Protokoll:
14176

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 176

  • date_rangeDatum: 21. Juni 2001

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:33 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeordneten Arne Fuhrmann, Horst Kubatschka, Renate Jäger und Hanna Wolf (München) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17211 A Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 17211 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 23 . . . 17212 C Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 17212 C Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 17212 C Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Göteborg am 15. und 16. Juni 2001 . . . 17212 C Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 17212 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 17215 B Dr. Peter Struck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17219 C Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . . . . . . . 17222 A Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 17223 D Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17226 A Michael Roth (Heringen) SPD . . . . . . . . . . . . 17227 C Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 17229 B Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17231 B Dr. Gerd Müller CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 17232 C Gudrun Roos SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17233 B Tagesordnungspunkt 4: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Agrarbericht 2001 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung (Drucksache 14/5326) . . . . . . . . . . . . . 17235 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, wei- terer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Verbraucher- schutz muss Gesundheitsschutz sein – Zukunftsfähige Landwirt- schaft ermöglichen – Gegen BSE mit einem vernetzten Bekämp- fungsplan vorgehen – zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Heino Wiese (Hannover), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Neuausrichtung derAgrarpolitik: Offensive für den Verbraucher- schutz – Perspektiven fürdie Land- wirtschaft (Drucksachen 14/5222, 14/5228, 14/5580) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17235 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- nährung und Landwirtschaft zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung des Plenarprotokoll 14/176 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 176. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 I n h a l t : Rates über die gemeinsame Markt- organisation für Zucker (Drucksachen 14/4945 Nr. 2.49, 14/5908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17235 C d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- nährung und Landwirtschaft – zu dem Antrag der Abgeordne- ten Ursula Burchardt, Heidemarie Wright, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab- geordneten Franziska Eichstädt- Bohlig, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nachhaltige Entwicklung für länd- liche Räume – zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Ländlichen Raum ge- meinsam mit der Landwirtschaft stärken – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Bericht der Bundes- regierung „Politik für ländliche Räume“ Ansätze für eine integrierte regio- nal- und strukturpolitische An- passungsstrategie (Drucksachen 14/4544, 14/5080, 14/4855, 14/5909) . . . . . . . . . . . . . 17235 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 2001 bis 2004 (Drucksache 14/5900) . . . . . . . . . . . . . . . 17235 D Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . . 17236 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD . . . . . . . . 17237 D Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17240 B Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 17242 C Ulrich Heinrich F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17245 D Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 17246 B Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17246 C Karsten Schönfeld SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17248 A Josef Miller, Staatsminister (Bayern) . . . . . . . 17249 C Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17251 C Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 17252 D Matthias Weisheit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17255 A Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 17257 B Matthias Weisheit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17257 C Tagesordnungspunkt 29: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtli- nie 2000/52/EG der Kommission vom 26. Juli 2000 zur Änderung der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Bezie- hungen zwischen den Mitgliedstaa- ten und den öffentlichen Unterneh- men (Transparenzrichtlinie-Gesetz – TranspRLG) (Drucksache 14/6280) . . . . . . . . . . . . . 17258 C b) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzung des Abkommens vom 9. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta über den Luftverkehr und zu dem Protokoll vom 27. Mai 1999 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung des Staates Katar zum Abkommen vom 9. No- vember 1996 über den Luftverkehr (Drucksache 14/6109) . . . . . . . . . . . . . 17258 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Medi- zinproduktegesetzes (2. MPG-ÄndG) (Drucksache 14/6281) . . . . . . . . . . . . . 17258 D d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Bereinigung offener Fragen des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern (Grundstücksrechts- bereinigungsgesetz – GrundRBerG) (Drucksache 14/6204) . . . . . . . . . . . . . 17258 D e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Schutzes gefährde- ter Zeugen (Drucksachen 14/638, 14/6279 [neu]) 17258 D f) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001II des Vermögensgesetzes (Zweites Vermögensrechtsergänzungsgesetz – 2. VermRErgG) (Drucksache 14/5091) . . . . . . . . . . . . . 17259 A g) Antrag der Abgeordneten Heidi Lippmann, Wolfgang Gehrcke, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Völkerrechtliche Ächtung von Munition, die Uran oder andere ra- dioaktive Elemente enthält (Drucksache 14/5509) . . . . . . . . . . . . 17259 A h) Antrag der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga, Annette Faße, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Schiffssicherheit auf der Ost- see verbessern (Drucksache 14/6211) . . . . . . . . . . . . . 17259 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 29) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten- gesetzes (Drucksache 14/6311) . . . . . . . . . . . . . 17259 B b) Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der F.D.P.: Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshindernisse abbauen (Drucksache 14/5579) . . . . . . . . . . . . 17259 C Tagesordnungspunkt 30: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Dezem- ber 1999 zwischen der Bundesrepu- blik Deutschland und der Republik Panama über den Luftverkehr (Drucksachen 14/4988; 14/6123) . . . . 17259 C b) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai 1997 zwischen der Regierung der Bundes- republik Deutschland und der Regie- rung der Republik Estland über den Luftverkehr (Drucksachen 14/4989; 14/6124) . . . . 17259 D c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 27. April 1999 und 8. Juli 1999 zwi- schen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Schweizerischen Eid- genossenschaft über grenzüberschrei- tende polizeiliche Zusammenarbeit, Auslieferung, Rechtshilfe sowie zu dem Abkommen vom 8. Juli 1999 zwi- schen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Schweizerischen Eidge- nossenschaft über Durchgangsrechte (Drucksachen 14/5735; 14/6333) . . . . 17260 A d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- men zwischen der Europäischen Ge- meinschaft und ihren Mitgliedstaa- ten einerseits und der Schweizeri- schen Eidgenossenschaft anderer- seits über die Freizügigkeit (Drucksachen 14/6100; 14/6336) . . . . 17260 C e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Gesetzen und anderen Vorschrif- ten auf dem Gebiet des Gesundheits- wesens auf Euro (Achtes Euro-Ein- führungsgesetz) (Drucksachen 14/5930; 14/6306) . . . . 17260 D f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- men vom 10. März 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea über soziale Sicher- heit (Drucksachen 14/6110; 14/6334) . . . . 17261 A g) Beschlussempfehlung des Wahlprü- fungsausschusses zu einem Wahlein- spruch gegen die Gültigkeit der Be- rufung eines Listennachfolgers gemäß § 48 Bundeswahlgesetz (BWG) (Drucksache 14/6201) . . . . . . . . . . . . 17261 A h) – j) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 274, 275, 276 zu Petitionen (Drucksachen 14/6183; 14/6184; 14/6185) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17261 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 III Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des So- zialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) (Drucksachen 14/5943; 14/6335) . . . . . . . 17261 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 30) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ (Drucksachen 14/6028; 14/6331; 14/6356) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17261 D b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umstellung der umweltrechtlichen Vorschriften auf den Euro (Siebtes Euro-Ein- führungsgesetz) (Drucksachen 14/5641; 14/6351) . . . . 17262 B c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung reiserechtlicher Vorschriften (Drucksachen 14/5944; 14/6350) . . . . 17262 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zu den erneut korrigierten Wachstumsprognosen der deutschen Wirtschaftsinstitute und den daraus re- sultierenden Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 17262 D Rainer Brüderle F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17262 D Karl Diller, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . 17264 B Gunnar Uldall CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 17266 A Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17266 D Rolf Kutzmutz PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17268 A Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD . . . . . . 17269 B Dagmar Wöhrl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 17270 B Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17271 B Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 17272 B Nina Hauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17273 D Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . . . . . . . 17274 D Dr. Ditmar Staffelt SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17276 A Peter Rauen CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 17277 B Dr. Rainer Wend SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17278 B Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.: Deutsche und Po- len in Europa: Eine gemeinsame Zukunft (Drucksache 14/6322) . . . . . . . . . . . . . . . 17279 B Markus Meckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17279 C Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 17281 C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17283 A Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17284 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17285 B Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . . . . . . 17286 B Katherina Reiche CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17287 B Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 17288 D Erika Steinbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 17290 B Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17291 A Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Jochen-Konrad Fromme, Peter Götz, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU: Um- setzung des Versprechens der Bundesre- gierung zur Stärkung der Kommunal- finanzen (Drucksache 14/6163) . . . . . . . . . . . . . . . 