übernommenhaben.Zum Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheits-politik. In diesem Zusammenhang sind insbesondere dieEntwicklungen auf dem Balkan und im Nahen Osten dis-kutiert worden. Wie so oft sind es aktuelle politische An-lässe. Man wäre dankbar, wenn die Notwendigkeit nichtbestehen würde, über diese Themen in so ernster Form zureden. Aber ich glaube, es ist wichtig, noch einmal deut-lich herauszustreichen, dass die Debatten auf dem Gipfelzu diesen beiden Themen eine neue Qualität aufzeigen.Sie haben insofern eine neue Qualität erreicht, als die Ent-wicklung vor dem Hintergrund der aktiven Beteiligungvon Repräsentanten der Europäischen Union, insbeson-dere von Solana, aber eben auch – Stichwort: NaherOsten – des deutschen Außenministers, durch eine we-sentlich aktivere Rolle der Europäischen Union in diesenregionalen Konflikten geprägt worden ist.Ich glaube, dass dieses Signal, das von Göteborg aus-gegangen ist – „Wir werden im Bereich der gemeinsamenAußenpolitik aktiv unsere Rolle spielen, gerade in den ak-tuellen Konflikten auf dem Balkan und im NahenOsten!“ –, für die betroffenen Regionen sehr wichtig istund dort wahrgenommen wurde. Insofern kann es nichtunterschätzt werden, dass die EU hier bereit ist, ihre Ver-antwortung wahrzunehmen. Wir hoffen natürlich, dassdies – alles deutet darauf hin – auch in der Zukunft seineFortsetzung findet.Der vierte Bereich ist schließlich die Zukunftsdebatte,verbunden mit dem Thema Irland hier schon vielfach an-gesprochen. Vielleicht sind in diesem Bereich von Göte-borg tatsächlich die zaghaftesten Signale ausgegangen. Eswäre möglicherweise wünschenswert gewesen, wenn hierdeutlichere Signale gesendet worden wären. Das Alar-mierende des irischen Votums ist ja nicht nur die „novote“, also die Ablehnung des Nizza-Vertrages, sondernalarmierender fast noch ist die „non vote“, also die Ent-haltung der irischen Bevölkerung.
Zwei Drittel sind gar nicht erst an die Wahlurne gegangen.
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Peter Hintze17231
Es gibt keine eindeutige Motivationslage für das iri-sche Votum. Es wäre sicherlich falsch, es als eine Ableh-nung des Erweiterungsprozesses zu interpretieren. Zu dif-fus sind offensichtlich die Gründe, die sehr heterogenepolitische Kräfte dazu gebracht haben, sich hier für eineAblehnung des Nizza-Vertrages einzusetzen.Aber ich glaube, es ist deutlich geworden – auch dieswurde in verschiedenen Beiträgen schon angesprochen –:Diese Motivationslage ist nicht ein spezifisch irischesProblem, sondern es ist ein durchaus europäisches Pro-blem. Es besteht Diskussionsbedarf über die Zukunft Eu-ropas und die Fragen, wozu wir dieses Europa brauchenund warum dieses Europa eine stärkere Rolle als bisherspielen muss.Die Debatte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses da-rüber, wie dieses Europa in Zukunft gestaltet werden soll,war in den letzten Wochen und Monaten sehr stark von in-stitutionellen Fragen geprägt. Mitunter wurde gar eineVerengung der Debatte deutlich, die zu kurz greift. Wirmüssen diese Debatte ausweiten, Europa als Gesell-schaftsprojekt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzun-gen stellen und über politische Visionen nicht nur im Hin-blick auf die institutionelle Gestaltung dieses Inte-grationsprozesses streiten, sondern deutlicher und kontro-vers darüber diskutieren, wie wir uns diese Gesellschaft inEuropa vorstellen und welche Rolle die EuropäischeUnion in diesem Prozess der Gestaltung spielen soll.Wichtig ist also eine stärkere Konzentration auf dasWarum und auf das Wozu und nicht alleine auf das Wieder politischen Prozesse.Gerade in den letzten Wochen sind von französischerSeite, insbesondere durch die Rede von MinisterpräsidentJospin, einige wichtige Steine in das Wasser geworfenworden, die Anhaltspunkte bieten, um diese Debatte ver-tieft weiterzuführen, auch wenn sich hier in der Bundes-republik Deutschland die Debatte in den Medien leiderGottes auf die institutionellen Fragen und auf die Diffe-renzen zwischen deutschen und französischen Sozialde-mokraten konzentriert hat. Wir müssen dieser Entwick-lung der Debatte entgegenwirken.In dieser Debatte haben nicht nur die Europapolitike-rinnen und Europapolitiker, sondern wir alle eine Bring-schuld.
Wir müssen uns in den nächsten Monaten und Jahren, diediese Zukunftsdebatte in der politischen Realität sicher-lich prägen wird, an diesen Appellen messen lassen. Wirmüssen sehen, inwieweit wir bereit und in der Lage sind,diese Bringschuld zu erfüllen, diese Debatte nicht nur de-mokratisch und unter größtmöglicher Beteiligung zu ge-stalten, sondern sie wirklich auf die ganze Breite der eu-ropäischen Fragen auszuweiten. Das sollte die Reaktionauf die Volksabstimmung in Irland sein. Insofern solltenwir diese Zukunftsdebatte wirklich als eine Chance be-greifen können.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! „Lasst den Worten endlich Taten fol-gen“, schreibt Helmut Schmidt. In der Tat: Die Treffenvon Berlin über Nizza bis Göteborg zeigen, dass dieBundesregierung die EU in eine tiefe Vertrauenskrise ge-führt hat.
Ich zitiere Helmut Schmidt:Nun haben Fischer, Chirac, Blair, Schröder und zu-letzt Jospin ihre großen Konzepte und Reden vorge-tragen. Aber ihre alltägliche Praxis ist kümmerlich.
Wo dieser Mann Recht hat, hat er Recht. Die Praxis vonSchröder und Fischer ist kümmerlich. Man fragt sichdoch: Warum konnte Bundeskanzler Schröder die Er-folgsspur von Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher undTheo Waigel in der Europapolitik nicht halten? Dafür gibtes Gründe.Erstens. Europa war nie das Thema dieses Kanzlers. Esgibt kein abgestimmtes Konzept zwischen dem Außenmi-nister und dem Kanzler.
Zweitens. Vom ersten Tag der Regierung Schröder/Fischer an – dies ist der zentrale Punkt – wurde das Ver-trauen unserer Partner in Europa verspielt. Das, wasBundeskanzler Kohl, Theo Waigel und Hans-DietrichGenscher aufgebaut haben, ging in kurzer Zeit in dieBrüche.
Ich erinnere daran: Es begann mit den Fußtritten vonMinister Trittin, die Nuklearentsorgungsverträge mitFrankreich müssten nicht beachtet werden. Es setzte sichfort, Herr Gloser, mit den heftigen Attacken von Außen-minister Fischer gegen unsere französischen Freunde.
Im Jahr 2000 folgten die Strafaktionen gegen Österreichmit dem skandalösen Auftreten von BundeskanzlerSchröder vor wenigen Wochen in Wien.
Dann wurden das italienische Volk und die italienischeRegierung brüskiert.
Aus der Sicht der deutschen Bundesregierung, HerrSchily, haben die Österreicher nicht richtig gewählt, ha-
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Christian Sterzing17232
ben die Italiener nicht richtig gewählt, haben die Iren nichtrichtig abgestimmt. Und dafür werden sie abgestraft.
Nun erwarten Sie, nachdem Sie zuerst die Freunde insGesicht geschlagen haben, dass sie Ihnen anschließenddie Hand reichen für große europäische Konzepte. Dasist der Grund, warum diese Regierung nicht an die Er-folge der Regierung Kohl/Waigel/Genscher anknüpfenkann.Die Konsequenz ist: Die Erfolge bleiben aus. Bei derAgenda 2000 gibt es keine Lösung der finanz-, agrar- undstrukturpolitischen Fragen. Nizza: keine ausreichendeReform der Institutionen. Göteborg: Verlassen des Ko-penhagener Weges, Kriterien vor Zeitplan.Sie haben den Euro von Theo Waigel, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, bei einem Außenwert von1,18 US-Dollar im Jahr 1998 übernommen und sind jetztbei 0,84 US-Dollar angekommen. Das ist ein vernichten-des Urteil der Finanzmärkte über diese Politik. Die Bür-ger bezahlen dafür die Zeche, und zwar nicht nur an derTankstelle, sondern auch bei der Currywurst und in vielenanderen Bereichen.
Wir sagen Ja zur Osterweiterung, aber wir fordern eineParlamentarisierung der Europapolitik. Wir brauchenmehr Differenzierung, mehr Föderalismus, wir brauchenmehr Subsidiarität und eine klare Kompetenzordnung.Ich komme zum Schluss. Wir brauchen und Europabraucht einen Bundeskanzler, der weniger ein Spaß- undMedienkanzler ist, der vielmehr mit mehr Konzentrationauf die Sache, mit mehr Ernsthaftigkeit und mit mehrAchtung des Parlaments und unserer Freunde an dieDinge herangeht.Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin
hat das Wort die Kollegin Gudrun Roos von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolle-ginnen! Werte Kollegen! Ich beginne meine Rede mit ei-nem mir bisher unbekannten Begriff. Dies tue ich deshalb,weil mit diesem merkwürdigen Begriff meine Bewertungder Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Göte-borg vielleicht etwas anschaulicher dargestellt werdenkann. Der Begriff heißt: Befischungsdruck bzw. globalerBefischungsdruck.
Dieser Begriff findet sich unter Punkt 31 der Schluss-folgerungen des Europäischen Rates. Der Kontext, indem er auftaucht, lautet: „Verantwortungsvolleres Ma-nagement der natürlichen Ressourcen“. Ich stelle fest:Kaum einer kennt das Wort bisher; ich bin nicht alleine sounwissend. Zum besseren Verständnis will ich daher denvollen Wortlaut, das heißt auch den Einführungssatz, zi-tieren. Unter Punkt 31 steht:Die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum, Ver-brauch natürlicher Ressourcen und Abfallerzeugungmuss sich ändern. Eine starke Wirtschaftsleistungmuss mit einer nachhaltigen Nutzung der natürlichenRessourcen und vertretbarem Abfallaufkommen ein-hergehen, sodass die biologische Vielfalt erhaltenbleibt, die Ökosysteme geschützt werden und dieWüstenbildung vermieden wird. Um diese Heraus-forderungen zu bewältigen, stimmt der EuropäischeRat darin überein,– den ersten Spiegelstrich lasse ich aus; der zweite Spie-gelstrich lautet –dass bei der Überprüfung der GemeinsamenFischereipolitik im Jahr 2002 auf der Grundlage ei-ner breiten politischen Debatte dem globalen Befi-schungsdruck entgegengewirkt werden sollte, indemder Fischereiaufwand der EU unter Berücksichti-gung der sozialen Auswirkungen und der Notwen-digkeit, Überfischung zu vermeiden, an die Höhe derverfügbaren Bestände angepasst wird, ...Dies ist eine Art Politiksprache, die – wie wir nur allzugut wissen – immer dann angewandt wird, wenn zwischenden Beteiligten ein nur sehr schwer formulierbarer Kom-promiss zustande kam, ein Kompromiss, der oft einen Er-folg darstellt – trotz seines oder gerade wegen seines di-plomatisch gedrechselten Satzgefüges.
Was ist der Hintergrund für diese Formulierung?Diese Formulierung ist das Ergebnis einer Interventiondes Chefs der spanischen Regierung, José María Aznar.Es geht nicht um den Agrarbericht, sondern um Nach-haltigkeit. Ob dieses Teilergebnis der Verhandlungendazu führt, dass die Nachhaltigkeit im Fischereibereichnachhaltig geschädigt wird und dass sich in ein paar Jah-ren Fisch nur noch auf dem Tisch derjenigen befindet, diesich ihn leisten können, bzw. dass viele Fischarten garnicht mehr zu haben sein werden, befürchte ich zwar,auch wenn ich es derzeit nicht zuverlässig beurteilenkann.Das ist nur ein Beispiel dafür, wie auch bei diesemEU-Gipfel Interventionen zugunsten vorgeblich nationa-ler Interessen eine wirksame gemeinsame europäischeStrategie geschwächt haben.Wie verschachtelt auch immer diese Kompromisse for-muliert sind, sie haben eines gemeinsam: Sie beziehensich auf eine von allen Regierungen mitgetragene europä-ische „Strategie für Nachhaltige Entwicklung“. Dies ist,mit Verlaub, ein Erfolg dieses Gipfels, der bleibenden
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Dr. Gerd Müller17233
Wert hat und dessen Früchte sich zum Teil erst nach Jah-ren und Jahrzehnten werden ernten lassen.
Auch wenn die Nachhaltigkeitsstrategie bisher notge-drungen in großen Zügen und eher programmatisch for-muliert ist, so ist sie doch eine Plattform, von der aus eineumfassende Modernisierung von Staat, Wirtschaft undGesellschaft in Gang gesetzt werden kann. Diese Nach-haltigkeitsstrategie bietet eine dringend erforderlicheRichtungssicherheit und eine zentrale Perspektive imHinblick auf die Reformen für den gesellschaftlichenFortschritt im 21. Jahrhundert.Ich will hier nur auf ein paar Beispiele aus den Be-schlüssen verweisen, die durchaus bemerkenswert sind.Ich erinnere an den Beschluss, die eigenen Verpflichtun-gen im Rahmen des Kioto-Protokolls einzuhalten. Ich zi-tiere:Die Vertragsstaatenkonferenz Mitte Juli in Bonnmuss daher ein Erfolg werden.Ich verweise auf den Entschluss, bis zum Jahr 2010 einRichtziel von 22 Prozent des Stromes aus erneuerbarenEnergien zu erreichen, im Verkehrsbereich die Förderungder „vollständigen Internalisierung der sozialen und Um-weltkosten“ voranzutreiben und die „integrierte Produkt-politik der EU“, also eine ressourcenschonende und effi-zienzsteigernde Produktpolitik zu betreiben.Wenn wir die Göteborger Schlussfolgerungen mit denForderungen vergleichen, die der Bundestag am 17. Maidieses Jahres beschlossen hat, so können wir zufriedensein; denn viele unserer substanziellen Forderungen wur-den übernommen. Wir können zufrieden sein, auch wennvor allem die operative Umsetzung noch längst nicht aus-gearbeitet ist.Zwar gibt es viele Vorgaben, zum Beispiel die, dass dieneue Chemikalienpolitik bis 2004 in Kraft treten soll; je-doch ist die vom Bundestag geforderte „Entwicklung vonMindestanforderungen an die Strategien – wie Ziele, Zeit-pläne und Leitindikatoren“ im Interesse einer engeren Zu-sammenführung der verschiedenen Sektorstrategien nochZukunftsmusik. Aber dafür, dass die Göteborger Be-schlüsse keine bloßen Deklarationen bleiben, hat sich derRat neben dem von der Kommission jährlich vorzulegen-den Synthesebericht auf der Grundlage von Leitindikato-ren selbst in die Pflicht genommen. Er will nämlich dieFortschritte bei der Entwicklung und bei der Umsetzungder Strategie auf seinen jährlichen Frühjahrstagungenüberprüfen.Lassen Sie mich resümieren: Der Europäische Rat – sosteht es im Schlussbericht – „einigte sich auf eine Strate-gie für die nachhaltige Entwicklung und gab dem Prozessvon Lissabon für Beschäftigung, Wirtschaftsreform undsozialen Zusammenhalt eine Umweltdimension“. Es istden Schweden gelungen, den Schwerpunkt ihrer Ratsprä-sidentschaft umzusetzen. Dass dies in der Berichterstat-tung der deutschen Presseweitgehend ignoriert wurde, istauch angesichts der sensationsgeladenen Bilder von Ge-walttätern in den Straßen von Göteborg nur schwer zu ent-schuldigen.
Die Medien haben, auch wenn sich Sensationen besserverkaufen, eine Informationspflicht. Wird diese nichtwahrgenommen, fördert die damit erzeugte Unwissenheitdie Bereitschaft zu Ressentiment, Wut und Enttäuschung.Ich hätte mir gewünscht, dass die Medien ausführlich überdie EU-Nachhaltigkeitsstrategie berichten. Ich hätte mirauch gewünscht, dass sie deren zukunftsträchtiges Poten-zial ausführlich darstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., dieEU-Erweiterung ist sicherlich – wir sind uns da alle ei-nig – ein großes Ziel. Aber das ist, meine ich, kein Grund,in Ihrem heute vorliegenden Antrag zu den Ergebnissenvon Göteborg bezüglich des Zukunftsprojektes „Nachhal-tigkeit“ nicht ein einziges Wort zu sagen.
– Nein, ich glaube nicht. – Gestern hat ein Kollege aus Ih-rer Fraktion gemeint, Nachhaltigkeit sei ein Modewort.Das ist es Gott sei Dank nicht. Vielmehr wird Nachhaltig-keit endlich Mode. Das ist ein riesengroßer Unterschied.
Nachhaltige Entwicklung erfordert globale Lösungen.Darüber sind nicht nur wir uns einig. Das hat auch der Eu-ropäische Rat in Göteborg erkannt. Die EU wird versu-chen, auf dem Nachfolgegipfel in Rio im Jahr 2002 einglobales Übereinkommen über nachhaltige Entwicklungzu vereinbaren. Die in der Agenda 21 angestoßene Betei-ligung von gesellschaftlichen Akteuren auf lokaler Ebenekönnte dadurch neue Impulse erfahren. Dies wird jedochnur mit einer stärkeren Einbeziehung der Öffentlichkeitein Erfolg werden. Das wissen wir alle.Das ist der Grund, warum ich Sie eindringlich bitte:Helfen Sie alle mit, den Wert der Nachhaltigkeit auch undgerade im Sinne der Generationengerechtigkeit herauszu-stellen sowie uns und der Öffentlichkeit bewusst zu ma-chen, wie wichtig Nachhaltigkeit für unsere Zukunft ist.Wir alle wissen doch – vielleicht müssen wir es denMedien noch öfter erklären –: Nachhaltige Entwicklungbedeutet die Erfüllung der Bedürfnisse der derzeitigenGeneration, ohne dabei die Möglichkeit zukünftiger Ge-nerationen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, zu beeinträchti-gen.
Für Ihre Hilfe beim Einsatz für Nachhaltigkeit bedankeich mich schon jetzt. Ich bin sicher, wir alle werden nach-haltig daran arbeiten, auch diejenigen, die bisher meinten,Nachhaltigkeit sei nur ein Modewort.Vielen Dank.
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Gudrun Roos17234
Ichschließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Ent-schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-antrag der Fraktion der F.D.P.? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derEntschließungsantrag der F.D.P.-Fraktion mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und derPDS-Fraktion abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionder PDS? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Entschließungsantrag der PDS-Fraktion mitden Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der PDS-Fraktion abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 d sowie denZusatzpunkt 1 auf:4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungAgrarbericht 2001Agrar- und ernährungspolitischer Bericht derBundesregierung– Drucksache 14/5326 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus W.Lippold , Heinrich-WilhelmRonsöhr, Albert Deß, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUVerbraucherschutz muss Gesundheitsschutzsein – Zukunftsfähige Landwirtschaft ermög-lichen – Gegen BSE mit einem vernetztenBekämpfungsplan vorgehen– zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff
, Heino Wiese (Hannover),
Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenUlrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNeuausrichtung der Agrarpolitik:Offensive für den Verbraucherschutz – Per-spektiven für die Landwirtschaft– Drucksachen 14/5222, 14/5228, 14/5580 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichUlrike HöfkenWaltraud Wolff
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft zuder Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates überdie gemeinsame Marktorganisation für ZuckerKOM 604 endg.; Ratsdok. 12087/00– Drucksachen 14/4945 Nr. 2.49, 14/5908 –Berichterstattung:Abgeordnete Ulrich HeinrichGustav HerzogNorbert Schindlerd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft
– zu dem Antrag der Abgeordneten UrsulaBurchardt, Heidemarie Wright, ChristelDeichmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenFranziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell,Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NENNachhaltige Entwicklung für ländlicheRäume– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSULändlichen Raum gemeinsam mit der Land-wirtschaft stärken– zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung „Politik fürländliche Räume“Ansätze für eine integrierte regional- undstrukturpolitische Anpassungsstrategie– Drucksachen 14/4544, 14/5080, 14/4855,14/5909 –Berichterstattung:Abgeordneter Heino Wiese
ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungRahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der Agrarstruktur und des Küsten-schutzes“ für den Zeitraum 2001 bis 2004– Drucksache 14/5900 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuss für TourismusHaushaltsausschussZum Agrarbericht 2001 liegen ein Entschließungsan-trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17235
Grünen, ein Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU und zwei Entschließungsanträge der Fraktionder F.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat dasWort der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von derCDU/CSU-Fraktion.
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor we-nigen Monaten wurde uns eine Agrarwende angekündigt.Populistische Reden wurden teils ohne jeden realisierba-ren Hintergrund gehalten. Vieles orientierte sich mehr amPolitbarometer als an der Notwendigkeit, die europäischeund die nationale Agrarpolitik weiterzuentwickeln. In-zwischen steht fest: Eine Agrarwende wird manchmalauch zur eigenen Karikatur.
Deutschland hat in der Europäischen Union einen Be-schluss mitgetragen. Bei der Umsetzung dieses Beschlus-ses macht man aus einem ausgewachsenen französischenBullen einen Ochsen, damit die Franzosen für OchsenPrämien kassieren können, die man ihnen für die Bullenverwehrt hat. Obwohl dies lächerlich ist, muss man dieSache leider ernst nehmen. Ich sage das nur, damit diedeutschen Bauern nicht wieder für diesen Quatsch in An-spruch genommen werden,
damit nicht später wieder gesagt wird, die deutschen Bau-ern seien dafür verantwortlich. Nein, verantwortlich dafürsind der Ministerrat und die deutsche Verbraucherschutz-ministerin.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer dauernd eine Wendeankündigt, ohne sie zu vollziehen, dreht sich irgendwannim Kreis.
Ich trete deswegen dafür ein, den Prozess des Dialogesmit den Bauern in der Bundesrepublik Deutschlandwieder aufzunehmen, weil sich die Bauern manchmal alsklüger erweisen. Ich halte das jedenfalls für richtig. InBezug auf den Rindfleischmarkt ist eine Korrekturbeschlossen und auf bestimmte Forderungen verzichtetworden. Die deutschen Bauern haben zu keiner Zeit mehrproduziert, als ihnen jetzt durch Beschluss vorgegebenworden ist. Es hat sich erwiesen, dass sie schon immer soklug waren, wie es der Ministerrat auf europäischer Ebenejetzt erst geworden ist.Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen: DerEU-Verbraucherschutzkommissar Byrne und die deut-sche Verbraucherschutzministerin, Frau Künast, habenbeschlossen, die vier noch zugelassenen Antibiotika, dienach wie vor in den Futtertrog hineinwandern – zehn sindja schon verboten worden –, bis zum Jahre 2005 zu ver-bieten. Die deutschen Bauern haben sich inzwischen alsklüger erwiesen. Sie sind bereit, bereits jetzt Antibiotikaaus dem Futter herauszulassen. Das, was von Frau Künastauf europäischer Ebene nicht erreicht werden konnte,wird jetzt von den deutschen Bauern selbst vollzogen.
Die Ministerin sagt, in der Agrarproduktion seiKlasse statt Masse notwendig. Das bedeutet nichts ande-res, als dass man einen Teil der deutschen Agrarproduk-tion ins Ausland verlagert. Ich sage: Wir brauchen Masseund Klasse. Wir müssen in der Agrarproduktion Quantitätmit Qualität zusammenbringen.
Das sind wir dem deutschen Verbraucher schuldig, daraufhat der deutsche Verbraucher einen Anspruch.Der deutsche Verbraucher will keine Verlagerung derAgrarproduktion ins Ausland. Eine solche Verlagerungwird aber das Ergebnis der Politik von Frau Künast sein.
Wir wollen und wir müssen möglichst viele der inDeutschland benötigten Nahrungsmittel im Lande erzeu-gen. Das gilt für den ökologischen Landbau genauso wiefür die konventionelle deutsche landwirtschaftliche Pro-duktion.Das ist auch eine der Voraussetzungen für die wirt-schaftliche Entwicklung ländlicher Räume. Die Land-wirtschaft ist nach wie vor das Rückgrat für die ländlichenRäume. Sie sichert Wirtschaftsstandorte über die eigentli-che Nahrungsmittelproduktion hinaus. Deshalb würde beieiner Abwanderung der Agrarproduktion ins Ausland dieWirtschaftskraft der ländlichen Räume in der Bundesre-publik Deutschland geschwächt. Die jetzige wirtschaftli-che Situation vieler – ich sage nicht: aller – ländlicherRäume ist ohnehin schon schwierig genug. Wir treten– ich sage das ganz klar – gemeinsam dafür ein, dass dieländlichen Räume eine Teilhabe an der wirtschaftlichenEntwicklung haben. Welche Teilhabe sollen die ländli-chen Räume aber noch haben, wenn es in der Bundesre-publik Deutschland überhaupt keine wirtschaftliche Ent-wicklung mehr gibt?
Die ländlichen Räume werden zum Leidtragenden einerverfehlten Wirtschaftspolitik gemacht.
Wir müssen auch über die Agrarpolitik die Wirt-schaftskraft der ländlichen Räume stärken. Deshalb hatdie CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer wieder eineSteuerpolitik eingefordert, die die flächengebundene bäu-erliche Landwirtschaft genauso entlastet, wie es Rot-Grünbei der flächenarmen agrargewerblichen Produktion um-gesetzt hat. Ich finde es nicht gut, wenn man die bäuerli-
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms17236
che Produktion steuerlich belastet, nachdem man dieagrargewerbliche Produktion entlastet hat.
Das zeigt im Grunde genommen, welche PerspektivenRot-Grün in der Agrarpolitik in den Vordergrund gestellthat.Ich möchte nach wie vor – einiges haben wir schon aufden Weg gebracht –, dass wir die Agrarsozialpolitik aktivmitgestalten. Es kann dann aber nicht angehen, dass manaus der Alterskasse 400 Millionen DM nimmt und in dieKnappschaft steckt. Ich habe nichts dagegen, dass dieKnappschaft mehr Geld bekommt. Aber dieses Geld darfman nicht der Landwirtschaft nehmen.
Wir wollen durch diese Politik die Wettbewerbsfähigkeitder deutschen Landwirtschaft für eine qualitätsorientierteProduktion steigern.1998 ist ein ganz wichtiger Beschluss auf der europä-ischen Ebene gefallen. Der Tierschutz ist in die Aufga-benstellung der Europäischen Union einbezogen worden.Es besteht jetzt die Möglichkeit der Weiterentwicklungdes Tierschutzes auf europäischer Ebene. Daher kann esnicht angehen, so wie Rot-Grün zu handeln: Erst hat manauf europäischer Ebene einer Änderung der Vorschrift be-züglich der Hennenhaltung zugestimmt. Dafür hat mansich im Deutschen Bundestag selbst gefeiert. Jetzt aberverhindert Frau Künast, dass der eigene Beschluss vonRot-Grün umgesetzt wird. Auf was sollen sich denn dieLandwirte in unserem Land noch verlassen können?Wenn sie sich auf Frau Künast und auf Rot-Grün verlas-sen, dann sind sie verlassen.
– Das ist richtig.Auf der anderen Seite – da besteht wahrscheinlich einStück Einigkeit – müssen wir auch bei der Seuchen-bekämpfung ein Mehr an Tierschutz durchsetzen. Wirdürfen die Seuchenbekämpfung nicht aus dem veterinär-medizinischen Fortschritt entlassen und dürfen es nichtzulassen, dass das Keulen und Verbrennen zur letzten Ant-wort der Seuchenbekämpfung wird.Es wird viel über Modulation gesprochen. Ich finde esgut, dass Frau Künast Prinz Charles mag. Wenn sie aberdie deutschen Bauern anders behandelt, als die britischeRegierung Prinz Charles behandelt, dann muss man da-rüber natürlich diskutieren. In mehreren Gesprächen mitden Ländern ist angeklungen, dass im Rahmen der Mo-dulation in Deutschland einem Betrieb mit einer Größevon 50 Hektar möglicherweise die Prämien um 20 Pro-zent gekürzt werden.
Vielleicht kann der bayerische Staatsminister Miller dasbestätigen. Staatssekretär Wille, der anwesend ist, hatständig davon gesprochen, dass das eine politische Ziel-vorgabe der Ministerin ist.
Wenn diese Zielvorgabe umgesetzt wird, dann würde dasbedeuten, dass Prinz Charles zwar 4,5 Prozent wenigerPrämien bekommt. Aber ein deutscher Bauer, der 50 Hek-tar bewirtschaftet, würde 20 Prozent weniger Prämienbekommen. Das halte ich für unerträglich.
Es ist jede Woche angekündigt worden, die Tier-mehle, die noch in Deutschland herumliegen, endlich zubeseitigen. Jede Woche gibt es eine Ankündigung, dassdas nächste Woche passiert. Bisher ist aber nichts pas-siert.
Wenn man hinsichtlich des Verbots der Tiermehlfütterungso gehandelt hätte, dann wäre dieses Verbot in der Bun-desrepublik Deutschland auf keinen Fall durchgesetztworden.
Verbraucherschutz beinhaltet immer etwas Konkretes.Deshalb werden wir Frau Künast nicht an den Seifenbla-sen messen, die sie ständig von sich gibt, sondern daran,welche Politik Frau Künast im Einzelnen realisiert. Da istbisher nur sehr wenig passiert. Was passiert ist, ging in diefalsche Richtung.Vielen Dank.
Herr Kol-
lege Ronsöhr, es gab noch den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage. Aber Sie wollten sie anscheinend nicht beant-
worten.
– Nein, Herr Kollege Ronsöhr, jetzt ist es zu spät.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrterHerr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Bei-trag der Opposition zeigt,
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Heinrich-Wilhelm Ronsöhr17237
dass es der CDU/CSU-Fraktion um Populismus pur geht.
Es ist hier gesagt worden, die Agrarwende sei eine Kari-katur. Hören Sie bitte gut zu. Sie werden anhand meinesBeitrags erkennen, dass das keine Karikatur, sondern zu-kunftsweisend ist. Im Übrigen: Wenn deutsche Bauernvon sich aus Antibiotika bei der Fütterung herauslassen,dann zeigt das, dass sie unternehmerischen Geist haben.So muss es ja wohl sein. Anders können Unternehmernicht handeln.
Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit, gläserneProduktion, artgerechte Tierhaltung – diese und andereBegriffe sind heute zum alltäglichen Wortschatz gewor-den und drücken mehr als deutlich den Wunsch derBevölkerung nach sicherer, gesunder Nahrung und Le-bensweise aus. Dies sind neben der Agrarsozialpolitik diewichtigsten Themen, die wir im Jahre 2001 zu bearbeitenhaben. Deshalb schlagen sie sich im diesjährigen Agrar-bericht auch nieder. Was in anderen Wirtschaftsbereichenschon lange Normalität ist, nämlich nachgewiesene Qua-litätsstandards, wird es zukünftig auch im Ernährungsbe-reich in breitem Maße geben müssen.
Bei den Debatten über neue Agrarpolitik gefällt mirnach wie vor das Wort Wende nicht sonderlich gut; dennwir erfinden das Rad doch eigentlich nicht neu.
In der Landwirtschaft werden zwar neue Prioritäten ge-setzt. Aber im Grunde genommen gibt es keine anderelandwirtschaftliche Produktion und der Berufsstand ar-beitet weiterhin bestmöglich. Aus diesem Grund ist mitNeuausrichtung Sicherheit für die Bauern gemeint; dennsie gehören nicht an den Pranger, sondern sie sollten – ge-nauso wie die Verbraucherinnen und Verbraucher – unter-stützt werden.
BSE und die damit verbundene Unsicherheit warenletztendlich der Auslöser für die intensive Diskussion inallen Bereichen. Mit dem Verbot der Verfütterung vonTiermehl hat die Bundesregierung äußerst schnell gehan-delt. Wir sind fest entschlossen, die Transparenz im Le-bensmittel- und Futtermittelbereich durch verbraucher-freundliche Etikettierung und offene Deklaration allerInhaltsstoffe zu verbessern. Damit geben wir den Men-schen die Möglichkeit, ihre Konsumentscheidungen ganzbewusst zu treffen.Eine durchgängig nachvollziehbare Produktion kannmeiner Überzeugung nach auch durch ein gutes regiona-les Marketing unterstützt werden. Ich weiß, Regionalver-marktung ist nicht die Lösung. Aber sie ist wenigstens einkleiner Stein in dem gesamten Mosaik.
– Richtig, auch ein wichtiger.Mit der Einführung eines Qualitätssiegels für ökolo-gische Produkte sind wir auf dem richtigen Weg; denngrößere Vereinheitlichung und mehr Markttransparenzschaffen hier Sicherheit. Mit ins Boot muss neben denProduzenten und dem Verarbeitungsbereich natürlichauch der Einzelhandel. Einige positive Erfolge sind jaschon zu verzeichnen. Die kleinen Ökonischen in denLebensmittelketten verschwinden zum Teil. Uns Verbrau-chern steht ein wesentlich breiteres Sortiment zur Verfü-gung. Jedenfalls erlebe ich es so, wenn ich einkaufengehe.
Aber – auch das muss man sagen – Qualitätssiegel sindnicht alles. Es bleibt die Frage: Sind bewusste Konsum-entscheidungen eine Modeerscheinung oder zeigt sichjetzt wirklich eine anhaltende Entwicklung in diesem Be-reich? Hier ist die Politik gefragt. Um das langfristige Zieleines auf die Gesundheit bedachten Verbraucherverhal-tens zu entwickeln, bedarf es nicht nur der Aufklärung,sondern auch einer intensiven Schulung von Kindheit an.Deshalb fordern wir eindringlich, dass Inhalte zur Ver-braucheraufklärung in die Lehrpläne der Schulen und inAusbildungsprogramme aufgenommen werden.
Es wird, wie ich denke, deutlich, dass die künftige Qua-lität der Nahrungsmittel und die weitere Entwicklung ih-rer Produktion von dem Zusammenspiel vieler verschie-dener Akteure abhängen.Meine Damen und Herren, ein wichtiger Aspekt unse-rer Politik ist die Vernetzung der Bereiche Gesundheit,Bildung und Forschung mit Verbraucherschutz, Ernäh-rung und Landwirtschaft. Nur auf diese Weise wird effi-zient Wissen gebündelt und Forschung zielgerichtet be-trieben. Das im Agrarbericht genannte Institut fürTierschutzforschung in Celle steht kurz vor seiner Grün-dung. Hier werden schwerpunktmäßig Fragen der art-gerechten Tierhaltung und des den Tieren angemessenenTransports bearbeitet werden.Allerdings können wir diese Frage nicht nur nationalbetrachten – vorhin ist von der Opposition dazu bereitsetwas gesagt worden –, sondern wir brauchen auch grenz-übergreifende Regelungen. Generelle Transportzeitensind ebenso von Bedeutung wie strenge Anforderungenan die Bedingungen während des Transportes. Dazu brau-chen wir fundierte Forschungsergebnisse, die sich euro-paweit in neue Regelungen umsetzen lassen.Zum Stichwort Tierhaltung gehe ich auf die Kollegenund Kolleginnen aus der CDU/CSU-Fraktion ein: Sie ha-ben vorhin von Populismus gesprochen und werfen in
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Waltraud Wolff
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Ihrem Entschließungsantrag der Bundesregierung vor,den Agrarbericht für Polemik gegen die Landwirtschaftzu missbrauchen. Ich halte Ihren Einwand an dieser Stellefür mehr als polemisch, denn Sie verwenden in IhremAntrag doch nur Halbsätze.
Sie schreiben:Die landwirtschaftliche Praxis wird mit den Begrif-fen „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt falschdargestellt.Werfen Sie sich vielleicht Fehler und Versäumnisse ausIhrer eigenen Regierungszeit vor?Demgegenüber zitiere ich, was tatsächlich im Agrar-bericht steht:Der Erfolg der Agrarwende muss durch ein Bündelagrarpolitischer Maßnahmen abgesichert werden.Das sind unter anderem:– keine Finanzierung von Überschüssen, sondernvon Qualität,– keine Tierquälerei, sondern artgerechte Tierhal-tung,– kein Raubbau, sondern Schutz von Umwelt undNatur, insbesondere von Boden und Wasser!Meine Damen und Herren, dies ist das Bild einerselbstbewussten und nachhaltigen Landwirtschaft.Wirwerden sie weiter stützen; schwarze Schafe sollen es inZukunft noch schwerer haben.Im Übrigen halte ich es für müßig, dass die CDU/CSU-Fraktion immer wieder utopische Forderungen nach Aus-gleichszahlungen für die Landwirtschaft stellt. Sie solltendoch mittlerweile begriffen haben, dass der Konsolidie-rungskurs fortgesetzt wird, mit dem wir bisher sehr gutgefahren sind. Ich habe auch keine Lust mehr, Sie daraufhinzuweisen, dass es letztendlich Ihrer Politik zu verdan-ken ist, dass wir den Gürtel noch immer nicht lockernkönnen. Trotzdem wird der Agraretat im Jahr 2002 um150 Millionen DM und im Jahr 2003 um 180 Mil-lionen DM aufgestockt werden.
Außerdem werden wir die Mittel für die Gemeinschafts-aufgabe von 1,7 Milliarden DM auf rund 1,85 MilliardenDM anheben.Ihr ewiger Einwurf, meine Damen und Herren von derCDU/CSU-Fraktion, die Ökosteuer solle zurückgezogenwerden, wird langsam langweilig.
Sie wissen sehr wohl, dass die Landwirtschaft von derzweiten und der dritten Stufe der Ökosteuer ausgenom-men ist. Den nachgeordneten Zweigen, die nicht von derÖkosteuer befreit sind, kommt der volle Nutzen durch dieSenkung der Lohnnebenkosten zugute.
Wir wollen diese positiven Effekte in Zukunft nichtmissen. Dazu möchte ich Ihnen ein Zitat des früherenUmweltministers Klaus Töpfer, CDU, nicht vorenthalten,der in einem „Spiegel“-Interview vom 13. November2000 – man höre und staune – erklärte:Wir können es uns nicht leisten, ein sinnvolles In-strument wie die Ökosteuer einfach wegzuwerfen.Wir brauchen auch in Zukunft ökologische Steuer-komponenten über die marktwirtschaftliche Preisge-staltung hinaus – nicht nur in Deutschland, sonderneuropa- und weltweit.
Frau
Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möch-te keine Zwischenfrage zulassen.Ich empfinde es als äußerst bedauerlich, dass Sie hierMeinungsmache gegen ein nachweislich positives Regu-larium der rot-grünen Steuerpolitik betreiben.
Meine Damen und Herren, zur Gewinnentwicklungim landwirtschaftlichen Bereich sage ich Folgendes:Natürlich gibt es nicht d e n landwirtschaftlichen Be-trieb, und niemand stellt in Abrede, dass auch im letz-ten Wirtschaftsjahr eine gewisse Zahl von Betriebenwirtschaftliche Schwierigkeiten hatte. Der Vergleich zwi-schen der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftsbe-reichen zeigt aber auch, dass die alte Subventionspolitiknicht von heute auf morgen geändert werden kann.Wir sind auch weiterhin bestrebt, die Landwirtschaftzu unterstützen, denn nur durch starke Wirtschaftsstruk-turen ist ihr Überleben gesichert. Dennoch bin ich davonüberzeugt, dass auf die veränderten Produktionsbedin-gungen mit unternehmerischer Initiative reagiert werdenmuss. Wenn ich etwas verdienen will, muss ich auch be-reit sein, Einsatz zu leisten.
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht zeigt sehrgenau die Situation der Betriebe
und auch die der davon abhängigen Familien auf. Ausdiesem Grund will ich noch einmal kurz auf den Agrar-bericht 2000 und unseren damaligen Antrag zurück-kommen.Im Bereich der Agrarsozialpolitik ist die Situation derim ländlichen Raum lebenden Frauen und jungen Men-schen ein genauso wichtiger Aspekt wie in anderen Zwei-gen. Deshalb erschien uns damals eine Beschreibung der
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Lebens- und Erwerbssituation von Frauen im ländlichenRaum ebenso notwendig wie die Darstellung der weiterenPerspektiven für die Jugend.
Beides forderten wir in einem Entschließungsantrag am17.Mai letzten Jahres. Heute stelle ich fest, dass diese Do-kumentation leider nicht klar herausgestellt ist. Ich bittevon dieser Stelle aus, dies im nächsten Bericht explizitauszuweisen.Meine Damen und Herren, es gäbe noch viele Stich-punkte, zu denen ich mich äußern könnte. Als Beispielenenne ich nur Forst- und Fischereipolitik, nachwach-sende Rohstoffe oder mein Lieblingsthema landwirt-schaftliches Sozialversicherungssystem. Leider habe ichnicht die gesamte Redezeit der SPD-Fraktion bekom-men und kann deshalb keine weiteren Ausführungenmachen.Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministe-rin Künast, Sie sind jetzt ein halbes Jahr im Amt und ha-ben die Politik, die Sie machen wollen, in einer für dieÖffentlichkeit sehr verständlichen Sprache dargestellt.Sie haben sich sozusagen der sonst üblichen Spracheder Agrarpolitik entzogen und wurden verstanden:
Klasse statt Masse, Reinheitsgebot beim Rindfleisch.In der Zwischenzeit, Frau Ministerin, haben Sie sicheingearbeitet. Dabei haben Sie lernen müssen, dass dasalles nicht so einfach ist.
Sie mussten zum Beispiel lernen, wie sich die Verhält-nisse in Brüssel darstellen. Erst vorgestern haben Sie er-neut drei bittere Niederlagen hinnehmen müssen. Die vor-hergehenden Niederlagen möchte ich jetzt gar nichterwähnen.
Sie haben lernen müssen, was es heißt, im eigenenLand mit einem Finanzminister Eichel zurechtzukom-men. Sie haben vor allen Dingen in Verhandlungen mitden Bundesländern – zum Beispiel über die Durchsetzungder Gemeinschaftsaufgabe und all die Dinge, die damitzusammenhängen – auch lernen müssen, dass von sehrselbstbewussten Partnern komplizierte und verflochteneSachverhalte vertreten werden.Im Laufe der kurzen Zeit hat sich auch Ihre Spracheverändert. Sie sind sozusagen in die „Niederungen“ derAgrarpolitik eingestiegen
und das Interesse der Öffentlichkeit an Ihrer Politik hatwesentlich nachgelassen. Das wiederum könnte man janoch verschmerzen, wir als F.D.P. jedenfalls. Was aberviel weittragender ist: Sie haben Ihre Hausaufgaben nichtgemacht.
Die Krise, die Sie in das Amt gebracht hat, haben Sie bis-her nicht bewältigt.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Nach wie vorlagern Restbestände von Tiermehl und Futterbestand-teilen, die möglicherweise kontaminiert sind, in den Län-dern und warten jetzt – ein halbes Jahr nach In-Kraft-Tre-ten des Verfütterungsverbots – auf eine entsprechendeEntsorgung.
Ebenso wenig ist – ein halbes Jahr danach – die Finan-zierung dessen gesichert und klargelegt.
Ein weiteres Beispiel: Sie führen immer wieder denTierschutz im Munde, haben es aber nicht geschafft, dassdie Tiere, die zur Marktentlastung herausgekauft wordensind, auch verwertet werden.
Sie wurden schlichtweg zu Tiermehl verarbeitet und dannverbrannt. Ethik und Tierschutz sind hier wirklich nicht zuerkennen. Das ist ein Skandal!
Bis vor kurzem waren Sie nicht bereit, für die von BSEbetroffenen Rinderherden das so genannte SchweizerModell mit der Kohortentötung zu übernehmen. Sie wa-ren nicht bereit, von den Schweizern zu lernen. DieSchweizer haben mit diesem Modell eine jahrelangeErfahrung. Sie haben es ignoriert.
Wir haben Ihnen von Anfang an dieses Schweizer Modellanempfohlen. Erst jetzt dämmert es bei Ihnen langsam,aber sicher, dass Sie in diesem Punkt eine andere Rege-lung anstreben sollten.
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– Ich glaube, keiner der Zwischenrufer weiß, wie vieleTiere im Rahmen dieser Gesamtherdentötung beseitigtworden sind,
Es waren über 10 000. Es geht hier also um keine geringeMenge. Dies hat gravierende Auswirkungen.
Frau Ministerin Künast, Sie vernachlässigen den be-rechtigten Verbraucherschutz, indem Sie – –
– Können wir uns bitte darauf einigen, dass ich jetzt rede?Nachher kommen Sie dran.Sie vernachlässigen den berechtigten Verbraucher-schutz, indem Sie nach wie vor Rindfleischimporte vonnicht getesteten Rindern zulassen. Das Gleiche gilt fürKälber, die außerhalb von Deutschland gemästet und mitTierfetten gefüttert wurden und die ein sehr hohes Risikoaufweisen, BSE-infiziert zu sein. Mit einem Wort: Sie ha-ben viel angekündigt und recht wenig recht bescheidenumgesetzt.Lassen Sie mich etwas zur Maul- und Klauenseuchesagen: Nach wie vor gibt es eine unkoordinierte Aussagezur zukünftigen Impfpolitik. Ich fordere Sie deshalb auf,alles daran zu setzen, Markerimpfstoffe gegen die Maul-und Klauenseuche sowie die Schweinepest zu entwickelnund die notwendigen Genehmigungen zum Einsatz beider akuten Seuchenbekämpfung zu erteilen.
Es ist allerhöchste Zeit, diese Maßnahmen jetzt zu ergrei-fen! Wir dürfen nicht warten, bis die nächste Seuche aus-gebrochen ist. Die unsinnige Vernichtung, die es derzeitnoch bei der Seuchenbekämpfung gibt, also das Vernich-ten eines riesigen Volksvermögens durch die radikaleKeulung der Bestände, muss endlich aufhören.Das einzig klare Ergebnis, das Sie bisher vorzuweisenhaben, ist das Ökosiegel.
Dies ist aber nicht neu und auch nicht auf Ihrem eigenenMist gewachsen. Sie haben sich nur bereit erklärt, das,was auf europäischer Ebene bereits verabschiedet wordenist, anzuerkennen und zu übernehmen.
Man reibt sich erstaunt die Augen und stellt fest: Massestatt Klasse!
Frau Ministerin, Sie hatten uns etwas anderes versprochen.
Ich warne Sie eindringlich vor einem zweiten Prüf-siegel für konventionelle Produkte.
Das wäre kontraproduktiv und würde die Verbrauche-rinnen und Verbraucher verwirren. Damit würden Sienichts bewegen, sondern nur Unruhe stiften.
In diesem Zusammenhang möchte ich genauso ein-dringlich von einer regionalen Kennzeichnung spre-chen, die ich für dringend notwendig halte. Diese schafftin ganz besonderer Weise ein enges Verhältnis zwischender Landwirtschaft und den Verbrauchern. Das ist beson-ders nötig, denn wir stellen fest, dass die Kenntnis überdie Landwirtschaft bei der allgemeinen Verbraucherschaftgegen Null tendiert. Hier sind in der Tat mehr Kenntnisseund ein engeres Verhältnis notwendig.
Ein weiterer Kritikpunkt, den ich hier anzuführen habe,betrifft die katastrophale und verheerende Naturschutz-politik dieser Bundesregierung,
die das Eigentum missachtet, den gut funktionierendenVertragsnaturschutz vernachlässigt, zurückdrängt undallem ein Ordnungsrecht überstülpt. Dies hat natürlichnicht mehr die Bereitwilligkeit der Landwirte zur Folge,wie das beim freiwilligen Naturschutz der Fall ist.
Ebenso ist für uns Liberale das Verschenken von Landbzw. Forstflächen an Greenpeace absolut unakzeptabel.
Diese Flächen gehören privatisiert. Nur dann werden sieauch entsprechend bewirtschaftet werden.Die Liste der Kritik an der Bundesregierung ist fastendlos: Ich nenne als weiteres Beispiel das Stop-and-gobei der grünen Gentechnik. Weiß eigentlich der HerrBundeskanzler, dass die Wirtschaft verlässliche Rahmen-bedingungen braucht und mit einer auf Stimmung ange-legten Politik nichts anfangen kann? Bei den Pflanzen-züchtern haben wir gestern Abend gehört, dass dieWirtschaft daraus bereits ihre Konsequenzen zieht undmit ihren Forschungsabteilungen auswandert. Die sindbereits über den großen Teich! Die F.D.P. hat klareVorstellungen zur grünen Gentechnik sowie zum Verhält-nis von Eigentum und Naturschutz. Wir bringen noch vorder Sommerpause erneut den Antrag ein, den Tierschutz
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Ulrich Heinrich17241
in das Grundgesetz aufzunehmen. Wir wollen erneut die-sen Anlauf unternehmen; ich will, dass dieses Haus dawirklich Farbe bekennt.
– Ich bedanke mich für den Beifall. Wir wissen, dass wirhier schon seit längerer Zeit auf der gleichen Linie liegen.
Wir vermissen bei der Bundesregierung aber eine klareAussage, wie sie die Agrarpolitik in der Zukunft gestaltenwill. Nur ein bisschen mehr Öko reicht nicht aus. Ein An-satz von 130 Millionen DM, um eine Agrarwende herbei-zuführen, die ihren Namen auch verdient, ist mehr als be-scheiden. Ich wiederhole mich: Das wird nur ein bisschenmehr Öko und sonst nichts erreichen.Die Voraussetzungen für die Einführung der Modulationfehlen, weil sich bis auf eine Ausnahme alle Bundesländerdagegen ausgesprochen haben. In der Agrarministerrundeder Länder hat man sich nur auf Selbstverständlichkeitengeeinigt. Da können wir alle mitziehen. Diese Eckpunkte,die großartig herausgestellt wurden, nämlich Verbraucher-schutz, Tierschutz und Umweltschutz, können wir alle solange mittragen, wie sie allgemein und unverbindlich for-muliert werden. Im Detail ist überhaupt nichts geregelt. Dasist auch kein Wunder; denn eine so weit reichende Rege-lung, die in die Einkommen der Landwirte und in die Struk-turen eingreift, darf nicht übers Knie gebrochen werden.Hier muss sehr sorgfältig recherchiert und müssen auchwissenschaftliche Erkenntnisse mit eingebaut werden. Esdarf nicht sein, dass dies schon zum 1. Januar 2002 zur An-wendung kommen soll. Ich bin absolut dagegen. Das istverfrüht.Lassen Sie mich nun noch einige Ausführungen zu un-serem eigenen Entschließungsantrag, der heute an denAusschuss überwiesen werden soll, machen. Er beinhal-tet klare Aussagen zur zukünftigen Agrarpolitik. ImMittelpunkt steht für uns der unternehmerisch han-delnde Landwirt. Dazu gehört, dass man ihm den nöti-gen Freiraum wieder zurückgibt, den Wettbewerb stärkt,ihn von überflüssigen Kosten und von überbordenderBürokratie entlastet, Verbrauchersicherheit durch verbes-serte Produkthaftung herstellt und Zertifizierungssystemeeinführt, um die Lebensmittelherstellung zu verbessern, –
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Heinrich.
– und die Europäische
Union – das ist der letzte Punkt – vor dem Hintergrund ih-
rer Osterweiterung und der anstehenden WTO-Runde
handlungsfähig macht. Diese Voraussetzungen brauchen
wir.
Ich empfehle, weil meine Redezeit abgelaufen ist,
dazu die detaillierten Vorschläge der F.D.P.-Fraktion im
Entschließungsantrag zu lesen, gemäß denen produktbe-
zogene Förderungen abgebaut bzw. abgeschafft werden
sollen und stattdessen eine Kulturlandschaftsprämie ein-
geführt werden soll.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Worthat jetzt die Bundesministerin Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Präsident!Meine Damen und Herren, insbesondere Herr Heinrich!Ich habe zu keinem Zeitpunkt – auch nicht in derRegierungserklärung – behauptet, dass es eine Agrarwen-departy gibt und dass wir sozusagen nach Jahrzehntenverkrusteter Politik nach drei oder vier Monaten sagenkönnten: Ab heute ist alles anders.
Diese Agrarwendeparty wegen des einen Ereignisses wirdes nicht geben.
– Was ist denn eigentlich los, meine Herren? Nervös,oder was? – Ich habe schon in der Regierungserklärunggesagt, dass wir bei dem Agrarwendeprozess durch einlanges Tal gehen werden. Zu Ihrer Verwunderung, HerrHeinrich, werde ich mich jetzt ausdrücklich bei Ihnen be-danken, und zwar nicht für Ihre Rede, sondern für IhrenAntrag.
Ich meine, Sie unterstützen mit Ihrem Antrag meine undunsere Politik.Erstens. Sie fordern uns auf, ein schlüssiges Konzeptvorzulegen, um die bisherige produktbezogene Förderungdurch eine flächenbezogene Bewirtschaftungsprämiezu ersetzen. – Daran arbeiten wir. Guten Morgen, dankefür die Unterstützung!
Zweitens. Sie fordern uns auf, Qualitätsmanagement,Ökoaudit, Zertifizierung und eine konsequente Produkt-haftung stärker zu verankern. – Danke für die Unterstüt-zung. Daran arbeiten wir.
Drittens. Sie fordern uns auf, durch regionale Her-kunftszeichen für Agrarprodukte neue Vermarktungs-chancen zu nutzen und auszubauen. – Auch daran arbei-ten wir. Eine Aufgabe der CMA wird die regionaleVermarktung sein, weil sie nicht deutsche Produkte ver-markten darf. Für Vermarktungschancen und Ähnlichesgeben wir Geld aus. Danke für die Unterstützung.
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Viertens. Wir sollen die Vorschläge zur so genanntenModulation, die zu Prämienkürzungen von bis zu 20 Pro-zent führen würden, zurückziehen und überarbeiten. Ichschlage vor: Ziehen Sie diese Forderung zurück. Ich habenie gesagt, dass ich 20 Prozent will.
– Ich arbeite an einer realistischen Summe. Damit werdenwir Erfolg haben.Fünftens. Einen freiwilligen Vertragsnaturschutz kön-nen wir gerne einführen.Sechstens. Sie fordern die Einführung eines Öko-Prüfzeichens nach den Richtlinien der EU in Deutsch-land und die Verschärfung der Richtlinien. – Danke für dieUnterstützung. Wenn ich diese Forderung aufnehmenwürde, müsste ich allerdings wochenlang rückwärts lau-fen. Das habe ich nicht vor.
Die Entscheidung ist gefallen. Sie stand in den Zeitungen.Sie werden kaum glauben: Der Agrarrat hat in Luxemburgdie Kommission aufgefordert, ein Aktionsplan „Ökologi-scher Landbau für Europa“ vorzulegen. Ich habe vor eini-gen Wochen mit Herrn Fischler darüber gesprochen – dasist auch vor zwei Tagen diskutiert worden –, dass die EU-Öko-Verordnung überarbeitet und verschärft werden soll.An diesem Punkt ist also Ihr Papier vom 20. Juni überholt.Nur in einem waren Sie konsequent, nämlich darin,dass der Antrag der F.D.P. auf grünem Papier verteiltwurde. Dafür danke ich Ihnen.
– Ich bin ja schon weiter als dieses Papier.Nun zu den Fakten, meine Damen und Herren: Die fi-nanzielle Situation der deutschen Landwirtschaft istgut.
– Ja. Sogar der Rindfleischmarkt kommt wieder auf dieBeine. Schlachtkälber kosteten im Mai mehr als vor ei-nem Jahr, also vor der BSE-Krise. Die Schweine- und Ge-flügelhalter haben in den vergangenen Monaten wirklichsehr gut verdient. Die Erzeugerpreise bei Schlacht-schweinen lagen im Durchschnitt der ersten vier Monatedieses Jahres um 50 Prozent über den Preisen des Vorjah-res, bei Schlachtgeflügel lagen sie um 15 Prozent über denPreisen des Vorjahres. Die Milcherzeuger – das macht40 Prozent unserer Agrarbetriebe aus – haben von denhöchsten Auszahlungspreisen seit 1992 profitiert. Dapackt Sie der Neid, nicht wahr? Die Auszahlungspreisefür die Erzeuger lagen rund 8 Prozent über den Vorjahres-werten. Also lassen Sie doch bitte die Kirche im Dorf.
Frau Mi-nisterin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Nein, ich lassekeine Zwischenfrage zu. Ich habe zu wenig Zeit.Knapp 50 Prozent der 82 BSE-Fälle sind in Bayernaufgetreten. Ich möchte an dieser Stelle Bayern nicht kri-tisieren, sondern Sie, Herr Miller, ausdrücklich loben,weil Bayern erkannt hat, dass es bei den Tiermehl-kontrollen Defizite hatte.
In Bayern sind knapp 50 Prozent der BSE-Fälle aufgetre-ten, es findet dort aber nur 35 Prozent der Rindfleisch-produktion statt. Bayern ist also an der BSE-Krise über-proportional beteiligt. Ich möchte das Bundesland Bayernausdrücklich für das Programm, das Sie auflegen, loben,denn damit werden Sie dem Defizit entgegenwirken unddafür sorgen, dass es in Zukunft Lebensmittel- und Fut-termittelkontrolleure auch in Bayern gibt.
Darüber hinaus hat Bayern noch weitere Vorhaben auf denWeg gebracht, die man nur loben kann.Wir haben in letzter Zeit wirklich konsequent undflächendeckend
Verbraucherschutz betrieben. – Wenn die Bauern solchein Problem hätten, gäbe es doch eine Demonstration.Gucken Sie einmal hinaus: Dort sind Leute, die die Agrar-debatte hören wollen und nicht etwa demonstrieren.
– Das ist nun wirklich Quatsch. Dann hätte HerrSonnleitner doch Trauer, wenn es keine mehr gäbe. Ervertritt ja einen großen Verband.
– Passen Sie einmal mit Ihren Zwischenrufen „Kleine“auf. Können Sie mir sagen, woran denn die kleinenHöfe kaputtgehen? Doch nicht an einer neuen Agrarpo-litik!
Die sterben seit Jahren, weil Sie ihnen keine Perspektivegegeben haben.
Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen: dasBSE-Maßnahmengesetz, Vorsorgeverordnung, Tests, dieAusweitung der Liste der Risikomaterialien, verschärfteKontrollen und Sanktionen.Ich will mit ein paar Worten auf die letzte Agrarratssit-zung eingehen. Wir haben uns mehr vorgestellt, und trotz-dem ist dieser Agrarrat ein guter Rat gewesen. Statt dass
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Bundesministerin Renate Künast17243
das Verfütterungsverbot am 30. Juni, also in wenigen Ta-gen, Ende nächster Woche, geendet hätte, gibt es ein um-fassendes Verfütterungsverbot für Tiermehl, das nocheine ganze Zeit lang halten wird, und zwar gegen den Wi-derstand einer Reihe von Mitgliedstaaten, die gern gutesGeld mit dem Tiermehlverkauf verdienen würden.Wir sind bei der Verordnung über tierische Nebenpro-dukte weitergekommen. Es gibt umfassende Neuregelun-gen. Wir werden gemeinsam mit den Ländern – und dabeibitte ich Sie um Unterstützung – eine Menge zu tun ha-ben, damit diese auch in der Praxis umgesetzt werden undwir nicht wieder aus England Hinweise bekommen, dasswir demnächst einen Exportstopp, eine Sperre haben, weilRisikomaterialien angehaftet sind.Wir sind gemeinsam mit den anderen Agrarministernund der Kommission an dem Punkt angelangt, dass wirsagen können: Wir gehen von der Bestands- zur Kohor-tentötung. Ich halte das für einen Erfolg. Herr Heinrich,was Sie gesagt haben, war ein luxurierender Standpunkt.Denn Sie haben in den Kategorien einer alten Agrarpoli-tik gesprochen.
Sie haben hier von dem tränenden Herz eines jedenBauern und einer jeden Bäuerin gesprochen, wenn dieHerde getötet wird. Sie haben aber nicht über den An-spruch der Verbraucherinnen geredet, wirklich sicher zusein, dass wir nur gesundheitlich vertretbares Fleisch indie Lebensmittelkette kommen lassen – und dafür steheich! Das werden wir immer wieder so tun.
– Nein, es ist kein Widerspruch, Herr Heinrich.Ich habe am Anfang des Jahres klar gesagt, und daraufkönnen Sie sich in den nächsten Jahren verlassen: Wirprüfen das, wir testen.
Wir haben bei der Herauskaufaktion noch einmal circa90 000 Tiere getestet. Es gab nur ein positives. Wir habenin Deutschland nur zwei Fälle, in denen die Geburtsko-horte betroffen ist. Wir haben mit Brüssel zusammen ver-glichen, welche Erkenntnisse sie dort haben. Das Ergeb-nis ist: Heute können wir es vertreten, zu sagen, dass wirauf die Kohorte gehen.
Wer von mir die Einzeltiertötung haben will, dem sage ichdeutlich: Lassen Sie uns nicht in eine Situation kommen,bei der wir in einigen Jahren hier sitzen und erklären müs-sen, dass wir einen Fall von Creutzfeldt-Jakob-Krank-heit in Deutschland haben und vorher nicht hinreichendSicherheit geschaffen haben. Sie alle wissen: Für die Aus-wirkung von Creutzfeldt-Jakob auf den Menschen ist dieInkubationszeit noch nicht vorbei. In England sind circahundert Menschen daran gestorben. Wir wissen nochnicht, ob und wie viele in Deutschland sterben werden.Deshalb bin ich an dieser Stelle beinhart.
Ich weiß, dass mich viele im Parlamentsausschuss überalle Fraktionsgrenzen hinaus dabei unterstützt haben, undich danke dafür.Wir haben in Brüssel auch bei den Regelungen zumTierschutz noch unter schwedischer Präsidentschaft einpaar Verbesserungen bekommen. Ich hätte gerne mehr ge-habt; aber in Brüssel ist der Erfolg eine Schnecke: Haupt-sache, sie bewegt sich. Wir haben jetzt Regelungen für dieSauen. 12 Millionen Tiere in der EU werden in Zukunftnicht mehr in Anbindehaltung dastehen, wenn sie trächtigsind, sondern andere Bedingungen haben. Das ist schoneinmal etwas!Der nächste Punkt wird sein, dass wir uns mit denMastschweinen beschäftigen. Jeder kann in seinem Bun-desland im Rindermastbereich – in Bayern oder in NRWoder in Niedersachsen – dafür kämpfen, dass sich als Vor-wegnahme hier schon etwas verbessert.Wir haben in den ersten fünf Monaten dieses Jahres beiRindfleisch einige Erfolge gehabt. Wir haben am Diens-tagabend im Agrarrat mit anderen Ländern eines hinbe-kommen: In den nächsten zwei Jahren werden dieGroßvieheinheiten pro Hektar Fläche im Rinderbereichreduziert. Nicht mehr zwei Tiere werden gefördert, son-dern nur 1,8.Das ist ein Schritt, den Sie einmal nach- oder vorma-chen sollten, Herr Heinrich. Das haben Sie nicht ge-schafft.
Das ist ein Schritt wider alle – auch gegenläufigen – In-teressen einiger Länder, auch Südfrankreichs. Wir habenes geschafft, aus der 90-Tier-Grenze etwas Neues zu ma-chen, nämlich die Knüpfung an Umwelt- und Beschäfti-gungsaspekte. Und die Steuerzahler fragen: Wofür zahleich eigentlich? Wozu muss ich eigentlich Produktion be-zahlen? Es ist doch eine freie Marktwirtschaft. Nichtwahr, Herr Heinrich? Wir haben es geschafft, dass in Zu-kunft ab dem 91. Tier Umwelt und versicherungspflich-tige Arbeitsplätze zählen werden.
Ist das etwa nichts? Ich bin darauf stolz und auch darauf,dass wir in Deutschland und nicht jemand in Brüssel dieKriterien festlegen.
Wir haben es erreicht, dass im November in Brüssel unterbelgischer Präsidentschaft ein großer Kongress zur Aus-wertung der Maul- und Klauenseuche und auch zur Aus-wertung der Impfpolitik stattfinden wird. Ist das etwanichts? Sie müssen es erst einmal schaffen, dass sich alle
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Bundesministerin Renate Künast17244
die, die Interesse an hohen Exporten haben, zum BeispielDänemark in die USA und nach Japan, überhaupt auf dieDebatte einlassen. Das allein ist ein Zeichen für die For-schung, dass es sich lohnt, den Marker-Impfstoff zu ent-wickeln. Wer wüsste denn besser als Sie, dass man auchdie finanziellen Interessen der Wirtschaft animierenmuss? Wir haben sie animiert.Wir haben, deshalb weiß ich gar nicht, woher die Aus-einandersetzung kommt –
auf der Konferenz der Agrar- und Umweltminister derBundesländer am 13. Juni in Potsdam ein Papier einstim-mig verabschiedet. Ich weiß gar nicht, wo der Dissenssein sollte. Ich habe den Eindruck, in den großen, we-sentlichen Punkten bin ich mir mit den Bundesländern ei-nig. Das reicht von der Umwandlung in Grünlandprämienüber Tierhaltungsbedingungen bis hin zu dem Punkt, dassKlärschlamm gar nicht auf die Felder gehört bzw. derSchadstoffeintrag auf die Felder reduziert werden muss.Ich habe im Augenblick so viel Geld für die Agrarwendezur Verfügung, dass sich die Länder fragen, wie sie über-haupt mitmachen. Das müssen Sie erst einmal hinbe-kommen.
– Doch. – Wir haben Projekte dafür.Wir haben Kreativität. Selbst in diesem Ministeriumwecken wir die kreativen Kräfte. Sie von der F.D.P. dür-fen, wenn Sie dazu etwas beizutragen haben, gern mitma-chen, sollten aber bitte mehr tun, als auf Ihrem grünen Pa-pier nur unsere alten Positionen von vor drei Monatenabzuschreiben.
Wir haben 1,8 Milliarden DM in der Gemeinschafts-aufgabe, die wir für neue Dinge ausgeben werden. Wirwerden mehr als die Hälfte für Neues ausgeben. Wir ha-ben beim Haushalt zusätzliches Geld aus dem Bundesfi-nanzministerium bekommen. Wir werden diese 90-Tier-Grenze für den Umweltschutz nutzen und wir werdendie Modulation einführen. Wir werden dafür sorgen,dass die deutschen Bauern nicht wieder die Bremsersind, sondern dass die deutschen Bauern mit uns ge-meinsam ihre Zukunft organisieren. Diese heißt: Wegvon den Beihilfen.Nach der Halbzeitbilanz – im nächsten, übernächstenJahr – und nach der Erweiterung der EU, spätestens dann,wenn die Agenda 2000 im Jahre 2006 ausläuft, wird eseine andere Agrarpolitik geben, bei der wir gut beratensein werden, bis dahin nicht nur Beihilfeempfänger zusein, sondern tatsächlich das Neue zu tun. Das Neue heißtan dieser Stelle, meine Damen und Herren, auch, dass esauf die Frage der Steuerzahler eine neue Antwort gibt. DieSteuerzahler haben in der Vergangenheit immer gefragt:Wofür zahlen wir? Sie haben gesagt: Dafür wollen wirnicht zahlen. Was glauben Sie, warum es keinen Aufschreigegeben hat, als in der Zeitung stand, jetzt bekommt FrauKünast von Herrn Eichel noch einmal 330 Millionen DMdazu, anstatt – wie andere Ressorts auch – einsparen zumüssen?
Doch nicht, weil die Steuerzahler und Steuerzahlerinnendraußen sagen: Das ist eine tolle Idee, immer hinein in denAgrarbereich!,
sondern weil sie wissen, das Geld ist bei uns in guten Hän-den, wir werden es in Zukunft anders ausgeben. Das istunser Angebot.
Wir werden dafür sorgen, dass diese Gesellschaft zurAgrar- und Umweltpolitik sagt: Das sind Bauern, denenwir für ihre Leistungen zahlen, dafür, dass sie die Naturund die Umwelt erhalten.Da dürfen Sie in Zukunft gern weiter abschreiben, wei-terhin kreative Ideen haben. Ich glaube aber, eingeholt ha-ben Sie uns noch lange nicht.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich
Heinrich das Wort.
Verehrte Kolleginnen undKollegen, ich wollte eine Zwischenfrage stellen, aber dieFrau Ministerin hat keine zugelassen. Da bleibt mir nichtsanderes übrig, als eine Kurzintervention zu machen, undzwar zu dem Bereich, in dem sie mich mehrmals persön-lich direkt angesprochen hat, nämlich der Kohortentö-tung bei BSE-befallenen Beständen.Frau Ministerin, Sie haben es so dargestellt, als hättenSie durch Ihre Weigerung, das Schweizer Modell anzu-wenden, hier mehr Verbraucherschutz durchgesetzt.Genau das stimmt nicht. Alle Untersuchungen in der Ver-gangenheit haben gezeigt, dass ein höheres Verbraucher-schutzniveau nicht allein dadurch erreicht werden kann,dass man die gesamten Herden schlachtet, sondern dass esausreicht, das erkrankte Tier und, wenn es ein Muttertierist, die nachgeborenen Kälber sowie den Jahrgang zu tö-ten. Das heißt im Klartext, es wäre weniger als ein Drittelaller getöteten Tiere getötet worden, wenn man das aufdieser Grundlage durchgeführt hätte.Ich habe das mit Tränen in den Augen nicht nur imBlick auf die Landwirtschaft gesagt, sondern auch des-halb, weil es die Gesellschaft insgesamt aufgeregt hat.
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Bundesministerin Renate Künast17245
Die Menschen konnten es nicht mehr sehen und nichtmehr ertragen, mit welcher Medienpräsenz und in wel-cher Art und Weise die Betriebe belagert und bis zum Ab-holen der Kadaver begleitet worden sind. Ich weiß nicht:Haben Sie tatsächlich so ein kurzes Gedächtnis, dass nichteinmal diese Bilder nach diesen wenigen Monaten zumVorschein kommen? Ich habe die Bilder noch nicht ver-gessen.
Ich habe schon damals klipp und klar gesagt, wir müs-sen ein anderes Verfahren wählen. Deshalb habe ich michjetzt noch einmal zu Wort gemeldet. Ich wollte den Wi-derspruch noch einmal darstellen, dass Verbraucherschutznur durch das System der Tötung der gesamten Herde,nicht aber durch die Kohortentötung erreicht werdenkönne.
Frau
Künast, wollen Sie erwidern?
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Ja.
Bitte
schön.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Heinrich, Sie
haben Recht, wenn Sie sagen, dass es einen ungeheuren
Druck der Medien auf die Bauernhöfe gab. Ich bin mit Ih-
nen froh darüber, dass sich die Spannung und der Druck
in dieser Hinsicht gelöst haben. Aber wir wissen beide:
Auch bei einer Kohortentötung wird eine Tötung teil-
weise auf anderen Höfen erfolgen, weil sich Tiere aus ei-
ner Geburtsgruppe manchmal an anderen Höfen als dem,
auf dem positiv getestet wurde, aufhalten.
Ich habe das Beispiel der Schweiz genannt, weil ich
einmal darauf hinweisen wollte, dass man nicht einfach
das Endprodukt eines langen Prozesses aus der Schweiz
übernehmen kann. Die Schweiz hat zehn Jahre lang
systematisch verhindert, dass Tiermehl an Wiederkäuer,
also auch an Rinder, verfüttert wird. Sie hat das systema-
tisch kontrolliert. Sie hat die verschiedenen Risiko-
materialien der Tiere aus der Nahrungsmittelkette ge-
nommen, das Jahr für Jahr weiter definiert und brillante
Kontrollen an den Schlachthöfen durchgeführt. Sie ist da
noch besser und weiter als wir; deshalb können wir von
ihr lernen. Nach circa zehn Jahren hat sie die Tötung auf
die Kohorten reduziert.
Sie werden mit mir übereinstimmen, dass die letzten
Monate seit dem 26. November letzten Jahres, als es den
ersten positiv getesteten BSE-Fall gab, nicht zehn Jahre
systematischer Arbeit sind. Deshalb war ich auch dort
zurückhaltend, weil ich glaube, dass man erst die
Schlachtvoraussetzungen schaffen muss, bevor man den
Verbrauchern sagen kann, dass wir das, was jetzt auf den
Markt kommt, verantworten können.
Aber ich bin mit Ihnen froh, wenn wir gemeinsam
sagen: Von der Schweiz zu lernen ist etwas Positives. Des-
halb hoffe ich, dass Sie mit mir gemeinsam dafür kämp-
fen werden, dass im Bundesrat die Legehennenverord-
nung mit den Stimmen der F.D.P.-regierten Länder
durchkommt; denn von der Schweiz lernen heißt: keine
Eier aus Käfighaltung.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-
Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! So viel Übereinstimmung zwischenFrau Künast und der F.D.P. macht mich schon stutzig,
vor allem, wenn ich mir die Politik der F.D.P. ansehe.Beim Lesen des Agrarberichtes wird es den Landwir-ten die Tränen in die Augen treiben, aber natürlich keineFreudentränen, sondern Tränen aus Wut. Was dort inWorte gefasst ist, geht im großen Bogen an den Haupt-sorgen der Bauern vorbei. Im letzten Agrarbericht warUnternehmertum das Hauptanliegen, nun, nach BSE,wird die Diskussion über eine Agrarwende überstrapa-ziert. Die Bauern wollen aber keine Kehrtwende hin zuStrukturen aus Urgroßmutters Zeiten. Abgesehen davon,dass die Bundesregierung Multifunktionalität und Nach-haltigkeit in der Nahrungsmittel- und Rohstoffproduk-tion bislang nicht ernst genug genommen hat, muss sichNachhaltigkeit für die Landwirte rechnen, aber auch derUmwelt und den Verbrauchererwartungen Rechnung tra-gen.Meine Damen und Herren von der Regierung, zugege-ben, in Ihrem Bericht steht viel Positives. Aber die wirt-schaftliche Situation vieler Landwirte ist so miserabel wienie zuvor, und zwar nicht nur aufgrund von BSE. Zu denFakten: Erstens. Der langjährige Abwärtstrend der Brutto-und Nettowertschöpfung hält weiter an. Zweitens. Derweitere Verfall der Agrarpreise konnte nicht gestoppt wer-den. Drittens. Die gesetzliche Verpflichtung aus demLandwirtschaftsgesetz wurde wiederum verfehlt. Vier-tens. Die Landwirtschaft wird weitgehend vom Agrar-business bestimmt. Fünftens. Der Differenzierungspro-zess in den Agrarstrukturen geht weiter vonstatten.Zur Unterlegung der Fakten Folgendes: Die Aussagenzur Wertschöpfung in der Landwirtschaft vermittelnmit einem Anstieg der Bruttowertschöpfung um 3,7 Pro-zent und der Nettowertschöpfung um 6,5 Prozent einensehr positiven Eindruck. Genauer betrachtet fand aber garkein echtes Wachstum statt. Der Anstieg der Bruttowert-schöpfung ist ausschließlich auf die verringerte Inan-spruchnahme von Vorleistungen zurückzuführen. Die
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Ulrich Heinrich17246
Nettowertschöpfung basiert auf gestiegenen Ausgleichs-zahlungen und Subventionen. Gleichzeitig wurden jedoch30 000 Arbeitsplätze abgebaut.Von einem Bericht der Bundesregierung erwarte icheine gründliche analytische Arbeit; denn nur im lang-jährigen Trend wird sichtbar, dass die Bruttowertschöp-fung stagniert und die Nettowertschöpfung abnimmt. Mit22,9 Milliarden DM liegt die Nettowertschöpfung immernoch unter dem Niveau des Zeitraums von 1995 bis 1998.Auch für den Berichtszeitraum bestätigt sich, was seitJahren als eine der Hauptursachen für die ungenügendenErgebnisse der wertmäßigen Reproduktion festgestelltwerden muss: Trotz einer gewissen Erholung vom Preis-schock des Vorjahres auf dem Schweinefleischmarkt zeigtdie mehrjährige Entwicklung kein Ende der Preisschere.Durch den Preisdruck wird der Konkurrenzdruck zu-nehmen. Höfesterben, Arbeitsplatzverlust, Billigarbeits-plätze, Produktionsintensivierung und Monokulturen sinddie Folgen. Viele Betriebe wirtschaften am Rand der ein-fachen Reproduktion oder leben gar von der Substanz.Bereits seit Jahren weist die PDS auf die Gefahr hin,dass der Preisdruck auf die landwirtschaftlichen Produ-zenten zum Unterlaufen von sozialen und gesundheitli-chen Standards und ökologischen Anforderungen führt.Die aktuellen Preissteigerungen für Lebensmittel resultie-ren weder aus einer Qualitätssteigerung noch aus mehrLebensmittelsicherheit und schon gar nicht aus nochhöheren Erzeugerpreisen. Schön wäre es, wenn beimBauern tatsächlich etwas mehr Einkommen über Erzeu-gerpreise ankäme. Aber die Bauern arbeiten mehr undverdienen weniger. Das Landwirtschaftsgesetz wird nachwie vor ignoriert. Ich frage mich: Wozu haben wir eigent-lich Gesetze? Sie sind bestimmt nicht dazu da, dass sieständig unterlaufen werden.Bei einer Neuausrichtung der Agrarpolitik muss dergesamte Agrarindustriekomplex mit seinen innerenMachtstrukturen auf den Prüfstand. Im vergangenen Jahrgab es im Agrarbericht erstmals einen Abschnitt zumAgrarbusiness. In diesem Agrarbericht ist er weggefallen.Wahrscheinlich passt Agrarbusiness nicht zur Agrar-wende. Somit gibt es aber keinerlei Aussagen über denKonzentrationsgrad und die Gewinnerwirtschaftung inder Nahrungsmittelindustrie und im Handel. Fakt ist aber:Die Bauern sind, bezogen auf die Erwerbstätigen in dergesamten Branche, nur zu einem Viertel an der Nahrungs-kette bis zum Verbraucher beteiligt.
Will man aber negative Wirkungen in der Kette ein-schränken, braucht man konkrete Analysen der ökonomi-schen Stellung der Partner und ihrer wechselseitigen Ab-hängigkeiten. Deshalb unterstützt die PDS die Forderungder Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, sie in dieLösung der Krise und Neugestaltung der Agrarpolitik ein-zubeziehen.Im Agrarbericht werden die noch immer vorhandenenspezifischen Probleme der Landwirtschaft der neuen Län-der unzureichend widergespiegelt. Tatsächlich ist die leis-tungsfähige ostdeutsche Landwirtschaft so ausgebootetworden, dass sie gegenwärtig nicht einmal die geringergewordene ansässige Bevölkerung ernährt. Bei Liefer-rechten und Quotierungen sind die ostdeutschen agrar-wirtschaftlichen Betriebe eindeutig diskriminiert. DerAnteil ostdeutscher Betriebe an der Verarbeitung siehtnoch schlechter aus. Milch und Fleisch aus den neuenBundesländern werden größtenteils im Westen verarbeitetund kommen dann als veredelte Produkte zurück.Wettbewerbsfähigkeit und Strukturwandel sindvon der Politik national und EU-weit gewollt. Damit wer-den Betriebe gegeneinander ausgespielt. Das Preisseg-ment ist das A und O aller Handlungserfordernisse in derRegion, in der Nation und auf dem Weltmarkt. VergessenSie nicht, dass im Welthandel wie auf kaum einem ande-ren Gebiet Öko- und Sozialdumping ausgeprägt sind. Da-mit aber wird der nachhaltige Ansatz permanent unterlau-fen. Die Bundesregierung sitzt im Grunde genommen inder Liberalisierungsfalle, nämlich dann, wenn dieser Pro-zess nicht von Rahmenbedingungen in der gesamtenBranche sozial-ökologisch begleitet wird. Das jedochkostet den Bund und die Länder mehr Geld.Die Gemeinschaftsaufgaben „Agrarstruktur und Küs-tenschutz“ sowie „Regionale Wirtschaftsstruktur“ müs-sen stärker verzahnt und vor allem aufgestockt werden.Als ein gesellschaftliches Erfordernis ist dies nicht nurdringend notwendig, sondern wird auch vom Steuerzahlerund Verbraucher akzeptiert.
Wenn man sich vor Augen hält, dass sich MinisterScharping großzügig aus den Erlösen des Verkaufs vonLiegenschaften und Waffen bis zu einem Betrag von2 Milliarden DM bedienen kann, dann lesen sich die330 Millionen DM für die nächsten zwei Jahre für dieNeuausrichtung in der Landwirtschaft wie Peanuts.
Landwirtschaft hat nicht nur einen Preis, sondern vor al-lem auch einen gesellschaftlich anzuerkennenden Wert.Ich hoffe, wir sind uns alle darin einig: Eine Neuaus-richtung der Landwirtschaft darf nicht auf dem Rückender Bauern ausgetragen werden.
Die PDS fordert im Agrarbericht 2002 und in den Fol-geberichten erstens, die Analyse der Einkommenssitu-ation der Landwirte für alle Rechtsformen und einenEinkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen vorzu-nehmen, zweitens, regionale Analysen aus Bundessichtzu erstellen, um die Fortschritte und Probleme bei derVerwirklichung der angekündigten stärkeren Regiona-lisierung der Agrarwirtschaft bewerten zu können, drit-tens, die Entwicklung der Bedingungen und Leistungender multifunktionalen Landwirtschaft abzurechnen undviertens, einen gesonderten Abschnitt zum Agrarindus-triekomplex aufzunehmen, damit auch der politische An-satz des „magischen Sechsecks der Agrarwende“ tatsäch-lich nachvollzogen werden kann.Die Bauern in diesem Land können sich darauf verlas-sen, dass sich die PDS dafür einsetzt, dass die Neuaus-richtung der Agrarpolitik nicht gegen die Interessen der
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Kersten Naumann17247
Bauern, sondern mit ihnen zusammen gestaltet wird. Icherwarte dies natürlich auch von der Bundesregierung.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Karsten
Schönfeld von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die erfreulichste Entwick-lung gleich am Anfang: Die landwirtschaftlichen Betriebekonnten im abgelaufenen Wirtschaftsjahr gegenüber demVorjahr einen erheblichen Gewinnzuwachs verzeichnen,unterschiedlich zwar je nach Rechtsform, aber in allenBereichen positiv, und das deutlich. Bei Einzelunter-nehmen waren es sogar 13,5 Prozent, bei Personengesell-schaften und juristischen Personen waren es immerhin7 Prozent. Ich denke, das ist sehr erfreulich, und das mussan dieser Stelle festgestellt werden. Die Verluste aus demVorjahr konnten damit mehr als ausgeglichen werden.Hauptursache für den Einkommenszuwachs waren eindeutlicher Anstieg bei den Schweinepreisen und höhereErlöse aus dem Getreideanbau.Auch die Betriebe in der Rechtsform der juristischenPerson – meist eingetragene Genossenschaften in denneuen Bundesländern – konnten ihre wirtschaftliche Si-tuation verbessern. Rund 27 Prozent der betrieblichenAufwendungen dieser Unternehmen – das ist eine inte-ressante Zahl – entfielen bei diesen Betrieben auf Löhneund Gehälter. Diese Betriebe bilden weiterhin das Rück-grat in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer.Im Vergleich der Bundesländer erzielten Marktfrucht-betriebe mit relativ geringem Arbeitskräftebesatz inMecklenburg-Vorpommern weiterhin das höchste Ein-kommen je Arbeitskraft. Die niedrigsten Einkommenwaren in Thüringen und in Sachsen zu verzeichnen. Des-halb, meine Damen und Herren, müssen wir gerade fürdiese Betriebe, die in Regionen mit überwiegend be-nachteiligten Flächen liegen und die mit einem hohen Per-sonalaufwand wirtschaften, weitere Verbesserungen errei-chen.Wir werden bei den anstehenden Reformen, auch in derFrage der Modulation, dafür sorgen, dass es für diese Be-triebe nicht noch zu weiteren Belastungen kommt. Wirwerden, wie es in unserem Entschließungsantrag formu-liert ist, den Faktor Arbeitsplätze entschieden in die künf-tige Förderstruktur einbringen.
Die Aussage von Frau Bundesministerin Künast aufdem Landesbauerntag in Sachsen-Anhalt, dass Belastun-gen aus der Modulation nicht einseitig zulasten der land-wirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern ge-hen werden, findet deshalb unsere volle Unterstützung.
Ich möchte es allerdings noch etwas deutlicher formu-lieren: Die einbehaltenen Gelder aus der Modulationmüssen in den jeweiligen Regionen bzw. im jeweiligenBundesland verbleiben.
So, denke ich, werden wir dort eine entsprechende Ak-zeptanz erzielen. Um das zu erreichen, wird sich die Bun-desregierung auf europäischer Ebene für die Genehmi-gung weiterer modulationsfähiger Maßnahmen einsetzen.Wir werden sie dabei unterstützen. Ich kann Sie von derOpposition nur einladen, das ebenfalls zu tun.Wenn wir zurückblicken, dann sehen wir, dass wireiniges erreicht haben: Mit dem Beschluss zurAgenda 2000 im Jahre 1999 sind die Rahmenbedingun-gen für die Land- und Ernährungswirtschaft der EUeinschließlich ihrer Finanzierung bis zum Jahre 2006 ge-legt worden. Wir haben mit der zweiten Säule der Agrar-politik jetzt ein gutes Instrument, um Betrieben zu helfen,unabhängig von der landwirtschaftlichen Produktion zu-sätzliche Einkommen zu erwirtschaften. Wir haben darü-ber hinaus die nationalen Gestaltungsspielräume derAgenda genutzt und die Wettbewerbs- und Leistungs-fähigkeit der Betriebe gestärkt.Heute stellt sich die Situation auf den Märkten deshalbüberwiegend positiv dar. Nur der Rindfleischmarkt – daswissen wir – ist durch die BSE-Krise massiv unter Druckgeraten. Wir haben – das ist schon bei meinen Vorrednerndeutlich geworden – entschlossen gehandelt und Maßnah-men ergriffen, um die Ausbreitung von BSE zu verhindern,den Verbraucherschutz zu verbessern und zusätzliche Er-kenntnisse über die BSE-Infektion zu gewinnen.Wir Sozialdemokraten haben uns zum Ziel gesetzt, dieKrise als Chance zu begreifen. Wir haben uns von einerklassischen Agrarpolitik verabschiedet, weil deutlich ge-worden ist,
dass sie die Probleme nicht lösen konnte. Wir sind aufdem Weg hin zu einer Politik für sichere, gesunde Nah-rungsmittel und hin zu einer umfassenden Politik für denländlichen Raum.
Die Erwartungen der Verbraucher an eine umwelt-gerechte Erzeugung gesunder Nahrungsmittel waren mitden Mitteln der alten Agrarpolitik offensichtlich nichtmehr zu erfüllen. Die BSE-Krise war für viele Verbrau-cherinnen und Verbraucher ein Anlass, ihr Konsum-verhalten zu ändern. Auf diesem Gebiet hat ein Um-denkungsprozess begonnen. Die Verbraucherinnen undVerbraucher sind heute nicht nur bereit, genauer hinzu-schauen, was sie an der Ladentheke bekommen, sondernsie sind auch bereit, dafür mehr Geld auszugeben. Siewollen sicher sein, dass die Lebensmittel umweltfreund-lich und tiergerecht erzeugt worden sind. Das bietet auchunseren Landwirten neue Chancen. Wir unterstützen un-sere Betriebe dabei und setzen neue Schwerpunkte in derAgrarpolitik.
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Kersten Naumann17248
Der Entwurf des Agrarhaushaltes sieht für dasJahr 2002 Ausgaben in Höhe von über 11 Milliarden DMvor. Trotz weiterhin notwendiger Konsolidierung des Ge-samthaushaltes und trotz der Entlastung der Bürgerinnenund Bürger durch die große Steuerreform ist es gelungen,weitere Mittel im Einzelplan 10 für das Jahr 2002 in Höhevon 150 Millionen DM und im Jahr 2003 in Höhe von180 Millionen DM bereitzustellen.Wir Sozialdemokraten haben immer darauf gedrun-gen, verstärkt Mittel für einkommenswirksame undinvestive Maßnahmen bereitzustellen. Eine zentraleRolle in unserer Agrarpolitik spielt deshalb die Gemein-schaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur unddes Küstenschutzes“. Die Mittel für diese Gemein-schaftsaufgabe werden wir deutlich anheben. Mit1,845 Milliarden DM werden wir 2002 deutlich mehrMittel als in diesem Jahr zur Verfügung stellen. Wir er-möglichen den landwirtschaftlichen Betrieben so, dieChancen zu ergreifen, die sich aus dem geänderten Kon-sumverhalten der Menschen ergeben. Wir stärken denökologischen Landbau und wir verbessern die Förderungder Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung ökologi-scher Erzeugnisse.
Durch das Agrardieselgesetz entlasten wir alle land-wirtschaftlichen Betriebe weiter. Seit dem 1. Januar 2001gilt ein fester Steuersatz von 57 Pfennig je Liter Diesel-kraftstoff. Jetzt haben wir eine weitere Absenkung auf50 Pfennig je Liter auf den Weg gebracht.
– Ein Vergleich mit Frankreich und den Niederlanden istnur dann sinnvoll, wenn man alle Bereiche miteinandervergleicht. Man kann sich nicht immer nur die Punkte he-rausgreifen, die einem passen.
Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe haben wirneue Förderprogramme aufgelegt. Wir fördern die Erzeu-gung von Strom aus Bioenergie durch das Gesetz über denVorrang erneuerbarer Energien. Auch hier sichern wir denLandwirten zusätzliche Einkommensquellen.Wir stehen vor der großen Aufgabe, unsere Landwirt-schaft für die Zukunft zu rüsten. Wir müssen die An-sprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher an die Ge-sundheit und die Unbedenklichkeit der Nahrungsmittelebenso erfüllen wie die einer naturnahen und tiergerech-ten Erzeugung der Lebensmittel. Gleichzeitig werden dieWTO-Verhandlungen ebenso wie die Osterweiterung derEuropäischen Union ohne jeden Zweifel zu weiterer Li-beralisierung des Agrarhandels und zur Ausweitung desinternationalen Agrarhandels führen. Wir unterstützen un-sere landwirtschaftlichen Betriebe, damit sie sich diesenHerausforderungen erfolgreich stellen können.Wir sind in der Agrarpolitik auf einem guten Weg. DieFakten des vorliegenden Agrarberichts sprechen eine an-dere Sprache als der von Ihnen hier aufgeführte Popanz.Wer alles mies redet, braucht sich nicht zu wundern, wennniemand oder kaum mehr jemand – das hat der ansonstenvon mir geschätzte Kollege Deß in der gestrigen Aus-schusssitzung gesagt – bereit ist, in der Landwirtschaft zuarbeiten. Das hängt mit dem Popanz zusammen, den Siehier und auf Bauernversammlungen aufführen.
Sorgen Sie lieber dafür, dass die Landwirte auch in denvon Ihren Parteikollegen regierten Ländern erkennen,dass Sie eine Zukunft haben! Dass die Bauern eine Per-spektive haben, machen unsere Politik und der Agrar-bericht deutlich.Vielen Dank.
Das Wort
hat jetzt der bayerische Staatsminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, Josef Miller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident!Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundesmi-nisterin Künast fordert die Agrarwende und erläutert dazuimmer wieder, dass sie die deutsche Agrarpolitik in eineAgrarumweltpolitik umwandeln wolle. Wenn sich dieseAgrarwende allerdings darin erschöpft, im vorliegendenAgrarbericht die landwirtschaftliche Praxis erstmals mitAusdrücken wie „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt inein schiefes Licht zu rücken, und dazu führt, dass Öko-produktion, die nach bisherigem deutschem Recht nur inden Betrieben möglich ist, die ihre gesamten Flächen nachMaßgabe ökologischer Grundsätze bewirtschaften, auchin solchen Betrieben erlaubt sein soll, die nur einen Teilihrer Fläche ökologisch bewirtschaften, dann wissen un-sere Bauern, aber auch unsere Verbraucher, was sie vondieser Bundesregierung zu erwarten haben.
Mich macht die Dreistigkeit, mit der Sie Selbstver-ständlichkeiten als Erfolg verkaufen wollen, äußerstnachdenklich. Sie sagen zum Beispiel: Die Agrarminis-terkonferenz hat einstimmig beschlossen. Ich muss Ihnensagen: Die Beschlüsse der Agrarministerkonferenz sindimmer einstimmig. Wenn die Beschlüsse nicht einstim-mig gefasst würden, kämen sie gar nicht zustande. Be-schlossene Selbstverständlichkeiten werden als Erfolggefeiert. Aber wie will derjenige, der wie die Regierungs-koalition in der Frage der Modulation nicht einmal dieeigenen Agrarminister hinter sich bringt, jemals inBrüssel Erfolg haben?
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Karsten Schönfeld17249
Die Bundesländer werden sich zwar dem Einbau vonmehr Umweltkompetenzen in die deutsche Agrarpolitiknicht grundsätzlich widersetzen. Aber dies darf nicht zumRuin unserer Bauern führen. Der Staat hat schon ausGründen der Sicherung einer gesunden Ernährung und ei-ner intakten Umwelt auch eine Fürsorgepflicht gegenüberunseren Bauern. Wir können unsere Bauern nicht außenvor lassen, so wie Sie das mit Ihrer Agrarpolitik tun.Wer noch mehr Umweltkomponenten als bisher in dieAgrarpolitik integrieren will, muss es entweder in Brüsseldurchsetzen oder er muss es – wie wir das in Bayern tun –durch eine entsprechende Leistungskonzeption ausglei-chen.
Die Agrarberichte der letzten Jahre zeigen, dass die deut-schen Bauern keine Zusatzbelastungen mehr ertragenkönnen.
Wenn Sie, Frau Bundesministerin, Agrarpreise mit Ein-kommen gleichsetzen und dabei die Produktionskostenaußen vor lassen, muss ich feststellen, dass es mit IhremSachverstand nicht weit her ist.
Unsere Bauern können die Modulation nach rot-grü-nem Muster nicht ertragen. Sie können sie deshalb nichtertragen, weil sie bei ihren schwierigen Einkommensver-hältnissen – siehe Agrarbericht – überproportional belas-tet würden. Es macht doch keinen Sinn, den Bauern dasGeld aus der einen Tasche herauszuziehen, ohne es durcheinen entsprechenden Ausgleich in die andere Taschewieder hineinzustecken.
Das gilt insbesondere für die mittelbäuerlichen Betriebe,die auf eine Unterstützung angewiesen sind.
Es gehört schon Mut dazu, sich hierher zu stellen undzu sagen, die Bauern hätten günstige Produktionskosten,nachdem die Preise für einen Liter Agrardiesel von21 Pfennig auf 57 Pfennig angehoben wurden. Die fol-gende Reduzierung auf 50 Pfennig als Erfolg darzustellenverlangt ebenso Mut, wenn man sieht, dass in Italien einLiter Agrardiesel 16,5 Pfennig kostet. Die Bauern lassensich nicht für so dumm verkaufen, wie Sie sich das vor-stellen.
Das Gleiche gilt für die bereits geplante Förderung von330 Millionen DM – auch in diesem Bereich ist in denletzten Jahren gekürzt worden –, mit der Sie nun zusätzli-che Umweltleistungen honorieren wollen.Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben in Bayern mit un-serem Programm „2 000 – Leistungen für Land undLeute“ bis zum Jahr 2006 800 Millionen DM jährlich fürUmweltleistungen im Agrarbereich aufgewandt. Zudemhat Bayern mit einer Verbraucherinitiative für zwei Jahrezusätzlich 600 Millionen DM bereitgestellt.
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Heidi Wright?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, die Zeit
ist knapp.
Herr
Staatsminister, es wird nicht auf die Redezeit angerech-
net.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich ge-statte trotzdem keine Zwischenfrage.Zwei Drittel der Flächen in Bayern unterliegen beson-deren Umweltauflagen.Als Ausgleich dafür erhalten dieBauern 400 Millionen DM.
Wir handeln in unserem Zuständigkeitsbereich verant-wortlich und warten nicht darauf, bis der Bund halbherzigMaßnahmen einleitet, die wir schon längst eingeleitet ha-ben. Ich wehre mich dagegen, wenn man jetzt so tut, alshätte man mit der Agrarumweltpolitik erst ab diesem Jahrbegonnen.
– Ich kann Sie gerne über den bayerischen Weg informie-ren: Wir haben bereits 1970 Agrarumweltmaßnahmen ineinem eigenen Leistungsgesetz vorgesehen, um den Um-bau der deutschen Agrarpolitik in eine Agrarumweltpoli-tik zu unterstützen.
Ich zitiere in diesem Zusammenhang Kommissar Fischleraus „top agrar“, der von einem „wohlfeilen Wortgeklün-gel“ gesprochen hat.Ich weise darauf hin: Wenn Sie Ihre Politik so fortset-zen, wie Sie sie begonnen haben, verschlechtern Sie dieWettbewerbsfähigkeit unserer Bauern ganz erheblich.Tun Sie was, damit unsere Bauern im Wettbewerb in Eu-ropa bestehen können, und schwächen Sie nicht unsereLandwirtschaft!
Sie haben bisher in Brüssel keine Bündnispartner ge-funden. Mich wundert das nicht. Auch EU-Agrarkom-
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Staatsminister Josef Miller
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missar Fischler, einer der Väter der Agrarsozialpolitik inÖsterreich, äußert sich ziemlich skeptisch. Darüber hi-naus konzentrieren sich die Aktivitäten der Bundesregie-rung zu wenig auf die zentralen Belange der Landwirt-schaft und der Ernährungswirtschaft in Deutschland.Allein die Förderung von mehr Ökoproduktion ist zu we-nig; denn wir sind für die Ernährung von 100 Prozent un-serer Mitbürger und für 100 Prozent unserer Bauern ver-antwortlich und nicht nur für 3, 10 oder 20 Prozent.
Mir fehlen vor allem folgende Ansätze:Erstens. Erforderlich sind hinreichend konkrete Vor-schläge für Maßnahmen zur Weiterentwicklung der ge-meinsamen Agrarpolitik im Hinblick auf „mid termreview“, WTO-Verhandlungen, Osterweiterung sowieVorschläge zur Ausweitung der Kofinanzierung in derAgrarpolitik.Zweitens. Wir brauchen eine starke Vereinfachung desFördersystems. Was Sie im Rahmen der Modulation ma-chen – das haben Ihnen die Kollegen schon gesagt –, istundurchführbar.Drittens. Es fehlen hinreichende Maßnahmen zur Er-schließung des Non-Food-Marktes und des Dienstleis-tungsmarktes.Viertens. Wir brauchen eine Reform des Marktstruk-turrechts als effektive Voraussetzung für die Entwick-lung transparenter, geschlossener Produktlinien.Fünftens. Überfällig ist eine Novellierung des Land-wirtschaftsgesetzes des Bundes mit dem Ziel der Aus-schöpfung aller Möglichkeiten der Einkommenssiche-rung und der Festlegung ökologischer Komponenten.Sechstens. Erforderlich ist die Zusammenfassung desAgrarfachrechtes in einem Agrargesetzbuch.Siebtens. Wir brauchen die Einführung der Kohorten-keulung.Zur Neuorientierung der Agrarpolitik auf der Ebeneder Europäischen Union muss Deutschland sein ganzesGewicht in die Waagschale werfen. Als Hauptfinanzierder Europäischen Union darf es Deutschland nicht zulas-sen, dass eine Wende in der Agrarpolitik auf dem Rückender Bauern und am Ende auf Kosten und zulasten unsererVerbraucher ausgetragen wird. Wenn die Agrarpolitik sofortgesetzt wird, wird die Zahl der Landwirte drastischzurückgehen. Die Folgen haben die Verbraucher zu tra-gen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehrgeehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Neuerungen,für die Bayern von Ministerin Künast gelobt wurde, nichtauf Ihrem Mist gewachsen sein können, Herr Miller. Ichhatte Verständnis dafür, dass sich die Staatsregierung dazuentschlossen hatte, einen VerbraucherschutzministerSinner einzusetzen. Aber der bayrische Weg, den Sie ver-folgt haben, hat doch nur dazu geführt, dass es in Bayerndie meisten BSE-Fälle gibt – ein Skandal –, wie die fürBayern desaströsen Ergebnisse von Kontrollen der EU-Kommission zeigen.
Sie sind nicht der Protagonist einer zukunftsfähigenLandwirtschaft. Aber Sie können ja noch dazulernen.
Heute stimmen wir im Bundestag über Anträge bezüg-lich einer Agrarreform ab. Es soll eine neue Verbraucher-schutz- und Agrarpolitik geben. Der Bundestag fordert dieBundesregierung auf, die Modulation einzuführen. HerrMinister Miller, damit gibt der Bundestag der MinisterinKünast die notwendige Rückendeckung, um dieses In-strument einzuführen. Es ist der politische Wille nicht nurder Grünen, sondern auch der Koalitionsfraktionen, derBundesregierung und der Gesellschaft, die Modulationund weitere Elemente der Neuausrichtung der Agrarpoli-tik einzuführen.Die Notwendigkeit, dieses Instrument einzuführen, er-gibt sich auch aus der Tatsache, dass das bisherige Systemschlicht und ergreifend nicht mehr finanzierbar ist, dass dieOsterweiterung im Jahre 2004 ansteht und dass es dahereine Neuorientierung geben muss, die gerade im Bereichder finanziellen Förderung ansetzt. Dieses bisherige Sys-tem ist auch nicht mehr haltbar, weil im Rahmen der WTO-Verhandlungen – das ergab sich auch schon im Rahmen derUruguay-Runde – Bedingungen gestellt wurden, die be-wirken, dass das alte System nicht mehr aufrechterhaltenwerden kann. Es gibt also eine unabweisbare Notwendig-keit, in Deutschland eine Neuausrichtung vorzunehmen.Der Agrarbericht zeigt auch, dass die in einigen Punk-ten beklagenswerte Situation der landwirtschaftlichen Be-triebe durch die Politik der alten Bundesregierung verur-sacht wurde. Dies zeigt sich vor allem an der hohen Zahlsterbender Betriebe.
Wir brauchen neue Perspektiven und auch eine Politik,die verhindert, dass es weitere kontraproduktive Fehl-allokationen
im Bereich der Agrarförderung gibt, zum Beispiel einDurchreichen der Fördermittel an die Grundstücksei-gentümer. Das Eigentumsrecht ist in Ordnung. Aber es
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Staatsminister Josef Miller
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muss doch keine staatlich subventionierte Förderung vonLandeigentum geben, wie die F.D.P. es will.Es kommt also notwendigerweise zu einem Abbau derGarantiezahlungen. Daher sind wir alle in der Verant-wortung. Das betrifft auch die Opposition. Das betrifft vorallem die Bundesländer, die an diesem Prozess und andem Instrument der Modulation konstruktiv mitwirkenmüssen;
denn sonst werden gerade die Elemente, die von den Län-dern gefordert werden, nicht installiert werden können.Das geht nur bei entsprechender Mitwirkung.Ich will einen Satz zu der 90-Tier-Grenze sagen. Ichbin sehr dafür, Elemente, die Arbeitsplätze fördern, ein-zuführen. Ich schlage vor, noch einmal darüber zu disku-tieren, ob man es gerade im Bereich Bullen machen sollte,in dem es eine sehr geringe Verbindung zu dem Arbeits-kräftebesatz gibt. Man sollte überlegen, dies im Bereichder Einnahmeseite der Modulation zu machen. Zumindestgeht das und ist sicherlich überlegenswert.Das bisherige System hat keine Akzeptanz. Die neue Po-litik muss die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen.Dazu gehören Lebensmittelsicherheit und -qualität, Tier-schutz, Kulturlandschaftspflege und natürlich auch Wirt-schaftskraft und Arbeitsplätze. Dazu bedarf es einer Strate-gie, die wir entwickeln müssen, was in der Vergangenheitleider nicht geschehen ist.
Es ist schon richtig: Verbote und reine Ordnungspolitiksind Elemente, die auch Abwanderung – beispielsweise imBereich der Tierhaltung – zur Folge haben können und da-her mit anderen Maßnahmen verbunden werden müssen.Die Grenzen dicht zu machen, wie die CSU es immerwieder fordert, geht nicht. Daran denkt niemand. Übri-gens ist der letzte Punkt in dem Antrag der CDU/CSUwieder so ein Punkt, der im Rahmen der internationalenPolitik überhaupt nicht zu realisieren ist.Hingegen ist es möglich – darauf setzen wir hauptsäch-lich –, die Verbraucher für die neue Politik zu gewinnenund Anreize für neue Produktionsverfahren zu schaffen.Für diese Politik braucht man Konzepte, die die Bun-desregierung liefert, und man braucht Geld, und zwar ei-nerseits aus der Modulation und andererseits aus demBundeshaushalt. Hier ist das passiert, was Renate Künastgesagt hat. Sie hat nämlich erreicht, dass der Bundes-finanzminister für Investitionen in die NeuausrichtungMittel in einem Rahmen zur Verfügung stellt, den manangesichts der erforderlichen Konsolidierung des Bun-deshaushalts nur als riesigen Erfolg und riesige Unter-stützung für die Politik der Landwirtschafts- und Ver-braucherministerin werten kann.Unsere Neuausrichtung der Agrar- und Verbrau-cherpolitik basiert auf vier Säulen. Eine Säule ist: Ver-braucherschutz, Transparenz und Lebensmittelsicherheit.Eine andere ist, im Bereich der konventionellen Produk-tion die Wettbewerbsfähigkeit für umwelt- und artge-rechte Produktion zu verbessern. Der Ökolandbau soll alseine der vier Säulen gefördert werden. Eine weitere Säuleist, neue Perspektiven im Bereich der erneuerbaren Ener-gien zu straffen.Ich will nur zu zwei Punkten etwas sagen, und zwarzunächst zum Bereich Verbraucherschutz und Transpa-renz: Diejenigen, die sich jetzt hier hinstellen und die Mi-nisterin und uns anklagen, BSE-Schutzmaßnahmendurchgeführt zu haben, Herr Heinrich, sind genau die Rat-tenfänger, die vorher gesagt haben, BSE-Maßnahmenseien gar nicht nötig, Deutschland sei BSE-frei.
Dass der Tierschutz als Vorwand für die Beendigung derSeuchenbekämpfungspolitik in Fällen von für Menschengefährlichen Krankheiten genommen wird, ist etwas, wasich nicht unterstützen möchte.Der andere Punkt ist folgender: Sie fordern – die Mi-nisterin hat es schon erwähnt – eine Unterstützung desökologischen Landbaus. Das ist im Bereich des Öko-siegels bereits realisiert worden und es gibt einen Akti-onsplan für den ökologischen Landbau.Durch die vielen Elemente, die in den sechs Monaten,die die Ministerin im Amt ist, bereits realisiert wordensind, hat die Bundesregierung mehr Reformen durchge-führt, als es in der gesamten Regierungszeit der alten Bun-desregierung der Fall gewesen ist, Reformen, die wirklichin dem Sinne sind, wie Verbraucher, Steuerzahler, Tier-schützer und die Menschen in diesem Lande sich Ver-braucherschutz und Agrarpolitik wünschen.Danke.
Alsnächster Redner hat der Kollege Peter Harry Carstensen,CDU/CSU-Fraktion, das Wort.Peter H. Carstensen (CDU/CSU) (vonAbgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In derDebatte hat mir bisher ein Wort von Uli Höfken am bestengefallen: die kontraproduktive Fehlallokation. Ich stellemir gerade vor, ich verwendete diesen Begriff in meinemWahlkreis; insoweit wäre ich dankbar, wenn man mir dieBedeutung dieses Begriffes erklärte und vielleicht nocheine plattdeutsche Übersetzung mitlieferte. Ich weißnicht, was es ist, und weiß noch nicht einmal, ob ich esrichtig geschrieben habe; aber es hörte sich zumindestgut an.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will ausmeinem Herzen keine Mördergrube machen und habe
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Ulrike Höfken17252
auch nicht vor, vielen Dingen hinterherzulaufen, die in derAgrarpolitik von manchen Seiten vorgetragen werden.
Ich nehme zu einigen Punkten Stellung, die von Ihnen,Frau Ministerin, und von der Frau Kollegin Wolff ange-sprochen worden sind.Sie haben davon gesprochen, Frau Ministerin, dass dieEinkommenslage in der Landwirtschaft gut sei. Sicherlichgibt es bei Milch gute Ergebnisse und bei Schweinen da-durch, dass nicht mehr so viel Rindfleisch verzehrt wird,ebenfalls. Bei Getreide wissen wir es noch nicht, weil dieErnte noch aussteht. Aber ich sage Ihnen auch, dass wirbei denjenigen extrem schlechte Ergebnisse haben, dieRindfleisch produzieren. Sie haben nichts davon, dass esin anderen Bereichen gute Ergebnisse gibt.Dies führt ebenso wie Ihre Politik und die Unsicher-heiten, die diese Politik verursacht, dazu, dass mir zumBeispiel der größte Landmaschinenhändler in Schleswig-Holstein sagte, dass er in diesem Jahr 33 Prozent wenigerSchlepper verkauft habe. Das bedeutet, dass aus derLandwirtschaft heraus keine Investitionen getätigt wer-den.
– Matthias, ‘n büschen zuhören, min Jung! Das hast dufrüher zu deinen Jungs auch immer gesagt, als du nochLehrer warst.
Das hat mit der Stimmung in der Landwirtschaft und derUnsicherheit zu tun, die von dieser Politik ausgeht; dieLandwirte wissen nämlich nicht genau, wohin die Reisegeht.
Mehrere Wenden in einem Jahr führen dazu, dass dieLeute nicht mehr wissen, in welche Richtung es geht.Sie haben vorhin gesagt, von der Schweiz lernen, hei-ße – – Ich weiß nicht mehr genau, was es war.
– Legehennen, richtig. Von der Schweiz lernen, heißt aberauch, Eier zu importieren lernen.
Das bedeutet, keine Produktion mehr im eigenen Land zuhaben, sondern sie aus dem Land hinauszujagen.
Frau Ministerin, Sie und auch Uli Höfken haben einDefizit bei den Tiermehlkontrollen in Bayern angespro-chen. Nun will ich mich dazu nicht äußern. Ich glaube nur,dass dann, wenn die Kommission – das wissen Sie – wo-anders kontrolliert hätte, die Ergebnisse wesentlichschlimmer ausgefallen wären.
– Nein, ich sage dazu noch etwas. – Deswegen halte iches für unfair, bei diesem Punkt immer auf Bayern einzu-schlagen.
In Schleswig-Holstein gab es bis 1996 zwei Futtermit-telkontrolleure. 1996 wurde einer pensioniert oder warauf Dauer krank; die Stelle wurde nicht wieder besetzt.Im schleswig-holsteinischen Haushalt waren für die Fut-termittelkontrolle 360 000 DM veranschlagt. Von dieserSumme wurden im Jahre 2000 35 000 DM ausgegeben,davon 30 000 DM für Bodenproben. Angesichts dieserTatsache ist es nicht fair, Bayern den schwarzen Peterzuzuschieben und zu sagen, dort sei es besondersschlimm.
Frau Ministerin, Sie haben die Luxemburger Be-schlüsse zum Thema Tiermehlverfütterungsverbot gelobt.Ich zitiere dazu die „FAZ“:
Die Sitzung in Luxemburg war noch keine drei Stun-den alt, da hatte die VerbraucherschutzministerinRenate Künast schon drei Abstimmungsniederlagenhinnehmen müssen.Im Weiteren wird geschrieben, dass das beim Mehr-heitsprinzip des Öfteren vorkomme. Aber dass sich einVertreter der Bundesregierung gleich bei drei wichtigenGesetzesvorlagen eine Abfuhr für seine Änderungswün-sche holt und ein nutzloses Nein zu Protokoll geben muss,das kommt nicht alle Tage vor.Besonders schwer wiegt für Frau Künast die Nieder-lage in den Verhandlungen über das Tiermehlverbot.Schließlich ist das auch eine Schlappe für BundeskanzlerGerhard Schröder. Nun kann man natürlich fragen, wieund warum sie entstanden ist. Frau Ministerin, diese Nie-derlage ist auch ein Zeichen dafür, dass der Stellenwertder deutschen Position im Agrarministerrat nicht mehr dergleiche wie früher ist,
als wir CDU-Landwirtschaftsminister hatten, aber auchnicht mehr der gleiche wie in der Zeit, als Karl-HeinzFunke noch Minister war. Es ist schon ein besondererVorgang, dass bei Abstimmungen in diesem Agrarmini-sterrat ohne Skrupel und ohne Zögern über deutsche Po-sitionen hinweggegangen und abweichend davon abge-stimmt wird. Frau Ministerin, darüber sollten Sie sichGedanken machen.Ich finde es auch sehr bemerkenswert, dass Sie es nichtfür nötig hielten, bei der Debatte zum Tiermehlverfüt-terungsverbot die Diskussion über die Tierfette einzu-bringen. Frau Ministerin, Sie sagten gerade, Verbraucher-schutz bedeute für Sie, dass nur gesundheitlichvertretbares Fleisch in die Nahrungsmittelketten hinein
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gebracht werde. Wenn wir insoweit über Wettbewerbs-fähigkeit sprechen, dann muss man sich fragen, ob es fürSie vertretbar ist, dass Milchaustauscher mit bei uns ver-botenen Fetten in Holland und anderen Ländern einge-setzt werden können und anschließend die Kälber bei unsauf den Markt kommen und bei uns gemästet werden kön-nen.Man muss sich ferner fragen, ob es für Sie vertretbarist, dass die Diskussion über Fischmehl in anderen Län-dern in völlig anderer Weise als bei uns geführt wird,dass Rindfleisch bei uns getestet wird, sobald die Rinder24 Monate alt sind, während in anderen Ländern ledig-lich das Fleisch von 30 Monate alten Rindern getestetwird oder überhaupt nichts geschieht, und dass wir im-mer noch argentinisches bzw. südamerikanisches Rind-fleisch bekommen, das überhaupt nicht getestet ist, ob-wohl wir wissen, dass gegen Maul- und Klauenseuchegeimpft wird, sodass wir den Verbrauchern eigentlichsagen müssten, dort gelte ein anderer Standard als beiuns.
Frau Ministerin, Sie haben mit Stolz vermerkt, dassSie mehr Geld im Haushalt haben. Sie haben aber auchviel mehr Aufgaben bekommen. Wenn ich das Mehr anAufgaben in Ihrem Ministerium dem Mehr an Geldgegenüberstelle, dann ergibt sich daraus aber, dass Sieweniger Geld für die Agrarpolitik und für unsere Bauernzur Verfügung haben, wenn Sie die zusätzlichen Aufga-ben erfüllen wollen. Das müssen Sie den Bauern aberauch sagen.
Sie haben erwähnt, dass die 1,8 Milliarden DM für dieGemeinschaftsaufgabe ein für Sie ganz wichtiger Postensind. Ich halte die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für eine ganzwesentliche Aufgabe. Aber Sie müssen dann auch sagen,was die Länder mit diesem Geld machen, ob sich die Län-der überhaupt an den Ausgaben für die Gemeinschafts-aufgabe beteiligen und ob diese Ausgaben auch in IhremSinne sind.
Ich erinnere daran, dass Schleswig-Holstein im letztenJahr von den reichlich 90 Millionen DM, die es aus derGemeinschaftsaufgabe erhalten hat, 9,3 Millionen DMnicht ausgegeben hat.
Rechnet man zu diesen 60 Prozent die 40 Prozent Lan-desmittel hinzu, ergeben sich Zuschüsse in Höhe von15 Millionen DM für die Landwirtschaft, meinetwegenauch für die Umstrukturierung der Landwirtschaft. Abernichts davon ist ausgegeben worden.
Weil wir immer davon sprechen, dass die Agrarwendedazu führen soll, dass wir mehr ökologischen Landbau be-kommen,
erinnere ich auch daran, Frau Ministerin, dass in diesemBereich ebenfalls einige Ausgaben vorgesehen sind.Schleswig-Holstein hat für die Förderung des ökologi-schen Landbaus im letzten Jahr 930 000DM ausgegeben.
Dagegen hat der Freistaat Bayern – lieber KollegeWeisheit, Sie werden das sicher gleich lobend erwähnen –für die Förderung des ökologischen Landbaus 44 Milli-onen DM ausgegeben. Das sind Zahlen, die sich sehenlassen können!
Herr Minister Miller sprach Geld für Naturschutzauf-gaben an.
– Nein, mein Lieber, das glaube ich nicht. Nehmen Sie daserst einmal so hin. Warten Sie, bis der nächste Vergleichkommt.Bis vor einigen Jahren gab es die Richtlinie 2078 derEuropäischen Union. Diese Richtlinie beinhaltete, dassman Geld für Umweltmaßnahmen im Bereich der Land-wirtschaft ausgeben konnte, Herr Minister Miller. In Bay-ern, in Baden-Württemberg und – um nicht nur die west-deutschen Länder zu nennen – in Sachsen
– bei Thüringen weiß ich es im Moment nicht – sind über400DM je Hektar ausgegeben worden. In Schleswig-Hol-stein wurden 31 DM pro Hektar ausgegeben,
in Niedersachsen 29 DM pro Hektar. Stellen Sie sich bittenicht hier hin und sagen, Sie wollten eine Agrarwende,sondern sagen Sie das erst einmal Ihren roten und grünenFreunden, damit sie das machen, was sie bei Ihnen ma-chen können.
Herr Kol-
lege Carstensen, kommen Sie bitte zum Schluss.
HerrPräsident, ich habe es schon gemerkt. Ich konnte meinefantastisch vorbereitete Rede zur Seite legen.
Ich glaube, es war notwendig, auf einige Punkte hinzu-weisen.
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Frau Ministerin Künast, hier hat niemand etwas gegenökologischen Landbau.
Der ökologische Landbau verzeichnet einen Boom. Vielehaben aber etwas dagegen, dass dieser Boom zusätzlichunterstützt wird und dass dieser dazu führt, dass 97 bis98 Prozent unserer Landwirte durch Äußerungen, wie Siesie im „Stern“ gemacht haben, diskreditiert werden.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Matthias Weisheit von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Ge-
schätzte Kolleginnen und Kollegen! Das lief mal wieder
so ab, wie es zu erwarten war.
Als ich den Antrag der F.D.P.-Fraktion gelesen habe, habe
ich mich gewundert. Der Kollege Heinrich brennt hier ein
Feuerwerk an Negativäußerungen über die Regierung und
die Koalition ab;
dies geht beim Kollegen Miller nahtlos weiter.
Bei den Kollegen Carstensen und Ronsöhr habe ich oh-
nehin nichts anderes erwartet. Ganz am Schluss kommt in
Ihrer Rede eine Auflistung all der Forderungen Ihres An-
trages, die wir, seit wir an der Regierung sind, in Brüssel
umzusetzen versuchen.
– Natürlich. – Diese wurden vorher niemals angegangen.
Erst einmal muss alles niedergemacht werden, um danach
flugs dieselben Forderungen zu stellen,
um dabei gewesen zu sein, weil Sie genau wissen, dass
das, was die Regierung als Agrarwende bezeichnet – ich
bezeichne es eher als Neuorientierung der Agrarpolitik –,
in Brüssel und bei uns durchgesetzt werden kann. Da kön-
nen Sie schreien und lamentieren, soviel Sie wollen.
Dieser Agrarbericht bietet die Chance dazu, das zu tun,
was die Opposition gemacht hat. Er bietet aber auch die
Chance, ein wenig in die Zukunft zu blicken.
Die BSE-Krise und die anschließenden öffentlichen
Diskussionen um BSE haben deutlich aufgezeigt, dass es
eine riesige Diskrepanz gibt zwischen dem, was sich eine
große Mehrheit der Bevölkerung und der Verbraucher un-
ter landwirtschaftlicher Lebensmittelproduktion vorstellt,
und den Erwartungen, die sie an die Landwirtschaft hat,
sowie der Realität. Diese Diskrepanz ist durch BSE das
erste Mal sehr deutlich geworden. Daraus gilt es Konse-
quenzen zu ziehen. Ich will nicht darüber philosophieren,
welche Gründe diese Diskrepanz hat und wer dafür Ver-
antwortung trägt. Tatsache ist, dass wir die Agrarpolitik in
der Zukunft so gestalten müssen, dass die Verbraucher-
wünsche nach höchster Sicherheit der Lebensmittel er-
füllt werden und dass die Produktionsprozesse vor allem
in der Tierhaltung und der Fütterung den ethischen Maß-
stäben genügen, die in der Bundesrepublik nun einmal
höher sind als anderswo. Dies gilt auch für die Tier-
schutzmaßstäbe. Das bedeutet, es darf in Zukunft kein
Tiermehl mehr im Futter geben.
Wenn Sie den Erfolg, dass nicht am 30. Juni dieses Jah-
res, sondern erst am 31. Dezember des nächsten Jahres
wieder neu über das Tiermehl geredet wird und sein Ein-
satz bis dahin verboten bleibt, auch mithilfe der „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“ – was soll sie auch anderes
schreiben, es ist schließlich Ihre Zeitung –
niederreden wollen, dann tun Sie genau das, was Sie auch
gegenüber den Bauern immer tun: Sie malen Schwarz und
sagen, es gehe nicht mehr schlimmer. Sie behindern damit
jeglichen Fortschritt und jegliche Zukunftsorientierung.
Herr Kol-
lege Weisheit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Carstensen?
Nein, ich mag heutenicht. – Es darf, wie gesagt, um diesen Verbraucherwün-schen gerecht zu werden, kein Tiermehl mehr im Futtergeben, und zwar auch über 2003 hinaus nicht. Dafür wer-den wir uns einsetzen. Ich bin mir sicher, dass wir dasauch durchsetzen.
– Nicht „oh, oh“, sondern da bin ich mir sicher, Uli.Es muss eine offene Futtermitteldeklaration geben undeine Positivliste verbindlich werden. Die Antibiotikamüssen verschwinden, und zwar früher als 2005. Wennman im Wissen darum, wie langsam sich die Schnecke EUbewegt, früher damit angefangen hätte, mit Nachdruckauf EU-Ebene zu verhandeln, dann wären wir vielleichtheute schon so weit. Aber es ist eben erst recht spät damitbegonnen worden. Dass inzwischen unsere Bauern – dashat die Waltraud eben schon gesagt – als Marktwirt-schaftler schon selber darauf verzichten, ist doch hervor-ragend. Dann müssen wir das nur noch für die anderenverbieten. Wir können mit einem deutschen bzw. regio-nalen Qualitätssiegel unsere Produktion zertifizieren und
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erreichen dadurch einen Wettbewerbsvorteil für die Be-triebe. Auf diesem Weg befinden wir uns.Die Tierhaltungsformen müssen den hohen An-sprüchen der Bevölkerung gerecht werden. Eine geglie-derte Kulturlandschaft, die Pflege von Natur, die Sorgefür Artenvielfalt und sauberes Wasser und ein möglichstgeringer Einsatz von Chemie sind weitere Ansprüche derGesellschaft, denen Agrarpolitik stärker als bisher gerechtwerden muss. Zukünftig gilt es, hierfür Geld auszugeben.Der „mid term review“ der EU-Agrarpolitik bietet hierfüreine große Chance, die ja nicht unbeträchtlichen Steuer-mittel der EU endlich dafür zu verwenden, gesellschaft-lich gewollte Leistungen der Landwirtschaft und nichtwie bisher Produkte angemessen zu entlohnen.Die bisherige Logik des Preisausgleichs führte doch zudem auch sozialpolitisch unverträglichen Zustand, dassdiejenigen Landbewirtschafter – ich wähle das Wort mitAbsicht – mit den besten Böden und den günstigstenStrukturen den Löwenanteil der Ausgleichszahlungenkassierten. Das ist die Fehlallokation, Peter Harry, von derdie Rede war. Für die Bewirtschaftung der besten Bödenmit den günstigsten Voraussetzungen und dem niedrigstenAufwand bekommt man die höchsten Ausgleichszahlun-gen. Das ist die bisherige Praxis der EU-Agrarpolitik. Ge-nau die muss geändert werden.
– Das ist so.
– Natürlich. Diejenigen, die unter schwierigsten Bedin-gungen – zum Beispiel bei uns im Allgäu, Herr MinisterMiller, oder im Bayerischen Wald – Kultur- und Erho-lungslandschaften pflegen und damit eine sehr wichtigeund gesellschaftlich gewollte Leistung erbringen, bekom-men von der EU nur die Brosamen, die übrig bleiben, undvom Land nur dann etwas drauf, wenn es sich das leistenkann – es ist schön, dass Bayern es sich leisten kann.Letztendlich muss es zum Grundprinzip werden, dass dieEU-Milliarden für diese Leistungen und nicht mehr für andie Produktion gekoppelte Ausgleichszahlungen ausgege-ben werden.Die zweite Säule der Agenda stellt einen ersten Schrittin diese Richtung dar, sie muss aber weiter ausgebaut wer-den, da sie bisher zu knapp ausgestattet ist. Es gibt viel zuviele bürokratische Hemmnisse, um diese Idee um-zusetzen. Das trifft auch auf die Modulation zu, die wirheute mit unserem Antrag beschließen werden. Wenn aberso viel Bürokratie von Brüssel verlangt wird, ist das unge-heuer schwierig. Deswegen wird sich auch die Summe inGrenzen halten, die wir für die Modulation einsetzen kön-nen. Selbstverständlich muss da in Brüssel noch einigesbewegt werden, um hier Lockerungen zu erreichen und an-dere Schwerpunkte zu setzen. Die Bundesregierung undwir als Fraktionen arbeiten aber daran, indem wir in Ge-sprächen mit unseren Kollegen in Frankreich, Großbritan-nien und Dänemark über diese Probleme versuchen, eineVeränderung der Einstellung hinzubekommen.
Jetzt muss ich einmal nachschauen, was ich sagenwollte.
– Nein, jetzt reizt ihr mich aber gewaltig. – Ich möchtenoch etwas zu dem Problem der Kulturlandschafts-pflege, die zu entlohnen ist, sagen. Das wird bisher immerals ein Punkt angesehen, der eigentlich nicht notwendigist, und man sagt: Über den Preis für die Produkte wirddas Einkommen erzielt und das andere geht nebenbei.
– Hier stimme ich mit euch ausdrücklich überein, UliHeinrich,
aber eure bisherige Politik hat dem natürlich nicht ent-sprochen.
– Weil sie nicht vorbereitet war.
– Jetzt rede nicht so daher. – Die Agenda 2000 war einEinstieg – das habe ich gerade gesagt – und es muss nochviel weiter gehen.
– Wir konnten es gar nicht vorbereiten. Ihr wart vorher inder Regierung. Die war nicht vorbereitet. Eure Regierunghat dafür gesorgt, dass anstatt einer Gründlandprämiediese sinnlose Silomaisprämie wieder eingeführt wordenist. Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit derAgenda 2000.
– Hör doch endlich einmal auf damit.
– Nein, wir waren erst kurz an der Regierung, als wir dasverhandelt haben. Ihr habt sie nicht vorbereitet. Das ist derspringende Punkt.
Jetzt zwingt ihr mich aufgrund eurer Zwischenrufe,zum Schluss zu kommen.Nun sind wir an der Regierung. Die Regierung und dieFraktion bereiten diesen „mid term review“ auf allen Ebe-nen hervorragend vor. Wir werden dafür sorgen,
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dass die EU-Milliarden und das Steuergeld in Zukunft fürgesellschaftlich gewollte Leistungen der Landwirtschaftund nicht für Produkte ausgegeben werden.
Dann brauchen das die Länder auch nicht mehr in demgroßen Maße wie bisher zusätzlich zu finanzieren, son-dern dann wird das aus der EU-Kasse finanziert.Da ihr immer so auf Bayern und Baden-Württembergabfahrt, möchte ich jetzt noch auf einen Punkt zu sprechenkommen. Vorhin wurde der Strukturwandel bejammert.Woran liegt es denn, dass Baden-Württemberg und Bay-ern heute dieses Geld ausgeben können? Das liegt daran,dass in den vergangenen 20 Jahren in der Gesamtwirt-schaft dieser beiden Länder ein massiver Strukturwandelhin zum Guten stattgefunden hat.
Wenn der nicht stattgefunden hätte, dann wären die Län-der noch heute Empfängerländer. Genauso ist es. Deswe-gen muss Strukturwandel auch in der Landwirtschaftstattfinden.Herzlichen Dank.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Peter
Harry Carstensen.
Herr
Präsident! Erstens. Ich kann auch andere Zeitungen zitie-
ren. Wenn es der Kollege Weisheit gerne möchte, zitiere
ich aus dem „Spiegel“, der nun wirklich nicht die Zeitung
der CDU ist.
Zweitens. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Er-
klärung, was die kontraproduktive Fehlallokation ist.
Drittens, sage ich aber, Kollege Weisheit, ist es nicht
richtig, dass derjenige mit den besten Böden und der bes-
ten Struktur die meisten Flächenprämien bekommt. Die
Flächenprämien waren Preisausgleichszahlungen und
wurden nach dem durchschnittlichen Ernteertrag berech-
net. Ich kann dazu feststellen, dass zum Beispiel in
Schleswig-Holstein die Flächenprämie nach einem
Durchschnitt von 72 Doppelzentner berechnet wird. Die-
jenigen, die gute Böden und gute Strukturen haben sowie
einen guten Ertrag etwa von 100 Doppelzentner erwirt-
schaften, bekommen wesentlich weniger und diejenigen,
die schlechte Böden und schlechte Strukturen haben, be-
kommen wesentlich mehr. Insofern ist das, was Sie gerade
gesagt haben, falsch.
Zur Erwi-
derung hat der Kollege Weisheit das Wort.
Nein, es gibt nichts zu ent-
schuldigen. Meine Ausführungen gelten im Prinzip trotz-
dem. Wenn Schleswig-Holstein nicht von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht hat, dass das Land in Regionen einge-
teilt wird, wie das andere Bundesländer getan haben, und
einen Durchschnittsertrag für das gesamte Land berech-
net, dann mag das dort stimmen, aber nur dort.
Ich schließedie Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/5326 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das Haus ist damiteinverstanden. Dann ist so beschlossen.Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, undzwar zunächst zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6346. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung derPDS angenommen.Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6347 feder-führend an den Ausschuss für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung anfolgende Ausschüsse zu überweisen: Finanzen, Wirtschaftund Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Gesundheit,Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Angelegen-heiten der Europäischen Union und an den Haushaltsaus-schuss. – Das Haus ist damit einverstanden. Die Überwei-sung ist so beschlossen.Die Entschließungsanträge der Fraktion der F.D.P. aufDrucksachen 14/6343 und 14/6345 sollen überwiesenwerden: zur federführenden Beratung an den Ausschussfür Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaftund zur Mitberatung an die Ausschüsse für Wirtschaft undTechnologie, Arbeit und Sozialordnung, Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit. – Auch dies ist so be-schlossen.Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5580.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-fehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion derCDU/CSU auf der Drucksache 14/5222 mit dem Titel„Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein – Zu-kunftsfähige Landwirtschaft ermöglichen – Gegen BSEmit einem vernetzten Bekämpfungsplan vorgehen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und PDS
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gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung derF.D.P. angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksa-che 14/5228 mit dem Titel „Neuausrichtung der Agrarpoli-tik: Offensive für den Verbraucherschutz – Perspektiven fürdie Landwirtschaft“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 4 c. Wir kommen zur Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5908.Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des „Vorschlags füreine Verordnung des Rates über die gemeinsame Markt-organisation für Zucker“, eine Entschließung anzuneh-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. beiEnthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 4 d. Der Ausschuss empfiehlt un-ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache14/5909 die Annahme des Antrags der Fraktionen vonSPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4544mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklung für ländlicheRäume“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Das ist ja langweilig: Im-mer dieselben Abstimmungsverhältnisse!
Also: Angenommen mit den Stimmen von SPD undBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen vonCDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/5080 mit dem Titel „Länd-lichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit dem gleichen Stimmenergebnis wie soeben ange-nommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Berichtsder Bundesregierung auf Drucksache 14/4855 mit demTitel „Politik für ländliche Räume: Ansätze für eine inte-grierte regional- und strukturpolitische Anpassungsstrate-gie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Eshat doch gewirkt, was ich gesagt habe.
Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenom-men.Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird Überweisung derVorlage auf Drucksache 14/5900 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist die Über-weisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis h sowie dieZusatzpunkte 2 a und 2 b auf:29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 2000/52/EG der Kommissionvom 26. Juli 2000 zur Änderung der Richtlinie80/723/EWG über die Transparenz der finanziel-len Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten
– Drucksache 14/6280 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzungdes Abkommens vom 9. September 1994 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland undMalta über den Luftverkehr und zu dem Proto-koll vom 27. Mai 1999 zwischen der Regierungder Bundesrepublik Deutschland und der Re-gierung des Staates Katar zum Abkommen vom9. November 1996 über den Luftverkehr– Drucksache 14/6109 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzeszur Änderung des Medizinproduktegesetzes
– Drucksache 14/6281 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheitd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereini-gung offener Fragen des Rechts an Grundstücken
– Drucksache 14/6204 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaftAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Angelegenheiten der neuen Ländere) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Regelung desSchutzes gefährdeter Zeugen– Drucksachen 14/638, 14/6279 –
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters17258
Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendf) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörgvan Essen, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Ergänzung des Vermögensgesetzes
– Drucksache 14/5091 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Angelegenheiten der neuen LänderHaushaltsausschussg) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeidiLippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDSVölkerrechtliche Ächtung von Munition, dieUran oder andere radioaktive Elemente enthält– Drucksache 14/5509 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfeh) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Christine Lucyga, Annette Faße, Gerd Andres,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Kerstin Müller ,Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNENSchiffssicherheit auf der Ostsee verbessern– Drucksache 14/6211 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaftAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrena) Erste Beratung des von den Fraktionen derSPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS einge-brachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigs-ten Gesetzes zur Änderung des Abgeordne-tengesetzes– Drucksache 14/6311 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkNiebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. HeinrichL. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der F.D.P.Beschäftigung älterer Arbeitnehmer för-dern und Einstellungshindernisse abbauen– Drucksache 14/5579 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzungEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-sen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6311, Zusatz-punkt 2 a, soll, abweichend von der Tagesordnung, nichtan den Haushaltsausschuss überwiesen werden. – DasHaus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis j, 26 sowiedie Zusatzpunkte 3 a bis c auf. Eine Aussprache ist hierebenfalls nicht vorgesehen.Tagesordnungspunkt 30 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. De-zember 1999 zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Republik Panama überden Luftverkehr– Drucksache 14/4988 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
– Drucksache 14/6123 –Berichterstattung:Abgeordneter Horst Friedrich
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 14/6123, den Gesetzentwurfanzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen möchten, sich zu erheben. – Stimmt jemanddagegen? – Enthaltungen? – Kollege Ronsöhr, möchtenSie sich enthalten?
– Das ist gut. – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 30 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters17259
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai1997 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung der Repu-blik Estland über den Luftverkehr– Drucksache 14/4989 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
– Drucksache 14/6124 –Berichterstattung:Abgeordneter Horst Friedrich
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 14/6124, auch diesen Gesetz-entwurf anzunehmen. Ich bitte noch einmal diejenigen,die zustimmen möchten, sich zu erheben. – Gegenstim-men? – Keine Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ein-stimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 30 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zuden Verträgen vom 27. April 1999 und 8. Juli1999 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und der Schweizerischen Eidgenossen-schaft über grenzüberschreitende polizeilicheZusammenarbeit, Auslieferung, Rechtshilfe so-wie zu dem Abkommen vom 8. Juli 1999 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland undder Schweizerischen Eidgenossenschaft überDurchgangsrechte– Drucksache 14/5735 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 14/6333 –Berichterstattung:Abgeordnete Günter Graf
Sylvia BonitzMarieluise Beck
Dr. Max StadlerUlla JelpkeDer Innenausschuss empfiehlt auf der Drucksache14/6333, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, umihr Handzeichen.
– Setzen, Herr Kollege Uldall.Also noch einmal: Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen möchten, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen vonSPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Gegenstim-men der PDS und Enthaltung der F.D.P. angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen möchten, sich jetzt zu erhe-ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist mit dem gleichen Ergebnis wie in derzweiten Beratung angenommen.Tagesordnungspunkt 30 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen zwischen der EuropäischenGemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einer-seits und der Schweizerischen Eidgenossen-schaft andererseits über die Freizügigkeit– Drucksache 14/6100 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung
– Drucksache 14/6336 –Berichterstattung:Abgeordnete Doris BarnettDer Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehltauf der Drucksache 14/6336, den Gesetzentwurf anzu-nehmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte,hebe bitte die Hand. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einmütig an-genommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, denbitte ich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 30 e:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umstellung von Gesetzen und anderen Vor-schriften auf dem Gebiet des Gesundheitswesensauf Euro
– Drucksache 14/5930 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 14/6306 –Berichterstattung:Abgeordneter Eike Maria HovermannDer Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksa-che 14/6306, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wermöchte zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen worden.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte die zustimmenden Kol-leginnen und Kollegen, sich zu erheben. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch indritter Beratung einstimmig angenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters17260
Tagesordnungspunkt 30 f:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 10. März 2000 zwi-schen derBundesrepublik Deutschland und derRepublik Korea über soziale Sicherheit– Drucksache 14/6110 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 14/6334 –Berichterstattung:Abgeordnete Ekin DeligözDer Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehltauf Drucksache 14/6334, den Gesetzentwurf anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die zustimmen möchten, um das Hand-zeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf indritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 30 g:Beratung der Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusseszu einem Wahleinspruch gegen die Gültigkeitder Berufung eines Listennachfolgers gemäߧ 48 Bundeswahlgesetz
– Drucksache 14/6201 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Wolfgang BötschDer Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6201, denWahleinspruch zurückzuweisen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-nommen.Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 30 h bis30 j zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 30 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 274 zu Petitionen– Drucksache 14/6183 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 274 ist mit den Stimmendes Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 30 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 275 zu Petitionen– Drucksache 14/6184 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Auch diese Sammelübersicht ist bei Enthaltungder PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 30 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 276 zu Petitionen– Drucksache 14/6185 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 276 ist gegen die Stimmen der PDSmit den Stimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 26:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines SechstenGesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
– Drucksache 14/5943 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 14/6335 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette KrammeWer stimmt zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen undCDU/CSU gegen die Stimmen der F.D.P. und bei Enthal-tung der PDS angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritterLesung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in derzweiten Beratung angenommen.Zusatzpunkt 3 a:Weitere abschließende Beratungen ohne Ausspra-che
a) Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Errichtung einer„Stiftung Jüdisches Museum Berlin“– Drucksache 14/6028 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Kultur und Medien
– Drucksache 14/6331 –Berichterstattung:Abgeordneter Eckhardt Barthel
Dr. Norbert Lammert
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters17261
Dr. Antje VollmerHans-Joachim OttoDr. Heinrich Fink
– Drucksache 14/6356 –Berichterstattung:Abgeordnete Steffen KampeterHans Georg WagnerOswald MetzgerJürgen KoppelinDr. Uwe-Jens RösselDazu darf ich mitteilen, dass es eine Erklärung mehre-rer Abgeordneter nach § 31 der Geschäftsordnung gibt,und zwar der Abgeordneten Norbert Lammert,CDU/CSU, Bernd Neumann , CDU/CSU,Hartmut Koschyk, CDU/CSU, Anton Pfeifer, CDU/CSU,Margarete Späte, CDU/CSU, Erika Steinbach, CDU/CSU, Rita Süssmuth, CDU/CSU, Hans-Joachim Otto,F.D.P. Die Erklärung wird zu Protokoll genommen.1)Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt, denGesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen möchten, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiterBeratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/DieGrünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU undF.D.P. angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, denbitte ich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit demgleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratungangenommen.Zusatzpunkt 3 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umstellung der umweltrechtlichen Vorschrif-
– Drucksache 14/5641 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 14/6351 –Berichterstattung:Abgeordnete Ulrich KelberMarie-Luise DöttWinfried HermannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterIch bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen möchten, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,wenn Sie zustimmen möchten. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Zusatzpunkt 3 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vor-schriften– Drucksache 14/5944 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 14/6350 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard Brinkmann
Volker KauderVolker Beck
Rainer FunkeDr. Evelyn KenzlerWer möchte dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in dritter Beratung angenommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der F.D.P.Haltung der Bundesregierung zu den erneutkorrigierten Wachstumsprognosen der deut-schen Wirtschaftsinstitute und den daraus re-sultierenden FolgenIch gebe für die antragstellende Fraktion dem KollegenRainer Brüderle das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! „Die Konjunktur schmiert ab“, schreibt„DER SPIEGEL“ von diesem Montag. „Inflationsein-bruch in der Euro-Zone“, titelt die „Financial TimesDeutschland“ am Dienstag. „Regierung rechnet mit Null-wachstum“, steht in der „Welt“ vom Mittwoch. „Progno-
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters17262
1) Anlage 2sen im Sturzflug“, lautet die Schlagzeile in der „BerlinerMorgenpost“ von heute.
Jeden Tag gibt es eine neue Hiobsbotschaft – Sie verste-hen es anscheinend nicht – von der Konjunktur- undPreisfront. Das ist die Lage im Sommer 2001 in Deutsch-land.Ich zitiere noch einmal den Kommentar in der „Finan-cial Times Deutschland“:Viel zu lange haben Politiker wie BundeskanzlerGerhard Schröder glauben machen wollen, dassder Abschwung nur ein Phantom ist, von bösen Pes-simisten herbeigeredet.Gleichzeitig wird die Bundesregierung auf dem EU-Gip-fel in Göteborg von den europäischen Regierungschefsfür ihre schlechte Wirtschafts- und Finanzpolitik geschol-ten, denn die lahme Ente Deutschland reißt ganz Euro-Land in eine Wachstumskrise. Was macht diese Regie-rung? Nichts! Grün-Rot leistet sich ein fröhliches „Weiterso!“. Der Kanzler schweigt und taucht ab.Wenn einmal Monopolminister Müller in einem An-flug von schonungsloser Ehrlichkeit vom „Nullwachs-tum“ spricht, wird er offensichtlich sofort zum öffentli-chen Widerruf und zur Selbstkritik bewegt. Jetzt erzähltHerr Müller wieder das Märchen von einem Wachstumvon 2 Prozent in diesem Jahr. Zuvor hat er das Märchenvon einem Wachstum von 2,75 Prozent erzählt. Aber wirbrauchen keine Märchentanten. Wir brauchen ganzeKerle und „Kerlinnen“, die den Kampf gegen die dro-hende Stagflation aufnehmen.
– Man muss dem Zeitgeist Rechnung tragen, Frau Kolle-gin.Diese sitzen aber offensichtlich nicht auf der Regie-rungsbank. Herrn Müller, Herrn Eichel, Herrn Riester underst recht Herrn Schröder scheint nicht zu interessieren,was die Menschen im Lande bewegt.
Heute ist, wie ich in der Zeitung gelesen haben, der Tagdes Schlafes. Vielleicht gönnt sich die Regierung ein aus-giebiges Schläfchen.
Ich kann im Interesse Deutschlands nur sagen: Aufwa-chen, Herr Bundeskanzler! Das ist Ihr Abschwung.
3,5 Prozent Inflationsrate in Deutschland und 3,4 Pro-zent in Euro-Land sind Werte, wie wir sie seit acht oderneun Jahren nicht kannten. Die Inflation kehrt offenbarzurück. Die Stichworte hierzu sind: Ökosteuer und Strom-umlage. In Deutschland haben wir eine saisonbereinigteZunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Das istkeine Bewertung von bösen Vertretern der Opposition.Herr Noé, der bis vor kurzem noch Staatssekretär der SPDim Bundesfinanzministerium war,
spricht das aus, was auch andere Konjunkturforscher sa-gen. Diese Entwicklung ist eine Art Frühindikator eineranstehenden Rezession.
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-schung sieht eine Rezessionsgefahr in Deutschland. DerChefvolkswirt der Deutschen Bank, Walter, sagt öffent-lich, dem Bundeskanzler werde sein Versprechen, dieArbeitslosigkeit auf bescheidene 3,5Millionen zu senken,um die Ohren fliegen. Die Wirtschaftsforschungsinstitutekorrigieren in Rekordzeit ihre Wachstumsprognosen. Wastun Sie? Sie tun nichts bzw. das Falsche. Sie erhöhen dieKrankenversicherungsbeiträge. Sie werden morgen dieMitbestimmung verschärfen. Diese Regelung werden Siedurchziehen
und den deutschen Mittelstand damit drangsalieren. Mor-gen Abend um 20 Uhr wird das Postmonopol in einerNacht-und-Nebel-Aktion verlängert und damit werdenZehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland aktivgefährdet.
Sie versündigen sich am Wirtschaftsstandort Deutsch-land.
Ich appelliere an die Regierung: Schauen Sie nicht wei-ter tatenlos zu, wie die Konjunktur bei uns immerschwächer, wie der Verfall erkennbar wird, wie die Stag-flation droht und eine Rezession nicht auszuschließen ist.Was wir brauchen, ist ein schnelles Handeln, ein Blitz-programm, und zwar besser heute als morgen.
Erstens. Grün-Rot muss die Steuerreformstufen vor-ziehen. Frau Scheel als Dampfplauderin erzählt uns dasGleiche. Natürlich wird es nicht gemacht, genauso wieRezzo Schlauch als Dampfplauderer etwas Richtiges vomArbeitsmarkt erzählt. Nur handelt keiner.Zweitens sollte der Beitrag zur Arbeitslosenversi-cherung so schnell wie möglich um einen Prozentpunktsinken. Das bringt eine Entlastung in Höhe von 13 Milli-arden DM.Drittens. Grün-Rot muss auf die mittelstandsfeindlicheund teure Verschärfung der Mitbestimmung, auf dienächste Stufe der die Inflation anheizenden Ökosteuerund auf die investitionsschädlichen neuen Abschreibungs-tabellen verzichten.
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Rainer Brüderle17263
Sie sehen, die Amerikaner haben gehandelt. Sie habenihre Steuerreform vorgezogen. Die Amerikaner bekommenin Kürze die ersten Steuerentlastungsschecks in die Hände.Die Amerikaner handeln und werden deshalb auch dieseKonjunktureinbrüche eher als wir bewältigen können.Sie können es täglich an den Währungsbörsen der Weltsehen: Der Wert des Euro spiegelt die Bewertung desEuro-Landes und insbesondere des größten Teils desEuro-Landes, von Deutschland, in der Welt wider.
Der Euro ist mit einem Wert von 1,18 US-Dollar gestar-tet. Jetzt dümpelt er bei 85 Cent herum.
Weil die Entwicklung draußen in der Welt genausoempfunden wird, sind seit der Einführung des Euro mehrals 400 Milliarden Euro aus dem Euro-Land abgezogenworden. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahressind aus Deutschland 80 Milliarden Euro abgeflossen undwoanders angelegt worden.
Herr Kol-
lege Brüderle, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Dies geschah, weil man
dieser Regierung nicht mehr zutraut, zu handeln. Deshalb:
Tun Sie es! Beschimpfen Sie nicht die Opposition, die
ihre Pflicht tut! Erfüllen Sie vielmehr Ihre Pflicht, damit
es in Deutschland nicht noch weiter abwärts geht.
Ich erteile
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmi-
nister der Finanzen, Karl Diller, das Wort.
K
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-men und Herren! Die von einigen Wirtschaftsforschungs-instituten vorgelegten neuen Prognosezahlen
lauten: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft prognosti-ziert statt wie im März 2,1 Prozent jetzt 1,3 Prozent, dasHamburger Weltwirtschaftsarchiv prognostiziert statt wieim März 2,3 Prozent jetzt 1,7 Prozent, Herr ProfessorRürup vom Sachverständigenrat prognostiziert eineSpanne von 1,6 bis 1,8 Prozent. Bemerkenswert ist an die-sen Zahlen im Prinzip nur eines, meine Damen und Her-ren:
Trotz der Verlangsamung des Wachstums sind die ge-nannten prognostizierten Zahlen von 1,6 bis 1,8 Prozentimmer noch deutlich höher als die durchschnittliche Stei-gerungsrate in Ihrer Regierungszeit, die in den Jahren1991 bis 1998 bei 1,3 Prozent lag.
Herr Brüderle, wäre er damals schon hier gewesen undhätte es jedes Jahr eine solche Steigerungsrate gegeben,wie er sie heute befürchtet und beklagt, hätte dies zum An-lass genommen, eine freudige Pressemitteilung zu ma-chen.
Dank unserer Wirtschaftspolitik erreichte das Wirt-schaftswachstum im letzten Jahr stolze 3 Prozent real.Dabei hatten wir schon im zweiten Halbjahr 2000 einekonjunkturelle Abschwächung mit Zuwächsen von nur0,3 Prozent im dritten und 0,2 Prozent im vierten Quar-tal. Im ersten Quartal dieses Jahres dagegen hat sichdiese Entwicklung nicht fortgesetzt; denn das Bruttoin-landsprodukt erhöhte sich um 0,4 Prozent gegenüberdem vorigen Quartal und übertraf damit die entspre-chenden Zuwächse in der zweiten Hälfte des letzten Jah-res. Schaltet man noch Kalendereinflüsse aus, lag dasbereinigte BIP um 2 Prozent höher als im ersten Quartaldes Jahres 2000.Die Entwicklung der aktuellen Konjunkturindikatoren– Geschäftsklima, Auftragseingänge, Produktion – liegtim Rahmen der Erwartungen der Frühjahrsprojektion derBundesregierung. Wir waren damals realistisch und ha-ben einiges von dem, was die Institute nun in ihren Pro-gnosen korrigieren, schon vorweggenommen.Es ist noch zu früh, eine Einschätzung des Wirtschafts-wachstums für das zweite Quartal vorzunehmen. Die meis-ten Konjunkturexperten gehen aber von einer Fortsetzungder Aufwärtsbewegung im weiteren Jahresverlauf aus;das gilt im Übrigen auch für das Kieler Institut für Welt-wirtschaft.Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen fürein Wachstum, das innerhalb des Bereichs unserer Pro-gnose liegt, sind weiterhin günstig, Herr Brüderle:Erstens. Die Auftragsbestände der Unternehmen lagenvon Januar bis April dieses Jahres um rund 3 Prozent überdem schon sehr hohen Niveau des Vorjahres.Zweitens. Die Produktionstätigkeit ist seit Jahresbe-ginn noch um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestie-gen.Drittens. Der Umfang der Exporte übertraf in den ers-ten vier Monaten dieses Jahres trotz weltwirtschaftlicherAbschwächung das hohe Niveau des Vorjahres real um– sage und schreibe – 11,5 Prozent.
Viertens. Die Kapazitätsauslastung im verarbeitendenGewerbe ist im langfristigen Bereich noch sehr hoch.Fünftens. Die langfristigen Nominalzinsen sind nied-rig.
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Rainer Brüderle17264
Sechstens. Die Lohnabschlüsse aus dem Vorjahr sindstabilitäts- und beschäftigungsorientiert.
Die wirtschafts- und finanzpolitischen Weichenstel-lungen der Bundesregierung tragen zu einer Stabilisie-rung der konjunkturellen Entwicklung bei; denn mit demNachlassen der durch Sonderfaktoren bedingten Preis-steigerungen im Verlauf des Jahres, Herr Michelbach,werden die positiven Effekte der Steuerreform zuneh-mend spürbar. Ich zitiere Professor Scheide vom Welt-wirtschaftsinstitut. Er sagte in einem Interview mit der„Süddeutschen Zeitung“ gestern als Antwort auf dieFrage, weshalb sich die Geldentwertung plötzlich be-schleunige, Folgendes:Es sind reine Sondereffekte: Benzin ist sehr teuer ge-worden, weil die Amerikaner auf dem RotterdamerMarkt eingestiegen sind und so den Preis in die Höhegetrieben haben. Hier gibt es bereits wieder eine ge-wisse Beruhigung. Und dann BSE und die Maul- undKlauenseuche: Wir wussten, dass es diese Seuchengibt, aber wie sehr dies die Preise antreibt, das konn-ten wir nicht ahnen.
Ohne diese Sondereffekte läge die Inflationsrate deutlichunter 1,5 Prozent. Die Auswirkungen dieser Sonderef-fekte werden bis Ende dieses Jahres auslaufen.Herr Brüderle, nach allem gibt es keinen Anlass, diekonjunkturelle Lage schwarz zu malen; wohl aber gibt esAnlass, über die Seriosität des Herrn Brüderle nachzu-denken;
denn Herrn Brüderles Blitzprogramm würde in das abso-lute Chaos führen. Er hat heute wiederholt, was er fordert.Den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung um ei-nen Prozentpunkt zu senken
würde bedeuten, dass die Bundesanstalt für Arbeit im Jahr14 000 Millionen DM weniger zur Verfügung hätte. Dasheißt, das Programm für eine aktive Arbeitsmarktpolitikmüsste um ein Drittel oder sogar um die Hälfte zusam-mengestrichen werden.
Das zöge Hunderttausende von zusätzlichen Arbeitslosennach sich. Das ist das Rezept von Herrn Brüderle.
Wenn man seiner Forderung folgte und aus dem Haushaltdes Bundes der Bundesanstalt für Arbeit 14 Milliar-den DM zuweisen würde, dann wäre der Haushalt desBundes sofort wieder verfassungswidrig.
Ich stelle fest: Herr Brüderle war als Wirtschaftsminis-ter meines Bundeslandes ein sehr seriöser Mann.
Er wurde in Rheinland-Pfalz Wirtschaftsminister, als un-sere Partei mit seiner dort eine Koalition eingegangenwar. Seitdem er hier ist, ist er leider Gottes von derwaigelschen Krankheit befallen, nämlich immer mehrSchulden zu machen. Das ist Ihr Rezept.
Außerdem fordert er jetzt, die Steuersenkungen für dasJahr 2005 auf das Jahr 2002 vorzuziehen. Das zu tun,würde bedeuten, dass Bund, Länder und Gemeinden imnächsten Jahr zusätzliche Einnahmeminderungen vonmehr als 45 000 Millionen DM verkraften müssten. Da-durch wäre nicht nur der Haushalt des BundeslandesRheinland-Pfalz verfassungswidrig; vielmehr wären auchdie Haushalte des reichen Bayern, des reichen Hessen unddes reichen Baden-Württemberg verfassungswidrig.
Das Gleiche gilt erst recht für den Bund. Ihre Rezepte sinddie Rezepte des Herrn Waigel, der von der Bevölkerungzu Recht abgelehnt wurde.
Schauen wir uns doch noch einmal an, was uns dieWirtschaftswissenschaftler empfehlen. Professor Scheidevom Kieler Institut für Weltwirtschaft ist im vorhin ge-nannten Interview gefragt worden:Was empfiehlt der Konjunkturforscher in dieser Si-tuation den Politikern?
Seine Antwort lautete:Die Abschwächung wurde nicht durch Fehler der Po-litik ausgelöst, deshalb gibt es auch keine solchen zukorrigieren. Unser Rat ist: Keine Hektik!Weiter heißt es:Der Rat an die Finanzpolitik heißt ebenfalls: Ruhebewahren!Genau das ist unsere Linie.Vielen Dank.
Für dieCDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege GunnarUldall.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Parl. Staatssekretär Karl Diller17265
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Wir haben eben gehört, wie Herr
Staatssekretär Diller versucht hat, die schlechten Wirt-
schaftsdaten und insbesondere die schlechten Wachs-
tumsraten zu verniedlichen. Herr Kollege Diller, Sie
können sicherlich viel darum herumreden. Nur eines kön-
nen Sie nicht machen, nämlich die renommierten
Wirtschaftswissenschaftler der Forschungsinstitute in
Deutschland als Kronzeugen Ihrer Politik benennen; denn
diese verurteilen einhellig die Politik, die Sie heute be-
treiben.
Insofern ist es geradezu eine Loriot-reife Nummer, wenn
Sie diejenigen, die Sie kritisieren, zu Ihrer Unterstützung
zitieren.
Fest steht: Die Steuerreform ist ein Fehlschlag gewe-
sen. Es hat nicht den erwarteten Konjunkturschub gege-
ben. 89 Prozent der deutschen Bevölkerung sagen, dass
sie die Auswirkungen der Steuerreform in ihrem Porte-
monnaie nicht oder nur in ganz geringem Maße spürten.
Der deutsche Arbeitsmarkt stagniert. Es hat keinen Sinn,
darum herumzureden oder es schönzureden. Es gibt nur
eines, was permanent steigt, nämlich die Preise.
Seit dem Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt
– das ist fast 20 Jahre her – hat es nie eine solch hohe In-
flationsrate wie in diesem Jahr gegeben. Damals stiegen
die Preise um 5 Prozent. Seit der Übernahme der Regie-
rung durch Gerhard Schröder kletterte die Preissteige-
rungsrate von 0,6 Prozent auf jetzt 3,5 Prozent. Als die
Regierungsverantwortung an die Sozialdemokraten ging,
herrschte Preisstabilität. Aber die Sozialdemokraten ha-
ben die Preisstabilität wiederum verspielt.
Hier wiederholt sich die Geschichte. Ich habe nachge-
lesen und festgestellt: Beim Antritt der SPD-Regierung
im Jahre 1969 machten die Preise einen Sprung nach
oben. Innerhalb der ersten drei Regierungsjahre der SPD
verdreifachte sich die Inflationsrate und stieg Mitte der
70er-Jahre – das war der traurige Höhepunkt – auf
7,1 Prozent. Mit einer einzigen Ausnahme hat es in den
13 Jahren SPD-Regierung nicht ein einziges Jahr gege-
ben, in dem die Preissteigerungsrate unter 3,5 Prozent
gelegen hätte. Genau dort sind wir jetzt wieder angekom-
men. Offensichtlich ist es so, dass eine Preissteigerungs-
rate von 3,5 Prozent der SPD-Mindestinflationssatz ist.
Eine solche Wirtschaftspolitik dürfen wir uns in Deutsch-
land nicht bieten lassen.
Dass es nicht so sein muss, haben wir in den 80er-Jah-
ren erlebt. Damals herrschte 16 Jahre lang faktische Preis-
stabilität, allerdings mit einer einzigen Ausnahme, die im-
mer wieder gerne angeführt wird, nämlich mit Ausnahme
des Jahres der deutschen Wiedervereinigung. Aber es ist
völlig klar, warum die Preise damals angestiegen sind: Als
die Mauer geöffnet wurde, haben die Menschen aus der
DDR, die jahre- und jahrzehntelang auf Autos, Telefon-
anschlüsse und Südfrüchte verzichten mussten, alles Ver-
säumte nachgeholt. Aber wir haben es fertig gebracht, die
Preissteigerungsrate sofort wieder zu senken. Insofern
haben wir Ihnen damals ein gut gemachtes Bett hinterlas-
sen, das Sie aber regelrecht verlottern ließen.
Dass Sie dies selber verursacht haben und eben nicht
die Ölscheichs oder die Entwicklung der US-amerikani-
schen Konjunktur daran schuld ist, kann man zum Bei-
spiel an der Entwicklung der Strompreise sehen. Es gibt
eine Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung, die Ökosteuer
und einen Aufschlag für erneuerbare Energien. Das alles
hat die Preise für Strom so nach oben getrieben, dass ein
Vierpersonenhaushalt zusätzliche Kosten in Höhe von
660 DM pro Jahr verkraften muss. Da kann ich nur sa-
gen: Egal, welche Erleichterungen Sie im Rahmen der
Steuerreform versprechen, Sie können die Mehrbelas-
tung nicht ausgleichen, treiben aber die Preise nach
oben. Das trifft wiederum vor allen Dingen die sozial
Schwachen.
Schauen wir uns einmal an, wer von den negativen Fol-
gen getroffen wird: Getroffen werden vor allem die Rent-
nerhaushalte. Die Rentner mussten im vergangenen Jahr
einen Kaufkraftverlust von 1 Prozent hinnehmen, in die-
sem Jahr kommen noch einmal 1,5 Prozent hinzu. Ich
kann nur noch einmal feststellen: Es betrifft immer die so-
zial Schwächsten.
Die Arbeitnehmerhaushalte werden in diesem Jahr ei-
nen realen Kaufkraftverlust von 1 Prozent zu verzeichnen
haben. Es kann sich jeder ausrechnen, dass sich die Ge-
werkschaften das nicht bieten lassen und in den nächsten
Tarifrunden kräftig zulangen werden. Auf diese Weise
wird genau das Problem verstärkt, das wir heute schon zu
beklagen haben, nämlich eine Stagflation. Die Konjunk-
tur und der Abbau der Arbeitslosigkeit stagnieren, aber die
Preise werden inflationiert.
Deshalb kann man nur sagen: Herr Bundeskanzler, ge-
ben Sie mit einer vernünftigen Politik hinsichtlich Ener-
gie, Steuern und Arbeitsmarkt endlich die richtigen Si-
gnale für eine gute Wirtschaftspolitik nach vorne.
Vielen Dank.
Ich gebe der
Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! HerrUldall, es ist ein bisschen übertrieben, wenn Sie sagen,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117266
Sie hätten uns ein nettes Bett hinterlassen. Sie haben unseinen gigantischen Schuldenberg hinterlassen.
Dieser Schuldenberg hat unsere Spielräume eingeengt,sodass wir das, was wir gerne tun würden, nicht mit dernotwendigen Geschwindigkeit tun können.
Das ist das Problem, wenn man eine verantwortungsvolleFinanzpolitik macht: Man muss die Umstände, die manvorfindet, berücksichtigen und kann nicht alle Wünschein dem Zeitrahmen erfüllen, den Sie sich vorstellen.
Gegenüber der letztjährigen Prognose haben wir beider konjunkturellen Entwicklung derzeit eine Wachs-tumsdelle. Das ist unbestritten und darüber muss mannicht diskutieren.
Die Forschungsinstitute legen fast jeden Tag neue Zahlenvor, die wir nicht ignorieren wollen und können. KarlDiller hat sehr richtig auf die Sondereffekte bei den Preis-steigerungen hingewiesen. Wir haben gesehen, dass derKonjunktureinbruch in den USA auch bei uns Wirkungzeigt. Das war zu erwarten, da der Anteil Deutschlands anden Ausfuhren in die USAim letzten Jahr 10,9 Prozent be-trug. Daran kann man sehen, welcher Zusammenhangzwischen der wirtschaftlichen Situation in den USA undden deutschen Ausfuhren in die USA besteht. Wenn we-niger Aufträge eingehen, wird in den entsprechenden Sek-toren ein geringeres Wirtschaftswachstum erwartet wer-den können. Das ist ein ganz normaler Effekt.
Auch wenn Sie so tun, als sei die Entwicklung eine ab-solute Katastrophe, muss man die Sache in einer vernünf-tigen und ruhigen Art und Weise betrachten. Wenn wir unsansehen, wie sich das Wachstum in den 90er-Jahren ent-wickelt hat, müssen wir feststellen, dass das durchschnitt-liche Wachstum in den Jahren 1992 bis 2000 bei 1,5 Pro-zent lag, obwohl wir im Jahre 2000 bereits ein Wachstumvon 3 Prozent hatten, was die Durchschnittszahlen ent-sprechend beeinflusst. Dagegen hatten wir zum Beispiel1996 – in Ihrer Regierungszeit, wenn ich Sie daran viel-leicht einmal erinnern darf – ein Wachstum von nur0,8 Prozent.
Die Gesamtsituation gibt Anlass zu ernsthaften Sorgeum den Arbeitsmarkt, etwa darüber, dass die Zahl der Ar-beitslosen nicht so schnell abgebaut werden kann, wie wiruns das wünschen. Wir haben aber Voraussetzungen fürbestimmte Effekte geschaffen, die erst mit einer späterenWirkung greifen: Die Steuerreform, die umgesetzt wor-den ist und in diesem Jahr eine massive Senkung des Steu-ersatzes für die Steuerzahler und die Wirtschaft gebrachthat, bedeutet ein Entlastungsvolumen von 45 Milliar-den DM in diesem Jahr.
Viele Steuerpflichtige, die einkommensteuerveranlagtsind und Jahresabschlüsse machen, haben diese Ab-schlüsse für das Jahr 2000 noch gar nicht gemacht. Des-wegen sind auch die Umfragen irreführend, in denenMenschen gefragt werden, ob sie die Steuerentlastungspüren. Sie können sie überhaupt noch nicht gespürt ha-ben, weil sie ihre Jahreseinkommensteuererklärung nochnicht abgegeben haben.
Dieser Effekt, der noch nicht zu spüren ist, muss abertrotzdem berücksichtigt werden.Von den kleinen und mittleren Unternehmen hört mandie klare Aussage, dass die Vorauszahlungen geringer ge-worden sind.
Die Überraschung darüber, wie sich die Anrechnung derGewerbesteuer auf ihre Einkommensteuer auswirkt, wardoch sehr groß. Man hat nämlich nicht geglaubt, dass beieinem durchschnittlichen Hebesteuersatz keine Gewerbe-steuer gezahlt wird.
Diese Wirkungen, die jetzt langsam wahrgenommen wer-den, hat man unterschätzt.Neben der Steuerentlastung gibt es noch andere Maß-nahmen, die sich auf die Nachfragesituation auswirken.Eine Maßnahme ist zum Beispiel, dass wir im nächstenJahr, also im Jahr 2002, knapp 5 Milliarden DM mehr fürdie Familienförderung ausgeben. Durch die zweite Maß-nahme, nämlich durch die Einführung der privaten Al-tersvorsorge im Jahr 2003, wobei die zu leistendenBeiträge steuerbefreit sind, entlasten wir die Arbeitneh-mer und Arbeitnehmerinnen zusätzlich um 5,5 Milliar-den DM. Diesen Effekt muss man ebenfalls betrachten.Herr Brüderle spricht immer das Beispiel USA an.Dazu will ich sagen: Wenn wir die vergleichbaren Datenaus den USAbetrachten, dann können wir feststellen, dasses gemäß den Bush-Vorschlägen in den USA eine Steuer-entlastung von rund 88 Milliarden DM im Jahr gibt.