17292 B Peter Götz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17292 C Heinz Seiffert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17294 B Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . 17294 C Bernd Scheelen SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17295 A Gerhard Schüßler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 17297 D Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17299 C Dr. Uwe-Jens Rössel PDS . . . . . . . . . . . . . . . 17301 A Dr. Frank Schmidt (Weilburg) SPD . . . . . . . . 17302 B Peter Götz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 17303 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . . . 17305 B Tagesordnungspunkt 7: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Heimgesetzes (Drucksachen 14/5399, 14/6366) . . . . 17307 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001IV b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im Alter (Drucksachen 14/5565, 14/6366) . . . . 17307 C Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17307 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17308 C Gerald Weiß (Groß-Gerau) CDU/CSU . . . . . 17309 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17310 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17310 D Klaus Haupt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17312 A Monika Balt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17312 D Arne Fuhrmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17313 C Klaus Holetschek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17314 A Tagesordnungspunkt 8: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Qua- litätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege (Pflege-Qualitätssicherungs- gesetz – PQsG) (Drucksache 14/5395) . . . . . . . . . . 17315 C – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Leistungen in der Pflege (Pflege-Leistungs- Verbesserungsgesetz) (Drucksachen 14/5547; 14/6308) 17315 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulf Fink, Eva-Maria Kors, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zukunft der sozialen Pflegeversicherung – zu dem Antrag der Fraktionen des SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung (Drucksachen 14/3506, 14/4391, 14/6308) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17315 C c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Zweiter Bericht über die Ent- wicklung der Pflegeversicherung (Drucksache 14/5590) . . . . . . . . . . . . 17315 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Pflege reformieren – Lebensqualität in Gegenwart und Zu- kunft sichern (Drucksache 14/6327) . . . . . . . . . . . . . . . 17315 D Dr. Margrit Spielmann SPD . . . . . . . . . . . . . . 17316 A Eva-Maria Kors CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 17317 A Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17318 C Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17319 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17320 C Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17321 B Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17322 A Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17322 C Tagesordnungspunkt 9: a) Große Anfrage der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Erfolge und Defizite der Weltausstellung EXPO 2000 (Drucksachen 14/4956, 14/5344) . . . . 17324 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem An- trag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Welt- ausstellung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- und Tourismus- standort Deutschland nutzen (Drucksachen 14/3374, 14/6332) . . . . 17324 A c) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Haushaltsführung 2000 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapi- tel 09 02 Titel 682 27 – Finanzie- rungsbeiträge an die EXPO 2000 Hannover GmbH – sowie Erhöhung des Regressverzichts bei den gewähr- ten Bürgschaften an die EXPO 2000 Hannover GmbH (Drucksache 14/4008) . . . . . . . . . . . . 17324 A d) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht über den Verlauf der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 V Weltausstellung EXPO 2000 in Han- nover (1. Juni bis 31. Oktober 2000) (Drucksache 14/5883) . . . . . . . . . . . . . 17324 B Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 17324 B Monika Ganseforth SPD . . . . . . . . . . . . . . 17324 D Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 17325 C Ernst Hinsken CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17326 A Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 17327 C Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 17328 C Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17329 D Birgit Roth (Speyer) SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 17330 D Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 17332 A Brunhilde Irber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17332 D Birgit Roth (Speyer) SPD . . . . . . . . . . . . . 17333 C Tagesordnungspunkt 10: – Zweite und dritte Beratung des von Fraktionen der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- kämpfung der illegalen Beschäfti- gung im gewerblichen Güterkraft- verkehr (GüKBillBG) (Drucksache 14/5446) . . . . . . . . . . . . . 17334 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- fung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr (GüKBillBG) (Drucksachen 14/5934; 14/6305) . . . . 17334 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Vorschlag für eine Ver- ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verord- nung (EWG) Nr. 881/92 des Rates vom 26. März 1992 über den Zugang zum Gü- terkraftverkehrsmarkt in der Gemein- schaft für Beförderungen aus oder nach einem Mitgliedstaat oder durch einen odermehrere Mitgliedstaaten hinsichtlich einer einheitlichen Fahrerbescheinigung (Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305) 17334 D Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17335 A Wilhelm-Josef Sebastian CDU/CSU . . . . . . . 17335 D Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17337 A Horst Friedrich (Bayreuth) F.D.P. . . . . . . . . . 17337 D Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17338 C Angelika Graf (Rosenheim) SPD . . . . . . . . . . 17339 B Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Ver- teidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Wehrpflicht aussetzen (Drucksachen 14/5078, 14/6274) . . . . . . . 17341 B Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. . . . . . . . . . . . . 17341 B Reinhold Robbe SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17343 A Helmut Rauber CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 17344 C Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . 17346 A Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17346 C Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17347 D Johannes Kahrs SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17348 C Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung der Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologi- scher Erfindungen (Drucksache 14/5642) . . . . . . . . . . . . . . . 17350 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 17350 C Norbert Hauser (Bonn) CDU/CSU . . . . . . . . 17351 C Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17353 B Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 17354 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17355 C Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 17356 A Tagesordnungspunkt 13: Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zukunft der deutschen Mes- sewirtschaft in der Globalisierung (Drucksachen 14/4816, 14/5581) . . . . . . . 17357 A Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Schmidbauer (Nürn- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001VI berg), Gudrun Schaich-Walch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Katrin Göring- Eckardt, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabe- tes-Versorgung (Drucksachen 14/4263, 14/6307) . . . . . . . 17357 B Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- neten Eduard Lintner, Dirk Fischer (Ham- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen (Drucksachen 14/4933, 14/6035) . . . . . . . 17357 C Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (Gesetz zur Stärkung der Verletzten- rechte) (Drucksache 14/4661) . . . . . . . . . . . . . . . 17357 D Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Senatorin (Hamburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17358 A Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . 17360 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17361 D Jörg van Essen F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17362 C Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privat- wirtschaft (Drucksache 14/6032) . . . . . . . . . . . . . . . 17363 C Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17363 D Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17364 A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 17365 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann (Bre- men), Hartmut Koschyk, Anton Pfeifer, Margarete Späte, Erika Steinbach, Dr. Rita Süssmuth (alle CDU/CSU) und Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (F.D.P.) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung ei- ner „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ (Drucksache 14/6028) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17365 D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/ CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Heimge- setzes (Drucksache 14/5399) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17366 C Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Großen Anfrage: Zukunft der deutschen Mes- sewirtschaft in der Globalisierung (Tagesord- nungspunkt 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17366 D Rolf Hempelmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17366 D Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 17368 A Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 17370 B Ursula Lötzer PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17371 A Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 17371 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabetes- Versorgung (Tagesordnungspunkt 14) . . . . . . 17373 A Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . . . . . . 17373 A Dr. Harald Kahl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 17374 B Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17375 C Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17376 D Dr. Ruth Fuchs PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17377 C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Er- laubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen (Tagesordnungspunkt 15) . . . . . . . . . . . . . . . . 17378 A Klaus Hasenfratz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17378 B Eduard Lintner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 17379 C Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17380 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 VII Horst Friedrich (Bayreuth) F.D.P. . . . . . . . . . 