Wenn wir die gleiche Berechnungsmethode auf unserLand anwenden, dann können wir feststellen, dass es beiuns eine Steuerentlastung von rund 100 Milliarden DMpro Jahr gibt.
Das heißt, wir brauchen den USA nicht zu folgen, indemwir die Steuerreform vorziehen, weil wir bereits einenVorsprung haben.
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Christine Scheel17267
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich habe im-mer eine Kombination zwischen einer soliden Haushalts-politik, dem Abbau der Nettoneuverschuldung bis zumJahr 2006 auf Null und der Frage, welchen Spielraum mangewinnen kann, hergestellt. Wenn man diesen Spielraumgewonnen hat, kann man über ein Vorziehen der Steuer-reform reden – aber nur dann. Das ist die Voraussetzung.Dazu stehe ich.Danke.
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Es ist schon erstaunlich, dass jede Konjunk-turprognose zu einer neuen Steuerdebatte führt. DieseKonjunkturprognose zeigt doch nur, dass insbesonderedie westdeutsche Wirtschaft nach wie vor extrem vom Ex-port abhängig ist. Ich will nur drei Gründe anführen,warum die wieder aufgenommene Debatte aus meinerSicht und aus der Sicht meiner Fraktion falsch ist.Erstens – das kann man in diesem Haus offenbar nichtoft genug betonen –: Wirtschaftsentwicklung über Steu-ern steuern zu wollen funktioniert einfach nicht.
Es ist doch eine Tatsache, dass bei den Kriterien für Inves-titionen die abstrakten Steuersätze unter „ferner liefen“rangieren. Diese Steuersätze rangieren in der Hitliste aufRang acht oder neun. Wir sollten uns daher nicht immerauf dieses Thema fokussieren.
Wo ist der Beweis dafür, dass niedrige Steuersätze zumehr Arbeitsplätzen führen? Wer garantiert eigentlich,dass niedrige Einkommen-, Spitzen- und Körperschaft-steuern tatsächlich zu neuen Arbeitsplätzen in Bitburgoder Löbau führen und nicht stattdessen auf den Maledi-ven verfrühstückt oder in Taiwan investiert werden?
– Herr Niebel, wir können gerne darüber reden. Ich glaubeaber, Sie sollten sich nur zu Themen äußern, von denenSie etwas verstehen.
Die Spielräume für mehr Beschäftigung durch einenernsthaft angegangenen sozialen und ökologischen Um-bau würden weiter verengt. Um das zu verhindern – nurdarum muss es der Wirtschaftspolitik gehen –, muss sieneue Märkte, die zukunftsträchtige Arbeitsplätze verspre-chen, per Ordnungsrecht definieren und bei ihrer Ausfül-lung auch helfen können. Politik, die auf das Prinzip Hoff-nung, also auf Steuersenkungen setzt, beraubt sich selbstder erforderlichen Mittel, um aktiv handeln zu können.
Damit bin ich bei einem zweiten Aspekt: Was nützeneinem jungen Wissenschaftler niedrige Steuersätze, wennihm schon das Geld für eine Existenzgründung fehlt, umso seine Ideen umsetzen zu können? Hinzu kommt dasVerhalten der Banken, das diese schon seit Jahren an denTag legen.
Wenn er das Geld zusammenbekommt, fehlen ihm Ge-schäftspartner und qualifiziertes Personal für die Ver-wirklichung seiner Geschäftsidee. Hier ist Politik gefragt.Sachverständige haben gestern in der Anhörung desWirtschaftsausschusses die Rahmenbedingungen fürmehr Arbeitsplätze genannt. Steuersenkungen warennicht darunter, obwohl Lothar Späth und auch derWirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt dabei waren. Siehaben aber genannt: Förderung der Umsetzung von Inno-vationen, Schaffung und Unterstützung von regionalenund internationalen Netzwerken sowie eine Bildungs-und Qualifizierungsoffensive, die diesen Namen tatsäch-lich verdient. Darüber, wie man dort öffentliches und pri-vates Geld am effizientesten einsetzen kann, um mehrArbeitsplätze zu schaffen und wie viel das kosten würde,sollten wir gemeinsam reden,
beispielsweise auf der Ministerpräsidentenkonferenz inden nächsten Tagen. Haushaltspolitik ist Gestaltungspoli-tik. Haushaltskonsolidierung wird zum Wahn, wenn sieZukunftschancen verbaut.Abschließend ein dritter Grund, warum diese Debatteeigentlich nur nervt. Ich stimme mit dem Bundeswirt-schaftsminister nicht häufig überein. Aber wenn er be-tont – wie er es vorgestern Abend im ZDF getan hat –, einFesthalten an den bis 2005 beschlossenen Spitzensteuer-sätzen sei auch eine Frage der Verlässlichkeit gegenüberden Unternehmen und Investoren, eine Frage der Pla-nungssicherheit, so kann ich das nur unterstützen. Werjede Woche die Illusion nährt, es könnte ja noch günstigerwerden, der behindert geplante Investitionen, weil er zuihrem Aufschub einlädt. Warum sollte jemand jetzt inves-tieren, wenn wir ihm ständig erklären, die Lage könnte inzwei, drei Monaten noch etwas besser sein? Dann wird ersein Geld parken und es dann einsetzen, wenn er meint,dass es so weit ist. In den zwei, drei Monaten passiert dannaber nichts. Das muss einfach einmal gesagt werden.
Aber vielleicht ist gerade das von den früheren Regie-rungsparteien – entgegen ihren öffentlichen Bekundun-gen – beabsichtigt.Ich will auch sagen, Frau Kollegin Scheel: Ich weiß,was man mit einzelnen Sätzen machen kann, wenn man
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Christine Scheel17268
sie aus dem Zusammenhang reißt. Dienlich war Ihr Vor-schlag, die Steuerreform vorzuziehen, nicht, zumindestnicht für die Diskussion innerhalb der Koalition.
– Herr Staffelt, ich übernehme gern Verantwortung – daswissen Sie doch –, auch für die Kollegin.Das gilt im Übrigen nicht nur für Einkommen- und Un-ternehmensteuer, sondern auch für die Ökosteuer. Auchwenn die jetzige Ökosteuer sozial ungerecht und ökolo-gisch wenig optimal ist – wovon wir nichts zurückneh-men –, ist festzuhalten: Wer wegen jedes Ausschlags anden Welterdölmärkten ihre Höhe infrage stellt, der be-raubt sie nicht nur ihrer letzten bescheidenen ökologischwie auch ökonomisch sinnvollen Lenkungswirkungen. Ermacht Politik auch endgültig zur Geisel weniger großerKonzerne. Auf diesem fatalen Weg ist selbst Rot-Grün mitseinem berüchtigten Verbändekonsensunwesen schonsehr weit fortgeschritten. Ich verweise nur auf den so ge-nannten Atomausstieg oder das Tauziehen um Kraft-Wärme-Koppelung. Kurzum: Rot-Grün muss tatsächlichumsteuern, aber bitte nicht in schwarz-gelbe Richtung.
Ich gebe
dem Kollegen Reinhard Schultz für die Fraktion der SPD
das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifellos ist essinnvoll, dass sich das Plenum über die wirtschaftlicheEntwicklung in Deutschland und in Europa unterhält.
– Wir diskutieren das selbstverständlich auch innerhalbder SPD-Fraktion und innerhalb der Koalition. ErheblicheAbweichungen von Prognosen müssen natürlich besorgtmachen und man muss zu einer Einschätzung kommen.Unserer Einschätzung nach ist es ein Problem, aber es istnicht Panik angesagt. Man sollte nicht in hektischeScheinaktivitäten verfallen und suggerieren, man könntemit fiskalpolitischen oder anderen staatlichen Mittelnkurzfristig etwas herbeiführen, wodurch die Prognose indiesem Jahr deutlich nach oben korrigiert werden könnte.Ich bin etwas verwundert darüber, Herr Brüderle – ichbin sehr gespannt darauf, was Herr Rexrodt sagen wird –,mit welcher Staatsgläubigkeit nun ausgerechnet die F.D.P.in eine solche Diskussion geht. Herr Rexrodt, der Erfin-der des großen klassischen Spruchs „Wirtschaft findet inder Wirtschaft statt“, lässt hier heute erklären, dass alleMittel der Steuer- und Haushaltspolitik in den Dienst ei-ner kurzfristigen konjunkturpolitischen Verbesserung ge-stellt werden müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn daseine oder andere davon im vergangenen Jahrzehnt, als dasWachstum deutlich niedriger war, als es jetzt ist, stattge-funden hätte.Wir sind davon überzeugt, dass wir im Schnitt derkommenden Jahre ein Wachstum von deutlich mehr als2 Prozent haben werden, sobald erstens Schwächen aufunseren Exportmärkten überwunden sein werden, die wirpolitisch kaum beeinflussen können – dies gilt insbeson-dere für den amerikanischen Markt –, sobald sich zwei-tens Sondereffekte im Bereich der Energiepreissteigerun-gen weitgehend neutralisiert haben werden – selbst wennsie auf hohem Niveau verblieben, führte dies nicht zu wei-teren vergleichbaren Steigerungen –, und sobald der Son-dereffekt im Nahrungsmittelsektor neutralisiert sein wird,wovon wir ebenfalls noch für dieses Jahr ausgehen.Ferner gehen wir davon aus, dass eine stetige, planbareund sichere Politik im Hinblick auf die Rahmenbedin-gungen für Wirtschaft und Wachstum viel wichtiger alskurzfristige Konjunkturprogramme ist. Unsere Steuerpo-litik führt schrittweise zu einer Entlastung von Bürgernund Wirtschaft; Jahr für Jahr wird dadurch mehr „freies“Geld in den Kreislauf gegeben. Wir haben eine Entlastungbei den Beitragssystemen.
Wir haben dazu beigetragen, dass Unternehmen sich we-sentlich leichter aufstellen können, was ihre Zugehörig-keit zu Unternehmensgruppen und den Verkauf von Be-teiligungen angeht, und dass Strukturreformen in derWirtschaft selber möglich werden in Bereichen, die zuvorsteuerlich belastet waren.Ich bin davon überzeugt, dass die Bemühungen derBundesregierung zur Flexibilisierung der Arbeitsmarkts-politik dazu beitragen werden, dass Arbeitslose vermitteltwerden können, wenn wir den Menschen auf ihre Situa-tion zugeschnittene Programme anbieten. Auch bin ichdavon überzeugt, dass eine Qualifizierungsoffensive undeine vernünftige Einwanderungspolitik bewirken werden,dass die seltsame, das Wachstum bremsende Schere zwi-schen relativ hoher Arbeitslosigkeit und Fachkräfteman-gel geschlossen werden wird.All dies geht nicht über Nacht. Wir haben hier einenriesigen Reformstau aus Ihrer Regierungszeit übernom-men,
den wir nun abarbeiten müssen. Damit sind wir seit gutzwei Jahren beschäftigt.
Nun ist erkennbar, dass wir nicht nur ein Lüftchendurchs Land wehen lassen, sondern die gesamte struktur-politische Kulisse dahin gehend verändern, dass stetigesWachstum möglich sein wird. Ich gebe hier dem Bundes-kanzler völlig Recht: Abgerechnet wird am Ende diesesJahres und am Ende der Wahlperiode.
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Rolf Kutzmutz17269
Sie werden dann erleben, dass stabile Wachstumsbedin-gungen, eine Entlastung des Arbeitsmarkts und Innova-tionen möglich werden. Das, was heute noch zu Recht kri-tisiert werden kann und was – übrigens mit Zustimmungunserer Bundesregierung; das war eine einstimmige Er-klärung der Regierungschefs – in Göteborg im Hinblickauf Deutschland ja auch kritisiert wurde, wird dann alseine Bilanz erscheinen, die ersichtlich macht, was aus derVergangenheit bis heute fortgeschrieben werden mussteund womit wir aufgeräumt haben.Deswegen appelliere ich an die vereinigte Opposition,insbesondere an die CDU/CSU, aber auch an die F.D.P.:Wirken Sie mit, gemeinsam mit uns das abzubauen, wasvon Ihnen an Reformstau aufgebaut worden ist! Entflam-men Sie keine Strohfeuer! Setzen Sie nicht auf eine kurz-fristig wirksame expansive Haushaltspolitik! Setzen Sienicht darauf, für kurzfristige Konjunkturerfolge die Ver-schuldung um zig Milliarden D-Mark in die Höhe zu trei-ben, wie Sie, Herr Brüderle, es eben vorgeschlagen haben,als Sie sich für das Vorziehen der nächsten Stufen derSteuerreform und das Absenken der Beiträge zur Arbeits-losenversicherung aussprachen! Machen Sie vielmehreine seriöse, planbare Politik! Dann stellt sich auch dau-erhaftes, arbeitsmarktwirksames Wachstum ein.Vielen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin Dagmar
Wöhrl.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Konjunkturforscher anden Wirtschaftsforschungsinstituten sind keine Berufs-pessimisten. Sie sind Wissenschaftler, die Daten zusam-menführen und unter Berücksichtigung volkswirtschaft-licher Regeln bewerten. So ist es eine gnadenloseUnverschämtheit,
wenn Sie die jüngsten Wachstumsprognosen der Institutevon 1,3 Prozent und 1,7 Prozent als „Wasserstandsmel-dungen“ abqualifizieren. Ich verstehe ja, meine liebenKollegen von der Koalition,
dass Sie Berufsoptimisten sein müssen. Aber wie hierKanzler Schröder und seine Kabinettskollegen die Wirt-schaftslage in Deutschland schönreden, ist weit mehr alsregierungsüblicher Optimismus. Sie stecken einfach denKopf in den Sand und wenn ein Minister hier die Wahr-heit zu sagen versucht, wird er ganz schnell wiederzurückgepfiffen.Was ist Fakt? – Fakt ist, dass unsere Wirtschaft krankt.Wenn es einen Kranken gibt, stellt man zunächst einmaleine Diagnose. Danach sucht man nach der Therapie. Wasmachen Sie? Sie weigern sich, überhaupt eine Diagnosezu stellen. Sie betreiben reine Realitätsverweigerung undschaden somit unserem Standort Deutschland.
Würden Sie eine Diagnose stellen, dann merkten Sieganz schnell, dass die jetzige Konjunkturschwäche zumgrößten Teil hausgemacht ist. Sie verweisen immer aufdas schwächere Wirtschaftswachstum in den USA. Dasaber erklärt nicht, warum wir mit unserem Wirtschafts-wachstum im europäischen Vergleich an letzter Stelle lie-gen. Das erklärt auch nicht, warum wir die Arbeitslosen-quote im europäischen Vergleich bei uns am langsamstenzurückgeht. Das erklärt auch nicht die Entwicklung auf ei-nem Gebiet, auf dem wir immer vorbildlich waren, näm-lich bei der Währungsstabilität. Das erklärt nicht, warumes jetzt im Mai zu einer Preissteigerung von 3,6 Prozentgekommen ist, was bei weitem über dem EU-Durch-schnitt liegt.Ich erinnere nur einmal an Folgendes: 1998, als wirendlich eine Phase hatten, in der es mit der deutschenWirtschaft wieder aufwärts ging – wir wissen, welcheSchwierigkeiten international im Hinblick auf das Wirt-schaftswachstum bestanden –, sagte Gerhard Schröder,seinerzeit noch Kanzlerkandidat, in einer Anmaßung oh-negleichen: „Dieser Aufschwung ist mein Aufschwung.“Jetzt kann man zu Recht sagen: Dieser Abschwung ist IhrAbschwung! Denn seit drei Jahren stellen Sie die Regie-rung. Jetzt liegt es an den von Ihnen getroffenen Fehlent-scheidungen.
Jetzt rächt es sich, dass Sie den Arbeitsmarkt mit derVerschärfung des Kündigungsschutzes, mit der Neurege-lung der 630-DM-Jobs, mit dem Gesetz zur Scheinselbst-ständigkeit, mit dem Teilzeitanspruch, um nur einige derRegelungen hier aufzuführen, noch unflexibler, noch star-rer gemacht haben.
Jetzt rächt es sich, dass Sie mit jedem Ihrer Gesetze denMittelstand immer weiter benachteiligen, besonders krassdurch die Steuerpolitik. Jetzt rächt es sich, dass Sie mit derÖkosteuer die kleinen Leute belasten und so die Binnen-konjunktur schwächen.
Jetzt rächt sich auch, dass wir einen Kanzler haben, dernoch vor einigen Monaten sagte, ein schwacher Euro seigut für unsere Wirtschaft, ohne zu erkennen, dass einschwacher Außenwert ebenso die Preisstabilität im Inlandgefährdet. Vor allem aber rächt sich – darauf möchte ichbesonders hinweisen – jetzt der Versuch, mit guter Launeeine sehr schwierige Lage retten zu wollen.Die jetzige Preissteigerung ist fünfmal höher als 1998.Das heißt: Das Realeinkommen der Normalverdienersinkt, die Ersparnisse werden entwertet. Das heißt:Höchstwahrscheinlich wird es im nächsten Jahr höhere
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Reinhard Schultz
17270
Tarifabschlüsse geben. Das heißt: Verteuerung der Arbeitim internationalen Vergleich.
Sie sollten langsam den Ernst der Lage erkennen. Set-zen Sie Rahmenbedingungen für ein dauerhaftes Wirt-schaftswachstum! Wir wollen und fordern keinen blindenAktionismus.
Wir wollen Rahmenbedingungen für ein dauerhaft stärke-res Wirtschaftswachstum.
Die Investitionsquote darf nicht weiter gesenkt werden.Wir brauchen eine Stärkung der Investitionsfähigkeit. Ichappelliere an Sie: Ziehen Sie die Steuerreform vor undlockern Sie endlich unseren verkrusteten Arbeitsmarkt!Einen ersten Schritt dazu können Sie morgen machen:Stimmen Sie der mittelstandsfeindlichen Novelle des Be-triebsverfassungsgesetzes, wie Sie sie geplant haben,nicht zu. Zeigen Sie endlich: Mittelständische Betriebe,wir wissen, dass ihr es seid, die die Arbeitsplätze schaf-fen. Mittelständische Betriebe, wir wissen, dass ihr Flexi-bilität braucht. Mittelständische Betriebe, wir wissen,dass ihr euch im internationalen Wettbewerb behauptenmüsst und dass ihr das nur könnt, wenn die Rahmenbe-dingungen stimmen.Ich hoffe, dass es in Zukunft nicht mehr heißen muss– wie es heute zu Recht in der „Berliner Zeitung“ steht –:Die ökonomische Kompetenz der rot-grünen Regie-rung erreicht mitunter die Stufe des Analphabetis-mus.Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich erteile
dem Kollegen Werner Schulz für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Wöhrl, die ökonomische Kompetenz dieser Regierung
reicht – von wegen Analphabetismus – allemal noch aus,
um Ihnen die Leviten zu lesen.
– Haben Sie Lust, etwas von mir zu hören, oder wollen Sie
die Rede mit Zwischenrufen begleiten?
Herr Brüderle hat die alte Platte aufgelegt: 630-Mark-
Gesetz, Ökosteuer, Scheinselbstständigkeit und Teilar-
beitslosigkeit im Rahmen des Betriebsverfassungsgeset-
zes bei hoher Inflationsrate ergeben Stagflation.
Das ist alles, was Ihnen einfällt. Wenn Sie an einer se-
riösen Diskussion interessiert wären – –
– Hören Sie doch einmal zu!
Liebe Kol-leginnen und Kollegen, ich bitte um etwas mehr Ruhe,damit der Redner zu seinem Recht kommt.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Rexrodt, wenn Sie von mir eine Antwort aufKonrad Weiß erwarten, dann hätten Sie für diese AktuelleStunde ein anderes Thema wählen müssen, denn ichwürde Ihnen darauf gern eine Antwort geben.
– Das hat was mit Politik zu tun.
– Überhaupt nicht!Sie können die wirtschaftliche Lage – die uns natürlichSorgen macht, denn die Prognosen werden permanentkorrigiert – nicht in einer Aktuellen Stunde abhandeln.Diese Debatte ist die Wiedervorlage sämtlicher Diskus-sionen, die wir vor drei Wochen in diesem Haus geführthaben.
Sie bringen kein einziges neues Argument. Es hat sichauch nichts verändert. Ich glaube nicht, dass wir gut bera-ten sind, im Wochenrhythmus, so, wie sich die Prognosenändern, oder so, wie Professor Walter in die Kristallkugelder Deutschen Bank schaut, diese Diskussionen zuführen. Natürlich ist es richtig, dass sich die Konjunkturabgeschwächt hat. Alle Experten warnen aber den deut-schen Staat davor, jetzt einen hektischen Aktionismus zubetreiben.Ihr Blitzprogramm – nun wahrlich kein Geistesblitz –hat in dieser Richtung nichts zu bieten. Herr Brüderle,wenn man beispielsweise Ihren Einschätzungen undEmpfehlungen gefolgt wäre – bei der Haushaltsberatungzum Haushalt 2001 haben Sie uns vorgeworfen, wir wür-den die Wachstumsraten zu gering ansetzen, wir wolltendas Geld den Bürgern nicht zurückgeben, wir wolltenSteuern und Nettokreditaufnahme nicht senken –, würdenwir uns jetzt in einer außerordentlich prekären Situationbefinden. Deshalb: Über Ihre Empfehlung, jetzt die Steu-erreform vorzuziehen, kann man natürlich reden. Es ist si-cher eine Möglichkeit, um solchen Phasen abgeschwäch-ter Konjunktur entgegen zu wirken.
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DagmarWöhrl17271
– Natürlich, das machen wir jetzt in der Aktuellen Stunde,so wie Helmut Kohl das in Ihrer Zeit in Aktuellen Stun-den entschieden hat. Ich kann mich bestens daran erin-nern: Die großen politischen Entscheidungen unter Bun-deskanzler Kohl, Wirtschaftsminister Rexrodt und solchgroßen Könnern der Wirtschaftspolitik sind in AktuellenStunden getroffen worden.
Was Sie hier verbreiten, ist Hysterie. Sie verbreiten ei-nen Zweckpessimismus. Sie wollen diese Regierung an-greifen und ihr vorwerfen, dass sie nichts tut. Sie ignorie-ren die gesamten Reformen, die in der letzten Zeitdurchgeführt wurden, von der Rentenreform über dieSteuerreform bis hin zur Haushaltskonsolidierung, undverschweigen, dass die Situation in Deutschland nochlange nicht so dramatisch ist wie in anderen Ländern.Schauen Sie sich einmal den letzten OECD-Bericht an!Dort wurden Korrekturen bezüglich der Erwartung desInlandsprodukts vorgenommen: USA 1,8 Prozent, Japan1,2 Prozent, Niederlande 0,9 Prozent, OECD 1,3 Prozentund Deutschland 0,5 Prozent. Bei der Produktivitätsent-wicklung haben wir im gesamten Euro-Raum momentanEinbußen zu verzeichnen, nur in Deutschland besteht im-merhin ein leichtes Plus.Ich möchte das nicht übertreiben: Ich nehme dieseDinge wirklich ernst und wir sind in der Tat gut beraten,diese Sache sehr aufmerksam zu verfolgen und zu über-legen, was man tun kann. Dies haben alle Redner – auchStaatssekretär Diller – herausgestellt. Aber Ihren blindenAktionismus mit der ewig gleichen Platte, was schieflaufe, sollten Sie uns wirklich ersparen. Das ist genausounfruchtbar und unproduktiv wie das Bemühen, derFrage nachzugehen, ob Herr Eichel oder Herr Müller mitihren Prognosen Recht haben. Am Ende dieses Jahreswerden wir über all den Unsinn, den Sie, Herr Brüderle,hier geredet haben, erneut debattieren; das verspreche ichIhnen.
Die Sache sieht dann etwas anders aus. Ich glaube, auchSie sehen dann etwas anders aus.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Günter Rexrodt.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herr Schulz, erlauben Sie mir einmalein ganz persönliches Wort: Die Lage ist ernst; man kannsich auch aufregen; aber wenn man in der Regierungs-verantwortung – das gilt auch für Ihre Partei – steht, sollteman nicht die Nerven verlieren.
Was Sie hier vorspielen, gibt kein überzeugendes Bild ab.Zur Sache haben Sie kein Wort gesagt. Sie haben sich nurüber unsere Vorschläge aufgeregt, aber zur Sache keinWort gesagt.
Die Lage ist in der Tat ziemlich besorgniserregend undauch der Kassenbericht, den Herr Diller hier abgegebenhat, hat nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Ak-tionen und Maßnahmen notwendig sind. Wir haben des-halb die Aktuelle Stunde beantragt, um die Gründe für diewirtschaftliche Schwäche aufzuzeigen und Korrekturenanzumahnen.
Das ist ja wohl legitim. Wir wissen sehr wohl – ich sagedas ganz nüchtern –, dass die Lage der Wirtschaft immervon vielen Datenkonstellationen abhängt. Wenn man sichaber die unsrige hier in Deutschland anschaut, kommt mansehr schnell zu dem Ergebnis, dass es sich um eine haus-gemachte Krise und um eine hausgemachte Schwächehandelt. Das muss gesagt werden.
Ich sage es nüchtern: Die Lage in der Weltwirtschaft istnicht besonders günstig, aber auch nicht besondersschlecht; ich denke dabei an die europäischen Nachbarn.Auch der Euro-Kurs – bei aller Problematik, die da an an-derer Stelle hereinkommt – stützt unsere Exportwirtschaftimmer noch.Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren durch eigeneAnstrengungen Enormes geleistet: in technologischerHinsicht, in der Einstellung auf die Globalisierung und inder Umstellung auf Dienstleistungen. In vielen Bereichenhaben wir Kostenführerschaft, dennoch bildet unser Landin Bezug auf die gesamtwirtschaftlichen Daten dasSchlusslicht.
Das gilt für die fünf Rahmendaten, die bei der Bewertungder Wirtschaft eine Rolle spielen. Wir sind Schlusslicht,die anderen stehen nicht so übel da: Die Probleme sindalso hausgemacht. Aus dieser Verantwortung können Siesich, meine Damen und Herren, nicht herausstehlen.
Ich sage Ihnen einmal ganz klar: 1998 hatte der Auf-schwung mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozenteingesetzt. Als Reaktion von der SPD kam darauf nur– ich erinnere mich noch –: „Das geht ja nur auf den Ex-port zurück.“ 1999 haben wir dann Ihr Desaster mit einemWachstum von etwas mehr als 1 Prozent erlebt.
Da hieß es von Ihrer Seite: „Das ist das Erbe von HelmutKohl“; dabei war dieses Desaster auf Ihr erstes Regie-rungsjahr zurückzuführen.
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Werner Schulz
17272
Dann kam das Jahr 2000; das war ein gutes Jahr. ZurHälfte ist dieses Ergebnis Ihnen anzurechnen – ich bin daganz fair –, weil die Steuerreform und andere Weichen-stellungen Anlass zu ein wenig Optimismus gaben. Zuranderen Hälfte geht dieses Ergebnis auf die günstige Ex-portkonjunktur zurück, die Sie vorher ja abgetan hatten.Aber das Ergebnis war in Ordnung. Für 2001 zeichnetsich wieder ein Desaster in Bezug auf das gesamtwirt-schaftliche Wachstum ab. Das hat nicht weltwirtschaftli-che oder europäische Gründe, sondern im Gegenteil eherfolgende: Sie haben die Stimmung in der deutschen Wirt-schaft kaputtgemacht und das Vertrauen verspielt.
Das fing bei der Steuerreform an, die ja von der Rich-tung her okay ist – darüber haben wir lange diskutiert –,aber den Mittelstand diskreditiert.
Das hat die Stimmung kaputtgemacht. Die Leute fühlensich geprellt. Dann kam diese unselige Ökosteuer, eineabwegige Steuer, die die Stimmung ganz und gar kaputt-gemacht hat. Nur darum geht es.
Dann haben Sie groß angekündigt, Sie wollten die Lohn-nebenkosten senken. Ich weiß, wie schwierig das ist, undwill hierbei auch angesichts des Vorhabens einer Gesund-heits- und Rentenreform ganz fair sein. Aber dieses Ver-sprechen, die Lohnnebenkosten für Arbeitgeber und Ar-beitnehmer zu senken, können Sie nicht einhalten.Der entscheidende Grund aber sind meines Erachtensdie Fehlentwicklungen im gesamten Bereich Arbeits-recht, Mobilität und Flexibilisierung der Arbeitswelt.
Das ist das große Handicap der deutschen Wirtschaft. Sietun da nicht nur nichts, weil Sie sich mit den Gewerk-schaften nicht anlegen wollen – die mussten ja für dieSteuer- und Rentenreform eingekauft werden –, sondernSie drehen das Rad sogar zurück.Dazu gehören die Verpflichtungen im Zusammenhangmit Teilzeitarbeit, das 630-Mark-Gesetz, alles das, waswir in Sachen Scheinselbstständigkeit erlebt haben,
die Rückführung des Schwellenwertes beim Kündigungs-schutz und vieles andere mehr.
Meine Damen und Herren, nun haben wir auch nochInflation. Die Inflation ist zu weiten Teilen hausgemacht.Ich rechne Ihnen dabei gar nicht den Sondereffekt, näm-lich die Verteuerung der Lebensmittel, an,
wohl aber, dass sie drauf und dran sind, 40 Prozent des li-beralisierten Energiemarktes in die Regulierung zurück-zuführen. Das führt zusammen mit der Ökosteuer zu einerVerteuerung.
–
Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind außerhalb derRedezeit!)Mein letzter Satz, Herr Präsident. Während andereLänder ihr Arbeitsrecht flexibilisieren und eine Mobili-sierung in der Gesellschaft herbeiführen, fällt uns eingroßes probates Mittel ein: Deutschland erfindet das Do-senpfand.
Das Dosenpfand – 1,5 Milliarden DM werden so zusätz-lich abgeschöpft – wird unsere Probleme lösen. Dosen-pfand und eine Verlängerung des Briefmonopols – das istdie deutsche Wirtschaftspolitik im Tagesablauf. So rich-ten Sie die Wirtschaft zugrunde und machen Sie die Stim-mung kaputt! Das muss ein Ende haben.Danke.
Für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Nina Hauer das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damenund Herren! Lieber Herr Rexrodt, es ehrt Sie, dass Sie amSchluss Ihres Redebeitrages über Ihre Ausführungen sel-ber lachen mussten. Es ist hier ohnehin immer nett mit Ih-nen.
Herr Brüderle, der Hang zum staatlichen Interventio-nismus ist offensichtlich derzeit eine Marktlücke in derpolitischen Meinungsbildung. Mir macht es Spaß, dassausgerechnet die F.D.P. meint, diese Marktlücke für sichbesetzen zu müssen. Richtig ist natürlich: Es scheint of-fensichtlich ein Wettbewerb der deutschen Wettbewerbs-institute ausgebrochen zu sein, die Prognosen nach untenzu korrigieren. Die beängstigende Begeisterung, die dieOpposition schon am Anfang der Debatte gezeigt hat,nämlich diese Korrektur nach unten zu beklatschen, magdamit zusammenhängen, dass sich Ihre Umfrageergeb-nisse genauso verhalten. Verlassen Sie sich aber nichtauf diesen Zusammenhang! Dieselben Wirtschaftsinsti-tute sagen, es sei zu erwarten, dass das Wachstum in der
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Dr. Günter Rexrodt17273
zweiten Hälfte des Jahres steigt. Dann kann es sein, dassSie den Anschluss verpassen.Wir nehmen den Rückgang der Konjunktur in einigenBereichen der Wirtschaft sehr ernst, weil wir wissen, dassdies für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschlandnicht nur günstige Auswirkungen hat. Aus diesem Grundeprüfen wir jeden Vorschlag, der in der politischen Debattein diesem Zusammenhang gemacht wird. Ich gebe zu,dass die Vorschläge der F.D.P. nach höheren Inverstitio-nen besser sind als die der CDU.
Der CDU wäre es am liebsten, wir steckten unser Geld inden konsumtiven Teil unseres Haushalts, zum Beispiel inden Bereich Verteidigung, was bedeuten würde, dass die-ses Geld für Investitionen verloren ist. Sie hingegen, HerrBrüderle, schlagen ein Blitzprogramm vor, sagen abernicht, wie das funktionieren soll. Auch wenn Sie in derMarktlücke eines staatlichen Interventionismus bleibenwollen, sage ich Ihnen: Die Wirtschaft kann besser wirt-schaften als der Staat.
Ich meine, dass wir uns auch in Zukunft auf diesen Me-chanismus verlassen können. Der Staat muss seine Haus-aufgaben in den Bereichen machen, in denen es von derMarktentwicklung her nicht unbedingt dann zu Investi-tionen kommt, wenn sie nötig sind. Das tun wir auch.Wenn Sie sich den neuen Haushaltsplan ansehen, dannstellen Sie fest, dass wir auf Zukunftsinvestitionen setzen,vor allem im Bereich der Forschung und der Bildung. Da-rüber hinaus setzen wir im Haushalt des Bundesministersfür Arbeit und Sozialordnung auf Weiterqualifikationenfür ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, derenChancen auf dem Arbeitsmarkt wegen ihrer mangelndenQualifikation im Moment nicht so gut sind.
Dann gibt es den Vorschlag, der auch aus der CDUkommt, man möge doch die nächste Stufe der Steuerre-form vorziehen. Ich weiß nicht, ob Sie darüber einmal mitden Ländern gesprochen haben, in denen die CDU mit ih-rer Mehrheit die Verantwortung trägt.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass es Begeisterungdafür geben wird, die Haushalte der Länder mehr zu be-lasten, obwohl die immer noch besser dastehen als derBundeshaushalt.Abgesehen davon ist das Vorziehen der Steuerreformvon der volkswirtschaftlichen Wirkung her nicht notwen-dig. Die Zahlen für die einzelnen Stufen liegen ja auf demTisch. Wir geben auf der Nachfrageseite allein in diesemJahr mit der Steuerreform 45 Milliarden DM in die Volks-wirtschaft hinein,
nämlich durch Senkung der Einkommensteuersätze, vonder auch der Mittelstand in erheblichem Maße profitiert.Allein dadurch, dass die gezahlte Gewerbesteuer nun vonder Einkommensteuerschuld abziehbar ist, erfahren diemittelständischen Unternehmen eine Entlastung von rund13 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Dies wird sich auch im Jahresabschluss zeigen.Darüber hinaus machen wir das deutsche Steuerrechtwieder international wettbewerbsfähig,
indem wir den Systemwechsel den anderen Ländern undihren Volkswirtschaften anpassen. Auf diese Veränderun-gen hat die deutsche Wirtschaft unter Ihrer Regierung jah-relang gewartet.Ein letzter Punkt: Ich kann ja verstehen, wenn sich dieOpposition an jeden Strohhalm klammert, der ihr hinge-worfen wird. Was ich nicht verstehen kann, ist, wennLeute, die sich für ernst zu nehmende Wirtschafts- undFinanzpolitiker halten mögen, den Standort Deutschlandbewusst und mit Begeisterung hier im Parlament herun-terreden.
Das ist wirtschaftspolitisch und angesichts der Entwick-lung, die wir nehmen können, grob fahrlässig. Die Bran-chen weisen ja durchaus unterschiedliche Wachstumsratenauf. Im Bereich der Kommunikationstechnologien, in derElektrotechnik, in Teilen der Metall verarbeitenden Indus-trie herrscht die Erwartung riesiger Wachstumsraten. DiePrognosen in einigen Branchen sind sehr positiv. Das ist inden letzten Monaten überall deutlich geworden und auchvon Unternehmensverbänden bestätigt worden.
Dann als Politiker zu sagen, das alles könne nicht rich-tig sein und daran glaube man nicht, bedeutet, der psy-chologischen Wirkung, die das Vertrauen in den Wirt-schaftsstandort braucht, einen Riegel vorzuschieben.Insofern kann ich Sie nicht verstehen. Ich denke aber, dassauch niemand darauf hören wird, was Sie hier sagen, weildas Vertrauen des Auslandes in die WirtschaftskraftDeutschlands ungebrochen ist.Vielen Dank.
Ich erteile
dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Um mit dem Letzten anzufan-gen, was die Kollegin gesagt hat: Das Vertrauen des Aus-
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Nina Hauer17274
landes ist ungebrochen. Das müsste sich ja dann in auslän-dischen Investitionen in Deutschland niederschlagen,aber auch in der weiteren Entwicklung, die mit unseremLande zusammenhängt.Was mich an der Diskussion, die wir seit einigen Wo-chen führen, einigermaßen erstaunt, ist, dass offensicht-lich versucht wird, den Eindruck zu erwecken, das, wassich jetzt in der Wirtschaft abspielt, sei überhaupt nicht zuerkennen gewesen, habe sich bisher nicht abgezeichnet.
Im November 2000 habe ich bei der Haushaltsrede gesagt,dass es dunkle Wolken am Konjunkturhimmel gibt. Ichhabe auch klar begründet, weshalb diese dunklen Wolkenam Konjunkturhimmel erscheinen. Das konnte jedermannnachvollziehen. Es gab damals böses Gelächter und eshieß, man wolle die Konjunktur schlecht reden. Das wardas Gleiche wie das, was Sie heute erzählen. Aber die Si-tuation war in der Tat abzusehen.Es zeigt sich, dass unsere Kritik, die an der Steuerre-form angemeldet wurde, auch völlig berechtigt gewesenist. Diese Steuerreform hat ihre Wirkung nicht entfaltet.
Anfang der 80er-Jahre gab es einmal den Satz: Stell dirvor, es ist Krieg, und keiner geht hin! – Heute könnte mansagen: Stell dir vor, man senkt die Steuern, und keinermerkt etwas davon! Das charakterisiert in etwa die Poli-tik, die Sie hier betreiben.Ganz eindeutig ist aber, dass in den letzten zweieinhalbJahren eine Reihe von Maßnahmen getroffen wordensind, die schädliche Wirkungen hinterlassen mussten:Bremsspuren beim Wachstum, die seit geraumer Zeit undnicht erst seit den letzten Tagen erkennbar sind. Da ist ein-mal die Energiepolitik: Es soll der Eindruck vermitteltwerden, das habe nur etwas mit den ausländischen Mine-ralölkonzernen zu tun. Aber 30 Pfennig der letzten Sprit-preiserhöhung sind hausgemacht. Dazu kommt noch dieschlechte Wirtschaftspolitik, die die Dollar-Euro-Relationverschlechtert. Das war doch mit Händen zu greifen. Unddass die Energiepreiserhöhung mehr auffrisst als die Steu-erreform an Entlastung bringt, kann auch jeder nachvoll-ziehen. Deswegen sage ich: Die Regierung stellt sichdumm, aber sie hätte wissen müssen, was sich abzeich-nete und was sich tatsächlich verwirklicht.Sie konnten es beispielsweise auch an der Entwicklungder Zahl der Existenzgründer ablesen. Ich habe michheute noch einmal bei der Ausgleichsbank und der KfW,erkundigt: Was tut sich denn bei der Zahl der Anträge vonExistenzgründern, also bei Leuten, die mittelständisch in-vestieren wollen? Absolute Flaute, Trendwende nicht ab-zusehen. Das heißt doch, Arbeitsplätze, die in absehbarerZeit entstehen müssten, werden auch in den nächsten Mo-naten nicht entstehen. Das ist die Situation.Ich habe das Thema Energiepreise angesprochen.Gucken Sie Ihre Haushaltspolitik, auf die Sie ja so stolzsind, an. Das ist auch eine – wie wir heute sagen – Wir-kung der falschen und schlechten Haushaltspolitik. Wennich das Sparen alleine dadurch erreiche, dass ich die In-vestitionen reduziere, dann muss ich mich über die Wir-kung an vielen Stellen im Lande nicht wundern.
Das ist aber gemacht worden.Also: Energiepreise – hausgemachte Situation; eineHaushaltspolitik, die die Investitionen bestraft und nichtbelohnt; und dann – wie die Kollegen meiner Fraktionschon vor mir gesagt haben – eine Fülle von Nadelstichengegen die Wirtschaft, die, wenn man sie zusammen-nimmt, die Wirtschaft in einem unerträglichen Maße zu-sätzlich belasten.
Wenn ich an diesen drei Stellen nichts ändere, dannkann ich auch keine Verbesserung der wirtschaftlichen Si-tuation erwarten; dann geht es tatsächlich in Richtung Re-zession. Das heißt – das ist eine Forderung, die wir innächster Zeit konkretisieren werden –, wir müssen zum1. Januar eine drastische Steuersenkung vornehmen. Da-bei ist es relativ egal, ob Sie sagen, ich verzichte auf diegesamte Ökosteuer – das trifft dann vor allen Dingen denBund; Sie brauchten mit den Ländern gar nicht lange da-rüber zu verhandeln –, oder ob Sie sagen – wie die Kolle-gin Scheel, die ja außerhalb des Parlaments manchmalmutig redet – ich ziehe die gesamte weitere Steuerreformauf den 1. Januar des kommenden Jahres vor. Das war jaunsere Kritik: dass man eine Salamireform, also in Schei-ben, macht, und zwar so dosiert, dass überhaupt keine po-sitive Wirkung mehr entsteht.Sie müssen natürlich auch mit den Maßnahmen auf-hören, mit denen Sie die Wirtschaft belasten. Gucken Siesich die Situation im Einzelhandel an. Gucken Sie sich dieSituation bei der Bestellung von Kraftfahrzeugen an.Gucken Sie sich – das ist heute in den Zeitungen zu lesen –die reduzierten Gewinnerwartungen vieler Betriebe an.Gucken Sie sich an, was im Handwerk passiert. Viele imHandwerk – nicht nur im Bauhandwerk – sagen, so drama-tisch wie jetzt war die Situation in den letzten Jahrzehntennicht – nicht in den letzten drei Jahren, nicht in den letzten16 Jahren! Das ist die Folge einer falschen Finanz-, Haus-halts- und Wirtschaftspolitik dieser Regierung.
Ein Eingeständnis dafür, dass das so ist, war vorkurzem in einer kleinen Randnotiz zu lesen, in der dieKollegin Wolf – sie ist ja im Moment nicht da –, gesagthat: Wir überlegen, ob wir dieses Teilzeitzwangsgesetzzum Ende des Jahres auslaufen lassen. Es hat sich näm-lich herausgestellt, dass es Arbeitsplätze kostet, aberkeine neuen Arbeitsplätze schafft.
Das merkt man gelegentlich bei den Grünen. Ab und zukommt einmal so ein konservativer Gedanke, natürlichnur außerhalb des Parlaments, außerhalb der Regierungs-tätigkeit. Das, was Sie in der Regierung machen, ist genaudas Gegenteil: Sie belasten Wirtschaft und Betriebe und
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die Steuerzahler. Dazu kommt dann noch diese gewaltigeInflation.Lassen Sie mich mit einer weiteren Bemerkungschließen. Heute Morgen war vom Kindergeld die Rede.In unserer Regierungszeit haben wir das Kindergeld übri-gens beim ersten Kind von 50 DM auf 220 DM erhöht.Darüber wurde geschwiegen. Was hilft denn die küm-merliche Erhöhung des Kindergeldes von 30 DM vom1. Januar an, wenn bei einem durchschnittlichen Ein-kommen von 3 000 DM durch die Inflation 105 DM weg-gefressen werden? Wie soll sich derjenige denn nochüber die Erhöhung des Kindergeldes freuen? Und denRest kriegt er dann noch durch die nächste Stufe der Öko-steuer.Diese hohe Inflation und dieses mickrige Wachstumbelasten Bürger und Betriebe. Deswegen sagen wir: Ohneeine Kurskorrektur werden Sie keine Verbesserung derwirtschaftlichen Situation in Deutschland erreichen.Vielen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ditmar Staffelt.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Zunächst einmal bedauereich die Tatsache, dass hier in aller Massivität versuchtwird, die Fakten, über die wir heute in dieser AktuellenStunde an sich reden sollten, in einer Weise zu entstellen,
dass wir in diesem Hause zu keiner ernsthaften Debatteüber Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik fähig sind.Ich sage Ihnen: Der Opposition stünde es gut an, wenn sieden Standort Deutschland nicht in der Art und Weise, inder sie es hier praktiziert, schlechtreden,
sondern mithelfen würde, diesen Standort Deutschland zugestalten. Ich habe überhaupt keine vernünftigen, reali-sierbaren Vorschläge von Ihrer Seite gehört.
Da kommt der Rexrodt – Günter Bleichgesicht infrüheren Tagen; seit er nicht mehr Minister ist, hat er einbisschen rote Farbe –, der in all den Jahren seiner Tätig-keit als Bundeswirtschaftsminister nun überhaupt nichtsvom dem, was er hier gefordert hat, durchgesetzt hat.
Warum haben Sie denn nicht die Arbeitsmärkte deregu-liert?
Warum haben Sie denn, bitte schön, Rentenreform, Steuer-reform und andere Dinge nicht durchgesetzt?
Sie reden hier, als hätten Sie keine Geschichte und alshätte es nicht eine Bundesregierung gegeben, für die Siehöchstpersönlich mitverantwortlich waren.
Schauen Sie sich doch einmal das Ergebnis an, überdas wir heute reden und das natürlich dazu führt, dass wirin dieser Zeit in massiver Weise Haushaltskonsolidierungdurchführen müssen. Sie haben das Land in die Schul-denkrise gestürzt, mit all den Wirkungen, die das am Endeeben auch für die konjunkturelle Entwicklung in unseremLande hat.
Da werden Argumente ins Feld geführt, bei denen ichnur sagen kann: Sie versuchen mit aller Kraft, Negativ-punkte zusammenzuführen. Sie reden davon, die Gesetzezur Lohnfortzahlung, zum Kündigungsschutz, zu den630-Mark-Jobs, zur Förderung der Selbstständigkeit – be-schlossen übrigens in 1999 – hätten den Unternehmerin-nen und Unternehmern das Investieren sozusagen un-möglich gemacht.
Wie kommt es denn, dass die konjunkturelle Entwicklungtrotz dieser beschlossenen Gesetze gerade in 2000 so po-sitiv war, wie sie war? Das sind doch Argumente, die anden Haaren herbeigezogen sind.
Ich setze ausdrücklich dagegen: Wir haben unsereSchularbeiten gemacht.
Schauen Sie sich das doch einmal an! Wir haben eineSteuerreform und eine Rentenreform verabschiedet, wirhaben die Lohnnebenkosten gesenkt. Wenn Sie heute ander Wall Street, in Washington, in Kanada wie in Europaüber den Standort Deutschland reden, dann werden Siehören, dass man aufgeatmet hat, dass diese Regierungdiese Reformen eingeleitet hat
– ja, so ist es – und Deutschland wieder zu einem interes-santen Investitionsstandort in Europa geworden ist.
Da können Sie noch so viel erzählen; das sind die objek-tiven Tatsachen.Ich sage Ihnen noch eines: Die Binnenkonjunktur istdas, was im Moment das allgemeine Bild aufhellt; sonsthätten wir in sehr viel stärkerem Maße eine Konjunktur-delle. Ohne Steuerreform sähe die konjunkturelle Ent-wicklung sehr viel schlechter aus.
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Reden Sie doch nicht andere Standorte gut. Schauen Siesich die USAmit ihren aktuellen Problemen an; daraus er-klären sich auch viele der Exportprobleme, die wir imMoment haben.So einfach, wie Sie es sich machen, geht es wirklichnicht. Herr Rexrodt ist ja jetzt auf dem Wege, Agitprop zumachen, seitdem er mit bestimmten politischen Kräftenauf der Straße zusammenarbeitet,
und hier predigt er das Lied des Kleinunternehmers. Ichsage Ihnen eines, Herr Rexrodt: Wir bleiben bei unseremKurs, eine offensive Politik für die kleinen und mittlerenUnternehmen in unserem Lande zu machen. Wir habenviele Reformen in Gang gesetzt und wir haben darüber hi-naus eine Förderkulisse geschaffen, die sich sehen lassenkann, die wirkt und greift.
Deshalb wird der Standort Deutschland auch durch IhrGerede nicht schlechter werden.
Sie sollten sich überlegen, ob Sie mit dieser Art der Ar-gumentation irgendwo Gehör finden; denn sie ist destruk-tiv und nicht konstruktiv nach vorne gerichtet.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Peter Rauen für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute überdie wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Es istschon sonderbar, dass Wirtschaftsminister Müller heutebei der Debatte nicht anwesend ist.
Entweder darf er nicht mehr kommen, nachdem er vom„Nullwachstum“ gesprochen hat, oder er will die Positionder Bundesregierung nicht mehr verteidigen.Herr Staffelt, wir reden hier von Fakten. Es liegt mirfern, von anderen Dingen zu sprechen.Bereits im Frühjahr haben die führenden Wirtschafts-institute festgestellt, dass wir Deutsche beim Wachstum inEuropa das Schlusslicht bilden.
Sie haben festgestellt, dass wir beim Beschäftigungszu-wachs weit unter dem Durchschnitt in Europa liegen unddass wir bei der Abnahme der Arbeitslosigkeit auf diezwölfte Stelle zurückgefallen sind. Diese Prognosen wur-den im Februar aufgestellt.Atemberaubend und beängstigend ist, wie schnell dieseDaten noch einmal nach unten korrigiert worden sind. Dasmuss uns doch in höchstem Maße zu denken geben. Ichwundere mich nach wie vor, dass von der Regierung nichtzur Kenntnis genommen wurde, was uns die Bundesbankim Februar mitgeteilt hat, dass nämlich in 2000 das realeWachstum mit 3,1 Prozent um 0,4 Prozent höher als dasnominale Wachstum war. Das hat es im letzten Jahr-hundert nur zweimal gegeben: einmal bei der Weltwirt-schaftskrise Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre undeinmal nach der Korea-Krise 1953.Ich habe der Regierung wegen dieses Phänomens ge-schrieben und eine erstaunlich klare Antwort bekommen.Man hat die Tatsache festgestellt, dass im Jahr 2000 vieleBetriebe ihre durch höhere Energiekosten entstandenenMehrkosten nicht über ihre Preise haben weitergeben kön-nen. Was heißt das im Klartext? Weniger Gewinne, weni-ger Investitionsfähigkeit und -tätigkeit und damit wenigerArbeitsplätze. Ferner stand in der Antwort von FrauHendricks, man erwarte, dass sich die Preise im Jahr 2001erholen würden. Das bedeutet eine höhere Inflation. Ge-nau das haben wir heute. Auch das ist abenteuerlich.Vor über einem Jahr haben die sachkundigen Männerund Frauen, die die Steuerschätzungen vornehmen, ange-nommen, dass die Inflationsrate bei 0,6 Prozent liegenwerde. Nur zwölf Monate später liegt die Inflationsratebei 3,5 Prozent. Es ist ein atemberaubendes Tempo, washier vorgelegt wird. Ich habe vor über einem Jahr vor die-ser Entwicklung gewarnt. Im März dieses Jahres habenSie mir noch Schwarzmalerei unterstellt.Wer so wie Sie eine Politik gegen den Mittelstand undArbeitnehmer in Deutschland macht, der muss auf demArbeitsmarkt scheitern.
Ich habe bei der hier vorhandenen Ignoranz – man spürtsie auch heute wieder –, die Realität zur Kenntnis zu neh-men, keine Lust, in die Details zu gehen. Aber der Ar-beitsmarkt ist das Spiegelbild einer guten oder schlechtenWirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Sie stehen vordem Scherbenhaufen dieser Politik, die gescheitert ist.
Der Arbeitsmarkt gibt ganz klar Auskunft. Wir hattenim Januar, Februar, März, April und Mai dieses Jahres sai-sonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um51000 Personen. Sie haben zunächst mit einer Abnahmegerechnet. Aber 100 000 Arbeitslose mehr bedeuten5 Milliarden DM mehr Kosten und nicht vorhandene Ein-nahmen der sozialen Sicherungssysteme.Herr Schröder wollte schließlich am Abbau der Ar-beitslosigkeit gemessen werden. Was ist jetzt die Realität?Ich will die Verbindung zur vorherigen Regierung durch-aus herstellen. Nachdem die Zahlen korrigiert wordensind, wissen wir, dass wir, gerechnet in Erwerbstätigen-stunden – nur diese zählen; denn sie sind die Grundlage
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Dr. Ditmar Staffelt17277
für die Zahlung von Steuern und Abgaben –, beginnendvon Mitte 1997 einen Aufwuchs bis 1998 hatten. Der Ar-beitsmarkt ist nach den Erwerbstätigenstunden in 2000zum Stillstand gekommen und geht in 2001 sogar zurück.Das ist die Realität.
Der Eindruck, dass diese Regierung auf dem Arbeits-markt Erfolge gehabt haben könnte, hat damit zu tun, dasswir bei den Zahlen zwei Jahre im Dunkeln getappt sind,weil statistische Daten korrigiert wurden. Heute werdenTeilzeitarbeitsplätze, die 630-DM-Jobs, mitgezählt. Daswar früher nicht der Fall. Bei den Arbeitslosenzahlen wer-den die über 58-Jährigen im Vorruhestand nicht mehr mit-gezählt. Das ist die Realität.Wir haben keine Abnahme der Arbeitslosigkeit. Siekennen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes – damitwerde ich schließen –:
Wir haben im Jahr 1999/2000 einen Rückgang der Ar-beitslosenzahl um 370 000. Das ist aber weniger als derWert, um den die Arbeitslosenzahl im gleichen Zeitraumaus demographischen Gründen zurückgehen musste, weilmehr ältere Leute aus dem Erwerbsleben ausscheiden, alsjunge Leute in das Erwerbsleben eintreten.Ich sage Ihnen eines voraus: Diese Politik zulasten vonMittelstand und Arbeitsplätzen wird Sie auf dem Arbeits-markt einholen. Wir werden am Ende des Jahres noch ein-mal darüber sprechen. Dann wird die Situation nochschlechter sein. Denn in den Zweigen der Wirtschaft, de-ren Produkte nicht exportiert werden können, die nichtüber Grenzen operieren können, haben wir zurzeit eineSituation, wie sie schlimmer nicht sein kann. Ich weiß,wovon ich rede.Danke schön.
Als letztem
Redner in dieser Aktuellen Stunde gebe ich das Wort dem
Kollegen Dr. Rainer Wend für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Herr Kollege Staffelt hatmir gerade gesagt, er habe in der Zeitung gelesen, dasssich Herr Uldall Hoffnungen auf das Amt des Finanz-senators der Freien und Hansestadt Hamburg macht.
Ich muss sagen, nach Ihrem heutigen Redebeitrag kannman das den Hamburgern nicht zumuten.Ich will mich an einer Stelle mit Ihnen streiten. Sie wis-sen, dass ich bei vielen Dingen mit Ihnen sehr gerne dis-kutiere, aber das greife ich auf. Sie haben uns imJahr 1998 ein „gut gemachtes Bett“ hinterlassen: mit4,2 Millionen die höchste Arbeitslosigkeit seit Bestehender Bundesrepublik, mit 1,5 Billionen DM die höchsteStaatsverschuldung seit Bestehen der Bundesrepublik,mit 42,3 Prozent Lohnnebenkosten die höchste Abgaben-quote seit Bestehen der Bundesrepublik und die höchsteSteuerbelastung, die es in der Bundesrepublik Deutsch-land seit ihrem Bestehen gegeben hat.Das ist das, was Sie uns als „gut gemachtes Bett“ ver-kaufen wollen. Das ist im Grunde nicht einmal eine Luft-matratze.
Es ist ein unglaublicher Vorgang, dass Sie sich heute hierhinstellen und sagen, dass diese Zahlen in Ordnung ge-wesen sind. Wir sind dabei, das, was Sie uns hinterlassenhaben, mit viel Arbeit in Ordnung zu bringen. Selbst diesemühseligen Anfänge, mit denen wir es nicht leicht haben,versuchen Sie heute kaputt- und schlechtzureden. Das istnicht in Ordnung, Herr Uldall. Das kann ich nicht akzep-tieren.
Wenn wir uns doch wenigstens über drei Dinge ver-ständigen könnten, wobei ich an dritter Stelle ausdrück-lich auch etwas in unsere eigene Richtung sagen will.Erstens. Es ist mehrfach gesagt worden, deshalb dazunur ein Satz: Sie sagen, diese Krise sei hausgemacht. Dasist schon deswegen absurd, weil jeder weiß, die Konjunk-turdelle im Euro-Raum wird tiefer – „Handelsblatt“ –; Ja-pan, Amerika, die Zahlen sind bekannt.Zweitens. Wirtschaft hat viel mit Psychologie zu tun.Das sagen alle, das räume ich auch ein. Da das so ist,würde ich Ihnen auch gerne etwas aus dem „Handelsblatt“vorlesen:Positiv fiel im April nur die Verbrauchsgüterproduk-tion auf, die als einziger Bereich des verarbeitendenGewerbes einen Zuwachs ... verzeichnen konnte. Dadie Bestellungen von Konsumgütern im April eben-falls gestiegen sind, werden leise Hoffnungen ge-weckt, dass der deutsche private Verbrauch nun dochdurch die Steuererleichterungen Impulse erhält.Ich sage nicht, es läuft alles prima. Aber all die positivenDinge, die wir sehen, sollten wir nicht kleinreden, sondernherausheben, um eine gute psychologische Stimmung inder Wirtschaft zu erzeugen. Das wäre unsere gemeinsameAufgabe und nicht nur unsere Aufgabe. Stellen Sie sichbitte auch dieser Aufgabe.Drittens. Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dasses auch in Deutschland Sonderentwicklungen gibt, mitdenen man sich beschäftigen muss. Der erste Punkt, denich nennen möchte – ihn hat der Kollege Austermann an-gesprochen; er macht auch mir Sorgen –, ist der Um-stand, dass in den öffentlichen Haushalten das Verhält-nis zwischen Investitionen einerseits und konsumtivenAusgaben andererseits nicht in Ordnung ist. Dies führtin der Bauwirtschaft, aber nicht nur dort zu großen Pro-blemen.Diese Schwierigkeit besteht aber nicht etwa nur beimBundeshaushalt, meine Damen und Herren. Es ist fast
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gleichgültig, in welches Bundesland wir gehen. Es ist fastgleichgültig, in welche Kommune wir gehen. Es ist fastgleichgültig, welche politische Konstellation in diesenKörperschaften an der Regierung ist. Überall besteht dasProblem, dass es alle politischen Kräfte bisher letztlichnicht geschafft haben, konsumtive Ausgaben zurückzu-drängen und stattdessen investive Ausgaben zu finan-zieren. Diese schwierige Aufgabe müssen wir gemeinsamangehen.Ein weiterer Punkt – Sie haben das nicht ganz zu Un-recht angesprochen – betrifft die Arbeitsmärkte. Dazumuss man sagen: Die rot-grüne Regierung kann nochnicht am Ende dessen sein, was in dieser Hinsicht zu tunist. Stichwort Lohnabstandsgebot: Es ist richtig, dass dieAbstände zwischen staatlichen Transferleistungen einer-seits und niedrigen Löhnen im Tarifbereich andererseitsgrößer werden müssen. Das darf aber nicht zulasten derSozialhilfebezieher passieren; vielmehr muss es zuguns-ten derjenigen arbeitenden Menschen geschehen, derenEinkommen im unteren tariflichen Bereich liegt. Der ersteSchritt dazu ist unsere Steuerreform, durch die der Ein-gangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt und der Steuer-freibetrag auf 15 000 DM angehoben wird. Für michpersönlich sind weitere Schritte denkbar; Stichwort Lohn-subventionen. Ich meine, man muss diese Dinge anspre-chen, wenn man über die Bekämpfung von Arbeitslosig-keit und über Wirtschaftspolitik redet.
Zusammengefasst: Wir haben es in Deutschland und inEuro-Land mit einer konjunkturellen Delle zu tun. Tunwir unsererseits doch alles, die deutlich werdenden posi-tiven Ansätze in den Vordergrund zu rücken, damit wirden für das zweite Halbjahr prognostizierten Aufschwungtatsächlich erreichen! Reden wir positiv über unser Land!Machen wir weitere Schularbeiten! Stichwort öffentlicheInvestitionen in den Arbeitsmarkt; diese Investitionenmüssen wir vornehmen. Schaffen Sie hier keine Welt-untergangsstimmung, sondern sagen Sie: Wir sind aufeinem guten Weg und wir sind bereit, diesen Weg mitzu-gehen.
Ich schließe
die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Deutsche und Polen in Europa: Eine gemein-
same Zukunft
– Drucksache 14/6322 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
das Wort dem Kollegen Markus Meckel von der Fraktion
der SPD.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Vor zehn Jahren, am 17. Juni 1991, habenHelmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki den von Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski ausge-handelten Vertrag über gute Nachbarschaft und freund-schaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Voraussetzungdafür war der Abschluss des Grenzvertrages zwischenDeutschland und Polen.Mit diesen Verträgen ist eine neue Epoche zwischenDeutschland und Polen eingeleitet worden. Die Entwick-lung der Beziehungen zwischen diesen Ländern seit 1989kann als eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte des20. Jahrhunderts bezeichnet werden, eines Jahrhun-derts, das auch durch schlimmstes Geschehen zwischenDeutschland und Polen gekennzeichnet ist.Polen ist seit mittlerweile mehr als zwei Jahren Mit-glied der Nordatlantischen Allianz und wird demnächstMitglied der Europäischen Union sein. Damit werden diebeiden wichtigsten Ziele der polnischen Außenpolitik inden letzten zehn Jahren mit unserer Unterstützung erfüllt.Die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen amAnfang dieser Woche haben gezeigt, wie partnerschaft-lich unsere Beziehungen auf Regierungsebene sind. DieKontakte auf politischer, wirtschaftlicher und gesell-schaftlicher Ebene haben sich in den letzten Jahren so in-tensiv entwickelt, dass auch für Menschen, die sich damitintensiv beschäftigen, ein Überblick kaum möglich ist.Ich nenne beispielsweise die Vielzahl der Kontakte in derGrenzregion, in den vier EU-Regionen an Oder, Neiße,Spree und Bober.In Anbetracht unserer Geschichte mag besonders er-staunen, dass gerade unsere militärische Zusammenarbeitsehr gut ist, wie das trilaterale deutsch-dänisch-polnische„Korps Nordost“ in Stettin zeigt. Ich möchte auch auf dieEntwicklung des wirtschaftlichen Austausches zwischenDeutschland und Polen hinweisen. Polen ist heute außer-halb der Europäischen Union unser drittwichtigster Han-delspartner nach den USA und der Schweiz. Das ist einwichtiges Fundament unserer Beziehungen. Diese Ent-wicklung ist überwältigend.Ich freue mich, dass wir hier angesichts dieses Jahres-tages einen parteiübergreifenden Antrag verabschiedenwerden. Das zeigt, dass die Beziehungen zu Polen keinStreitthema mehr in der deutschen Innenpolitik sind.
Es ist symbolträchtig, dass auch der Sejm in dieserStunde über eine Resolution zum zehnten Jahrestag desVertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftlicheZusammenarbeit diskutiert. Ich glaube, dass die gutenKontakte zwischen den beiden Parlamenten für die gutenKontakte zwischen unseren Ländern bezeichnend sind.
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Dr. RainerWend17279
Die Ereignisse von 1989 haben dazu geführt, dass erst-mals in der gemeinsamen Geschichte ein demokratischesDeutschland und ein demokratisches Polen aneinandergrenzen – ohne gegenseitige Gebietsansprüche, aberdafür mit stabilen demokratischen Strukturen auf beidenSeiten und dem festen Willen zur Zusammenarbeit. Da-durch hat sich der Charakter unserer Beziehungen grund-legend verändert. Es hat sich ein Perspektivwechsel so-wohl für Polen als auch für West- und Ostdeutsche mitihrer unterschiedlichen Geschichte ergeben. Vorausset-zung für diesen Perspektivwechsel in unseren Bezie-hungen war der Prozess der Aussöhnung von Deutschenund Polen.Zu danken haben wir all denjenigen, die sich in vielenJahrzehnten in den verschiedensten Bereichen für Ver-söhnung und die Annäherung von Deutschen und Poleneingesetzt haben. Zu erwähnen sind in diesem Zusam-menhang die Bemühungen vieler Einzelner, aber beson-ders die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche und derBrief der polnischen Bischöfe. Auf Regierungsebene hatdie sozialliberale Koalition unter Willy Brandt den Ver-söhnungsprozess eingeleitet. Alle Folgeregierungen ha-ben diesen Prozess fortgesetzt und sich wichtige Ver-dienste dabei erworben.
Dies hat möglich gemacht, dass auch in Polen frühereTabus gebrochen wurden. Ein Beispiel dafür ist, dass dieFrage der Vertreibung durch polnische und deutsche His-toriker gemeinsam aufgearbeitet wird. Dies hat dazu bei-getragen, dass wir mit unserer gemeinsamen Geschichteviel unverkrampfter umgehen können. Zur weiteren Ent-spannung hat auch die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aus-söhnung“, die Anfang der 90er-Jahre gegründet wordenist, beigetragen. Besonders wichtig war natürlich die Er-richtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung undZukunft“ zur Entschädigung der Zwangsarbeiter. Die be-lastete Geschichte unserer beiden Länder wird zwar in un-serer Erinnerung bleiben, aber sie stellt eben keine ernst-hafte Belastung mehr für unsere Beziehungen dar. Dies istein wichtiger Erfolg. Wir hoffen, dass auch das letzte zulösende Problem in Bezug auf die Vergangenheit, dieRückführung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern,in Bälde gelöst werden kann.Wir stehen in unserem bilateralen Verhältnis wahr-haftig noch vor einer Fülle von Herausforderungen. Wennman sich die gesellschaftliche Entwicklung anschaut,dann stellt man fest, dass zwar die Eliten aus Wirtschaft,Politik und Kultur intensiven Kontakt miteinander haben,dass aber unsere beiden Bevölkerungen vor allem einesgemeinsam haben, nämlich dass sie jeweils nach Westenschauen. Das heißt, dass die Polen nach Deutschlandschauen und sich die Deutschen normalerweise nicht nachOsten wenden. In Deutschland mangelt es an Interesse fürPolen. Wir müssen deshalb viel dafür tun, dass sich dieMenschen aus Deutschland und Polen mehr begegnen,damit Vorurteile abgebaut werden, die auf beiden Seitennoch vorhanden sind.
Besonders wichtig ist deshalb auch, die Begegnungvon Jugendlichen unserer beiden Länder zu fördern, da-mit sie zusammenkommen, miteinander Zeit verbringenund zusammen arbeiten können. Sehr erfreulich ist, dasssich die beiden Regierungschefs in den Konsultationenvom Anfang dieser Woche darauf verständigt haben, denjeweiligen Beitrag für das Deutsch-Polnische Jugend-werk im nächsten Jahr außerplanmäßig zu erhöhen. Wir,die wir uns lange darum bemüht haben, haben hier einenwichtigen Erfolg erzielt. Das ist ein großer Schritt. Aberwir sollten uns auch darum bemühen, dass es so weiter-geht; denn auch diese Erhöhung kann und darf nicht dieletzte bleiben.Es ist zu begrüßen, dass die Stiftung für deutsch-pol-nische Zusammenarbeit ein neues Förderprofil erhaltenwird. Die Stiftung wird in Zukunft keine Infrastruktur-projekte mehr finanzieren, sondern sich auf die Förderungwissenschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Aus-tauschprojekte konzentrieren.Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Lage derdeutschen Minderheit in Polen nicht mehr das wichtigsteThema zwischen der alten Bundesrepublik und Polen ist,wie es das neben der Grenzfrage vor 1989 noch war; denndie Situation der deutschen Minderheit hat sich grund-legend verbessert. Grundsätzlich sehe ich hier keine Pro-bleme mehr. Das Verhältnis zwischen Polen und ihrenMitbürgern deutscher Nationalität, die auch polnischeStaatsbürger sind, wird sich weiter normalisieren, wennPolen Mitglied der Europäischen Union ist.Ich denke, es wäre auch erfreulich, wenn manches, wasbisher nicht geschehen ist, in Zukunft ermöglicht würde.Dies betrifft etwa die schon vor zehn Jahren angespro-chene Frage von zweisprachigen Ortsschildern. Ich hoffe,dass in Polen der Mut wächst, das zu tun. Dies wäre einZeichen der europäischen Normalität, wie es zum Bei-spiel in den sorbischen Gebieten der Lausitz oder in dendeutschsprachigen Regionen Belgiens seit langem dieRegel ist.Eine wichtige Rolle in der Annäherung beider Länderkommt den Hunderttausenden deutschen Bürgerinnenund Bürgern zu, die sprachliche, familiäre und kulturelleBindungen zu Polen haben, sowie den vielen polnischenStaatsbürgern, die in Deutschland leben, arbeiten oderstudieren. In all ihrer Verschiedenheit erfüllen sie einewichtige Mittlerrolle zwischen unseren beiden Ländern.Die deutsch-polnischen Beziehungen werden und wur-den schon in den letzten zehn Jahren ganz wesentlichdurch die europäische Perspektive geprägt. Wir unterstüt-zen den Weg Polens in die Europäische Union. Dies istfür uns nicht nur eine Sache, die beiläufig geschieht. Sieist übrigens auch kein Gnadenakt Deutschlands oderWesteuropas gegenüber den Staaten Ostmitteleuropas.Vielmehr macht der Beitritt dieser Staaten die Europä-ische Union europäischer; ihre eigentliche Identität ist da-von wesentlich berührt.In Göteborg ist die Perspektive für die Mitgliedschaftmit dem Vertragsabschluss und der Teilnahme an denWahlen 2004 auch zeitlich klar beschrieben worden. Dasist zu begrüßen. Klar ist ebenfalls, dass hinsichtlich man-
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Markus Meckel17280
cher Sorge – ich denke an die Kapitelabschlüsse in denVerhandlungen, wo Polen etwas zurückgefallen ist; wirwissen, dass das auch mit der Behandlung von Themenund politischen Fragen im Wahlkampf zu tun hat – nochWichtiges zu tun ist. Gleichzeitig ist aber zu sagen, dassPolen insgesamt weit vorangekommen ist.Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen: Wirgehen davon aus, dass Polen demnächst Mitglied ist, undnehmen diese Perspektive heute schon vorweg. Es istwichtig, nicht nur über die Übergangsregelungen bei derFreizügigkeit und den Fragen des Bodenerwerbs zu reden.Das sind schwierige Fragen, aber ich denke, dass sie innicht zu ferner Zukunft gelöst sein werden, zumal nachdem Wahlkampf etwas mehr Gelassenheit bestehen wird,wenn es in Polen eine neue Regierung geben wird.Es ist wichtig – wir haben das als Parlamentarier prak-tiziert –, über die Zukunft Europas gemeinsam nachzu-denken. Polen und Deutsche als Partner in Europa, mitden Franzosen vereint im Weimarer Dreieck, müssen sichdarüber Gedanken machen, wie das Europa der Zukunftaussehen soll. So haben wir in der deutsch-polnischenbzw. der polnisch-deutschen Parlamentariergruppe in denletzten Monaten zusammengesessen und ein Papier überdie Zukunft Europas erstellt, in dem wir uns auf gemein-same Aussagen zu diesen Fragen geeinigt haben. In dernächsten Woche wird die polnisch-deutsche Parlamenta-riergruppe mit einer Delegation hier sein und wir werdenMitte der nächsten Woche das Papier der Öffentlichkeitvorstellen. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Es ist er-staunlich, in welch hohem Maße es uns gelungen ist,Übereinstimmung in wichtigen Fragen der künftigen Eu-ropapolitik zu erzielen.Die europäische Integration spielt sich nicht nur inBrüssel und den europäischen Hauptstädten ab. Integra-tion und Annäherung zwischen zwei Gesellschaften sindbesonders im Grenzraum konkret erfahrbar. In diesemBereich müssen wir noch weitere Brücken zwischen un-seren Ländern und Völkern schlagen. Dazu gehören neueGrenzübergänge, die Förderung des wirtschaftlichen Aus-tausches sowie die Abfederung der Belastungen, diedurch die Erweiterung zumindest zeitweise bestehen wer-den. Wichtig ist auch, die Bereitschaft zum Erwerb derjeweils anderen Sprache zu unterstützen, denn die Sprach-grenze zwischen Deutschland und Polen ist bis heute eineder schärfsten Grenzen innerhalb Europas.Ich komme zum Schluss: Den direkten Austausch zwi-schen den Menschen und das gegenseitige Kennenlernenzu fördern, das wird auch in Zukunft die größte Heraus-forderung im deutsch-polnischen Verhältnis bleiben. Ichhoffe, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bewäl-tigen werden.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner fürdie CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dr. FriedbertPflüger.Dr. Friedbert Pflüger (von derCDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die Beziehungen zwi-schen Ländern haben sehr oft mit herausragenden Per-sönlichkeiten und deren Leistungen zu tun.Ich will in dieser Debatte zunächst über Lech Walesasprechen. Zweihundert Jahre nach der Französischen Re-volution stand er mit seiner Solidarnosc auf. Es gabStreiks an der Lenin-Werft und die Umwälzung in Polen.Es war die ungeheure Leistung eines Mannes und einerBewegung, dieses ganze schreckliche Regime in die Kniezu zwingen.
Wir danken Lech Walesa und der Solidarnosc für das, wassie auch für uns getan haben. Ohne Walesa hätte es keineUmwälzung in Polen, keine europäische Revolution undkeine deutsche Einheit gegeben. Dieser Dank verpflichtetuns, uns jetzt für Polen auf dem Weg in die EuropäischeUnion einzusetzen.Ich möchte über Wladyslaw Bartoszewski sprechen.Was für ein fabelhafter Mann!
Wir haben ihn hier im Hause anlässlich der Festveranstal-tung zum 50. Jahrestag des Endes des Krieges erlebt. Erist jetzt bald 80 Jahre alt, Außenminister von Polen. Erverbrachte neun Jahre im Gefängnis – für seine Überzeu-gungen. Zunächst war er in Auschwitz. Auschwitz, dassagt sich so leicht. Danach saß er in stalinistischen Ge-fängnissen. Er war fast das ganze Leben im Widerstand.Was für eine ungeheure Kraft dieser Mann hat! Dannwurde er Außenminister seines Landes, des jetzt freienPolen. Er hat ein kleines Büchlein „Es lohnt sich anstän-dig zu sein“ herausgegeben. Da sage noch jemand, esgebe zu wenig Vorbilder in Europa. Bartoszewski gehörtzum Besten in Europa. Menschen wir Bartoszewski sindeine Bereicherung für unsere Europäische Union.
Ich möchte über Bronislaw Geremek sprechen. Kurzbevor das Warschauer Ghetto von Deutschen zerstörtwurde, schmuggelten ihn seine Eltern heraus. 45 Jahrespäter erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen und hieltseine Dankesrede – das war das erste Mal überhaupt beieinem offiziellen Anlass – auf Deutsch: Das sei zwar dieSprache der Mörder seiner Eltern, aber er sprecheDeutsch, weil sich unser Land mehr als jedes andere Landfür Polens Beitritt in die NATO und in die EU eingesetzthabe. Wir beginnen erst jetzt zu verstehen, was es für eineenorme Chance für unser Land ist, wenn wir Anwalt derWiedervereinigung Europas, der Öffnung von NATO undEU sind. Wir gewinnen nicht nur neue Märkte. Wir ge-winnen vor allen Dingen neues Ansehen, neues Gewichtund neues Vertrauen.Diese drei Beispiele stehen für viele Menschen, diesich in den letzten Jahren in hervorragender Weise für dieVerständigung zwischen unseren Ländern stark gemacht
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Markus Meckel17281
haben. Das waren nicht nur Politiker – wahrlich nicht –,sondern viele Intellektuelle und Schriftsteller, zum Bei-spiel Karl Dedecius, Adam Michnik, Siegfried Lenz,Andrzej Szczypiorski und Adam Krzeminski. Man könntenoch viele andere nennen.Denken wir auch an die unzähligen Initiativen vondeutsch-polnischen Gesellschaften, des Jugendaustau-sches, der Städtepartnerschaften, des Sports und der Sol-daten. Was ist das für ein Wunder, dass wir nicht mehr auf-einander schießen, sondern zusammen den Frieden aufdem Balkan sichern! Wir haben ein deutsch-dänisch-pol-nisches Korps. Wir sind zusammen – Volker Rühe seiDank – Mitglieder der NATO. Ist das nicht eine fantasti-sche Entwicklung, die keiner so hätte voraussehen kön-nen? Nehmen wir sie nicht schon viel zu sehr als selbst-verständlich hin?Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen be-dürfen aber der Pflege. Sie sind besser, als sie es jemals inden letzten 250 Jahren waren. Aber sie sind ein zartesPflänzchen. Deswegen müssen wir uns fragen, was wirtun können, um diese Freundschaft zu vertiefen.Erstens nehme ich die Beibehaltung der Interessen-identität zwischen unseren Ländern. Wir müssen Polenbei seinem Weg in die EU unterstützen. Eine erste Bei-trittsrunde im Jahre 2004 ohne Polen wäre ein schwererFehler.
Dann würde es große Enttäuschung in Polen geben. Daswürde zur Abwendung von Europa führen. Dann würde eskeine Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa geben.Dennoch gibt es einige Kandidatenländer, die nicht aufPolen warten wollen, das aufgrund seiner Größe undStruktur natürlich die meisten Probleme zu bewältigenhat. Aber haben nicht auch die Polen damals, als sie mitSolidarnosc streikten, lange auf die anderen Länder war-ten müssen, bevor die sich dem polnischen Freiheits-kampf angeschlossen haben?EU-Mitgliedschaft und das Ziel, 2004 dabei zu sein,heißt natürlich nicht eine Carte blanche, ein Freifahrt-schein. Warschau muss die Kriterien erfüllen. Momentandroht das Land bei den Verhandlungen zurückzufallen.Das hat mit objektiven Problemen zu tun, aber auch mitübertriebenen Ängsten.Diese gibt es allerdings auch bei uns. Weder droht mitder EU-Erweiterung ein Massenansturm von Arbeiternaus Polen, noch werden Deutsche massenhaft polnischenBoden aufkaufen. Wir müssen diese Debatte endlichrationalisieren und von den unsinnigen irrationalen Ängs-ten wegführen.
Wir brauchen – zweitens – gemeinsame Strategien mitden Polen, etwa für das Verhältnis zu den baltischen Staa-ten, für eine gute Zusammenarbeit mit der OblastKönigsberg, mit der Ukraine oder mit Russland. Unserebeiden Länder sollten zusammen konzeptionelle Vorden-ker für die zweite Runde der NATO-Öffnung sein unddas nicht den Amerikanern überlassen.Drittens. Ist Polen das trojanische Pferd der USAin Eu-ropa? Das ist absoluter Unsinn. Die Polen wollen die ge-meinsame europäische Außenpolitik und die gemeinsameeuropäische Verteidigung. Aber sie erinnern uns – wie ichfinde, zu Recht – daran, dass wir uns nicht überschätzensollten und dass es ohne die Präsenz Amerikas keine Ba-lance in Europa gäbe. Übrigens würde sie auch zwischenDeutschen und Polen schwerer zu erreichen sein.Nächster Punkt: Eine wichtige Rolle kommt der deut-schen Minderheit und den Vertriebenen zu. In Polengibt es immer wieder Irritationen. Sie wissen, dass auchich nicht mit jeder Tonlage einverstanden bin. Aber ichfinde doch, dass sich die Polen manchmal überlegen soll-ten, wo auf der Welt es noch Vertriebene gibt, die auf Ge-walt verzichten, neue Grenzen anerkennen und Beiträgezur Versöhnung leisten.Dass wir auf diesem Weg voranschreiten können, wirdauch dadurch erleichtert, dass in Polen heute das Leid imZusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen dis-kutiert wird. Wie sagte es der polnische BürgerrechtlerJan Józef Lipski:Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keineRechtfertigung für das Böse, das wir selbst anderenzugefügt haben.
– Das ist keine feierliche Rede, Herr Bundesaußenmi-nister. Aber ich finde Ihre Unaufmerksamkeit völlig un-angemessen. Sie ist genauso unangemessen wie der Um-stand, dass Sie selbst bei solchen Anlässen immer redenund ständig den Eindruck vermitteln, Sie wüssten sowiesoschon alles sehr viel besser. So können wir nicht zusam-menarbeiten, vor allem nicht an einem solchen Tag undbei einem solchen Thema.
Es bleibt viel zu tun, was das Verhältnis unserer beidenLänder angeht. Es gibt immer noch viele Vorurteile undStereotypen. Das böse Wort von der „polnischen Wirt-schaft“ zum Beispiel ist angesichts der polnischenWirtschaftsdynamik noch lächerlicher geworden. Wennwir doch so reformfreudig wären oder auch nur annäherndsolches Wachstum hätten! Natürlich gibt es in Polen Pro-bleme, auch noch viel Armut. Aber wenn wir in die Städtegehen, sehen wir eine unglaubliche Entwicklung. Dalohnt es sich, mitzumachen, sich zu engagieren, hinzuge-hen und sich nicht ängstlich abzuwenden. Nein, EU-Er-weiterung – in Wahrheit: Vereinigung Europas – ist nichtein Akt der Nächstenliebe des reichen Westens gegenüberdem armen Osten, sondern das ist – wie wir an diesengroßartigen Persönlichkeiten, an dieser Revolution im ei-genen Land erleben – eine Bereicherung für uns alle. Esschafft im Übrigen auch Arbeitsplätze bei uns.Wir müssen diesen Osterweiterungsprozess – das giltfür uns im Hause, aber auch generell für die Menschen inunserem Lande – endlich mit mehr Freude, mehr Kraftund mehr Zukunftszuversicht annehmen und dürfen nichtdefensiv in der Ecke verharren. Die Menschen, besonders
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Dr. Friedbert Pflüger17282
die jungen Leute, müssen sich besser kennen lernen. Po-len ist ein so spannendes, ein so schönes, ein kulturell soreiches Land. Es ist für uns im Osten so wichtig wieFrankreich im Westen. Wenn sich Polen und Deutsche sowie Deutsche und Franzosen verstehen, dann haben wirFrieden und Freiheit in Europa. Darum geht es uns allen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der
Kollege Helmut Lippelt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist richtig – die vorhergegangenen Reden habenes belegt –, dass wir heute, anlässlich des zehnten Jahres-tages des deutsch-polnischen Vertrages, eine Polen-De-batte führen, und es ist gut, dass, anders als beim letztenMal, die CDU aus ihrer sektiererischen Ecke heraus-kommt
und den gemeinsamen Antrag mitformuliert hat, sodasswir wieder zu einer gemeinsamen, in die Zukunft weisen-den Polenpolitik finden. Wie gut dies ist, zeigte eben dieRede von Herrn Pflüger.