17380 D Dr. Winfried Wolf PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17381 B Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (Gesetz zur Stär- kung der Verletztenrechte) (Tagesordnungs- punkt 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17381 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17381 D Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17) 17382 C Christel Humme SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17382 C Renate Diemers CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 17384 A Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17385 C Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17386 C Petra Bläss PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17387 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001VIII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 Jörg van Essen 17363 (C) (D) (A) (B) 1) Anlage 7 2) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117364 (C)(A) Berichtigung 161. Sitzung: Auf Seite 15740 C ist in der Rede der Abgeordneten Renate Gradistanac (SPD) nach dem Satz „Das Konzept Viabono be- ruht auf dem Ziel, einen Dachmarke für alle touristischen Segmente zu schaffen“ einzufügen: (Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CDSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Ach, mein Kollege aus dem Wahlkreis! Nein! Ich sage es Ihnen gleich. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17365 (C) (D) (A) (B) Adam, Ulrich CDU/CSU 21.06.2001* Behrendt, Wolfgang SPD 21.06.2001* Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 21.06.2001 Bodewig, Kurt SPD 21.06.2001 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 21.06.2001 Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 21.06.2001 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 21.06.2001 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 21.06.2001* Doss, Hansjürgen CDU/CSU 21.06.2001 Friedrich (Altenburg), SPD 21.06.2001 Peter Dr. Guttmacher, F.D.P. 21.06.2001 Karlheinz Haack (Extertal), SPD 21.06.2001* Karl-Hermann Hornung, Siegfried CDU/CSU 21.06.2001* Hörster, Joachim CDU/CSU 21.06.2001* Kasparick, Ulrich SPD 21.06.2001 Klappert, Marianne SPD 21.06.2001 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 21.06.2001 Lintner, Eduard CDU/CSU 21.06.2001* Lotz, Erika SPD 21.06.2001 Dr. Lucyga, Christine SPD 21.06.2001* Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 21.06.2001* Erich Marquardt, Angela PDS 21.06.2001 Müller (Berlin), PDS 21.06.2001* Manfred Müller (Völklingen), SPD 21.06.2001 Jutta Neuhäuser, Rosel PDS 21.06.2001 Nietan, Dietmar SPD 21.06.2001 Onur, Leyla SPD 21.06.2001* Ostrowski, Christine PDS 21.06.2001 Dr. Pfaff, Martin SPD 21.06.2001 Pfannenstein, Georg SPD 21.06.2001 Röspel, René SPD 21.06.2001 Sauer, Thomas SPD 21.06.2001 Schlee, Dietmar CDU/CSU 21.06.2001 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 21.06.2001 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 21.06.2001 Christian Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 21.06.2001* Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 21.06.2001* Siebert, Bernd CDU/CSU 21.06.2001* Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 21.06.2001 Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 21.06.2001 DIE GRÜNEN Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 21.06.2001 DIE GRÜNEN Volquartz, Angelika CDU/CSU 21.06.2001 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 21.06.2001 Wiese (Hannover), SPD 21.06.2001 Heino Wiesehügel, Klaus SPD 21.06.2001 Zapf, Uta SPD 21.06.2001 Zierer, Benno CDU/CSU 21.06.2001* Dr. Zöpel, Christoph SPD 21.06.2001 * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann (Bremen), Hartmut Koschyk, Anton Pfeifer, Margarete Späte, Erika Steinbach, Rita Süssmuth und (alle CDU/CSU) und Hans- Joachim Otto (Frankfurt) (F.D.P.) zur Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Errichtung einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ (Drucksache 14/6028) Die Übernahme des Jüdischen Museums Berlin in Ver- antwortung des Bundes, wie sie der Hauptstadtkulturver- trag regelt, ist im Grundsatz unstreitig. Ebenso unstreitig ist, dass die Errichtung einer rechtsfähigen bundesunmit- telbaren Stiftung öffentlichen Rechtes eine geeignete Lö- sung ist, die Handlungsfähigkeit des Museums zu sichern. Dagegen können wir dem zur Abstimmung stehenden Ge- setzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Geset- zes zur Errichtung einer Stiftung Jüdisches Museum Ber- lin“ (Drucksache 14/6028) nicht zustimmen. Erstens. Der vielfach aufgezeigte Zusammenhang mit der „Topographie des Terrors“ und dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas findet in der Stiftungssatzung keinerlei Berücksichtigung. Obwohl auch der Staatsmi- nister für Kultur und Medien, Nida-Rümelin, im Bundes- tag erklärt hat, „es steht ganz außer Zweifel, dass es zwi- schen Mahnmal, Jüdischem Museum und ‘Topographie des Terrors’ einen engen Zusammenhang gibt“ (28. März 2001), werden alle drei Institutionen mit Veranstaltungen, Forschungs-, Dokumentations- und Bildungsaufgaben betraut, die zu unverantwortlichen Mehrfachangeboten und unnötigem personellen und finanziellen Aufwand führen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte deshalb im federführenden Ausschuss für Kultur und Medien be- antragt, in § 2 der Satzung, in dem der Zweck der Stiftung geregelt wird, nach Ziffer (2) folgenden Passus als neue Ziffer (3) hinzuzufügen: „Die Wahrnehmung der Aufga- ben der Stiftung erfolgt konzeptionell und personell in Verbindung und in enger Zusammenarbeit mit den beste- henden bzw. entstehenden Einrichtungen des Mahnmals für dis ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topo- graphie des Terrors.“ Diese Klarstellung wurde von der Koalition mit ihrer Mehrheit abgelehnt. Zweitens. Obwohl der Bund das Jüdische Museum – vor Unterzeichnung des Hauptstadtkulturvertrages und vor Verabschiedung des Stiftungsgesetzes – bereits seit Beginn des Haushaltsjahres zu 100 Prozent finanziert, soll der Deutsche Bundestag weder mit Sitz noch mit Stimme in einem der Gremien vertreten sein. Dies soll auch für mögliche, im Stiftungserrichtungsgesetz vorgesehene Er- weiterungen der Anzahl der Stiftungsratsmitglieder gel- ten. Anders als beim Mahnmal für die ermordeten Juden Europas ist die Beteiligung des Parlamentes im Gesetz- entwurf der Bundesregierung nicht vorgesehen und von der Koalitionsmehrheit offensichtlich nicht gewollt. Wir halten es aus diesem Grund für erforderlich, in § 6 der Sat- zung Ziffer (2) wie folgt zu ändern: „Die Zahl der Stif- tungsratsmitglieder kann durch die Satzung bis auf 13 er- höht werden, wobei das Benennungsrecht für diese weiteren Mitglieder je zur Hälfte bei der Bundesregierung sowie beim Deutschen Bundestag liegen muss.“ Es bleibt uns unverständlich; dass die Koalitionsfrak- tionen sich diesen Klarstellungen und Anforderungen nicht anschließen konnten. Dies verstärkt unsere Beden- ken, dass die vorgesehenen rechtlichen Rahmenbedin- gungen die Verselbstständigung und das Nebeneinander der wichtigen Gedenkstätten begünstigen statt ihren un- verzichtbaren Zusammenhang konzeptionell und organi- satorisch zu sichern. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes (Drucksache 14/5399) Dem Dritten Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes kann ich nicht zustimmen. Zwar sind die Motive ehren- haft, um Bewohner in Heimen zu schützen und besser zu pflegen; die Bestimmungen werden aber das Gegenteil er- reichen. Mit der Novellierung werden unnötige bürokra- tische Hürden aufgebaut und letztlich die Belange der Bewohner nur durch schriftliche Verfahren, nicht aber in Wirlichkeit, berücksichtigt. In Zukunft wird es so sein, dass die Heime die beste Qualität haben in Verbindung mit dem Qualitätssicherungsgesetz, die am meisten auf- schreiben und am meisten dokumentieren. Diese Zeit geht aber der persönlichen Zuwendung für die älteren und be- hinderten Menschen ab und ist daher kontraproduktiv. Die Verstärkung der Heimmitwirkung ist richtig. Es bestehen aber erhebliche Bedenken, ob Angehörige als Heimbeiräte segensvoll sind. Dies könnte auch zu Schi- kanen von Pflegepersonal führen, wenn ein oder zweimal im Monat Heimbeiräte, die Angehörige in der Pflegesta- tion haben, ihr „schlechtes Gewissen“ der Abschiebung durch besondere Kontrollen und Anweisungen beseitigen wollen. Die Abgrenzung zwischen Heimen und Formen des so genannten betreuten Wohnens sind verschwommen und dienen nicht zur Stärkung der Rechte älterer Bewohner, weil betreutes Wohnen mit geringsten Angeboten recht- lich besser gestellt wird als betreutes Wohnen mit guten und kompakten Angeboten. Dabei wird nicht übersehen, dass einzelne Verbesse- rungen sinnvoll und richtig sind. Das Gesetz hätte aber mehr auf die Praxis abgestimmt werden müssen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Großen Anfrage: Zukunft der deutschen Messewirtschaft in derGlobalisierung (Tagesordnungspunkt 13) Rolf Hempelmann (SPD): Welche Bedeutung der Export für die deutsche Wirtschaft hat, brauche ich an die- ser Stelle eigentlich nicht ausdrücklich zu betonen, möchte aber dennoch eine Zahl nennen: Im Jahr 2000 machten die Exporte deutscher Unternehmen in Nicht- EU-Länder fast 30 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Eine wichtige Möglichkeit für exportierende Firmen, sowohl ihr Unternehmen als auch ihre Produkte im In-, vor allem aber im Ausland bekannt zu machen, sind na- tionale und internationale Messen. Dort nutzen deutsche Anbieter die Chance, ihre Dienstleistungen und Waren zu präsentieren. Kunden können sich vor Ort ein Bild von Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117366 (C) (D) (A) (B) der Qualität der Produkte machen und persönlich mit dem Verkäufer verhandeln. Insofern stellen Messen ein wich- tiges Marketinginstrument für deutsche Firmen dar. Da- ran hat auch die zunehmende Nutzung und Bedeutung des Internets nichts geändert. Erfreulich ist vor diesem Hintergrund, dass der Messe- standort Deutschland im internationalen Vergleich zu den wichtigsten gehört. Rund zwei Drittel der weltweit führenden Messen finden in unserem Land statt. Sechs der zehn umsatzmäßig größten Messegesellschaften haben ihren Sitz in der Bundesrepublik. Und die Bedeutung wird steigen, denn sowohl die Anzahl ausländischer Messebe- sucher in Deutschland als auch die Anzahl der Aussteller sind in den letzten Jahren gewachsen und werden es laut Prognosen des AUMA auch weiterhin tun. Diese Entwicklung unterstützt die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten: Da die direkte finanzielle Inlandsmesseförderung in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt, engagiert sich die Bundesregierung vor al- lem im Bereich der Infrastruktur. Auch wenn für den Aus- bau von Verkehrsanbindungen vorrangig Länder und Ge- meinden zuständig sind, hat die Bundesregierung beispielweise beschlossen, die Messen in Stuttgart und München an das Autobahnnetz anzuschließen und außer- dem einen neuen Fernbahnhalt „Messe Leipzig“ einzu- richten. Und auch was die zügige Bearbeitung von Visaanträ- gen ausländischer Messegäste in den deutschen Botschaf- ten anbelangt, hat die Bundesregierung der Bedeutung für die deutsche Messewirtschaft Rechnung getragen. Trotz der durch die unsolide Haushaltspolitik der alten Bundes- regierung notwendig gewordenen Einsparungen, die auch den Personalbereich des Auswärtigen Amtes betreffen, hat es keine Stellenkürzungen bei den Rechts- und Kon- sulardiensten gegeben. In einigen zunehmend frequen- tierten Botschaften – wie beispielsweise in Kiew – wurde die Belegschaft sogar aufgestockt. Sie kritisieren zwar, dass die Mittel für die „Gemein- schaftswerbung deutscher Messen und Ausstellungen im Ausland“ gekürzt wurden. Dies ist aber nur deshalb ge- schehen, weil dort aufgrund verschiedener Tatsachen ein immer geringerer Bedarf besteht. Zum einen haben die deutsche Wirtschaft und die Messegesellschaften ihre ei- genen Marketingaktivitäten beispielsweise durch die Gründung von