Wer den Vertrag nochmals gelesen hat, weiß, dass esein historischer Vertrag ist, und zwar in doppeltem Sinne:Mit der Anerkennung der Grenzen des vereinten Deutsch-lands schloss er eine ganze Etappe des deutsch-polni-schen Verhältnisses ab. Zugleich legte er das Fundamentfür eine gemeinsame Zukunft, wie es der junge polnischeHistoriker Borodjiei vor zwei Jahren in der „FrankfurterAllgemeinen Zeitung“ beschrieb: Jetzt müssten Deutscheund Polen endlich nicht mehr übereinander reden, nichtmehr gegeneinander aufrechnen und nach Wegen zuei-nander suchen, jetzt könne endlich eine gemeinsame Po-litik gegenüber Dritten definiert werden.Der Vertrag hat eine beachtliche Dynamik entfaltet:Waren 1991 die ersten Artikel im Kern noch ein Nichtan-griffsvertrag, so ist Polen heute in der NATO und wir for-mulieren gemeinsam eine europäische Verteidigungs- undSicherheitspolitik. Enthält der Vertrag noch das Verspre-chen, Polen bei der Lösung seiner internationalen Ver-schuldungsprobleme zu unterstützen, so hat Polen heuteeine kräftige Wirtschaft, von der Wachstumsimpulse auchauf die deutsche Wirtschaft ausgehen und in Zukunft si-cherlich noch verstärkt ausgehen werden. Enthält der Ver-trag noch die Zusage, Polen bei der Annäherung an die EUnach „unseren Möglichkeiten“ zu unterstützen, so befin-den wir uns heute in der Endphase der Beitrittsverhand-lungen.Vier Bemerkungen möchte ich anschließen: Erstens.Es hat nach Göteborg Irritationen gegeben, die Beitritts-länder hätten sich zu stark auf Termine fixiert, währenddas eigentlich schwierige Landwirtschaftskapitel nochbevorstehe und die EU sich zuvor auf ihre eigene Reformeinigen müsse. Meine Fraktion ist dafür, dass die Mit-gliedschaft Polens so schnell wie möglich kommt; aufjeden Fall muss es in die erste Gruppe gehören. Die not-wendigen Übergangsfristen sollten so flexibel und kurzwie möglich gehalten werden. Polen muss sich an denEP-Wahlen 2004 beteiligen können. Wir wollen auch,dass Polen an dem einzuberufenden Konvent beteiligtwird.Und die Landwirtschaft?Wir selber wollen doch alleeine Agrarwende, soweit ich heute Morgen wieder gehörthabe, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung undnicht ohne Polemik, aber doch quer durch alle Parteien.Diese Wende wird sich aber zwischen der an Subventio-nen gewöhnten französischen und der noch relativ natur-nahen polnischen Landwirtschaft abspielen, zwischeneinzelbetrieblicher Förderung und der Förderung desländlichen Raums. Es liegt doch geradezu nahe, das Wei-marer Dreieck, also die französisch-deutsch-polnischeZusammenarbeit, zu intensivieren und, begleitend zu denKommissionsverhandlungen, eine Initiative dieser dreiLänder zur Lösung des Kernproblems Landwirtschafts-politik zu versuchen. Dann ist auch der ins Auge gefassteTermin spielend zu halten.Zweitens. Im Vertrag von 1991 verpflichten sich beideSeiten, ein Lernen der jeweils anderen Sprache zu unter-stützen. Deutschland hat hier einen großen Nachholbe-darf. Polnische Freunde in Berlin weisen immer wiederdarauf hin, wie schwierig es ist, für ihre Kinder eineSchule zu finden, in der Polnisch eine akzeptierte Unter-richtssprache und nicht nur eine Sprache der Ausgesie-delten ist, die auch in sprachlicher Hinsicht möglichstschnell in Deutschland integriert werden sollen.Wir treten dafür ein, dass wir den Polnischunterricht inunseren Schulen deutlich fördern. Polnische Sprache, pol-nische Literatur, polnische Geschichte müssen in unserenSchulen und Universitäten einen entschieden größerenStellenwert bekommen.Drittens. Der Bundestag kann viele der Verhandlungenzur Aufnahme Polens in die EU nur begleiten. Viel mehrkönnen wir aber zur kulturellen Vorbereitung unseresLandes auf die Mitgliedschaft Polens tun. Das ist hier be-reits gesagt worden.Wenn es für manche Teile unserer Bevölkerung auchnicht gerade ein Kulturschock werden wird, dass Polen inkurzer Zeit ein völlig gleichberechtigtes Mitglied mitgleichen Rechten, gleichen Pässen, vielleicht bald auchgleichem Geld sein wird, so wird es aber doch ihr Welt-bild verändern. Jede Fraktion im Bundestag wird feststel-len, dass dieser Schock auf ihre Klientel jeweils etwas an-ders wirken wird. Wir haben da andere Probleme als dieCDU. Gemeinsam sollten wir uns aber dafür einsetzen,dass im zusammenwachsenden Europa die Vielfalt undder kulturelle Reichtum jedes Landes zur gemeinsameneuropäischen Kultur gehört. Die Intensivierung der
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Dr. Friedbert Pflüger17283
Zusammenarbeit mit unseren jeweiligen Partnern in Po-len gehört substanziell dazu.Viertens. Eine aus meiner Sicht schon jetzt zentraleAufgabe ist die Entwicklung einer gemeinsamen Ost-politik.Mit Polen kommt ein Land in die EU, das an meh-rere osteuropäische Länder grenzt und viele Erfahrungenund Kenntnisse in der Zusammenarbeit mit diesen Län-dern hat. Diese Grenzen müssen sicher und zugleichdurchlässig für Menschen und Ideen sein. Europa endetnicht an den Grenzen der EU, jetzt nicht und auch in eini-gen Jahren noch nicht.Am 22. Juni 1941 begann der Einmarsch Hitlerdeutsch-lands in die Sowjetunion. Die Aufgabe, eine neue gesamt-europäische Friedensordnung zu schaffen, ist noch nichterfüllt, der Traum vom gemeinsamen europäischen Hausnoch nicht ausgeträumt. Polen – da bin ich ganz sicher – istdarin schon jetzt ein sehr wichtiger Partner.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Redner ist
der Kollege Jürgen Türk für die F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die „FAZ“ titelte amMontag:Göteborger EU-Gipfel für zügige ErweiterungundDie ersten Beitrittsverhandlungen sollen bis Ende2002 abgeschlossen sein – Deutschland beugt sich.Es ist gut, dass sich die EU zu einem Beitrittsfahrplandurchgerungen hat, wenn auch unter erheblichem Wider-stand Deutschlands. Eine weitere Verschleppung ver-schlechtert die Chancen der Erweiterung. Deshalb kannman es dem liberalen ungarischen MinisterpräsidentenVictor Orbán gut nachfühlen, dass er das Göteborger Ver-handlungsergebnis überaus bewegt aufgenommen hat. Ver-stehen kann man auch Polens Außenminister Bartoszewski,der frohlockte:Wir wollten eine Deadline, jetzt haben wir sie.Ich bin vorige Woche von einer Ausschussreise nachPolen und Litauen zurückgekommen, habe also die Auf-forderung des Kollegen Meckel schon realisiert. Dortkonnten wir uns einerseits davon überzeugen, dass dieBeitrittskandidaten bereits gewaltige Anstrengungen un-ternommen haben, um die Kriterien für die Aufnahme zuerfüllen. Andererseits gibt es noch viele Defizite. So lässtdie Verkehrsinfrastruktur sehr zu wünschen übrig. Siestellt in ihrem derzeitigen Zustand ein Hemmnis für wei-teres Wirtschaftswachstum dar; und das ist ja ebenfallseine Grundlage für die Erweiterung.Dieses und andere Probleme werden nicht ohne Hilfeder EU gelöst werden können; das muss vor dem Beitrittgeschehen. Man kann die Aufnahme nicht nach demMotto, nach dem Beitritt Polens sei alles besser als vorher– so Außenminister Fischer vor kurzem in Cottbus –, demSelbstlauf überlassen, sondern man muss den Prozess ge-zielt vorbereiten und begleiten.
Das liegt in Deutschlands ureigenem Interesse.Wir brauchen die Kooperation mit Polen, das inzwi-schen Russland hinsichtlich seiner Bedeutung als Han-delspartner überrundet hat und in das jährlich deutsche In-vestitionen in Höhe von mehreren Milliarden Eurofließen, wie uns die Vorstände der vorbildlichen Deutsch-Polnischen Wirtschaftsfördergesellschaft klar machten.Ich bitte übrigens darum, diese wichtige Gesellschaft beiden nächsten Haushaltsberatungen nicht zu vergessen,
genauso wenig wie die Europa-Universität Viadrina inFrankfurt/Oder, die derzeit unserer Meinung nach kaputt-gespart wird, obwohl sie für das Zusammenwachsen vonDeutschland und Polen sehr wichtig ist.Ich bin entschieden der Meinung, dass Deutschland al-les in seinen Kräften Stehende tun muss, um Polen bei sei-nen Beitrittsbemühungen zu unterstützen. Deshalb habenwir auch diesen Antrag formuliert. Es ist besonders er-freulich, dass es diesmal sogar ein fraktionsübergreifen-der Antrag geworden ist und wir uns in dieser Sache einigsind.Es ist bereits vieles eingeleitet worden, das wollen wirnicht ignorieren und leugnen. Das reicht aber noch nicht.Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern: Aufbeiden Seiten sind die Grenzregionen nicht ausreichenddarauf vorbereitet, dass dort in wenigen Jahren dieSchlagbäume fallen.
Das wird und muss schrittweise geschehen; denn mandarf die Kriminalitätsbekämpfung nicht auf die leichteSchulter nehmen. Dies habe ich gestern auf einem BGS-Forum in Potsdam gelernt.Das an sich gute Grenzlandkonzept des Bundeswirt-schaftsministeriums ist wieder in der Schublade ver-schwunden; ich bedauere das. EU-Kommissar Verheugenverschiebt Monat für Monat die Herausgabe des groß an-gekündigten EU-Konzepts für das Grenzland. Da es solange dauert, hoffen wir, dass dann auch etwas darin steht.Man muss sich nicht wundern, wenn sich bei der Bevöl-kerung und den Unternehmen in der Grenzregion Verun-sicherung und Angst breit machen. Das ist keine Panik-mache. Es wird immer gesagt, man solle die Vorteilebesser erklären. Besser erläutern kann man aber nur et-was, wenn man etwas zu erläutern hat. Die Konzepte vonBund, Ländern und EU müssen jetzt auf den Tisch undaufeinander abgestimmt werden. Sie müssen alsodeckungsgleich sein. Im Anschluss daran muss die Um-setzung erfolgen. Herr Kollege Pflüger, ich bin auch be-reit, das mit Freude zu tun. Nur mit Freude allein wird esaber auch nicht gehen. Man muss natürlich etwas haben,was man mit Freude machen kann.
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Dr. Helmut Lippelt17284
Ich komme nun zu den umstrittenen Übergangsfris-ten: Deutschland fordert sie bei der Freizügigkeit für Ar-beitnehmer und bei der Gewerbefreiheit. Ich bekennemich dazu, dass ich dies auch tue. Wir haben in der vori-gen Woche erfahren, dass dies in Polen und Litauen aufProtest stößt. Wenn dort aber deutlich gemacht wird, dassdiese Einschränkungen sowohl zeitlich als auch vom Um-fang her flexibel gestaltet werden, und zwar gemeinsam,nicht einseitig, findet man Zustimmung. Wenn man dieseDinge gemeinsam angeht – das kann und sollte man ma-chen –, wird es gut gehen.
Ich glaube, dass unsere fraktionsübergreifende Forde-rung einer regelmäßigen Überprüfung hinsichtlich derÜbergangsfristen richtig ist. Die Notwendigkeit, dies vor-zunehmen, ist eine vernünftige Zielsetzung. Insbesonderekommt sie den Grenzlandbewohnern – halb Ostdeutsch-land, das wollte ich bei dieser Gelegenheit noch einmalsagen, besteht aus Grenzland – entgegen.Die Polen wollen Übergangsfristen für den Land-erwerb. Während der Reise habe ich gelernt, dass es beiWirtschaftsinvestitionen die Freizügigkeit beim Land-erwerb gibt. Dies wird immer anders dargestellt. Das Pro-blem sind die landwirtschaftlichen Flächen. Hier befürch-ten die Polen einen Ausverkauf, dem sie vorbeugen wol-len. Ich glaube aber, dass man dies verhandeln und so zueiner Lösung kommen kann.Alles in allem müssen jetzt endlich Konzepte auf denTisch, denn vom allgemeinen Gerede – das ist meineÜberzeugung – wird die Infrastruktur nicht besser: Es sie-deln sich keine Wirtschaftsunternehmen an und es entste-hen keine Arbeitsplätze. Auch die zu beobachtende wach-sende Abwanderung kann dann nicht gestoppt werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Weil sehr viele Menschen beimir angefragt haben, muss ich zu Beginn erklären unddeutlich klarstellen, dass die PDS nicht eingeladen wurde,den gemeinsamen Antrag der anderen Fraktionen mit zuunterzeichnen. Ich bedauere, dass auf diesem unsinnigenWege immer ein Dialogverlust zustande kommt. Ich willaber auch sagen, dass ich meiner Fraktion empfohlenhätte, den Antrag in der vorliegenden Form nicht zu un-terschreiben, und dass wir dem Antrag nicht zustimmenwerden.
Ich möchte das inhaltlich erläutern und zuerst einigeDinge klarstellen, damit keine Missverständnisse auf-kommen: Das deutsch-polnische Verhältnis ist für diePDS – auch für mich persönlich – eine zentrale, wennnicht sogar die zentrale Frage der Osterweiterung derEuropäischen Union. Das deutsch-polnische Verhältnissollte in der deutschen Europapolitik – da stimme ich mitdem Kollegen Pflüger durchaus überein – einen ähnlichenStellenwert wie das deutsch-französische Verhältnis ein-nehmen. Dazu muss man sich deutlich bekennen. Fürmich ist eine Osterweiterung der Europäischen Unionohne Polen nicht denkbar.
Ich will zugespitzt sogar sagen: Eine Osterweiterung derEuropäischen Union, bei der Polen nicht in der erstenReihe steht, ist für mich politisch nicht denkbar und nichtgewollt. Ich denke, hierüber kann es aus historischen wieauch aus aktuellen Gründen breite Verständigung geben.Ich bin überzeugt davon, dass das deutsch-polnische Ver-hältnis unabhängig von politischen Konjunkturen undMehrheitsverhältnissen in den einzelnen Ländern bestän-dig gemacht werden muss.Es ist aber doch nicht zu übersehen, dass die deutscheUnterstützung für die Aufnahme Polens in die EU sehrzögerlich – aus meiner Sicht zu zögerlich – ausfällt. Raschkam die deutsche Forderung nach Übergangsfristen beider Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Forderung nachEinführung von Fristen wäre nicht nötig gewesen, wennman rechtzeitiger die Probleme in den Grenzregionennicht nur betrachtet und allgemein erörtert, sondern sieangepackt und dort konkrete Wirtschaftsentwicklungdurchgesetzt hätte.
Wir wissen seit zehn Jahren, was auf uns zukommt. Jetztso zu tun, als ob das Problem neu aufgetreten sei, ist die-sem Verhältnis aus meiner Sicht nicht angemessen. Wirbrauchen gezielte Förderung in den Regionen auf beidenSeiten der Grenze. Wir müssen dafür sorgen, dass dieseRäume zusammenwachsen. Wenn das gelingt, werdenÜbergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeitwahrscheinlich nicht nötig. Heute muss man konkret einesolche Politik betreiben und sollte sie nicht nur immer all-gemein ankündigen. Das bedeutet auch, dass den LändernMecklenburg-Vorpommern und Brandenburg endlich inbesserer Form und umfangreicher bei der Bewältigungdieser Probleme geholfen werden muss.
Ich finde schon, Probleme muss man lösen und darf sienicht vertagen. Darauf haben auch die Bürger einen An-spruch. So rasch die deutsche Forderung nach Über-gangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit kam, sogering fiel das Verständnis für die polnischen Sorgen unddas Anliegen der polnischen Politik aus, Übergangsfristenfür den privaten Erwerb von Grund und Boden in Poleneinzuführen. Ich kann diese polnischen Sorgen verstehen,weil sich die wirtschaftliche Macht noch immer diesseitsund nicht jenseits der Grenze zusammenballt. So viel Sen-sibilität sollten wir doch gemeinsam aufbringen.
Ich möchte sehr, dass wir eine Politik betreiben, dass inPolen nicht der Eindruck entsteht, dass sein Beitritt zurEuropäischen Union ein Beitritt zweiter Klasse sei, wie espolnische Politiker formuliert haben. Systematisch sollten
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Jürgen Türk17285
alle Kontakte der zivilen Gesellschaft – da gibt der Antragsehr viel Konkretes her, was ich für sehr vernünftighalte –, alle Treffen und jede Zusammenarbeit von Men-schen aus Polen und Deutschland sowie gemeinsame Pro-jekte gefördert und unterstützt werden. Jugendaustausch,gemeinsame Forschungsprojekte, Universitätsarbeit, kul-turelle Beziehungen und gemeinsame Geschichts-forschung stehen immer noch am Anfang und haben ihrenEndpunkt noch lange nicht erreicht. Ich würde polnischePolitiker und Bürger sehr bitten, sich auch als Brücke derEuropäischen Union für die weiter östlich liegenden Staa-ten zu verstehen. An unsere Adresse richte ich die Bitte,dies zu befördern.Ich komme zum Schluss. Ich finde, das Geschichts-bild im Antrag stimmt nicht. Es klammert nämlich dengrundlegenden Wandel in den deutsch-polnischen Bezie-hungen, der mit dem Warschauer Vertrag und derEntspannungspolitik eingetreten ist, ebenso aus wie, dassalles andere, was danach geschehen ist, auf diesem Werkaufbaut. Das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus; daswird noch nicht einmal erwähnt. Die Politiker auf derdeutschen und auf der polnischen Seite, die Entspannungschon in Zeiten verfochten hatten, als sie gesellschaftlichnoch höchst umstritten war, und nicht erst in Zeiten, alssie gesellschaftlich akzeptiert war, müssen mit Namengenannt werden. Das fehlt in Ihrem Antrag. Sie berufensich in Ihrem Antrag auf die Tradition der Zusammenar-beit mit der NATO. Ich will Ihnen abschließend sagen,dass es auch eine andere Tradition polnischer wie deut-scher Politik gibt, die es wert wäre, sich auf sie zu beru-fen. Ich nenne hier den Vorschlag des polnischen Außen-ministers Adam Rapacki einer kernwaffenfreien Zone inEuropa. Solche Traditionen hätten Sie zumindest aufneh-men und nicht aus Ihrem Antrag ausblenden sollen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine lange an-dere Tradition, die es allerdings viele Jahre vorher gege-ben hat, war, dass Polen immer die Sorge haben musste,zwischen Russland und Deutschland germanisiert oderrussifiziert zu werden und dabei von der Landkarte der eu-ropäischen Geschichte zu verschwinden. 123 Jahre langwar das ja auch der Fall. Genau das ist der Punkt, um denes heute in Polen geht, nämlich dass die Aufnahme in dieEuropäische Union genau das Dementi dieser schreckli-chen langen Geschichte der nationalen Erfahrung, derDemütigung Polens ist. Sich an diesem Dementi zu betei-ligen und mitzuhelfen, dass Polen einen festen gesicher-ten Platz in der europäischen Völkerfamilie hat, ist wohldie große historische Aufgabe, die insbesondere wir Deut-schen gegenüber Polen haben und haben müssen. Aus die-sem Grund ist die Aufnahme in die Europäische Union derzentrale gemeinsame Punkt, der Polen und Deutsche mit-einander verbindet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die zweite Republik Polens war von zwei Diktaturen,nämlich der kommunistischen Diktatur und der national-sozialistischen Diktatur, zerrissen worden. Schmerzhaftist, dass in das historische Bewusstsein, in das Gedächtnisder Polen eingeschrieben ist, wieder und wieder in der Ge-schichte gedemütigt worden zu sein. Im historischen Ge-dächtnis der Polen ist aber auch fest eingeschrieben, wie-der und wieder den Mut zu haben, gegen den Selbstlaufder Geschichte aufzustehen, sich aufzulehnen und mutigund gemeinsam dagegen zu handeln. 1980 war dasSchlüsseljahr – Solidarnosc –, in dem deutlich gewordenist: Wir Polen wollen gemeinsam aktiv handeln, um unsgegen den Selbstlauf der Geschichte zu wenden und eineneigenen Beitrag in das Geschichtsbuch Europas zu schrei-ben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist eswichtig, dass Namen wie Jan Józef Lipski und TadeuszMazowiecki genannt werden. Letzterer hat bereits 1974auf dem Deutschen Katholikentag deutlich gesagt, wasihn umtreibt und woher seine innere Unruhe kommt, näm-lich: Der Glaube selbst ist Unruhe, eine Unruhe um dieAuthentizität des Lebens. – Das hat etwas mit dem zu tun,was zum Beispiel Vaclav Havel geschrieben hat, nämlichsein Leben zu beschreiben auf der Suche nach der Wahr-heit. Das hat etwas mit der Dissidenz in jener Zeit zu tun,die sich gegen die Diktatur aufgelehnt und dabei nichtsanderes als den Kern Europas entdeckt hat. Der Kern Eu-ropas sind die Werte Europas: Freiheit, Gerechtigkeitund Solidarität. Das ist der entscheidende Punkt, der mitdem Aufbruch Polens – übrigens auch mit dem AufbruchTschechiens – verbunden ist. Die demokratische Revolu-tion am Ende der 80er-Jahre konnte nur möglich werden,weil die damalige kommunistische Diktatur von denen,die die Demokratie für sich selbst entdeckt haben, zu-grunde gerichtet worden ist, und zwar gewaltfrei undfriedlich. Das ist der Kernpunkt dessen, was wir jetzt voll-ziehen müssen, wenn es darum geht, dass Polen Mitgliedder Europäischen Union wird.
Es gibt keinen Zweifel, dass auch Deutsche dazu etwasbeigetragen haben. Dazu gehören natürlich die Entspan-nungspolitik, Willy Brandt und – er ist eben schon ge-nannt worden – Karl Dedecius, jemand, der vor wenigenTagen 80 Jahre alt geworden ist und aus Lodz stammt, je-ner vielfarbigen multikulturellen Stadt, in der Polen undDeutsche jiddisch miteinander gesprochen haben. Dortgab es also schon ein Modell, das wir Europäer noch ent-wickeln müssen. Wir haben nach 1945 die Homogenisie-rung des Nationalstaats erlebt. Dabei ist sozusagen – soschrecklich man es auch bezeichnen mag und wie furcht-bar es für die Menschen gewesen ist – die Heterogenitätdessen entsorgt worden, was es zuvor gegeben hat, zumBeispiel in der zweiten Republik in Polen. Darüber hinausist damit eine wichtige Aufgabe verknüpft, die wir gegen-über Polen haben, betreffend zum Beispiel Galizien unddie Bukowina, jene Räume, die es zu entdecken gibt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Wolfgang Gehrcke17286
Nehmen Sie bitte das Buch von Karl Schlögel, das ergerade eben veröffentlicht hat, in dem Sie das alles sehrschön nachlesen können: von den Räumen Europas, die esgegeben hat, die vielleicht versunken sind, die es aber zubergen gilt, die in dieses gemeinsame Europa als einSchatz eingebracht werden müssen, der nie verloren ge-hen darf.
Denken wir an die Diktaturen, unter denen die Polen sounendlich haben leiden müssen: einmal die innere Dikta-tur des Nationalismus, nicht zu vergessen, auch nicht zuverschweigen, die kommunistische Diktatur am Ende unddazwischen das ungeheure Leid der nationalsozialisti-schen Diktatur.Gegenwärtig gibt es in Polen eine eruptive Debatteüber jenes schreckliche Genozid in Jedwabne, also in je-ner Stadt in Nordpolen, in der 1 600 Menschen erschla-gen, erstochen worden sind, eine furchtbar aufwühlende,aber eine notwendige Debatte, die Jan Tamosz Gross inseinem Buch „Die Nachbarn“ vorangetrieben hat. In die-ser Debatte wird deutlich, dass wir, die wir die Nachfol-ger derer sind, die die Zeitzeugen waren, die dies alles er-lebt, erlitten und mit eigenen Augen gesehen haben, alsPolitiker, die diese Verantwortung tragen, verpflichtetsind, dass das nicht der Vergangenheit überantwortetwird, sondern dass die Verantwortung für die Gegenwartund für die Zukunft heißt, sich mit diesen schwierigenKonflikten auseinander zu setzen.Wenn Adam Michnik sagt: „Es ist mein Gewissen be-drückt und bedrängt, wenn ich höre, dass am 10. Juli 1941in Jedwabne 1 600 Juden von Polen ermordet wordensind“, dann muss dabei aber auch unverrückbar die histo-rische Wahrheit festgehalten werden: Dieser Genozid warnur möglich, weil es den Überfall Deutschlands gegebenhat, weil es die Vernichtungspolitik der NS-Besatzer ge-geben hat und weil Himmler wenige Tage vor diesem Po-grom in der Region war und dazu beigetragen hat, dass esmissgeleitete Gefühle auch von anderen gegeben hat. Werdurch die Allee der Gerechten in Jad Vashem gegangenist, wird wissen, dass die überwiegende Zahl der Gerech-ten einen polnischen Namen tragen Jedwabne: Das warein lokales Ereignis.Es ist mit einer ungeheuren Kraft verbunden, was jetztin Polen geschieht. Die innere Debatte zeigt, dass die pol-nische Gesellschaft die Kraft hat, mit jenen Konfliktenauch umzugehen, sie zu verarbeiten und damit einen Bei-trag zu leisten, dass Europa eine Gemeinschaft der ge-meinsamen Erinnerung ist, die uns auffordert, dass das,was damals geschehen war, nie wieder geschehen darf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Katherina Reiche für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren unterzeichne-ten der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowieckiund Bundeskanzler Helmut Kohl den deutsch-polnischenNachbarschaftsvertrag. Vor zehn Jahren begannen Deut-sche und Polen, nach bitteren Jahren des Eisernen Vorhan-ges wieder aufeinander zuzugehen. Heute befinden wir unsim Prozess des Beitritts Polens in die Europäische Union.Heute ist Polen längst zuverlässiger NATO-Partner.Diese Entwicklung ist ohne die Ereignisse der 80er-Jahre nicht vorstellbar. Es war die oppositionelle Ge-werkschaft Solidarnosc, die die kommunistischenMachthaber das Fürchten lehrte. Der Eiserne Vorhangwurde in Polen rissig und war schließlich der Wegbereiterfür die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR undim gesamten Ostblock.Der Blick zurück erfüllt uns Deutsche – auch mich alsVertreterin der jungen Generation aus Ostdeutschland –daher mit Dankbarkeit, gibt uns aber gleichzeitig ein ver-pflichtendes Mandat, Polen auf seinem Weg in die Euro-päische Union zu unterstützen. Es geht heute darum, Po-lens Weg in die EU engagiert weiter voranzubringen. Esgeht vor allem darum, die Menschen diesseits und jenseitsder Oder zusammenzubringen.Das deutsch-polnische Verhältnis beruht nicht mehrauf einer verordneten Freundschaft, wie sie vor derWende in der DDR gepflegt wurde. Es sind nicht mehrdie staatlich überwachten Begegnungen, die jede kriti-sche und politische Diskussion zu unterdrücken suchten.Heute gehen Polen und Deutsche selbstverständlich auf-einander zu, sind neugierig aufeinander und schließenFreundschaften.
Die vielen Aktivitäten im Bereich des Jugend- undStudentenaustausches sind ein eindeutiger Beleg für diegroßen Gemeinsamkeiten der jungen Generation hier unddrüben. Junge Polen und junge Deutsche streben beruf-liches Fortkommen an und wollen die europäischenNachbarn kennen lernen. Wie viele Kontakte es bereitsgibt, stelle ich immer wieder fest, wenn ich mit jungenMenschen aus Polen und aus Deutschland spreche, mitSchülern, Studenten, Soldaten.Herr Kollege Lippelt, eines möchte ich dann doch ge-rade stellen: Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,die einen Antrag zur Zukunft des deutsch-polnischenVerhältnisses eingebracht hat. Dieser Antrag muss of-fensichtlich so gut gewesen sein, dass wir die Kollegenvon SPD und Grünen überzeugen konnten, einen ge-meinsamen Antrag zu machen. Der Weg war nicht um-gekehrt.
Worum geht es? Es gibt zwei vordringliche Aufgaben.Zum einen muss es darum gehen, die Kontakte zwischenDeutschen und Polen weiter zu intensivieren. Hierbeibauen wir gerade auf die junge Generation. Deshalb for-dere ich: Das Deutsch-Polnische Jugendwerk brauchteine bessere finanzielle Ausstattung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Gert Weisskirchen
17287
Nur wenn das Deutsch-Polnische Jugendwerk auf einersicheren finanziellen Basis steht, kann der Dialog lang-fristig fortgesetzt und ausgebaut werden.Ebenso wichtig ist es, sprachliche Barrieren zu über-winden. Im Erlernen der Sprache des jeweils Anderensehe ich einen Schlüssel zur Verständigung zwischenDeutschen und Polen. Wenn junge Menschen schon frühdeutsch bzw. polnisch lernen, wird manch blindes Vorur-teil gar nicht erst entstehen können. Die zweisprachigeSchulbildung in den Grenzregionen ist nicht nur eine kul-turelle Notwendigkeit, sondern wird sich auch als erheb-licher Standortvorteil auswirken. Ein Lebenslauf, der einebilinguale Schulausbildung aufweist, wird nicht nur denArbeitgeber beeindrucken, sondern auch Jugendlichenselbst neue Perspektiven eröffnen. Als Brandenburgerinhabe ich mich immer wieder für Polnischunterricht in derOderregion eingesetzt. Dieser Forderung möchte ichheute noch einmal Nachdruck verleihen.
Zum anderen geht es darum, die in den letzten zehnJahren gewachsenen deutsch-polnischen Beziehungendurch einen zügigen Beitritt Polens zur EuropäischenUnion auch institutionell zu festigen. Die Aufnahme Po-lens in die EU darf deshalb keinesfalls verzögert werden.Es würde viel Vertrauen aufs Spiel gesetzt werden. Ge-wiss, die EU-Osterweiterung ruft bei vielen MenschenÄngste und Vorbehalte hervor. Diese Befürchtungen sindauch verständlich; denn wir müssen verstehen, dass es ge-rade für die Menschen in den neuen Ländern und in denGrenzregionen erneut um Veränderungen und Anpassun-gen geht. Aber umso wichtiger ist es deshalb, die Men-schen zu überzeugen und ihnen die großen Vorteile diesesProzesses nahe zu bringen. Was wir deshalb brauchen, isteine offensive Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Ost-erweiterung. Lagebeschreibungen reichen nicht aus. Nurkonkrete Maßnahmen können den Sorgen der Menschenbegegnen. Kommunikation und Öffentlichkeit über das,was geschieht, und über die Chancen schaffen Vertrauen.
Die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnissesist kein Selbstläufer. Es bedarf immer wieder neuer Im-pulse. Selbstverständlich sind Übergangsfristen in derFreizügigkeit für Arbeitnehmer und in der Dienstleis-tungsfreiheit notwendig, um eine Verschärfung der Situa-tion auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Sie müssen aberflexibel gestaltet werden und je nach Beitrittsland undBranche verschieden sein. Sie müssen auch je nach wirt-schaftlicher Entwicklung angepasst werden. Es ist nichtangebracht, deutsche Interessen holzschnittartig oder po-pulistisch geltend zu machen. Populismus täuscht Men-schen und er ist hier fehl am Platz.
Die wirtschaftlichen Vorteile einer erweiterten Europä-ischen Union sind schon heute in Polen und Deutschlandzu spüren. Zum einen ist Polen Deutschlands wichtigsterHandelspartner im Osten, zum anderen schaffen deutscheInvestitionen in Polen Arbeitsplätze. Ich denke zum Bei-spiel an Kooperationsvereinbarungen zwischen Unter-nehmen aus Brandenburg und aus Polen im Bereich derUmwelttechnik. Investitionen deutscher Unternehmen inPolen helfen, Umweltstandards zu verbessern und zumBeispiel die Trinkwasserqualität und damit die Lebens-qualität zu erhöhen.
Die deutsch-polnischen Beziehungen stehen heute aufeinem soliden Fundament. Der Nachbarschaftsvertrag hatdafür vor zehn Jahren eine gute Ausgangslage geschaffen.Gleichzeitig müssen wir uns immer wieder mit neuen Per-spektiven und Entwicklungen auseinander setzen. Manch-mal wünsche ich mir etwas mehr Gelassenheit auf beidenSeiten, insbesondere im Alltagsgeschäft. Die Beziehungenzwischen Polen und Deutschland sind heute partner-schaftlich. Beide Länder arbeiten vertrauensvoll zusam-men. Gerade deshalb dürfen wir in unserer Anstrengungnicht nachlassen und müssen den richtigen Weg der Ver-tiefung der europäischen Integration entschlossen weiter-gehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zehnJahre seit der Unterzeichnung des Vertrages über guteNachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeitwaren eine Phase historisch einzigartigen Erfolgs in dendeutsch-polnischen Beziehungen. Wichtige Brücken überden Abgrund der Geschichte waren allerdings bereits zu-vor geschlagen worden, so etwa durch die ausgestreckteHand zur Versöhnung der polnischen Bischöfe von 1965,dann vor allem durch Willy Brandts Ostpolitik und sei-nen historischen Besuch in Warschau im Dezember 1970und durch den Vertrag über die Bestätigung der gemein-samen Grenze von 1990. Dies war ein sehr wichtigerSchritt; denn dieser deutsch-polnische Grenzvertrag wardie Voraussetzung für die Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Vertrag und damit zur deutschen Einheit. Das machtklar, wie wichtig die Frage der deutschen Ostgrenze undwie aufs Engste verbunden die Frage der Anerkennungder deutschen Ostgrenze und damit der polnischen West-grenze für die Wiedererlangung der deutschen Einheit inFreiheit war.
Es gehört – da hier die Geschichte bemüht wurde – mitzur Tragik, dass der Aufstieg Preußens an die polnischeTeilung gebunden war. Wenn über Preußen gesprochenwird – was heute ein abgeschlossenes Kapitel in unseremGeschichtsbuch ist –, wird vergessen, dass es sich bei
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Katherina Reiche17288
Preußen nie nur um einen deutschen, sondern immer umeinen deutsch-polnischen Staat gehandelt hat. Das hat jen-seits aller ideologischen Auseinandersetzungen die ganzeProblematik unserer Geschichte mitgeprägt, bis hin zurnationalsozialistischen Barbarei.Dass dieses Kapital abgeschlossen ist, dass heute klarist, wo die Deutschen zu Hause sind, und damit auch klarist, wo die Polen zu Hause sind, war nicht nur die Vo-raussetzung für die Wiedererlangung der deutschen Ein-heit, sondern ist auch die Voraussetzung für Frieden inganz Europa und für die europäische Integration. Wirdürfen also nicht vergessen, welche Bedeutung diedeutsch-polnischen Beziehungen haben. Ich kann allennur zustimmen, die gesagt haben: Die Beziehungen müs-sen ähnlich intensiv, ähnlich gut und ähnlich selbstver-ständlich werden wie die zwischen Deutschland undFrankreich.
Gewiss ist die Geschichte nicht alles; doch wir dürfensie nicht zur Seite legen, wir dürfen sie nicht vergessen.Gerade auch hinsichtlich des deutsch-polnischen Verhält-nisses dürfen wir dies nicht tun. Deswegen war es wich-tig und richtig, dass wir, angestoßen durch die Initiativevon Bundeskanzler Schröder – wir konnten dies geradewieder bei den deutsch-polnischen Konsultationen inFrankfurt/Oder von der polnischen Seite hören –, eine Lö-sung für die Zwangsarbeiterentschädigung
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hierim Bundestag beschließen konnten. Es geht nicht um Ent-schädigung für erlittenes Unrecht und erlittenes Leid, son-dern um Anerkennung dieses Leids und dieses Unrechts.Dies wurde uns immer wieder gesagt. Gerade für dasdeutsch-polnische Verhältnis ist das nicht gering zu ver-anschlagen.Aber auch all jenen, die gesagt haben, die Problemeder Zukunft würden über unser Verhältnis entscheiden,möchte ich Recht geben. Diese gemeinsame Zukunftheißt Europa. Die Osterweiterung ist ein historischesProjekt. Wir haben heute Morgen darüber gesprochen.Ich hoffe, dass all diejenigen, die das in dieser Debattemit Worten gesagt haben, die ich alle unterschreibenkann, ihre Unterstützung geben, wenn sie sich imwahrsten Sinne des Wortes in materielle Münze umset-zen muss.Wenn wir über eine gemeinsame Agrarpolitik und überdie nächsten Finanzvereinbarungen der erweiterten Unionim Jahre 2006 reden, wenn wir darüber sprechen, dass wirdurch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten für einen ge-wissen Zeitraum durchaus auch Wettbewerbsnachteilehaben können, dass aber die Vorteile insgesamt überwie-gen, wie die Erfahrungen aus den unterschiedlichen Er-weiterungsrunden der Europäischen Union gezeigt haben,wenn wir die sattsam bekannten, unsäglichen Vorurteileüber Polen, die bei uns leider noch viele im Kopf haben,untersuchen und ihnen, wie ich hoffe, sehr massiv und ra-tional entgegentreten werden,
wenn man sich all diese Dinge des praktischen Zusam-menlebens und Zusammenfindens im gemeinsamen Eu-ropa ins Gedächtnis ruft, dann wird sich erweisen, wieweit diese Bekundungen tatsächlich von Bestand sind, obes nur Worte sind oder ob sie angesichts der harten Rea-lität im gemeinsamen europäischen Alltag von Bestandsind.Ich will, Herr Türk – ich sage es noch einmal, weil Sieheute Morgen in der Debatte nicht anwesend waren –,
die Anwaltschaft, die wir für den Erweiterungsprozess ha-ben, ansprechen. Dieser liegt auch aus historischer Ver-pflichtung im deutschen Interesse, wie dies alle Rednerunterstrichen haben. Aber er liegt auch in unserem aktu-ellen Interesse. Vergleichen Sie einmal die Handelszahlender deutschen Volkswirtschaft und der EU-Volkswirt-schaft mit den Beitrittsländern! Man wird dann feststel-len, dass der Handel mit diesen Ländern von überragen-der Bedeutung ist. Es sind keine Länder, die um Almosenanstehen, sondern Länder, die für uns wie für sich selbstWirtschaftswachstum kreieren und damit Arbeitsplätze,Beschäftigung, Einkommen auch und gerade für unsereBürger schaffen werden.Das Wegfallen der EU-Außengrenze ist besondersfür die ostdeutschen Grenzländer von überragender Be-deutung. Eine Stadt wie Görlitz in Sachsen hat durch diehistorischen Veränderungen des Zweiten Weltkriegesnachgerade ihr ökonomisches Hinterland verloren. Dasgilt auch für Städte wie Frankfurt/Oder oder andere Be-reiche wie Vorpommern, in denen diese Grenzverän-derungen dazu geführt haben, dass vorher existente Wirt-schaftsräume zerrissen und unterbrochen wurden. Dasalles wird sich positiv ändern. Darin liegt eine gewaltigeChance im deutsch-polnischen Verhältnis, und zwar kon-kret im Verhältnis von Region zu Region.Dass diese Chance bereits genutzt wird, davon konn-ten wir uns jüngst bei einem Treffen in Breslau selbstüberzeugen, bei dem die Ministerpräsidenten und dieWoiwoden anwesend waren. Hier entwickelt sich etwas,was für das deutsch-polnische Verhältnis mindestens sowichtig ist wie die Erfahrungen, die wir an unserer West-grenze gemacht haben, wo über Jahre hinweg das Zusam-menwachsen von unten von überragender Bedeutungwar.
Eine dreiviertel Million deutsche und polnische Ju-gendliche haben am Programm des Deutsch-PolnischenJugendwerks teilgenommen. Das ist ein positives Zei-chen. Noch etwas anderes: Der polnische Ministerpräsi-dent hat dem Bundeskanzler und uns mitgeteilt, dass überzwei Millionen polnische Jugendliche Deutsch als ersteFremdsprache lernen. Auch das ist, wie ich finde, eine be-
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Bundesminister Joseph Fischer17289
eindruckende Zahl, auf die wir unbedingt positiv reagie-ren sollten und müssen.Über die Entwicklung des Handels habe ich schon ei-niges gesagt. Kollege Pflüger, Sie haben mich ganz zuUnrecht gescholten. Angeregt durch Ihre Rede, in der Sieüber die gemeinsamen Interessen der Ostpolitik, wie etwabeim Baltikum oder der Ukraine, gesprochen haben, habeich dem für die Spätaussiedler zuständigen Kollegen ausdem Innenministerium als Beispiel dafür Kasachstan ge-nannt. Mir sagte der polnische Außenminister: Wir habengemeinsame Interessen in Kasachstan. Ich fragte ihn,warum. Er antwortete mir schlicht und einfach: Wir habendasselbe Problem wie auch ihr, nämlich durch Stalin nachKasachstan deportierte Polen, und zwar in ähnlicherGrößenordnung, mit denselben Rückwanderungs- und In-tegrationsproblemen und demselben Interesse an Ka-sachstan. Darüber habe ich gesprochen. Ich hoffe, es fin-det Ihre nachträgliche Billigung.
– Gut, das beruhigt mich.Dies ist ein Aspekt, der völlig klarmacht, dass wir mitdem Beitritt Polens in der Tat eine verstärkte Hinwendungder Europäischen Union nach Osten bekommen. Das liegtauch im deutschen Interesse. Diese Dimension der Ko-operation müssen wir unbedingt ausbauen.
Die kulturelle, die wissenschaftliche Zusammenarbeit– dies alles mit Zukunftsorientierung, aber nicht gründendauf dem Vergessen der Vergangenheit, sondern aufbauendauf den Erfahrungen der Vergangenheit – wird diedeutsch-polnischen Beziehungen als eine der Haupt-achsen der europäischen Integration in Zukunft bestim-men und daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Erika
Steinbach, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Europa hört nicht an Oder und
Neiße oder am Böhmerwald auf. Europa reicht weit da-
rüber hinaus. Deutschland, das zurzeit den Osten der Eu-
ropäischen Union markiert, liegt im Grunde genommen
im Zentrum und im Herzen Gesamteuropas.
Vor diesem Hintergrund ist das zehnjährige Jubiläum
des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages ein
wichtiges Datum. Es macht deutlich, dass der Weg Euro-
pas in Richtung Osten ganz offensiv auch von Deutsch-
land – primär sogar von Deutschland – angegangen wird.
Die Tatsache, dass sich im deutsch-polnischen Verhält-
nis innerhalb der letzten zehn Jahre unendlich viel ver-
bessert hat, ist überall sichtbar. Dass sich etwas verbessert
hat, war nicht nur von oben oktroyiert, sondern wuchs
auch von unten, wuchs durch die Menschen, die hin und
her reisten und miteinander sprachen. Das zu wissen ist
wichtig.
Der Herr Außenminister hat angeführt, dass auch die
Vergangenheit wesentlich ist. Ich glaube, darüber muss
man sich im Klaren sein. Die Zukunft der Gemeinschaft
von Völkern kann gut gestaltet werden, wenn Vergangen-
heit und Gegenwart zusammengefügt und gemeinsam
fruchtbar aufgearbeitet werden. Nur daraus erwächst ein
konstruktives Miteinander in der Zukunft.
Zu diesem Aufarbeiten für die Zukunft gehört die
schwierige deutsch-polnische Geschichte in der Zeit des
Nationalsozialismus und natürlich auch danach. Ich bin
fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass Deutsch-
land seinen Teil der Last bei der Aufarbeitung dieser Ge-
schichte offensiv trägt. Ebenso ist es für Polen unab-
dingbar notwendig, seinen Teil, das, was nach 1945 kam,
aufzuarbeiten und damit verantwortungsvoll umzuge-
hen.
Es hat sich vieles positiv entwickelt. Die Menschen,
die aus Deutschland in Richtung Polen reisen und wan-
dern, sind in allererster Linie Menschen, die aus dem
heute polnischen Bereich kommen, die dort einmal ihre
Heimat hatten. Sie reisen nicht mit der geballten Faust in
der Tasche dorthin, sondern mit offenem Herzen und sie
tun vieles, um in Polen Kirchen aufzubauen oder Kran-
kenhäuser auszustatten. Die meisten anderen Deutschen
haben nicht das Bedürfnis, nach Schlesien oder Pommern
zu fahren. Es sind in aller Regel die Heimatvertriebenen,
die heute dorthin reisen. Sie tun das mit offenem Herzen.
Ich wünsche mir für die Zukunft eines: dass wir auch
seitens Deutschlands, seitens der Bundesregierung den
Teil, der viele Menschen hier im Land betrifft, bei der
Aufarbeitung nicht vergessen. Er gehört dazu. Man kann
Geschichte ganz oder gar nicht aufarbeiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Steinbach, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bedanke mich. Ich
bin auch schon fast am Ende.
Man soll keine Schlussstriche ziehen. Man soll in kei-
nerlei Weise Schlussstriche ziehen. Wir haben als Völker
gemeinsam eine gute Zukunft, wenn beide willens sind,
Polen und Deutsche, die jeweilige Vergangenheit kon-
struktiv und verantwortungsbewusst in die Hand zu neh-
men, aufzuarbeiten und das, was an Schwierigkeiten und
Defiziten noch vorhanden ist, aus dem Weg zu räumen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau KolleginSteinbach, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie eineKurzintervention angemeldet hatten. Es hat sich haar-scharf an der Grenze zu einem Redebeitrag bewegt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Bundesminister Joseph Fischer17290
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten grundsätz-lich darauf achten, dass wir die Instrumente, die wir alsAbgeordnete haben, den Regeln entsprechend nutzen.Der letzte Redner in dieser Debatte ist der KollegeHartmut Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Dedecius, derÜbersetzer, Schriftsteller und Gründer des Deutschen Po-len-Instituts in Darmstadt, der heute schon verschiedent-lich zitiert worden ist, hat im Hinblick auf dasdeutsch-polnische Verhältnis einmal die Maxime erho-ben, es gelte, Vorurteile durch Urteile zu ersetzen.Dedecius verstand und versteht sich wie kein anderer alsBrückenbauer, was die Beziehungen zwischen dem deut-schen und dem polnischen Volk betrifft.Auch die Funktion des deutsch-polnischen Nachbar-schaftsvertrages war es, Brücken zwischen unseren bei-den Völkern zu bauen. Der Vertrag war und ist ein Mei-lenstein in unseren Beziehungen. Zehn Jahre nach seinerUnterzeichnung muss festgestellt werden, dass seinHauptergebnis, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die wirnoch heute im deutsch-polnischen Verhältnis zu beklagenhaben, im Abbau von Vorurteilen bestanden hat und be-steht. Vorurteile werden bekanntermaßen am besten durchdas Kennenlernen des anderen, seiner Sprache und seinerKultur abgebaut. Der Vertrag hat auf vielen Feldern, imBereich der Politik, im gesellschaftlichen Bereich, imkirchlichen Bereich und auch im wirtschaftlichen Be-reich, Hervorragendes geleistet.Durch den heutigen Antrag und durch den Verlauf derDebatte wird deutlich, wie unstrittig die Weiterentwick-lung der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen inunserem Parlament, aber auch in unserer Gesellschaft ge-worden ist. Man kann es nur begrüßen, dass wir in diesemAntrag heute fraktionsübergreifend feststellen,... dass die Angehörigen der deutschen Minderheit inPolen und die in Deutschland lebenden Polen undBürger polnischer Abstammung sowie viele Heimat-vertriebene in den bilateralen Beziehungen eine ak-tive, verbindende und konstruktive Rolle spielen.Sicherlich ist es richtig, wenn wir in diesem Antrag andie Regierungen beider Länder appellieren, die Anliegendieser Bevölkerungsgruppen bei unseren regelmäßigendeutsch-polnischen Konsultationen entsprechend demNachbarschaftsvertrag zu berücksichtigen. Ein solchesAnliegen ist zum Beispiel die humanitäre Frage, wie wirmit Altersarmut von Angehörigen der deutschen Min-derheit in Polen umgehen. Wir sollten diese Frage nichtallein der polnischen Seite überlassen. Herr Außenminis-ter, vielleicht ist es möglich, dass wir bilateral, also mitUnterstützung der Bundesrepublik Deutschland, versu-chen, dieses humanitäre Problem gemeinsam lösen unduns nicht nur auf den Rechtsstandpunkt zurückziehen, wiees zum Beispiel im deutsch-polnischen Sozialversiche-rungsabkommen geregelt ist.Ein solches Anliegen ist die Frage der Ausweitung desmuttersprachlichen Unterrichts. Herr Außenminister,Sie haben gesagt, dass in Polen 2 Millionen junge Men-schen Deutsch als Fremdsprache lernen. Das zeigt, dassdie deutsche Sprache in Polen einen hervorragenden Stel-lenwert hat. Wir dürfen diese Entwicklung allerdingsnicht konterkarieren, indem wir gerade in der auswärtigenKulturpolitik unsere Mittel zur Stärkung der deutschenSprache in Polen kürzen. Wir müssen sicherlich noch An-strengungen zugunsten des muttersprachlichen Unter-richts in denjenigen Gebieten, in denen die deutsche Min-derheit lebt, unternehmen.
Lassen Sie mich ein Thema nennen, das ich dazu nut-zen möchte, dafür zu werben, in die Zukunft gerichteteLösungen anzustreben. Ich denke an die Diskussion umArchivalien im Zusammenhang mit den Verhandlungenüber kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter. Wir sollten inDeutschland wie in Polen für zukunftsgerichtete Lösun-gen werben. Eine solche Lösung wäre etwa der gesicherteZugang zu Archivalien von beiden Seiten, indem wir sie– was deutsche Archivfachleute vorschlagen – mikrover-filmen. Wenn dies geschieht, dann spielt es überhauptkeine Rolle mehr, wo diese Archivalien liegen. Beide Sei-ten könnten die für die Geschichtswissenschaft notwendi-gen Archivalien nutzen, ohne dass wir uns darüber strei-ten, wo die Bestände einzulagern sind.Für mich ist die herausragende Bedeutung desdeutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, dass er aufbeiden Seiten die Sicht auf den Nachbarn verändert hat.Die deutschen Heimatvertriebenen haben die Offenheitder deutsch-polnischen Grenze für 1 000fache Besuche inihrer alte Heimat genutzt und sie haben inzwischen einfestes Beziehungsnetz zu den Menschen in ihrer Heimat– auch zur polnischen Bevölkerung – aufgebaut. Ichglaube, wir können erfreut feststellen, wie unbefangen diepolitisch-gesellschaftlichen Verantwortlichen in Polenheute auf die Heimatvertriebenen zugehen. Ich möchtedas an einer Person festmachen, die zu kommunistischerZeit in Polen als Unperson galt, nämlich unserem ehema-ligen Bundestagskollegen Dr. Herbert Hupka, der heute inPolen ein gern gesehener Gast ist, überall Vorträge hältund sogar vom polnischen Bürgermeister seiner Heimat-stadt Ratibor mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnetworden ist, weil er sich dafür eingesetzt hat, dass Mittelaus Europa und aus dem deutsch-polnischen Verständi-gungsfonds für die Kanalisation dieser Stadt bereitgestelltwurden.
Die polnische Seite – auch das müssen wir sehen – gehtheute wesentlich unbefangener mit dem deutschen Kul-turerbe in Schlesien, Ostpreußen und Pommern um,weil sie erkannt hat, dass es ein verbindendes europä-isches Kulturerbe ist. So, wie es in der deutschen Kulturimmer wieder wertvolle Bereicherungen durch die Ver-wobenheit mit der polnischen Kultur gegeben hat– schauen Sie sich unsere Kulturtradition an –, so gilt dasin gleicher Weise auch für Polen. Nach meiner Meinunghat es der ehemalige polnische Botschafter in Deutsch-land, Janusz Reiter, in einem Interview, ich glaube, mitdem „Spiegel“, mit folgendem schönen Satz auf denPunkt gebracht:
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Vizepräsidentin Petra Bläss17291
Heute kann man ruhig sagen, die Steine in Breslausprechen auch deutsch und sie haben sehr viel aufDeutsch zu berichten, sehr viel!Ich glaube, auf beiden Seiten wird vieles enttabuisiert.Ich halte es für einen ganz bemerkenswerten Akt, wennein junger Wissenschaftler wie Borodziej in Polen eineQuellenedition über polnische Akten zur Vertreibung derDeutschen herausgibt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Koschyk, ich muss Sie leider unterbrechen.
Unterbrechen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, weil Sie Ihre Re-
dezeit bereits überzogen haben. Da es sich mehrfach so
anhörte, als würden Sie Ihren Schlusssatz sagen, war ich
bis jetzt geduldig.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss. – Wir sollten nicht verschweigen,
dass es noch eine Reihe großer Herausforderungen in un-
seren Beziehungen gibt. Aber all die Fortschritte, die wir
in den letzten zehn Jahren in unseren Beziehungen er-
reicht haben, sollten uns den Mut geben, die noch beste-
henden Herausforderungen anzugehen, sie zu meistern
und die Dinge aufzugreifen, die die Menschen jenseits
und diesseits von Oder und Neiße heute mehr verbinden,
als dass sie sie noch trennen.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der F.D.P. mit dem Titel „Deutsche
und Polen in Europa: Eine gemeinsame Zukunft“. Wer
stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/6322? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jochen-
Konrad Fromme, Peter Götz, Dietrich
Austermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Umsetzung des Versprechens der Bundesregie-
rung zur Stärkung der Kommunalfinanzen
– Drucksache 14/6163 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kol-
lege Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Diese Bundesregierung macht eine kommu-nalfeindliche Politik. Sie verschiebt immer mehr Kostenund staatliche Aufgaben hin zu den Städten, Gemeindenund Landkreisen.
Gleichzeitig nimmt sie den Kommunen auch noch dasGeld weg.
Das ist unanständig, unredlich und gefährdet die kommu-nale Selbstverwaltung.
– Das ist nicht unwahr. Welche Bedeutung die Kommu-nen für die Bundesregierung haben, ist deutlich an derPräsenz auf der rot-grünen Regierungsbank ablesbar. Nie-mand sitzt dort!
Damit steht Rot-Grün fest in zentralistisch-sozialistischerTradition.
Sogar Ministerpräsident Clement aus Nordrhein-West-falen beklagt dieser Tage die „großen zentralstaatlichenVersuchungen“ der Berliner Regierung. Damit meint erdiese Bundesregierung.CDU und CSU haben ein anderes Staatsverständnis.Wir wollen eine starke lokale Demokratie. Wir wollen,dass die Bürger mitreden und mitentscheiden können. Wirwollen weniger Staat, weniger Bevormundung und fürStädte, Gemeinden und Landkreise eigenverantwortlicheAufgaben und klare Zuständigkeiten.
Dazu gehört auch die notwendige Finanzausstattung.Durch den Antrag, über den wir heute diskutieren, wirddie dramatische Verschlechterung der Haushaltssituationdeutscher Städte und Gemeinden sehr deutlich. Wir for-dern die Koalitionsfraktionen auf, ihre Versprechungengegenüber den Kommunen einzuhalten. Leider machenSie genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer Koali-tionsvereinbarung angekündigt haben. Das ist eine Irre-führung der Bevölkerung und ein Betrug an vielen kom-munalpolitisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Hartmut Koschyk17292
sich in ihrer freien Zeit ehrenamtlich zum Wohl ihrerHeimatstadt einbringen.In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht unter anderem:Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärkenund das Gemeindefinanzsystem einer umfassendenPrüfung unterziehen.Die Prüfung des Gemeindefinanzsystems ist in weiteFerne geschoben. Bei der Hauptversammlung des Deut-schen Städtetages in Leipzig im vergangenen Monat hatder Bundeskanzler gesagt, dass er das Thema in dieser Le-gislaturperiode nicht mehr anpacken will. So einfachmacht sich Rot-Grün das Regieren. Wir nennen das: Ver-sprechen gebrochen.
Im Zusammenhang mit der versprochenen Stärkungder Finanzkraft der Gemeinden will ich nur eine Zahl nen-nen: 11,3Milliarden DM, und zwar nicht zur Stärkung derFinanzkraft; das ist vielmehr der Betrag, der seit 1998deutschen Kommunen vom Bund weggenommen wurde.Also 11,3Milliarden DM weniger statt auch nur eine Markmehr. Diese Summe macht etwa ein Zehntel aller kom-munalen Steuereinnahmen aus. Ein Abbau um 10 Prozentist viel und ist deshalb besonders schlimm, weil zusätzlichder Anteil staatlicher Pflichtaufgaben weiter wächst. DieMöglichkeit zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben, die denGestaltungsspielraum eines Gemeinderates ausmachen,wird immer weiter eingeschränkt.Das führt dazu – das gilt für alle Parteien –, dass es im-mer schwieriger wird, Persönlichkeiten zu finden, die be-reit sind, für ein kommunales Mandat zu kandidieren.Auf kommunaler Ebene wollen die Menschen gestaltenund nicht nur einen Mangel verwalten. Durch Ihre Politikfügen Sie der lokalen Demokratie einen großen Schadenzu. Sie machen auf diese Weise die kommunale Selbst-verwaltung bewusst und ganz gezielt kaputt.
Sie wollten durch ein höheres WirtschaftswachstumMindereinnahmen als Folge Ihrer Steuerreform – einJahrhundertreformwerk – ausgleichen. Kaum ein Jahrspäter bekommen die Deutschen die Quittung Ihrerschlechten Politik präsentiert: Die Konjunktur lahmt – wirwissen es alle und haben es heute wieder gehört –, dafürsteigt die Inflation auf inzwischen 3,5 Prozent. Hinsicht-lich des Wachstums haben Sie Deutschland zum Schluss-licht in der Europäischen Union herunterregiert. Dadurchergeben sich weitere Steuerausfälle, von denen neben denBürgerinnen und Bürgern wiederum die Gemeinden be-sonders betroffen sind. Für das Jahr 2001 sind 1,9 Milli-arden DM weniger Steuereinnahmen zu erwarten. DieFolgen sind katastrophal: Viele Kommunen müssen ihrenVerwaltungshaushalt auf Pump finanzieren; für dringendnotwendige kommunale Investitionen fehlt das Geld. Dasgilt nicht nur für Gemeinden im Osten, sondern betrifftauch viele Regionen des Westens. Besonders schlimmsieht es in den Ländern aus, in denen die SPD in der Re-gierungsverantwortung steht oder gar die PDS noch mitim Boot sitzt.Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage des Bun-des der Steuerzahler in Nordrhein-Westfalen fehlen indiesem Jahr in Nordrhein-Westfalen rund 3,64 Milliar-den DM in den kommunalen Kassen. Damit ist das Defi-zit um 15 Prozent höher als im Vorjahr. Seit Jahrzehntenhat es nicht mehr so schlechte Straßenverhältnisse in denGemeinden gegeben wie heute. Ähnliches gilt hinsicht-lich der Unterhaltung von Schulen und anderen öffentli-chen Einrichtungen.Auch der Bauwirtschaft – früher ein kraftvoller Motorunserer Konjunktur – fehlen die Aufträge aus den Kom-munen. Das ist auch keine Frage irgendwelcher Konjunk-turprogramme, sondern Aufgabe einer verlässlichen undkontinuierlichen Politik.Lassen Sie mich anhand von nur einem Beispiel auf dieFolgen rot-grüner Politik für die kommunalen Haushalteetwas näher eingehen: die Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen hatfast 100Milliarden DM zusätzlich in die Kassen des Bun-des gebracht.
Wir haben sofort gefordert, Länder und Kommunen zubeteiligen; denn Deutschland ist ein Bundesstaat. Nachdem Grundgesetz müssen Einnahmen und Ausgaben ineinem äquivalenten Verhältnis zueinander stehen. Wennder Bund mit 100 Milliarden DM etwa ein Fünftel mehreinnimmt als geplant, dann gerät dieses äquivalente Ver-hältnis aus dem Gleichgewicht. Schon alleine deshalbhätte der Bundesfinanzminister Länder und Kommunenbeteiligen müssen. Das hat er aber nicht getan.Doch damit nicht genug: Durch die steuerliche An-rechnung der Lizenzkosten verlieren die Kommunen beider Gewerbesteuer und bei der Körperschaftsteuer überden Abschreibungszeitraum 14Milliarden DM. Der Bundkassiert; die Städte, Gemeinden und Landkreise zahlendie Zeche.Hinter solch abstrakten Zahlen verbergen sich drama-tische Verhältnisse in den Gemeinden, in denen Telekom-munikationsfirmen vertreten sind. Ich nenne ein Beispiel:Das Amt Stahnsdorf, eine Gemeinde in Brandenburg mit12 000 Einwohnern, hatte im vergangenen Jahr 4,2 Milli-onen DM Gewerbesteuereinnahmen, im Wesentlichenvon Telekommunikationsfirmen. 2001 entfällt diese Ein-nahme völlig. Dafür gibt es keinerlei Ausgleich. So ge-staltet sich ganz konkret in der Praxis das Versprechen ausder Koalitionsvereinbarung, die kommunalen Finanzenzu stärken.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Inzwischen hat dieParlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis Platzgenommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Peter Götz17293
Für mich ist maßgeblich,
welches Gewicht die Bundesregierung in ihrer Politik auf
Kommunen, Städte und Gemeinden legt. Wie gering die-
ses Gewicht ist, wird heute demonstriert.
In Bundestagsreden ist oft von abstrakten Geldbeträ-
gen die Rede. Aber mit diesen Beträgen werden Leistun-
gen für die Menschen bezahlt. In den Gemeinden sind es
die ganz alltäglichen Leistungen, bei denen immer mehr
Einschnitte gemacht werden müssen: bei Schulen, Kin-
dergärten, Sportstätten und Bädern, bei der Kultur, bei Bi-
bliotheken sowie bei der Theater- und Vereinsförderung.
Viele dieser kommunalen Leistungen sind einfach nicht
mehr möglich, weil die rot-grüne Bundesregierung die
kommunalen Haushalte kontinuierlich zu ihren Gunsten
plündert.
Im Jahr 2001 müssen die Kommunen über 50 Prozent
ihrer Steuereinnahmen für Sozialleistungen aufbringen.
Im vorigen Jahr waren es noch 47 Prozent. Ob bei der
Grundsicherung im Zuge der Rentenreform oder beim
Kindergeld, an dem sich die Kommunen mit 6 Milliar-
den DM zu beteiligen haben – um nur einige wenige Bei-
spiele aus der Sozialpolitik zu nennen –:
Überall bei diesen staatlichen Aufgaben bitten Sie die
Kommunen mit zur Kasse und stellen dies gleichzeitig
– wie bei der Kindergelderhöhung – als Wohltat dieser
Bundesregierung dar.
Ich könnte mit dem Verbraucherschutz fortfahren, zum
Beispiel mit dem so genannten BSE-Schnellgesetz. Auch
hier werden den Kommunen und Ländern Aufgaben aufs
Auge gedrückt. Für den Bund entstehen keine Kosten, für
Länder und Gemeinden aber erhebliche. Damit ist für
Rot-Grün das Problem erledigt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Götz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Götz, ich
finde es beachtenswert, dass bei diesem wichtigen Thema
und angesichts der dramatischen Finanzsituation der
Kommunen kein zuständiges Regierungsmitglied auf der
Regierungsbank sitzt. Können Sie sich dies erklären?
Herr Kollege Seiffert, ich
kann mir das nur so erklären, dass diese Bundesregierung
ihre Prioritäten so setzt, dass die Städte und Gemeinden
für sie überhaupt keine Rolle spielen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Götz, es
gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Danach lasse ich aber keine Fragen mehr zu, weil wir
nicht in der Fragestunde sind.
Herr Kol-
lege Götz, teilen Sie meine Meinung, dass sich die Bun-
desregierung wegen ihrer schlechten Leistungen gegen-
über den Kommunen so schämt, dass sich kein Vertreter
der Bundesregierung traut, während dieser Debatte anwe-
send zu sein?
Herr Kollege Fromme, ich
teile Ihre Meinung.
Die Fälle, die ich vorhin aufgeführt habe, sind keine
Einzelfälle. Das Schlimme ist – das wird durch die man-
gelnde Präsenz der Bundesregierung während dieser De-
batte deutlich –: Das Ganze hat System. Deshalb prangern
wir es an. Rot-Grün will das Gesicht unserer Demokratie
verändern, hin zu mehr Staat, mehr Zentralismus, mehr
Sozialismus, mit Regulierung sowie mit Gängelung und
Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger. Berlin lässt
grüßen.
– Klatschen Sie nur, Sie bei der PDS!
Die Union steht für mehr Freiheit und mehr Selbstver-
antwortung. Wir wollen eine starke Demokratie vor Ort.
Sie haben auch versprochen, das Konnexitätsprinzip
einzuhalten. Das heißt im Klartext, dass jede staatliche
Ebene, die durch Gesetz Aufgaben verursacht, auch für
die Kosten aufkommt. Einfach ausgedrückt: Wer bestellt,
bezahlt. – In Wahrheit machen Sie permanent das Gegen-
teil und brechen regelmäßig Ihre Versprechen. Sie treten
mit Ihrer verfehlten Politik Ihre eigene Koalitionsverein-
barung ständig mit Füßen und entwickeln sich zuneh-
mend zu Künstlern im Brechen von Versprechen.
Wir fordern Sie deshalb zu einer Kurskorrektur auf.
Halten Sie endlich Ihre Versprechungen und ändern Sie
Ihre kommunalfeindliche Politik! Legen Sie die verspro-
chene Gemeindefinanzreform vor und nicht laufend
Stückwerk mit neuer Bürokratie! Machen Sie Schluss mit
dem ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler
Haushalte! Wir wollen starke Städte und Gemeinden. Wir
wollen eine starke kommunale Selbstverwaltung. Wir
wollen bürgerschaftliches Engagement auf kommunaler
Ebene. Das erreichen wir nur, wenn wir den Städten und
Gemeinden auch die notwendige finanzielle Ausstattung
belassen.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117294
Frau Präsidentin! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Das, was wir hier gerade er-lebt haben, scheint eine neue Veranstaltung zu sein. DieCDU/CSU-Fraktion ist offensichtlich sehr ratlos. Siemuss sich schon selbst befragen. Mittwochs ist ja immerFragestunde. Wir könnten für Ihre Fraktion eine eigeneFragestunde einrichten, damit Sie sich endlich informie-ren können.
Ihnen, Herr Kollege Götz, kann ich nur sagen: Es wäregut gewesen, Sie hätten Ihre Rede während Ihrer Regie-rungszeit gehalten. Da wäre sie angebracht und berechtigtgewesen; denn Sie haben heute einen Antrag eingebracht– dazu will ich Ihnen ein paar Dinge sagen –, der acht Sei-ten umfasst. Drei der acht Seiten sind weiße Blätter.
Anderthalb Seiten enthalten Unterschriften der Unter-zeichner, weitere anderthalb Seiten völlig veraltetes Zah-lenmaterial und zwei Seiten unwahre Behauptungen.
Angesichts dieser Qualität des Antrages kann ich schonverstehen, dass sich die Bundesregierung das nicht antunmöchte. Für diesen Antrag sollten Sie sich schämen. Er istnur peinlich.
Das will ich Ihnen anhand von zwei Daten Ihres An-trages kurz erläutern. Der Antrag datiert vom 29. Mai2001. Das ist noch nicht allzu lange her, drei Wochen undzwei Tage. Der Antrag ist demzufolge sehr frisch. Dasdarin enthaltene Zahlentableau, auf das Sie sich bei IhrerKritik im Wesentlichen berufen, stammt allerdings vonNovember vorigen Jahres.
– Herr Fromme, seien Sie ein bisschen vorsichtig mitIhren Zwischenrufen. Sie werden gleich hören, warumdas an dieser Stelle ein falscher Zwischenruf war.Spätestens seit dem Vermittlungsverfahren, was dasProblem Rente angeht – dieses Vermittlungsverfahren lagdeutlich vor dem Datum Ihres Antrages –, hätten Sie wis-sen müssen, dass die Zahlen, die beispielsweise zur sozi-alen Grundsicherung in Ihrem Antrag niedergelegt sind,völlig verkehrt sind.
Sie haben unter Bezugnahme auf das Tableau behaup-tet, die Gemeinden würden durch die Reform der gesetz-lichen Rentenversicherung mit 1 Milliarde DM belastet.Die Wahrheit ist: Die Gemeinden werden durch die Re-form der sozialen Grundsicherung nicht mit einer einzi-gen müden Mark belastet werden.Für unsere Zuhörer bzw. Zuschauer will ich einmal kurzerklären, worum es bei der bedarfsorientierten Grund-sicherung geht, damit klar ist, wo hier die Verantwortlich-keiten liegen.Ältere Menschen, deren Rente unterhalb der Sozial-hilfe liegt, haben einen Anspruch, diese Rente auf Sozial-hilfeniveau aufgestockt zu bekommen.
Von diesem Recht – das wissen wir – machen viele ältereMenschen keinen Gebrauch. Es sind hauptsächlich ältereFrauen betroffen, die den Gang zum Sozialamt scheuen,weil sie nicht möchten, dass sich das Sozialamt im Wegedes Rückgriffs bei unterhaltsverpflichteten Verwandten– das sind in der Regel die Kinder – das Geld zurückholt.Aus diesem Verhalten der älteren Menschen resultiert dieso genannte verschämte Altersarmut. Mit dieser verschäm-ten Altersarmut werden wir durch die im Rahmen derRentenreform beschlossenen bedarfsorientierten Grund-sicherung Schluss machen.
Dies ist ein Meilenstein in der Sozialpolitik dieser Repu-blik; so etwas haben Sie in 16 Jahren nicht zustande ge-bracht.Nun ist es klar, dass der Verzicht auf den Rückgriff beiden Sozialämtern Geld kostet. Es kostet die Gemeindenschätzungsweise 600 Millionen DM. Das war jedenfallsdie Zahl, die Sie schon im November vergangenen Jahresanstelle der von Ihnen behaupteten 1 Milliarde DM inIhren Antrag hätten übernehmen können. Wiese Ihr Zah-lentableau diese 600 Millionen DM wenigstens ansatz-weise aus, könnte man Ihren Antrag noch für halbwegsseriös halten, aber eben auch nur für halbwegs seriös;denn die Bundesregierung hat immer klar gemacht, dasssie diese Belastung der Kommunen ausgleichen wird. Siewird die Kosten dafür übernehmen und die Kommunenmit dem notwendigen Geld versorgen, um diese sozialeLeistung erbringen zu können. Im Vermittlungsausschusshat man sich – das wissen Sie – nicht auf nur 600 Mil-lionen DM, sondern auf eine Erstattung des Bundes inHöhe von 800 Millionen DM geeinigt, und zwar mit derMaßgabe, diese Summe alle zwei Jahre zu überprüfenund, wenn es einen Mehrbedarf gibt, anzupassen. Vonkommunalfeindlicher Politik, meine Damen und Herren,keine Spur!
Ganz im Gegenteil: Hier wird das in der Koalitionsver-einbarung niedergelegte Konnexitätsprinzip voll erfüllt:Wer die Musik bestellt, bezahlt. Das hat es in Ihrer Re-gierungszeit nie gegeben.Ein zweites Beispiel für die Unseriosität Ihres Antragesist die von Ihnen propagierte Belastung der Gemeindendurch die Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung aufdie Sozialhilfe. Wir haben das bei der letzten Erhöhungum 20 DM zum 1. Januar 2000 einmal gemacht. Das hatverfassungsrechtliche Hintergründe, die ich hier nichtnäher erläutern will, die Sie aber kennen. Nach IhrerLesart belastet dies die Kommunen mit 200 Milli-onen DM. Ehrlicher wäre es gewesen, Sie hätten darauf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17295
hingewiesen, dass der Bund im Zusammenhang mit die-ser Kindergelderhöhung den Ländern einen weiterenViertelprozentpunkt der Umsatzsteuer zugestanden hat,was gute 600 Millionen DM ausmacht. Ehrlicher wäre esauch gewesen, Sie hätten die Kindergelderhöhung zum1. Januar 1999 in Höhe von 30 DM erwähnt, die bei derSozialhilfe angerechnet worden ist. Dies entlastete dieKommunen um 300Millionen DM. Dasselbe wird bei dernächsten Kindergelderhöhung zum 1. Januar 2002 ge-schehen, was die Kommunen um weitere 300 Milli-onen DM entlasten wird.Im Saldo ergeben die drei Kindergelderhöhungen alsoeine Entlastung der Kommunen von mindestens 400 Mil-lionen DM. Darin sind die 600 Millionen DM aus demViertelprozentpunkt Umsatzsteuer noch gar nicht einge-rechnet. Von kommunalfeindlicher Politik, meine Damenund Herren, wiederum keine Spur!
Ein dritter Punkt, der zeigt, wie seriös Ihr Antrag ist,sind die verkürzten Zitate, mit denen Sie Ihren Antragspicken, um ihm eben einen seriösen Anstrich zu geben.Beispielsweise zitieren Sie den Präsidenten des Deut-schen Städtetages, Hajo Hoffmann, wie folgt:Die Investitionstätigkeit geht dramatisch zurück. DieKommunen können wichtige Investitionen – etwa fürStraßen, Kanalisation, Schulen und soziale Einrichtun-gen – nicht mehr vornehmen. Die Länder haben ihreZuweisungen an die Kommunen der neuen Länder– jetzt achten Sie einmal auf die Jahreszahl –seit 1992 um über ein Drittel und in den alten Län-dern um über ein Viertel verringert.An dieser Stelle endet Ihr Zitat. Wie unredlich dies ist,zeigt der im direkten Anschluss daran von Hajo Hoffmanngeäußerte Satz:Sie– also die Länder –tragen damit die Hauptverantwortung dafür, dass dieInvestitionen der Kommunen heute um 19 Milli-arden DM oder fast 30 Prozent unter denen des Jah-res 1992 liegen.Er sieht die Verantwortung ganz eindeutig bei den Län-dern. Im Übrigen waren Sie 1992, was den Bund angeht,an der Regierung. Auch hier, meine Damen und Herren,von kommunalfeindlicher Politik des Bundes keine Spur!Das sehen die kommunalen Spitzenverbände genauso;ich erläutere es Ihnen ganz kurz am Beispiel der Steuer-reform. Hier sind wir, die Koalition aus SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen, von den Spitzenverbänden – Sie wa-ren ja selbst bei der Anhörung anwesend – für unserkommunalfreundliches Verhalten im Zusammenhang mitder Beratung der Steuerreform gelobt worden. Das be-gann damit, dass der Finanzausschuss zu diesem Themaeigens eine Anhörung für die kommunalen Spitzen-verbände durchgeführt hat. Das hat es zu Ihrer Regie-rungszeit niemals gegeben.
So konnten die Bedenken und Anregungen der Kom-munen sofort und unmittelbar eingebracht werden.Das setzte sich in sehr engen Kontakten während desgesamten Gesetzgebungsverfahrens fort, was für dieKommunen auch zu positiven Resultaten wie der Fest-schreibung der Absenkung der Gewerbesteuerumlagenach 2005 und der Revisionsklausel für 2004 geführt hat.Der größte Erfolg allerdings, den die Kommunen erzielthaben – wir haben sie dabei unterstützt –, ist ihre unter-durchschnittliche Beteiligung an den Ausfällen, die dieSteuerreform mit sich bringt.Es muss doch klar sein: Steuersenkung heißt wenigerEinnahmen, und zwar bei Bund, Ländern und Gemeinden.Wer auf der einen Seite ständig Steuersenkung predigt,kann nicht auf der anderen Seite kritisieren, dass dannauch wirklich Steuerausfälle eintreten. Gerade die Steuer-ausfälle beweisen doch, dass diese Steuerreform richtigist und die Zielgruppen auch erreicht hat.
An den Gesamtsteuereinnahmen des Staates – meineDamen und Herren, das wissen Sie – sind die Gemeindenmit 12,2 Prozent beteiligt. Daher wäre es nur gerecht undlogisch, wenn man die Gemeinden an den Ausfällen, dieeine Steuerreform mit sich bringt, in genau diesem Ver-hältnis beteiligte.
– Völlig korrekt, Herr Götz. Aber Sie kennen doch dieZahlen, die Ihnen auch die kommunalen Spitzenverbändebestätigen: Die Gemeinden haben insgesamt nur 8,9 Pro-zent der Steuermindereinnahmen zu tragen. Sie sind dochsehr dankbar dafür, dass wir diese kommunalfreundlichePolitik machen. Von kommunalfeindlichem Verhaltenwiederum keine Spur!An dieser Stelle möchte ich den Kommunen und densie vertretenden Spitzenverbänden – dem Städtetag, demStädte- und Gemeindebund sowie dem Landkreistag – fürihre Bereitschaft, die Steuersenkungspolitik der Bundes-regierung voll zu unterstützen, sehr danken.
Es ist ein einmaliger Fall, dass die Spitzenverbände diePolitik der Bundesregierung unterstützen. Das hat es zuIhren Zeiten nie gegeben.
Eines ist klar: Auch eine Beteiligung von 8,9 Prozentbei den Ausfällen ist selbstverständlich eine Belastung fürdie Gemeinden. Das hat unweigerlich Konsequenzen fürdie kommunalen Haushalte. Wer wollte das leugnen? Dasist aber im System so angelegt. Steuersenkung heißt ebennicht nur Steuersenkung beim Bund, während alle an-deren mehr Geld bekommen, sondern Steuersenkungheißt: geringere Steuereinnahmen bei Bund, Ländern undGemeinden.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Bernd Scheelen17296
Ich glaube, den Kommunen wurde die Zustimmung zurSteuerreform durch die Tatsache, dass wir die Gewerbe-steuer in vollem Umfang erhalten haben, sehr erleichtert.Das ist ein wichtiger Punkt.Die Ihnen bekannte Steuerschätzung hat gezeigt, dassdie Gewerbesteuereinnahmen in den kommenden Jahrenweiter steigen werden. In diesem Jahr werden 48 Milli-arden DM erwartet, im nächsten Jahr 53 Milliarden DMund 63 Milliarden DM im Jahr 2005. Die Einnahmen ausder Gewerbesteuer brechen also nicht weg, sondern stei-gen ständig.Durch den pauschalierten Abzug der Gewerbesteuervon der Einkommensteuer haben wir erreicht, dass dieGewerbesteuer für die Personenunternehmen, also fürden Mittelstand, als Belastung abgeschafft, für die Kom-munen aber gleichzeitig als Einnahmequelle erhaltenwurde.
Das ist doch im Grunde ein genialer Trick. Da sollten Sieeigentlich sagen: Wunderbar, auf diese Idee hätten wirfrüher kommen sollen. – Das ist mittelstandsfreundlichePolitik, ein hervorragender Beitrag zur Entlastung desMittelstandes bei gleichzeitiger Sicherung der Finanz-kraft der Gemeinden. Das wissen Städte, Gemeindenund Kreise zu schätzen, denn sie wissen genau, was sievon einer Regierung unter Führung der CDU/CSU oderauch mit Beteiligung der F.D.P. zu erwarten gehabt hät-ten.
Die F.D.P. wollte die Gewerbesteuer völlig und ohneErsatz abschaffen. Die CDU/CSU wollte die Messzahlenabsenken. Das hätte einen dramatischen Rückgang derEinnahmen aus der Gewerbesteuer, der wichtigsten kom-munalen Steuer, zur Folge gehabt. Sie hätten damit nachmeiner Überzeugung Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzesausgehöhlt, der den Gemeinden eine wirtschaftsbezogeneSteuer mit eigenem Hebesatzrecht garantiert.
Sie, meine Damen und Herren, sind ein schlechter Rat-geber und ein schlechter Helfer bei der Durchsetzungkommunaler Interessen. Wir Sozialdemokraten brauchenvon Ihnen in Bezug auf Kommunalpolitik nun wirklichkeine Ratschläge, denn die Fraktion der Sozialdemokra-tischen Partei Deutschlands ist diejenige Bundestagsfrak-tion, die besonders stark in den Kommunen verwurzelt ist.Wir sind die Kommunalpartei schlechthin und das seitüber 130 Jahren.Wir haben unsere Wurzeln in den Stadt- und Gemein-deräten; das wissen Sie auch. Wir sind dort gut verankert.Wir wissen, woher wir kommen, und vergessen das nicht.
Das kann man auch sehr gut am Beispiel des Finanz-ministers klar machen. Der Finanzminister Hans Eichelwar Oberbürgermeister in Kassel, er war Ministerprä-sident in Hessen und ist jetzt Bundesfinanzminister. Dasheißt, er hat alle drei staatlichen Ebenen selbst kennengelernt
und weiß, wo die Probleme liegen, und er handelt danach.Wir nehmen den Auftrag der Koalitionsvereinbarungsehr ernst, das Gemeindefinanzsystem einer umfassendenPrüfung zu unterziehen. Aber Sie wissen doch genau wieich, dass uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsvom 11. November 1999 eine sehr knappe Frist im Hin-blick auf den Länderfinanzausgleich und das Maßstäbe-gesetz gesetzt hat. Das ist eine Folge der Klagen, die imWesentlichen von den süddeutschen Ländern betriebenworden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Scheelen, ich
muss leider auch Sie etwas bremsen.
Ich komme sofort zum
Schluss.
Wie Sie wissen, binden die Arbeiten am Maßstäbege-
setz und am Länderfinanzausgleich personelle Kapazi-
täten sowohl in den Ministerien als auch in den Fraktio-
nen. Wir müssen dieses Gesetzesvorhaben zum Abschluss
bringen. Deswegen bleibt in dieser Legislaturperiode lei-
der keine Zeit für eine Gemeindefinanzreform. Wir wer-
den sie aber in der nächsten Legislaturperiode anpacken.
Dazu ist uns das Thema zu wichtig.
Zum Abschluss möchte ich den Kollegen von der Op-
position noch einen guten Rat geben: Bereichern Sie die
Debatte lieber mit konstruktiven Vorschlägen zur Ge-
meindefinanzreform und nicht mit einem solch peinlichen
Antrag; denn in Ihrem Antrag ist kein einziger Vorschlag
zu einer Gemeindefinanzreform enthalten.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Gerhard Schüßler für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeScheelen, es ist schon vermessen, wie Sie angesichts derVernachlässigung der Kommunen durch die rot-grüneBundesregierung, die es in dieser Form noch nie gegebenhat, Ihre Politik mit hehren Worten zu verteidigen ver-suchen.
All Ihre hehren Worte aus Ihrer Regierungserklärung,nach denen Sie die Finanzkraft der Gemeinden stärkenwollten, sind wie Seifenblasen zerplatzt. Herr KollegeScheelen, wenn selbst eine Zeitung wie die „FrankfurterRundschau“, die bekanntlich manche Vorlagen zu ihren
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Bernd Scheelen17297
Artikeln direkt aus dem Büro des Kollegen Struck be-kommt, Alarm schlägt und titelt „Kommunen klagen überfinanzielle Zwangsjacke“, und wenn man sich die Zahlen,die für sich sprechen, anschaut, ist mir Ihr Beitrag über-haupt nicht mehr verständlich.
Jeder vernünftige Mensch muss sich angesichts dieserAussichten sagen: So kann es nicht weitergehen. Wasmacht denn diese Bundesregierung? Nichts! Es ist jedesJahr das gleiche Spiel: Nachdem die Bürgerinnen undBürger ihre Steuern abgeliefert haben, beginnt eine aben-teuerliche, wilde Umverteilung. Je nachdem, wie dasjährliche Gezerre ausgeht, bekommen davon der Bund,das jeweilige Bundesland und die Kreise und Gemeindenihre jeweiligen Anteile. Damit aber nicht genug. Die Län-der praktizieren untereinander einen Finanzausgleich undauch die kreisfreien Städte und Landkreise unterliegennoch einmal einem Finanzausgleich.Unser Grundprinzip, gleiche Lebensbedingungen füralle zu erreichen, war sicher eine lange Zeit richtig. Fürdie neuen Bundesländer müssen auch weiterhin Ausnah-men möglich sein. Alle anderen Umverteilungsszenariensollten aber so schnell wie möglich abgeschafft werden.Das ganze System taugt nichts mehr.
Dieses System hat alle Verantwortlichkeiten verwischt.Die Finanzströme sind nicht mehr transparent und auchnicht mehr kontrollierbar. Was wir dringend brauchen,ist eine präzise und punktgenaue Struktur der Steuerge-setzgebung. Nur mit einem solch längst überfälligenSchritt kann das Ende der für niemanden mehrnachvollziehbaren Umverteilungsorgien eingeläutetwerden.
Jede Gebietskörperschaft muss in der Lage sein, eigeneSteuern zu erheben, sie muss also das Recht auf Erhebungeigener Steuern haben.
Herr Clement und Herr Beckstein haben in dieser Wochevorsichtige Vorschläge gemacht. Es gibt danach Bundes-steuern für die Verpflichtungen, für die der Bund die Ver-antwortung trägt. Die Länder werden in die Lage versetzt,ihre Hoheitsaufgaben und alles, was ihnen der föderativeStaat übertragen hat, zu finanzieren. Die Selbstverwal-tung der Kommunen bekommt dann wieder einen Sinnund eigene Gestaltungsspielräume, die ja völlig verlorengegangen sind.In Nordrhein-Westfalen stehen 90 Prozent aller kreis-freien Städte unter Haushaltsbewirtschaftung. Das ist dasErgebnis kommunaler SPD-Politik im Lande Nordrhein-Westfalen. Das machen sie ja schon seit Jahren.
Angesichts dieser Zustände haben Sie längst den An-spruch verloren, eine Kommunalpartei zu sein.Das Recht auf eigene Steuern für die Kommunen ist inden meisten Demokratien eine Selbstverständlichkeit.Nicht so bei uns. Zurzeit erleben wir erneut ein peinlichesGezerre um den Bund-Länder-Finanzausgleich und dasMaßstäbegesetz. Es ist peinlich, was sich dort abspielt.
Sie wissen ganz genau, dass dabei nichts anderes he-rauskommen wird als ein Minimalkonsens, welcher dieVorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade noch er-füllt. Am Grundübel des Umverteilungspokers wirdnichts geändert. Von der dringend erforderlichen Gemein-definanzreform ist keine Rede. Das wird jetzt mit derknappen Zeit begründet.
– Herr Kollege Scheelen, Sie haben es nie gewollt. – Esist nicht einmal ein Silberstreif am Horizont sichtbar.
Herr Eichel hat als Bundesfinanzminister schon x-malexpressis verbis erklärt, dass er keine Gemeindefinanz-reform will.
Das Ganze erinnert mich sehr an das mehr als peinlicheHickhack um die so genannte größte Steuerreform allerZeiten. Da erpressten sich Bund und Länder gegenseitig,um noch etwas für sich herauszuschlagen. Da wurden po-litische Kämpfe gewonnen und verloren, aber da wurdenicht die bestmögliche Steuerreform beschlossen. Wennjeder für sich – Bund, Länder und Gemeinden – seine ei-genen Einnahmen und Rechte hätte, könnten man sichauch nicht mehr gegenseitig erpressen. Das hätte einenganz besonderen Charme.Kommunalpolitik hatte weder in der Vergangenheit inBonn noch hat sie heute in Berlin den Stellenwert, der ihrgebührt. Alle gegenteiligen Bekundungen helfen nichts,wenn die Tendenz „Nur ja nichts verändern!“ zum Grund-prinzip wird. So ist das! Die F.D.P.-Bundestagsfraktionfordert seit langem die vollständige Abschaffung der Ge-werbesteuer.
Sie ist und bleibt wettbewerbsfeindlich und ist eine derHauptursachen – das wissen die Finanzpolitiker auch –für unser hochkompliziertes Steuersystem.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Gerhard Schüßler17298
Wir fordern eine angemessene Beteiligung der Gemein-den an der Umsatzsteuer, Herr Kollege Spiller.
Wenn ich Stadtkämmerer wäre, würde ich jubeln, wennich an der Umsatzsteuer beteiligt würde. Außerdem for-dern wir ein Recht auf die Erhebung eines Zuschlags aufdie Einkommensteuer im Rahmen des geltenden Steu-ertarifs. Das hat sogar den Charme, dass es dazu keinerleiVerfassungsänderung bedarf.Diese Bundesregierung hat nicht einmal Lösungs-ansätze aufgezeigt, sondern nur Gesetze beschlossen, dieden Kommunen in erheblichem Umfang neue Pflichtenund Kosten auferlegen. Damit verschlechtert sich die Si-tuation der Kommunen dramatisch. Da können Sie reden,was Sie wollen. Wenn Sie und in Sonderheit auch dieLänder vom Konnexitätsprinzip reden, ist das nichts alseine leere Worthülse. Glaubwürdig werden Sie erst, wennSie das System wirklich ändern. Dann können die gegen-seitigen Erpressungsszenarien nicht weiter angewandtwerden und man braucht sich nach der Tat nicht über diejeweils praktizierten Verfahren aufzuregen. Das nämlichist unglaubwürdig und löst kein einziges Problem.
Unsere Gemeinden brauchen wieder Luft zum Atmen.Bund-Länder-Finanzausgleich und Gemeindefinanzre-form gehören untrennbar zusammen. Sie aber wollen esnicht begreifen, obwohl Sie es wissen. Wir brauchen eineRückverlagerung von Kompetenzen an die Länder imSinne des Subsidiaritätsgedankens. Wir brauchen eineklare Regelung der Kompetenzen von Bund, Ländern undKommunen.
In ihrer Haushaltswirtschaft müssen sie selbstständig,selbstverantwortlich und voneinander unabhängig sein.
Durch die Neufassung des Art. 109 des Grundgesetzesmuss die Steuerverantwortung der jeweiligen Gebietskör-perschaften klar voneinander getrennt und die Umvertei-lung über den Finanzausgleich auf das absolute Minimumbeschränkt werden. Es sagt jeder, dass sich die Gemein-schaftsaufgaben nicht bewährt haben, wenn man betrach-tet, was sie alles in ihrem Gefolge mit sich gebracht ha-ben. Folglich gehören sie abgeschafft.
Es sind also klare Ausgabenverantwortlichkeitennotwendig. Ich hoffe, dass der Grundsatz „Wer bestellt,bezahlt“, also das Konnexitätsprinzip, hier einmal zumZuge kommen wird. Dazu bedarf es aber längerer, aus-führlicherer und intensiverer Debatten, auch hier imHause, zumal damit zum Teil Verfassungsänderungenverbunden sind. Ich hoffe, dass diese Debatte zumindesteinen Anstoß dazu gibt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommu-naldebatten im Bundestag haben natürlich immer denCharme, dass hier zwar das Klagelied der kommunalenEbene angestimmt wird, aber in der politischen Praxis,wenn es wirklich um die Geldverteilung geht, die ver-schiedenen Ebenen durchaus ihre Pfründe verteidigen.Die Tatsache, dass das Bundesfinanzministerium – inzwi-schen ist der Parlamentarische Staatssekretär Karl Dillereingetroffen –
und vor allem der Bundesfinanzminister heute im großenUmfang gefordert ist, kennen die Insider. Heute kämpftder Bundesfinanzminister mit 16 Bundesländern um denFinanzausgleich bzw. das Maßstäbegesetz. Dieses Ge-fecht geht zulasten des Bundes. Im Zweifelsfall scherensich auch die Länder, egal, von wem sie regiert werden,keinen Deut darum, wie es ihren Kommunen geht. DiePassage aus dem Bericht des Städte- und Gemeindebun-des – der Kollege Scheelen hat es angesprochen –, dienicht im CDU-Antrag zitiert ist, spricht eine deutlicheSprache: An den klebrigen Fingern der Länderfinanz-minister bleibt so manches Geld hängen, das eigentlichfür die Kommunen bestimmt war, auch in der Finanzver-teilung zwischen Bund und Ländern, speziell bei den ost-deutschen Bundesländern.Zur Abwehr der Hiobsmeldungen in Ihrem Antragmöchte ich Folgendes sagen: Ich habe mir die Finan-zierungssalden aus den kommunalen Kassenberichtenzwischen 1994 und 1998 angeschaut.
– 1998 nicht mehr. – 1994 lag der Wert bei minus 11 Mil-liarden DM – ich runde –, 1995 lag er bei minus 14 Mil-liarden DM, 1996 lag der Wert bei minus 8Milliarden DMund 1997 lag er bei minus 5 Milliarden DM. Im Jahre1998 wurde der Wert positiv. In dem Jahr lag er bei 5 Pro-zent. Im Jahre 1999 – in diesem Jahr hatten wir die Re-gierungsverantwortung – lag der Wert bei plus 4,5 Milli-arden DM. Im vergangenen Jahr lag der Wert bei plus2 Milliarden DM. Nach einer Hochrechnung der kommu-nalen Spitzenverbände von Ende Januar – hierin spiegeltsich sicherlich auch die Steuerreform wider, die auchtechnische Reaktionen bei der Rechtsumstellung zurFolge hatte, was zum Beispiel im ersten Quartal das Ge-werbeertragsteueraufkommen betroffen hat – wird in die-sem Jahr erstmals in unserer Regierungszeit der Wert ne-gativ, was aber sehr in der steuertechnischen Umstellungund in der nachlassenden konjunkturellen Dynamik be-gründet liegt. Die Zahlen lassen also nicht den Schluss zu,dass diese Koalition kommunalfeindlicher ist als die Vor-gängerregierung, im Gegenteil: Die Zahlen sprechen eherfür uns.Ich rede hier als jemand, der auch Abgeordneter in ei-nem Kommunalparlament ist. Im Kreistag in Biberach im
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Gerhard Schüßler17299
Oberschwäbischen, wo es eine gute Beschäftigungslagegibt, sind im vergangenen Jahr die Sozialhilfekosten unddie Kosten für Hilfe zum Lebensunterhalt deutlich gesun-ken. Das ist eine Tatsache, die in vielen Teilen dieser Re-publik aufgrund des Anziehens der Beschäftigung zu kon-statieren war. Das begrüße ich und hoffentlich auch derF.D.P.-Kollege und die Unionsfraktion, weil das natürlichder kommunalen Seite gut tut.Zu Recht hat der Kollege Scheelen darauf hingewie-sen, dass bestimmte Sozialleistungen, die wir auf Bun-desebene verbessern, automatisch zur Verbesserung derEinnahmesituation der Kommunen führen. Auch derFamilienleistungsausgleich des nächsten Jahres wird fürdie kommunale Seite, wenn das Kindergeld um 30 DM er-höht wird, eine Entlastungskomponente beinhalten. Dasdarf man nicht unterschlagen. So viel zu diesem Ver-gleich.
Ich möchte jetzt den Blick über den Tellerrand wagen.Ich persönlich hatte mich dafür eingesetzt, dass die Pas-sage, auf die Sie Ihren Antrag stützen, in die Koalitions-vereinbarung hinein geschrieben wurde. Das bezog sichauf eine etwas größere Finanzreform und nicht auf einekleine wie jetzt beim Maßstäbegesetz und Finanzaus-gleich. Weiter nenne ich die Finanzverfassungsreformund das Konnexitätsprinzip. Die Bundesländer, und zwarin ihrer Gesamtheit – egal, von wem sie regiert werden –,blockieren eine größere Reform. Das kann man heutekonstatieren. Wenn wir eine große Finanzverfassungsre-form wollen, dann sollten wir den Weg einschlagen, dender Deutsche Landkreistag in der letzten Woche empfoh-len hat, nämlich die Einberufung einer entsprechendenFinanzverfassungskommission in der nächsten Legisla-turperiode mit dem Ziel, im Grundgesetz die nötigenRechtsänderungen für die Trennung der Zuständigkeitenherbeizuführen. Gleichzeitig müssen wir natürlich in derSteuergesetzgebung die künftige Entwicklung abbilden.Hierzu gehört zum Beispiel – hierfür hat meine Fraktiondurchaus Verständnis –, den Gemeinden Hebesatzrechteauf direkte Steuern einzuräumen, beispielsweise auf dieEinkommensteuer. Denn die Trennung der Verantwort-lichkeiten hat den Vorteil, dass Ausgaben- und Einnah-meverantwortung auf einer bestimmten Ebene angesie-delt sind und damit künftig die kommunale Seite denschwarzen Peter nicht immer nach oben schieben kann,
sondern vor Ort zu vertreten hat, was eingenommen undausgegeben wird.
Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der deut-lich macht, warum die Gemeinden jetzt in Hab-Acht-Stellung sind. Sie wissen, dass, wenn man – um die Ver-antwortung zu bündeln – die beiden sozialen Sicherungs-systeme, nämlich die Sozialhilfe, die von den Kommunenbezahlt wird und für die sie rund 50 Milliarden DM proJahr ausgeben, und die Arbeitslosenhilfe, die aus demBundeshaushalt bezahlt wird, und zwar mit rund 25 Mil-liarden DM pro Jahr, miteinander verschränkt, sich natür-lich sofort die Frage stellt, ob damit der Bund seine Las-ten in Höhe von 25Milliarden DM kommunalisieren will.Dazu sage ich deutlich und spreche es auch als Bun-despolitiker an: Das wollen wir nicht.In dem Kontext einer solchen Maßnahme wird derHandlungsdruck für eine Finanzverfassungsreform we-sentlich größer; denn wenn Sie dieses Problem für die Ge-meinden tatsächlich dauerhaft befriedigend lösen wollen,dann müssen Sie im System Änderungen grundsätzlicherArt vornehmen. Sie müssten etwa das Konnexitätsprin-zip auch im Grundgesetz verankern, sodass es verbriefteAnsprüche der Gemeinden, also eine Absicherung, gibt,wie es in manchen Ländern durch landesverfassungsge-richtliche Urteile geregelt wurde. Dort haben die Verfas-sungsgerichtshöfe entschieden: Wenn die Länder Aufga-ben auf die Kommunen übertragen, dann müssen dieverfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen wer-den, dass dafür auch entsprechende Einnahmen vom Landkommen. Eine solche Koppelung im Grundgesetz ist ausmeiner Sicht denkbar.Ich gehe jetzt über den Diskussionsrahmen hinaus.
– Herr Götz, seien wir reell: Sie waren Bürgermeisterin Gaggenau. Alle Redner, die vor mir geredet haben, ha-ben eine kommunalpolitische Funktion: Bernd Scheelenin Krefeld, Schüßler in Hagen. Sie sehen, dass ich den„Kürschner“ aufmerksam studiert habe, während Sie ge-redet haben.
– Ich habe auch zugehört. Was ich damit sagen will – Kol-lege Fromme, Sie können darauf dann eingehen; Sie re-den ja noch –, ist etwas anderes: Alle kommunalen Prak-tiker wissen ganz genau, wie mühsam das Geschäft ist,beiden übergeordneten staatlichen Ebenen, nämlich Län-dern und Bund, etwas abzutrotzen. Warum das so ist, istdoch klar: Die Kommunen sind verfassungsrechtlich fürden Bund Bestandteil der Länder und die Kommunenhaben keine Mitwirkungsrechte verbriefter, verfassungs-rechtlicher Art im Gesetzgebungsverfahren. Insofern sit-zen sie, wie viele Präsidenten der Städtetage in derVergangenheit gesagt haben, immer am Katzentisch,wenn im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bun-desrat Kompromisse zulasten der kommunalen Ebene ge-schmiedet werden.Weil an den Kompromissen immer der „gesamte La-den“ hier beteiligt ist, weil alle Parteien des Bundestagesirgendwo auf Länderseite mitregieren, verbietet sich einezu stark polarisierende Diskussion; denn alle, die hier imParlament vertreten sind, sitzen im Glashaus.
– Nein, ich rate ja zur Mäßigung, Kollegin Kressl. Mäßi-gung bedeutet: Nehmen wir uns Zeit für eine vernünftigeReform! Nehmen wir den Kommunen in Deutschland dieAngst, dass durch die Änderung bei der Arbeitslosen- undSozialhilfe ein Generalangriff auf die kommunale Seite
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geplant ist. Deuten wir vor allem an, dass mit der nächs-ten Finanzverfassungsreform tatsächlich eine umfassendeReform kommt und nicht das, was an diesem Wochen-ende zwischen Ländern und Bund „ausgedealt“ wird:Maßstäbegesetz und neuer Finanzausgleich. Für das, wasbei diesem Ereignis herauskommt, schäme ich mich fast.Das ist marginal.
– Die Peinlichkeit allerdings kann kein Abgeordneter mitÜberzeugung herausstellen, weil alle diesen Deal im Hin-terzimmer mitmachen und der Exekutivföderalismus dafröhliche Urständ feiert, statt dass im Parlament transpa-rent und offen verhandelt und diskutiert wird.Vielen Dank! – Und, Frau Präsidentin: Ich war sekun-dengenau!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Solche Punktlandun-
gen sind immer beeindruckend, zweifellos.
Nächster Redner für die PDS-Fraktion ist der Kollege
Dr. Uwe-Jens Rössel.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Da beißt die Maus keinen Fa-den ab: Die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Koali-tionsvereinbarung, wonach die Finanzkraft der Gemein-den zu stärken ist, nicht eingehalten. Sie hat sie nicht nurnicht eingehalten, sondern sie hat im Gegenteil sogar dieSituation der Kommunen durch ihre Haushalts- und Fi-nanzpolitik weiter verschärft.Der erste Beleg dafür ist die Steuerreform. Es ist ebennicht so, Kollege Scheelen, wie Sie dargestellt haben – ichwar auch auf dem Deutschen Städtetag in Leipzig –, dassdie Kommunen die großen Profiteure der Steuerreformsind. In diesem Jahr fehlen den Städten, Gemeinden undLandkreisen wegen der Steuerreform immerhin 8,5 Milli-arden DM – Zahlen des Deutschen Städtetages – an eige-nen Einnahmen.Zweitens. Bundesfinanzminister Hans Eichel – übri-gens viele Jahre lang Oberbürgermeister der GroßstadtKassel – hat mit dafür gesorgt, dass der Bundeshaushaltzulasten der Kommunen saniert worden ist. Das ist eineunverantwortliche Praxis.
Deswegen gibt es heute vielerorts leere Haushaltskassenund Rathäuser verfügen nicht über die notwendigen Geld-mittel. Und leere Rathauskassen sind ja wohl die Toten-gräber für die Unternehmen, sie sind Totengräber für diesozialen Vereine, Totengräber für Kultur, Totengräber fürSport und natürlich auch ein unheimlicher Störfaktor fürkommunale Demokratie.
Die Kommunen haben über Jahre hinweg geringere ei-gene Einnahmen, müssen dennoch ihre Aufgaben erfül-len. Ein Beispiel: Die kommunalen Investitionen sindseit 1994 – inflationsbereinigt – um 40 Prozent zurückge-gangen. Dafür tragen der Bund, aber auch die Länder dieVerantwortung. Die Folge ist, dass es beim Baugewerbe,für das die kommunalen Investitionen ein wichtiger Aus-löser sind, zu immer mehr Problemen kommt. Wir habenin Deutschland 637 000 arbeitslose Bauleute. Ein gerüt-telt Maß davon ist auf die unzureichende Finanzausstat-tung der Kommunen zurückzuführen.Ein weiterer Faktor: Kommunale Investitionen inHöhe von 1 DM, liebe Kolleginnen und Kollegen, lösenin der Regel private Investitionen in Höhe von 7 DM aus.Sie sehen hieran die unheimliche Flächenwirkung.Oder nehmen wir die sozialen Vereine: Fehlende Zu-schüsse behindern das soziale Klima. Kommunale Demo-kratie wird beeinträchtigt. Ein Bürgermeister, der faktischnichts mehr zu entscheiden hat, ein Gemeinderat, dernicht über die benötigten Geldmittel verfügt, ist diskredi-tiert. Die Bürger erkennen das. Die derzeitige Wahlbetei-ligung bei einigen Stichwahlen in Ostdeutschland von umdie 20 Prozent spricht eine beredte Sprache. Das ist eineFurcht erregende Entwicklung. Und immer wenigerKommunalpolitiker sind bereit, für kommunale Mandatezu kandidieren.Die PDS – ich sage das noch einmal – ist die einzigePartei, die in dieser Legislaturperiode über ein umfassen-des Konzept für eine Reform der Kommunalfinanzie-rung, die vielerorts eingefordert wird, verfügt.
Unsere Eckpunkte lauten: Wir sind erstens dafür, dassdie Kommunen über stabile eigene Steuereinnahmenverfügen und dass sie über diese Einnahmen eine lang-fristige Planungssicherheit haben.Zweitens Gewerbesteuerumlage: 30 Prozent der Ge-werbesteuer müssen an Bund und Länder abgeführt wer-den. Der Anteil soll noch weiter steigen. Das ist unver-antwortlich.Drittens. Wir brauchen in strukturschwachen Regionenfür die Kommunen eine Investitionspauschale des Bun-des, und zwar für ostdeutsche Städte, Gemeinden undLandkreise und auch für strukturschwache Regionen inWestdeutschland.
Diese Investitionspauschale soll direkt vom Bund an dieKommunen fließen. Dort soll mit der Sachkompetenz derBürgerinnen und Bürger und der Gemeinderäte über de-ren Verwendung für Sozialpolitik, für kommunale Inves-titionen, für ökologische Fragen sowie das Bildungswe-sen entschieden werden. So etwas gab es schon einmal,aber es ist notwendig, es sozusagen wieder neu aufzule-gen, weil die Situation dramatisch wird.Viertens. In der Tat, Kollege Metzger, brauchen wireine Reorganisation der Finanzverfassung in der Bun-desrepublik überhaupt. Grundlegende Schritte sind
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Oswald Metzger17301
notwendig. Jetzt ist es immer noch so, dass die Kommu-nen – die übrigens bei Treffen, bei denen es um bundes-und landespolitischen Entscheidungen geht, meistens amKatzentisch sitzen: eine unverantwortliche Praxis
in der Finanzverfassung völlig unterbewertet sind. Und eswird nach folgendem Strickmuster gehandelt: Erst wirdder Bund bedient, dann die Länder, dann die Kommunen.Die Kommunen als Letzte beißen immer die Hunde. Dasmuss aber umgekehrt sein. Deswegen brauchen wir sofortdie Debatte über die dringend notwendige Kommunalfi-nanzreform in der Bundesrepublik und nicht deren Verta-gung in die nächste Wahlperiode.
Ein letztes Wort an die Kollegen der CDU/CSU: VieleBeiträge zur Lageeinschätzung kann man unterstützen.Das ist auch unsere Auffassung. Aber Sie müssen sichnatürlich fragen lassen, warum Sie in den 16 Jahren Re-gierungszeit unter Helmut Kohl dafür gesorgt haben, dasswichtige finanzielle Grundlagen kommunaler Selbstver-waltung, Steuergrundlagen, ausgehöhlt worden sind. Des-wegen würde ich an Ihrer Stelle auf diesem Gebiet einbisschen mehr Selbstkritik üben. Sie haben ja jetzt dazudie Gelegenheit. Der nächste Redner ist von derCDU/CSU.
Wir brauchen in Deutschland eine Kommunalfinanz-reform für die Bürgerinnen und Bürger in den Städten,Gemeinden und Landkreisen, für unser Gemeinwohl. Ge-meinsam sollten wir jetzt dafür streiten.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Frank Schmidt von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nur einesrichtig stellen: Natürlich bin ich nicht Mitglied derCDU/CSU-Fraktion, sondern der SPD-Fraktion, HerrRössel.
Nach den deutlichen Ausführungen meines KollegenBernd Scheelen möchte ich das eine oder andere gernenoch ergänzen. Insbesondere nach dem letzten Redebei-trag hier muss man wohl klarstellen, wer die letzten16 Jahre vor 1998 regiert hat. Ich denke, es muss auchdeutlich gemacht werden, wie kommunalfeindlich dieCDU in diesen Jahren gewesen ist.
Wir können feststellen, dass Ihr Antrag, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, eine gewisseBewusstseinsspaltung deutlich macht, da nämlich Sie eswaren, die in den Jahren 1982 bis 1998 bewusst und mitgezielten Anträgen, die ich auch gerne noch darlegenmöchte, die Gemeindefinanzen auf den Hund gebrachthaben. Sie haben in den Jahren 1990 bis 1997 durch Ihrebundespolitischen Entscheidungen dazu beigetragen,dass der Bund in diesem Zeitraum um 69,3 Milliar-den DM entlastet worden ist, während die Länder um13,5 Milliarden DM und die Kommunen um 5,2 Milliar-den DM belastet worden sind. Das ist Fakt und das fiel inIhre Regierungszeit.
Bei uns Kommunalpolitikern machte damals sehr oftder Ausdruck „Ausverkauf derKommunen“ die Runde.Die logische Konsequenz aus einer solchen Situation,nämlich dass man mangelnde Einnahmen hat, ist, dassman auch weniger Geld ausgeben kann. Logischerweisegingen die Investitionen zurück. Ich hätte es für gut be-funden, wenn der Debattenredner der CDU heute hier ein-mal dargestellt hätte, wann die Investitionen der Kom-munen zurückgegangen sind: Sie sind in den Jahren 1992bis 1998 massiv von 65,5 Milliarden DM auf 47,7 Milli-arden DM zurückgegangen.
Das war das Ergebnis Ihrer Politik. Dann stagnierten sieund steigen jetzt wieder leicht an.
Der Grund ist darin zu suchen, dass Sie vor allen Din-gen in den Jahren 1992 bis 1997 massiv dazu beigetragenhaben, die Sozialhilfekosten, die sozialen Lasten derKommunen extrem in die Höhe zu treiben. Dabei gibt esEntscheidungen, die man nachvollziehen kann. Sie habenaber einfach tatenlos hingenommen,
dass ungefähr 4,2Millionen Menschen in diesem Land ar-beitslos waren. Sie rutschen irgendwann in die Sozialhilfeab, wenn man nichts dagegen tut, und Sie haben 16 Jahrelang nichts dagegen getan.
Sie haben auch Entscheidungen getroffen – zum Bei-spiel 1996 – durch die die Arbeitslosenhilfe um 3 Pro-zent gekürzt worden ist. Sie haben 1997 beschlossen, dieBezugszeit von Arbeitslosenhilfe zu kürzen. Die Folgewar: Hunderttausende von Arbeitslosenhilfeempfängernsind in die Sozialhilfe gerutscht – Lasten für die Kom-munen.
Durch einige Entscheidungen, die Sie getroffen haben,haben Sie massiv zulasten der Kommunen gehandelt.
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Dr. Uwe-Jens Rössel17302
Das Ergebnis waren 2,9 Millionen Sozialhilfeempfängerin diesem Land mit einem Belastungsvolumen von fast50 Milliarden DM.
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Götz?
Bitte sehr.
Herr Kollege, haben Sie ei-
gentlich zur Kenntnis genommen, dass in der Zwi-
schenzeit eine Pflegeversicherung eingeführt worden ist,
durch die viele Menschen aus der Sozialhilfe herausge-
kommen sind, wodurch kommunale Haushalte im Sozial-
hilfebereich um 10 Milliarden DM jährlich entlastet wor-
den sind?
Werter Herr
Kollege Götz, es ist richtig
– ich bin noch nicht fertig –, dass die kommunalen Haus-
halte hinsichtlich der Sozialhilfe durch die Einführung der
Pflegeversicherung in einem Jahr – das war ungefähr um
1996 – massiv entlastet worden sind. Danach sind die So-
zialhilfekosten wieder massiv angestiegen.
Schauen Sie sich die Kurve an: Sie geht erst hoch, dann in
einem Jahr, 1996, runter und dann entsprechend wieder
hoch, weil Sie nämlich nichts gegen die Arbeitslosigkeit
getan haben.
Schauen Sie sich doch einmal, lieber Herr Kollege, die
prozentuale Verteilung zwischen Hilfe in Einrichtungen
bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt an. Vor allen Dingen zur
Entlastung bei der Hilfe zum Lebensunterhalt haben Sie
keinen Beitrag geleistet. Bei der Hilfe in Einrichtungen
war das der Fall, aber in dem anderen Bereich nicht.
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Götz?
Bitte sehr.
Bitte
schön, Herr Götz.
Herr Kollege, haben Sie
auch zur Kenntnis genommen, dass die Pflegeversiche-
rung nicht nur für ein Jahr eingeführt worden ist, sondern
die Sozialhilfekassen jährlich entlastet?
Ich nehme gernauf, was der Kollege Scheelen gerade gesagt hat. Umsoschlimmer ist es, dass die Sozialhilfekosten der Kommu-nen trotz der Pflegeversicherung wieder massiv ange-stiegen sind. Selbst das, was Sie gemacht haben, hat nichteinmal im Entferntesten ausgereicht, um die Sozialhilfe-kosten der Kommunen einigermaßen einzuschränken.Weitere Belastungen kamen auf die Kommunen zu.
Ich denke, ich sollte in meiner Rede fortfahren. WeilSie dieses Thema gerade angesprochen haben, möchte ichein aktuelles Beispiel aus meinem Landkreis nennen. Ichkomme aus dem Landkreis Limburg-Weilburg. ImJahre 1990 sind 7 Millionen DM für Sozialhilfe, und zwarfür die Hilfe zum Lebensunterhalt, ausgegeben worden.1998, im – Gott sei Dank – letzten Jahr Ihrer Regie-rungszeit, waren es bereits 40 Millionen DM. Dies waralso eine Steigerung um fast 600 Prozent bei den Kostenfür die Hilfe zum Lebensunterhalt.
– Nein, von 1990 bis 1998. In diesem Zeitraum gab es eineSteigerung von fast 600 Prozent im Bereich der Sozial-hilfe. Das ist der sozialpolitische Bankrott, den allein Siezu verantworten haben.
Sie haben bewusst viele Menschen in die Armut ge-trieben. Schauen Sie einmal in den Armuts- und Reich-tumsbericht der Bundesregierung hinein. Dieser Armuts-und Reichtumsbericht spiegelt deutlich wider, dass Sie inIhrer Regierungszeit Hunderttausende von Menschen inDeutschland in die Armut getrieben haben.
Gleichzeitig haben Sie unsere Kommunen an den Randdes Ruins gebracht. Wenn ich bei fehlenden Einnahmenfür riesige Ausgaben sorge, dann brauche ich mich nichtzu wundern, dass Schulden und Defizite entstehen, die bisheute beklagt werden. Aber diese Defizite sind vor allenDingen in Ihrer Regierungszeit entstanden.
Es muss konstatiert werden, dass unsere Regierungs-zeit seit dem Oktober 1998 vor allen Dingen davon ge-prägt ist, dass wir Entscheidungen getroffen haben, dienicht kommunalfeindlich, sondern besonders kommunal-freundlich sind. Ich greife einmal den Themenbereich derSozialhilfe auf, einer der Hauptkostentreiber der Kom-munen. Die Entscheidungen, die die Bundesregierungund das Parlament hierzu getroffen haben, haben in derZwischenzeit vor allen Dingen im Bereich der Sozialhilfesehr stark gegriffen.Ich nehme noch einmal das Beispiel von vorhin auf.Mein Landkreis hatte Sozialhilfeausgaben in Höhe von40 Millionen DM. Jetzt sind wir wieder bei32 Millionen DM, und zwar innerhalb von zwei Jahren.Es sind nämlich Entscheidungen getroffen worden, die
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direkt vor Ort umgesetzt werden können: Die aktive Ar-beitsmarktpolitik ist verstetigt worden und hilft dabei,dass nicht noch mehr Leute in die Sozialhilfe rutschen.Wir haben dafür gesorgt, dass ein Modellprojekt aufden Weg gebracht worden ist, bei dem die Zusammen-arbeit von Arbeits- und Sozialämtern intensiviert wirdund an dem 30 Kommunen teilnehmen. Hier muss ange-setzt werden. Es geht nicht nur um die kostenmäßige Ver-teilung zwischen den Arbeits- und Sozialämtern. Es gehtvielmehr darum, dass die Sozialämter in die Lage versetztwerden, die Maßnahmen zu koordinieren. Damit ist ange-fangen worden. Es wird umgesetzt und sich entsprechendsegensreich in den Kommunen auswirken.
Wir haben durch die Auflage des Sofortprogrammszum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit 200 000 Ju-gendlichen, die arbeitslos waren oder keine Ausbildunghatten, eine Chance für die Zukunft eröffnet. Diese Men-schen wären ansonsten in die Sozialhilfe abgerutscht undsind nun aus diesem Gefahrenbereich herausgeholt.Im Zusammenhang mit dem direkten Einfluss auf dieKommunen sind zwei Entscheidungen sehr wichtig. DaSie eben die Pflegeversicherung angesprochen haben,möchte ich kurz darauf eingehen. Die Erhöhung derPflegesätze, die wir beschlossen haben, ist ein ganz wich-tiger Beitrag zur Reduzierung der Sozialhilfekosten derKommunen; denn dadurch wird Hilfe in die Ausgaben derKommunen für die Einrichtungen proportional reduziert.Diese Auswirkungen kann man nachweisen. Dies kannman in den kommunalen Haushalten wiederfinden. Dasist ein Erfolg dieser Regierung.
Gleichzeitig werden durch die Anhebung des Wohn-geldes, die jetzt greift, 170 000Menschen in diesem Landaus der Sozialhilfe geholt. Wer mehr Wohngeld bekommt,braucht keine Sozialhilfe mehr von der Kommune in An-spruch zu nehmen. Das hat etwas mit der Menschenwürdeder Betroffenen zu tun. Vor allen Dingen hat es etwas da-mit zu tun, dass so die kommunalen Finanzen wieder inOrdnung gebracht werden.
Allein im Bereich der Sozialhilfe kann ich konstatie-ren: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,haben den Karren in den Dreck gefahren. Wir reißen dasRuder für die Kommunen und für die Menschen in denKommunen entschieden herum.
Ich möchte noch ein paar Dinge anmerken, die eben-falls mit hineinspielen. Ich nenne nur das Programm, dasBrennpunkte entschärft: „Die soziale Stadt“. Auch denkeich an die Forderungen der Kommunen, die Infrastruktursicherzustellen, was wir mit der Post-Universaldienstleis-tungsverordnung getan haben. Wir haben sichergestellt,dass in jedem Ort eine Post vorhanden ist, welches eineForderung der Kommunen war. Dies ist eine kommunal-freundliche Politik. Wir haben dafür gesorgt, dass im Rah-men eines Gebäudesanierungsprogramms jedes Jahr200 000 Wohnungen saniert werden. Das ist für die In-nenstädte wichtig. Es hat etwas mit der Ausstattung derKommunen und den Menschen, die dort leben, zu tun.Das ist kommunalfreundliche Politik.
Wir haben dafür gesorgt – das ist ein Thema, das unsimmer wieder beschäftigt –, dass ein Sonderprogrammzur sprachlichen Integration von Spätaussiedlern aufge-legt und mit einem besonderen D-Mark-Betrag bedachtwird. Das ist auch eine Forderung der Kommunen. DieKommunen treten immer wieder an uns heran und for-dern: Tut etwas für die Integration der Menschen. Wirnehmen Geld in die Hand, um diese Leute zu integrieren.Wir haben – das ist schon erwähnt worden, das möchteich aber nach den Reden, die hier gehalten worden sind,noch einmal ansprechen – eine kommunalfreundlicheSteuerreform beschlossen. Die Steuerreform belastet dieKommunen im Verhältnis zu ihrem Steueraufkommen un-terproportional. Einfach ausgedrückt heißt das: Die Kom-munen bekommen 12,2 Prozent des gesamten Steuerauf-kommens. Von allen Steuerausfällen tragen sie aber nur8,9 Prozent. Den Rest schultern Bund und Länder. Wir ha-ben deutlich gemacht, dass die Kommunen hierbei ent-lastet werden, und ich sage in Richtung der F.D.P.: Wirhaben auch deutlich gemacht, dass für uns die Gewerbe-steuer ein Teil des kommunalen Finanzsystems bleibt.Wir sind in der Lage, deutliche Zeichen in die Richtungzu setzen, was die Kommunen für ihren Finanzbedarfbenötigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,lassen Sie mich vielleicht einmal anmerken: Angesichtsdessen, was diese Bundesländer wie Bayern oder Hessenmit ihren Kommunen getan haben, sollten Sie sich lieberan Ihre eigene Nase fassen.
– In Bayern ist die Höhe des Finanzausgleichs für dieKommunen in den letzten Jahren nie in gleichem Umfanggestiegen wie die Steuermehreinnahmen des Landes. Da-bei gibt es jedes Jahr eine Lücke. Das Ergebnis sehen wir:Die Schulden des Landes Bayern sind seit 1998 um28 Prozent gestiegen. Bei den Kommunen, die nicht anden Steuermehreinnahmen teilhatten, sind die Schuldenim gleichen Zeitraum um 72 Prozent gestiegen. Das istIhre Politik in Bayern. So saniert sich das Land Bayernauf Kosten der Kommunen!
Gleiches sehen wir in Hessen. Dort können wir fest-stellen, dass die Landesregierung 800 Millionen DM ausder Planung des Finanzausgleichs herausgenommen hat,vor allem im Bereich der Kindergartensubventionierung.Im Städtebau hat das Land Kürzungen beschlossen, diedazu führen, dass die Kommunen weniger Einnahmen ha-ben. Sie haben die Kürzungen bei den Zuschüssen be-schlossen, wir nicht. Das ist der Unterschied in der Art,wie Finanzpolitik für die Kommunen betrieben wird.
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Dr. Frank Schmidt
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Ich möchte gar nicht darauf eingehen, was Sie in denletzten Wochen und Monaten noch an tollen Dingen zumBesten gegeben haben. Sie haben Forderungen mit einemVolumen von mehr als 300 Milliarden DM gestellt. Siefordern heute – das konnten wir vernehmen –, die Steuer-reform vorzuziehen, was jedes Jahr einen Steuerausfall inHöhe von 45 Milliarden DM bedeuten würde. Ich fragemich, wie Sie das Ihren Kommunen beibringen wollen.
Ich möchte gar nicht davon reden, was derartige Steuer-ausfälle für das Land Berlin bedeuten würden. Das ma-chen Sie so eben einmal aus der Tasche.Es ist festzustellen, dass die CDU hier einen Schau-fensterantrag gestellt hat. Für uns stand und steht fest,dass unser Gedächtnis nicht wie das Ihrige nachlässt. Wirwerden in Zukunft weiterhin an Ihre Sünden aus der Ver-gangenheit erinnern, wenn es sein muss, auch anlässlicheines solchen Eigentores, wie Sie es heute geschossenhaben.Danke.
Herr Kol-
lege Schmidt, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme
von der CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass we-nigstens Staatssekretär Diller nach der halben Debatteeingetroffen ist. Ich empfinde es aber schon als einenSkandal, dass das Kommunalministerium hier überhauptnicht vertreten ist.Herr Kollege Scheelen,
wenn Sie nicht die leeren Seiten von der Bundestagsver-waltung gelesen hätten, sondern die Textseiten, dann hät-ten Sie festgestellt,
dass die angeblich falsche Zahl aus einer Mitteilung desStädte- und Gemeindebundes stammt. Da Sie aber ebenleere Seiten lesen, kann ich verstehen, wie Sie zu demBild von der Meinung der kommunalen Spitzenverbändekommen. Wenn Sie deren Verlautbarungen lesen würden,kämen Sie zu einem ganz anderen Urteil. Denn die sagenetwas ganz anderes.Wir haben im Hinblick auf die Steuerreform niemalsdie proportionalen Verluste der Gemeinden gerügt.
Diejenigen, die das getan haben, waren die Oberbürger-meister Ihrer Partei. Wir haben vielmehr die überpropor-tionalen Verluste gerügt.Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einem Anstiegder Sozialhilfekosten in den 90er-Jahren gesprochen.Sie dürfen natürlich nicht vergessen, dass in diesem An-stieg 8 Milliarden DM für Zuwanderer enthalten sind.Sie haben sich geweigert, die Rechtslage zu ändern.Erst als die rheinischen Oberbürgermeister Ihrer ParteiDruck gemacht haben, haben Sie sich bewegt. WennIhre Arbeitslosenpolitik wirklich so gut wäre, dannmüssten die Ausgaben für Sozialhilfe jetzt dramatischin den Keller sinken. Auch das kann ich nicht feststel-len.
Herr Kollege Metzger, ich kann Ihnen in vielen Punk-ten folgen. Aber bei Ihnen ist es genauso wie bei IhrerKollegin Scheel: Sie erzählen das eine und tun das andere.Früher haben die Grünen die Kröten über die Straße ge-tragen und heute schlucken sie sie.
Betreiben Sie doch einmal die Politik, die Sie verkünden.Wenn das geschieht, dann können wir zueinander kom-men.Wer einen föderalen Staat haben will, der muss dafürsorgen, dass auf jeder Ebene nach dem Prinzip gehandeltwird, dass die Verantwortung für Einnahmen und Ausga-ben in ein und derselben Hand liegt. Das einzig adäquateMittel, um dafür auf Dauer zu sorgen, ist das Konne-xitätsprinzip. Sie haben es in Ihre Koalitionsvereinba-rung richtigerweise hineingeschrieben, auch wenn Sie es– wie so vieles – inzwischen vergessen zu haben scheinen.Konnexitätsprinzip heißt: direkt und unmittelbar ausglei-chen. Man erkennt den Unterschied zu dem, was Sie jetztmachen.Sie gehen einen doppelten Umweg. Der erste Umwegist, dass Sie über die Länderhaushalte gehen.
– Dazu sage ich gleich etwas. – Dabei kommen die kleb-rigen Finger der Länderfinanzminister ins Spiel, an denenvieles hängen bleibt. Der zweite Umweg besteht darin,dass Sie keinen direkten Ausgleich, sondern, wie bei derGrundrente, den Ausgleich über das Wohngeld vorneh-men.Ich kann Ihnen nur sagen: Durch diese beiden Umwegevervielfacht sich das Risiko für die Kommunen. Warum?Der erste Grund sind – ich habe es gesagt – die klebrigenFinger der Länderfinanzminister; der zweite Grund ist,dass nach einigen Jahren überhaupt keiner mehr die Kom-pensation, die irgendwann einmal festgeschrieben wor-den ist – am Tage X mag sie zahlenmäßig stimmen –,nachvollziehen kann. Daraufhin verabschiedet sich derBund möglicherweise aus der Wohngeldfinanzierung;Bund und Länder einigen sich über die Kompensation für
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Dr. Frank Schmidt
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die Länder, während die Kommunen auf der Strecke blei-ben. Aus dem doppelten Umweg wird also ein vierfachesRisiko. So darf es nicht sein.Es ist doch klar: Politik wird von Menschen gemacht,auf denen der Druck lastet, in den Verhandlungen zwi-schen Bund und Ländern Ergebnisse zu erzielen. DieKommunen, die bei diesen Verhandlungen nicht dabeisind, bleiben auf der Strecke. Weil das so ist, muss dasGrundgesetz entsprechend geändert werden, damit einrechtstechnischer Druck entsteht und nicht die menschli-che Schwäche zum Tragen kommt.
Herr Kollege Scheelen, Sie haben gesagt, dass, verfas-sungsrechtlich gesehen, eine Lösung ohne den doppeltenUmweg nicht möglich ist. Sie haben anscheinend ein an-deres Grundgesetz gelesen. Es gibt drei direkte finanzielleAchsen zwischen Bund und Kommunen. Wenn drei di-rekte finanzielle Achsen zwischen dem Bund und denKommunen möglich sind, dann ist auch die Umsetzungdes Konnexitätsprinzips möglich. Wir haben den Ge-meindeanteil an der Einkommensteuer im Grundgesetzsogar mit einem Heberecht versehen. Wir haben die Be-teiligung an der Umsatzsteuer auf den Weg gebracht. Wirhaben die Gewerbesteuerumlage, die leider immer gegen-teilig wirkt – gleichwohl besteht hier eine direkte Bezie-hung –, eingeführt. Außerdem sind in der letzten Wahlpe-riode die Art. 28 und 106 Grundgesetz geändert worden,sodass man nicht mehr von einem zweistufigen Systemsprechen kann. Inzwischen ist ein anderes System ent-standen, durch das die Rechte der Kommunen besser ge-wahrt werden können.Herr Kollege Metzger, wenn man Ihre Zahlen hört – Fi-nanzierungssaldo positiv usw. – dann könnte man denken,dass hinsichtlich der Kommunalfinanzen alles in Butterist. Entsprechend sehen die Veröffentlichungen der Län-der und der Europäischen Union aus. Aber die Wahrheitist doch völlig anders. Warum ist denn der Finanzierungs-saldo positiv geworden? Der Finanzierungssaldo ist posi-tiv geworden, weil man Tafelsilber veräußert hat. Man hatStaatsvermögen eingesetzt, um laufende Ausgaben zu fi-nanzieren.Warum haben die Kommunen, insbesondere diegroßen Städte im Rheinland und in Niedersachsen, sohohe Kassenkredite? Die Höhe der Kassenkredite ist derMaßstab dafür, ob Finanzen geordnet sind oder nicht;denn sie sind nicht beeinflussbar. Da liegt doch der Haseim Pfeffer. Für diejenigen, die es nicht wissen: Kassen-kredit heißt Überziehungskredit. Wer etwas auf Dauerüber einen Kassenkredit finanziert, der finanziert das But-terbrot auf Pump.Wer das tut, wird finanziell ganz schnell am Ende sein,weil er nämlich von der Substanz lebt.
Ich sage Ihnen noch einmal:Viele Städte müssen Sozialhilfe oder Personalausga-ben auf Pump finanzieren, weil die Defizite in ihrenVerwaltungshaushalten nicht mehr beherrschbarsind. Sie summierten sich schon 1999 auf 7,2 Milli-arden Mark und werden durch die künftigen Steuer-ausfälle erheblich zunehmen.Diese Aussage stammt vom Oberbürgermeister – ichmuss eigentlich sagen: Noch-Oberbürgermeister – HajoHoffmann.Wenn ich mir die Verlautbarung des Deutschen Land-kreistages anschaue, an dessen Spitze der Landtags-abgeordnete Axel Endlein von der SPD steht, dann stelleich fest, dass dort genau dasselbe steht: Für 323 deutscheLandkreise ergibt sich allein im Jahr 2000 ein Finanzie-rungssaldo von rund 1 Milliarde DM. Ich könnte nochzahlreiche andere Beispiele aufführen.Die kommunalen Investitionen – ich trage Ihnen dieZahlen vor, Herr Kollege Dr. Schmidt, auch wenn Sie sichfür sie anscheinend nicht interessieren – sind von 1998 bisheute um 11,3 Milliarden DM – daran sind wir nichtschuld – zurückgegangen. Das sind 0,5 Prozent desBruttosozialproduktes. Wir dürfen uns über die Wachs-tumsschwäche nicht wundern, wenn eine solch wichtigeInvestitionsquelle ausfällt.
Das ist nicht nur ein Thema für Bürgermeister undKommunalpolitiker, sondern insbesondere auch fürHandwerker sowie Handel- und Gewerbetreibende; dennwenn diese keine Arbeit mehr haben, dann bedeutet dasgeringere Steuereinnahmen und mehr Sozialhilfe. Wennman die Zahlen aus Niedersachsen, wo der jetzige Bun-deskanzler damals als Ministerpräsident die Verhältnisselange geprägt hat, als Beispiel nimmt, dann stellt man fest,dass am 30. März 2001 167 von 410 Kommunen Kassen-kredite – das ist ein ausgabenschwaches Quartal – in Höhevon insgesamt 3,48 Milliarden DM in Anspruch genom-men hatten. Das ist die wahre und schwierige Lage derKommunen.Was machen Sie? Sie haben die Grundsicherung ge-lobt. Dabei haben Sie genau das gemacht, was ich ebengeschildert habe: Bund und Länder einigen sich zulastender Kommunen und legen gleich die Zuständigkeiten derLandkreise und der kreisfreien Städte fest. Das bedeutet,gegenüber dem Bund haben die Kommunen keinen An-spruch. Das Land kann sagen: Wir waren es nicht. So zie-hen Sie sich aus der Affäre. Von Kommunalfreundlichkeitkann hier keine Rede sein.Jetzt komme ich auf Ihren schlimmsten Sündenfall zusprechen – das ist ein besonders trauriges Kapitel –, näm-lich die Familienleistungen. Sie haben mithilfe der Mi-nisterpräsidenten Voscherau, Schröder, Eichel undLafontaine – viele kennen diese gar nicht mehr als Minis-terpräsidenten – 1996 die Festschreibung eines Sonderlas-tenausgleiches zur Finanzierung des Kindergeldes imGrundgesetz durchgesetzt. Aber Sie halten sich nicht da-ran. Sie verteilen die Lasten gemäß dem Verhältnis derSteuerquoten. Der Anteil der Städte, Gemeinden undLandkreise an der Finanzierung des Kindergeldes betrug1999, wie ich Ihnen bereits vorgerechnet habe, 5,5 Milli-arden DM. Im Finanztableau des neuen Gesetzes lässtsich nichts dazu finden, dass sich der Bund mit 74 Prozentund die Länder mit 26 Prozent an der Finanzierung desKindergeldes beteiligen sollen. Sie haben das bis jetzt nur
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Jochen-Konrad Fromme17306
politisch verlautbaren lassen. Ich bin gespannt, wie Siedas umsetzen werden.Der Bundesrat hat festgestellt, dass – erstens – die Kos-ten mit 300 Millionen DM zu niedrig angesetzt seien unddass sich – zweitens – daraus ein Anspruchsausgleich derLänder und Kommunen von zusammen 2 Milliarden DMergebe.
– Bleiben Sie geduldig; es kommt noch besser. – Die Län-der sagen, den Ländern und Kommunen seien in der Zeitvon 1996 bis 2001 18,5 Milliarden DM vorenthalten wor-den. Da die Länder das meiste auf die Kommunen abge-wälzt haben, sind Letztere die Leidtragenden.Ich möchte Ihnen einmal Ihre Sündenliste vorlesen:SGB IX, BSE-Kosten, Energiekosten und steigendeKrankenkassenbeiträge, die die Kommunen für die So-zialhilfeempfänger und Asylbewerber bezahlen müssen.Wer soll die Zeche für die Veränderungen in der Bil-dungspolitik bezahlen? Die Kommunen! Auf diese wer-den Kosten in Höhe von 17Milliarden DM allein dadurchzukommen, dass für je vier Schüler ein PC gekauft wer-den soll. Ich nenne als weiteres Stichwort die private Al-tersvorsorge. Des Weiteren müssen die Kommunen dieZuwanderer integrieren. Das niedrige Wirtschaftswachs-tum und die hohe Inflationsrate stellen für die Kommunengroße Risiken dar.Deshalb fordere ich Sie auf: Folgen Sie Ihren eigenenErkenntnissen aus der Koalitionsvereinbarung! FolgenSie beispielsweise den Vorschlägen, die der DeutscheLandkreistag in diesen Tagen auf den Tisch gelegt hat!Der in Österreich existierende Konsultationsmechanis-mus ist vorbildlich. Wenn wir dieses System übernehmen,dann müssen wir uns hier nicht mehr streiten. Dann kannjeder in Ruhe die Verantwortung auf seiner Ebene wahr-nehmen. Das gilt übrigens nicht nur für die Kommunen,sondern auch für die Länder, wie es auch Ministerpräsi-dent Clement gesagt hat.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/6163 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Heimgesetzes– Drucksache 14/5399 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 14/6366 –Berichterstattung:Abgeordnete Arne FuhrmannIrmingard Schewe-GerigkGerald Weiß
Klaus HauptMonika Baltb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem Antragder Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. IrmgardSchwaetzer, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der F.D.P.Für ein aktives und mitbestimmtes Leben imAlter– Drucksachen 14/5565, 14/6366 –Berichterstattung:Abgeordnete Arne FuhrmannIrmingard Schewe-GerigkGerald Weiß
Klaus HauptMonika BaltNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieBundesministerin Christine Bergmann das Wort.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!Mit der Novellierung des Heimgesetzes haben wir einenwichtigen Schritt zur Weiterentwicklung der Altenpflegein Deutschland getan. Ich finde, es ist sehr erfreulich, dassdie vorliegende Novelle über die Fraktionsgrenzen hin-weg eine breite Zustimmung findet. Das ist ein gutes Bei-spiel.
– Ja, es hat viel Arbeit gekostet, aber ich denke, es hat sichgelohnt.Mit der Novellierung des Heimgesetzes schaffen wirbessere Rahmenbedingungen für die rund 850 000 älterenund behinderten Menschen in Deutschland, die auf Dauerin einem Heim leben. Dabei geht es darum, den Schutzund die Rechtsstellung der Hilfsbedürftigen zu verbes-sern, die Qualität der Hilfe zu sichern und die Strukturender Altenhilfe weiterzuentwickeln und effektiver zu ge-stalten.Ich denke, wir sind uns darin einig, dass sich die An-forderungen an die Betreuung älterer pflegebedürftigerMenschen in den letzten Jahren wesentlich verändert
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haben. Das haben auch die Ergebnisse des Dritten Alten-berichtes gezeigt, den wir bereits im Februar diskutiert ha-ben: Das durchschnittliche Alter bei Eintritt in eine Al-teneinrichtung liegt bei über 80 Jahren. Etwa 530 000Bewohnerinnen und Bewohner von Alteneinrichtungensind pflegebedürftig. Von diesen sind zwei Drittel schwer-oder schwerstpflegebedürftig. Etwa 60 Prozent leiden aneiner demenziellen Erkrankung oder an einer psychischenStörung.Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, alles dafür zu tun,dass Menschen, auch wenn sie pflegebedürftig sind, indiesem Land in Würde leben können.
Leider werden wir immer wieder mit Missständen in Hei-men konfrontiert. Dabei will ich eines ganz klar feststel-len: Die meisten Pflegerinnen und Pfleger in den Heimenleisten unter sehr schwierigen Bedingungen eine gute Ar-beit. Dafür soll ihnen an dieser Stelle auch gedankt wer-den.
Wir können und wollen Missstände in der Pflege nichthinnehmen. Deshalb schaffen wir mit der Novellierungdes Heimgesetzes bessere rechtliche Rahmenbedingun-gen im Sinne pflegebedürftiger Menschen. Die Neufas-sung des Heimgesetzes verbessert die Rechtsstellung derHeimbewohnerinnen und Heimbewohner, entwickelt dieMitwirkung in den Heimen weiter, stärkt die Heim-aufsicht und institutionalisiert die Zusammenarbeit vonHeimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenkassen,Pflegekassen und Trägern der Sozialhilfe.Ich möchte zu diesen vier Schwerpunkten ein paarWorte sagen:Zum Ersten geht es um die Verbesserung der Rechts-stellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner.Wir sorgen mit der Umsetzung des Gesetzentwurfes fürmehr Transparenz und mehr Nachvollziehbarkeit in denHeimverträgen. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dassHeimbewohnerinnen und Heimbewohner sowie ihre An-gehörigen bei Entgelterhöhungen nachvollziehen können,für welche Leistungen wie viel bezahlt werden muss.Endlich wird in diesem wichtigen Bereich das umgesetzt,was bei jeder Handwerksrechnung selbstverständlich ist.Wir sorgen auch dafür, dass das Entgelt für alle Heimbe-wohnerinnen und Heimbewohner künftig nach ein-heitlichen Grundsätzen bemessen wird.
Zweiter Schwerpunkt, Weiterentwicklung der Mit-wirkung: Durch die Öffnung der Heimbeiräte für Dritte,beispielsweise für Angehörige und sonstige Vertrauens-personen der Bewohnerinnen und Bewohner, sorgen wirfür die Weiterentwicklung der Mitwirkung. Das ist not-wendig, weil in vielen Fällen ein Heimbeirat aufgrund deshohen Alters und der Pflegebedürftigkeit der Bewohne-rinnen und Bewohner bisher nicht gebildet werdenkonnte. Diese Situation finden wir leider in vielen Heimenvor.
Frau Mi-
nisterin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ten von Stetten?
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, bitte.
Bitte
schön.
Frau Ministerin, Sie haben eben erwähnt, dass auch An-gehörige in Zukunft Heimbeiräte sein können. Teilen Siemeine Sorge, dass Angehörige, die vielleicht jemandenmit schlechtem Gewissen in einem Alters- oder Pflege-heim untergebracht haben, das Pflegepersonal nicht nurmit besonderer Akribie beobachten, sondern vielleichtauch schikanieren, um ihr schlechtes Gewissen zu beru-higen?Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Abgeordneter,wir haben all diese Bedenken im Rahmen der Anhörungund der Ausschussberatung sehr ausgiebig diskutiert und– das Gesetz ist im Ausschuss einstimmig bei Enthaltungder PDS angenommen worden – weitestgehend aus-geräumt. Es gibt dafür also eine breite Mehrheit in diesemHause. Ich teile diese Bedenken grundsätzlich nicht. Es istwichtig, dass es handlungsfähige Heimbeiräte gibt, damitdie Rechte der Heimbewohnerinnen und Heimbewohnergestärkt werden.
Dieser Heimbeirat muss künftig auch an Vergütungs-verhandlungen sowie an Leistungs- und Qualitätsverein-barungen beteiligt werden. Auch das ist ein wichtigerPunkt.Ich komme zum dritten Punkt: Stärkung der Heim-aufsicht. Bei der Stärkung der Heimaufsicht geht es vorallem auch darum, neben der Aufsichtsfunktion die wich-tige Beratungsfunktion der Heimaufsicht zu stärken. Esgeht um den Grundsatz „Beratung vor Überwachung“.Wir alle wissen, dass es bei diesem Punkt noch einiges zutun gibt. Aber wenn es um Prävention geht und wenn wirverhindern wollen, dass Missstände in den Heimen über-haupt auftreten, dann ist es wichtig, die Beratungsfunk-tion zu stärken.Wir wollen und müssen im Hinblick auf die schwarzenSchafe, die es leider auch gibt, die Kontrollen in den Hei-men verbessern. Zukünftig wird jedes Heim mindestens ein-mal im Jahr überprüft. Verantwortungsvoll pflegendeHeime – auch das haben wir bei der Anhörung festgestellt –haben damit keine Probleme. Es ist nur konsequent, dasskünftig Überprüfungen jederzeit sowohl angemeldet als
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auch unangemeldet erfolgen können, in begründeten Fällenauch nachts, weil bestimmte Dinge nur zu dieser Zeit zukontrollieren sind.Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Kontrolleund Bürokratie sagen. Es gab den Vorwurf, wir würdenmehr Bürokratie einführen. Der Entwurf enthält eine Ver-pflichtung der Träger, Aufzeichnungen über den sachge-rechten Umgang mit Arzneimitteln und über die Anord-nung freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehenderMaßnahmen zu machen. Es handelt sich eben nicht umeine unnötige bürokratische Mehrbelastung der Heim-träger, sondern um eine Selbstverständlichkeit, die schonnach geltendem Recht zu beachten ist. Im Falle der Arz-neimittelverordnung geht es um die Gesundheit derHeimbewohnerinnen und Heimbewohner. Es geht auchum Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Rechtsposi-tion. Das muss entsprechend dokumentiert werden.
Viertens. Mit der Novellierung des Heimgesetzes wirdschließlich die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medi-zinischem Dienst der Krankenkassen, Pflegekassen undTrägern der Sozialhilfe institutionalisiert. Durch die Bil-dung von Arbeitsgemeinschaften sollen im Sinne derQualitätssicherung die Prüftätigkeit abgestimmt undMaßnahmen zur Beseitigung von Mängeln und Vermei-dung von Fehlern besprochen werden. Es geht also auchum den Abbau von Bürokratie, indem Doppelkontrollenverhindert werden.
Dabei bleibt die Letztverantwortung der Heimaufsichtunberührt.Parallel zum Heimgesetz wird heute das Pflege-Qua-litätssicherungsgesetz beraten. Beide Gesetzentwürfe er-gänzen sich in dem Ziel, die Qualität in der Pflege zu ver-bessern.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch an-sprechen, warum ich mir einen solch breiten Konsens, wiees ihn für das Heimgesetz gibt, auch für das Altenpflege-gesetz gewünscht hätte: Die Sicherung von Pflegequalitätist nicht denkbar ohne eine zeitgemäße Ausbildung derPflegekräfte. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Be-troffenen und Fachleuten, wie dringend notwendig einebundeseinheitliche Pflegeausbildung im Interesse derpflegebedürftigen älteren Menschen ist.
Diese einheitliche Pflegeausbildung haben wir nachzehnjähriger Diskussion – auch Teile der CDU/CSU undF.D.P. haben dankenswerterweise zugestimmt – mehr-heitlich beschlossen. Sie kennen aber die Lage: Durch denAntrag eines einzelnen Landes – von keinem anderenBundesland ist diese Auffassung geteilt worden – kanndieses Gesetz zum 1.August nicht in Kraft treten, obwohldie meisten Länder darauf vorbereitet sind. Es ist in derHauptsache noch nicht entschieden. Die Entscheidungwird noch kommen. Aber es geht wieder wertvolle Zeitverloren.
Ich komme viel im Lande herum. Selbst in Bayernherrscht im zuständigen Ministerium die Ansicht vor, dassdie bayerische Ausbildung verbessert werden könnte, alsodie zweijährige Ausbildung vielleicht nicht das Nonplus-ultra ist. Wie ich mir habe sagen lassen, werden zurzeit inBerlin Pflegekräfte für Bayern abgeworben. Ich glaube,Sie haben der Sache keinen guten Dienst erwiesen; denndie einheitliche Ausbildung der Pflegekräfte ist im Hin-blick auf die Qualität der Pflege und die Aufwertung die-ses Berufes, die wir dringend brauchen, enorm wichtig.
So viel zu dem Kapitel. Ich möchte Ihnen abschließenddafür danken, dass Sie durch Ihre konstruktive Arbeit ei-nen breiten politischen Konsens für die Novellierung desHeimgesetzes ermöglicht haben. Wir haben diesbezüglich– wie wir wissen – noch einiges zu tun. Hier sind die Län-der, die Kostenträger und die Einrichtungsträger gefragt,damit wir das Gesetz entsprechend umsetzen können undgemeinsam dafür sorgen – ich sage es nochmals –, dasspflegebedürftige Menschen in diesem Land in Würde le-ben können.
Das Worthat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.Gerald Weiß (CDU/CSU): Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Mi-nisterin Bergmann, die Freude am relativen Konsens – erist kein absoluter; das werde ich gleich deutlich machen –teilen wir.
Ein gewisser Stolz auf ein Gesetz, das aus dem eigenenHause kommt und verabschiedet wird, ist auch in Ord-nung. Dennoch ist das neue Heimgesetz kein großer Wurf,Frau Bergmann.
Man kann sich auf den Standpunkt stellen, ein kleinerWurf sei besser als gar keiner. Aber es ist einige Kritik an-zubringen. Trotz mancher positiver Aspekte – Sie habeneinige aufgezählt – bleibt das Gesetz stark im bürokrati-schen Ansatz stecken.
Eine wirklich durchgreifende Strategie, eine durch-greifende Konzeption zur Verbesserung der Pflege er-wächst daraus mit Sicherheit nicht. Dazu bleiben zu vieleFelder unbestellt. Das gilt beispielsweise für das Feld ei-ner besseren Betreuung der Demenzkranken, der Al-tersverwirrten. Damit verbunden – aber unabhängig
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann17309
davon zu betrachten – ist die entscheidende Frage nachausreichendem und gutem Pflegepersonal. Auch dieseFrage haben Sie nicht beantwortet.Eine effektivere Heimaufsicht ist mehr eine Heraus-forderung für die Länder. Warum pfuschen Sie denn denLändern ins Handwerk? Die Heimaufsicht qualitativ undquantitativ so auszustatten, dass sie ihre Aufgabe optimalwahrnehmen kann, ist Sache der Länder.
Der im Gesetz enthaltene Befehl, dass die Heimaufsichtgrundsätzlich mindestens einmal im Jahr jedes Heim auf-suchen soll, ist eher lächerlich denn hilfreich. Das ist Sa-che der Länder.
An den Kern des Problems gehen Sie nicht. Gute Pfle-geleistungen, hinreichende Personalversorgung, leis-tungsfähige Heimaufsicht – das Gesetz kann auf diesenFeldern zum Teil nichts oder nur wenig bewirken. Im Ge-genteil: Je mehr pflegerische Kraft Sie in Administrationbinden, desto mehr wird dies zulasten der Zuwendung fürdie Pflegebedürftigen gehen, wenn hinsichtlich der Leis-tung und Versorgung ansonsten nichts geschieht. So ein-fach ist das.
Dennoch stärken Sie die Ordnungsfunktion des Staa-tes. Die Transparenz der Heimverträge und des Leis-tungsgeschehens wird größer. Die Heimmitwirkung – einKollege hat in dem Zusammenhang mit Recht einen kri-tischen Aspekt angesprochen – wird verstärkt. Das sindim Prinzip alles positive Ansätze.Wir brauchen den starken Staat, wenn es um relativschwache Menschen geht. Deshalb ist es schon in Ord-nung, in dieser Richtung vorzugehen. Aber wie Sie eshandwerklich gemacht haben, lässt zu wünschen übrig. Ih-nen müssten die Ergebnisse der Anhörungen doch auch einwenig zu denken geben. Ihre Kolleginnen und Kollegenhaben ja nachgedacht: Nicht weniger als 22 oder 23 An-träge hat die Regierung selbst eingebracht, nachdem soviele Mängel in den Anhörungen offenkundig gewordenwaren,
darunter vieles, was auch aus unserer Sicht eine vernünf-tige Reparatur darstellt.Darüber hinaus haben wir viele – auch grundlegende –Änderungswünsche gehabt. Wir haben uns auf drei An-liegen konzentriert: Vertragsende, Verjährungsfrist undDifferenzierung der Entgelte. Das sind zentrale Fragen imHinblick auf Rechtssicherheit und fairen Interessen-ausgleich zwischen allen Beteiligten, den Heimbewohne-rinnen und -bewohnern und den Heimträgern; diesePunkte waren in Ihrem Gesetz falsch geregelt. Immerhinwar die Koalition – hier danke ich Ihnen, Herr Fuhrmannund Frau Schewe-Gerigk – in der Lage, was in diesemHause auch nicht an jedem Tage geschieht, in der Sacheauf die Opposition zuzugehen, wie auch wir umgekehrtauf Sie zugegangen sind. Herausgekommen ist, dass Siezwei dieser zentralen Anliegen, die Rechtssicherheit undeinen fairen Interessenausgleich zwischen Heimträgernund den Heimbewohnerinnen und -bewohnern sowie denErben verstorbener Heimbewohnerinnen und -bewohnerschaffen sollen, erfüllt und die entsprechenden Anträgeim Ausschuss angenommen haben. Zum Schaden der Sa-che sind Sie leider nicht unserem Antrag gefolgt, was diemögliche Differenzierung der Heimentgelte anbetrifft. Ineiner Marktwirtschaft muss eine gewisse Preisdifferen-zierung normal sein, wenn beispielsweise die Auslastungsinkt oder Renovierungsmaßnahmen amortisiert werden.Wir sind keine politischen Zechpreller. In diesem Ge-setzentwurf hat sich vieles positiv verändert und Sie ha-ben viele unserer Anliegen an- und aufgenommen. Des-halb werden wir trotz der Bedenken, die ich skizzierthabe – Herr Kollege Holetschek wird das noch etwas ver-tiefen –, diesem Heimgesetz unsere Zustimmung nichtverweigern.Herzlichen Dank.
Für Bünd-
nis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegen Irmingard
Schewe-Gerigk das Wort.
legen! Das Gesetz, das wir heute beschließen, könnte ei-
gentlich auch aus dem Hause der Verbraucherschutzminis-
terin Renate Künast sein. Die Affinität besteht darin, dass
es sich um ein Verbraucherschutzgesetz handelt: ein Ge-
setz, das die Bewohnerinnen und Bewohner von Alten-
heimen nicht länger als Objekte staatlicher Fürsorge sieht,
sondern ihnen einen Anspruch auf Qualität der von ihnen
bezahlten Leistung und mehr Rechte zur Durchsetzung
ihrer eigenen Interessen gibt.
Dass es in diesem Hause für diese Änderung einen
breiten Konsens gibt, ist ein Zeichen dafür, dass es im In-
teresse der alten Menschen gelingen kann, aufeinander
zu- und einzugehen. Dafür sei allen gedankt, die an dem
intensiven Abstimmungsprozess beteiligt waren.
Dieses Gesetz wird hoffentlich dazu führen, dass es
künftig zu weniger Missständen in Heimen kommen wird.
Frau Kol-
legin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Seifert?
Frau Kollegin Schewe-Gerigk,Sie betonten gerade den bürgerrechtlichen Aspekt und
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Gerald Weiß
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führten aus, dass die Rechte der Heimbewohnerinnen und-bewohner gestärkt würden; das begrüße ich natürlichauch. Aber sehen Sie nicht genauso wie ich, dass denMenschen im Heim, die auf Hilfe angewiesen sind, mehrPersonal viel mehr helfen würde als irgendwelche ein-klagbaren Rechte, zumal sie ja überhaupt keine Möglich-keit haben, zum Rechtsanwalt zu gehen?
Das Problem, vor dem wir stehen, ist doch, dass es in al-len Einrichtungen zu wenig Personal gibt. Ihr Gesetzbringt kein zusätzliches Personal in die Einrichtungen,sondern höchstens noch von den Leuten weg.
dacht. Sie wissen genau, dass es ein Modellprojekt na-mens „Plaisir“ gibt, in dessen Rahmen eine angemessenePersonalbemessung geprüft wird, sodass man genau er-fährt, wie der Personalbestand in einem bestimmten Heimmit einer bestimmten Anzahl von zu pflegenden Men-schen und unterschiedlichen Pflegestufen ausgelegt wer-den muss. Danach wird entschieden, ob es nötig ist, in ge-wissen Heimen mit mehr Personal zu arbeiten. DenBericht über dieses Modellprojekt werden wir Ihnen inKürze vorlegen. Damit tragen wir dazu bei, festzustellen,wie die Situation in den Heimen ist. Ich gebe Ihnen natür-lich Recht, dass die Personalsituation in vielen Heimenschwierig ist. Genau das werden wir aufgrund der Ergeb-nisse des Modellprojektes zu verändern suchen.Wir alle verbinden mit diesem Gesetz die Zuversicht,dass Pflegefehler und ein schlechtes Qualitätsmanage-ment nun endlich der Vergangenheit angehören werden.Menschen, die abhängig von Pflege in Pflegeeinrichtun-gen leben, müssen sich darauf verlassen können, dass ihreMenschenwürde gewahrt bleibt. Deshalb geht es in demneuen Heimgesetz auch nicht um mehr Bürokratisierung– Herr Weiß von der CDU hat diesen Vorwurf heute wie-der erhoben –, sondern es geht um dringend notwendigeSchutzvorschriften. Herr Weiß, Sie können doch einfacheinmal sagen, dass die Regierung hiermit ein gutes Gesetzvorgelegt hat, dem Sie zustimmen. Machen Sie das docheinfach! Sie suchen jetzt nach Gründen, weshalb es dochnicht so gut ist.
Mit diesem neuen Gesetz wollen wir das Qualitätsma-nagement der Heime durch die Verpflichtung zur detail-lierten Buch- und Aktenführung sowie durch kürzere Prüf-intervalle verbessern. Bei der Dokumentationspflichtlegen wir die Messlatte der Qualitätssicherung gerade soan, dass es bei einem ohnehin schon ordentlich arbeiten-den Heim zu keinerlei Mehraufwand kommt. Mehrauf-wand werden nur die Heime haben, die vorher schlechtgearbeitet haben.
Vergleichbare Pflichten ergeben sich ohnehin bereits ausdem Bundessozialhilfegesetz und aus dem SGB XI. DieLeistungs- und Aufgabenbeschreibung für die Heime wieauch für die Verträge führt zu deutlich mehr Transparenz.Das war eines unserer Hauptanliegen bei der Novellie-rung.Jetzt komme ich zu Ihrem Anliegen, Herr Seifert.Sollte es durch die Veränderung für eine Vielzahl von Al-tenpflegerinnen und Altenpflegern zu einem krassenMehraufwand kommen, muss also festgestellt werden,dass ein großer Mehrbedarf an Personal besteht, muss inder Heimpersonalverordnung eine angemessenere Perso-nalbemessung verankert werden.
Mit dem neuen Gesetz soll aber auch die Kontrolle derHeime intensiviert werden. Sie soll mindestens einmal imJahr erfolgen, und zwar zu beliebiger Zeit und ohne Vor-anmeldung.
Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens haben wirweitere wichtige Ergänzungen vorgenommen; Sie habenvon der Vielzahl der Änderungsanträge gesprochen. Wirhaben durch Modellversuche unter anderem den Weg fürechte Mitbestimmungsrechte geöffnet. Durch Modellver-suche in geeigneten Bereichen wie beispielsweise im so-zialen oder kulturellen Leben sollen die Chancen für dieMitbestimmung zunächst erprobt werden. Auf dieseWeise ist zu klären, wie Konflikte zwischen Heimträgernund Bewohnerinnen und Bewohnern, die natürlich vor-kommen, gelöst werden können und welche rechtlichenRahmenbedingungen für eine echte Mitbestimmungkünftig zu schaffen sind.Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Abgrenzung zwi-schen betreutem Wohnen und den Heimen. Die vorge-nommene Klarstellung gibt dem Bereich des betreutenWohnens eine eindeutige Rechtsgrundlage und sichert da-mit deren Fortbestand. Neue Betreuungsformen werdensomit gefördert. Deren Ausbau wird außerdem durch dieneuen Erprobungsregelungen weiter in Gang gebracht.Dies ist meines Erachtens von großer Bedeutung, denn dieZukunft des altengerechten Wohnens wird nicht weiter inAltenheimen liegen, sondern in alternativen Wohnfor-men.
Menschen, die dort leben, dürfen nicht schutzlos bleiben.Darum brauchen wir so schnell wie möglich ein Ambu-lante-Dienste-Gesetz. Ich habe mich gefreut, heute in ei-ner Tickermeldung zu lesen, dass die Ministerin gerade aneinem solchen Gesetz arbeitet. Ich finde es wunderbar,dass wir das jetzt noch realisieren können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem neuenHeimgesetz werden die Rechtsstellung und der Schutzder Heimbewohnerinnen und Heimbewohner deutlich
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Dr. Ilja Seifert17311
verbessert. Das Gesetz beseitigt eklatante Mängel im gel-tenden Recht und füllt bestehende Regelungslücken aus.Auf diese Reform haben viele sehr lange gewartet. Ich binfroh, dass wir das heute auf den Weg bringen, und bitte umIhre Zustimmung.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Haupt von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die F.D.P. hat die Beratung über die
Novelle des Heimgesetzes von Anfang an konstruktiv be-
gleitet. Wir sehen die Novellierung als notwendig und
überfällig an und unterstützen deren Zielsetzung. Aller-
dings gab es gut begründete Einzelkritik am ursprüngli-
chen Entwurf.
Die F.D.P. hat die ihr wichtigsten Punkte in Ände-
rungsanträgen formuliert. Ich freue mich, hier feststellen
zu können, dass die Regierung die Kritik – sowohl die aus
der Anhörung als auch jene, die aus den Reihen der F.D.P.-
Fraktion geäußert wurde – weitgehend aufgegriffen hat.
Es ist gut, dass auch in Zeiten zunehmender politischer
Polarisierung eine solche Sachzusammenarbeit noch
möglich ist.
Freiheit und Verantwortung kennen weder Ruhestand
noch Altersgrenzen. Deshalb begrüßt es die F.D.P., dass
Partizipation und Stärkung der Mitwirkungsrechte der
Heimbewohner zu den wichtigsten Zielen der Heimgesetz-
novelle gehören. Die Öffnung der Heimbeiräte für externe
Personen findet unsere Zustimmung. Dies ermöglicht auch
die Erschließung einer größeren Sachkompetenz für Heim-
beiräte. Das Eintritts- bzw. Durchschnittsalter in Senioren-
heimen liegt heute schließlich so hoch wie nie zuvor. Umso
wichtiger ist es, dass die Komponente „Heimbeiräte“ ihrer
wichtigen Rolle gerecht werden kann. Ich möchte hinzufü-
gen: Im Zusammenhang mit den Heimbeiräten ist auch die
erforderliche Ausstattung mit finanziellen Mitteln anzu-
mahnen, dazu Möglichkeiten der Schulung, der externen
Unterstützung, aber auch die immer wieder notwendige
Bestärkung und Motivation zur Mitgestaltung.
Die F.D.P. hatte vorgeschlagen, durch eine Experimen-
tierklausel die Möglichkeit zu schaffen, in bestimmten
Teilbereichen Mitbestimmungsrechte in Modellversu-
chen zu erproben. Es ist erfreulich, dass sich die Bundes-
regierung diesem Vorschlag angeschlossen hat. Schade ist
dagegen, dass unsere Forderung, die Heimbewohnerfür-
sprecher – wie wir sie lieber nennen möchten – durch
Wahl demokratisch zu legitimieren, nicht den gleichen
Widerhall gefunden hat. Wir freuen uns, dass unserem
Antrag, das Vertragsverhältnis nach dem Tod des Bewoh-
ners noch einige Zeit weiterlaufen zu lassen, in der von
der CDU/CSU vorgeschlagenen Kompromissform ge-
folgt wurde. Auch unser Vorschlag, eine kommissarische
Heimleitung einzusetzen, wenn das Heim wegen Mängel
sonst geschlossen werden müsste, fand Zustimmung. Das
ist im Interesse der betroffenen Seniorinnen und Senioren
gut so.
Ein anderes zentrales Ziel der Gesetzesnovelle ist die
Transparenz, die bessere Durchschaubarkeit und Rechts-
wirksamkeit des vertraglichen Miteinanders von Bewoh-
nern und Trägern. Wir begrüßen die Leistungs- und Auf-
gabenbeschreibung der Heime und die differenzierte
Aufstellung einzelner Leistungsbereiche und Entgeltbe-
standteile. Dass die Unterrichtung und Beratung der
Heimbewohner nicht mehr allein dem Heimbetreiber ob-
liegt, ist auch eine Verbesserung der bisherigen Regelung.
Beide Neuregelungen können zu einer erhöhten Kunden-
orientierung beitragen und dienen dem Verbraucher-
schutz.
Nach wie vor haben wir aber leichte Bauchschmerzen
mit einigen zu unbestimmten und schwammigen Formu-
lierungen im Gesetzestext. Sie könnten in der Praxis zu er-
heblichen Interpretationsschwierigkeiten führen. Auch
bei der vorgesehenen Aufzeichnungspflicht zur Qualitäts-
sicherung fürchten wir einen erheblichen Mehrbedarf an
Arbeitszeit, der nicht auf Kosten der eigentlichen Pflege-
arbeit gehen darf. Dennoch darf ich für die F.D.P. fest-
stellen: Das neue Heimgesetz ist im Großen und Ganzen
ein gutes Gesetz für die Seniorinnen und Senioren in
Deutschland. Deshalb findet es die Unterstützung der Li-
beralen.
Danke.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Balt von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Vor circa vier Wochen bekam ich einen Brief,in dem eine 71-jährige Mutter die Zustände in einem Pfle-geheim meines Wahlkreises beschreibt, in dem ihre 47-jäh-rige querschnittsgelähmte Tochter gepflegt wird. Sieschreibt: Pampers werden reduziert. Stattdessen müssenEinlagen verwendet werden. Ihr wurde geraten, weniger zutrinken
– zur Kosteneinsparung! Im Heim wird sie nur alle 14 Tagegebadet.
Glauben Sie allen Ernstes, dass dieser unwürdige undskandalöse Zustand dadurch beseitigt wird, dass man sichbei der Heimaufsicht beschwert, die ja bekanntermaßenaus dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen und
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den Kostenträgern besteht? Hinzu kommt – wie dieseFrau schreibt – dass ihre Tochter im Moment große Sorgehabe, dass durch ihr Eingreifen Nachteile für sie entstehenkönnten.Pflegekassen und Sozialhilfeträger können keinesfallsdie legitimen Vertreter der Heimbewohner sein;
denn als Kostenträger und Verhandlungspartner sind siemitverantwortlich für eine personelle Ausstattung, die derQualität der Pflege und der Betreuung unter Kostenge-sichtspunkten sehr enge Grenzen setzt. Dieser Interessen-konflikt wird mit der Änderung des Heimgesetzes nichtaufgelöst.
Wir fordern daher die Einrichtung einer unabhängigenund mit Befugnissen ausgestatteten Schiedsstelle.
Meine Damen und Herren, Sie wollen die Qualität inden Einrichtungen der Alten- und Behindertenpflegekontinuierlich verbessern und den Rechtsschutz der860 000 Bewohnerinnen und Bewohner stärken. Das wol-len wir auch. So weit, so gut. Die Rahmenbedingungenund die Anforderungen haben sich aber seit 1974 ent-schieden geändert. Das durchschnittliche Heimeintritts-alter liegt bei 80 Jahren, das Durchschnittsalter bei 83 Jah-ren. 530 000 Personen in Heimen sind pflegebedürftig.Für Demenzkranke sieht das Gesetz sogar überhauptkeine Regelungen vor. Wir unterstützen Ihre Schritte zurStärkung der Heimbeiräte und zur Verbesserung desRechtsschutzes der Heimbewohner. Wir unterstützen dieForderung nach mehr Transparenz bei den Entgelten.Aber die gravierenden Probleme werden nicht gelöst unddie Mängel nicht beseitigt.Bewohnerschutz und Qualität entstehen nicht durchVerschärfung der bestehenden Regelungen. Es sind so-wohl im jetzigen Heimgesetz als auch im SGB XI umfas-sende und ausreichende Instrumentarien vorhanden. WennVerfehlungen auftreten, liegt das oft am Fehlverhalten ei-niger Betreiber oder aber an der fehlenden Anwendung derbestehenden Beratungs-, Prüf- und Kontrollpflichten. Hältman sich nicht daran, greift auch eine Ausweitung dergesetzlichen Bestimmungen nicht.Das neue Gesetz wird darüber hinaus zu einem weite-ren Aufblähen bürokratischen Aufwandes führen. Da-durch, dass die Heime immer mehr Unterlagen zu führenund vorzuhalten haben, wird der Verwaltungsaufwand er-höht; das wird wegen der ohnehin knappen Ressourceneinen Rückgang an Pflege zur Folge haben. Das will diePDS nicht.
Unser Anliegen muss es sein, unbürokratische Hilfenfür die Betroffenen durchzusetzen, und nicht, eine aufge-blähte Kontrollbürokratie aufzubauen.Vielen Dank.