Auslandsvertretungen und Niederlassun- gen intensiviert. Zum anderen widmen sich auch die Deutsche Zentrale für Tourismus, DZT, und das German Convention Bureau, GCB – in beiden Bereichen sind keine Mittelkürzungen vorgesehen –, unter anderem der Werbung für den Messestandort Deutschland. Dies ge- schieht in enger Abstimmung mit der deutschen Messe- wirtschaft. Sie sehen also, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Bedeutung von internationa- len Messen in Deutschland anerkennen und sie auch im Rahmen ihrer Möglichkeiten fördern. Die unmittelbare finanzielle Messeförderung der Bun- desregierung konzentriert sich auf die Auslandsmessen. Und in diesem Bereich müssen wir im nächsten Jahr in der Tat einsparen. Das liegt aber keineswegs daran, dass wir die Bedeutung dieser Fördermaßnahmen verkennen wür- den, denn sonst wäre der Etat in den letzten beiden Jahren wohl kaum weitgehend konstant geblieben. Nein, der Grund für die Mittelkürzungen liegt einzig und allein in der unsoliden Haushaltspolitik während der 16 Jahre Ih- rer Regierungszeit, in der Sie einen enormen Schulden- berg verursacht und uns hinterlassen haben. Diesen Schuldenberg gilt es abzubauen und wir sind hier auf ei- nem guten Weg. Über diese finanzielle Förderung hinaus gibt es auch für Auslandsmessen infrastrukturelle Unterstützung, die der Bund allein oder in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wirtschaft zur Verfügung stellt. Über das neue Außen- wirtschafts-Internetportal des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, „iXPOS“ können sich Aus- steller im In- und Ausland sowohl über Messetermine als auch über Fördermöglichkeiten und juristische Fragen so- wie über Messekostenkalkulation informieren. Außerdem finden diese Unternehmen dort die Adressen von An- sprechpartnern für verschiedene Fragen. Damit haben be- sonders kleine und mittlere Unternehmen die Möglich- keit, sich einfach sowie Zeit und Kosten sparend zu informieren. Und auch die Botschaften arbeiten heute in- tensiv mit der deutschen Wirtschaft zusammen und ver- stehen ihre Aufgabe zunehmend auch als Türöffner für deutsche Unternehmen im Ausland. Zusätzlich gibt es die Außenhandelskammern, die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gefördert werden. Sie sind beratend tätig und helfen bei der Organisation von Mes- seauftritten im Ausland. Dieses Know-how hilft vielen kleinen und mittleren Unternehmen oft weit mehr als Geld allein es könnte. Zu den Forderungen der Opposition kann ich nur sa- gen: Die Gründe, die wir für die Haushaltskonsolidierung und damit auch für die Einsparungen im Bereich des Aus- landsmesseetats haben, kann ich auch an dieser Stelle nochmals wiederholen. Die von der CDU/CSU geführte Regierung hat es über 16 Jahre lang nicht verstanden, mit den ihr zur Verfügung stehenden Geldern hauszuhalten. Nun ist es an uns, den Schuldenberg abzubauen und das führt leider zu Kürzungen in den vielen Bereichen. Was Ihre Forderung nach einem europäischen Messe- konzept und nach der Vernetzung von Messen anbelangt: Die Messewirtschaft innerhalb Europas befindet sich im Wettbewerb und kann deshalb nicht von staatlicher Seite reglementiert werden. Das gilt in gleichem Maße für die Frage nach der regionalen Verteilung von Messen inner- halb Deutschlands. Man kann doch nicht allen Ernstes fordern, dass historisch gewachsene Messestandorte durch staatliche Verordnung einen Teil ihres Geschäftes zugunsten anderer Standorte abgeben sollen. Das wäre ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Messege- sellschaften und der Anbieter. Ich finde es schon merk- würdig, dass gerade die CDU einen solchen staatlichen Eingriff in einen funktionierenden Markt fordert. Abschließend kann ich Sie auch in Ihrer in diesem Zu- sammenhang geäußerten Sorge um die Auslandsmesse- förderung von kleinen und mittleren Unternehmen beru- higen: Diese Firmen sind – und das scheint Ihnen bisher nicht klar gewesen zu sein – erfreulicherweise bereits jetzt die Hauptprofiteure der Auslandmesseförderung, denn Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17367 (C) (D) (A) (B) mit etwa 90 Prozent des Etats werden Messeauftritte die- ser Unternehmen gefördert. Sie sehen, die Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der Globalisierung ist bei der Bundesregierung in guten Händen. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ein al- ter Kaufmannsspruch aus meiner Heimatstadt Flensburg lautet: Handel und Wandel muss getrieben sein. – Doch die Bundesregierung legt Handel und Wandel Zügel an; bremst Initiatoren und Initiativen, die die Wirtschaft und den Export unseres Landes voranbringen wollen. In der letzten Woche wurde im Kabinett der Haushaltsentwurf für 2002 verabschiedet. Er erweist dem Handel in Deutschland einen Bärendienst. Die Förderung von Aus- landsmessen wird gegenüber 2001 um 20 Prozent redu- ziert. Noch vor drei Monaten hat die Bundesregierung in ih- rer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion Messen als Schlüsselbereich der deut- schen Dienstleistungswirtschaft sowie als eines der wichtigsten Marketinginstrumente und deren Beitrag zur Steigerung von Wachstum und Beschäftigung herausge- stellt. Statt bisher 70 Millionen DM stehen nur noch 57,5 Millionen DM zur Verfügung. Für 2003 setzt sich der tiefe Fall auf 52,8 Millionen DM fort, das heißt ein Ein- bruch von dann 25 Prozent; jede vierte Mark weniger für die Messeförderung. Jahr für Jahr werden damit künftig fast 50 offizielle deutsche Beteiligungen an Auslands- messen weniger stattfinden; für den Absatz der deutschen Exportindustrie kann ein solch tief greifender Einschnitt verheerende Folgen haben. Für eine Exportnation wie Deutschland hat dies gra- vierende Rückwirkungen auf Arbeitsmarkt und Steuer- einnahmen. Ein aktuelles Gutachten der Uni Köln stellt fest: Die vom Bund eingebrachten 70 Millionen DM für Messebeteiligungen im Ausland haben ein Exportvolu- men von rund 7 Milliarden DM induziert, damit verknüpft sind 20 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die Folgen solcher Förderung: ein Mehr an Steuereinnahmen von 335 Milli- onen DM, davon 150 Millionen DM allein für den Bund. Der Einsatz von 70 Millionen DM hat sich verdoppelt. Umgekehrt bedeutet das: Durch die Kürzung von 12 Mil- lionen DM im Haushalt 2002 werden 128 Millionen DM weniger Steuern bewirkt; ein Verlust von 116 Milli- onen DM für die öffentlichen Haushalte. So sieht der frag- würdige Sparkurs der Bundesregierung aus. Auch ordnungspolitisch wird der Auslandsmes- seförderung Unbedenklichkeit bescheinigt. Sie stützt und stärkt den Markt, sie gleicht Wettbewerbsnachteile für kleinere und mittlere Unternehmen aus. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen eignen sich Auslandsmessebe- teiligungen als erste Schritte in neue Wachstumsmärkte. Rund 20 Prozent der Exporte sind direkte Folge der Be- teiligungen deutscher Unternehmen an Auslandsmessen. Die Auslandsmesseförderung ist deshalb für die Export- wirtschaft eine unverzichtbare Unterstützung bei der er- folgreichen Erschließung ausländischer Märkte. Auf den offiziellen deutschen Beteiligungen an Auslandsmessen mit Schwerpunkt Asien und Osteuropa sind jährlich mehr als 5 000 Unternehmen präsent. Die Kabinettsentscheidung 2001 hat bereits erste ne- gative Auswirkungen. Der Messe-Ausschuss der Deut- schen Wirtschaft hat die Pläne für die KONSUGERMA 2002 in Japan auf Eis gelegt. Dabei handelt es sich um die große Sonderschau der deutschen Konsumgüterin- dustrie, ein Schaufenster Deutschlands im Erdteil mit den meisten Menschen. Die Messe findet alle vier Jahre ab- wechselnd zur TECHNOGERMA, der Sonderschau der deutschen Investitionsgüterindustrie statt; beide jeweils in der größten Wachstumsregion der Welt. Die Entschei- dung der Wirtschaft war notwendig, um nach der an- gekündigten Kürzung nicht die 239 regulären Auslands- messen zu gefährden. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen verlieren durch den Berliner Bescheid die Chance, auf dem schwierigen japanischen und damit asiatischen Markt Fuß zu fassen. Besonders sie sollten bei der großen Sonderschau in Japan von dem positiven Imagetransfer großer bekannter deutscher Marken profi- tieren. Geben Sie der Wirtschaft Planungssicherheit, Herr Minister! Übernehmen Sie eine langfristige Garantie für KONSUGERMA und TECHNOGERMA; unabhängig von der regulären Auslandsmesseförderung! Setzen Sie sich gegenüber dem Finanzminister durch; noch ist der Haushalt 2002 nicht verabschiedet! Die Auslandsmesseförderung, die eine Hilfe zur Selbsthilfe darstellt, muss in den nächsten Jahren so aus- gebaut werden, dass sie den wachsenden Anforderungen an die globale Präsenz deutscher Unternehmen im Aus- land Rechnung trägt. Eine Reduzierung zerstört Ex- portchancen. Sichere Fördermittel auch für die Zukunft sind damit ein entscheidender Faktor eines Exporter- folges. Die deutsche Wirtschaft erfüllt durch ihre Messeprä- senz auf Auslandsmessen neben den genannten wirt- schaftlichen Funktionen auch eine wichtige öffentliche Funktion für die politischen und wirtschaftlichen Bezie- hungen der Bundesrepublik mit dem Ausland. Sie sind kompetente Botschafter unseres Landes. Deutsche Veranstalter organisieren neben Beteiligun- gen außerdem pro Jahr rund 180 eigene Messen in wich- tigen ausländischen Wachstumsregionen, insbesondere in Asien, Nord- und Südamerika sowie Osteuropa. Diese Veranstalter brauchen ergänzend zu ihrem umfangreichen Engagement auf deutschen Messen zunehmend auch in schwierigen Auslandsmärkten kompetente Partner. Die- ser Einsatz wird und muss in den nächsten Jahren im Rah- men der Globalisierung weiter wachsen. Man will an den zunehmenden Handelsströmen zwischen außereuropä- ischen Regionen teilhaben, um einen positiven Image- transfer und damit eine Stärkung der heimischen Leit- messen zu erreichen. Die Messewirtschaft gehört zu den führenden Dienst- leistungsbranchen der deutschen Wirtschaft. Sie zeichnet sich durch besonders hohe internationale Ausstrahlung und Innovationskraft aus. Rund zwei Drittel der weltweit führenden Messen finden in Deutschland statt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117368 (C) (D) (A) (B) Wir von der CDU/CSU haben diese Entwicklung ge- wollt und befördert und alle Fraktionen des Deutschen Bundestages haben sich dieser Ausrichtung nie ver- schlossen. Bei dieser Gemeinsamkeit sollte es bleiben! Die Messen bei uns sind zentrale Handels- und Kommu- nikationsplätze für die Wirtschaft. Sie leisten dadurch ei- nen wesentlichen Beitrag zu Wachstum und Beschäfti- gung in Deutschland und zur Intensivierung des internationalen Handels. Handel und Wandel sind die Grundlage der deutschen Messewirtschaft, der freie Welt- handel ihr Motor. Die Einführung des Euro sowie die Er- weiterung der Europäischen Union werden ihm weiteren Schwung geben. Sechs der zehn umsatzstärksten Messegesellschaften der Welt haben ihren Sitz in Deutschland. Die deutschen Messeveranstalter setzen pro Jahr über 4,5 Milliarden DM um. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Messewirt- schaft wurde durch verschiedene Studien bestätigt. Aufwendungen der Aussteller und Besucher von 17 Mil- liarden DM pro Jahr und gesamtwirtschaftliche Produkti- onseffekte von über 41 Milliarden DM zeigen, dass die Messewirtschaft zu den wichtigsten Dienstleistungsbran- chen der deutschen Wirtschaft zählt. Rund 230 000 Voll- zeitarbeitsplätze hängen von der Durchführung von Mes- sen ab. Da die Aussteller- und Besucherzahlen auch in Zukunft weiter wachsen werden, wird die Messewirt- schaft auf Dauer am Standort Deutschland Arbeitsplätze schaffen und nicht abbauen. Messen gehören zu den wichtigsten Begegnungsplät- zen der Wirtschaft. Ein wesentlicher Grund dafür ist ihre Multifunktionalität: Messen dienen dazu, Innovationen zu präsentieren, den Bekanntheitsgrad des Unternehmens zu erhöhen, die Wettbewerbssituation zu analysieren, Kontakte zu alten und neuen Kunden herzustellen, und dazu, den Absatz von Produkten und Dienstleistungen vorzubereiten. Für die deutsche Wirtschaft haben Messe- beteiligungen einen besonders hohen Stellenwert im Kommunikationsmix. So fließen in der Investitionsgüter- industrie rund ein Drittel sämtlicher Ausgaben für Markt- kommunikation in Messebeteiligungen. Jährlich werden 130 bis 150 überregionale und interna- tionale Messen und Ausstellungen mit über 160 000 Aus- stellern und rund 10 Millionen Besuchern durchgeführt. Rund 50 Prozent der Aussteller kommen aus dem Aus- land, davon ein Drittel aus Ländern außerhalb Europas; und Devisen kommen in unser Land. Von den Besuchern reist knapp ein Fünftel aus dem Ausland an, davon wie- derum rund 20 Prozent aus Übersee. Kein anderes Messe- land erreicht vergleichbare Größenordnungen. Doch auch hier gibt es Reserven. Zahlreiche potenzi- elle Aussteller und Besucher aus dem Ausland, vor allem aus Mittel- und Osteuropa, werden durch administrative Schwierigkeiten von einer Messeteilnahme in Deutsch- land abgeschreckt. Sie fühlen sich durch stunden- und ta- gelanges Warten bei der Visa-Erteilung schikaniert. Hier muss die Bundesregierung für Abhilfe sorgen; ein spezi- elles „Messe-Visum“ schaffen! Vier der fünf größten Messegelände der Welt liegen in Deutschland. Für die Durchführung überregionaler Mes- sen und Ausstellungen stehen auf 23 deutschen Messe- plätzen rund 2,4 Millionen Quadratmeter Hallenfläche zur Verfügung. Das entspricht einer Fläche von 330 Fuß- ballplätzen, für jeden Messeplatz im Durchschnitt einer Fläche von 14 Fußballplätzen. Neun Gelände verfügen über mehr als 100 000 Quadratmeter Hallenkapazität, vier über mehr als 50 000 Quadratmeter. Hinzu kommt ein dichtmaschiges Netz regionaler Fach- und Verbraucher- ausstellungen. Allein bei diesen Vor-Ort-Initiativen tref- fen sich jährlich rund 60 000 Aussteller und über 10 Mil- lionen Besucher. Viele dieser lokalen Messen werden durch ehrenamtlichen Einsatz aus der Wirtschaft getra- gen. Diesen oft ideenreichen Initiativen ist dafür herzlich zu danken. Die Durchführung von Messen nützt nicht nur den be- teiligten Ausstellern und Besuchern. Auch die regionale Wirtschaft im Einzugsgebiet der Messestadt hat einen großen Nutzen. Hotellerie und Gastronomie profitieren davon ebenso wie Verkehrsunternehmen und Firmen, die Messe-Dienstleistungen für Veranstalter und Aussteller erbringen, wie Messebau, Logistikunternehmen, Dolmet- scher- und Hostessendienste. Je mehr Aussteller und Be- sucher aus anderen Regionen in die Messestadt kommen und dort übernachten, umso größer ist dieser Effekt. Die regionalwirtschaftlichen Effekte umfassen bei stark inter- national ausgerichteten Messeplätzen das 5- bis 6fache des Veranstalterumsatzes. Betrachtet man neben den reinen Messen auch die 63 Millionen Tagungs- und Kon- gressteilnehmer, bewirkten diese 1999 für den Touris- musstandort Deutschland einen Umsatz von 84 Milliar- den DM und 65 Millionen Übernachtungen, so das GCB (German Convention Bureau). Damit sicherte dieser Dienstleistungsbereich bundesweit etwa 850 000 Vollzeit- arbeitsplätze. Darüber hinaus entstehen erhebliche zu- sätzliche Steuereinnahmen für Städte, Länder und Bund. Nicht zu vergessen ist die positive Imagewirkung für die jeweilige Stadt im In- und Ausland. Doch können diesen Effekt nicht alle Regionen in der Bundesrepublik gleichrangig nutzen. Die Verteilung von Messen mit überregionaler und internationaler Bedeutung ist unausgewogen. Sie konzentrieren sich auf sehr leis- tungsfähige und stark frequentierte Messestandorte mit gut ausgebauter Infrastruktur wie Frankfurt, Düsseldorf oder Berlin. Die Förderung bestehender regionaler Mes- sestandorte in strukturschwachen Regionen muss daher die Aufgabe von Bund und Ländern sein! Durch eine op- timierte Anbindung an die Verkehrsinfrastruktur könnten diese zu Kristallisationspunkten für die Wirtschaftsent- wicklung einer ganzen Region werden. Auch in den strukturschwachen Gebieten meiner Hei- mat Schleswig-Holstein gibt es solche entwicklungsfähi- gen Messen, die das Potenzial zu überregionaler Bedeu- tung haben: Hierzu sind die „NORLA“ in Rendsburg, die „windtech Husum“ und die „RORO“ in Lübeck zu zählen, aber auch eine Gemeinde wie Kropp. Dort gab es 120 Aussteller und 18 000 Besucher in 3 Tagen. Das ist eine beeindruckende Bilanz für Initiatoren aus Wirtschaft und Gewerbe, die aus Eigeninitiative ehrenamtlich handeln. Die Parade von 55 lebensgroßen Ochsen aus Plastikmaterial brachte dieser Mini-Messe bundes- weite Beachtung. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen! Die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17369 (C) (D) (A) (B) „windtech Husum“ macht es vor: Gegenüber der Leis- tungsschau 1999 verdreifacht sich dieses Jahr die Aus- stellerzahl. 250 Aussteller aus 20 Ländern haben sich für die Windkraft-Leitmesse im September angemeldet. Einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder und damit auch zur Stärkung der Wett- bewerbsfähigkeit des Mittelstandes hat seit 1990 das För- derprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft für ostdeutsche Aussteller geleistet. Inzwischen sind bei der Heranführung der ostdeutschen Unternehmen an die na- tionalen und internationalen Märkte mithilfe von Messe- beteiligungen wichtige Fortschritte erzielt worden. Doch diese gute Entwicklung wird jetzt durch den Anti-Messe- Beschluss der Bundesregierung gestoppt. Das darf nicht sein! Die Praxis zeigt: Trotz der Bedeutung von Messen als Handels- und Kommunikationsplätze nutzen neu gegrün- dete Unternehmen das Marketing- und Vertriebsinstru- ment Messen im Vergleich zu langjährig am Markt tätigen Unternehmen nur ungenügend. Doch gerade für junge Unternehmen ist die Teilnahme an Messen für ihre Eta- blierung am Markt besonders wichtig. Grund dafür sind die hohen Kosten einer Messebeteiligung. Hier gilt es, zielgerichtet zu fördern, kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie Neugründungen unter die Arme zu greifen! Die deutsche Messewirtschaft ist seit Jahrzehnten frei von speziellen gesetzlichen Regelungen, etwa hinsicht- lich des Marktzugangs für Veranstalter oder der Gründung neuer Veranstaltungen. Die daraus entstandene intensive Wettbewerbssituation hat entscheidend zu der internatio- nal respektierten hohen Qualität der deutschen Messen beigetragen. Für jede Messe müssen die Interessen der Aussteller, Besucher und Veranstalter hinsichtlich Bezeichnung, No- menklatur, Standort, Termin, Dauer und Turnus von Mes- sen immer wieder aufs Neue zum Ausgleich gebracht werden. Der Ausstellungs- und Messeausschuss der deut- schen Wirtschaft wirkt daran als neutrale Clearingstelle hilfreich mit. Dadurch fördert er ein rationelles Messewe- sen im Sinne einer effektiven Subsidiarität, der Staat wird entlastet, die Wirtschaft gestärkt, die Bürger haben etwas von diesem Modell. Doch mit der Entscheidung der Bundesregierung, die Messeförderung drastisch einzuschränken, legt man die Axt an die Wurzel der Exportförderung. Unser Land muss Messeland Nummer eins in der Welt bleiben. Ernst Burgbacher (F.D.P.): Die Messewirtschaft stellt in Deutschland einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Die Zahlen sind beeindruckend: Sechs der zehn welt- weit umsatzstärksten Messegesellschaften befinden sich in Deutschland. Vier der fünf weltweit größten Messe- gelände befinden sich in Deutschland. Zwei Drittel der weltweit führenden Messen finden in Deutschland statt. Der Messestandort Deutschland hat eine führende Markt- position, wobei das Potenzial noch lange nicht ausge- schöpft ist. Für die regionale Wirtschaft haben Messen eine zen- trale Bedeutung. Verkehrsbetriebe und Taxiunternehmen, Logistik, Transport und Messebau, Einzelhandel, Kultur- und Freizeiteinrichtungen – es gibt kaum eine Branche, die nicht direkt oder indirekt an einer großen Messe mit- verdient. Die Umwegrendite für die regionale Wirtschaft im Umfeld einer großen Messe beträgt durchschnittlich das Fünf- oder Sechsfache. Das heißt im Klartext: Jede Mark, die auf der Leipziger Messe umgesetzt wird, bringt der Region etwa 5 bis 6 DM ein. Hotellerie und Gastgewerbe profitieren von den Aus- stellern und Besuchern. In Leipzig macht der Messe- und Kongresstourismus 30 Prozent der gesamten Zimmer- belegung aus. Wer je versucht hat, während der Buch- messe in Frankfurt noch ein Hotelzimmer zu bekommen, wird das Problem einer 100-prozentigen Zimmerbele- gung kennen. Von den jährlich 160 000 Ausstellern auf den deutschen überregionalen und internationalen Messen kommen 80000 aus dem Ausland, von ihnen etwa ein Drittel aus Übersee. Von den 10 Millionen Besuchern kommen etwa 2Millionen aus dem Ausland. Viele Aussteller und Messe- besucher nutzen die Messe auch für ein privates touris- tisches Besuchsprogramm. Gerade ausländische Gäste geben dabei überdurchschnittlich viel Geld aus. Deswegen ist es notwendig, dass die Einzugsgebiete eines Messestandortes flexibel auf die touristische Nach- frage reagieren können. Wie soll man etwa den Messegäs- ten aus Italien oder Frankreich klarmachen, dass sie nach einem langen Arbeitstag ab 22 Uhr bitte schön den Bier- garten zu räumen haben? Auf Messen werden informelle Kontakte geknüpft und nicht zuletzt viel gefeiert. Höchs- tens ein Gast aus Großbritannien würde bei unserer über- holten Sperrstundenregelung nicht verwundert den Kopf schütteln. Messen sind für Aussteller wie für Besucher meist ganztägige Veranstaltungen. Regionale Geschäfte im Umfeld des Messegeländes können davon kaum profitie- ren, da Messeschluss und Ladenschluss meist dicht bei- einander liegen. Messen müssen daher auch in Ihrer Be- deutung für die Tourismuswirtschaft ernst genommen werden. Ein guter Messestandort zeichnet sich vor allem auch dadurch aus, dass sich Gäste dort wohl fühlen. Ho- tellerie und Gastronomie müssen in die Lage versetzt wer- den, der Spitzenposition der deutschen Messewirtschaft auch gerecht zu werden. Dazu gehört erstens eine Liberalisierung der Sperrzei- ten, damit die Wirte auf die Bedürfnisse der Messegäste eingehen können. Dazu gehört zweitens eine Verlängerung der Öff- nungszeiten in der Außengastronomie. Biergärten und Straßencafes gehören gerade auch in den Augen der aus- ländischen Touristen zu den beliebtesten gastronomi- schen Betrieben. Biergärten stellen auch einen Teil unse- rer Lebensart und Kultur dar. Gerade hier sollten wir Toleranz und Weltoffenheit zeigen, anstatt mit Kleinka- riertheit unsere Gäste zu vertreiben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117370 (C) (D) (A) (B) Dazu gehört drittens eine Flexibilisierung der Laden- schlusszeiten, damit Aussteller und Besucher auch abends nach Messeschluss noch in Ruhe einkaufen können. Dazu gehört viertens die Förderung der Dienstleis- tungsbereitschaft. Es muss sich lohnen, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Messebesucher einzugehen. Die 630-Mark-Regelung verhindert, dass Wirte und Hoteliers kurzfristig zusätzliche Arbeitskräfte einstellen können, um etwa in Messezeiten dem größeren Aufkommen an Gästen gerecht zu werden. Auch die Besteuerung von Trinkgeldern schadet der Dienstleistungsbereitschaft. Der Erfolg einer Messe hängt entscheidend davon ab, wie zufrieden Aussteller und Besucher mit dem Service sind. Auch hier gilt die Devise: Ein zufriedener Gast kehrt wieder. Ursula Lötzer (PDS): Die Große Anfrage und der Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion bietet die Möglichkeit, über Eckpunkte der wirtschaftspolitischen Leitbilder von Regierung und der größten Oppositions- partei