Jetzt hat
das Wort der Kollege Arne Fuhrmann von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich will gar keinen Hehl daraus ma-chen, dass diese zweite und dritte Lesung des Dritten Ge-setzes zur Änderung des Heimgesetzes für mich mit einbisschen Herzblut verbunden ist. Viele unter Ihnen, ge-rade die Berichterstatter der Oppositionsparteien, wissendas. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Weiß,und bei Ihnen, Herr Haupt, dafür, wie wir gemeinsam mitFrau Schewe-Gerigk an die parlamentarische Arbeit her-angegangen sind.In dem Zusammenhang möchte ich auch, weil ich ge-sagt habe, das sei mir ein Anliegen, sehr deutlich machen,inwieweit wir Abgeordnete auf Menschen um uns herumangewiesen sind, die etwas von der Materie verstehen.Diese verrichten ihre Arbeit im Interesse eines großen An-teils, ja fast der gesamten Bevölkerung; denn wir werdenja alle älter und keiner von uns kann heute mit Sicherheitsagen, dass er nicht eines Tages auf Hilfe und Unterstüt-zung in einer Alteneinrichtung angewiesen ist.Wenn ich an der Stelle zwei Personen meinen beson-deren Dank ganz öffentlich ausspreche, so soll das nichtbedeuten, dass ich alle anderen vergessen habe. Ich bittedie Ministerin, mir zu erlauben, an erster Stelle HerrnHerweck zu benennen, der hinter der Regierungsbanksitzt. Ohne ihn und seine Unterstützung in Fragen, denenauch ich in der Anfangsphase der parlamentarischen Ver-handlung zum Teil hilflos gegenüberstand, hätte ich man-chen Schritt nicht gewagt und manches fachliche Wissenkaum vermittelt bekommen.
Der Zweite ist leider nicht mehr für uns tätig, sondernjetzt in Potsdam als persönlicher Referent der Staats-sekretärin im Sozialbereich tätig. Er sitzt auf der Besu-chertribüne. Ich freue mich sehr über seinen Besuch. Esist Herbert Fuchs, der bisherige Referent in unserer Ar-beitsgruppe,
der auch in einer Phase, in der ich vorübergehend außerGefecht gesetzt war – ich lag aufgrund einer unschönenOperation im Krankenhaus –, die Stellung gehalten undden Kontakt innerhalb des Kreises der Referenten in einerArt und Weise aufrechterhalten hat, die weit über dasnormale Maß hinausging.Ich habe erstmals in meiner parlamentarischen Ge-schichte – die ist mittlerweile elf Jahre alt – festgestellt,dass wirklicher Parlamentarismus und wirkliches demo-kratisches Miteinander zu einem Ziel führen können, daswir alle gewollt haben und für das wir uns alle verant-wortlich fühlen. Ich stelle mit großer Befriedigung fest,dass es uns trotz Ihrer Kritik, Herr Weiß – ich vermute,dass auch Herr Holetschek den einen oder anderen Kri-tikpunkt anführen wird –,
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Monika Balt17313
gelungen ist, diesen wichtigen Gesetzentwurf, der weitüber den Rahmen der beteiligten Parlamente hinaus Wir-kung erzielen wird, nämlich in den Verbänden, in denLändern und bei den betroffenen Heimbewohnerinnenund Bewohnern und deren Angehörigen, Freunden undVerwandten, vorzulegen. Ich meine, dass wir nach der Ab-stimmung erstmals seit längerer Zeit, in der wir uns häu-fig um Strohhalme gestritten haben, mit Befriedigungfeststellen können: Dies ist ein gutes Gesetz. Ich danke al-len, die daran mitgewirkt haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Kollege Klaus Holetschek von der CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Siemich einen Satz zu Ihnen, Frau Ministerin, sagen: Wennein Bundesland verfassungsrechtliche Bedenken gegeneinen Gesetzentwurf hat, dann sollten Sie das nicht in derWeise kommentieren, wie Sie es gemacht haben, sonderneinfach akzeptieren, dass das überprüft wird. Wir leben ineinem Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat ist das durch-aus legitim.
Herr Fuhrmann, ich hoffe, dass ich Ihren Erwartungengerecht werde, die Sie an mich gestellt haben. Wie derKollege Weiß schon ausgeführt hat, ist dieser Gesetzent-wurf tatsächlich aber nicht der große Wurf. Es ist viel-leicht ein Schritt in die richtige Richtung. Positiv ist, dassSie dieses Mal die Ergebnisse der Anhörung, die wirdurchgeführt haben, aufgegriffen haben. Sie haben sichdurchaus die Expertenmeinungen zu Eigen gemacht. Daserkennt man zum Beispiel an den 23 Punkten des Ände-rungsantrages. In der gleichen Weise hätten Sie auch beivielen anderen Gesetzentwürfen vorher vorgehen sollen;dann hätten wir jetzt wahrscheinlich bessere Gesetze.Aber immerhin: Dieses Mal haben Sie einiges übernom-men. Mein Dank gilt daher den vielen Sachverständigenund Experten, die es möglich gemacht haben, dass derKonstruktionsfehler des Gesetzes nicht ganz so groß ist,wie es am Anfang ausgesehen hat.Ein Verbraucherschutzgesetz ist das, was hier vorliegt,sicherlich nicht mehr.
Das Gesetz wird aber einzelne Verbesserungen in ge-wissen Bereichen bringen.Unsere zwei zentralen Änderungsanträge, die Ver-jährung von Ansprüchen nach vier Jahren – das ist rechts-systematisch wichtig und richtig – sowie die weitere Gül-tigkeit des Vertrages zwei Wochen über den Tod desHeimbewohners hinaus, sind eingeflossen. Diese habenSie mit Ihrer Mehrheit angenommen. So konnten wir zweizentrale Anliegen, die wir gehabt haben, durchsetzen.
Die personelle Ausstattung der Heimaufsichtsbe-hörden wird sich drastisch ändern, vor allem durch diebundeseinheitliche Regelung in § 15 Abs. 4, die Sie hiereingeführt haben. Ich hoffe, dass gerade die Länder, dievon Rot oder Rot-Grün regiert werden, auf diese neuenAufgaben vorbereitet sind. Ich bin hier sehr skeptisch.Kontrolle ist wichtig und richtig. Um jedoch die Qualitätder Pflege zu erhalten und zu verbessern, müssen wirnicht nur die Kontrolle, sondern auch die Verbesserungder Pflege im Auge behalten. Auch hinsichtlich der unab-hängigen Sachverständigen, der so genannten Zertifizie-rer, stellt sich die Frage, wer letztendlich die Zertifiziererzertifiziert.
Die Verzahnung von Heimgesetz und SGB XI istrechtssystematisch falsch. Der Grundsatz der striktenTrennung zwischen dem ordnungsrechtlichen Heimgesetzund dem leistungsrechtlichen Pflegeversicherungsgesetzwurde hier durchbrochen, was nicht richtig sein kann.Leider haben Sie unseren dritten Änderungsantrag,meine Damen und Herren, die Differenzierung der Ent-gelte – der Kollege Weiß hat es vorhin angesprochen –,nicht aufgegriffen. Wenn Sie hier nicht irgendwelchen so-zialistischen Träumen anhängen würden, sondern sichauch einmal auf marktwirtschaftliche Dinge verlassenhätten, hätten wir echte qualitative Verbesserungen in denHeimen erreichen können.
Letztendlich muss, wer Pflege leisten will, auch Geldin die Hand nehmen. Die Argumentationskette für einemenschenwürdige Pflege muss lauten: mehr Zeit undmehr Zuwendung mit mehr Personal und dafür mehrGeld. Das muss die Maxime sein, an der wir unsere Hand-lungen orientieren.
Frau Ministerin, weil Sie vorhin auf Bayern abgehobenhaben: Ich finde es gut, dass die bayerische Sozialminis-terin Stewens und der Freistaat Bayern 75 Millionen DMfür die Schaffung und Modernisierung von Altenpflege-plätzen in den Haushalt einstellen und dieses Geld dannzur Verfügung steht. Das sind Beispiele, an denen wir unsorientieren können.
Wir werden diesem Gesetz mit Bauchschmerzen zu-stimmen, Herr Fuhrmann,
weil wir glauben, dass wir kleine Verbesserungen erreichthaben, weil wir eine konstruktive Opposition sind,
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Arne Fuhrmann17314
wie es die Bevölkerung von uns erwartet, und weil wirletztlich auch zum Wohle der Heimbewohnerinnen undHeimbewohner entscheiden wollen. Aber ich sage Ihnenjetzt auch: Die Praxis wird uns lehren, dass wir diese No-velle in vielen Ansätzen werden nachbessern müssen,weil wir in der Praxis noch viele Dinge feststellen werden,die uns zu Korrekturen veranlassen werden. Lassen Sieuns das dann auch gemeinsam angehen! Lassen Sie unskeine Scheuklappen haben, sondern dann, wenn es not-wendig ist, auch weiter an dem Gesetz arbeiten.
Ichschließe die Aussprache.Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-kannt, dass eine persönliche Erklärung gemäß § 31 derGeschäftsordnung des Kollegen Dr. von Stetten vorliegt,die wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll nehmen.1)Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines DrittenGesetzes zur Änderung des Heimgesetzes, Drucksachen14/5399 und 14/6366. Der Ausschuss für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derCDU/CSU und der F.D.P. mit Ausnahme der Gegen-stimme des Herrn von Stetten bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichenStimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 7 b: Der Ausschuss empfiehlt un-ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ableh-nung des Antrags der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel„Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im Alter“,Drucksachen 14/5565 und 14/6366. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon F.D.P. und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU ange-nommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie Zu-satzpunkt 5 auf:8 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des
– Drucksache 14/5395 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Verbesserung der Leistungen in derPflege
– Drucksache 14/5547 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
– Drucksache 14/6308 –Berichterstattung:Abgeordnete Katrin Göring-Eckardtb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulf Fink, Eva-Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUZukunft der sozialen Pflegeversicherung– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENWeiterentwicklung der sozialen Pflegever-sicherung– Drucksachen 14/3506, 14/4391, 14/6308 –Berichterstattung:Abgeordnete Katrin Göring-Eckardtc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungZweiter Bericht über die Entwicklung derPflegeversicherung– Drucksache 14/5590 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDSPflege reformieren – Lebensqualität in Gegen-wart und Zukunft sichern– Drucksache 14/6327 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialordnungAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeHaushaltsausschuss
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Klaus Holetschek17315
1) Anlage 3Zum Entwurf des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzesliegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dasWort die Kollegin Margrit Spielmann von der SPD-Frak-tion.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zu ver-abschiedenden Qualitätssicherungsgesetz werden wich-tige Weichenstellungen für die Zukunftsfähigkeit derpflegerischen Versorgung in Deutschland vorgenommen.Die demographische Entwicklung in unserem Landeweist, wie wir alle wissen, einen deutlichen Anstieg desAnteils der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerungaus. Unsere Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Es istalso keine Frage, dass wir uns mit den Folgen dieser Ent-wicklung beschäftigen müssen, insbesondere natürlichmit den Auswirkungen dieser Entwicklung auf unsere so-zialen Sicherungssysteme. Wir müssen uns Gedankenüber adäquate Angebote, über Betreuungs- und Pflege-einrichtungen für ältere Menschen machen.Ein in die Zukunft weisender Schritt war ja die Ein-führung der gesetzlichen Pflegeversicherung vor sechsJahren. Sie ist als Grundsicherung konstruiert. Die Leis-tungen aus der Versicherung decken aber nicht alle erfor-derlichen Hilfen ab. Sie geben eine wichtige Hilfestel-lung, um die schwierige Situation von Pflegebedürftigenzu unterstützen.
Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Pflegebe-dürftigen bis zum Jahre 2010 um bis zu 350 000 ansteigt.Diese Schätzungen verlangen von uns, dass wir mit denRessourcen der gesetzlichen Pflegeversicherung verant-wortungsvoll umgehen.
Bei allem, was in diesem Bereich in Zukunft noch zuerörtern und zu entscheiden ist, steht hier und heute abereines im Vordergrund: die Sicherung der Pflegequalität.Es geht bei der Verabschiedung des Pflege-Qualitätssi-cherungsgesetzes um jeden einzelnen Menschen, demPflege zuteil wird, sei es in einer Pflegeeinrichtung oderaber auch in ambulanter Betreuung. Die Sicherung einerguten, einer angemessenen Pflege duldet, so denke ich,keinen Aufschub.
Pflegebedürftige Menschen sind in ganz besondererWeise darauf angewiesen, dass der Staat Regelungen zuihrem Wohl und zu ihrem Schutz trifft, da sie ihre eigenenInteressen, wie wir wissen, oftmals nicht mehr artikulie-ren können. Qualitätssicherung und Qualitätsverbesse-rung sind zunächst einmal, wie wir wissen, originäre Auf-gaben der Heime. Deshalb haben wir in diesem Gesetzauch Regelungen zum internen Qualitätsmanagementvorgesehen. Aber aus der besonderen Schutzbedürftigkeitder pflegebedürftigen Menschen ergibt sich auch, dasswir weiterhin externe Qualitätssicherung durch dieLandesverbände der Pflegekassen und staatliche Kon-trollen durch die Heimaufsichtsbehörden durchführenmüssen. Die externe Qualitätssicherung und die Kontrollesind deshalb – das sage ich ganz ausdrücklich – kein Miss-trauensbeweis gegenüber den Einrichtungen, sonderneine Pflicht des Staates gegenüber den Schwachen in un-serer Gesellschaft.
Von daher halte ich es für selbstverständlich, dass dieseKontrollen unangemeldet durchgeführt werden. Ichdenke, diejenigen, die eine gute Pflege gewährleisten,brauchen sich keine Sorgen zu machen.
Sie können diesen Kontrollen auch sehr gelassen entge-gensehen.Natürlich – auch das wissen wir – ist es mit Kontrollenalleine nicht getan. Deshalb war es uns auch ein ganzwichtiges Anliegen, eine angemessene und – HerrDr. Seifert – eine qualifizierte Personalausstattung undeinen wirksamen Vertrauensschutz zu gewährleisten.Wir wollen mit diesem Gesetz Pflegebedürftige und ihreAngehörigen vor allem durch verstärkte Beratung und In-formation in die Lage versetzen, ihre Rechte wirksamwahrzunehmen. Mit den Regelungen im Pflege-Qua-litätssicherungsgesetz zur Stärkung der Verbraucher-rechte war ja nicht einfach brachliegendes Neuland zubetreten, sondern wir sind auf bewährten Wegen fortge-schritten.Der Verbraucherschutz wird im Wesentlichen verbes-sert – ich möchte einige Punkte nennen – durch dieBeteiligung der Pflegekassen an kommunalen Beratungs-angeboten, durch die stärkere Verpflichtung zur Durch-führung von Pflegeschulen im häuslichen Bereich– übrigens ein sehr wichtiger Aspekt, der auch immer wie-der gefordert wird –, durch die Pflicht zum Abschluss undzur Aushändigung eines schriftlichen Pflegevertrages beihäuslicher Pflege, durch die probeweise Inanspruch-nahme des Pflegedienstes, durch Rückzahlungspflichtenbei Schlechtleistungen und durch die verbesserte Beteili-gung der Pflegebedürftigen, der Behinderten und der Be-rufsverbände an bundesweiten Qualitätsvereinbarungen,an landesweiten Rahmenempfehlungen sowie an dergeplanten Verordnung über Beratungs- und Prüfvor-schriften.In den Beratungen zu diesem Gesetz gab es denWunsch nach noch weiter gehenden Regelungen. Ichdenke, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurfrichtige und wichtige Weichenstellungen vorgenommenhaben.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms17316
Ich appelliere an alle, sich unseren Argumenten nicht zuverschließen und dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Tateine bessere Qualität in den stationären und auch in denambulanten Einrichtungen bekommen.Allen, die uns geholfen haben – ich denke in besonde-rer Weise an die Wohlfahrtsverbände –, dieses Gesetz aufden Weg zu bringen, möchte ich herzlich danken.Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva-Maria
Kors von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Leider ist es beim Qualitäts-sicherungsgesetz nicht so wie beim Heimgesetz, dass einKonsens möglich gewesen wäre. Denn es ist von der Sub-stanz des Gesetzes her nicht möglich. Zwar hat die ersteLesung natürlich ergeben, dass wir alle das gleiche Zielhaben: Verbesserung der Qualität der Pflege. Es hat sichaber auch bis zum heutigen Tag bestätigt, dass unsere Auf-fassungen über das Wie, über den Weg hin zu mehr Qua-lität in der Pflege meilenweit auseinander liegen.Während die Regierung und die sie tragenden Fraktio-nen fast ausschließlich auf mehr Kontrolle und mehrBürokratie setzen, wollen wir von der Union unter ande-rem mehr qualifiziertes Personal und damit mehr fachge-rechte Pflege und Betreuung für die pflegebedürftigenMenschen.
Das Gesetz der Bundesregierung verlangt von den Hei-men ein unvergleichlich hohes Maß an zeit- und kos-tenintensiven Maßnahmen, über deren Sinn und Nutzen,meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,nicht nur wir mehr als streiten können, sondern auch dieVerbände.
Von Anreizen für eine wirkliche Qualitätssicherung, ge-schweige denn Qualitätssteigerung ist in ihrem Gesetzkeine Spur. Der Entwurf der Bundesregierung enthältkeinerlei Leistungsverbesserungen, die die Qualität derPflege nachhaltig stärken könnten. Kurz gesagt: Ihr Ge-setzentwurf ist unzureichend.Unser Gesetzentwurf hingegen beinhaltet konkreteVorschläge für wirkliche Leistungsverbesserungen inder Pflege:
zum einen durch die Einbeziehung des Betreuungsbedarfsaltersverwirrter Menschen – dies fehlt bei Ihnen völlig –,zum anderen durch die Schaffung einer besseren Perso-nalausstattung in den Heimen im Wege der Personal-schlüsselerhöhung.Um Ihrem Argument wegen der Kosten gleich zuvor-zukommen: Wir machen auch seriöse Vorschläge zur Fi-nanzierung dieser Verbesserungen.
Die erforderlichen Mittel können unserem Gesetzentwurfzufolge einerseits durch die sachgerechte Verlagerung dermedizinischen Behandlungspflege in die gesetzlicheKrankenversicherung und andererseits – wenn Sie Mutbeweisen – durch die Rücknahme der Absenkung derBeiträge für die Bezieher von Arbeitslosengeld aufge-bracht werden.
Im Übrigen wird die medizinische Behandlungspflegeim ambulanten Sektor ohnehin bereits von der Kranken-versicherung bezahlt. Warum also das nicht auch im sta-tionären Bereich? Lassen Sie uns das doch nachholen!Auf diesem Weg wären immerhin 2 Milliarden DM mehrzugunsten der Pflegebedürftigen vorhanden – 2 Milliar-den DM, die in die Pflegeversicherung gehören und denPflegebedürftigen zugute kommen müssen.Wir wollen mit unseren Vorschlägen vor allem dafürSorge tragen, dass den wirklichen Bedürfnissen der Men-schen, sowohl der Pflegebedürftigen als auch der Pfle-genden, Rechnung getragen wird und die Pflegesituationin den Einrichtungen entschärft und verbessert wird.Durch bürokratische Kontrollen wird ein hohes Maß anQualität, das wir zweifelsohne brauchen, weder erreichtnoch gesichert. Qualität und Qualitätssicherung erfordernunserer Auffassung nach mehr gut ausgebildetes Perso-nal, als heute zur Verfügung steht. Dafür schaffen wir mitunserem Gesetzentwurf die Voraussetzungen.Die unzweifelhaft vorhandenen Probleme, deren Lö-sung wir im Bereich der Pflege in Deutschland dringendangehen müssen, die wir als verantwortliche Politi-kerinnen und Politiker zu lösen haben, sind keine abs-trakten, sondern ganz reale Probleme, die uns alle, Fami-lienangehörige und Freunde eingeschlossen, früher oderspäter treffen können oder schon getroffen haben,manchmal völlig unvorbereitet. Bei dem Versuch, dieseProbleme zu lösen, kann ich mich manchmal des Ein-drucks nicht erwehren, dass wir hin und wieder verges-sen, dass es sich um Menschen handelt, die von denAuswirkungen unseres Paragraphenwirrwarrs be- undgetroffen sind.
Es sind Menschen, die unsere besondere Aufmerksam-keit, aber auch unsere besondere Anstrengung brauchen.
– Dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. – Diesgilt insbesondere für die Demenzkranken. Deswegen ent-hält unser Gesetzentwurf auch eine Regelung für dieseMenschen. Zudem kommen unsere Vorschläge auf die-sem Gebiet auch den professionellen Pflegekräften undden Angehörigen zugute. Wir als Politiker haben diePflicht, dafür zu sorgen, dass der Verwaltungsaufwand in
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Dr. Margrit Spielmann17317
den Einrichtungen aufgrund neuer gesetzlicher Regelun-gen nicht noch größer wird und dadurch noch wenigerZeit für die eigentliche Pflege am Menschen übrig bleibt.
Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass beruflichPflegende ebenso wie pflegende Angehörige nicht immerstärkeren physischen und psychischen Belastungen aus-gesetzt werden. Ebenso haben wir die Pflicht, zu verhin-dern, dass sich immer mehr Beschäftigte in den Pflege-heimen mit dem Gedanken tragen, ihren erlernten Berufaufzugeben oder – noch schlimmer – sich nicht mehr inder Lage sehen, so zu pflegen, wie es den fachlichen An-forderungen und ihrer Ausbildung entspricht und wie esvor allem die pflegebedürftigen Menschen brauchen undverdienen.
Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein,warum Sie glauben, mit einem Mehr an Verwaltungs-aufwand und zusätzlichen Kontrollen Qualität in derPflege schaffen und sogar sichern zu können. Diesenfalschen Weg werfen nicht nur wir Ihnen vor. Das sagenauch die betroffenen Verbände, liebe Frau Spielmann,zum Beispiel der Paritätische Wohlfahrtsverband. Ich zi-tiere:Durch die neuen Gesetze werden in erster LinieDokumentations- und Zertifizierungspflichten sowieHygienebestimmungen und -kontrollen übermäßigausgeweitet, strukturelle Mängel aber nicht beseitigt.Wer die Qualität der Pflege in den Einrichtungen ernst-haft verbessern wolle – so der Hauptgeschäftsführer die-ses Verbandes –, müsse mit einer durchgreifenden Reformder Pflegeversicherung den bereits jetzt überzogenen Ver-waltungsaufwand in den Einrichtungen eindämmen. Zu-dem müsse endlich der Betreuungsaufwand demenzkran-ker Menschen in der Pflegeversicherung angemesseneBerücksichtigung finden. Diese berechtigten Forderun-gen erfüllt unser Gesetzentwurf.
Ihr Gesetzentwurf hingegen ist von einem generellenMisstrauen gegenüber Pflegeeinrichtungen und damitauch gegenüber den dort Beschäftigten durchzogen. Mitnoch mehr Bürokratie und noch mehr Kontrollen schaffenSie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nur nochmehr Frust und noch mehr Stress, der seinen Ausdruck inmangelhafter Pflege finden und im schlimmsten Fall zuden allseits beklagten Missständen in einzelnen Heimenführen kann – aber nicht muss.Wie wollen Sie dem Pflegepersonal oder jungen Men-schen, die in der Altenpflege tätig werden wollen, erklä-ren, dass sie in Zukunft immer weniger Zeit für die per-sönliche Betreuung der Pflegebedürftigen, also für ihreeigentliche Aufgabe, haben und einen noch größeren Teilals bisher für Verwaltungsaufgaben aufzuwenden haben?Wir von der Union wollen, dass insbesondere junge Men-schen den Pflegeberuf wählen, weil sie sich mit Freudeden Anforderungen stellen und weil sie sich der Aufgabeannehmen wollen, pflegebedürftige ältere Menschen ineinem Abschnitt ihres Lebens zu begleiten, der ein hohesMaß an pflegerischer und sozialer Kompetenz erfordert,aber eben auch Raum für menschliche Zuwendung lässt.
Unser Entwurf bringt dementsprechend – ich darf daskurz zusammenfassen – konkrete Verbesserungen für dieDemenzkranken, die bisher durch alle Raster gefallensind, er bringt Verbesserungen für das Personal und er istseriös finanziert. Damit setzen wir die richtigen Rahmen-bedingungen für mehr Pflegequalität und deren Sicherungund damit, meine Damen und Herren, auch für mehrMenschlichkeit für die Pflegebedürftigen. Deshalb wer-den wir Ihren Antrag ablehnen.
Für dasBündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin KatrinGöring-Eckardt das Wort.
Ich könnte mich eigentlich meiner FraktionskolleginSchewe-Gerigk anschließen, die vorhin hier gesagt hat,dass das, was wir beim Heimgesetz machen, eigentlichein echtes Verbraucherschutzprojekt ist. Ich glaube, dastrifft auch für das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz zu.Wenn wir das Gesetz heute verabschieden, werden wireinen großen Schritt auf dem Weg weiterkommen, denwir mit der Pflegeversicherung beschritten haben. DiePflegeversicherung hat ja eine letzte Lücke in den sozia-len Sicherungssystemen gegen Lebensrisiken geschlos-sen. Von der Pflegeversicherung leiten heute immerhinrund 60 Millionen Menschen Ansprüche ab.Natürlich wurde die Pflegeversicherung ganz bewusstals Teilabsicherung konzipiert. Das dürfen wir in der De-batte, die wir heute auch um die Finanzierung, auch umdie Frage, welche Möglichkeiten es über die Pflegever-sicherung hinaus gibt, nicht vergessen. Die Pflegeversi-cherung ist als Teilabsicherung konzipiert worden, undtrotzdem gibt es nach wie vor unakzeptable Lücken in derVersorgung. Auch hier haben wir es mit einer Hinterlas-senschaft zu tun, die auf jahrelange Untätigkeit zurück-geht. Das wiederum betrifft vor allem und in erster Liniedie Qualität der Versorgung in der ambulanten und sta-tionären Pflege.Die Berichte über Mängel häufen sich. Wenn man Be-suche in Pflegeheimen macht oder Berichte in den Me-dien verfolgt, dann wird man oft von entwürdigenden Zu-ständen in Pflegeheimen erfahren. Dem steht natürlicheine große Zahl von Pflegenden gegenüber, die Pflegeleis-tungen in hoher Qualität erbringen. Aber ein Qualitätssi-cherungsgesetz ist dringend notwendig, weil es diese Miss-stände gibt, weil es schwarze Schafe in der Pflege gibt, dieerkannt werden müssen, und weil insbesondere Konse-quenzen daraus gezogen werden müssen.
Worum geht es? Es geht um Qualität, es geht aber auchum Eigenverantwortung und mehr Patientenrechte. DieAnhörung hat aus meiner Sicht gezeigt, dass sich alle Be-
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Eva-Maria Kors17318
teiligten einhellig für bessere Instrumente der externenund internen Qualitätssteuerung aussprechen. Es ist ge-rade ein positives Merkmal dieses Gesetzes, dass es beideElemente, die Qualitätskontrolle von außen und die Qua-litätskontrolle innerhalb der Heime, aufweist. Ich glaube,nur beides zusammen wird vernünftig funktionieren.Nun sprechen Sie, Frau Kors, von Misstrauen, vonKontrolle und von mehr Bürokratie. Nein, interne Qua-litätssteuerung bedeutet nicht in erster Linie mehr Büro-kratie. Sie bedeutet vielmehr in jedem Unternehmen undinsbesondere dort, wo es um Menschen, wo es – das isthier zu Recht gesagt worden – um die Schwächsten geht,auch Eigenkontrolle dessen, was passiert.
Dazu gehört selbstverständlich, dass Kontrolle auchvon außen stattfinden kann. Eine solche Kontrolle vonaußen müssen diejenigen, die eine gute Pflege leisten,natürlich nicht fürchten. Wir werden genau das erkennen,was wir brauchen, nämlich die Stellen, an denen estatsächlich Lücken und auch Verfehlungen gibt.
Sie haben, Frau Kors, zwei Sachen miteinander ver-mischt – das ist auch in Ihrem Entwurf so –, nämlich aufder einen Seite Leistungsverbesserungen, die auch wiruns sicherlich an der einen oder anderen Stelle, gerade beiden Demenzkranken, wünschen, und Qualität auf der an-deren Seite. Beides ist aber nicht dasselbe. Sie haben vonseriöser Finanzierung gesprochen. Dazu muss ich sagen,dass das, was Sie unter seriöser Finanzierung verstehen,offensichtlich darauf beruht, Lücken in anderen Versor-gungssystemen herzustellen, beispielsweise in der GKV.Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation, in der wir unsgegenwärtig befinden, ist das nicht sehr verantwortungs-bewusst und es macht den Menschen vor, dass es genügt,ihnen etwas zu versprechen, ohne es auch einzuhalten. Ichhalte das nicht für verantwortungsvoll.Was heißt Qualität? Qualität heißt: Es geht um ange-messene Versorgung, die vor allen Dingen Würde undSelbstbestimmung gewährleistet.
Eine solche Vorstellung von Qualität haben wir sowohlim Hinblick auf das Heimgesetz als auch im Hinblick aufdas Pflege-Qualitätssicherungsgesetz ganz oben auf dieAgenda gesetzt. Das Pflegepersonal ist keine Verschiebe-masse im Falle von chronischer Unterbesetzung und Fehl-management. Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfennicht mehr auf dem Rücken der zu Pflegenden und desPflegepersonals ausgetragen werden. Auch aus diesemGrunde ist es notwendig, über objektive Kriterien derQualitätskontrolle zu verfügen. Solche Kriterien strebenwir mit diesem Gesetz an.Ich kann Sie im Interesse der Pflegenden und der zuPflegenden nur herzlich bitten, unserem Entwurf zuzu-stimmen. Er ist ein großer und wichtiger Schritt. Er wirdnoch nicht alles erfüllen, was auch wir uns wünschen; ichhabe über die Leistungsverbesserungen gesprochen. Auchuns ist klar – wir werden in den nächsten Wochen ent-sprechend handeln –: Gerade was die Demenzkranken an-geht, bedarf es weiterer Verbesserungen.
Verschließen Sie sich bitte trotzdem nicht diesem Schrittder Qualitätssicherung.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Heute ist der Tag des Schlafes, aber den dür-fen wir uns als Gesetzgeber gegenüber Missständen in derPflege und Leistungslücken, wie bei der Betreuung De-menzkranker, nun wirklich nicht leisten. Die F.D.P.möchte jedoch nicht zulassen, dass den Heimen auf demWege zu Verbesserungen immer mehr formaler Aufwandaufgebürdet wird und dadurch Mittel für die Pflegebe-dürftigen der Bürokratie zum Opfer fallen.Frau Göring-Eckardt, der Arbeitgeber- und Berufsver-band Privater Pflege hat als Folge des vorliegenden Ge-setzentwurfs der Bundesregierung – sie hört gar nicht zu –allein Prüfkosten in Höhe von 120 Millionen DM errech-net.
Sie sollen über die Pflegepreise refinanziert werden undmindern den Anspruch der Versicherten auf Pflegeleis-tungen damit erheblich.
Dies geschieht auch noch vor dem Hintergrund, dass dieBundesregierung die Einnahmebasis durch Absenkungder Bemessungsgrundlage beim Bezug von Arbeitslosen-geld deutlich geschmälert hat. Das ist sozialpolitisch nichtakzeptabel.
Wie Pflegequalität kostengünstiger gesteigert werdenkann, hat die Stadt München bewiesen. Der MedizinischeDienst der Krankenkassen führt nach Überprüfungen inBayern die bessere Situation der Stadt gegenüber demländlichen Raum auf die schlichte Tatsache zurück, dassdie bayerische Hauptstadt eine Beschwerdestelle einge-richtet hat und dass in der Folge viel für die Heime getanwerden konnte.
Ich wiederhole deshalb unsere Forderung – hören Sie zu,Frau Kollegin –: Es müssen mehr unabhängige Anlauf-stellen nach dem Muster „Pflege in Not – Krisentelefone
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Katrin Göring-Eckardt17319
und Beschwerdestellen“ – davon gibt es im Bundesgebietbereits 14 – eingerichtet werden. Das sollte man vielleichtsogar verpflichtend in Verträge einarbeiten. Wir brauchenim System mehr Transparenz. Je mehr bekannt wird,umso eher kann gezielt gehandelt werden.
Ein gezieltes Handeln zur Qualitätsverbesserung istaus unserer Sicht zum Beispiel bei der Arzneimittelver-sorgung von Pflegeheimen vonnöten. Die definiertenQualitätsstandards müssen in die bald gesetzlich vorgese-henen Versorgungsverträge zwischen Heimen und Apo-theken einbezogen werden. Wir sollten in Modellversu-chen, getrennt nach Stadt und Land, ausgewählteApotheken bestimmte Heime versorgen lassen.
– Ich weiß nicht, ob Sie da weiter sind, Frau Kollegin.Mit der Garantie einer Lieferung und Dokumentationvon Medikamenten unter pharmazeutischen Gesichtspunk-ten, was zum Beispiel die Dosierung und Verordnungsin-tervalle angeht, könnte eine Schulung des Pflegepersonalsund eine Überwachung der Arzneimittelversorgung bzw.der Lagerhaltung verbunden werden. Damit können dersachgerechte Umgang mit Arzneimitteln und die ord-nungsgemäße Verabreichung sichergestellt werden. Wirvermeiden Fehlgebrauch und steigern die Arzneimittelsi-cherheit. Das wäre ein Schritt hin zu einer notwendigenUmstrukturierung in den Pflegeheimen mit dem Ziel, aufdie Bedürfnisse der Patienten besser einzugehen.Der Gerontologe Rolf Hirsch fordert zu Recht über-schaubare Heime mit einem professionellen Manage-ment, das einen kooperativen Führungsstil pflegt und aufdie Fachkompetenz des Personals setzt.
Dazu tragen aus unserer Sicht die vorliegenden Anträgeund Gesetzentwürfe nicht hinreichend bei.Wir lehnen einerseits eine Überreglementierung derHeime und andererseits finanzielle Verschiebebahnhöfezugunsten der Pflege- und zuungunsten der Krankenver-sicherung zur Gegenfinanzierung besserer Leistungen ab.
Die wachsenden Probleme in der Pflege werden so nichtgelöst.Unsere Vorstellungen – zwei Punkte möchte ich nen-nen – sind: Erstens. Die Pflegeversicherung ist bekannt-lich nur eine Teilkaskoversicherung. Wir müssen verdeut-lichen, dass die Menschen, bereits während sie jung undmobil sind, viel mehr Vorsorge für den Fall der Pflege-bedürftigkeit treffen müssen.Zweitens. Qualitätsverbesserungen kann man nicht vonaußen in die Heime „hineinregulieren“. Gemeinsam mitden Betreibern der Heime wollen wir überlegen, wie haus-intern qualitätssichernde Maßnahmen durchgeführt werdenkönnen. Hier wäre die Einrichtung eines runden Tischesvielleicht sinnvoller und würde eher zu konkreten Ergeb-nissen führen als der Versuch, die Gesundheitsreform mit-hilfe von runden Tischen voranzutreiben und damit eigent-lich nur weiße Salbe auf die Probleme zu reiben.Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Wenn auch halbherzig, so versucht dieCDU/CSU-Fraktion doch jetzt wenigstens, die Pflegever-sicherung zu reparieren. Sie, meine lieben Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, bauen die falschen Er-satzteile ein. Das kann man wirklich nicht gutheißen.
Pflegequalität muss an der Frage gemessen werden, obdie richtige, die benötigte Assistenzleistung zum ge-wünschten Zeitpunkt und in ausreichendem Umfang vor-handen ist. Das ist das einzig wahre Kriterium.
Deshalb haben wir Ihnen in unserem vorliegenden Antragentsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich bitte Sie: Las-sen Sie Ihren Gesetzentwurf fallen und greifen Sie die inunserem Antrag enthaltenen Vorschläge auf; denn unserAntrag beinhaltet eine Konzeption, nach der man wirklicharbeiten könnte.Es muss endlich damit Schluss gemacht werden, dieQualität der Pflege anhand der Kriterien „satt, sauber und– bestenfalls – trocken“ zu definieren. Wir müssen einenPflegebegriff finden, der die Ganzheitlichkeit und dieWürde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und dersich nicht wie bisher an Teilleistungen orientiert, weilman die Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherungbegreift. Das ist das Problem, vor dem wir stehen.Liebe Dr. Margrit Spielmann, Sie wissen so gut wieich, dass sich das, was wir wollen, eigentlich nur erreichenlässt, wenn es eine ausreichende Zahl von in der Pflegetätigen Menschen gibt, die auch über die entsprechendenQualifikationen verfügen. Sie müssen nicht unbedingtein Hochschulstudium absolviert haben. Aber sie müssenordentlich ausgebildet und in ihre Arbeit eingewiesenworden sein. Das Problem besteht nicht allein darin, dasses kein für Gesamtdeutschland geltendes Pflegeausbil-dungsgesetz gibt. Vielmehr besteht das Problem darin,dass diejenigen, die bereits ausgebildet und in der Pflegetätig sind, ihren Beruf auf Dauer nicht ausüben können,weil sie psychisch kaputtgehen. Wir wissen doch, dassnach fünf Jahren nur noch 10 bis 20 Prozent der ausge-bildeten Pflegekräfte in den Einrichtungen arbeiten, weilsie es nicht mehr aushalten. Sie halten es nicht mehr aus,weil sie Arbeitsbedingungen vorfinden, die sie daranhindern, das umzusetzen, was sie gelernt haben, nämlichdie pflegebedürftigen Menschen ganzheitlich zu be-treuen, sie zu aktivieren und sie nicht nur satt, sauber undtrocken zu halten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Detlef Parr17320
Im Zusammenhang mit dem Heimgesetz las meineKollegin Balt einen Brief vor, in dem sich eine 71-jährigeMutter darüber beklagt, dass ihre etwa 45-jährige quer-schnittsgelähmte Tochter im Heim inzwischen keinePampers mehr bekomme, sondern nur noch Einlagen.Aber auch die Versorgung mit Pampers, also mit „pflege-erleichternden Maßnahmen“, ist doch schon unanständig.Die Frau gehört auf die Toilette gesetzt! Wenn es seinmuss, zehnmal pro Tag.An diesem Punkt müssen wir durch qualitätsverbes-sernde Maßnahmen ansetzen. Es nützt nichts, pflegeferneBereiche wie die Kontrolle zu stärken und in diese Geldfließen zu lassen, während in den Bereichen gespart wird,in denen Menschen direkt profitieren könnten. Jede Mi-nute der Arbeitszeit, die nicht am Menschen gearbeitetwird, sondern der Dokumentation dient, ist für die Men-schen verloren. Sie wissen das so gut wie ich. Sie könnenIhr Vorhaben nicht als großen Erfolg darstellen. Wenn Sieehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass das nur einmickriger Erfolg ist. Machen Sie etwas Vernünftiges,dann werden Sie uns und erst recht die Menschen, die esbrauchen, auf Ihrer Seite haben.Fassen Sie sich ein Herz, ziehen Sie Ihren Gesetzent-wurf zurück und machen Sie etwas Vernünftiges.Danke schön.
Als letzte
Rednerin hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin
Gudrun Schaich-Walch das Wort.
G
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Tatkein neues Leistungsgesetz vor, das hier jetzt verabschie-det werden soll. Es liegt vielmehr ein Gesetz vor, mit demwir die Qualität der bisher erbrachten Leistungen sichernwollen.
An diesem Anspruch muss der Gesetzentwurf gemessenwerden. Wir wollen mit dem geplanten Gesetz bestimmteSachverhalte regeln; andere Probleme, die durchausebenso gelöst werden müssen, haben wir nicht in unserenEntwurf einbezogen. Dafür wird es dann andere Geset-zesvorhaben geben müssen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie alle sehr ge-nau wissen, dass wir Mängel und Defizite in der pflege-rischen Versorgung haben und dass diese inzwischen lei-der keine Einzelfälle mehr sind. Wir sind uns aber auchdessen bewusst, dass diese Defizite weder alleine den Ein-richtungen noch alleine den Kostenträgern und schon garnicht dem Personal, das eine sehr aufopferungsvolle Ar-beit leistet, zuzuschreiben sind. Wir sind aber auch ver-pflichtet, den Ursachen der Mängel nachzugehen. Dabeistellen wir fest, dass es ein ganzes Bündel von Ursachengibt: Es können Managementfehler in den Einrichtungenoder das Qualifikationsniveau der Pflegekräfte – das istbereits angesprochen worden – eine Rolle spielen.Auch wenn heute verfassungsmäßige Rechte wahrge-nommen worden sind, ist es natürlich traurig, feststellenzu müssen, dass wir nun immer noch keine bundes-einheitliche Ausbildung für die Pflegeberufe haben, dieeine einheitliche Qualität der Pflege sichert.
Einige Menschen werden den Beruf des Altenpflegersjetzt sicherlich nicht ergreifen, weil wir nicht in der Lagesind, die Berufsausbildung finanziell abzusichern. EineSicherung des Qualitätsniveaus in der Ausbildung wäreeine wesentliche Voraussetzung für die Qualität in derPflege. Qualität in der Pflege lässt sich nicht nur mit mehrGeld erreichen.
Der andere Punkt – Herr Seifert, darin gebe ich IhnenRecht – ist: Eine Verbesserung wird wesentlich von derPersonalausstattung abhängen. Wir müssen in diesemPunkt ehrlich miteinander umgehen: Wir haben eine Pfle-geversicherung, die einen Zuschuss zur Pflege gewährt.Wir müssen aber vor der Gewährung von Leistungen er-mitteln, an welchen Orten welches Maß an Pflegebenötigt wird. In den einzelnen Häusern werden sehr un-terschiedliche Leistungen angeboten. Wir brauchen zurHerstellung von Transparenz, Herr Parr, Daten, und dieseerhalten wir nur über Dokumentation.
Erst nach dem Abschluss der Dokumentation wissen wir,für welche Leistungen wir welches und wie viel Personalbrauchen. Durch die Schaffung von Transparenz habenwir für die Zukunft eine vernünftige Grundlage. Eine sol-che vernünftige Grundlage will dieser Gesetzentwurfschaffen; er sieht die Notwendigkeit entsprechender Ver-einbarungen durch die Selbstverwaltung vor. Diese bietenfür die Häuser eine vernünftige Grundlage bei ihren Ho-norarverhandlungen. Uns allen ist dabei klar gewesen,dass es das nicht zum Nulltarif gibt. Ich kann mir vorstel-len, dass einige Häuser etwas mehr und einige Häuseretwas weniger brauchen. Ich wundere mich aber schon einwenig, dass Häuser des gleichen Trägers für die gleichePflegestufe Preise mit Unterschieden von bis zu1 000 DM im Monat haben. Auch darauf muss man ach-ten.Qualität kostet Geld. Zu dem ausgehandelten Pflege-satz wird die Pflegeversicherung einen bestimmten Bei-trag leisten. Dieser ist beschränkt, solange der Beitrag zurPflegeversicherung 1,7 Prozent beträgt. Man lügt sichselbst in die Tasche, Frau Kors, wenn man den Menschenerklärt, mit einem Beitragssatz von 1,7 Prozent wäre sehrviel mehr zu machen und zu erreichen, als das bis jetzt derFall ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Dr. Ilja Seifert17321
Damit weckt man bei den Menschen Erwartungen, die sonicht zu erfüllen sind. Das ist für meine Begriffe absolutunredlich.Zu Ihren Finanzierungsvorschlägen, mit denen Sie denVerschiebebahnhof von Herrn Seehofer, dem Sie zuge-stimmt haben und der Grundlage für das Zustandekom-men dieses Gesetzes war, rückgängig machen wollen,muss ich sagen: Die Gesundheitspolitiker meiner Frak-tion haben damals dagegen gestimmt. Es kann nicht an-gehen, dass Sie sagen, es müsse so weiterlaufen.
Frau
Staatssekretärin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Fuchs von der PDS-Fraktion?
G
Ja.
Verehrte Frau Staatssekretä-
rin, es hört sich für mich logisch an, dass Sie sagen, Sie
können nicht alle Erwartungen an die Qualität bezüglich
der Pflege erfüllen. Sie sprachen davon, dass wir ehrlich
sein müssen und dass wir bei den Menschen nicht Erwar-
tungen wecken dürfen, die wir nicht erfüllen können.
Wäre es dann aber nicht ehrlicher gewesen, beim Pflege-
Qualitätssicherungsgesetz nicht von einem Gesetz zur
Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucher-
schutzes, sondern von einem Ergänzungsgesetz, mit dem
ein Problem bei der Pflege gelöst wird, zu sprechen? Mit
diesem Titel wecken Sie Erwartungen bei den Betroffe-
nen, die Hilfe benötigen, die nicht erfüllt werden können.
Das bedauere ich.
G
Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf soll die Qualität der bestehenden Leis-
tungen gesichert werden. Alle dazu notwendigen Instru-
mente sind enthalten. Wir haben an keiner Stelle gesagt,
es handele sich um ein neues Leistungsgesetz. Ich habe
zwar davon gesprochen, dass es an manchen Stellen
durchaus teurer werden könnte. Aber das bedeutet nicht,
dass in diesem Fall die Pflegeversicherung mehr bezahlt.
Sie zahlt immer einen festen Zuschuss. Man muss den
Menschen ehrlicherweise sagen, dass der Einzelne oder
die Sozialhilfe die zusätzlichen Kosten tragen muss.
Wir wollen aber dafür Sorge tragen, dass sich jemand,
der Pflege braucht, darauf verlassen kann, dass mithilfe
unserer Gesetze die Leistung und die Qualität der Pflege
gesichert werden. Der Betroffene soll genau wissen, wel-
che Leistungen ihm zustehen und was er zu erwarten hat.
Nur wenn man beide Gesetze – das Heimgesetz und die-
ses Gesetz – in Kombination sieht, Frau Dr. Fuchs, kann
man sie unter dem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung
beurteilen.
Frau Kol-
legin Schaich-Walch, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Ilja Seifert? – Bitte schön, Herr
Seifert.
Frau Staatssekretärin, in der
von Ihnen gerade vorgetragenen Logik gedacht: Stimmen
Sie mir zu, dass der Eigenanteil, der für die pflegenahen
Bereiche aufgebracht werden muss, größer wird, wenn
die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten über-
nimmt, aber gleichzeitig ein Teil der Finanzmittel in die
pflegefernen Bereiche, also zum Beispiel in die Doku-
mentation, geht? Das heißt mit anderen Worten, dass Sie
die Leistung, die ohnehin schon nicht ausreicht, sozusa-
gen von den Menschen abziehen und hin zur Bürokratie
verschieben. Sind Sie also nicht der Meinung, dass dies
auch unter Berücksichtigung der von Ihnen gerade vorge-
tragenen Logik zum Nachteil für die pflegebedürftigen
Menschen ist?
G
Herr Dr. Seifert,aus folgendem Grunde sehe ich das nicht so: Es gibt oft-mals das Problem, dass Einrichtungen nicht in der Lagesind, bei Verhandlungen über Pflegesätze bestimmtePflegesatzhöhen auszuhandeln. Mit der Prüfung, was beiden einzelnen Menschen gemacht werden muss, schaffenwir ein Instrument, um die notwendige Transparenz beiVerhandlungen über Pflegesätze zu erreichen. Wenn esnicht zu vernünftigen Pflegesatzverhandlungen und -ab-schlüssen kommt, wird sich nichts ändern. Das Gesetzträgt dazu bei, dass diese Basis gefunden wird.
– Was sagten Sie?
– Nein, sie müssen dadurch nicht mehr bezahlen. Es wirddadurch Transparenz und die Grundlage für die Abwä-gung dessen geschaffen, was notwendig ist.Das derzeitige System enthält eine Art Blackbox. Wirgeben einen bestimmten Betrag aus. In vielen Bereichenist das gut und in Ordnung. In anderen Bereichen aberwird es kritisiert. Durch das Gesetz werden gute Arbeits-grundlagen für die Selbstverwaltung geschaffen. Dadurchist es möglich, nachzuvollziehen, was für Personal manfür welche Leistungen braucht.Dass wir darüber hinaus für die Versorgung alter Men-schen – das hat meine Kollegin Frau Spielmann schon ge-sagt – und für den Bereich der Dementen im ambulanten
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Parl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch17322
Bereich Regelungen brauchen, ist klar. Der Gesetzent-wurf dafür ist in Vorbereitung. Ein Arbeitsentwurf istschon zugestellt worden. Man kann auf dieser Basis dis-kutieren.
– Das kommt.Wir werden in der Zukunft auch noch einmal prüfenmüssen, inwieweit es an den Schnittstellen zwischen ge-setzlicher Krankenversicherung und PflegeversicherungProbleme gibt und welche Alternativen vorhanden sind.Da gibt es aus der Enquête-Kommission Anregungen, mitdenen wir uns inhaltlich auseinander setzen.Ich denke, wir werden das Ganze Stück für Stück erar-beiten müssen. Jetzt haben wir eine Einheit von Qua-litätssicherung und von Regelungen im Heimgesetz,durch die Kontrolle und Transparenz für Verbraucherin-nen und Verbraucher geschaffen wird.
Wir haben dafür im Bundesrat eine große Mehrheit ge-funden.
– Nein, wir haben im Bundesrat für beides eine großeMehrheit gefunden.
Ich wünschte mir sehr, wir würden für das schrittweiseVorgehen mit Plausibilität und Seriosität auch hier wei-terhin eine gemeinsame Mehrheit finden.Danke.
Ichschließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmungüber den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfeines Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes auf Drucksa-che 14/5395.Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6308 dieAnnahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDSvor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-che 14/6329? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmender PDS abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderenFraktionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istmit demselben Stimmenverhältnis wie bei der vorherigenAbstimmung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion der CDU/CSU zur Verbesserung der Leis-tungen in der Pflege auf Drucksache 14/5547. Der Aus-schuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 14/6308, denGesetzentwurf abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Fraktion der CDU/CSU bei Enthaltung vonF.D.P. und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unsererGeschäftsordnung die weitere Beratung.Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 d: DerAusschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 4 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der CDU/CSU zur Zukunft der sozialen Pfle-geversicherung, Drucksachen 14/3506 und 14/6308. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Was ist mit denGrünen? –
Ich frage erneut, wer für diese Beschlussempfehlungstimmt. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-nommen.Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-sache 14/4391 zur Weiterentwicklung der sozialen Pfle-geversicherung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktio-nen angenommen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 14/5590 und 14/6327 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis d auf:
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Parl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch17323
a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKlaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUErfolge und Defizite derWeltausstellung EXPO2000– Drucksachen 14/4956, 14/5344 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUWeltausstellung EXPO 2000 als Chance für denWirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch-land nutzen– Drucksachen 14/3374, 14/6332 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Brähmigc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungHaushaltsführung 2000Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02Titel 682 27 – Finanzierungsbeiträge an dieEXPO 2000 Hannover GmbH – sowie Erhö-hung des Regressverzichts bei den gewährtenBürgschaften an die EXPO 2000 HannoverGmbH– Drucksache 14/4008 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussd) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht über den Verlauf der Weltausstellung
– Drucksache 14/5883 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeitund EntwicklungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat HerrKollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Es ist nicht
alles Gold, was glänzt“, sagt ein altes Sprichwort. Es trifft
auch auf die EXPO zu. Die EXPO war eine großartige
Werbung für Deutschland; das ist unbestritten. Deutsch-
land hat sich gerade bei dieser EXPO als weltoffenes,
attraktives und tolerantes Reiseland präsentiert. Aber die
Zahl der Besucher blieb unter den Erwartungen und der
Anteil ausländischer Besucher betrug nur 17 Prozent. Das
war ungefähr die Hälfte derer, die einige Jahre vorher zur
Weltausstellung nach Sevilla gekommen sind. Dies ist be-
sonders bemerkenswert, da sich 155 Länder auf der Aus-
stellung ein Stelldichein gaben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade hinsicht-
lich der EXPO gab es viel negative Begleitmusik, hervor-
gerufen durch gravierende Mängel. Dadurch ist in der Öf-
fentlichkeit nicht das positive Bild entstanden, das hätte
entstehen müssen. So wirkte zum Beispiel die Ausstellung
„Mensch – Natur – Technik“ wie eine langweilige Lehr-
veranstaltung zur Ökosteuer. Zu hohe Eintrittspreise wa-
ren eine weitere Ursache dafür, dass der Zuspruch des
kleinen Mannes nicht so groß war, wie es an und für sich
hätte sein sollen.
Familientarife haben wir erkämpfen müssen.
– Wir haben sie erkämpft; von selbst wäre man nicht da-
rauf gekommen. Von Ihnen, Frau Ganseforth, habe ich
diesbezüglich überhaupt keinen wesentlichen positiven
Beitrag dazu gehört, dass aus der EXPO etwas Vernünf-
tiges hätte werden können.
Die wirtschaftspolitische Bilanz dieser EXPO ist sehr,
sehr mager. Statt 40 Millionen wurden nur 18 Millionen
Tickets verkauft. Ein Defizit von sage und schreibe
2,32Milliarden DM ruft Heulen und Zähneknirschen her-
vor.
Die Verantwortlichen – das ist unbestritten festzustel-
len – haben die Wirklichkeit immer zurechtgebogen. Als
zum Beispiel die Prognosen für den Inlandsverkauf
zurückgingen, hat man das Planziel für den Auslandsver-
kauf einfach erhöht. Die Folge ist das gigantische Defizit,
von dem ich eben gesprochen habe.
Frau Kollegin Ganseforth, damit Sie es genau wissen:
2,32 Milliarden DM sind 2 320 Millionen DM.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ganseforth?
Selbstverständlich, gerne,
weil ich sie sehr, sehr schätze.
Herr Hinsken, halten Siees für eine richtige Planung, die Völker der Welt, 40 Mil-lionen Menschen, einzuladen und keine Mark dazuzahlenzu wollen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms17324
Frau Kollegin Professor
Ganseforth, wenn 2 Milliarden DM Peanuts sind, wenn
ein solcher Betrag keine Rolle spielt, dann verstehe ich die
Welt nicht mehr. Reden Sie einmal mit Ihrem Finanzmi-
nister, der momentan als Pfennigfuchser durch die Lande
zieht!
Hier sind über 2 Milliarden DM ausgegeben worden,
ohne dass man sich vorher Gedanken darüber gemacht
hat, wie man vermeiden könnte, dass das Defizit insge-
samt zu groß wird. Das prangere ich hier zu Recht an, weil
diese 2,32 Milliarden DM zu guter Letzt nicht als Manna
vom Himmel kommen, sondern vom bundesrepublika-
nischen Steuerzahler erbracht werden müssen, unabhän-
gig davon, wo der Einzelne wohnt.
Verehrte Frau Präsidentin, bei der Beantwortung einer
Frage kann die Uhr nicht weiterlaufen. Ich war noch da-
bei, die Frage zu beantworten. Wenn sich die Fragestel-
lerin hinsetzt, brauche ich die Antwort nicht mehr zu Ende
zu führen. Das ist nicht fair. Auf diese Art und Weise wer-
den mir kostbare Minuten gestohlen.
Meine Damen und Herren, ich frage mich, wo bei die-
ser Angelegenheit der prominent besetzte Aufsichtsrat
war.
Dieser Aufsichtsrat hat versagt. Das stelle nicht ich fest,
sondern das sagt sinngemäß der Niedersächsische Lan-
desrechnungshof.
Wo waren zum Beispiel die aufeinander folgenden Mi-
nisterpräsidenten, der jetzige Bundeskanzler Schröder,
Herr Glogowski und Herr Gabriel? An sechs von 14 Sit-
zungen haben sie überhaupt nicht teilgenommen. Sie ha-
ben, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt, „die Zei-
chen an der Wand ignoriert“.
Auch so kann man mit dem vom Steuerzahler aufge-
brachten Geld umgehen. Man kann sich in irgendein Gre-
mium wählen lassen und dann zu guter Letzt nicht anwe-
send sein.
Meine Damen und Herren, in Berlin hat man wegen
des Bankenskandals die Regierung gestürzt. Die SPD-
Verwaltungsräte verblieben hier in der Regierung, obwohl
sie versagt haben. Auch bei der EXPO haben führende
Genossen versagt. Sie werden in ihren Ämtern bleiben
und der Steuerzahler zahlt das Defizit.
Das ist, schlicht und einfach gesagt, eine Heuchelei, die
ich nicht nachvollziehen kann
und die an den Pranger gestellt gehört. Daraus sollen jetzt
vor allem diejenigen Konsequenzen ziehen, die für dieses
Defizit verantwortlich zeichnen.
Wir haben uns über das, was als Erfolg zu verzeichnen
war, gefreut, aber wir freuen uns nicht über das entstan-
dene Defizit.
Dafür tragen mehr als sechs der zehn Aufsichtsratsmit-
glieder, die eingetragene Genossen sind, die Verantwor-
tung. Das muss dem Wähler draußen auch gesagt werden.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Par-
lamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
S
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Abgeordnete
Hinsken ist immer für eine lebhafte Debatte gut.
Man muss nur die Dinge, die nicht ganz richtig sind,
aus der Debatte herausnehmen.
Lieber Ernst Hinsken, zunächst einmal sollten wir ge-
meinsam feststellen: Die EXPO hat der Welt mit über
18 Millionen Besuchern und einem spannenden, interes-
santen Programm ein gutes Bild Deutschlands vermittelt.
Das ist ein Erfolg für Deutschland. Ich glaube, das sehen
Sie auch so.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär,
Sie haben zwar den ersten Satz noch nicht beendet, aber
es gibt schon eine erste Frage des Kollegen Hinsken.
S
Vielleicht darfich meinen zweiten und dritten Satz noch sagen. Ernst,hast du eine Sekunde Geduld? Dann kannst du die Fragengleich stellen.Die EXPO hat mit über 18 Millionen Besuchern einegroße Resonanz gefunden. Was ich besonders bemer-kenswert finde, ist, dass 2 Millionen junge Leute dort wa-ren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Auch ein großerErfolg ist, dass 17 Prozent der Besucher aus dem Ausland
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kamen. Wir haben mit dieser EXPO deutlich gemacht,dass das moderne, wiedervereinigte Deutschland weltof-fen ist, und gezeigt, dass wir neugierig sind und uns umFragen der Natur und der technologischen Entwicklungkümmern. Wir haben die ganze Welt eingeladen, an die-sen großen Zukunftsprojekten mitzuwirken. Wenn sichjetzt die EXPO-Weltorganisation zum Ziel gesetzt hat,diesen globalen Dialog, den wir in Hannover begonnenhaben, fortzusetzen, dann ist das, glaube ich, ein wichti-ges Zeichen dafür, dass dieser globale Dialog in einer glo-balen Welt mit dieser EXPO sehr gut gestartet worden ist.Das sollte man auch einmal herausstellen. Es ist nämlichnicht selbstverständlich, dass das auch gelingt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär,
bevor sich der Kollege Hinsken die Beine in den Bauch
steht, möchte ich Sie an die Zwischenfrage erinnern.
S
Ja, ich lasse sie
jetzt zu. Ich könnte das nicht verantworten.
Frau Präsidentin, ich
darf mich zunächst für Ihre Fürsorge bedanken und auch
dafür, dass Sie den Redner noch einmal daran erinnert ha-
ben, dass er die Frage, die ich stellen möchte, zulassen
wollte.
Herr Staatssekretär Mosdorf, sind Sie bereit, nochmals
zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die inhaltliche Gestal-
tung der EXPO großartig fand?
– Das ist die Frage. Passen Sie bitte auf! – Was ich ange-
prangert habe, waren vor allen Dingen die Zahlen. Sie ha-
ben mir unterstellt, dass ich keine richtigen Zahlen ge-
nannt bzw. keine richtigen Aussagen getroffen hätte.
Ich habe ein Dokument dabei, nämlich einen Auszug
aus der „Süddeutschen Zeitung“, aus der ich eine Vielzahl
von Informationen bezogen habe. Ich meine, dass Sie
auch dieser Zeitung unterstellen müssten, dass sie nicht
richtig recherchiert habe; denn sonst hätte sie solche Zah-
len nicht veröffentlichen können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Laut Geschäftsord-
nung ist dies durchaus noch drin.
Herr Kollege Hinsken, würden Sie bitte eine Frage
stellen.
S
Frau Präsiden-tin, ich möchte die Bemerkung des Kollegen Hinsken ineine Frage umwandeln: Der Kollege Hinsken wollte fra-gen, ob ich denn glaube,
dass die „Süddeutsche Zeitung“ richtig recherchiert undrichtig festgestellt hat, dass die Aufsichtsräte nicht anwe-send waren.Lieber Kollege Hinsken, ich spreche für die Bundesre-gierung. Ich muss auch einmal Kollege Rexrodt in Schutznehmen, der immer da war, genauso wie unser Wirt-schaftsminister Müller. Dafür ist die Bundesregierung zu-ständig. Ob sonst jemand gefehlt hat, habe ich nicht imKopf. Ich weiß auch nicht, wer gefehlt hat. Wenn die„Süddeutsche Zeitung“ das berichtet, dann wird es – ichmöchte die vernünftige Recherche gar nicht bestreiten –richtig sein. Die Bundesregierung war aber immer or-dentlich vertreten, genauso wie ich als Mitglied des Auf-sichtsrats des deutschen Pavillons. Wir, Rexrodt, MinisterMüller, sind also auf der richtigen Seite.Ich komme jetzt zu den Zahlen:
Ernst Hinsken hat gesagt, wir hätten viel zu hohe Preisegenommen. Gleichzeitig hat er aber das Defizit beklagt.Das geht auch in deinem Backwarengeschäft nicht. Mankann doch nicht sagen, die Preise waren zu hoch, undgleichzeitig beklagt man sich über das Defizit.Wir haben – Herr Hirche, Sie wissen das – großeAnstrengungen unternommen: Wir haben das Abend-ticket und entsprechende Vergünstigungen für Familienund für viele andere mehr, auch für Schüler, eingerichtet.Dies hat auch einen positiven Effekt gehabt. Wir sind jetztin der glücklichen Lage, Ihnen mitteilen zu können, dassnicht der „worst case“ mit einem Defizit von 2,4 Milli-arden DM eingetreten ist, sondern dass wir von einemNettodefizit von 2,1 Milliarden DM ausgehen. Wir allewissen auch – das ist ein positives Ergebnis –, dass wiretwa 2,7 Milliarden DM Steuermehreinnahmen haben.
Man darf nicht nur die Defizite betrachten, sondern musssich einmal die makroökonomische Gesamtbilanz an-sehen.
– Jetzt nicht, ein andermal wieder, Herr Brähmig.Darüber hinaus können wir feststellen, dass die Infra-struktur, die für die EXPO aufgebaut wurde, dem Landwirklich hilft und dass die Messestadt Hannover dank der
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf17326
EXPO zu einer ersten Adresse für Weltmessen überhauptgeworden ist. Insofern haben wir ein nachhaltiges Kon-zept verfolgt und nicht nur eine kurzfristige Showmessedurchgeführt.
Die Messe wirkt gerade auch in den nächsten Jahren nach.Deshalb sollten wir sie positiv bewerten.Meine Damen und Herren, die Inhalte großer Messendieser Welt orientieren sich natürlich an neuen Prozessenund neuen technologischen Entwicklungen. Wenn mansich anschaut, welche Projekte auf dieser EXPO gezeigtwurden, wie viele Länder dieser Welt sich engagiert ha-ben und wie viele Nationen ihre eigenen Projekte präsen-tiert haben – 155 Länder und 17 internationale Organisa-tionen haben sich auf dieser großen EXPO präsentiert –,dann erkennt man, dass wir als führendes Land in dertechnologischen Entwicklung hier eine Chance genutzthaben.Die nach der EXPO weiter genutzte Infrastruktur hateinen Wert von gut 1 Milliarde DM. Internationale Teil-nehmer haben fast 1,5 Milliarden DM für den Bau ihrerPavillons ausgegeben, 80 Prozent dieser Pavillons werdenweiter genutzt; auch das ist eine wichtige Entscheidunggewesen. Zugleich war das Thema „Mensch, Natur, Tech-nik – eine neue Welt entsteht“ zu Beginn des 21. Jahrhun-derts ein anspruchsvolles Thema, das auch die Veranstal-ter so ausgelegt haben. Das erkannte man an ihremEngagement.Ich glaube, dass mit der EXPO auch ein Signal für denTourismus gesetzt wurde.
Im letzten Jahr gab es in diesem Bereich mit 108 Millio-nen Gästen und 326 Millionen Übernachtungen ein Re-kordergebnis für Deutschland. Das wissen wir alle. DieZahl der inländischen Gäste hat um 6 Prozent, die der aus-ländischen Gäste um 11 Prozent zugelegt.
Das heißt, die EXPO war ein wichtiges Signal eines offe-nen Deutschlands an die Welt und hat neugierig gemacht.Mit dem Jahr des Tourismus in diesem Jahr knüpfen wiran die EXPO an; hiermit machen wir einen wichtigenSchritt nach vorn. Deutschland muss auch in Zukunft eineZielregion für viele Besucher und für Leute, die sich fürEuropa und für unser Land interessieren, sein. Die EXPOwar dafür ein wichtiger Türöffner. Wir werden sehen, dieZahl der Touristen, die Deutschland besuchen, wird auchin diesem Jahr enorm zunehmen. Das ist nicht nur für Ho-tellerie und Gastronomie gut, sondern auch für unser An-sehen in der Welt. Insofern war die EXPO ein großer Er-folg.Zwar rief die EXPO über viele Jahre auch Skepsis undKritik hervor, aber im Ergebnis – so habe ich auch ErnstHinsken verstanden – wird die EXPO als ein positives Er-eignis in die Geschichte Deutschlands eingehen. Wir tunjetzt alles, damit die Ergebnisse der EXPO auch positiv indie Zukunft wirken. Das gilt auf alle Fälle für die aufge-baute Infrastruktur. Wir sind aber auch dabei, das Defizitso zu bearbeiten, dass wir damit umgehen können. Wirwarten noch die letzten Daten ab, aber dann werden ent-sprechende Entscheidungen getroffen. Ich glaube, dieEXPO war ein Erfolg. Wir haben etwas riskiert und un-ternommen. Von daher kann man sagen: Die Gesamtbi-lanz der EXPO ist positiv.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Lieber StaatssekretärMosdorf, dem letzten Satz kann ich zustimmen: Das Ge-samturteil über die EXPO ist sicherlich positiv. Die EXPOhat Deutschland viel gebracht. Sie hat ohne jeden Zweifelein positives Bild vermittelt. Wer selbst bei der EXPOwar, konnte auch die wirklich gute Stimmung spüren, diedort geherrscht hat. Darüber sind wir uns, so denke ich, indiesem Hause alle einig.
Trotzdem muss kritisch nachgefragt werden, was nichtso gelaufen ist, wie es hätte laufen können. Wir haben be-reits die Zahlen gehört. Anstatt 40 Millionen Besucherwaren es am Schluss 18 Millionen Besucher. Es fehltendie ausländischen Besucher. Natürlich muss jetzt kritischgefragt werden, worin die Fehler lagen.Meine Damen und Herren, es gab ein EXPO-Manage-ment mit Frau Breuel an der Spitze. Wenn solche Fehlerpassieren, dann ist dafür natürlich zuallererst das Mana-gement verantwortlich.
Im Vorfeld gab es Dinge, die nach wie vor völlig un-verständlich sind und nicht nachvollzogen werden kön-nen. Die Besucherprognosen wurden rechtzeitig nachunten korrigiert. Allerdings wurde nach wie vor mit40 Millionen Besuchern kalkuliert. In den Sitzungen desTourismusausschusses konnten wir oftmals nicht glau-ben, was uns präsentiert wurde. Einiges haben wir imAusschuss alle zusammen korrigiert. Ich erinnere an dieSchülertarife, die Familientarife und anderes, was sonstwahrscheinlich erst recht schief gegangen wäre. Es gibtallerdings ein Defizit von 2,4 Milliarden DM. Wenn mandie 200 Millionen DM, die Herr Wellensiek noch erwirt-schaften will, abzieht, dann beträgt das Defizit 2,2 Milli-arden DM. Das ist zu viel. Das durfte nicht passieren.
Herr Mosdorf, interessant ist, dass Sie sagen, dass Ent-scheidungen getroffen wurden. Mich würde allerdings in-teressieren, welche Entscheidungen das sind. Mit wel-chem Anteil wird sich der Bund beteiligen, fünfzig zufünfzig oder zwei Drittel zu einem Drittel? Es kann nicht
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Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf17327
sein, dass der Bundeskanzler und der niedersächsischeMinisterpräsident etwas ausmauscheln. Es gab klare Re-geln. Diese müssen auch in dieser Situation gelten.
Es geht überhaupt nicht darum, Schuld zuzuweisen.S
Wir haben relativ schnell nach Eröffnung der EXPO
gesehen, dass die Besucherzahlen weit unter dem pro-
gnostizierten Maß liegen. Die F.D.P. hat sehr früh bean-
tragt, 50 Millionen DM für zusätzliches Marketing zur
Verfügung zu stellen. Das wurde von Ihnen abgelehnt.
Das war der entscheidende Fehler.
Als Sie dann die 50 Millionen DM für die berühmte Wer-
bekampagne mit Verona Feldbusch zur Verfügung gestellt
haben, hat es etwas genützt. Es kam allerdings zu spät.
Das ist der Fehler, den die Bundesregierung gemacht hat.
– Nein, es lag an den Finanzen. – Es gab einen zweiten
Fehler. Wir wissen heute genau, dass das Management die
Werbekampagne wollte. Man durfte es aber nicht offen
fordern. Das war damals die Krux.
Lieber Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, dass die
EXPO für den Deutschlandtourismus positiv war, dann
stimmt das zwar. Aber der Erfolg hätte viel größer sein
können.
Ich bemängele heute nach wie vor, dass es nicht gelun-
gen ist, die EXPO mit dem Deutschlandtourismus insge-
samt zu verknüpfen, nämlich Leute von anderen Ländern
zu uns zu holen und sie dazu zu bringen, in Verbindung
mit dem EXPO-Besuch einen Urlaub in Deutschland zu
machen.
Das waren die Versäumnisse. Wenn wir heute über
Konsequenzen reden, dann ist es erforderlich, dass auch
die Regierung sagt: Ja, wir haben einen Fehler gemacht. –
Wir müssen bei künftigen Ereignissen – ich denke an die
Fußballweltmeisterschaft und an andere Großveranstal-
tungen – den Mut haben, Geld in die Hand zu nehmen –
das würde jeder Betrieb machen –, um das Marketing zu
verstärken. Außerdem müssen wir im Deutschlandtouris-
mus vernetzte Angebote schaffen und solche Großveran-
staltungen nutzen, damit Menschen aus anderen Ländern
zu uns kommen, Deutschland kennen lernen und ein we-
nig Geld hier lassen. Hierdurch könnte der Erfolg noch
viel größer werden.
Zum Schluss: Es geht nicht um irgendwelche partei-
politischen Auseinandersetzungen, sondern darum, dass
man Fehler klar aufzeigt und daraus Konsequenzen zieht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Sylvia Voß von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr ge-ehrte Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnetenkollegen!Die CDU/CSU hat offensichtlich ein seliges und glückli-ches Gedächtnis. Nach der Rede von Herrn Hinsken kanneinem das jedenfalls so vorkommen. Ich kann HerrnBurgbacher nur zustimmen, dass wir hier etwas kritischhinterfragen müssen. Deswegen spreche ich auch nocheinmal das Gedächtnis an, Herr Hinsken.Es gab ein hässliches Entlein, das dann doch noch zueinem schönen Schwan wurde. Die CDU/CSU und dieF.D.P. bemühten sich damals, das Ei EXPO nach Deutsch-land zu bekommen, haben sich dann aber beim Bebrütenwie die Rabeneltern benommen.
In den ersten Jahren nach dem Zuschlag hat nämlich dieKohl-Regierung kaum ein nennenswertes Engagementfür dieses Projekt EXPO entwickelt.
Die Wirtschaft gründete erst 1993 die EXPO-Beteili-gungsgesellschaft. – Genau! Sie erzählen sogar Märchen.Deswegen erzähle ich Ihnen jetzt das vom hässlichen Ent-lein.
Die Folge dieser späten Gründung und des späten En-gagements der CDU/CSU-Regierung war, dass die EXPOGmbH und ihr Management jenseits jeder Entschei-dungsstruktur der Parlamente angesiedelt waren. Es wareine privatrechtliche GmbH. Sie sind ohnehin immer soveranlagt, dann, wenn es Ihnen passt, etwas zu privatisie-ren, und wenn etwas privatisiert ist, zu fragen: Wo bleibtder Staat?
Genau das war Ihr Fehler!Es gab ebenso falsche Berechnungen der Besucher-zahlen. Das haben Sie selbst im Ausschuss immer ange-prangert. Deswegen können Sie jetzt hier so viel schreien,wie Sie wollen. Die Besucherzahlen waren einfach falschberechnet. Es waren zu viele berechnet. Wer selbst auf derEXPO war – wir vom Ausschuss waren mehrfach dort –,
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Ernst Burgbacher17328
kann sagen: Im Juni 2000 war es noch ziemlich ange-nehm. Da waren aber die Besucherzahlen noch so niedrig,dass sie stark beklagt worden sind.
Es war ein angenehmes Wandern. Es gab wenig Ge-dränge, und man brauchte sich nicht so lange anzustellen.An und für sich waren das die richtigen Besucherzahlenfür ein Wohlfühlen auf der EXPO.Im letzten Monat hatten wir dann 160 000 Besucher.Da war es schon weniger angenehm; da gab es nämlichmächtig viel Gedränge und ganz lange Warteschlangen,sodass man sagen kann: Wenn man so hohe Besucherzah-len zugrunde legt, ist man nicht davon ausgegangen, dasssich dann auch ein Besucher auf einer solchen Ausstel-lung wohlfühlen kann.Alle diese Fehler – Berechnung, Management, Wer-bung und Verkauf – waren solche, die schon unter IhrerÄgide installiert worden sind
und die uns sozusagen ein krankes Entlein EXPO hinter-lassen haben.Wir haben uns als Ausschuss gemeinsam bemüht – daswissen Sie auch ganz genau –, dieses kranke Entlein mitvereinten Kräften doch gesunden zu lassen, und haben esauch geschafft, dass es gesünder und kräftiger wurde.
– Ich rede nicht von den Grünen. Ich habe gesagt: der Aus-schuss gemeinsam. Bitte genau hinhören!Wir haben es also geschafft, dass aus diesem häss-lichen Entlein doch noch ein schöner Schwan gewordenist. Wir haben es tatsächlich geschafft – das haben alle bis-herigen Redner auch schon betont –, hiermit Deutschlandetwas für die Welt zu bescheren: ein weltoffenes Fest derVölkerverständigung. Und was bleibt davon? Nicht nurdie Begeisterung aller, die dort waren, die auch mehrfachhingefahren sind, weil es dort eben so schön war, sondernes bleibt erstens ein weltweit schönes und fröhlichesDeutschlandbild, das die internationalen Besucher mitnach Hause genommen haben. Auch leben heute nochSpuren der weltweiten EXPO-Projekte: Wiederauffors-tung im tropischen Regenwald, durch medizinische For-schungsprojekte, durch Jugendhilfeprojekte in der Welt,durch Umwelttechnikprojekte in der Dritten Welt. Es gabauch Projekte speziell für die indigenen Völker.Insofern kann man sagen: Die EXPO lebt weiter, unddas ist ein hervorragender Effekt, den wir mit angescho-ben haben.
Es ist außerdem auch zu einer Bereicherung der deut-schen Kulturlandschaft gekommen. Das darf man auchnicht vergessen! Wir haben jetzt eine Preussag-Arena, inder man hervorragende Veranstaltungen durchführenkann. Auch dorthin können viele Leute aus ganz Europaund der Welt zu kulturellen oder sportlichen Veranstal-tungen kommen. Wir haben ein Europahaus mit einer sehrgroßen Fläche, in das jetzt zum Beispiel arg bedrängteHochschulen einziehen können und Studenten endlicheinmal bessere Möglichkeiten für ihr Studium haben. Sohaben wir auch noch andere wunderbare Dinge, die wirvon der EXPO in Deutschland nachnutzen und durch diedie EXPO weiterlebt.Ich möchte hier auch noch einmal die wirklich gut ge-lungenen 280 dezentralen Projekte hervorheben, die dengesamten deutschen Raum, alle Bundesländer, alle Re-gionen bis heute bereichern. Das ist meiner Meinung nachauch ein sehr positiver Effekt der EXPO für unser eigenesLand.
Was lehrt uns jetzt all das, was wir, auch im Ausschuss,immer wieder an Kritik am Management und an dem, wasich auch in Ihre Richtung sagen muss, angebracht haben? –Wenn man etwas will, dann muss man es ganz wollen.Man hätte also schon Ihre anfänglichen Brutfehler besei-tigen müssen.
– Sie haben selbst immer beklagt, dass wir immer nur zu-füttern dürfen, aber selbst in die Entscheidungen wenigeingreifen können. Also bitte!
Wenn man sich ein Ei ins Nest holt, dann muss manauch für die Entwicklung sorgen. Das haben Sie nicht ge-tan. Sie haben das Konzept angelegt. Deswegen fassenSie sich doch endlich einmal an Ihre eigene Nase und kri-tisieren Sie nicht ständig an uns herum. Wir haben, wiegesagt, die Fehler, die wir entdeckt haben, gemeinsam zubeseitigen versucht. Dadurch ist die EXPO noch ein her-vorragender Erfolg geworden und aus diesem hässlichenEntlein wurde der schöne Schwan, den wir uns gewünschthatten und dessen Wirkungen wir jetzt in Deutschland undin der ganzen Welt weiterhin haben.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich würde sagen, wir kommenjetzt auf den Boden der Tatsachen zurück und versuchen,dem Vorwort des Berichts der Bundesregierung, in dem esheißt: „Die EXPO 2000 war eine gelungene Inszenie-rung“, einmal etwas auf den Zahn zu fühlen. Dem Wort
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Sylvia Voß17329
„Inszenierung“, Herr Staatssekretär, kann ich durchauszustimmen, doch mit dem Begriff „gelungen“ habe ichgroße Schwierigkeiten. Da wir hier jetzt eine Märchen-stunde haben, denke ich, wir sollten etwas konkret wer-den. Vergleichen wir die hehren Ziele und Versprechun-gen im Vorfeld, die Intendanten dieser Inszenierung wieFrau Breuel – oder, im Sprachgebrauch des KollegenHinsken, „führende Genossen“ – gemacht haben,
mit dem, was unter dem Strich herausgekommen ist, dannbleibt der herbe Beigeschmack, der bereits im Vorfeld ent-standen war und der die EXPO die ganze Zeit über be-gleitet hat.Dementsprechend lustlos fällt auch die Bilanz der Bun-desregierung aus. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, die18,1 Millionen verkaufter Tickets in Tages- und Abendkar-ten zu unterteilen. Eine Bewertung der inhaltlichen Präsen-tation der Länderpavillons und Projekte der teilnehmendenStaaten fehlt in der Bilanz gänzlich. Hier findet man ledig-lich einen Hinweis auf „lateinamerikanische Tänze,fernöstliche Kunst oder afrikanische Musik“. Ausführlichwird lediglich die eigene Präsentation abgefeiert: der Deut-sche Pavillon und die verschiedenen Themenparks. Dochwer lange genug sucht, findet sogar ein paar Zeilen zur Ent-wicklungspolitik, zum „global dialogue“ und ein paarHinweise auf einige wenige der 218 dezentralen Projekteaußerhalb des hannoverschen EXPO-Geländes.Dass die EXPO unter dem Motto „Mensch – Natur –Technik“ stand, scheinen die Autoren der Bilanz ebensovergessen zu haben wie das Wort Nachhaltigkeit. Erst inder abschließenden Betrachtung heißt es:Die EXPO 2000 stand unter dem Leitthema„Mensch, Natur, Technik – eine neue Welt entsteht“.Erst dort findet sich ein Hinweis auf die Agenda 21. Im-merhin war Bundesumweltminister Trittin von Anfang anschlau genug, sich erst gar nicht an der EXPO zu beteili-gen. So muss er heute auch keine Kritik einstecken. DieNachhaltigkeit im Sinne der Agenda 21 für die ökonomi-schen, sozialen und ökologischen Handlungsoptionen zu-gunsten einer Eine-Welt-Politik blieb und bleibt aus.Doch nachhaltig wirken sich die finanziellen Verlusteinsbesondere für das Land Niedersachsen sowie die nie-dersächsischen Städte und Gemeinden aus. Nachhaltigsind die Verluste für Gastronomiebetreiber, die zum TeilKonkurs anmelden mussten, weil die versprochenen Be-sucherzahlen nicht erreicht wurden. Nachhaltig wirkt sichnatürlich der Autobahnbau aus. Allerdings vermissen wirauch hier die ökologische Lenkungswirkung, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen. Nachhaltig ist auchder Bau des EXPO-Knastes am Flughafen Langenhagen,der zum Abschiebeknast umgewandelt wurde. DieseNachhaltigkeit hat einen sehr herben Beigeschmack.Eine mögliche positive Nachhaltigkeit durch die dau-erhafte Weiterfinanzierung sinnvoller Projekte bleibt lei-der aus. Stattdessen werden viele Regionen mit ihren Pro-jekten heute allein gelassen.
Der letzte Absatz des Berichts der Bundesregierungmacht deutlich, worum es den Intendanten der EXPOging. Dort heißt es:Es bleibt festzustellen, dass die EXPO 2000 die mitihr verbundenen qualitativen Ziele in vollem Um-fang erreicht hat und insgesamt ein großer Erfolgwar: Zufriedene Besucher, ein Gewinn für den Stand-ort Deutschland, eine Aufwertung des MesseplatzesHannover...Dieses Ziel hat Frau Breuel mehr oder weniger erreicht.Doch unter einer „gelungenen Inszenierung“ hätten wirerwartet, dass das anspruchsvolle Thema „Mensch – Na-tur – Technik“ qualitativ mit Inhalten gefüllt wird undLösungsansätze für einen ökologischen und sozialen Um-bau, für eine gerechte Weltwirtschaftspolitik und letztendlich für einen Ausgleich zwischen Industriestaatenund der so genannten Dritten Welt aufgezeigt werden.Unter dem Strich bleibt mir nur zu sagen; Kolleginnenund Kollegen von der CDU im Hause, Frau Breuel:Thema verfehlt! Ungenügend! Eigentlich müsste FrauBreuel, wenn sie Anstand genug hätte, einen Teil ihresHonorars zurückzahlen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Birgit Roth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! DieEXPO 2000 war schon des Öfteren unser Thema: im Tou-rismusausschuss, im Haushaltsausschuss, in anderen Aus-schüssen, aber selbstverständlich auch hier, im Plenumdes Deutschen Bundestages.Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass Fehler ge-macht worden sind; aber es waren in erster Linie ekla-tante, gravierende Managementfehler.Herr Hinsken, ichmöchte auf einen Punkt eingehen, den Sie gleich am An-fang angesprochen haben. Der Schwerpunkt Ihrer Kritiklag aber auf der angeblich mangelnden Kontrolle durchden Aufsichtsrat. Da muss ich Ihnen ganz klar sagen,meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, so einfach können Sie es sich wahrhaft nichtmachen. Selbst die F.D.P. hat das bestätigt: Es waren inerster Linie Managementfehler.
An diesem Punkt finde ich Ihre Kritik überzogen.Ich hatte mehr erwartet, nämlich dass von Ihrer Seiteeine Sachanalyse und sachliche Kritik kommen und nichtirgendwelche parteipolitischen Spielchen. Erinnern wiruns doch einmal ein bisschen: Wie war es denn 1987? Dahat die niedersächsische Finanzministerin – damals BirgitBreuel – zusammen mit dem Ministerpräsidenten – da-mals Albrecht von der CDU – und dem Bundeskanzler –damals Helmut Kohl von der CDU – die EXPO angewor-ben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Heidi Lippmann17330
Ich finde es nicht fair, wenn jetzt auf diese Art undWeise parteipolitisch aufgerechnet wird. Wir sollten ganzklar sehen: Die Defizite lagen im Managementbereich.
Und die hat die EXPO-GmbH verursacht, bei der FrauBreuel und Herr Volk den Vorsitz innehatten.Sowohl Frau Breuel als auch Herr Volk mussten unsdes Öfteren bei Anhörungen im Ausschuss Rede und Ant-wort stehen. Ich glaube, wir waren parteiübergreifend derMeinung, dass sie das mehr schlecht als recht getan ha-ben. Doch Sie führen jetzt im Nachhinein eine parteipoli-tisch motivierte Diskussion. Wir beziehen unsere Kritikganz klar auf die sachliche Ebene.Herr Burgbacher hat es bereits angesprochen: Die Feh-ler lagen in erster Linie im Werbekonzept, in der Ver-marktungsstrategie, im Ticketing. Vor allem ist die touris-tische Positionierung der EXPO 2000 im KontextDeutschlands eigentlich gar nicht erfolgt. Wir haben dieWerbestrategie bemängelt, die die Zielgruppe, die breiteMasse, im Grunde genommen gar nicht erreicht hat.
Sie war abgehoben und wurde nur schlecht verstanden.Herr Burgbacher, Sie haben gesagt, die 50 Milli-onen DM für den Werbeetat seien erst viel zu spät, näm-lich nachträglich, bewilligt worden.
Da kann ich Ihnen nur sagen: Hätten wir dies gleich amAnfang getan, dann wäre die EXPO noch weitaus mehrheruntergeredet worden, als es sowieso leider schon derFall war.
Doch ich stehe hier, um die Vorteile und die positivenErrungenschaften zu nennen, die Niedersachsen und dieStadt Hannover, aber auch Deutschland insgesamt von derEXPO 2000 gehabt haben. Wir hatten 18 Millionen Besu-cher auf der EXPO, die sich gerade auch die Themenparkeangeschaut haben. 155 Nationen haben sich präsentiert.Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Lippmann, finde ich, dassdort ein faszinierendes Kulturprogramm gebotenwurde.
Die EXPO 2000 hat sicherlich auch einen weiteren,vielleicht nur ganz kleinen Schritt in Richtung Weltoffen-heit, in Richtung Toleranz, aber auch in Richtung Integra-tion gemacht. Wenn es auch nur ein kleiner war, muss ichIhnen sagen: Ich finde es richtig.Die EXPO 2000 hat sicherlich auch den Standort Han-nover als Messestadt und den Standort Deutschland ge-stärkt. Auch dafür gebührt ihr unsere Anerkennung.
Im Gegensatz zu Ihnen finde ich, dass durch die The-menparke das Thema Nachhaltigkeit wirklich gut aufge-arbeitet wurde.
Wir haben darüber geredet: Wie will der Mensch leben,nicht nur morgen, sondern auch in den nächsten Jahrenund Jahrzehnten? Es sind wegweisende Botschaften vonder EXPO ausgegangen, von denen wir in den nächstenJahren sicherlich profitieren werden.
Herr Hinsken, noch einmal zur finanziellen Situation:Sie haben gesagt, es sei ein Defizit von 2,3Milliarden DMentstanden. Darin muss ich Ihnen – leider – zustimmen.Aber ich bitte darum, dass nicht nur die Seite mit denDefiziten dargestellt wird, sondern dass man auch die an-dere Seite sieht: Inwiefern haben Hannover, die Umge-bung von Hannover und das Land Niedersachsen profi-tiert? Die Infrastrukturmaßnahmen sind nicht nur füreinen Tag gebaut worden, sondern es sind dort dauerhafteMaßnahmen getroffen sowie Institutionen und Einrich-tungen geschaffen worden, von denen wir noch Jahre undJahrzehnte profitieren werden.Allein in das Messegelände wurden 528Millionen DMinvestiert, in Hallenneubauten und Erweiterungsbauten285 Millionen DM, von denen die Messegesellschaft inden nächsten Jahren und Jahrzehnten profitieren wird,ganz abgesehen von den technischen Innovationen inHöhe von 106 Millionen DM. Auch in Grün- und Frei-zeitanlagen, die alle erhalten bleiben, sind 68 Milli-onen DM investiert worden, um hier nur einige Beispielezu geben.Deswegen muss ich sagen: Ja, die EXPO hat Defizitegemacht, sicherlich viel mehr, als wir befürchtet hatten.Aber die qualitativen Ziele der EXPO 2000 sind erreicht,indem das Leitthema „Mensch – Natur – Technik“ undNachhaltigkeit wirklich aufgearbeitet worden ist, indemes eine Ausstellungs- und Diskussionsplattform gegebenhat und die Botschaften über die Zeit hinaus präsent seinwerden. Nehmen Sie zum Beispiel das internationaleWeltausstellungsbüro in Japan. Es wird wahrscheinlich sosein, dass diese Idee der weltweiten dezentralen Pro-jekte – Sie haben es selber gesagt, es waren über 200 –aufgegriffen wird und dass andere Staaten die Idee nach-ahmen, um nicht nur eine Stadt, sondern auch das Umlandund die Regionen insgesamt mit einzubeziehen.Insofern schließe ich mich der Bilanz des Staatsse-kretärs an: Der Standort Deutschland und gerade auch derMessestandort Hannover haben durch die Weltausstel-lung 2000 ganz klar gewonnen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Birgit Roth
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Wir haben unsere Leistungsfähigkeit und insbesondereunsere Lösungskompetenz präsentiert. Ich glaube, dasssich viele Dinge, die die EXPO 2000 gebracht hat, nichtdurch Zahlen aufzeigen lassen. Manchmal lässt sich einGewinn eben nicht in Zahlen verdeutlichen. Insofern zie-hen wir von unserer Seite ganz klar eine positive Bilanz.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Klaus Brähmig für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Bühne frei“ hieß es
vor fast 13 Monaten in Hannover bei der Eröffnung der
ersten Weltausstellung auf deutschem Boden. „Manege
frei“ lautet anscheinend das Motto der heutigen Plenarde-
batte.
Diesen Eindruck vermitteln mir zumindest die Zauber-
künstler und Finanzjongleure der rot-grünen Bundesre-
gierung.
In dem Bericht der Bundesregierung über den Verlauf der
EXPO heißt es, die EXPO 2000 sei eine „gelungene Ins-
zenierung“ gewesen. Darauf stellt sich für mich die Frage:
Was gehört zu einer gelungenen Inszenierung? Eine ge-
lungene Inszenierung bedeutet im Normalfall ein volles
Haus und volle Kassen.
Frau Roth, ich weise darauf hin, dass es zu einfach ist,
die Verantwortung für all das, was in den nächsten Mona-
ten noch zu klären ist, auf die Geschäftsleitung abzuwäl-
zen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass uns Herr Volk
und Frau Breuel immer wieder darauf hingewiesen haben,
dass der Aufsichtsrat sowie die Bundesregierung für die
dringend notwendigen Entscheidungen leider nicht das
notwendige grüne Licht gegeben haben.
Das Defizit von 2,4 Milliarden DM und eine Besucher-
zahl von nur 18,1 Millionen widerlegen die These von der
gelungenen Inszenierung. Im Vorfeld wurde eine Besu-
cherzahl von 40 Millionen Menschen prognostiziert, die
für eine nahezu ausgeglichene Bilanz am Ende der
EXPO 2000 sorgen sollte.
Warum wurde das national und international aner-
kannte gute Projekt nicht besser in Szene gesetzt? Schon
im Vorfeld der EXPO-Eröffnung zeigte der schleppende
Kartenvorverkauf dringenden Handlungsbedarf im Be-
reich Marketing.
Schon damals hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus
Verantwortung für einen erfolgreichen Verlauf der Welt-
ausstellung eine deutliche Erhöhung der Marketingmittel
eingefordert.
Die rot-grüne Bundesregierung schenkte diesen Forde-
rungen kein Gehör. Am 8. Juni 2000, also nach der EXPO-
Eröffnung, forderte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hier im Bundestag aufgrund der schlechten Vorverkaufs-
und Besucherzahlen eine Erhöhung der Marketingmit-
tel um 50 Millionen DM. Branchenkenner aus dem Tou-
rismus sahen in dieser Forderung den Königsweg für ein
Plus bei den Besucherzahlen. Sie, sehr geehrte Frau Roth,
haben mich damals in Ihrer Rede für diese Forderung mit
Häme überschüttet. Die Debatte war nach Ihrer damaligen
Ansicht unnötig. Sie appellierten an das Verantwortungs-
gefühl gegenüber dem Steuerzahler und zweifelten an
meinen „hellseherischen Fähigkeiten“.
Dabei vergaßen Sie, dass ich mir als Ostdeutscher ein
gesundes Maß an Skepsis und Realismus in Bezug auf
Planzahlen bewahrt habe. Meine Aussagen haben sich
später voll bewahrheitet und meine Forderungen wurden
erfüllt. Zwei Monate später wurde unserem Drängen
nachgegeben und sogar 70 Millionen DM für eine zweite
Marketingkampagne zur Verfügung gestellt.
Rasant stiegen die Besucherzahlen, doch die Maßnah-
men kamen zu spät, um das Einnahmendefizit entschei-
dend zu minimieren. Meine Vorredner sind darauf schon
eingegangen.
Meine Damen und Herren, bei Gesamtausgaben von
10,5 Milliarden DM für die Expo 2000 wurden in zwei
Stufen nur circa 140 Millionen DM für die Vermarktung
Ihrer „gelungenen Inszenierung“ ausgegeben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Brähmig,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Brähmig, Siehaben in Ihrem Beitrag die Versäumnisse der Bundesre-gierung angeprangert. Bis 1997 hat das Management derExpo, das vom damaligen Ministerpräsidenten Albrecht,bekanntlich CDU, und Bundeskanzler Kohl eingesetztwurde,
mehrmals gewechselt.
– Schröder war aber damals noch nicht Ministerpräsident,Herr Hirche. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Aberjetzt bin ich dran. Sie können später selbst eine Frage stel-len.
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Birgit Roth
17332
Ich möchte von Ihnen gern wissen, ob Sie glauben,dass die Maßnahmen, die in der Zeit ab Mitte 1998/1999getroffen wurden, die Fehler der Jahre 1990 bis 1997, indenen wirklich die Geschäftsführer, die Sprecher, die Ma-nager – –
– Ich sagte ja: Glauben Sie wirklich, dass die Maßnahmenausgereicht hätten, um die Versäumnisse dieser siebenJahre wettzumachen?
Frau Kollegin Irber, ich
glaube, wir sind uns darin einig – das haben wir im Aus-
schuss im Konsens debattiert –, dass es an dem Produkt
– ich habe schon versucht, das darzustellen – trotz des
Wechsels von Personen und auch bei den Strukturen nicht
gemangelt hat. Es hat vielmehr eindeutig Mängel in der
Vermarktung gegeben. Das sagt jeder, der sich mit der
Sache beschäftigt.
Wir haben ausreichend und recht frühzeitig darauf hin-
gewiesen. Wir sind auch auf Initiative unseres Ausschuss-
vorsitzenden, Herrn Kollegen Hinsken, mehrfach in Han-
nover gewesen und haben uns dort an hochkarätiger Stelle
informiert. Wir haben die Verantwortungsträger nach
Bonn und nach Berlin eingeladen. Wir haben mit der BCG
über das Auslandsmarketing verhandelt.
Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass all das, was
gesagt worden ist, nicht umgesetzt worden ist; ob das
Norwegen, Schweden, Österreich oder die Schweiz be-
trifft, überall Fehlanzeige.
Eine Expo kann nur letztendlich funktionieren – das ist
uns allen klar –, wenn ein Mix aus internationalen und
einheimischen Gästen – wie es in Sevilla der Fall war und
wie es, da bin ich sicher, in den nächsten Jahren auch in
Japan gelingen wird – ein solches Event besucht.
Dies war bei uns nicht der Fall. Das können Sie nicht ab-
streiten.
Meine Damen und Herren, von der Marketingsumme
in Höhe von 140 Millionen DM gingen nur
38 Millionen DM in die Auslandsvermarktung – kein
Wunder, dass nur 17 Prozent der Besucher aus dem kauf-
kraftstarken Ausland den Weg nach Hannover fanden. Bei
der Weltausstellung in Sevilla betrug der Anteil der aus-
ländischen Besucher noch 34 Prozent.
Was ich jetzt sage, tut mir zwar Leid, aber es ist der
Sachverhalt: Auf diese Weise degenerierte die Weltaus-
stellung in Hannover zu einer größtenteils norddeut-
schen Nabelschau.
Die große Chance, das wiedervereinte Deutschland als
gastfreundliche, innovative und moderne Kulturnation
auf die Weltbühne zu rücken, wurde unzureichend ge-
nutzt.
Ich frage Sie, Frau Roth: Sind Sie bereit, eine Teilver-
antwortung für das Defizit von 2,4 Milliarden DM gegen-
über dem Steuerzahler zu übernehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Brähmig, Sie haben zwar Frau Roth gefragt, aber Frau
Roth hat jetzt eine Frage an Sie. Gestatten Sie die?
Ja. Die eine noch, dann
ist Schluss.
Herr Kollege Brähmig,
Sie haben eben die Expo als norddeutsche Nabelschau be-
zeichnet. Glauben Sie wirklich, dass dieses Nachkarten
nach einem Dreivierteljahr dem Standort Deutschland
oder dem Messestandort Hannover in irgendeiner Weise
zuträglich ist?
Sie werden nicht ab-streiten können, dass der Sachverhalt, den ich mit diesenWorten beschrieben habe, durchaus zutrifft, wenn Sie sichdie Struktur der Besucherströme anschauen, die im We-sentlichen aus dem Raum Hannover, aus Hamburg, ausSachsen-Anhalt und aus Niedersachsen kamen.
Darüber kann man sicherlich streiten. Ich lasse diese Aus-sage mal so im Raume stehen.
Was fehlte der EXPO 2000 weiterhin, um ein Zuschau-ermagnet zu sein? Meines Erachtens fehlte ihr ein iden-titätsstiftendes Symbol wie der Eiffelturm in Paris oder dasAtomium in Brüssel, das die Thematik „Mensch – Na-tur – Technik“ bildhaft veranschaulicht.Im Transrapid schlummerte dieses Potenzial.
Der moderne Mensch wird von Mobilität, Flexibilität undschneller Kommunikation bestimmt. Der Transrapid ver-ursacht keine klimagefährdenden Emissionen und ist im
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Klaus Brähmig17333
Vergleich zu anderen Verkehrssystemen im Hinblick aufden Flächenverbrauch genügsam.
Der Transrapid stellt zurzeit wie kaum ein anderesdeutsches Produkt die technische Leistungsfähigkeit un-serer Volkswirtschaft dar. Leider hat die rot-grüne Bun-desregierung unseren Vorschlag zum Spatenstich bzw.zum Startschuss für die erste Transrapidstrecke auf deut-schem Boden während der EXPO 2000 nicht umgesetzt,obwohl das Land Niedersachsen – SPD-regiert – denTransrapid als weltweites EXPO-Projekt angemeldethatte. Die Kollegen in Niedersachsen, auch die der SPD,wären natürlich sehr erfreut gewesen, wenn der Transra-pid zu solch einem Projekt geworden wäre. DankRot-Grün werden sich chinesische Städte in Zukunft mitdeutscher Hightech gelungen inszenieren – ein Treppen-witz der Industriegeschichte, übrigens, wie uns allen be-kannt, nicht der erste und nicht der einzige.Abschließend stellt sich die Frage: Was von derEXPO 2000 war wirklich gelungen und wie können wirdies für die Zukunft des Tourismusstandorts Deutsch-land – Kollege Burgbacher hat dazu schon einige Anre-gungen gemacht – nutzen? Die farbenfrohen Kultur-veranstaltungen auf der EXPO 2000 mit ihrer inter-nationalen Vielfalt waren eine wirklich gelungene Insze-nierung. Sie erfreuten sich des größten Interesses. Vondiesen Erfahrungen kann zum Beispiel die Fußballwelt-meisterschaft 2006 profitieren. Bund, Länder und dieWM-Austragungsorte sind schon heute aufgerufen, aktivzu werden. Durch ein buntes Kulturprogramm können wirunserer Bevölkerung die gottgewollte Vielfalt und Schön-heit anderer Kulturen vermitteln.Gleichzeitig zeigen wir den Fans der Gästemannschaf-ten nicht nur die Attraktivität Deutschlands; vielmehr ge-ben wir ihnen auch ein Stück Heimat in der Fremde. DieFans werden nachher als Botschafter deutscher Gast-freundschaft in die Heimat zurückkehren – ein Beitragfür gelebte Völkerverständigung und eine wirklich gelun-gene Inszenierung des Tourismusstandortes Deutschlandauf der Weltbühne.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Tourismus auf Drucksache 14/6332 zum Antragder Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weltausstel-lung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- undTourismusstandort Deutschland nutzen“. Der Ausschussempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3374 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU undder F.D.P. angenommen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/4008 und 14/5883 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Esbesteht im gesamten Hause Einverständnis. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zu-satzpunkt 6 auf:10. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung
– Drucksache 14/5446 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung
– Drucksache 14/5934 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 14/6305 –Berichterstattung:Abgeordneter Wilhelm-Josef SebastianZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen zu der Unterrichtungdurch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Europä-ischen Parlaments und des Rates zur Änderungder Verordnung Nr. 881/92 des Ratesvom 26. März 1992 über den Zugang zum Gü-terkraftverkehrsmarkt in der Gemeinschaftfür Beförderungen aus oder nach einem Mit-gliedstaat oder durch einen oder mehrere Mit-gliedstaaten hinsichtlich einer einheitlichenFahrerbescheinigungKOM 751 endg.; Ratsdok. 13905/00– Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305 –Berichterstattung:Abgeordneter Wilhelm-Josef SebastianZum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämp-fung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güter-kraftverkehr liegen je ein Änderungsantrag der Fraktionder CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Par-lamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Klaus Brähmig17334
A
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wettbewerb ist
allgemein der Motor der Marktwirtschaft; er ist ein effizi-
entes Instrument zur Kostensenkung und zur Produkti-
vitätssteigerung sowie eine wesentliche Grundlage für
Wachstum und Beschäftigung. Voraussetzung ist aber: Er
ist fair. Die Liberalisierung des Transportmarktes in Eu-
ropa haben einige Unternehmen dazu genutzt, sich unge-
rechtfertigt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. So, wie
der Markt jetzt ist, ist er nicht fair.
Seit Einführung der Kabotagefreiheit in der EU am
1. Juli 1998 nehmen in Deutschland die Probleme der il-
legalen und missbräuchlichen Beschäftigung von Arbeit-
nehmern aus Nicht-EU-Staaten zu. In- und ausländische
Transportunternehmer haben Wettbewerbsvorteile, indem
sie beim Einsatz von Fahrern Regelungen des Aufent-
halts-, des Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialversiche-
rungsrechts verletzen oder umgehen.
Immer häufiger beschäftigen Unternehmen mit Sitz in der
EU auf ihren dort zugelassenen Fahrzeugen Fahrer aus
Osteuropa. Diese werden zu extrem niedrigen Löhnen für
Transporte eingesetzt. Die Folge ist ein ruinöser Preis-
druck für das gesamte Transportgewerbe. Hinzu kommen
die gemeinwirtschaftlichen Schäden durch Wettbewerbs-
verzerrungen, Ausfälle bei Steuern und Sozialbeiträgen
sowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
Obwohl diese Folgen absehbar waren, hat die alte Bun-
desregierung keinerlei Vorkehrungen dagegen getroffen,
übrigens auch eine Form des „Weiter so!“
Wir gehen zum Schutz des deutschen Transportgewer-
bes konsequent gegen diese Praktiken vor. Wir warten
nicht, bis ein entsprechender Entwurf eines Gesetzes der
EU-Kommission zur Bekämpfung dieses Missbrauchs
verabschiedet ist. Das tun wir im Interesse des deutschen
Transportgewerbes und auch im Interesse eines fairen eu-
ropäischen Wettbewerbs.
Ein kurzer Satz zu dem Änderungsantrag der
CDU/CSU: Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehene
Ausweitung der Verladerhaftung auf Fälle von Fahrläs-
sigkeit destabilisiert den Güterverkehrsmarkt nicht. Im
Gegenteil: Ihr Vorschlag, die Verladerhaftung auf Fälle
von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zu beschränken,
würde definitorische Graugrenzen schaffen
und die geplante Zielsetzung des Gesetzes ins Leere lau-
fen lassen. Die Regelungen für das Transportgewerbe
können im Übrigen auch nicht mit denen für die Bauwirt-
schaft verglichen werden, weil diese den steuerlichen Be-
reich betreffen und nichts mit den von uns geplanten Re-
gelungen zu tun haben.
Mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung
der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraft-
verkehr stoppen wir den ruinösen Preis- und Wettbe-
werbsdruck zulasten der gesetzestreuen Unternehmer und
wir verhindern illegale Beschäftigung. Wir haben fol-
gende Sofortmaßnahmen vorgesehen: Pflicht des Unter-
nehmers, nur Fahrer einzusetzen, die ihre Arbeitsgeneh-
migung im Original mit einer amtlich beglaubigten
Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativattest mit
sich führen; Ausdehnung dieser Verpflichtung auch auf
die Verlader; Verpflichtung der Verlader, nur solchen Un-
ternehmen Aufträge zu geben, die Inhaber einer Erlaubnis
oder Gemeinschaftslizenz sind; deutliche Erhöhung der
Bußgelder für Verstöße gegen diese Pflichten und Kon-
trollzuständigkeit des Bundesamtes für Güterverkehr für
die Einhaltung der Bestimmungen des Aufenthalts-, des
Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialrechtes von Fahrern
aus Drittländern.
Unser Ziel lautet: Wettbewerb ja, aber zu fairen Bedin-
gungen, und das überall. Unser Gesetzentwurf ist ein
wichtiger Schritt in diese Richtung. Wir lösen mit ihm
– das muss auch gesagt werden – ein Versprechen ein,
das die Regierung und vor allem die sie tragenden Koali-
tionsfraktionen dem Transportgewerbe gegeben haben.
Heute ist der Tag, an dem wir dieses Versprechen einlö-
sen. Darüber können wir alle sehr froh sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wilhelm-Josef
Sebastian.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! FrauStaatssekretärin, Sie haben behauptet, dass die alte Bun-desregierung in dieser Frage nie etwas unternommenhabe. Ich muss das zurückweisen. Sie haben angedeutet,dass Sie unserem Änderungsantrag nicht zustimmen wer-den. Das ist uns unverständlich, weil Ihre Regierung undIhre Koalitionsfraktionen ähnliche Formulierungen in denRegelungen für das Baugewerbe gewählt haben. Wirglaubten, einen guten Vorschlag für das Transportgewerbezu machen.Heute wird ein wichtiges Gesetz beschlossen, um in ei-nem Bereich des sich öffnenden Europas eine großeLücke zu schließen. Seit der Öffnung des europäischenMarktes für Kabotage hat die illegale Beschäftigung imgewerblichen Güterkraftverkehr in Besorgnis erregendemMaße zugenommen. Mit der jetzt bevorstehenden gesetz-lichen Regelung wird in Deutschland ein erster Schritt ge-macht, um die illegale Beschäftigung einzudämmen. Da-mit wird der europaweit geplanten Einführung einereinheitlichen Fahrerlizenz vorgegriffen und auf europä-ischer Ebene klargemacht, dass Deutschland hier keineKompromisse macht.
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Unsere gemeinsamen Ziele sind die Wahrung einesfreien Wettbewerbs, faire Wettbewerbschancen für unseredeutschen Unternehmen,
die Wahrung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen füralle eingesetzten Fahrer und die Gewährleistung von Ver-kehrssicherheit auf unseren Straßen. In der parlamentari-schen Beratung ist sehr schnell klar geworden, dass indiesen Fragen eine grundlegende Übereinstimmung zwi-schen Regierung und Opposition besteht.
Dies ist auch bereits in der ersten Lesung des Gesetzent-wurfes sowie bei den Ausschussberatungen deutlich ge-worden.Eine Frage jedoch hat sich als Knackpunkt erwiesen,nämlich die Frage der Verladerhaftung. Soll der Auf-traggeber die Verantwortung übernehmen, wenn der vonihm beauftragte Spediteur Fahrer illegal beschäftigt?Wenn ja: In welchem Rahmen soll er haften und wie soller seiner Sorgfaltspflicht nachkommen? Diese scheinbarmarginale Frage ist in der äußerst komplexen Wirt-schaftswelt von nicht zu unterschätzender Tragweite. Lo-gistische Verkehrsbewegungen gehören sicher zu denkompliziertesten Abläufen, die es in einer arbeitsteiligenÖkonomie zu organisieren gilt. Gerade an diese Tatsacheknüpfen sich die entscheidenden Fragen. Wie soll derneue § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes verstandenwerden, wenn es heißt, dass ein Auftraggeber einen Auf-trag nicht ausführen lassen darf, wenn er weiß oder fahr-lässig nicht weiß, dass sich der Spediteur einer illegalenBeschäftigung schuldig macht?Juristisch und politisch unstrittig ist sicher der Fall desVorsatzes. Selbstverständlich muss der Auftraggeber, dersolche illegalen Praktiken wissentlich unterstützt, mit zurRechenschaft gezogen werden. Gerade daran setzt dieRegelung unseres Entwurfs an, weil aus der Tatsache,dass Anbieter und Nachfrager von Transportleistungengesetzliche Regelungen missachten, kein wirtschaftli-cher Profit gezogen werden darf. Eine solche Regelungist auch ordnungspolitisch zu vertreten. Sie alle wissen,dass sich Wettbewerb nur im Rahmen der Gesetzes-normen und niemals unter Missachtung von Gesetzenvollziehen darf.Für die aktuelle Diskussion relevant ist damit nur derBereich der Fahrlässigkeit. Alle Teilnehmer der Ar-beitsgruppen wissen, dass es zu dieser Frage im Vorfeldzahlreiche Eingaben von Verbänden gegeben hat, seienes die Spediteure oder die Wirtschaftsverbände als Sach-walter der potenziellen Auftraggeber. Wir wissen aberauch alle, dass es eine Kompromisslinie gibt, auf die sichdie beteiligten Fachleute mit den Ministerien geeinigt ha-ben.Gestatten Sie, dass ich diese Linie hier kurz skizziere:Grundsätzlich muss der Auftraggeber von der Gesetzes-treue des Spediteurs ausgehen können, so wie das auch inallen anderen Wirtschaftsbereichen der Fall ist. Die Tat-sache, dass wir illegale Beschäftigung im Güterkraftver-kehr als Problem erkannt haben, gibt uns nicht das Recht,eine ganze Branche gleichsam von vornherein zukriminalisieren.
Ausgehend von der Vermutung der Rechtstreue desVertragspartners kann sicher nur eine stichprobenartigeKontrolle der Papiere durch den Auftraggeber verlangtwerden. Soll allein die Tatsache, dass nicht jeder Trans-port kontrolliert wird oder werden kann, als fahrlässigesHandeln ausgelegt werden? Nach unserer Meinung wäredas nicht richtig.Nach unserer Meinung muss es nachvollziehbare Kri-terien geben, an denen sich ein Anfangsverdacht einesAuftraggebers, der ihn zum Handeln veranlassen sollte,festmachen lässt. Nicht zu Unrecht ist die Kombinationeines sehr niedrigen Angebotspreises durch den Spediteurin Verbindung mit einer mehrmaligen Unzulänglichkeitder kontrollierten Papiere als beispielhafter Anhaltspunktausgemacht worden.Fakt ist, dass eine Kontrolle durch den Auftraggeberumso schwieriger wird, je weiter er von der Organisationund Durchführung des Transportes entfernt ist. Dies sollteein klarer Anhaltspunkt dafür sein, dass die Kontroll-pflicht durch den Auftraggeber umso geringer ist, je wei-ter er vom Transportgeschehen entfernt ist. An dieserStelle muss darauf hingewiesen werden, dass es auch imBereich des Güterkraftverkehrs grundsätzlich Aufgabestaatlicher Stellen sein sollte, Gesetzesnormen zu kon-trollieren. Wenn wir eine solche Kontrolle von privatenVertragsparteien im Übermaß verlangen, so leisten wir ei-ner Reglementierung und Bürokratisierung des Wirt-schaftslebens in Deutschland Vorschub.
Die Diskussion dieses Fragenkomplexes hat uns vonder CDU/CSU-Fraktion zu der Überzeugung gebracht,dass letztlich nur eine Verdeutlichung der Formulierungdie Rechtssicherheit der Beteiligten erheblich erhöhenwird. Daher schlagen wir eine veränderte Formulierungvon § 7 c des Gesetzentwurfes in dem Sinne vor, dass derAuftraggeber nur haften soll, wenn ihm grobe Fahrläs-sigkeit vorzuwerfen ist. Es ist unsere Überzeugung, dassdas realistischerweise Machbare im heutigen Logistikge-schehen einer großen Volkswirtschaft am ehesten durchdiese Formulierung abgebildet werden kann. Wenn manJuristendeutsch für die Menschen verständlich machenwill, so heißt Fahrlässigkeit doch: Das kann jedem pas-sieren. Grobe Fahrlässigkeit bedeutet dann: Das hättenicht passieren dürfen.Wir würden uns freuen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, wenn Sie diesen Weg des Kompromisses und desAusgleichs mit uns gehen könnten, und fordern Sie auf,unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.Vielen Dank.
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Wilhelm-Josef Sebastian17336
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Albert
Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern haben 420 Beamte des Bun-
desgrenzschutzes, des Zolls, der Steuerfahndung und des
Bundeskriminalamtes in der saarländischen Stadt Perl die
Geschäftsräume einer bundesweit tätigen Spedition
durchsucht. Nach Mitteilungen der Staatsanwaltschaft hat
diese Spedition Fahrer aus früheren Ostblockstaaten zu
Dumpinglöhnen beschäftigt. Die Razzia, die übrigens
auch in zwölf weiteren Niederlassungen der Spedition in
ganz Deutschland stattgefunden hat, hat zutage gefördert,
dass offenbar Monatslöhne in der Größenordnung von
100 DM pro Fahrer plus 10 Pfennig pro gefahrenen Kilo-
meter gezahlt worden sind. Dieses aktuelle Beispiel illus-
triert, wie ich finde, in beeindruckender Weise, wie ver-
kommen, wie kaputt und wie selbstzerstörerisch der
Markt im speditierenden Gewerbe inzwischen geworden
ist.
– Auf Schwyzerdütsch kann man auch „speditieren“ sa-
gen.
Nun sind wir uns, glaube ich, alle darin einig, dass es
höchste Zeit ist, dass wir regulierende Maßnahmen – nicht
nur im Sinne der Beschäftigten, sondern auch im Sinne
der Verkehrssicherheit – ergreifen. Genau das tun wir mit
dem Gesetz, das heute zur Abstimmung und zur Schluss-
beratung vorliegt.
Das Europäische Parlament hat zu Beginn dieses Jah-
res eine Studie zum Sozialdumping im Straßengüter-
transportgewerbe durch Unternehmen aus Drittländern
veröffentlicht und dabei zutage gefördert, dass das Lohn-
und Sozialkostengefälle zwischen Deutschland und eini-
gen Ländern Mittel- und Osteuropas bei 10:1 liegt, dass
sich die Löhne also um den Faktor zehn unterscheiden.
Das bewirkt genau jenes Sozialdumping, das hierzulande
Arbeitsplätze gefährdet und darüber hinaus die Verkehrs-
sicherheit in den EU-Mitgliedstaaten massiv in Mitlei-
denschaft zieht.
In derselben Studie werden – ich möchte das gerne
wörtlich zitieren – „die missbräuchliche Verwendung und
Fälschung von Lizenzen sowie die illegale Beschäftigung
von Fahrern aus Drittländern auf Fahrzeugen, die in der
Gemeinschaft zugelassen sind“, als wesentliche Miss-
brauchstatbestände konstatiert. Insbesondere wird in die-
ser Studie die Kontrolllücke reklamiert, die darin besteht,
dass es keine EU-einheitliche Fahrerbescheinigung gibt,
die es ermöglicht, im Inland wie im Ausland die Recht-
mäßigkeit des Fahrereinsatzes zu überprüfen.
Genau in diese Regelungslücke stoßen die gesetzlichen
Bestimmungen vor, die wir heute beschließen werden. Im
Vorgriff auf beabsichtigte EU-Lösungen beschließen wir
heute im Deutschen Bundestag als Sofortmaßnahme die
Normierung der Pflicht eines jeden Transportunterneh-
mens, nur noch Fahrer einzusetzen, die eine Arbeitsge-
nehmigung im Original mit einer amtlich beglaubigten
Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativtestat mit
sich führen.
Wir beschließen heute – nämlich durch die Änderung
des § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes – dass die Aus-
dehnung dieser Verpflichtung auch die Verlader trifft. Das
heißt im Klartext: Wer zukünftig als Auftraggeber, als
Verlader, arglistig vom Transportunternehmer getäuscht
wird, muss nicht mit Strafe rechnen. Wer aber fahrlässig
handelt, indem er wegschaut und sich nicht vergewissert,
dass er es mit legitimen Auftragnehmern zu tun hat, ist
möglicherweise verantwortlich. Ich finde diese Formulie-
rung der Fahrlässigkeit durchaus richtig und angemessen.
Damit wird die gesamte Transportkette vom Verlader
über den Transportunternehmer im engeren Sinne in die
Mitverantwortung einbezogen.
Des Weiteren wird in beträchtlichem Umfang das bei
Verstößen gegen dieses Gesetz angedrohte Bußgeld er-
höht. Darüber hinaus wird die Zuständigkeit des Bundes-
amtes für Güterverkehr für die Kontrolle festgehalten, das
übrigens auch mit zusätzlichen Mitteln, zusätzlichem Per-
sonal und zusätzlichen Fahrzeugen ausgestattet wird.
Summa summarum ist dies, glaube ich, heute ein we-
sentlicher Schritt zur Regulierung eines ruinösen Kon-
kurrenzkampfes, der letztlich zulasten aller geht, vor al-
lem aber zulasten der mittelständischen Transport-
unternehmen. Diese wollen wir schützen. Wir wollen kei-
nen Wettbewerb mit unlauteren Mitteln, sondern wir wol-
len fairen Wettbewerb. Wir wollen die Einhaltung von So-
zialstandards. Dafür lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und
Kollegen, heute möglichst gemeinsam sorgen.
Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht der Kollege Horst Friedrich.
Frau Präsiden-tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kol-lege Schmidt, es wird Sie überraschen, dass ich mit denwesentlichen Inhalten Ihres Vortrags durchaus einverstan-den bin. Das ist gar nicht die Konfliktlinie. Auch wir se-hen das Problem.
Wir haben immer kritisiert, dass Sie das, was am Schlusskommen sollte, zuerst machen, und das in einer Zeit, in
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der Sie – im Gegensatz zu uns, die wir vor der Kabotage-freigabe am 1. Juli 1998 die Steuern gesenkt und zumin-dest seit 1994 keine Mineralölsteuererhöhung mehr vor-genommen haben – drei Stufen der Ökosteuer mit18 Pfennig plus Umsatzsteuer eingeführt haben. Darüberhinaus haben Sie die AfA-Tabellen verschlechtert und imletzten Jahr Ausnahmeregelungen für die Konkurrenz inEuropa zugestimmt, durch die das deutsche Gewerbe be-nachteiligt wird. Sie haben eine Steuerreform gegen denMittelstand gemacht. Ferner haben Sie – jetzt erst wie-der – weitere Steigerungen bei den Lohnnebenkosten zu-gelassen. Nach wie vor haben Sie keine verlässlichen Ent-lastungen zum 1. Januar 2003 für die Umstellung derLKW-Gebühr von Zeit auf Strecke zugesagt. Es gibtnichts außer der blumigen Äußerung, dass es dann zu ei-ner größtmöglichen Harmonisierung auf europäischemNiveau kommen muss, was auch immer das heißen mag.
Vor dem Hintergrund all dieser Themen, die wir immerkritisiert haben, kommt jetzt Ihre Aussage, dass Sie nunein Problem lösen müssen. Zugegeben, es handelt sich umein Problem. Es wäre aber wahrscheinlich ein sehr vielkleineres Problem in Deutschland, wenn Sie all das, wasich eben aufgezählt habe, nicht beschlossen hätten.
Nun kommen wir zum eigentlichen Thema. DerKnackpunkt ist – das wird eine juristische Überprüfungjederzeit ergeben –, dass Sie die verladende Wirtschaft inDeutschland bereits bei einfacher Fahrlässigkeit voll indie Haftung nehmen. Herr Kollege Schmidt, es stimmteben nicht, dass Wegschauen eine einfache Fahrlässig-keit ist. Nach BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehrerforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Zur Definitionheißt es in der Kommentierung im Palandt zu § 277 BGB:Einfache Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn die Handlungals Fehlverhalten gedeutet werden kann, die jeder Personpassieren kann. Das ist mit Wegschauen noch lange nichterreicht. Anders verhält es sich bei der groben Fahrlässig-keit, bei der subjektive Maßstäbe angelegt werden.Mir leuchtet immer noch nicht ein, warum Sie in demGesetzgebungsverfahren betreffend die Bekämpfung derillegalen Beschäftigung im Baugewerbe bei Steuerhin-terziehung die grobe Fahrlässigkeit ansetzen, während Siebei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung imTransportbereich auf einmal die einfache Fahrlässigkeitkonstruieren und damit einer Rechtsunsicherheit Tür undTor öffnen. Wie groß diese Unsicherheit ist, kann man da-raus ersehen, dass es den beteiligten Verbänden DIHT,BDI, BGL und BSL sowie der Regierung nicht gelungenist, sich in ihrem Gespräch Anfang April auf eine einheit-liche Regelung zu verständigen, obwohl die Transport-verbände zugestanden haben, dass nicht jede Fahrlässig-keit bestraft werden soll. Hierüber kam aber keineeinheitliche Definition zustande. Deswegen habe ich be-reits in der Ausschusssitzung darauf hingewiesen, dasshier mehr rechtliche Übereinstimmung vonnöten ist. Ichhabe dem Haus die Fundstelle – wir haben das zu Zeitenunserer Regierung beschlossen – gezeigt, weil es sie nichtgekannt; aber es hat offensichtlich nicht zum Nachdenkengeführt.Dem, was heute beschlossen werden soll, können auchwir zu 99 Prozent zustimmen. Sie brauchen lediglich ausder einfachen Fahrlässigkeit bei der Haftung des Verla-ders eine grobe Fahrlässigkeit zu machen, was dem Tat-bestand schon allein deswegen angemessen wäre, weilwir in das Güterkraftverkehrsgesetz in Abstimmung mitdem Gewerbe die persönliche Zuverlässigkeit ganz be-wusst aufgenommen haben. Ein Unternehmer, der inDeutschland Güterkraftverkehr betreibt und Fahrzeugemit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als3,5 Tonnen bewegt, hat bereits jetzt besondere Sorgfalts-pflichten zu beachten. Wer dagegen verstößt, müssteschon nach dem geltenden Güterkraftverkehrsgesetz dieentsprechenden Konsequenzen ziehen. Das ist übrigensauch eine Aufgabe des Gewerbes.Wir legen Ihnen nochmals unseren Antrag zur Abstim-mung vor. Sollten Sie ihn ablehnen, sehen wir leider keineMöglichkeit, dem Gesetz insgesamt zuzustimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Kol-
lege Winfried Wolf für die PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin!Werte Damen und Herren! Der Tatbestand ist bekannt; erwurde hier bereits angesprochen. Im LKW-Gewerbe gibtes Sozialdumping und ruinösen Wettbewerb. Der krasses-te Ausdruck dafür sind illegal Beschäftigte in Unterneh-men mit Sitz in der Europäischen Union oder im EWR.Es ist auch angesprochen worden, dass das Lohngefälleillegal eingesetzter osteuropäischer Arbeiter zu denEU-Arbeitern bis zu 1:10 ausmacht. Wir wissen, dass esBemühungen auf europäischer und jetzt auch auf deut-scher Ebene gibt, hier Abhilfe zu schaffen.Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenmachen hier etwas, was sie nachher bei dem CDU/CSU-Antrag zum Thema Lokführerschein nicht machen wer-den, nämlich im nationalen Alleingang etwas zu be-schleunigen, was auf EU-Ebene läuft. Im Grundsatz sindsich alle Parteien einig, dass gegen Sozialdumping undruinösen Wettbewerb etwas getan werden muss und dassdie vorgelegten Vorschläge in die richtige Richtung ge-hen. Ich wiederhole sie an dieser Stelle nicht; sie sindkompliziert genug.Die Debatte über § 7 c und den Begriff der grobenFahrlässigkeit berührt tatsächlich den entscheidendenPunkt. In der ersten Lesung am 8. März sagte ich, dass ichunsicher sei, ob die Kritik von CDU/CSU und F.D.P. nichtdoch berechtigt ist. Nach reiflicher Überlegung bin ich zueiner anderen Meinung gekommen. Nach dem Lesen derErgebnisniederschrift der Besprechung zwischen denVerbänden und dem zuständigen Ministerium vom2.April bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Ver-bände – darunter der BDI, aber auch die ÖTV – eine Ver-einbarung unterschrieben haben, in der das fahrlässige
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Horst Friedrich
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Nichtwissen relativ verladerfreundlich definiert und fest-gestellt wurde, dass sogar im Falle extrem niedrigerTransportpreise, die Dumpingpreise zu sein scheinen,keine erhöhte Sorgfaltspflicht vonnöten sei, sondern manmisstrauisch sein und Rückfragen stellen müsse. Eswurde sogar gesagt, dass man in solchen Fällen keine Ver-zögerung der Fracht oder Vertragsstrafen in Kauf nehmenmüsse.Unter den Bedingungen dürfte das Papier gerichtlichbelastbar sein, wenn Unterschriften darunter stehen. Inso-weit ist die Definition korrekt. Wir stimmen daher demGesetzentwurf zu und lehnen wegen der Präzisierung indieser Vereinbarung die beiden Änderungsanträge ab.Wie bereits in der ersten Lesung und wie auch einige Red-ner in der heutigen Debatte verweisen wir weiterhin da-rauf, dass damit nur ein Ausschnitt von Sozialdumpingangetippt wurde.Im Grunde kann die Liberalisierung des EU-Marktes indiesem Bereich nicht funktionieren, wenn solche krassenBeispiele von Sozialdumping vorkommen, wie sie AlbertSchmidt zu Beginn seiner Ausführungen dargelegt hat.Ich verweise weiter darauf, dass vor allem die falscheVerkehrspolitik – die von uns in einem anderen Sinne alsvom Kollegen Friedrich als falsch definiert wird –, wo-durch Verkehr immer billiger wird und immer mehr ab-strakte und absurde Arbeitsteilungen produziert werden,im Zentrum der Debatte stehen müsste.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin ist die
Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute wirk-lich sagen: Dies ist ein guter Tag für das mittelständischedeutsche Fuhrgewerbe.
Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Be-schäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr, das wirheute beschließen werden, treten wir einer Verschärfungder schwierigen Wettbewerbssituation des deutschenTransportgewerbes deutlich entgegen.Zu oft – die Frau Staatssekretärin hat das schon ange-sprochen – sind bereits heute auf deutschen StraßenLKWs unterwegs, die von Fahrern gelenkt werden, dieaus europäischen Drittstaaten kommen und illegal hier ar-beiten. Dies hat schon zu Marktstörungen deutlichen Um-fangs geführt.Wir verpflichten deshalb einerseits die Fuhrunterneh-mer aus den Staaten der EU und des Europäischen Wirt-schaftsraums, auf deutschen Straßen nur Fahrer einzu-setzen, die im Staat des Unternehmenssitzes eineArbeitsgenehmigung haben. Die Unternehmer müssenauch dafür sorgen, dass das Fahrpersonal die Arbeitsge-nehmigung im Original zusammen mit einer beglaubigtenÜbersetzung mit sich führt.Zum Schutz unseres Gewerbes greifen wir der Ein-führung der europäischen Fahrerlizenz in diesem Sinnevor und berechtigen das Bundesamt für Güterverkehrzukünftig, die Arbeitsgenehmigungen der Fahrer zu kon-trollieren.
Es ist heute in der Diskussion schon deutlich gewor-den: Die Beschäftigung von illegalen Fahrern wäre ohnedie stillschweigende Duldung eines Teils der verladendenWirtschaft – das sind beileibe nicht alle – schon bisherschlicht nicht möglich gewesen.
Machen wir uns nichts vor: Dem Verlader muss es auffal-len, wenn der Transportpreis eines Spediteurs regelmäßigniedriger ist als der seiner Konkurrenten,
wenn die Fahrer immer aus Osteuropa kommen und wennbestimmte Dokumente nicht freiwillig vorgelegt werden.
Sicherlich haben diese schwarzen Schafe unter denVerladern auch einen nicht unerheblichen finanziellenVorteil aus der illegalen Beschäftigung. Wäre dem nichtso, dann wäre auch die Wettbewerbsverzerrung im Fuhr-gewerbe, die durch diese Praxis mitbestimmt wird, an-ders, als sie ist.Der Bericht des Europäischen Parlaments ist bereitsvom Kollegen Schmidt angesprochen worden. Dortspricht man von Preisunterschreitungen von bis zu30 Prozent. Deshalb haben wir in das Gesetz die so ge-nannte Verladerhaftung aufgenommen. Wir wollen da-mit bewirken, dass zukünftig Verlader und Spediteure einwirkliches Interesse an der Durchführung der Transportenach Recht und Gesetz haben.
Genau hier scheiden sich die Geister. Das Gesetz verwen-det in § 7 c – wir haben das von den Kollegen schon aus-führlich gehört – den Begriff des fahrlässigen Nichtwis-sens. Seit Mitte Mai drängt nun insbesondere der BDIdarauf, diesen Begriff durch den des grob fahrlässigenNichtwissens zu ersetzen. Die F.D.P. und die CDU/CSUhaben diese Idee in ihrem Antrag aufgenommen.
Aber auch nach reiflicher Überlegung können wir diesemBegehren nicht folgen. Der Begriff der Fahrlässigkeitnach § 276 BGB wird in der juristischen Literatur – als
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Dr. Winfried Wolf
17339
Nichtjuristin muss man das nachlesen – als das Außer-Acht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt beschrieben.
Wer also als Verlader in diesem Sinne fahrlässig nichtwissend einem Fuhrunternehmer oder Spediteur sein Gutzur Beförderung anvertraut, das heißt bewusst nicht über-prüft, ob dieser Unternehmer seine Fahrer nach Recht undGesetz einsetzt, wird zukünftig eventuell mit einem hohenBußgeld rechnen müssen.
Der Verlader muss sich – das ist der Sinn hinter diesemGesetz – so weit wie möglich um diese Erkenntnisbemühen. Er muss Stichproben machen und sich nach An-zeichen erkundigen. Der Formulierung im vorliegendenGesetz haben übrigens auch der Bundesrat und bei Ab-stimmungsgesprächen Anfang April zunächst auch allebefragten beteiligten bzw. betroffenen Gruppierungeneinschließlich des BDI und des Deutschen Industrie- undHandelstages zugestimmt. Erst Mitte Mai kam dann derSinneswandel.
– Mit mir haben sie doch gesprochen, wahrscheinlich ge-nauso wie mit Ihnen, Herr Friedrich.Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wer hier ein grobfahrlässiges Nichtwissen einführen möchte, muss zurKenntnis nehmen, dass eine Formulierung – die ich ge-funden habe – bezüglich der groben Fahrlässigkeit besagt,dass die verkehrsübliche Sorgfalt in besonders grobemMaße verletzt wird, dass also selbst einfachste, jedem ein-leuchtende Überlegungen nicht angestellt werden. Dasheißt, der Verlader müsste erst tätig werden, wenn es sehroffenkundige Hinweise auf die Illegalität des Beschäfti-gungsverhältnisses gibt, wenn sich ihm also die Erkennt-nis über das illegale Beschäftigungsverhältnis förmlichaufdrängt, sodass er die Augen davor nicht mehr ver-schließen kann. Das ist – so meine ich – zu spät und dasist uns zu wenig. Würden wir uns hier nur auf die grobeFahrlässigkeit beschränken, wären dem Gesetz alle Zähnegezogen, die es hat.
Wir würden insbesondere der aktiven Rolle, die der Ver-lader bei dem Geschäft spielt, mit dieser Regelung nichtgerecht.
Auch der Hinweis auf das Gesetz zur Eindämmung il-legaler Betätigung im Baugewerbe geht wegen des völliganderen Kontextes, in dem die grobe Fahrlässigkeit dortangeführt wird, in die Irre. Sie haben es doch nachgele-sen: Es geht um den § 48Abs. 3 EStG. Dort wird die Haf-tung des Auftraggebers bei grob fahrlässiger Unkenntnisgeregelt. Diese Unkenntnis bezieht sich aber nur auf dierechtswidrige Erlangung der vom Bauunternehmer zu be-antragenden Freistellungsbescheinigung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, auch
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Es gibt außerdem
eine ganze Reihe anderer Beispiele: Sowohl im Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz, im Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetz als auch im Zollrecht stellen fahrlässige Verstöße
gegen Rechtsvorschriften eine Ordnungswidrigkeit dar.
Fest steht: Würden wir dem Drängen nachgeben, ließen
wir unser Fuhrgewerbe im Regen stehen.
Genau das wollen wir nicht, das ist nicht das Ziel dieses
Gesetzentwurfes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Graf,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Das sollten sich
auch die Antragsteller überlegen. Wir bitten Sie deshalb
um Zustimmung für den Gesetzentwurf und dass Sie den
Änderungsantrag der F.D.P. und der CDU/CSU mit uns
ablehnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-che 14/6305.Der Ausschuss empfiehlt unter II seiner Beschlussem-pfehlung, den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD unddes Bündnisses 90/Die Grünen zur Bekämpfung der ille-galen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehrauf Drucksache 14/5446 für erledigt zu erklären. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen.Unter I seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss, den von der Bundesregierung eingebrachtenGesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäfti-gung im gewerblichen Güterkraftverkehr auf Drucksache14/5934 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzuliegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst ab-stimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/6360? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist gegen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Angelika Graf
17340
die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion ab-gelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derF.D.P. auf Drucksache 14/6361? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Auch dieser Änderungsantrag ist ge-gen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktionabgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen derF.D.P.-Fraktion angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurfist damit gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion ange-nommen.Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt unter Ziffer III seiner Beschlussempfehlung,den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Par-laments und des Rates zur Änderung der Verordnung überden Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt hinsichtlich ei-ner einheitlichen Fahrerbescheinigung zur Kenntnis zunehmen und eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Wehrpflicht aussetzen– Drucksachen 14/5078, 14/6274 –Berichterstattung:Abgeordnete Kurt PalisPaul BreuerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieF.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für dieF.D.P.-Fraktion ist der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Es bezweifelt niemand, dasses gute Argumente für eine Wehrpflichtarmee gibt. Diemuss uns niemand nennen. Wer wollte denn die erfolgrei-che Geschichte der Bundeswehr in der Nachkriegsge-schichte der alten Bundesrepublik Deutschland, das Ver-wachsen zwischen Gesellschaft und Armee sowie diePrinzipien der Inneren Führung bestreiten?
Aber auch die Befürworter einer Wehrpflicht müssenheute erklären, wie sie gegenüber einer jungen Generationin der Bundesrepublik Deutschland angesichts des En-des der bipolaren Welt und einer völlig geänderten sicher-heitspolitischen Lage die Wehrpflicht begründen wollen,
wenn am Ende nur noch 20 Prozent eines Jahrgangstatsächlich in der Bundeswehr ihren Dienst versehen.
Das wäre auf den Plenarsaal übertragen etwa so, als wennvon allen Abgeordneten nur noch so viele den Dienst tunwürden, wie jetzt noch anwesend sind. Das ist keineWehrgerechtigkeit mehr. Mit dem Verfall der Wehrge-rechtigkeit verfällt aus unserer und meiner Überzeugungauch die Wehrpflicht.Es mag noch so häufig an eine bestimmte Größenord-nung der Bundeswehr erinnert und ihre finanzielle Aus-stattung schön ausgemalt werden. Selbst die Personal-stärke, die die lieben Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU vorschlagen, trägt die Wehrpflicht nicht mehr.
Das sicherheitspolitische Umfeld trägt sie nicht mehr undauch nicht mehr die finanzielle Ausstattung.Wir befinden uns ja im Übrigen in guter Gesellschaft.
Ich sage dieses jetzt an die Adresse der Sozialdemokraten:Der von uns sehr geschätzte Wehrbeauftragte hat eszurückhaltend
in eine Fragestellung gekleidet. Er hat gefragt, ob über-haupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht gesprochenwerden kann, wo doch der immer größere Teil eines Jahr-gangs gar nicht eingezogen wird. Ich zitiere immer kor-rekt, deshalb wiederhole ich es noch einmal: Die Fragewar, ob überhaupt noch von der allgemeinen Wehrpflichtgesprochen werden kann, wo doch der immer größere Teileines Jahrgangs gar nicht eingezogen wird. Die Beant-wortung dieser Frage können Sie nicht dauernd verschie-ben und sich vor einer Entscheidung drücken. Irgendwannstellt sich Ihnen diese Frage.
Im Übrigen wäre ich mir gar nicht so sicher, auch wennwir jetzt nur eine halbe Stunde diskutieren und unser An-trag mit Sicherheit abgelehnt wird,
– ja, ja – ob wir uns nicht dereinst wiederbegegnen: ImLeben sieht man sich meistens zweimal.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss17341
Ich wäre nicht so sicher, ob nicht Karlsruhe alsbald aucheine Entscheidung trifft, die Ihre Überzeugung infragestellt und uns zwingt, uns erneut damit zu befassen.
Da viele ja immer sagen, die Politik solle lieber selberLösungen anbieten, als abzuwarten und dann Gerichts-entscheidungen zur Kenntnis nehmen zu müssen, emp-fehle ich Ihnen, dieses im Vorgriff politisch zu entschei-den. Ich frage noch einmal die SPD: Wie haben Sie sichdenn beim Thema „Frauen in die Bundeswehr“ verhal-ten? Sie haben es verschoben und verschoben.
Wir haben es dauernd gefordert und beantragt. Heute istes so weit. Ich sage Ihnen heute voraus, dass dieser An-trag alsbald wieder auf die Tagesordnung kommt und Siesehr wahrscheinlich gezwungen sein werden, eine andereEntscheidung zu treffen.
Sie sollten Helmut Schmidt
Beachtung schenken, der darauf hinweist, dass die poli-tisch-psychologische Vorbedingung für die Beibehaltungdes Wehrpflichtprinzips ein hohes Maß an tatsächlicherAllgemeinheit der Wehrpflicht ist. Ein hohes Maß antatsächlicher Allgemeinheit der Wehrpflicht gibt es in derBundesrepublik Deutschland nicht mehr. Die Frage da-nach beantwortet sich ganz einfach.
Ganz besonders interessant – das habe ich nachge-lesen – ist die Haltung der Grünen.
In einer Beschlussempfehlung des Verteidigungsaus-schusses ist Folgendes festgehalten: Die Position derFraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, dass die Wehrpflichtsicherheitspolitisch nicht für unverzichtbar und verfas-sungsrechtlich für schwer begründbar gehalten wird. –Was denn jetzt, meine Damen und Herren von den Grü-nen?
– Man verwendet ja nicht selten gewundene Formulie-rungen, um um die Lösung eines Problems herumzukom-men.Meine Damen und Herren, angesichts der verändertensicherheitspolitischen Lage – im Übrigen im Konzert derNATO-Mitgliedstaaten, von denen heute zehn von 19keine Wehrpflichtarmee mehr haben –,
angesichts der tatsächlichen Lage, dass nur jeder Fünfteeiner Jahrgangsstärke derer, die nach der Verfassungwehrpflichtig sind, tatsächlich eingezogen werden wird,und angesichts des Missverhältnisses, dass 40 Prozent Zi-vildienst leisten und 20 Prozent die Wehrpflicht erfüllen,während der Verfassungsauftrag eine Priorität für Wehr-pflicht und Respekt für Kriegsdienstverweigerer und dieAnerkennung ihrer Leistung als Zivildienstleistende vor-sieht, kann doch niemand von einem ausgewogenen Ver-hältnis zwischen der verfassungsrechtlichen Pflicht undder wirklichen Lage sprechen. Sie machen sich doch et-was vor, wenn Sie so über dieses Thema diskutieren.
Der Bundesverteidigungsminister sagt, es seien mehreinzuziehen, weil noch Stellen aus anderen Bereichen zurVerfügung stünden. Tatsache ist aber, dass selbst von de-nen, die wehrtauglich sind und eingezogen werden könn-ten, wegen der Haushaltsausstattung nur zwei Drittel ein-gezogen werden. Das führt das Ganze ad absurdum,meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen.
Es mag gute gesellschaftliche Gründe für eine Wehr-pflicht und überzeugende Befürworter einer Wehrpflichtgeben, aber der Kaiser hat sein Recht verloren, wenn esder Wirklichkeit nicht mehr entspricht.
Es war für meine Partei keine einfache Entscheidunggewesen. Es gab Gegner und Befürworter.
Aber wir wollten eigentlich keine politischen Argumentevortragen, die von der Wirklichkeit geradezu zerschlagenwerden.
Deshalb empfehlen wir Ihnen, sich der Realität zu stel-len,
angesichts der sicherheitspolitischen Veränderungen dieWehrpflicht auszusetzen, wie das in bedeutsamen NATO-Partnerländern auch geschehen ist, und der jungen Gene-ration keine Wehrpflicht mehr aufzuerlegen, wozu Ihnendie junge Generation heute aus guten Gründen sagenkann, dass Sie ihr die Wehrgerechtigkeit nicht mehr ga-rantieren können.
Wenn das nicht mehr zu garantieren ist, nützen alleguten, wünschenswerten gesellschaftspolitischen Argu-mente nichts. Politik darf nicht an der Wirklichkeit vor-beigehen. Deshalb – wenn Sie es heute nicht entscheidenwollen, werden Sie es später entscheiden müssen – ist dasEnde der Wehrpflichtarmee in der Bundesrepublik
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt17342
Deutschland gekommen, ob wir es mögen oder nicht. DieWehrgerechtigkeit ist eine tragende Akzeptanzsäule unse-rer Verfassung. Wenn die nicht mehr gegeben ist, kannniemand eine Wehrpflichtarmee begründen. HerzlichenDank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhold Robbe von der SPD-Fraktion.
– Noch habe ich hier vorne das Kommando, Herr Kollege
Niebel.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! So kennen wir ihn: im-mer für einen flotten Spruch gut. Unabhängig von der Tat-sache, dass der Kollege Niebel das gar nicht so meint, willich jetzt ein paar Ausführungen zur Sache machen.Nicht zum ersten Mal beschäftigen wir uns im Deut-schen Bundestag mit der allgemeinen Wehrpflicht inDeutschland. Was die heutige Debatte jedoch von vorhe-rigen Diskussionen unterscheidet, ist die von der F.D.P.-Fraktion eingebrachte Forderung nach einer Aussetzungder Wehrpflicht. Begründet wird dieser Antrag mit demknappen Hinweis, die allgemeine Wehrpflicht sei sicher-heitspolitisch nicht mehr zwingend notwendig.Auch wenn dieser Antrag zumindest indirekt die Frageoffen lässt, Herr Gerhardt, ob die Aussetzung zu einemspäteren Zeitpunkt zurückgenommen werden kann,würde die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht – da-rüber müssen wir uns im Klaren sein und das müssen Sieauch dazusagen – praktisch bedeuten, dass wir die Wehr-pflicht in Deutschland de facto abschaffen.
Vollkommen unabhängig von der Tatsache, dass sichdie beiden großen Volksparteien eindeutig und auch ohneWenn und Aber für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus-gesprochen haben, sollten wir die heutige Ausspracheauch dazu nutzen, noch einmal sehr intensiv darübernachzudenken, was eine Abschaffung der Wehrpflichttatsächlich für Folgen hätte. Ich plädiere in diesem Fallalso nicht unbedingt dafür: Die Mehrheit ist für die Wehr-pflicht – und damit basta! Lassen Sie uns lieber Argu-mente ins Feld führen.Wir müssen, wenn wir es mit der Wehrpflicht wirklichernst nehmen, sehr verantwortungsvoll und vor dem Hin-tergrund der sicherheitspolitischen Situation, der gesell-schaftspolitischen Auswirkungen und nicht zuletzt auchunter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Rahmenbe-dingungen durchaus sensibel argumentieren.
Da ist zunächst das Hauptargument derer, die behaup-ten, aufgrund der seit dem Wegfall des Eisernen Vorhangsvöllig veränderten sicherheitspolitischen Situation habedie eigentliche Hauptaufgabe unserer Bundeswehr, näm-lich die nationale Landesverteidigung, eine ganz unterge-ordnete Bedeutung bekommen. Gleichzeitig wird darausdie nach meiner Auffassung falsche Schlussfolgerung ge-zogen, bei der Bundeswehr handele es sich heute um einereine Interventionsarmee, die praktisch nur noch außer-halb unserer eigenen Landesgrenzen zum Einsatz kom-men würde.
Das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist richtig: DieLandes- und Bündnisverteidigung ist immer noch dieHauptaufgabe der Bundeswehr,
auch wenn die Auslandseinsätze auf dem Balkan in derÖffentlichkeit und im allgemeinen Bewusstsein den Ein-druck hinterlassen haben sollten, dass die Notwendigkeitder Landesverteidigung de facto gar nicht mehr gegebensei.Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie sichdie sicherheitspolitische Lage unseres Landes veränderthat. Wir sind praktisch nur noch von Freunden umgeben,und wohl niemand im Deutschen Bundestag und auch da-rüber hinaus wird bestreiten, welch großes Glück unserVolk aus der Tatsache gewinnt, dass ehemalige Feinde,die noch vor wenigen Jahren ihre Massenvernichtungs-waffen auf uns richteten und umgekehrt vom Westen auchbedroht wurden, jetzt unsere Bündnispartner werden wol-len.
Dies alles ist richtig, und trotzdem möchte ich nichtwissen, was beispielsweise unsere wichtigsten Verbünde-ten in London, in Paris und in Washington dazu sagenwürden, wenn wir die originäre Landesverteidigung alsüberholt bzw. überflüssig deklarieren würden. Ohne andieser Stelle negative sicherheitspolitische Szenarien ent-wickeln zu wollen: Wer von uns vermag denn mit hun-dertprozentiger Sicherheit auszuschließen, dass sich ir-gendwann sicherheitspolitische Konstellationen ergeben,die das Thema „Landesverteidigung“ von heute auf mor-gen wieder auf die Tagesordnung bringen könnten?
Insofern ist die militärische Landesverteidigung unab-dingbare Verfassungspflicht unseres Staates. Die Wehr-pflicht ist eine verfassungsrechtlich abgesicherte Pflicht.
Ihre Einführung war seinerzeit bekanntlich eine Entschei-dung von sehr hohem staatspolitischem Rang. Sie wirkt insämtliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichenLebens hinein. Die Ableistung der Wehrpflicht ist Aus-druck des allgemeinen Gleichheitsgedankens und ihre Er-füllung ist demokratische Normalität.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt17343
Im Jahre 1985 hat das Bundesverfassungsgerichtfestgestellt, dass der Verfassungsgeber mit den nachträg-lich in das Grundgesetz eingeführten wehrverfassungs-rechtlichen Bestimmungen eine „verfassungsrechtlicheGrundentscheidung für eine wirksame militärische Lan-desverteidigung getroffen“ habe. Demnach haben Ein-richtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr heuteverfassungsrechtlichen Rang.
Die allgemeine Wehrpflicht, meine Damen und Her-ren, wird in dem Urteil als eine „gemeinschaftsbezogenePflicht hohen Ranges“ bezeichnet. Aus dieser Verantwor-tung heraus haben sich bisher alle Bundesregierungen fürdie Beibehaltung der Wehrpflicht entschieden. Hierfürsprechen neben sicherheitspolitischen auch allgemeinpo-litische, gesellschaftspolitische und auf Streitkräfte bezo-gene Erwägungen.
Ihre erste Begründung erfährt die Wehrpflicht aber in derAbsicht, auch in Zukunft eine funktionstüchtige Landes-verteidigung sicherzustellen und einen wesentlichen Bei-trag zur Bündnisverteidigung zu leisten.In diesem Zusammenhang will ich auf einen zusätzli-chen Punkt eingehen, der zwar nicht unbedingt von ver-fassungsrechtlicher Relevanz ist, aber im Hinblick auf dieWeiterentwicklung unserer Gesellschaft trotzdem nichtvernachlässigt werden darf. Eine Aussetzung der Wehr-pflicht, wie sie von der F.D.P. gefordert wird, hätte natür-lich automatisch eine Aussetzung des Zivildienstes zurFolge. Sie hätte darüber hinaus eine Aussetzung aller Er-satzdienste zur Folge. Ich weiß, dies kann nur ein Hilfs-argument sein, weil sicherheitspolitische Gründe selbst-verständlich absolut im Mittelpunkt der Debatte stehen.Meine Damen und Herren, zusammenfassend darf ichfür die SPD-Fraktion feststellen:Erstens. Sicherheitspolitisch hat sich an der Notwen-digkeit für die Beibehaltung der Wehrpflicht nichts geän-dert.Zweitens. Es gibt viele gute Gründe für die Beibehal-tung der Wehrpflicht. Am Leitbild „Bürger in Uniform“kann ohne die Wehrpflicht nicht festgehalten werden.Drittens. Auf der Grundlage der Vorschläge derWeizsäcker-Kommission hat die Bundesregierung mitZustimmung der sie tragenden Parteien beschlossen, dieWehrpflicht als wesentlichen Bestandteil der künftigenStruktur unserer Bundeswehr einzuplanen.Viertens. Unabhängig von tagespolitischen Meinungs-verschiedenheiten sind zwei Drittel der Mitglieder desDeutschen Bundestages der Auffassung, dass die Wehr-pflicht auch in Zukunft unverzichtbar ist.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Helmut Rauber.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU lehntden Antrag der F.D.P. auf Aussetzung der Wehrpflicht– was de facto einer Abschaffung gleich kommt – ab.
Herr Dr. Gerhardt, Ihr Antrag ist nicht sachlich, sondernrein parteipolitisch motiviert. Dieser Antrag ist ein Tributan den Zeitgeist mit dem Ziel, auf eine populistische TourWählerstimmen zu fangen.
Nur sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass laut einer Em-nid-Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung nach wie vorfür die Beibehaltung der Wehrpflicht sind, und ich sage:mit guten Gründen.
– Ich komme noch dazu.Es ist ja schon erstaunlich, dass die gleichen F.D.P.-Ver-teidigungs- und Außenpolitiker, die auf ihrem Parteitagleidenschaftlich auch mit sicherheitspolitischen Argumen-ten für die Wehrpflicht gekämpft haben, jetzt plötzlich to-tal die Fronten gewechselt haben.
Die Faktenlage hat sich in den letzten Monaten nicht ver-ändert.
Wir leugnen nicht, dass auch uns die sinkende Zahl dereinzuberufenden Wehrpflichtigen große Sorgen macht.Wenn das neue Wehrpflichtmodell mit rund 53000Wehrpflichtigen und 27 000 freiwillig GrundwehrdienstLeistenden in Zukunft greift, dann können wir, aufs Jahrgerechnet, noch 85 000 junge Menschen einziehen, jenachdem, wie viele freiwillig dienen. Diese Zahlen sindzu niedrig und wir plädieren für eine Aufstockung;
denn während unserer Regierungszeit waren immerhinnoch 160 000 Wehrdienstleistende in der Bundeswehr.Ein Teil dieser Lücke lässt sich schließen, wenn wirvon dem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgehen und diejetzt schon vorhandenen Freistellungsmöglichkeiten zumBeispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem THW, demDeutschen Roten Kreuz usw. erweitern. Dies würde dieArbeit der betroffenen Hilfsorganisationen vor allem ander Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Risi-kovorsorge stärken.Wir als CDU teilen die Meinung derer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Reinhold Robbe17344
– das steht ja auch in Ihrem Antrag –, die meinen, dass dieWehrpflicht in erster Linie sicherheitspolitisch begründetwerden muss.
Dies gilt aber nicht nur für die Wehrpflicht, sondern diesgilt für die Bundeswehr allgemein. Wenn wir allein unseremomentane Bedrohungssituation betrachten – wobei dieBetonung auf momentan liegt –, dann droht Deutschlandkein militärischer Überfall von irgendeiner finsterenMacht. Aber wie die bisherige Menschheitsgeschichte ge-zeigt hat, kann leider niemand eine Garantie dafür geben,dass dies auf Dauer so bleibt. Ein Blick auf die aktuellenKrisenherde und Kriege weltweit macht deutlich, dass derFrieden leider kein Allgemeingut für alle Menschen ge-worden ist.
Zur Zeit des Kalten Krieges war Deutschland Bündnis-und auch Blockgrenze. Diesseits und jenseits unsererGrenzen stand ein Zerstörungspotenzial, das jede Vorstel-lungskraft sprengte. Diese tödlichen Gefahren des Krie-ges sind bei uns – ich betone: bei uns – Gott sei Dank ver-schwunden. Nur darf uns das nicht dazu verführen, die anden Bündnisgrenzen nach wie vor latent vorhandenenBedrohungen außer Acht zu lassen und uns aus der Ge-samtverantwortung für das Bündnis herauszustehlen.
Unsere Landesverteidigung beginnt an den Bündnis-grenzen. Nicht von ungefähr wurde die neue NATO-Stra-tegie dahin gehend verändert, Konflikte auf Distanz zuhalten. Wenn wir von diesem Ansatz, dem Unsicherheits-faktor und der neuen Bündnisgrenze ausgehen, dann gibtes eine sicherheitspolitische Begründung sowohl für einestarke Bundeswehr als auch für die Wehrpflicht.Die strategische Begründung für die Beibehaltung derWehrpflicht liegt in unserer exponierten geostrategischenLage als stärkste Zentralmacht Europas. Wir als Bundes-republik Deutschland stehen in der besonderen Verant-wortung, ausreichend Kräfte für die Verteidigung Gesamt-europas zur Verfügung zu stellen. Die dazu notwendigeAufwuchsfähigkeit im Rahmen unserer Bündnis- undLandesverteidigung, die nach wie vor im Grundgesetzverankert ist, ist ohne Wehrpflicht nicht gewährleistet.
Auch der laufende Betrieb bei der Bundeswehr wäreohne die Wehrpflichtigen so nicht möglich. Dass allerdings8 000 Wehrpflichtige auf Unteroffiziersstellen dienen, istauch nach unserer Meinung ein unhaltbarer Zustand.Die Wehrpflichtigen repräsentieren ein sehr breitesSpektrum von Fähigkeiten, Wissen und auch Fertigkeiten.Gerade die Erfahrungen auf dem Balkan zeigen, wie un-verzichtbar es ist, aus dem Wehrpflichtpotenzial Spezialis-ten zu rekrutieren, die die Bundeswehr selbst aus vielerleiGründen nicht ausbilden kann.Derzeit sind auf dem Balkan rund 7 300 Soldatinnenund Soldaten eingesetzt, darunter 1 600 Wehrpflichtige,überwiegend freiwillig Grundwehrdienst Leistende, diehervorragende Arbeit leisten. Mit anderen Worten: Über22 Prozent der Soldaten im Auslandseinsatz kommenaus der Wehrpflicht. Würden wir auf die Wehrpflicht ver-zichten, wäre die Belastung für die restlichen Berufs- undZeitsoldaten noch größer und damit die Nachwuchsge-winnung noch schwieriger.Damit sind die Gründe für die Wehrpflicht jedoch beiweitem nicht erschöpft. Die Wehrpflicht hält die Bundes-wehr jung. Dies gilt nicht nur für das Durchschnittsalter,das bei uns um zehn Jahre niedriger liegt als in der Berufs-armee der Belgier, sondern ebenso für das Jungsein imDenken. Die Wehrpflichtigen sind es, die Meinungen,Moden, Denkrichtungen in die Bundeswehr tragen und sofür die Führung auf allen Ebenen eine ständige Heraus-forderung darstellen. Die Gefahr von Verkrustungen imDenken wird so am ehesten gebannt.Wehrpflichtige sind weiterhin ein entscheidendes Kon-trollorgan der Armee. Diejenigen, die nicht zu befürchtenbrauchen, durch zu viel Zivilcourage berufliche Nachteilezu erleiden, sind am ehesten bereit, Kritik zu üben und tat-sächliche oder vermeintliche Missstände beim Namen zunennen.
Für die Wehrpflicht sprechen auch die Erfahrungen derStaaten – mit denen sollten Sie sich einmal unterhalten –,die die Wehrpflicht abgeschafft haben.
Die werden Ihnen nämlich in Vier-Augen-Gesprächen et-was gänzlich anderes sagen, als offiziell verlautbart wird.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass dieLeistungswettbewerbe unserer „gemischten“ Armee mitden Berufsarmeen anderer Staaten zeigen, dass wir unsvor keiner Armee dieser Welt zu verstecken brauchen.
Wer die Wehrpflicht abschafft, löst auch den Zivil-dienst auf – mit allen Konsequenzen für unseren Sozial-staat.Ich komme zum Schluss: Der Prophet Jesaja, der Sohndes Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon ge-sprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streitder Völker spricht und die Nationen zurechtweist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Rauber,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
Ja, selbstverständlich.Jetzt wollte ich zum Propheten Jesaja kommen und schonkommt der Kollege Nolting mit einer Zwischenfrage.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Helmut Rauber17345
Sie bringen mich ganz aus dem Konzept.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das wäre wohl zu viel
der Rücksichtnahme. Schießen Sie los.
Herr Kollege
Rauber, können Sie noch einmal etwas zur Legitimation
der Wehrpflicht sagen, wenn in Zukunft nur noch 20 Pro-
zent eines Jahrgangs den Grundwehrdienst, aber fast
40 Prozent eines Jahrgangs Ersatzdienst leisten? Das
heißt, der Sekundärdienst dient als Legitimation für die
Wehrpflicht. Können Sie auch etwas zur Wehrgerechtig-
keit sagen, die vom Fraktionsvorsitzenden der F.D.P.,
Dr. Gerhardt, angesprochen wurde?
Herr Kollege Nolting,
ich habe einleitend gesagt, dass es auch uns große Sorgen
bereitet, dass zukünftig nur noch 85 000 junge Menschen
einberufen werden können. Auch wir als CDU plädieren
dafür, dass diese Zahl erhöht wird.
– Nicht viel. Wenn ich die 53 000 Wehrpflichtigen und
diejenigen nehme, die freiwillig Grundwehrdienst leisten,
sind es 80 000. Aber streiten wir nicht darüber.
Wir hatten schon mal die Situation – wer die Ge-
schichte kennt, weiß dies –, in der durch Losverfahren
entschieden wurde, wer als Wehrpflichtiger zur Bundes-
wehr geht und wer nicht.
Das ist damals nicht verfassungsrechtlich angegriffen
worden. Warten wir einmal ab, wie das Verfassungsge-
richt entscheidet. Ich sehe aber nicht ein, als Parlament,
als legitimes Organ, in vorauseilendem Gehorsam gegen
unsere Überzeugungen in eine falsche Richtung zu gehen.
– Jetzt komme ich zum Propheten Jesaja. Jesaja, der Sohn
des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon ge-
sprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit
der Völker spricht und die Nationen zurechtweist. Dazu
das berühmte Zitat:
Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflug-
scharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer
wird Volk gegen Volk zum Schwerte greifen; üben
wird man nicht mehr für den Krieg.
– Jesaja 2, 4.
Wie lange ist das her und wie oft hat der Mensch gegen
den Menschen das Schwert gezückt und für den Krieg
geübt? Wir können und wir müssen wie in der Vision
Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Aber wir dürfen
nie vergessen, wie oft leider vergeblich versucht wurde,
dieses Ziel zu erreichen.
Alles in allem hat sich die Wehrpflicht bewährt. Es gibt
heute keine überzeugenden Gründe für ihre Abschaffung.
Deshalb lehnen wir den F.D.P.-Antrag mit großer Ent-
schiedenheit ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Winfried
Nachtwei das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Voreinem Jahr billigte das Bundeskabinett die Eckpfeiler dervom Verteidigungsminister eingebrachten Bundeswehr-reform und damit die Beibehaltung der Wehrpflicht.
Die von uns geforderte Abschaffung der Wehrpflichtwurde somit vorläufig ausgesetzt. Solange sich dazu dieMeinung in der Koalition nicht ändert, werden die Koali-tionsfraktionen in der Sache gemeinsam handeln.
Unabhängig davon geht natürlich die politische De-batte um dieses Thema unvermeidlich weiter, und zwarnicht einfach wegen dieses F.D.P.-Antrages, sondern weiles für die jungen Leute schlichtweg immer ein Problemist, sich zu entscheiden. Dabei geht es um die Legitima-tion der Wehrpflicht.
Ich sage nichts Neues und kann nur immer wieder be-tonen, dass die Grünen, unabhängig von der Koalitionspo-sition, in der wir eine gemeinsame Linie vertreten, an ih-rer Position zur Überwindung der Wehrpflicht festhalten.
Vor dem Hintergrund finden wir zunächst einmal den Po-sitionswechsel der F.D.P. begrüßenswert.
– Herr Nolting, Sie haben immer wieder das Problem,nicht richtig hinhören zu können.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Helmut Rauber17346
Wenn Sie die letzten zwei Minuten hingehört hätten, dannhätten Sie bereits eine Antwort.Hier im Saal müsste Einigkeit darüber bestehen, dassdie entscheidende politische Begründung für die Wehr-pflicht eine sicherheitspolitische Begründung sein muss.Ich glaube, darin stimmen auch alle überein.Die F.D.P. leistet diesem gemeinsamen Anspruch aller-dings einen ziemlichen Bärendienst, wie man feststellt,wenn man sich ihre Verlautbarungen von Anfang 2000 an-schaut. Darin steht: sicherheitspolitisch unbedingt not-wendig, unverzichtbar. Ein paar Monate später: sicher-heitspolitisch nicht mehr unverzichtbar.
Wenn Sie dies wenigstens mit einer veränderten sicher-heitspolitischen Lage begründen würden! Ich glaube, esist ein bisschen schwierig, das nachzuweisen.
Das gibt uns Aufschluss darüber, dass nicht eine verän-derte sicherheitspolitische Lage, sondern eine verän-derte parteiinterne Bedrohungssituation für Ihren Wech-sel entscheidend ist.Wie aber verhält es sich nun mit der sicherheitspoli-tischen Begründung? Es wird immer gesagt: Die Wehr-pflicht muss sicherheitspolitisch notwendig sein. Unddann vielleicht: Sie muss nützlich sein. – Das ist richtig;die Wehrpflicht ist nützlich, zum Beispiel was die Nach-wuchsgewinnung anbelangt. Das ist nicht in Abrede zustellen. Nur, der Anspruch an eine sicherheitspolitischeBegründung ist ein anderer: Es geht um einen massivenGrundrechtseingriff. Deshalb geht es nicht einfach nur umNotwendigkeit und Nützlichkeit. Die Wehrpflicht mussvielmehr unverzichtbar und alternativlos sein, um dieSicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewähr-leisten.
Das ist der Kernpunkt; darauf muss man es bringen. Daskann man nicht daran messen, wie der Auftrag der Bun-deswehr lautet. Man muss zunächst einmal fragen: Wieist die mittelfristig absehbare Lage? Diesbezüglich be-haupten wir, dass mittelfristig auch kein Restrisiko einesgroßen Verteidigungsfalles für die Bundesrepublik unddas Bündnis besteht, dass dieses Risiko mittelfristig aus-geschlossen werden kann. Wie die Lage später ist, bei-spielsweise in 15 Jahren, kann keiner sagen. Das ist völ-lig richtig.
Von daher ist nach unserer Auffassung die sicherheits-politische Unverzichtbarkeit der Wehrpflicht nicht mehrgegeben. Wir müssen feststellen, dass schon die Vorgän-gerregierung eigentlich davon ausging, dass dieses Rest-risiko nicht mehr besteht. Denn wie anders ist es zu er-klären, dass schon die Vorgängerregierung aus demZivilschutz, aus der Zivilverteidigung ausgestiegen istund dass die bekannten Regierungsbunker zum Verkaufstehen? Insofern besteht ein gewisser Widerspruch.
Ein Letztes: Die sicherheitspolitische Begründungmuss plausibel sein, und zwar gerade für junge Leute.
Ich glaube, wir stimmen darin überein, dass es schwerfällt, diese Plausibilität angesichts der sicherheitspoli-tischen Lage darzustellen. Hinzu kommt der Umstand,dass wir, ehrlich gesagt, nicht mehr von einer allgemeinenWehrpflicht reden können. Wir haben eine allgemeineDienstpflicht für Männer bzw. Wehrpflicht für einen Teilder Männer, der immer geringer wird.
Es besteht also in der Tat ein Problem hinsichtlich derWehrgerechtigkeit.Zusammengefasst: Einer Wehrstruktur, die den verfas-sungsrechtlichen Anforderungen und den sicherheitspoli-tischen Notwendigkeiten entsprechen soll, ist mit Be-kenntnissen nicht gedient. Was wir brauchen, ist einesorgfältige und offene Diskussion über die Begründungenund über die verantwortbaren Alternativen. Darüber soll-ten wir unabhängig davon, wie unsere Position zur Wehr-pflicht direkt ist, diskutieren.In etlichen anderen Ländern ist dies schon so gesche-hen: Man hat sich an der einen Wehrform festgehalten,dann hat es einen plötzlichen Wechsel in den Reihen derRegierung gegeben, man war überrascht und stand aufeinmal vor dem schnellen Wechsel. Über diese Dingesollte man rechtzeitig und sorgfältig diskutieren. Wenndiese Debatte dazu einen Beitrag leistet, ist es gut.Danke schön.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.
Lieber Kollege Nachtwei,
ich kann dir zu dieser Rede nur gratulieren. Ich denke, du
hast einen fantastischen Spagat zwischen deinem poli-
tischen Anspruch und der Machtbeteiligung hingelegt.
Heilige Kühe darf man nicht schlachten und für
CDU/CSU und SPD ist die Wehrpflicht eine heilige Kuh.