zu debattieren. Im Kern geht es der CDU/CSU um eine gleichblei- bende Subventionierung der deutschen Exportwirtschaft über die Messeförderung. Daran ist erst einmal nichts Eh- renrühriges, obwohl sonst von Ihnen bei jeder Gelegen- heit der Abbau von Subventionen und der Rückzug des Staates gefordert wird. Die Tatsache, dass zwei Drittel der weltweit führenden Messen in Deutschland stattfinden und sich dies positiv auf den Tourismussektor und die Be- schäftigung auswirkt, spricht scheinbar schon für sich. Wie aus den Antworten der Bundesregierung ersicht- lich, sind die regionalen Impulse also nicht zu vernach- lässigen. Aber ich gebe zu bedenken, dass es nicht nur um die Frage geht, wie der Status quo gehalten wird oder wie sich die deutsche Wirtschaft auf den Exportmärkten be- hauptet. Wichtiger ist, ob eine Politik, die primär auf den Export setzt, die wirtschaftlichen und vor allem sozialen Probleme in Deutschland auf die Dauer nachhaltig lösen kann. Die Antwort ist ein klares Nein. In den letzten Tagen und Wochen zeigte sich wieder das grundsätzliche Problem der strategischen Orientie- rung des Exportweltmeisters Deutschland: Die weltwirt- schaftliche Konjunktur bricht ein, die Talsohle ist im Mo- ment nicht absehbar und die deutsche Wirtschaft wird in starke Mitleidenschaft gezogen. Aus dem jahrzehntelang vernachlässigten Binnenmarkt gibt es nicht die notwendi- gen Impulse, um den Einbruch zu kompensieren. Die ver- sprochene Wende am Arbeitsmarkt rückt in weite Ferne. Das Wort Rezession macht bereits die Runde – eine Ent- wicklung, die wir von der PDS bereits vor Monaten hier im Plenum prognostiziert hatten. Damals wurden wir milde belächelt und als „Miesmacher“ bezeichnet. Heute muss sich Wirtschaftsminister Müller für die teilweise Anerkennung dieser Realität vor dem Kollegen Eichel und dem Bundeskanzler rechtfertigen. Mit einer stärkeren Exportsubventionierung wie im Falle der Messen, die das Marketing für Produkte „Made in Germany“ bereitstellen, wird sich das Problem man- gelnder Nachfrage im Inland aber nicht lösen lassen. Auf den Exportmärkten herrscht bereits ein großer Verdrän- gungswettbewerb. 90 Prozent der Warenströme kommen aus den wenigen OECD-Staaten und bleiben dort. Jeder versucht beim Nachbarn mehr abzusetzen, weil zu Hause die Löhne und die öffentliche Nachfrage sinken. Eine Po- litik der permanenten Exportüberschüsse ist dabei ebenso wenig dauerhaft wie kontinuierliche Defizite, wie im Falle der USA. Ganz zu schweigen von den sozialen Konsequenzen und Verteilungseffekten des Verdrängungswettbewerbs, der zulasten der Arbeitsbedingungen und der sozialen Standards geführt wird. Anschaulich wird dies in den Fra- gen der CDU/CSU-Fraktion, die längere Ladenöffnungs- zeiten im Zusammenhang von Messen einfordert, die vor- gesehenen Neuregelungen zur Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge ablehnt und sich für die Aufhe- bung arbeitsrechtlicher Bestimmungen ausspricht. Hier präsentieren die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU wieder ihre alten Vorstellungen eines libe- ralisierten Arbeitsmarktes, der befreit von staatlichen Re- geln aus sich heraus für „Vollbeschäftigung“ sorgen könne. Auch wenn diese Vorstellungen in den Zusam- menhang von „Globalisierung und Messewirtschaft“ ge- stellt werden, bleiben sie falsch und helfen nicht, sozial abgesicherte Arbeitsplätze zu schaffen. Die Messewirtschaft kann durchaus Impulse für dieses Ziel bieten, wenn sie in ein Konzept der Förderung des Binnenmarkts integriert wird. In ihren Antworten auf die Große Anfrage setzt die Bundesregierung aber leider auf eine weitere Liberalisierung der Märkte, ob auf dem EU- Binnenmarkt oder im Rahmen der Dienstleistungsver- handlungen in der WTO. Gefragt ist jedoch ein Strategie- wechsel, der nicht Protektionismus meint. Denn es ist kaum glaubhaft, dass alle klein- und mit- telständischen Unternehmen auf dem „Weltmarkt“ ihre Nische finden. Sie werden in der überwiegenden Zahl ihren Absatz auf dem Binnenmarkt und der Region be- halten. Und deshalb sind regionale Wirtschaftskreisläufe zu unterstützen, nicht nur aus ökologischer Einsicht, son- dern aufgrund strukturpolitischer Notwendigkeit. Eine Konzentration auf und Kooperation zwischen Messe- standorten könnte dabei helfen, die Produkte und Dienst- leistungen in der Region zu präsentieren und die Förder- mittel effizient einzusetzen. Eine ausreichend hohe kaufkräftige Nachfrage der Menschen vor Ort ist dabei aber Grundvoraussetzung, wobei wir beim Ausgangspunkt sind: Einseitige Export- orientierung verhindert genau diese hohe Massennach- frage und diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Un- sere Fraktion hat in den letzten Jahren genau hierfür zahlreiche Ansätze in die Debatte eingebracht. Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Mit der Großen Anfrage zur „Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der Globalisierung“ wird ein wichtiger Bereich der Dienstleistungswirtschaft angesprochen, dem die Bun- desregierung auch schon in der Vergangenheit ihre Auf- merksamkeit gewidmet hat. Messen und Ausstellungen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17371 (C) (D) (A) (B) im In- und Ausland haben für die exportorientierte deut- sche Wirtschaft eine zentrale Bedeutung. Messen und Ausstellungen sind Grundlage des Exportgeschäfts und stützen damit die inländische Produktion, Beschäftigung und die Steuereinnahmen des Staates. Als einem wichti- gen Teil des Außenwirtschaftsförderinstrumentariums kommt der Auslandsmesseförderung ein hoher Stellen- wert zu. Die staatliche Unterstützung ist Hilfe zur Selbst- hilfe zur Erschließung schwieriger ausländischer Märkte. Dabei zielt die Unterstützung insbesondere auf kleine und mittlere Unternehmen, die sich im Ausland keine eigenen Vertretungen leisten können. Insgesamt steht die Mittelstandsförderung im Zentrum der Auslandsmessepolitik. So hat die Bundesregierung im Jahr 1999 172 Auslandsmessen mitfinanziert, 2000 konn- ten 190 Auslandsmessen gefördert werden. 2001 wird sich die Zahl voraussichtlich auf 195 belaufen. Rund 90 Prozent der Messeteilnehmer sind mittelständischen Unternehmen zuzuordnen. Nicht zuletzt deshalb sieht die Bundesregierung in der Auslandsmesseförderung eine mittel- und langfristige Aufgabe. Es ist das übergeordnete Ziel der Bundesregierung, den Bundeshaushalt wieder in geordnete Verhältnisse zurück- zuführen. Deshalb sind Einschnitte in vielen Bereichen erforderlich, von denen auch die Auslandsmesseförde- rung nicht ausgenommen werden kann. Allerdings ist die Bundesregierung bemüht, im Interesse der langfristigen Stabilität die Absenkung des Etats in Grenzen zu halten. Ob es dadurch tatsächlich zu sehr viel weniger Auslands- messebeteiligungen kommen wird als in diesem Jahr und in den Vorjahren, wird ganz wesentlich davon abhängen, ob die Unternehmen bereit sind, mehr Eigenmittel in die geförderten Auslandsmessebeteiligungen einzubringen. Die Bundesregierung hält ein höheres finanzielles En- gagement der ausstellenden Unternehmen an den direkten förderfähigen Messekosten für angemessen und zumut- bar. Derzeit tragen die Aussteller durchschnittlich ein Drittel dieser Kosten. Bei höherer Eigenbeteiligung könnte durchaus die Zahl der Auslandsmessebeteiligun- gen gehalten werden. Die Förderquote der direkten Mes- sekosten würde dann im Schnitt immer noch über 50 Pro- zent liegen. Nach jahrzehntelanger finanzieller Unterstützung der Maßnahmen für die Vermarktung des „Messeplatzes Deutschland“ im Ausland erwartet die Bundesregierung nun eine Konsolidierung dieser Aktivitäten sowie einen gezielten Einsatz der Eigenmittel der Messewirtschaft für diesen Zweck. Die Messegesellschaften sind mit eigenen Marketingmaßnahmen sehr stark im Ausland engagiert, sodass eine übergreifende Werbung für den Messeplatz Deutschland auf wichtige Kernbereiche konzentriert wer- den kann. Vor dem Hintergrund der positiven Entwick- lung des „Messeplatzes Deutschland“ kann damit auch ein Beitrag zu den erforderlichen Haushaltseinsparungen geleistet werden. Für die deutsche Exportwirtschaft ist der Zugang zu den Auslandsmärkten von lebensnotwendiger Bedeutung. Die Bundesregierung bemüht sich daher, im Rahmen der angestrebten neuen WTO-Verhandlungsrunde weitere Maßnahmen zur Marktöffnung und Zollsenkung durch- zusetzen. Dabei gilt unser besonderes Augenmerk dem Dienstleistungsbereich und Fortschritten auch im Touris- mussektor. Ohne den gewünschten Abbau von Handelshemmnis- sen kann eine gezielte Messeförderung nicht ihre ge- wünschte Wirkung entfalten. Für die deutsche Export- wirtschaft und damit auch für die Veranstaltung von Auslandsmessen sind noch zahlreiche weiße Flecken auf der Weltkarte zu erschließen. Im Zeitalter der Globalisie- rung und der immer stärkeren internationalen Vernetzung der Märkte kommen daher auf die Auslandsmesseförde- rung auch in Zukunft gewichtige Aufgaben zu. Für die deutsche Wirtschaft ist ein weiterer Ausbau des Auslandsmesseförderinstrumentariums als Instrument der Markterschließung von hoher Priorität. Durch die ver- stärkte Vermarktung des Ziellandes Deutschland durch die Deutsche Zentrale für Tourismus und das German Convention Bureau bemühen wir uns, auch die Zahl der ausländischen Messebesucher in Deutschland zu erhöhen. Die Aktivitäten der beiden genannten Organisationen zie- len insbesondere auf das Segment Geschäftsreisen ab. Konkret steht die Werbung für den Besuch von Messe- veranstaltungen in Deutschland im Mittelpunkt. Die Vi- saerteilungen an Messe-Aussteller und -Besucher insbe- sondere aus der Volksrepublik China, der Ukraine und aus Russland laufen nun reibungslos, nachdem Verfahren ein- geführt wurden, die sicherstellen, dass Visaanträge von Geschäftsleuten vorrangig bearbeitet werden. Dadurch leisten die Visastellen zusammen mit den Wirtschafts- diensten an den deutschen Auslandsvertretungen einen hervorragenden Beitrag zur Stärkung des Messestandor- tes Deutschland. Durch die Neuorientierung des Vorsteuerabzugs aus Reisekosten am europäischen Recht verbessert die Bundesregierung die Voraussetzungen für in- und aus- ländische Interessenten zur Teilnahme an Messen in Deutschland. Die Bundesregierung hält im Übrigen Aus- nahmeregelungen für Dienstleister im Bereich der Mes- sewirtschaft bei Teilzeitarbeit und der Befristung von Arbeitsverträgen nicht für angebracht. Diese Messe- Unternehmen können keine Sonderstellung beanspru- chen, sondern können die vorhandenen Flexibilitäten im Teilzeit- und Fristarbeitsrecht ausschöpfen. Der zunehmende Einsatz virtueller Medien im Zusam- menhang mit Messen wird von der Bundesregierung aus- drücklich begrüßt. Sie wertet dies als eine sinnvolle Er- gänzung für die Verbesserung der Attraktivität deutscher Messen, sieht allerdings auch längerfristig keine Substi- tution oder grundsätzliche Wandlung der Messeland- schaft durch dieses Medium. Fusionen von, Messeveranstaltern – hier gab es in jün- gerer Zeit einige Bewegung in der Messelandschaft – werden von der Bundesregierung unter rein wettbewerbs- rechtlichen Gesichtspunkten geprüft. Prüfungsmaßstab ist dabei die Frage, ob durch den Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wer- den könnte. Dies ist bei den bisherigen Anträgen an das Bundeskartellamt nicht festgestellt worden. Es bleibt ab- zuwarten, ob sich in dieser Entwicklung in Zukunft Än- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117372 (C) (D) (A) (B) derungen in der Art ergeben, dass die Bundesregierung Anlass sieht, sich einzuschalten. Die Bundesregierung hält die „Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der Globalisierung“ trotz der notwen- digen Haushaltskürzungen für weiterhin gesichert und aussichtsreich. Der Messestandort Deutschland hat seine internationale Bedeutung nachhaltig unter Beweis ge- stellt. Auch im Auslandsmessegeschäft sind und bleiben deutsche Dienstleister und Aussteller an der Weltspitze. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichtes: Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabetes-Versorgung (Tagesordnungs- punkt 14) Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist schade, dass eine solch bedeutende Angelegenheit, die die Lebensfrage für 6 Millionen an Diabetes erkrankten Men- schen betrifft, zu solch später Stunde im Parlament zur Sprache kommt. Es ist schade, weil damit auch die Be- troffenen selbst nicht die Möglichkeit haben, wenn es um ihre Zukunft geht, dabei zu sein. Wenn ich an die Diabe- tes-Versorgung in Deutschland denke, dann trifft schwarz voll ins Schwarze. Mit schwarz ist Prof. Schwartz ge- meint, der Vorsitzende des Sachverständigenrats der Kon- zertierten Aktion im Gesundheitswesen, der mit seiner Feststellung „Das deutsche Gesundheitswesen leistet nicht, was es leisten könnte. Es hat zu wenig Zielorientie- rung, Patientenorientierung und Qualitätsorientierung.“ voll ins Schwarze getroffen hat. Wir wollen in Deutschland für diabeteskranke Men- schen eine Regelversorgung einführen. Damit wird deut- lich, dass wir zwar viel Erkenntnisse über Modellprojekte gewonnen haben, aber ein Flickenteppich ist keine Ant- wort auf die Herausforderung in Deutschland für die sechs Millionen an Diabetes mellitus Erkrankten. Über 90 Prozent dieser Menschen haben eine Typ 2-Diabetes. Diese Diabetes-Form ist meist mit Übergewicht, Blut- hochdruck und Stoffwechselstörungen verbunden. 250 000 Menschen in Deutschland haben eine Typ 1-Dia- betes. Diese Menschen müssen immer mit Insulin behan- delt werden. Aber das Grausame an dieser „schleichenden nicht schmerzhaften Krankheit“ ist, dass 9 000 Diabetiker pro Jahr ein Nierenversagen erleiden. Jeder dritte Dia- lysepatient ist ein Diabetiker. Der Anteil der Diabetiker steigt. Jeder zweite Patient, der neu eine dauerhafte Dia- lyse-Behandlung braucht, ist ein Diabetiker. Über 90 Prozent der Diabetiker bekommen Netzhaut- veränderungen der Augen. Das Risiko bei Menschen mit Diabetes, zu erblinden, ist um das Zehnfache höher. Pro Jahr erblinden mindestens 3 000 Diabetiker. Dies ist jeder Dritte, der neu erblindet. Aber das ist noch nicht alles. 25 000 Fuß- und Beinamputationen, das sind 70 Prozent aller Amputationen, werden jährlich bei Menschen mit Diabetes vorgenommen. Das Risiko bei Herzanfällen und Schlaganfällen ist bei diesen betroffenen Menschen stark erhöht. 35 000 tödliche Herzanfälle und 30 000 Schlagan- fälle erleiden diabeteskranke Frauen und Männer. Helfen Sie mit, dass in Deutschland diese Entwicklung endlich ein Ende findet. Wenn Sie jetzt immer noch keinen Handlungsdruck spüren, dann ist ihnen nicht mehr zu helfen. Das deutsche Gesundheitswesen leistet nicht, was es leisten könnte. Was könnte es leisten? Wir könnten 50 Prozent der Am- putationen vermeiden. Wir könnten ein Drittel der Neu- erblindungen vermeiden und ein Drittel der Betroffenen müssten nicht bei Nierenversagen an eine Dialyse. Also brauchen wir Gesundheitsziele; wir brauchen eine Ziel- orientierung. Deshalb beschließen wir heute das erste Gesundheits- ziel im Deutschen Bundestag. Damit schaffen wir das Zielbewusstsein, die Setzung von nachvollziehbaren Pri- oritäten, die Ableitung von konkreten Versorgungszielen und die Orientierung für gesundheitspolitische Pro- gramme wie unseren Nationalen Aktionsplan Diabetes. Dass unsere Gesundheitsziele keine Utopie sind, wird durch Studien belegt. Ich will nur eine davon herausneh- men – die United Kingdom Prospective Diabetes Study – UKPDS – von 1998. Damit wurde belegt, dass bei einer Verminderung des Blutzuckers um nur 1 Prozent 21 Pro- zent der diabetesbezogenen Komplikationen vermieden wurden. Um 25 Prozent erfolgte eine Verminderung der diabetesbezogenen Todesfälle und eine 17-prozentige Vermindung der Gesamtsterblichkeit, aber auch eine 35-prozentige Verminderung des Risikos von Folgeer- krankungen von Augen und Nieren. Aber wenn Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die menschliche und die medizinische Di- mension unseres Lösungsansatzes nicht überzeugen sollte, dann vielleicht die ökonomische: 2 300 DM kostet ein gut eingestellter Diabetiker. 11 000 DM kostet ein mit- telmäßig eingestellter Diabetiker. 23 000 DM kostet ein schlecht eingestellter Diabetiker und 35 000 DM kostet ein Diabetiker mit Folgeerkrankungen im Jahr. Der Lern- satz daraus heißt 1 zu 10; das heißt, ein gut eingestellter Diabetiker kostet ein Zehntel. Das bei dem Antrag mein Herzblut eine wichtige Rolle spielt, ist nicht verborgen geblieben. Was mein Herz al- lerdings schneller schlagen lässt, ist der Rückenwind, den wir jetzt verspüren. Nicht nur die Betroffenen, die mit ei- ner hohen Erwartungshaltung nach Berlin blicken, son- dern ein Rückenwind in vierfacher Art bringt uns voran: Erstens. Aus dem Gesamtkonzept „Gesundheitsziele“ der Bundesregierung, an dem noch gearbeitet wird, haben wir einvernehmlich das Gesundheitsziel Diabetes vorge- zogen. Zweitens. Wir haben die Unterstützung aus dem Sachverständigenrat, der Gesundheitsförderung und Prä- vention ganz in den Vordergrund stellt. Drittens. Durch den neuen Risiko-Strukturausgleich in der Krankenversi- cherung wird der Wettbewerb um die bestmögliche Versorgung der Patientinnen und Patienten eingeführt. Viertens. Durch die Neuordnung der Arzneimittelver- ordnung wird der richtige Rahmen für Diabetiker gesetzt. Zum zweiten Rückenwind zurückkehrend: Der Sach- verständigenrat hat festgestellt, dass wir durch einen ent- sprechenden Umbau des Gesundheitswesens in Richtung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17373 (C) (D) (A) (B) Prävention rund 25 bis 30 Prozent der heutigen Gesund- heitsausgaben langfristig vermeiden können. Zum dritten Rückenwind zurückgekehrt, werden wir mit dem Risiko- Strukturausgleich schon ab dem 1. Januar 2002 Disease- Management-Programme für chronische Erkrankungen, allen voran Diabetes, einführen. Damit wird der Wettbe- werb der Krankenkassen weggeführt, um die so genann- ten guten Risiken und hingeführt zu einem Wettbewerb um die bestmöglichste Versorgung von chronisch kranken Menschen. Nur die Krankenversicherung, die entspre- chend geprüfte Versorgungskonzepte anbietet und die ihre Mitglieder überzeugt, dass sie daran teilnehmen, was sie durch eine Unterschrift bestätigen müssen, bekommt in Zukunft eine entsprechende Ausgleichszahlung. Damit wird ein ganz entscheidender Schritt zu einem überzeu- genden Versorgungskonzept gemacht, mit dem wir dieses Gesundheitsziel nun rascher erreichen können, als wir dies noch vor einem halben Jahr gedacht haben. Zurück zum Rückenwind Nummer vier: Vielfach wurde unser Nationaler Aktionsplan Diabetes kritisiert, weil man die Auffassung vertrag, er wäre mit der Verord- nungspraxis von Arzneimitteln nicht kompatibel. Nun geht die Regierung und die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt einen neuen Weg. Die Ärzteschaft und die Kran- kenkassen können Vereinbarungen treffen, die neben ei- nem Ausgabenvolumen für Arzneimittel auch konkrete Ziele und die Schritte zur Umsetzung benennen. Qualita- tive Versorgungskriterien sollen stärker berücksichtigt werden. Auch für Richtgrößen sollen die Krankheitsarten künftig mit einbezogen werden. Zusammengefasst eine maßgeschneiderte Lösung für die Versorgung von chronisch kranken Diabetikerinnen und Diabetikern in Deutschland: Lassen Sie sich von un- serem Rückenwind mit antreiben und stimmen Sie unse- rem Antrag zu! Die betroffenen Menschen werden es Ih- nen danken. Denn Sie wollen nicht noch einmal zehn Jahre warten, bis eine Regierung nach eingegangenen Verpflichtungen handelt. Die Betroffenen haben nicht vergessen, dass die alte Bundesregierung die St.-Vincent- Erklärung von 1989 unterschrieben hatte, aber keine Ta- ten folgen ließ. Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Der Diabetes mellitus, die Zuckerkrankheit, und die damit in Zusammenhang stehenden Folgeerkrankungen stellen angesichts ihrer Häufigkeit eine Volkskrankheit dar, die zu einer empfind- lichen Reduzierung von Leistungsfähigkeit, Lebensqua- lität und Lebenserwartung der Betroffenen führen kann. Nicht selten sind Herzinfarkte, Nierenversagen, Amputa- tionen oder Erblindung die dramatischen Folgen dieser Erkrankung. In Deutschland geht man von geschätzten 5 Millionen Menschen mit Diabetes aus. Bereits im Jahre 1989 wurden deshalb von Ärzten, Wissenschaftlern, Politikern und Menschen mit Diabetes durch die St.-Vincent-Deklaration Zielvorgaben für eine Verbesserung der Betreuung von Menschen mit Diabetes festgelegt. Der Antrag der Koalition, über den wir heute beraten, stellt also vom Grundsatz her nichts Neues dar. Auch wir – wer wollte das nicht? – setzen uns für eine bes- sere medizinische Versorgung von Diabetikern ein, leh- nen diesen Antrag jedoch ab, da der aufgezeigte Weg dort- hin falsch ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse und damit das fachliche Instrumentarium für eine Verbesserung der ambulanten Betreuung von Diabetikern sind ausreichend vorhanden und bedürfen nicht zusätzlicher staatlicher In- tervention. Wenn Sie der alten Bundesregierung Untätig- keit vorwerfen, geht der Vorwurf ins Leere. Wahr ist viel- mehr, dass bereits unter der alten Bundesregierung zahlreiche Modellvorhaben zur integrierten Versorgung von Diabetikern in mehreren Bundesländern begonnen und mitfinanziert wurden. Ein besonders positives Beispiel ist hierfür das Modell- vorhaben in Thüringen, von dem sich Kollege Schmidbauer bei einem Besuch der AOK Thüringen selbst überzeugen konnte. Hier wurden bereits 1995 auf- bauend auf den epidemiologischen Erkenntnissen der früher in der ehemaligen DDR praktizierten Dispensaire- betreuung von Diabetikern neue Wege der Behandlung eingeschlagen. Im April 1998 wurde letztlich ein Ver- tragswerk der AOK und der Kassenärztlichen Vereini- gung Thüringens unter finanzieller Beteiligung der alten Bundesregierung als Modellvorhaben abgeschlossen. Charakteristisch sind dabei Behandlungskorridore zwi- schen 200 beteiligten Hausärzten und 35 diabetologi- schen Schwerpunktpraxen, die nach Qualitätskriterien re- geln, wann ein Patient vom Hausarzt an die Schwerpunktpraxis und von da aus wieder zurück an den Hausarzt überwiesen wird. Als Grundlage für eine wis- senschaftlich fundierte Dokumentation über den Umfang der Behandlung dient hierzu der Diabetes-Pass der Deut- schen Diabetesgesellschaft. Wesentliche Elemente des Modellvorhabens sind Qualitätsmanagement und eine Ziel-Anreizvergütung. Dabei ist eine Zusatzvergütung der am System beteiligten Leistungserbringer an Erfüllung von Versorgungs- und Schulungsaufträgen sowie an die Vollständigkeit der entsprechenden Dokumentation ge- bunden. Somit wird eine Vergütungsgerechtigkeit erzielt, die sich nicht an der Menge, sondern an der Qualität der erbrachten Leistung orientiert: Ein entscheidender Qua- litätssprung konnte auch bei den Schulungsleistungen er- zielt werden. Prävention und Aufklärung spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Landesweit sind allein 40 re- gionale Selbsthilfegruppen tätig und sowohl 1999 als auch im Jahre 2000 konnten mit dem Infomobil „Diabe- tes und Hochdruck“ in insgesamt 90 Orten wichtige In- formationen zum gesundheitsbewussten Verhalten und über die Risikofaktoren Übergewicht und Bewegungsar- mut vermittelt werden. Wenn im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen behauptet wird, die Ärzteschaft habe den Auftrag der St.