Kollege Robbe, Sie haben selbst gesagt: „... und damit
basta!“
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn die Gründe, die für die Beibehaltung der Wehr-pflicht sprechen, nicht mehr gelten sollten, dann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Winfried Nachtwei17347
muss über sie neu nachgedacht werden. Man machtsich unglaubwürdig, wenn man an Positionen fest-hält, die sich unter veränderten Bedingungen nichtmehr halten lassen.Zu den veränderten Bedingungen gehört nun einmal dasEnde des Kalten Krieges und damit die Tatsache, dass wirnur noch von Freunden und Partnern umgeben sind.
Vor dem Hintergrund dieser sicherheitspolitischen Ana-lyse hat auch der Kollege Penner Recht, wenn er sagt:„Ich bin ... davon überzeugt, dass Wehrpflicht vom Staatnur abverlangt werden kann, wenn es um Landesverteidi-gung geht.“Aber selbst in der Logik von CDU und SPD ist nichtersichtlich, warum man derart starr an der Wehrpflichtfesthält.
Denn Sie wollen doch eine Bundeswehr, die im Kern aufKriseninterventionsfähigkeiten zugeschnitten ist. Da-für brauchen Sie eine hochprofessionalisierte Hightech-armee, die sich auf erheblich weniger Personal stützenkann.
Es bleiben zwei Gründe: Der eine, Kollege Kahrs, istpraktischer Natur, nämlich die Nachwuchsgewinnung fürdie Streitkräfte.
Für diesen Zweck leisten Sie sich – das wurde hier schonerwähnt – einen Auswahlwehrdienst, der nach 2004 nurnoch 20 Prozent der jungen Männer eines Altersjahrgangserfassen wird. In drei Jahren werden 40 Prozent einesJahrgangs andere Dienste leisten und 40 Prozent werdenganz verschont bleiben. Es wird wieder einmal die Auf-gabe des Bundesverfassungsgerichtes sein, dem Parla-ment zu sagen, wie das Grundgesetz zu interpretieren ist.Der andere Grund für Ihre Hartnäckigkeit ist aus-schließlich ideologischer Natur: Sie fürchten um den Ver-lust der gesellschaftlichen Legitimation der Streitkräfte,wenn auf die Wehrpflicht verzichtet wird.
Ihnen geht es um Gesellschaftspolitik. Sie haben Angst,dass Sie Ihr militärisches Tschingderassabum nicht mehrso öffentlich wie bisher präsentieren können. Sie habenAngst davor, dass die militärische Akzeptanz in den Fa-milien der jungen Wehrpflichtigen verblassen wird. Dasist nicht nur hochgradig fantasielos, sondern auch gefähr-lich, weil Sie damit das Denken in Richtung Entmilita-risierung und Zivilisierung der internationalen Beziehun-gen blockieren.Die F.D.P. schreibt völlig zu Recht:Die Allgemeine Wehrpflicht ist sicherheitspolitischnicht mehr zwingend notwendig.Die F.D.P. möchte die Wehrpflicht aussetzen. Wir geheneinen Schritt weiter und sagen: Wir wollen die Wehr-pflicht aufheben.
Trotzdem werden wir dem F.D.P.-Antrag zustimmen.Zwangsdienste sind Relikte aus Zeiten des Kalten Krie-ges. Machen Sie endlich damit Schluss, steigen Sie in dieDebatte ein! Diskriminieren Sie nicht länger einen be-stimmten Anteil der jungen Männer in diesem Land undlegen Sie endlich ein Konzept zur Aufhebung des Zivil-dienstes und zur Reform der sozialen Dienste vor, damitder Zivildienst nicht länger zur Legitimation der Wehr-pflicht herangezogen werden muss!Danke.
Nun erteile ich dem
Kollegen Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion das Wort.
Hochverehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint, dieF.D.P.-Fraktion führt hier einen Dauerkalender für An-träge auf Aussetzung der Wehrpflicht.
Im letzten Jahr hatten Sie bereits einen Antrag gestellt,den Sie aus internen Gründen nicht weiterverfolgt haben.Dann haben Sie am 19. Januar dieses Jahres einen Antraggestellt.
Nach Ihrer Logik müssten Sie, wenn weitere fünf Monatevergangen sind, den nächsten Antrag stellen. Dann habenwir den 21. November. Da findet zwar keine Sitzung statt;aber immerhin ist dies der Bußtag.
Das bietet für Sie vielleicht Zeit und Gelegenheit, Ihrebisherigen Anträge in aller Ruhe zu überdenken, HerrNolting.
Offensichtlich sind Sie nicht willens oder dazu in derLage, die Realitäten zu erkennen.
Zu diesen Realitäten gehört nun einmal, dass die über-wältigende Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen in
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Heidi Lippmann17348
diesem Hause die Notwendigkeit für die Beibehaltung derWehrpflicht sieht, sie vertritt und sich zu ihr bekennt.
– Die Wehrgerechtigkeit ist auch weiterhin gegeben, trotzIhrer Unkenrufe, Herr Kollege.Ich frage mich, welche Ihrer neuen sicherheitspoli-tischen Erkenntnisse Sie dazu veranlasst haben, Ihren An-trag heute erneut zu stellen.
Bisher haben Sie sie noch nicht genannt. Lassen Sie unsdoch an Ihrem Wissen teilhaben. Sagen Sie mir, was sichseit dem Sommer des letzten Jahres in diesem Land si-cherheitspolitisch so grundlegend verändert hat! Damals,als Sie, Herr Nolting, noch das Kommando hatten, hießes: Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch unverzichtbar.Deswegen dürfen Sie heute wohl nicht mehr reden. Siestellen nicht nur alte Anträge endlos neu, Sie widerspre-chen sich auch noch. Das ist nicht nur taktisch unklug,sondern auch unglaubwürdig.
Sie mögen Ihre Überzeugungen im vorauseilenden Ge-horsam über Bord schmeißen. Wir dagegen stehen zu un-seren Überzeugungen und begründen sie.
Ich durfte nun lesen, dass Sie angesichts einer erneutenöffentlichen Diskussion über die Wehrpflicht bereit sind,weiterführende Konzeptionen zu entwickeln und vorzu-stellen. Das finde ich zwar gut. Aber im Umkehrschlussheißt das doch, dass Sie sich zurzeit in einer konzeptions-losen Phase befinden und wider besseres Wissen versu-chen, eine erneut unnötige Debatte loszutreten. Ehrlichgesagt, etwas anderes habe ich von Ihnen im Momentauch nicht erwartet.
Ihrem jüngsten Beitrag, man dürfe die Wehrpflicht nichtaus der Notwendigkeit des Ersatzdienstes heraus legiti-mieren, stimme ich dagegen zu. Damit haben Sie aus-nahmsweise einmal Recht. Das ist ein typisches Stamm-tischargument, das sich kein ernsthafter Politiker zu Eigenmachen würde. Von diesem haben wir jedenfalls noch nieGebrauch gemacht. Deswegen rennen Sie hier gegenWände an, die es gar nicht gibt.Die F.D.P. ist der Ansicht, dass die Aufgaben der Bun-deswehr auch mit einer Freiwilligenarmee bestritten wer-den könnten. Diese Feststellung mag in einigen kleinenTeilbereichen zutreffend sein. Aber die weiterführendeFrage ist doch, ob wir bereit sind, den Preis dafür zu zah-len. Die Wehrpflicht steht für den Charakter der Bundes-wehr. Sie symbolisiert eine gute bundesrepublikanischeTradition. Ich spreche hier nicht von Rentabilitäts-, Effi-zienz- oder reinen Kostenfragen. Darauf lässt sich die De-batte über die Wehrpflicht nicht reduzieren. Auch das,Herr Nolting, wussten Sie noch vor einem Jahr.
– Sehen Sie! – Viele von uns betonen, wie wichtig die Be-teiligung des Einzelnen am Staate ist, und zwar zu Recht.Das sollte eigentlich auch die F.D.P. wissen.
Auch wenn die Wehrpflicht eine Pflicht ist: Wo sonstfinden wir eine solch deutliche Verbindung von Bürgerund Staat?Wo sonst wird so deutlich, dass die Grundbe-dingung für unser Gemeinwesen die Teilnahme des Ein-zelnen ist? In den vergangenen vier Jahrzehnten habenüber 8 Millionen Wehrpflichtige Mitverantwortung fürdie Sicherheit unseres Landes übernommen. Fast 50 Pro-zent des Führungsnachwuchses an Offizieren und Unter-offizieren der Bundeswehr werden aus den Reihen derWehrpflichtigen gewonnen. Das trägt dazu bei, dass derSoldat in unserer Gesellschaft fest verankert ist. Auch dasGenöle der F.D.P.-Fraktion und ihres Vorsitzenden wirddaran nichts ändern.
Vielleicht ist es nunmehr an der Zeit, zu erkennen, dassdie Wehrpflicht in der Bundeswehr – ich wiederhole dasgern für Sie – eine bundesrepublikanische Tradition ist,die nicht dadurch getrübt wird, dass sich andere Demo-kratien gegen eine Wehrpflichtarmee entschieden haben;denn die Erfahrungen unserer Bündnispartner, die dieWehrpflicht aufgegeben haben, bestärken uns ein um dasandere Mal, an derselben festzuhalten.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von der PDS-
Fraktion?
Von wem?
Kollegin Lippmann.
Ach, nein, von der heutenicht.
– Frau Kollegin, wir reden einmal in aller Ruhe und Sach-lichkeit miteinander.Die Wehrpflicht ermöglicht es, die Potenziale an In-telligenz, Fähigkeit und beruflicher Qualifikation unsererjungen Männer effizient miteinander zu verbinden.
– Herr Kollege, halten Sie etwas an sich!
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Johannes Kahrs17349
Eine Bundeswehr mit Berufs- und Zeitsoldaten sowieWehrpflichtigen ist in ihrer Qualität jeder Berufsarmeeüberlegen. Haben Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, überhaupt gedient?
Offenbar nicht; denn ansonsten könnten Sie gar nichtsolch unsinnige Aussagen machen.
Die Wehrpflicht ist nicht nur eine Bereicherung für dieBundeswehr. Die Wehrpflicht ist ein Gewinn für dieganze Gesellschaft. Die Wehrpflicht ist der lebendigeAusdruck dafür, dass die Bevölkerung und ihr Gemein-wesen zusammengehören, sich bedingen und gegenseitigbereichern. Das hat auch die F.D.P. mehr als 50 Jahregewusst. Was Sie hier veranstalten, ist trauriges Schielennach neuen Mehrheiten – die Sie vielleicht im Containerfinden werden, aber nicht hier und heute!
Ich hoffe daher, meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen von der F.D.P., dass wir für die nächste Zeit vonsolch albernen Anträgen verschont bleiben. Zum Schlussmöchte ich gerne den früheren VerteidigungsministerGeorg Leber zitieren:Der Wehrdienst heute, wie ihn Gesetz und Recht ge-bieten, ist ein ehrenhafter Dienst, nicht mehr undnicht weniger ehrenhaft als beispielsweise der Dienstunserer Richter, deren Aufgabe, wenn auch von an-derer Art, der Wahrung von Freiheit und Recht zuge-wandt ist.Deswegen glaube ich, dass der Spruch: ...wovon erganz besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“vielleicht für Sauerkraut, Gulasch und Eintopf gilt, abergarantiert nicht für Anträge der F.D.P.Vielen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses auf Drucksache 14/6274 zu dem Antrag
der F.D.P. mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“. Zu die-
sem Antrag gibt es eine Erklärung zur Abstimmung des
Kollegen Winfried Nachtwei, die wir zu Protokoll nehmen.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/5078 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist damit gegen die Stimmen von F.D.P. und
PDS bei Enthaltung des Kollegen Nachtwei angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung derRichtlinie über den rechtlichen Schutz
biotechnologischer Erfindungen
– Drucksache 14/5642 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.
D
Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetz-entwurf, dessen Inhalt in den letzten Jahren bekanntlichausgesprochen intensiv öffentlich diskutiert worden ist.Ich finde, es ist bemerkenswert, dass hierbei Argumenteparteiübergreifend ausgetauscht worden sind. Auch dieÖffentlichkeit hat sich intensiv engagiert. Wir haben zahl-reiche Eingaben, Zuschriften und Briefe von Organisatio-nen, Kirchen und Einzelpersonen erhalten. Das zeigt dasgroße Interesse der Menschen an diesem neuen Technolo-giebereich und gibt Hinweise auf die Bedeutung diesesThemas.Der vorliegende Gesetzentwurf regelt nicht – ichmöchte das gleich zu Anfang sagen – die Möglichkeitenund Grenzen eines neuen Technologiebereichs. Es gehtnicht um das, was Forschung darf oder nicht darf, sondernes geht um den rechtlichen Schutz von Erfindungen.DasRecht des geistigen Eigentums, also insbesondere das Pa-tentrecht, soll modernisiert und auf einen möglichst aktu-ellen Stand gebracht werden.Eines ist wichtig: Wir bewegen uns beim Schutz desgeistigen Eigentums in einem internationalen Bereich.Man muss diesen Aspekt, wenn man ehrlich mit demThema umgeht, deutlich machen. Deswegen muss unserSchutzsystem konkurrenzfähig bleiben. Denn wenn eskeinen angemessenen Schutz von Forschungsergebnissengibt, wird sich das mit Sicherheit auch auf die Qualität un-serer Forschung auswirken. Die Diskussionen über den zuberatenden Entwurf geben Anlass, klarzustellen, dass derForschung nicht etwas erlaubt wird, was ethisch nicht ver-tretbar ist, sondern es um den angemessenen rechtlichenSchutz von Forschungsergebnissen, die die Forschung inlegitimer Weise erzielt hat, geht.Das Patentrecht ist – ich sagte es schon – wie kaum ein an-derer Rechtsbereich durch europäisches, aber auch durchinternationales Recht geprägt. Es geht vor allem darum,einen effektiven Patentschutz auf allen Gebieten derTechnik zur Verfügung zu stellen.Heute haben wir eine europäische Richtlinie umzuset-zen: die Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotech-
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Johannes Kahrs17350
nologischer Erfindungen. Dabei bleibt uns wenig Spiel-raum. Richtlinien sind – auch das ist zu betonen – gelten-des europäisches Recht und müssen umgesetzt werden. Indiesem Fall ist die Umsetzungsfrist bereits am 30. Juli desletzten Jahres abgelaufen.Zur Biopatentrichtlinie und ihrer Entstehung will ichnicht viel sagen, mir aber den Hinweis erlauben, dass ihrauch auf der europäischen Ebene – insbesondere im Eu-ropäischen Parlament – eine intensive Diskussionvorangegangen ist. Man kann den Abgeordneten des Eu-ropäischen Parlamentes mit Sicherheit nicht die Ernsthaf-tigkeit ihres Bemühens absprechen.Die europarechtliche Verpflichtung zur Umsetzungvon Richtlinien liegt auf der Hand. Die Biopatentrichtli-nie sollte aber, wie ich finde, auch wegen ihres Inhaltsbald umgesetzt werden, denn sie bringt – das will ich ganzdeutlich sagen – für das Patentrecht ganz erhebliche Vor-teile, auf die nicht verzichtet werden sollte. Das geltendePatentrecht bleibt zwar die wesentliche Grundlage für denRechtsschutz von Erfindungen; mit der Biopatentrichtli-nie und ihrer Umsetzung werden aber gerade für biotech-nologische Erfindungen mehr Rechtssicherheit undRechtsklarheit erreicht. Damit wird für die Nutzer desPatentsystems, insbesondere aber auch für unsere For-schung und für unsere Industrie, im rechtlichen Bereichein verlässlicher Rahmen geschaffen.Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten der EU vor,dass sie bestimmte und fundamental wichtige Patentie-rungsverbote in ihre Patentgesetze aufnehmen müssen.Dabei geht es um die gebotenen ethischen Grundsätze, diedie Würde und Unversehrtheit des Menschen gewährleis-ten. Auch das ist nichts Neues; aber ich denke, es war ge-rade dem europäischen Gesetzgeber wichtig, dass diewichtigsten Verbote in der Richtlinie und damit später inden nationalen Gesetzen genannt werden. Der wichtigstedieser Grundsätze ist sicher der, wonach der menschlicheKörper in allen seinen Phasen – seiner Entstehung undEntwicklung – nicht patentierbar ist.
Die Biopatentrichtlinie dient also vor allem der Konkreti-sierung der Grundsätze der Ethik und Menschenwürde fürdas Patentrecht. Es ist unser Ziel, dass diese Grundsätzebald auch in unserem deutschen Patentrecht ausdrücklichverankert werden.Wir wollen – weil wir wissen, dass das notwendig ist –die Entwicklung genau beobachten. Die Bundesregierunghat im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Ge-setzes klargemacht, dass sie die Beobachtung der künfti-gen Entwicklung ernst nimmt. Zudem ist die Kommis-sion zur Berichterstattung aufgefordert – wozu es ja indiesem Jahr kommen wird. Darüber hinaus sind wir vonunserem Hause aus an die Europäische Kommissionherangetreten, um mit ihr in einen Meinungsaustauschüber eine Verbesserung und Präzisierung der Richtlinieeinzutreten.Wir wissen, dass es im Moment ein Verfahren vor demEuropäischen Gerichtshof gibt. Genau vor einer Wochehat der Generalanwalt dafür plädiert, die Nichtigkeits-klage zweier Staaten der Europäischen Union abzuleh-nen. Ich denke, dass die Begründung, die er genannt hat,auch für uns von Bedeutung ist. Er hat nämlich gesagt, eshandele sich bei der Richtlinie nicht um eine Neuerfin-dung des Patentrechts, sondern um eine Weiterentwick-lung;
in der Richtlinie würden Grenzen neu definiert.Ich bin sicher, dass wir diese Frage in diesem Hauseweiterhin kontrovers, aber ernsthaft diskutieren, und be-danke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-
Fraktion erteile ich dem Kollegen Norbert Hauser das
Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Dein Gen gehört mir.“ Die Möglichkeit, dassdieser Satz einmal Wirklichkeit werden könnte, darf nichtam Ende der Beratungen über die Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie in deutsches Recht stehen.
„Genpatente als Blankoscheck für die Ausbeutungnatürlicher Güter“, so formulierte Jeremy Rifkin seine Ab-lehnung. „Genpatente sind notwendige Voraussetzungenfür die Forschung in der Medizin“, heißt es von der ande-ren Seite. Damit sind die Fronten abgesteckt.Wir haben uns zu fragen: Müssen wir, sollen wir, dürfenwir die Richtlinie mit dem Gesetz, dessen Entwurf uns dieBundesregierung vorgelegt hat, umsetzen? Art. 15 – dasklang eben an – hat die Umsetzung bis zum 30. Juli 2000gefordert. Das Verfallsdatum ist also längst überschritten.Das Justizministerium – das ist gerade noch einmal bekräf-tigt worden – hat erklärt, eine Aussetzung verstoße gegeneuropäisches Recht. Im Übrigen sei die Richtlinie im Prin-zip bereits geltendes Recht.Nur Großbritannien, Irland, Dänemark und Finnlandhaben die Richtlinie umgesetzt. Die Niederlande habeneine Nichtigkeitsklage eingereicht. Italien hat sich ange-schlossen. Frankreich hat die Umsetzung in nationalesRecht zurückgestellt, weil es die Patentierung menschli-cher Gene mit der Menschenwürde für unvereinbar hält.
Es gibt also offenbar in den meisten Ländern der Euro-päischen Union Bedenken, die auch der Bundesrat teiltund so zum Ausdruck gebracht hat:Die bahnbrechenden Fortschritte in der Entschlüsse-lung der Erbanlagen des Menschen und anderer Le-bewesen und die anhaltende Diskussion in einerReihe von Mitgliedstaaten der EU geben aber deut-liche Hinweise darauf, dass das auf diesem Wege
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Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick17351
umzusetzende europäische Patentrecht in einerReihe von Punkten noch keine endgültigen Antwor-ten auf die Herausforderungen des neuen Technolo-giebereichs gefunden hat.Ebenso denkt offensichtlich die Mehrheit in der En-quête-Kommission „Recht und Ethik der modernen Me-dizin“, die uns einen Teilbericht mit der Überschrift„Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie“vorgelegt hat.Sie, Herr Staatssekretär, haben gerade noch einmal da-rauf hingewiesen, durch die Richtlinie werde kein beson-deres und auch kein neues Patentrecht geschaffen. DieBiopatentrichtlinie schaffe größere Rechtsklarheit undRechtssicherheit und führe die ethischen Grenzen derPatentierung ins Bewusstsein und benenne sie konkret.Die meisten der in neun Eckpunkten aufgestellten Forde-rungen der Enquête-Kommission seien ja bereits seit vie-len Jahren im deutschen Recht verwirklicht – ich fragemich, was die Enquête-Kommission hierbei übersehenhat –, andere Eckpunkte würden mit der Umsetzung derBiopatentrichtlinie deutsches Recht.Das klingt gut, trägt aber offensichtlich nicht; denngleichzeitig heißt es – Sie haben das heute noch einmalbekräftigt –, auch die Bundesregierung wolle eine Über-prüfung der Reichweite des Stoffpatents. Also kann es mitder Klarheit und Rechtssicherheit so weit nicht her sein.Dieser Eindruck wird auch durch den Gesetzestextselbst erhärtet. § 1a Abs. 1 Patentgesetz soll lauten:Der menschliche Körper ... sowie die bloße Ent-deckung seiner Bestandteile ... können keine paten-tierbaren Erfindungen sein.So weit, so gut. In Abs. 2 heißt es aber:Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers...kann eine patentierbare Erfindung sein...Dies gilt ohne jede Einschränkung, wie sie etwa fürGene gilt. Nur für sie fordert Abs. 3 die Angabe der Funk-tionen bei der gewerblichen Anwendbarkeit.Das ist wie Feuer und Wasser. Was gilt denn nun? Istder menschliche Körper patentierbar oder ist er nicht pa-tentierbar?
Die katholischen Bischöfe haben in einer Stellung-nahme dazu erklärt:Diese Vorschrift widerspricht der Würde des Men-schen und dem daraus folgenden Grundsatz, dassmenschliches Leben nicht patentiert werden darf.Die Regelung– gemeint ist § 1 a Abs. 2 Patentgesetz –steht zudem in sachlichem Widerspruch zu § 1aAbs. 1 PatG, der den menschlichen Körper ausdrück-lich von der Patentierung ausnimmt.Ein weiteres Beispiel: In § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Entwurfswird die Verwendung von menschlichen Embryonen zuindustriellen oder kommerziellen Zwecken ausdrück-lich ausgeschlossen. So weit wäre dies noch eine unmiss-verständliche Regelung. Jedoch schränkt der Gesetzent-wurf selbst in seiner Begründung mit Hinweis auf denErwägungsgrund 42 der EU-Patentrichtlinie ein, dass da-runter nicht solche Erfindungen fallen, „die therapeuti-sche oder diagnostische Zwecke verfolgen und auf denmenschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewendetwerden“. Dies würde bedeuten, dass Forschungsergeb-nisse an Embryonen oder auch Stammzellen, die der gen-technischen Therapierung eines Embryos dienen, paten-tierbar wären. Meine Damen und Herren, dies ist einerstaunliches Ergebnis vor dem Hintergrund der bundes-weit geführten Ethikdiskussion.Aber es gibt darüber hinaus auch Unklarheit in einemethisch wesentlich unproblematischeren Bereich, nämlichin der Landwirtschaft: Es ist nicht abschließend geklärt,ob ein durch Auskreuzung in den Patentschutz gelangen-des Erntegut der Nachbauregelung unterliegt, was fürzahlreiche Landwirte weit reichende und kostenträchtigeFolgen bis hin zu einem unwissentlichen Verstoß gegendas Patentrecht hätte. Klarheit und Rechtssicherheit? DieAntwort ist wohl eher Nein.Es lohnt sich also, innezuhalten. Aber es reicht nicht– wie Sie, Kollege Pick, es anlässlich der Debatte am10. Mai getan haben – die Frage nur nach den „Voraus-setzungen einer Patentierbarkeit von Genen, Gensequen-zen und Teilen von Gensequenzen“ zu stellen. Die Fragelautet grundsätzlicher: Dürfen überhaupt Gene, dürfenBestandteile des menschlichen Körpers, darf die Naturpatentiert werden? Oder kommerziell gefragt, wie es derin letzter Zeit oft gescholtene Professor Dr. Winnackerausdrückte:... wem denn am Ende das menschliche Genomgehört, den Investoren, den diversen Biotechfir-men ... der Öffentlichkeit?„Oder der Wissenschaft?“, ließe sich hinzufügen.Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärzte-kammer, hat die Antwort so formuliert:Das genetische Erbe der Menschheit ist Allgemein-gut und keine Handelsware.Dies sei auch nicht beabsichtigt, wenden die Befür-worter ein und verweisen auf den Entwurf des § 1 a Abs. 3.Danach sei eine Patentierung nur möglich, wenn „in derAnmeldung die gewerbliche Anwendung konkret unterAngabe der von der Sequenz oder Teilsequenz erfülltenFunktion beschrieben“ werde. Damit seien Vorratspa-tente oder spekulative Patente ausgeschlossen, die Wis-senschaft könne ungehindert forschen und diejenigen, dieGeld in die Forschung gesteckt hätten, könnten ihrenwohlverdienten Nutzen daraus ziehen. Vorratspatenteoder spekulative Patente werden jedoch nicht ausge-schlossen. Dazu noch einmal Professor Winnacker:Gene und ihre Produkte können nämlich Teile ver-schiedener Eiweißnetzwerke in unseren Zellen sein,die sie, je nach Netzwerk, ganz unterschiedlicheFunktionen ausüben lassen.
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Norbert Hauser
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Er macht dann mit einer Frage, die die Biopatentricht-linie ebenfalls nicht beantwortet, deutlich, dass wir dieAntwort vor der Umsetzung der Richtlinie in nationalesRecht kennen sollten:Sollen die Entdecker einer einzigen dieser Eigen-schaften zugleich auch die Rechte für bislang nichtentdeckte Anwendungen erhalten, die sich aus diesenBeobachtungen gegebenenfalls ableiten lassen?Die Antwort kann nur Nein lauten.Aber genau so sieht die Praxis des Europäischen Pa-tentamtes in München aus, das unter Berufung auf dieBiopatentrichtlinie Patente auf Gene erteilen will, wennfür ein Gen eine bestimmte Funktion angegeben werdenkann, diese Funktion bisher nicht bekannt war und einedaraus abgeleitete gewerbliche Anwendung beschriebenwird. Ein solches Stoffpatent, meine Damen und Herren,zieht nicht nur einen kommerziellen Schutzzaun um diebeschriebene gewerbliche Anwendung, ein solches Stoff-patent zieht einen kommerziellen Schutzzaun um das Genan sich.
Da sind wir wieder: „Dein Gen gehört mir.“Ebenso wenig wie ein Wissenschaftler für Elementewie Sauerstoff, Blei, Chlor oder Zink geistiges Eigentumreklamieren kann, dürfen Gene, Gensequenzen oder Teil-sequenzen zum geistigen Eigentum werden. Gene sindkeine Rohstoffe und Patentbehörden keine Bergämter fürgenetische Bodenschätze.
Genetische Informationen sind keine Software, an denenUrheberrechte begründet werden dürfen. Dies gilt es klar-zustellen, bevor die Biopatentrichtlinie umgesetzt wird.
Wie bei der Stammzellenforschung sollten wir unsdazu die notwendige Zeit nehmen. Die Bundesregierunghat ihrerseits die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in Brüsseldie notwendigen Klarstellungen erfolgen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehrgeehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wir reden über die Biopatentrichtlinie. In der „FAZ“heißt es: Jeder kennt die Goldmine und holt sich etwas he-raus. Darauf werde ich dann noch zurückkommen.Eine Änderung des geltenden Patentrechts ist jeden-falls überfällig. Das deutsche Patentrecht datiert von 1877und ist auf die Probleme biotechnologischer Forschungund Entwicklung tatsächlich in keiner Weise vorbereitet.Gleichzeitig schafft das Europäische Patentamt derweildurchaus problematische Fakten, denen wir parteiüber-greifend keinesfalls zustimmen, wie die gerade gesternvon Greenpeace dargestellte Patentierung eines so ge-nannten Brustkrebsgens, ein Patent, das – an eine Firmavergeben – dann gleichzeitig auch das Monopol auf alleanderen, von ihr nicht konkret beschriebenen Funktionendieses Gens halten kann. Das zeigt: Eine sowohl ethischwie auch rechtlich deutliche Grenzziehung ist in diesemBereich dringend geboten.Eine Novellierung des Patentgesetzes ist jedenfallsbesser als der jetzige Zustand; das muss man zugeben.Aber in diese Debatte fließt ein, dass seit wenigen Mo-naten bekannt ist, dass die Menschen – im Übrigen auchTiere und Pflanzen – insgesamt nur über weniger Geneals bisher angenommen verfügen. Seitdem ist auch klar,dass ein einziges Gen nicht nur wenige Proteine kodiert,sondern viele Hunderte, möglicherweise sogar Tau-sende.Wenn nun ein Gen aufgrund seiner beschriebenen Ei-genschaften patentiert würde, dann wäre nach derzeiti-gem Stand der Richtlinie gleichzeitig die Nutzung Hun-derter anderer Eigenschaften exklusiv in der Hand desPatentnehmers. Die Gefahr des Entzugs von für das All-gemeinwohl wichtigem Wissen, der Monopolisierungund der daraus resultierenden negativen Folgen für dieForschung und die Gründung junger Unternehmen liegtauf der Hand.
Viele Ethiker, Ärzte und Forscher haben uns wiederholtdarauf hingewiesen.Diese Gefahr besteht trotz Forschungsfreiheit, trotz Li-zenzmöglichkeiten, trotz Zwangslizenzmöglichkeiten,weil faktisch der ökonomische Anreiz für eine solche For-schung nicht mehr vorhanden ist und sich möglicherweiseauch die Investitionen für teure Forschungsaktivitätennicht mehr lohnen. Es ist auch kein wirkliches Argument,dass es in den USA noch sehr viel schlechter ist.
Wir stimmen also mit der Enquête-Kommission darinüberein, dass Stoffpatente grundsätzlich nicht geeignetsind, den Besonderheiten des biologischen Wirkungszu-sammenhangs der Gene Rechnung zu tragen.
Das Problem besteht doch in Folgendem: Man kann sa-gen, das bisherige Patentrecht umfasst eben auch Stoffpa-tente; man muss konsequent sein. Man muss aber auch be-denken, dass Stoffpatente in Deutschland erst seit 1967
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Norbert Hauser
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überhaupt erlaubt sind. Erst nach etwa 200 Jahren chemi-scher Forschung und Produktion war die Zeit reif, um einesolche Entwicklung zuzulassen. Ich habe in diesem Arti-kel der „FAZ“ interessiert nachgelesen, dass die Patent-rechtler selbst dieser Entwicklung kritisch gegenüber-standen.Die Zukunft darf also nicht schon heute verbaut wer-den, denn wir stehen bei der Biotechnologie schlichtwegam Anfang einer solchen Entwicklung und nicht an derenEnde.
Es muss Präzisierungen der neuen Regelung geben, dieeine möglichst weit gehende Einschränkung der Patenter-teilung auf eine bestimmte Funktion oder ein Verfahrenerreichen kann.Auch wenn ich nur noch sehr wenig Redezeit habe,möchte ich kurz auf diesen „FAZ“-Artikel zurückkom-men. Darin kommen drei Experten des Patentamtes zuWort, Herr Schatz, Herr Moufang und Herr Claes, die sichsehr kritisch äußern. Herr Claes sagt: „Meistens sind diePatentansprüche sehr weit gefasst ...“, und fährt fort, dass„auch Ansprüche auf noch unbekannte Faktoren“ ange-meldet werden. Sie widmen sich vor allem der Frage – ichzitiere Herrn Schatz –,ob nicht schon der absolute Stoffschutz, wie er heutepraktiziert wird, an sich ein zu umfassender Claimist, weil er Rechte an Folgeentwicklungen abdeckt.Herr Schatz sagt weiter:Wir könnten uns auch einen Patentschutz rein auf diekonkrete Anwendung bezogen vorstellen.
Eine solche Haltung zieht sich durch die gesamte Diskus-sion, die sehr differenziert geführt wird.Herr Moufang führt aus:Immer mehr Unternehmen sehen, dass ein zu weiterPatentschutz den Wettbewerb nicht fördert, sonderthemmt.Sie weisen auch darauf hin, dass die Kompetenz letztlichim Bereich des nationalen Rechts liegt. Zum Schluss be-merkt Herr Schatz:Das Patentrecht ist nicht dafür da, maximale Ge-winne zu erzielen, sondern spezifische Erfindungenzu schützen, zu belohnen und der Öffentlichkeit zurVerfügung zu stellen, damit andere damit auch um-gehen können. Für mich steht das Patentrecht imDienst der Allgemeinheit.Ich denke, das ist eine sehr ernst zu nehmende Ein-schätzung dieser drei hochrangigen Vertreter des Patent-amtes. Sie bietet Anlass genug für eine grundsätzlicheKritik und Überarbeitung. Das ist auch die Haltung derFraktion der Grünen. Wir sind uns mit der Ministerin ei-nig, dass wir hier Erfindungen und nicht Entdeckungenbelohnen möchten. Wir melden unseren Änderungsbedarfin diesen Punkten noch einmal an. Wir sehen einen Hand-lungsbedarf bei der Beschränkung des Schutzumfangesder Patente, der wirksamen Ausgestaltung des Embryo-nenschutzes, der Sicherung der Persönlichkeitsrechte Be-troffener, der Sicherheit für Entwicklungsländer und indi-genen Völker gegen Biopiraterie und der Absicherunglandwirtschaftlicher Nutzung von Saatgut und Tierrassen.Diese Bereiche werden in der EU-Richtlinie sehr wider-sprüchlich geregelt. Natürlich werden wir auch konkreteAnträge für die Neugestaltung der EU-Patentrichtlinieeinreichen. Wir werden zur Klärung all dieser Fragen ge-meinsam eine Anhörung durchführen und sicherlich nochintensive Diskussionen führen.Danke schön.
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich das Wort dem Kollegen Professor Edzard
Schmidt-Jortzig.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der gigantischenZeit von 3,5 Minuten, die mir ganz streng zugeteilt wurde,will ich mit einer eindeutigen Feststellung beginnen. ImNachhinein werde ich diesbezüglich aber auch einige Vor-behalte äußern.Die F.D.P. ist nach wie vor der Ansicht, dass die Um-setzung der EU-Biopatentrichtlinie eine wünschenswerteModernisierung und Präzisierung des Schutzes geistigenEigentums auf dem Gebiet der Gentechnologie bedeutenkann. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus – ichhabe das immer wieder betont –, mit dem betreffendendeutschen Gesetz die vorhandenen Gestaltungsspiel-räume offensiv zu nutzen. Das bezieht sich – wegen derKürze der Zeit muss, wie gesagt, alles sehr global blei-ben – auf zweierlei. Beide Dinge sind auch schon zurSprache gekommen.Zum einen geht es um die Schärfung und Revitalisie-rung des patentrechtlichen Grundgedankens, das heißt,es muss wieder klarer herausgearbeitet werden, dass wirk-lich nur geistige Innovationen, also Erfindungen,
nicht aber bloße Neufeststellungen oder clevere Ge-schäftsideen, also im weiteren Sinne Entdeckungen mitAusschließungsanspruch und Vergütungsvorbehalt unterSchutz gestellt werden.
Das ist bekanntlich in der Entwicklung der Patentierungs-praxis ein wenig aus dem Blick geraten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Ulrike Höfken17354
Zum anderen muss durch das Gesetz den spezifischenGefahren Rechnung getragen werden, die sich bei geneti-schen Patentierungen auftun können, sei es, dass ethi-sche Grenzen überschritten werden, sei es, dass medizi-nisch-wissenschaftlicher bzw. therapeutischer Fortschrittblockiert würde, der möglichst im vollen Umfang allenMenschen zugute kommen soll. Hier bietet die EU-Bio-patentrichtlinie bzw. der vorgelegte Umsetzungsentwurfgute Ansätze, die jedoch noch ausgebaut werden sollten.Wir haben darauf im Minderheitenvotum des Teilberichtsder Enquête-Kommission in der bekannten Drucksacheschon hingewiesen.Wegen der nur noch 1,47 Minuten, die mir zur Verfü-gung stehen, will ich nur noch auf zwei einzelne Aspekteeingehen. Den ersten kann ich relativ pauschal abhandeln:Ich halte es für wenig zielführend, dass die Bundesregie-rung in keiner Weise auf die Parlamentsdebatte am10. Mai dieses Jahres zu reagieren bereit zu sein scheint.
Zur heutigen ersten Lesung steht jedenfalls unverändertder Gesetzentwurf in der Fassung vom 23. März zur Dis-kussion. Ich hoffe, das ist nur der Geschäftsordnung ge-schuldet und stellt noch keine inhaltliche Positionierungdar. Ansonsten könnte sich das als fahrlässig erweisen.Zweitens. Einen eklatanten Widerspruch – Herr Kol-lege Hauser hat schon darauf hingewiesen – bietet derneue § 1 a des Entwurfs des Patentgesetzes. In Abs. 1heißt es – ich wiederhole das –:Der menschliche Körper … sowie die bloße Ent-deckung eines seiner Bestandteile … können keinepatentierbaren Erfindungen sein.In Abs. 2 heißt es dann:Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers… kann eine patentierbare Erfindung sein, ...Was soll denn nun gelten?
– Die Einschränkung in Abs. 3, so haben Sie gesagt, seinur für einen ganz kleinen Ausschnitt gedacht. – Ist mög-licherweise der hier geäußerte Verdacht doch begründet,dass der Widerspruch gewollt ist, damit dann umso besserim Trüben gefischt werden kann? Ich hoffe es nicht.Ich hoffe aber sehr, dass wir im Laufe der Beratungennoch Verbesserungen am Gesetz vornehmen können;sonst sehe ich wirklich schwarz für diesen an sich gutenAnsatz, der da geboten wird.Danke sehr.
Für die PDS erteile
ich das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einge-rahmt von so viel geballtem juristischen Sachverstand sollich jetzt mit meinem schlichten Gemüt in dieser Debatteeine Meinung äußern. Dabei fällt mir zunächst einmal auf,dass die Regierung offensichtlich gemerkt hat, dass sieauf einem falschen Wege ist. Sie sagt nämlich: Nachdemwir dieses Gesetz verabschiedet haben, werden wir uns inBrüssel darum kümmern, dass es geändert wird. Aberwenn ich einen Weg als falsch erkannt habe, würde ichdoch erst den Fehler beseitigen und dann versuchen, eineRichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Dann könnteman vielleicht all die Widersprüche, die die KollegenHauser und Schmidt-Jortzig dankenswerterweise aufge-dröselt haben, von vornherein auflösen.Weiterhin stelle ich mit meinem schlichten Gemüt fest,dass sich die Bundesregierung gegenüber dem Bundestagsozusagen wie ein Übersetzungsbüro verhält. Es wirdnämlich die von der EU-Kommission erfundene Richtli-nie genommen, ins Deutsche übersetzt und dann gesagt:Das ist jetzt deutsches Recht. Ich finde, das deutsche Par-lament hätte anderes verdient, als bloße Übersetzungenvorgelegt zu bekommen. Wir haben als gesetzgeberischesOrgan dieses Staates den Anspruch auf Gestaltung. Wirsollten diesen Einfluss auch geltend machen und nicht sotun, als ob wir bloß Vollzugsorgan von irgendjemand an-ders wären.
Außerdem stelle ich mit meinem schlichten Gemütfest, dass sich die Pharmakonzerne einen Dreck um ir-gendwelche ethischen oder patentrechtlichen Dinge küm-mern. Die machen das einfach. Gerade geht wieder durchdie Presse, dass ein Brustkrebsgen patentiert worden ist.Nun erkläre mir bitte einmal jemand, welchen Fortschrittdas für die Menschheit bringt, dass jemand jetzt dieRechte hat, alles kommerziell zu verwerten, was mit die-sem Brustkrebsgen zusammenhängt! Gewiss keinen fürdie Frauen, die Angst um ihre Brüste haben.Der entscheidende Punkt für mich ist – das will ichauch im Namen der PDS ganz deutlich sagen –, dass wirdann, wenn wir wirklich wollen, dass die Würde desMenschen unantastbar ist, überhaupt nichts von ihm un-ter das Eigentumsrecht von irgendjemand stellen kön-nen. Ich weiß nicht, wo da die Gesetzeslücke ist. In wel-chem bisherigen Gesetz steht, dass der Mensch Eigentumvon irgendjemand sein kann? Soweit ich mich entsinne,ist die Sklaverei abgeschafft. Das war das letzte Mal, dasses Eigentumsrecht auf Menschen gab. Ich finde, dass wires nicht nötig haben, jetzt die Sklaverei über die Genewieder einzuführen.Ich hatte die Aufgabe, in noch kürzerer Zeit als der Kol-lege Schmidt-Jortzig – ich habe nur drei Minuten, und Siehatten die sagenhafte Zeit von 3,5 Minuten – die Positionder PDS darzustellen. Ich weiß nicht, ob es mir gelungenist. Ich hoffe aber, Ihnen ist klar: Wir lehnen jeglicheEigentumsansprüche auf Menschen oder irgendwelcheTeile von ihnen ab. Das soll auch so bleiben.Ich danke Ihnen.
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Dr. Edzard Schmidt-Jortzig17355
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Margot von Renesse, der wir für ihren
Arm gute Besserung wünschen.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wie es sich gehört, legt dieBundesregierung als Vertragspartner der EuropäischenUnion – nicht mehr ganz fristgemäß, aber in Respekt vordem Parlament und seinen bisherigen Debatten zurBioethik bzw. zum Patentrecht – ihren Gesetzentwurf zurUmsetzung vor. Auch ich, Herr Seifert, bin der Meinung,dass dies nicht das Ende der Fahnenstange ist. Trotzdemfinde ich es richtig – genau wie die Bundesregierung –,dass man die EU-Patentrichtlinie umsetzt; denn sie stellteinen Fortschritt dar, der allerdings noch nicht an seinEnde gelangt ist.Herr Schmidt-Jortzig hat das Minderheitenvotum derEnquête-Kommission zitiert. Darin steht – wer Ohren hatzu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der lese –,dass alle Mitglieder der Enquête-Kommission der Auf-fassung sind, dass das Patentsystem beim Biopatent anseine Grenzen stößt. Dieses System als solches muss ver-ändert und angepasst werden, möglicherweise auch an an-dere Teile der Wissenschaft und Technik, nämlich derInformatik. Das kann sein.Das ändert aber nichts daran, dass es nur internationalfortgeschrieben werden kann. Denn unser nationales Pa-tentrecht, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist inzwischenlängst die Facette eines internationalen Geflechts, ausdem wir uns beim besten Willen, selbst wenn wir wollten,nicht ausklinken können. Denn – das hat uns Herr vanRaden bei der Anhörung deutlich gemacht – wenn unserPatentrecht nicht mit der EU-Patentrichtlinie kompatibelist, wird der Senat des entsprechenden Patentgerichts dasbeim Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen. Unddann bekommen wir den Salat. Jetzt können wir es nochinhaltlich verändern.
Wenn der EuGH nach der Patentrichtlinie verfährt, dannist es vorbei. Dann bekommen wir es per Ukas durch diedritte Gewalt aufgebrummt. Das möchten wir vermeiden.Wir möchten unser nationales Patentrecht innerhalbder EU-Patentrichtlinie so anpassen, dass wir so weit wiemöglich, Frau Höfken, auf das Problem eingehen, dasmeines Erachtens die Systemgrenze markiert, nämlich dieGefahr der Überbelohnung dessen, der insbesondere aufdem Gebiet der Naturstoffe ein Stoffpatent erhält. Daswird vor allem an den Genen deutlich, weil sie multi-funktional sind. Mit einer Funktion alleine das Stoffpatentzu gewähren birgt im Ergebnis die Gefahr der Überbeloh-nung. Deswegen sollten wir so weit wie möglich in dievon mir dargestellte Richtung gehen. Dabei hoffe ich aufdie Hilfe der Patentrechtler, dass sie uns sagen, wie wirdas Stoffpatent auf die gefundene Funktion einschränkenund nichts hinzugeben. Das wäre ein Fortschritt, denndarin liegt ein ethisches Problem.Es liegt jedoch kein ethisches Problem – das sage ichmit aller Deutlichkeit – in der Patentierung von Natur-stoffen, und zwar auch bei Genen. Es gibt zwei Gründe,das anzunehmen. Der eine Grund ist die berühmte Formelvon Greenpeace – ich habe das Opus Dei der Naturreli-gion genannt –: Kein Patent auf Leben. Welche Gleich-setzung des Genoms mit Leben! Dies kann ich aus ethi-schen Gründen nicht akzeptieren. Ich habe das bereits inder Debatte über das Patentrecht gesagt. Was ist nicht al-les mit Leben gleichgesetzt worden: Blut, Herz, Gehirn.Man hat sich immer geirrt. Das Leben ist viel komplexerals das Genom.
Es ist im Ergebnis gegen alle abendländische Kultur, dasLeben mit dem Genom gleichzusetzen. So materialis-tisch, so biologistisch ist insbesondere menschliches Le-ben nicht. Das hat übrigens auch die Genforschung sehrdeutlich gemacht.Es kommt darauf an, dass wir nicht die Entdeckungund die Vermehrung des Wissens patentieren – das istnämlich der Sinn dieser scheinbar so widersprüchlichenSätze, die hier zweimal zitiert worden sind –, sondern dieVermehrung des Könnens. Das ist in der Tat ein Problembeim Genom, nämlich die Differenz zu den bisherigen Pa-tentierungsmöglichkeiten für Naturstoffe, nur weil mansie findet und isoliert.Insoweit ist die Patentrichtlinie Gott sei Dank tatsäch-lich eine Einschränkung. Denn das muss mit aller Deut-lichkeit gesagt werden: Die EU-Patentrichtlinie und, ihrfolgend, das nationale Recht, wenn wir sie umsetzen, er-finden nicht das Patent im Biotechnologiebereich, son-dern sie schränken es ein – möglicherweise nicht genug,Frau Höfken. Möglicherweise müssen wir und könnenwir mehr tun. Aber dass wir in Richtung von Greenpeaceeinen Gewinn machen, wenn wir sie nicht umsetzen unddamit das bisherige Patentrecht in seiner viel größerenReichweite behalten – wonach sogar, Frau Höfken, dieZüchtung patentierbar ist, was seit längerem in Deutsch-land üblich ist, das wird jetzt mit der Patentrichtlinie aus-geschlossen und so gehört sich das –, wage ich zu be-zweifeln.Es ist wie bisher ausgeschlossen, dass das reine Findeneines Naturstoffes schon zu einem Patent führen kann.Man muss nämlich wissen, was man damit machen kann.Das ist der Sinn dieses zweiten Satzes: Patentierbar ist nurder Naturstoff – auch der, der im Körper des Menschen vor-zufinden ist –, mit dem ein Erfinder etwas machen kann.Damit ich das auch noch deutlich sage: Das Patent gibtnie ein dingliches Recht an diesem Naturstoff. Dem Pa-tentinhaber gehört nicht, was patentiert wird. Was ihmgehört, ist seine Idee. Ihr Genom bleibt Ihres und Sie brau-chen keine Lizenz zu zahlen, wenn Sie mit Ihrem GenomKinder haben. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.Die interessante Geschichte für den Erfinder ist, dass eretwas damit machen kann, was in der Natur nicht vor-kommt. Davon lebt und damit überlebt der Mensch. DieNatur ist dem Menschen nicht wohlgesonnen. Sie ist
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gleichgültig, manchmal feindselig. In der Natur bestehenwir nur als Wesen, die kein Fell haben, um sich zu wär-men, keine Klauen, um Beute zu schlagen, indem wir dieStoffe der Natur und die Kräfte der Natur erkennen undneu montieren. Das ist unser Gestaltungsauftrag und demtragen wir Rechnung.
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfsauf Drucksache 14/5642 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt eskeine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenWolfgang Börnsen , Gunnar Uldall,Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUZukunft der deutschen Messewirtschaft in derGlobalisierung– Drucksachen 14/4816, 14/5581 –Dazu liegt ein Entschließungsantrag der CDU/CSUvor.Es ist zwar eine Redezeit vorgesehen, aber alle Redensind zu Protokoll gegeben worden.1) Deswegen eröffneich die Aussprache und schließe sie auch gleich wieder.Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6340 zur fe-derführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaftund Technologie und zur Mitberatung an den Ausschussfür Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, an den Haus-haltsausschuss, an den Auswärtigen Ausschuss und an denAusschuss für Tourismus zu überweisen. – Damit sind Sieeinverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Schmidbauer , Gudrun Schaich-Walch,Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD sowie der Abgeordneten KatrinGöring-Eckardt, Kerstin Müller , RezzoSchlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENZiele für die Qualitätssteigerung in der Diabe-tes-Versorgung– Drucksachen 14/4263, 14/6307 –Berichterstattung:Abgeordneter Horst Schmidbauer
Auch hierfür war eine Aussprache vorgesehen, aberalle Reden sind zu Protokoll gegeben worden.2) Deswe-gen eröffne und schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Gesundheit aufDrucksache 14/6307. Der Ausschuss empfiehlt, den An-trag auf Drucksache 14/4263 anzunehmen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Bei Gegenstimmen der CDU/CSU- und derF.D.P.-Fraktion ist die Beschlussempfehlung an-genommen.Nun rufe ich die Beratung des Tagesordnungspunk-tes 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen zu dem Antrag der
neter und der Fraktion der CDU/CSUErlaubnis zum Führen von Schienenfahr-zeugen– Drucksachen 14/4933, 14/6035 –Berichterstattung:Abgeordneter Wieland SorgeAuch dafür war eine Redezeit vorgesehen, aber die Re-den sind zu Protokoll gegeben worden.3) Deswegen er-öffne und schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen auf Drucksache 14/6035. Der Ausschussempfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4933 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen derCDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlungangenommen.Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung fürdie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damitsind Sie einverstanden.Ich hoffe, dass Sie alle noch die letzte halbe Stunde hierbleiben; denn diese Debatte ist ganz spannend. Ein Mit-glied des Bundesrates hat sich zu der späten Stunde nochzu uns gesellt.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Jus-tizsenatorin der Freien und Hansestadt Hamburg,Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit.
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Margot von Renesse17357
1) Anlage 42) Anlage 53) Anlage 6
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stundeist wirklich vorgerückt. Aber es stimmt, es ist ein sehr in-teressantes Thema. Ich danke Ihnen, wenn Sie diese Auf-merksamkeit trotz großer und berechtigter Ermüdungnoch aufbringen.Das Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte, wie wires genannt haben, ist aus unserer Sicht ein ganz wichtigerSchritt, um endlich etwas Neues und Zusätzliches für Op-fer, für Verletzte aus Straftaten zu schaffen. Der von unsim Rahmen der Hamburger Initiative erarbeitete und vomBundesrat über ein Jahr – damit sehr gründlich – berateneund dann beschlossene Gesetzentwurf sichert die Grund-lage für ein neues, einheitliches Konzept. Ich freue michsehr, dass es gelungen ist, im Bundesrat ein einstimmigesVotum aller 16 Länder für die Einbringung dieses Gesetz-entwurfes in den Deutschen Bundestag zu erreichen.
Dieses Ergebnis – das wissen wir alle – ist bei solchengrundlegenden Reformvorhaben eher selten. Es lässt unsalle hoffen, dass das Gesetz, dessen Inhalt ich gleich kurzskizzieren möchte, die noch ausstehenden Hürden imBundestag rasch und mit Bravour meistern kann. Wir wer-den natürlich gefragt, warum wir ein solches Gesetz brau-chen. Wir brauchen eine grundlegende Neubestimmungder Rolle des Verletzten im Strafprozess.
Nach wie vor ist das geltenden Recht im Hinblick aufdas Opfer, auf den Verletzten oder die Verletzte aus einerStraftat unübersichtlich und vor allen Dingen inkonsis-tent. Handlungsbedarf besteht insbesondere im Hinblickauf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staatesgegenüber den Verletzten. Die verfassungsmäßige Ord-nung des Grundgesetzes verpflichtet die staatlichen Or-gane bei einer Straftat natürlich zur Aufklärung des Sach-verhaltes. Sie verpflichtet auch dazu, den mutmaßlichenTäter in einem fairen Verfahren dem gesetzlichem Richterzuzuführen. Das alles ist selbstverständlich. Niemand willetwas daran ändern.Aber diese unsere Grundrechtsordnung verpflichtet diestaatlichen Organe auch – und zwar keineswegs nachran-gig, sondern mindestens in gleicher Weise –, sich schüt-zend und fördernd vor die Verletzten zu stellen, ihreRechte zu schützen und ihnen zu ermöglichen, ihre Inte-ressen wirksam, also justizförmig, und in angemessenerFrist durchzusetzen. Denn im Gegensatz zum Beschul-digten haben sie, die Verletzten, nur in den seltenstenFällen zu der Straftat und damit zur Störung des Rechts-friedens beigetragen und verdienen schon deshalb mindes-tens dieselbe Aufmerksamkeit und Fürsorge wie der Be-schuldigte.
Die notwendige sachangemessene Berücksichtigungder Interessen der Verletzten im Strafverfahren erhöht imÜbrigen nach unserer Erfahrung die Frieden stiftendeFunktion der Strafjustiz und ermöglicht damit zugleicheine bessere, eine effektivere Strafverfolgung. Da mehrals 90 Prozent aller Ermittlungsverfahren durch Anzeigenvon Privatpersonen in Gang gebracht werden, hängt dieeffektive Verbrechensbekämpfung langfristig von derBereitschaft der Verletzten, sich aktiv am Strafverfahrenzu beteiligen, ab.Ziel unseres Gesetzentwurfes – zur Erinnerung: eineseinstimmigen Entwurfes der Länderkammer – zur Stär-kung der Verletztenrechte ist es, ein aus vielen Elementenbestehendes ganzheitliches Konzept umzusetzen, in demdie Rolle der Verletzten nach einer Straftat grundsätzlichneu definiert wird.Ich will kurz verdeutlichen, worum es geht. Es gehtnämlich um drei Ebenen:Erstens. Wir wollen die Persönlichkeitsrechte der Ver-letzten besser schützen.Zweitens. Wir wollen die Verletzten im Strafverfahrenaktiver werden lassen als bisher.Drittens. Wir wollen den Verletzten den Weg zumSchadensersatz erleichtern.Zunächst einmal geht es also um die Persönlichkeits-rechte, die wir stärken wollen. Befragungen von Opfer-zeugen zeigen, dass mehr als die Hälfte von ihnen dieAuswirkungen eines Prozesses auf ihr Befinden im Nach-hinein negativ bewertet. Verbrechensopfer leiden nochMonate nach der Tat unter der Schwächung ihres Selbst-wertgefühls. Sie nehmen sich in der Prozesssituation alsschwach und unsicher wahr. Sie haben Ängste und kön-nen deshalb ihnen an sich zustehende Rechte oft nicht nut-zen.Dem wollen wir durch die Einführung einer Pflicht desGerichts vorbeugen, die Zeugen nicht nur über ihrePflichten, sondern auch über ihre Rechte zu belehren. Je-der Mensch, der je eine Zeugenladung bekommen hat,weiß, dass darin steht: Sie müssen kommen; wenn Sienicht kommen, können Sie bestraft werden. – Diese Be-lehrung ist zwar notwendig; aber wir wollen erreichen,dass nicht nur die Pflichten eines Zeugen in einer solchenLadung stehen, sondern zugleich auch Hinweise auf diewesentlichen Rechte, die ein Zeuge hat. Wir wollen, dassihm mitgeteilt wird, dass er nicht über alles aussagenmuss. Wir wollen vor allen Dingen, dass ihm mitgeteiltwird, dass er sich einen Beistand beschaffen darf, mit demer kommen kann. Das muss nicht, kann aber ein Rechts-anwalt sein.Zweitens wollen wir dieser Angstsituation des Zeu-gen durch eine verstärkte Verpflichtung des Gerichts zurRücksichtnahme auf das Schamgefühl von Zeuginnen beikörperlichen Untersuchungen vorbeugen. Dazu haben wirim Einzelnen Vorschläge gemacht.
Wir wollen die Videovernehmung von ängstlichen Zeu-gen ausbauen. Sie soll nicht nur bei Kindern, sondernauch bei Opfern sexueller Straftaten möglich sein. Darü-ber hinaus wollen wir einem Verbot der Herausgabe von
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Aufzeichnungen der Aussagen von Zeugen das Wort re-den. Wir wollen erreichen, dass solche Aufzeichnungennicht ohne Weiteres herausgegeben werden dürfen.Schließlich wollen wir – das schien uns besonderswichtig – die Rechtsstellung des Verletzten dadurch stär-ken, dass wir einem nicht anwaltlichen Zeugenbeistandmehr Rechte als bisher geben. Denn viele Zeugen fürch-ten sich und haben wegen ihrer innerlichen Verfassung garkeine Möglichkeit, einen Anwalt bzw. eine Anwältin zubeauftragen. Wenn sie das tun, sind sie schon geschützt.Aber es würde ihnen schon reichen, wenn sie eine Personihres Vertrauens, mit entsprechenden Rechten ausgestat-tet, mitbringen könnten.Die zweite Ebene. Wir wollen den Verletzten bzw. dieVerletzte im Strafverfahren aktiv werden lassen. DieZeugnispflicht im Strafverfahren – ich habe das ausge-führt – ist zwar ganz außerordentlich notwendig, weil im-mer noch das Zeugnis eines Verletzten das wichtigsteBeweismittel ist. Aber diese Situation ist für den Opfer-zeugen und für die Opferzeugin zugleich besonders belas-tend. Viele Verletzte beklagen ihre passive Rolle als Zeu-gen und vermissen insbesondere die Möglichkeit, ihreÄngste, ihre Wut, ihre Verletztheit – kurz: ihre Empfin-dungen – in das Verfahren einzubringen. Die aktive Teil-nahme des Verletzten am Verfahren durch Wahrnehmungeigener Rechte trägt wesentlich zum Abbau dieser Belas-tung bei.Wir wollen erreichen, dass der Verletzte in solchen Fäl-len mit dem Beschuldigten auf gleicher Augenhöhe ste-hen kann, dass ihm vom Gesetz so viel Selbstbewusstseinermöglicht wird, dass er sich gleichberechtigt neben demSchädiger wiederfindet. Zudem führt eine solche Stär-kung des Verletzten im Verfahren zu einer besseren Ak-zeptanz des Verfahrens, insbesondere auch aufseiten derGeschädigten.Die aktivere Teilnahme soll durch Stärkung der Rechteder Verletzten erreicht werden, insbesondere durch einePflicht des Gerichts zur Mitteilung des Termins gegen-über solchen Verletzten, die nebenklageberechtigt sind.Das Gesetz sagt genau, wann jemand nebenklageberech-tigt ist; es gibt einen Katalog von Taten. Aber es gibt keinePflicht des Gerichtes, einem nebenklageberechtigten Ver-letzten, der sich noch nicht erklärt hat, mitzuteilen, wanndie Hauptverhandlung ist. Diese Pflicht setzt erst ein,wenn die Nebenklage erklärt ist. Wir meinen: Das mussviel früher einsetzen, damit der Verletzte sich überlegenkann, ob er zur Hauptverhandlung geht und ob er viel-leicht einem länger währenden Verfahren beitritt.
Wir wollen deswegen auch erreichen, dass der neben-klageberechtigte Verletzte, auch wenn er die Nebenklagenicht oder noch nicht erklärt hat, im Verfahren anwesendsein darf. Wenn das Verfahren für die allgemeine Öffent-lichkeit zugänglich ist, darf er das sowieso. Aber er sollauch dann anwesend sein dürfen, wenn die Öffentlichkeitnicht anwesend sein darf. Schließlich wollen wir errei-chen, dass die Nebenklage auch im Sicherungsverfahrenzulässig sein soll.Die dritte Ebene unseres Vorschlages betrifft die bes-sere und schnellere Erreichung des Schadensersatzes.Kriminologische Untersuchungen zeigen, dass für dieOpfer von Straftaten ein rascher und unkomplizierter Aus-gleich ihrer materiellen Schäden besonders wichtig ist. Esist deshalb nötig, die gerichtliche Möglichkeit zum Scha-densersatz zu verbessern. Für viele Verletzte ist die Tren-nung – auf der einen Seite die Durchsetzung des staat-lichen Strafanspruchs und auf der anderen Seite dasZivilverfahren, in dem sie sich selbst um ihren Schadens-ersatz bemühen müssen – weder nachvollziehbar nochaushaltbar.Die Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte,vermögensrechtliche Ansprüche bereits im Strafverfahrengeltend zu machen, stärkt den Verletzten im Kernbereichseiner legitimen Interessen. Außerdem werden natürlichauf diese Weise Ressourcen des Gerichtes geschont, wenndiese Fragen in einem Verfahren geklärt werden.Wir haben deshalb – so steht es in unserem Gesetzent-wurf – die Einführung eines sofort vollstreckbaren straf-rechtlichen Wiedergutmachungsvergleichs vorgeschla-gen, der direkt im Strafverfahren geschlossen wird. Auchhaben wir ein Anerkenntnisurteil im Strafverfahren vor-geschlagen. Das kann auch ein Grundurteil sein. Es gehtja oft darum, dass die Entschädigung noch nicht bis aufden letzten Pfennig ausgerechnet ist. Aber es ist wichtigklarzumachen: Hier wird Schadensersatz geschuldet.Schließlich schlagen wir die Einschränkung der bishe-rigen Befugnis des Strafrichters im Adhäsionsverfahren– so heißt dieses Verknüpfungsverfahren – vor. Heutekann nach geltendem Recht ein Strafrichter sagen: Ichführe kein Adhäsionsverfahren durch; ich behandle denzivilrechtlichen Teil der Angelegenheit nicht, weil das denAbschluss des Strafverfahrens verlängern kann. – DieseErklärung kann sehr schnell abgegeben werden, sodass esauf diese Weise kaum zu einem Adhäsionsverfahrenkommt. Wir schlagen vor: Ein Richter, der dieses Adhäsi-onsverfahren nicht durchführen möchte, muss begründen,warum er es nicht tut. Wir sind sicher, dass es auf dieseWeise sehr viel häufiger zu einem Adhäsionsverfahrenkommen wird.
Ich werbe für dieses Länderkammergesetz, weil dieVerbesserung des Verletztenschutzes eine so wichtige undbisher oft vernachlässigte Aufgabe in unserem Rechts-staat ist. Ich freue mich, dass diese bedeutsame rechts-politische Initiative aus meiner Heimatstadt Hamburg nunauf gutem Wege ist.
Gerade weil so oft beklagt wird, im Strafverfahren küm-mere man sich nur oder vorwiegend um den Angeklagten,war es nötig, die Weichen eindeutig neu, nämlich in Rich-tung auf den Geschädigten und auf den Verletzten oder dieVerletzte, zu stellen. Ihm oder ihr gebührt Aufmerksam-keit und Fürsorge. Von ihm – ich sagte es bereits –, der zuder Straftat fast nie beigetragen hat, muss ein Rechtsstaatso gut wie möglich weiteren Schaden abwenden.
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Auch die Bundesregierung plant eine Reform desStrafprozesses und geht ähnliche Wege wie der Bundes-rat. In den an die Landesjustizverwaltungen übersandtenEckpunkten für eine Reform der Strafprozessordnungfinden sich einzelne Ansätze dieses Entwurfs wieder, wieetwa der Wiedergutmachungsvergleich. Wir meinen, dasses einer grundlegenden Neubestimmung der Rolle desVerletzten im Strafverfahren bedarf. Für diese umfas-sende und abgestimmte Reform bildet unser Entwurf, soglaube ich, eine sehr gute Grundlage.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege
Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beschäftigtuns ein Thema, das vielen Opfern von Verbrechen schonlange auf den Nägeln brennt. Es geht um den strafrechtli-chen Opferschutz im Rahmen eines neuen Gesetzes zurStärkung der Verletztenrechte.Der vom Bundesrat einstimmig eingebrachte Gesetz-entwurf zur Änderung der Strafprozessordnung, der überein Jahr lang beraten wurde, ist ein weiterer wichtigerSchritt auf dem Weg, den deutschen Strafprozess in seinerFunktion grundlegend zu erweitern. Die Länder gehen indie richtige Richtung und reihen sich in die gute Tradi-tion der Rechtspolitik von CDU und CSU ein.
Die Bestrebungen der Länder finden in dieser Sachedeshalb grundsätzlich unsere Unterstützung, bauen siedoch gerade auf dem Opferschutzgesetz von 1986 unddem Zeugenschutzgesetz von 1998 auf –
– in einer bürgerlichen Koalition, verehrter Herr Kollegevan Essen –, den maßgeblichen Gesetzen zum Opfer-schutz, die von der Union und der F.D.P. auf den Weg ge-bracht und verwirklicht worden sind.Bisher stellt das Strafprozessrecht vor allem ein Instru-ment dar, mit dessen Hilfe die zuständigen staatlichenStellen im Falle einer Straftat die Aufklärung des Sach-verhalts und die Verurteilung des Täters durchführen kön-nen. Das Opfer spielt im Grunde genommen lediglich dieRolle eines reinen Beweismittels, das sich in vielen Fäl-len noch nicht einmal seiner Persönlichkeitsrechte sichersein kann. Denken Sie nur an die Herausgabe von Video-aufzeichnungen der Aussage von Opferzeugen oder dieUntersuchungen und zum Teil entwürdigenden Befragun-gen von Opfern sexueller Straftaten.Das bestehende Strafprozessrecht muss um einen ent-scheidenden Aspekt ergänzt werden, wenn wir das Ver-trauen der Bürger in die Rechtssicherheit stärken wollen.Es geht um den Aspekt, dass der Staat gerade gegenüberdem Opfer einer Straftat seiner Fürsorgepflicht entspre-chen muss. Der Grundrechteschutz darf nicht dort auf-hören, wo das strafrechtliche Verfahren beginnt. So man-ches Mal hat man den Eindruck, dass auf die Grundrechteder Täter mehr geachtet wird als auf die der Opfer.
Der Entwurf des Bundesrates sieht vor, die Betroffenenzu gleichberechtigten Prozessbeteiligten zu machen und sienicht mehr nur als passive Teilnehmer, denen im Grundenur die Nebenklage zur Verfügung steht, auf die Zu-schauerbank zu verbannen. Hier besteht Handlungsbedarf.Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die entsprechen-den Weichen und setzt dazu an drei Punkten an: erstens ander Betonung des Persönlichkeitsrechts des Opfers, zwei-tens an der aktiven Teilnahme des Opfers am Verfahrenund an der Wahrnehmung eigener Rechte und drittens ander Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte, ver-mögensrechtliche Ansprüche schon im Strafverfahrengeltend zu machen.Zu Punkt eins. Bei der Verbesserung der Persönlich-keitsrechte der Opfer ist die Einführung einer Pflichtzur Belehrung von Zeugen vorgesehen, die nicht, wiebisher, eine bloße Aufklärung über ihre Pflichten, son-dern auch über ihre Rechte erhalten sollen. Neben allden weiteren Verbesserungsvorschlägen wie die ver-mehrte Rücksichtnahme bei körperlichen Untersuchun-gen von Zeuginnen und die Verbesserungen im Bereichder Videovernehmungen ist dieser Punkt besonders ge-eignet, endlich ein Umdenken hin zu einem verstärktenOpferschutz zu bewirken, da der Betroffene wiedermehr in das Geschehen gerückt wird.Die zweite Zielsetzung widmet sich der vermehrten ak-tiven Teilnahme des Verletzten am Verfahren. Es soll er-möglicht werden, dass auch persönliche Empfindungenund Einschätzungen der Opfer Berücksichtigung finden.Dann würden endlich Betroffene und Täter gleichberech-tigt gehört. Denn für wen ist eigentlich ein solches Straf-verfahren da? Soll das gerichtliche Strafverfahren eineVerständnisveranstaltung für den Täter sein oder soll eszur Durchsetzung des staatlichen Sanktionsanspruchs, zurHerstellung des Rechtsfriedens und eben auch zum Op-ferausgleich dienen? Niemand möchte die Schlechterstel-lung des Straftäters im Prozess. Ich bin aber überzeugt,dass auch ganz bestimmt niemand die gerichtlicheSchlechterbehandlung von Verbrechensopfern will.Der letzte Punkt, die Ausweitung des so genanntenAdhäsionsverfahrens, verdient besonderes Augenmerk.Damit wird den Verbrechensopfern die Möglichkeit gege-ben, ihre zivilrechtlichen Ansprüche wie beispielsweiseden Schadensersatz schon im Strafverfahren geltend zumachen. Ein schneller materieller Schadensausgleich aufder Opferseite könnte erheblich zu einem erhöhten Ver-trauen in die Rechtspflege führen, da die Trennung zwi-schen zivil- und strafrechtlichem Verfahren von Nichtju-risten oft nicht verstanden und auch nicht akzeptiert wird.
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Es ist an der Zeit, dass wir verhindern, dass die Opfer nacheinem Verbrechen, das sie ohnehin schon aus ihrem All-tag herausreißt, durch die Justiz möglicherweise erneut zuOpfern werden.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, hoffentlich be-wirkt der Gesetzentwurf des Bundesrates noch etwasGutes, nämlich dass sich die Räder des Bundesjustizmi-nisteriums endlich in die Richtung von mehr Opferschutzbewegen. Denn was von dort bis jetzt zum Opferschutzgekommen ist, sind nur Worte, aber leider keine Taten.
Die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem vor-liegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, in der die Rededavon ist, dass – ich zitiere – sich die Bundesregierung be-sonders der Opfer annehmen will,
ist ebenso vollmundig wie zweifellos öffentlichkeitswirk-sam. Aber sie ist fern jeder Realität.
Ich frage Sie: Wie und wo nimmt sich die Bundesjus-tizministerin der Opfer an? Etwa in ihrem Referentenent-wurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems?Wenn man erklärt, dass künftig 10 Prozent der Einnahmenaus Geldstrafen den Opfern zugute kommen sollen, dannkommt das zwar gut an und man kann damit gut hausie-ren gehen; es ist aber zu bedenken, dass ein solches Vor-gehen zulasten der Länder geht, weil dadurch ausschließ-lich deren Haushalte betroffen sind – ganz zu schweigenvon dem immensen Mehraufwand, den die Länder zu leis-ten haben.Soll vielleicht das Eckpunktepapier zur Reform desStrafprozesses der große Wurf sein?
Dazu kann ich nur sagen: Dieses Papier hilft den Opfernnicht; vielmehr macht es sie erneut zu Opfern.
Was in diesem Papier als Beteiligungsrechte des Beschul-digten verkauft wird, läuft in Wahrheit auf groteske Ver-fahrensverzögerungen hinaus. So sollen in Ermittlungs-verfahren beispielsweise ein so genanntes Rechts-gespräch und ein Anhörungstermin im Zwischenverfah-ren eingeführt werden. Der Sachaufklärung wären dieseMaßnahmen in keiner Weise dienlich. Im Gegenteil: Siewürden das ohnehin schon langwierige Verfahren nochmehr aufblähen, ganz zu schweigen von der erheblichenMehrbelastung aller Prozessbeteiligten.
Oder will die Koalition zu diesem Zweck das im letztenJahr verabschiedete Gesetz zur strafrechtlichen Veranke-rung des Täter-Opfer-Ausgleichs als eigenen Erfolg insFeld führen?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur der Union istes zu verdanken, dass dieser Gesetzentwurf nicht die In-teressen des Täters, sondern des Opfers an die erste Stellesetzt.
Wir haben – in guter Zusammenarbeit mit der F.D.P. –durchgesetzt, dass der ursprüngliche Entwurf in entschei-denden Punkten zugunsten des Opferschutzes verbessertworden ist.
Wir begrüßen die Bundesratsinitiative auch deshalb,weil vonseiten der Bundesregierung und der Regierungs-koalition zum Opferschutz bisher nichts Nennenswertesgekommen ist. Der Entwurf geht in die richtige Richtung.Über Einzelheiten werden wir im Rechtsausschuss bera-ten. Wir werden hoffentlich große Einigkeit darüber er-zielen, dass die Interessen der Opfer von Straftaten vor de-nen der Täter stehen.Ich bedanke mich.
Nun hat der KollegeChristian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
legen! Ich dachte, dass wir uns endlich einmal alle einigsind. Herr Kollege, da Sie die Koalition und die Bundes-regierung angegangen sind – Sie machen immer wiederdasselbe –, muss ich Ihnen einfach sagen: Wenn Ihnen dasso am Herzen liegt, dann hätten Sie das schon vor vielenJahren machen können.
Wir haben uns mit der Bundesregierung zusammenge-setzt und über eine ganze Reihe von Vorschlägen disku-tiert. Nun ist ein Gesetzentwurf in der Mache, der noch indieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Der Gesetz-entwurf, der verabschiedet werden wird, wird wesentlicheTeile des Gesetzentwurfs des Bundesrates übernehmen.Die Teile, die wir hinzufügen, sind ein kleines bisschenbesser. Genau darauf komme ich nun zu sprechen.Wir sehen natürlich – gerade die Bündnisgrünen habendas immer gesagt –, dass die Opfer von Straftaten in denStrafverfahren sehr häufig nicht anständig behandelt wer-den: Sie werden schikanösen Vernehmungen ausge-setzt, sie werden über ihre Rechte und Möglichkeiten im
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Dr. Wolfgang Götzer17361
Strafverfahren nicht ausreichend informiert und könnensie deshalb nicht wahrnehmen. Daher finden wir es posi-tiv und richtig – auch das gehört in das Gesetz hinein –,dass die Opfer von Straftaten möglichst früh, möglichstbei der ersten Anzeige, über ihre Rechte informiert wer-den: dass sie natürlich die Möglichkeit haben, sich derHilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen, der zur Not vomStaat bezahlt wird. Wir sind ebenfalls dafür, dass die Op-fer von Straftaten zu Vernehmungen bei der Polizei odervor Gericht grundsätzlich Personen ihres Vertrauens mit-nehmen können, wenn dem nicht ganz besondere Gründeentgegenstehen. Das hilft ihnen, das stärkt sie, das machtsie sicher. Deshalb ist es gut so.Wir wollen natürlich auch, dass die Opfer von Strafta-ten darüber informiert werden, dass ein Strafprozess überdas, was sie angezeigt haben, überhaupt stattfindet. Häu-fig wissen sie das gar nicht. Jahre später – manchmalüberhaupt nicht – erfahren sie, dass inzwischen ein Straf-verfahren stattgefunden hat. Sie wissen gar nicht, was da-bei herausgekommen ist, weil sie daran nicht beteiligt wa-ren. Auch das soll nicht sein. Sie sollen über die Termineinformiert werden, damit sie die Gelegenheit haben, zu er-fahren, was eigentlich passiert.Wir sind darüber hinaus dafür, dass Opfer von Strafta-ten bei körperlichen Untersuchungen, vor allem bei sol-chen, durch die in den Intimbereich eingegriffen wird,entscheiden können, ob sie – das gilt nicht nur für Frauen,sondern auch für Männer – von einer Ärztin oder einemArzt oder von einer weiblichen oder von einer männlichenPerson untersucht werden. Ich denke, es gehört zur Würdedes Menschen, dass er dieses Wahlrecht hat. Es muss ihmalso grundsätzlich eingeräumt werden.Wir wollen auch, dass die Opfer von Straftaten nichterst in der Hauptverhandlung, wenn sie zum Beispiel alsNebenkläger auftreten, sondern schon im Vorverfahrendie Unterstützung eines Rechtsanwaltes haben, dass sieentsprechende Informationen bekommen und beteiligtwerden sowie dass sie schon im Vorverfahren Personenihres Vertrauens hinzuziehen dürfen.Ein ganz großer Missstand, den ich auch aus meinerPraxis als Strafverteidiger kenne, ist, dass die Opfer vonStraftaten nicht nur nichts über die Verfahrenseinstel-lung erfahren – viele Verfahren werden ja nach § 153 oder§ 153 a der Strafprozessordnung eingestellt –, sondernauch nicht am Verfahren beteiligt werden. Sie erfahrenvielleicht erst von Nachbarn, wie das Verfahren aus-gegangen ist; sie sind völlig überrascht – man hört oft dieFrage: Der ist so davongekommen? Es hat noch nichteinmal ein Strafverfahren stattgefunden? – und habenüberhaupt kein Verständnis für die Verfahrenseinstellung.Ich denke, es ist im Interesse aller, sowohl der Verletztenals auch der Beschuldigten, wenn die Verletzten schon ineinem frühen Stadium, also vor der Hauptverhandlung,über eine beabsichtigte Einstellung des Verfahrens infor-miert werden, und wenn sie Gelegenheit zur Stellun-gnahme bekommen, um dann möglicherweise Argumentevorzubringen, warum diese Geldbuße oder jene Auflagenicht ausreicht, um den Rechtsfrieden wieder herzustel-len.Das ist eine ganze Reihe von Punkten, die man beden-ken muss und die im Gesetz berücksichtigt werden müs-sen, damit sich die Opfer von Straftaten in Zukunft nichtmehr als Opfer von Strafprozessen fühlen müssen. Daswollen wir nicht. Das entsprechende Gesetz ist in Vorbe-reitung. Wir haben in zahlreichen Diskussionen weitge-hende Einigkeit erzielt. Die Anregungen des Bundesratessind uns sehr willkommen. Wir werden darüber imRechtsausschuss beraten. Ich bin sicher, dass wir ange-sichts des bisherigen Tempos noch in dieser Legislaturpe-riode einen gemeinsamen Gesetzentwurf verabschiedenwerden.
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr darüber,dass es einen Wettbewerb gibt, wie wir den Opfern imStrafverfahren am besten helfen können. Trotzdem gibtes noch etwas Besseres, als die Rechte der Opfer vonStraftaten zu verbessern, nämlich dafür zu sorgen, dassMenschen erst gar nicht zu Opfern werden. Frau Justiz-senatorin, wenn ich mir die Kriminalitätsbelastung inIhrer Heimatstadt Hamburg anschaue, dann denke ich,dass gerade der Hamburger Senat, für den Sie ge-sprochen haben, eine Menge zu tun hat.
Nicht umsonst ist in dem beginnenden Wahlkampf die in-nere Sicherheit eines der zentralen Themen. Deshalb soll-ten wir uns verpflichten, die Kriminalitätsbekämpfung anallererste Stelle zu setzen.Zur Stärkung der Rechte der Opfer ist eine Menge anVorschlägen gemacht worden, über die sich wirklichnachzudenken lohnt. Wir haben zu Zeiten der christlich-liberalen Koalition zwischen 1994 und 1998 eine Mengean Fortschritten hinsichtlich der Stärkung der Rechte vonVerbrechensopfern erzielt.
– Nein, es ist nicht zu wenig geschehen. Aber es kannnatürlich noch mehr getan werden. Dafür sorgen wir jetztauch. Wir werden uns dementsprechend einbringen.Wenn ich an die Möglichkeit der Videoaufnahmen vonVernehmungen oder daran denke, dass nun die Opfer andie Gewinne, die der Täter aus dem Verbrechen selbst er-zielt hat, herankommen können, was früher nicht möglichwar, muss ich feststellen, dass wir ganz erhebliche Fort-schritte erzielt haben.Ich möchte außerdem auf etwas hinweisen, das mirauch ganz wichtig ist: Auch wenn wir noch so viele ge-setzliche Vorschriften ändern und verbessern, bleibt esdoch wichtig, wie wir mit den Opfern selbst umgehen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
Hans-Christian Ströbele17362
Deshalb scheinen mir solche Pilotprojekte, wie ich sieaus Baden-Württemberg kenne, dass beispielsweise Refe-rendare zur Betreuung von Zeugen eingesetzt werden, dieihnen erklären, was geschieht, sodass das Verfahren fürdie Zeugen verständlicher ist, wichtig. Die Zeugen habenauf diese Weise das Gefühl, mit ihren Sorgen ernst ge-nommen zu werden. Die Tatsache, dass Referendare fürBeratung sorgen, ist etwas, was nach meiner Auffassungvorbildlich ist.Dazu gehört auch – daran müssen wir unsere richterli-chen und staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wie-der erinnern –, dass man die Zeugen wirklich ernst nimmt.Ich kann mich daran erinnern, dass ich selbst als An-gehöriger der Justiz als Zeuge in einem Meineidsprozessgeladen war; ich war für 9.30Uhr geladen, aber bis 16Uhrtat sich nichts. Der Richter war hinterher sehr überrascht,er hatte uns als Zeugen vor dem Gerichtssaal sitzen lassenund komplett vergessen. Sie können sich vorstellen, dassich nicht der einzige war, der das Gefühl hatte, von derJustiz nicht wirklich ernst genommen zu werden.All das, was wir an gesetzlichen Bestimmungen ver-bessern werden, wird nicht wirklich greifen, wenn wirnicht insgesamt in unserer Gesellschaft zu einer Verände-rung der Situation der Opfer kommen. Dazu gehören auchdie Medien. Wenn wir in den Medien beispielsweise im-mer wieder von Tätern lesen, wenn wir Aufsätze lesen, indenen sehr feinfühlig auf die Lebensgeschichte von Tä-tern eingegangen wird, dann ist das sicherlich richtig, weilauch sie den Anspruch darauf haben, ernst genommen zuwerden. Trotzdem würde ich mir wünschen, wenn in glei-cher Breite und Tiefe auch über die Wirkungen von Tatenberichtet werden würde.Wer beispielsweise einmal erlebt hat, welche Auswir-kungen die Ermordung eines kleinen Mädchens auf derenFamilie hat – die Familie wird nie wieder ein normalesLeben führen können, die Tat wird immer wieder die Fa-milie belasten –, weiß, in welcher Verantwortung wir ste-hen, Opfer ernst zu nehmen.
Deshalb müssen wir uns über das hinaus, was wir heutehier diskutieren und was ich, Frau Justizsenatorin, für ei-nen wirklich guten Vorschlag halte, Gedanken darübermachen, wie wir solchen Familien helfen, die Opfer einerStraftat geworden sind. In Familien, in denen zum Bei-spiel die Tochter Opfer eines Mordes geworden ist, gibt esganz erhebliche Betreuungsnotwendigkeiten. Auch dieseProbleme müssen uns beschäftigen.Soweit die ersten Ausführungen der F.D.P.-Bundes-tagsfraktion; wir werden uns einbringen. Ich freue michauf eine Diskussion, weil alle angedeutet haben, sie woll-ten die Rechte der Opfer stärken. Auf diese Weise machtArbeit im Parlament Spaß.Vielen Dank.
Die Kollegin Kenzler
von der PDS hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1 Ich
schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4661 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine
weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung von Frauen und Männern in der
Privatwirtschaft
– Drucksache 14/6032 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Auch hier war eine Redezeit vorgesehen. Alle Reden
zu diesem Punkt sind zu Protokoll gegeben.2) Deswegen
eröffne und schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6032 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 22. Juni, 9 Uhr, ein. Ich
wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend.
Die Sitzung ist geschlossen.