- Vincent-Deklaration nicht angenommen, so ist dies schlichtweg eine böswillige Unterstellung, mit der sie die zahlreichen Modellvorhaben und Strukturverträge der Selbstverwaltung diskreditieren. Tatsache ist, dass bun- desweit mit 19 von 23 Kassen und kassenärztlichen Ver- einigungen Verträge abgeschlossen wurden. Allerdings – dies war die einhellige Meinung auch der Sachverstän- digen zur Anhörung – ist diese Art der integrierten Ver- sorgung nicht zum Nulltarif zu haben. Wenn die positiven Erfahrungen der Modellvorhaben bisher nicht generell auf die gesamte Betreuung von Diabetikern übertragen werden konnten, so ist dies vorrangig der Budgetierung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117374 (C) (D) (A) (B) geschuldet. Mittlerweile haben auch Sie von der Koalition das anerkannt, denn nicht umsonst planen Sie bei der Än- derung des RSA, den Kassen mehr Geld zu geben, die Di- sease-Management betreiben. In Ihrem Antrag hingegen kommen die Worte „Finan- zierung“ oder „Kosten“ nicht an einer einzigen Stelle vor. Nach Angaben der KV Südwürttemberg erfordert die Be- treuung eines Typ-II-Diabetikers innerhalb eines Struk- turvertrages unter Einbeziehung von Diabetologen in Schwerpunktpraxen, Nephrologen und Augenärzten ei- nen zusätzlichen Finanzbedarf von 800 DM pro Patient und Jahr. Hochgerechnet auf 5 Millionen Diabetiker in Deutschland würden sich daraus Mehrkosten von 4 Milli- arden DM ergeben. Es ist geradezu abenteuerlich, dass dieses unter der geltenden Budgetierung auch nur ansatz- weise zu leisten ist. Dabei ist die von Ihnen, uns und allen Fachleuten geteilte Auffassung, die medizinische Fuß- pflege in die ambulante Betreuung von Diabetikern ein- zubeziehen, finanziell nicht einmal berücksichtigt. Und nun wird es grotesk: Mit der rot-grünen Mehrheit soll heute ein Antrag verabschiedet werden, mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, bis Ende 2001 eine Fachkommission zur Durchsetzung einer verbesserten Be- treuung von Diabetikern einzusetzen, die dann bis Mitte diesen Jahres einen entsprechenden Bericht vorlegen soll. Deshalb stellt sich die Frage, wenn es stimmt, dass Sie ja alles besser machen wollten als die alte Bundesregierung, weshalb Sie nach der Bundestagswahl 1998 zwei Jahre gebraucht haben, um diesen Antrag einzubringen, und weshalb sie die parlamentarische Beratung des Antrages nicht beschleunigt haben, um die Termine zu halten. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei Ihrem Antrag vom 11. Oktober 2000 um einen populistischen Schnell- schuss handelte angesichts des damals bevorstehenden Weltdiabetestages im November. Auch Ihre Forderungen nach einem nationalen Aktionsplan und nach einem wei- teren Kompetenzzentrum beim medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen sind aus unserer Sicht ein Schritt zu mehr Dirigismus. Wir meinen, nicht das ständige Drehen an der Spirale staatlicher Interven- tionen, sondern vielmehr Vertrauen in die Selbstverwal- tung, mehr Freiräume für sie, mehr Freiräume für bürger- nahe Lösungen und mehr Wettbewerb unter den Kassen sind der Weg zur Verbesserung der Betreuungssituation von Diabetikern und vor allem: Es müssen die notwendi- gen finanziellen Voraussetzungen hierfür vorhanden sein. Sie selbst sprechen in Ihrem Antrag von einem Paradig- menwechsel im Gesundheitswesen, wenn Sie einen Rechtsanspruch von Diabetikern auf eine integrierte Ver- sorgung fordern. Abgesehen davon; dass einer Umset- zung des Antrages Ihre Budgetierung entgegensteht, stellt sich die Frage: Wer gibt Ihnen eigentlich das Recht, ein- seitig einen Rechtsanspruch für Diabetiker auf eine inte- grierte Versorgung einzufordern? Und was sagen Sie ei- gentlich anderen chronisch Kranken, wie zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit Osteoporose, Asthma und Rheuma? Was erzählen Sie diesen kranken Menschen, wenn sie gleiche Rechte für sich einfordern? Nein, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie können sich das unter den gegenwärtigen Bedingungen der Budgetierung nicht leisten. Das Ergebnis spüren chro- nisch Kranke: Sie sind medizinisch zunehmend unterver- sorgt und damit zu Patienten zweiter Klasse abgestempelt. Nun beraten wir ja morgen in erster Lesung den Gesetz- entwurf der Koalition zur Ablösung der Arzneimittel- und Heilmittelbudgets. Das zeigt zumindest, dass sie partiell lernfähig sind und zu Erkenntnissen gekommen sind, die wir schon vor Jahren hatten. Offensichtlich mussten auch Sie zur Kenntnis nehmen, dass trotz oder wegen der Bud- getierung die Defizite der GKV von 1,7 Milliarden DM im ersten Quartal 2000 auf 2,2 Milliarden DM im zweiten Quartal 2001 angestiegen sind. Ihre Gesundheitsministe- rin Frau Schmidt führt gegenwärtig Konsensgespräche und initiiert runde Tische mit keinem anderen Ziel als dem, bis zur Bundestagswahl 2002 für Ruhe an der Ge- sundheitsfront zu sorgen. Ihre Gesundheitsreform 2000 – als Jahrhundertwerk gefeiert – ist bereits ein Jahr später gescheitert. Der große Wurf bleibt aus Angst vor den Wählerinnen und Wählern und der eigenen Fraktion aus. Mit Blick auf die Koalition kann ich nur sagen: Stamp- fen Sie Ihren Antrag ein. Er ist kein Beitrag zu einer Ver- besserung der Situation von Menschen mit Diabetes in Deutschland und hören Sie auf, den Diabetikern vorzu- gaukeln, sie hätten Anspruch auf eine bessere Versorgung, die obendrein nicht mehr kostet. Die Anhörung hat Ihrem Antrag ein vernichtendes Urteil beschert und auch unsere Fraktion wird ihn heute ablehnen. Katrin Göring-Eckhardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ich freue mich, dass der Antrag zur Qualitätsstei- gerung in der Diabetesversorgung heute zur Beschluss- fassung ansteht. Trotz medizinischer Behandlungsmöglichkeiten be- deutet die Erkrankung an Diabetes eine erhebliche Ein- schränkung der Lebensqualität. Obwohl die Leistungsfä- higkeit eines Diabetikers gleich der eines Gesunden ist, erfordert ein Leben mit Diabetes viel Disziplin und eine gute und richtige medizinische Behandlung. Diabetes ist bis heute nicht heilbar. Ärzte können den Menschen mit medizinischen Mitteln eine höhere Le- bensqualität geben und Spätfolgen oder zu befürchtende Komplikationen lindern. Optimal werden die mehr als 4 Millionen Diabetiker hierzulande nicht behandelt. Eine bundesweite Untersu- chung hat gezeigt, dass bei circa 40 Prozent der über 50-jährigen Diabetiker die Stoffwechseleinstellung nicht akzeptabel ist. Dies ist ein Grund dafür, warum es zu Dia- betes-Folgeerkrankungen wie Erblindungen, Nierenver- sagen und Amputationen kommt. Nach wie vor betreffen seit 1990 zwei Drittel aller in Deutschland durchgeführ- ten Amputationen Diabetiker, jeder zweite neu dialysierte Patient und jeder dritte neu Erblindete ist ein Diabetiker. Nur durch eine rechtzeitige und intensive Betreuung der Patienten kann dieser Missstand behoben werden. Die Versorgung der heute rund 4 Millionen an Diabetes er- krankten Menschen in der Bundesrepublik hat sich unter der alten Bundesregierung nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17375 (C) (D) (A) (B) Die Diskrepanz zwischen den neuen medizinisch-wis- senschaftlichen Kenntnissen und deren Umsetzung in der Praxis ist weiter gewachsen. In den Niederlanden sind aufgrund einer besseren Diabetesbehandlung nur 13 Pro- zent der Dialysepatienten Diabetiker. Auch die bisher größte Studie zum Diabetes, die Ende 1998 veröffent- lichte United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) bietet den Beleg, dass Diabetes-Folgeerkran- kungen verhindert werden können, je intensiver Diabeti- ker behandelt werden. Sie gibt die absolute Gewissheit, dass eine strenge Blutzucker- und Blutdruckkontrolle das Risiko diabetischer Folgeerkrankungen vermindert. Briti- sche Wissenschaftler haben rund 20 Jahre lang mehrere tausend Diabetiker mit verschiedenen Therapieformen behandelt und den unterschiedlichen Erfolg dokumen- tiert. Dies weist darauf hin, dass die Diabetestherapie in der Bundesrepublik Deutschland dem aktuellen medizini- schen Wissen hinterherhinkt und eine ausreichende sach- gerechte Versorgung nicht gewährleistet ist. Das ist nicht nur verantwortungslos gegenüber den Kranken, sondern auch schlicht unsinnig im Hinblick auf die unnötig hohen Ausgaben für die Krankenkassen. Eine mangelhafte Versorgung führt zu höheren Kosten, die – wie eine bereits im Jahr 1979 in Schweden vorgelegte Studie zeigt – bei früh erkannten und gut eingestellten Diabetikern nur einen Bruchteil betragen würden. Obwohl die schon lange bekannt ist, hat die alte Bun- desregierung nicht gehandelt. Sie trägt damit die Verant- wortung für eine nicht ausreichende Versorgung von Dia- betespatienten. Vielleicht hätten einige Folgeerkrankungen verhindert werden können. Ich möchte eigentlich nicht mit den unnötig verursachten Kosten argumentieren, die ein unzureichend oder schlecht behandelter Patient verursacht. Denn es geht hier um Menschen, die mit der geeigneten medizinischen Versor- gung schlicht besser und unter Umständen auch länger le- ben können. Aber lassen sie mich an einem Beispiel verdeutlichen, wie sinnvoll es ist, in einer frühen Phase der Erkrankung in eine intensive Behandlung zu investieren. Die Kosten für einen gut eingestellten Typ II-Diabetiker betragen 1 000 bis 1 200 DM, während die Kosten für einen schlecht eingestellten Diabetiker vom Typ II 11 000 bis 13 500 DM betragen. Von den Kosten für Folgeerkran- kungen sei hier noch abgesehen. An diesem Beispiel wird sichtbar: Steigerungen der Qualität gehen oft mit lang- fristigen Kostensenkungen einher. Deshalb beschreiten wir diesen Weg schon seit der Gesundheitsreform 2000. Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 we- sentliche Schritte unternommen, um die Versorgung von chronisch Kranken wie Diabetespatienten zu verbessern: mit der Aufnahme der Patientenschulung als ergänzende Leistung zur Rehabilitation, mit Regelungen für eine in- tegrierte Versorgung und der Einführung von Qualitätssi- cherungsmaßnahmen. Wir fordern in unserem Antrag, dass die Verbesserung der Diabetesversorgung von der Bundesregierung als vor- rangiges Gesundheitsziel erklärt wird und konkrete Ver- sorgungsziele gemäß der St. Vincent-Deklaration von 1989 definiert werden, die bis 2005 umgesetzt werden sollen. Die Ziele orientieren sich an der Vermeidung der Folge- erkrankungen. Zur Umsetzung dieser Ziele soll daher bis Ende 2001 eine Kommission eingesetzt werden, die einen konkreten Maßnahmenkatalog als Basis zum „Nationalen Aktionsplan Diabetes“ bis Ende 2002 erarbeiten soll. Wir werden an der Kommission medizinisches Fachpersonal aus dem Bereich der Diabetesbehandlung, Vertreter der Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und der Patienten- verbände beteiligen. Die neu zu schaffende Kommission fordern wir auf, bis spätestens 2001 einen Bericht über den anzustrebenden Versorgungszustand vorzulegen. Wir haben bereits im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 mit dem Paragraphen § 43 Abs. 3 SGB V einen erweiterten rechtlichen Rahmen für die Krankenkassen geschaffen, Patientenschulungsmaßnahmen bedarfsge- recht anzubieten. Wir wollen daher auf die Krankenkas- sen einwirken, diese Schulungen auch tatsächlich anzu- bieten. Diese Schulungsangebote, die den Umgang mit der Krankheit und das Wissen darüber vermitteln, tragen wesentlich zu einer besseren Bewältigung der Krankheit und damit zu einer höheren Lebensqualität des Kranken bei. Wir wollen ferner, dass auf die Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen eingewirkt wird, damit die Fußpflege für Diabetiker in den Leistungskatalog der ge- setzlichen Krankenkassen aufgenommen wird. Der mit der Gesundheitsreform eingeschlagene Weg der integrierten Versorgung ist auch hier richtig. Wir wol- len dafür sorgen, dass innerhalb einer integrierten Versor- gung von Haus- und Fachärzten sowie Kliniken auch zum Beispiel medizinische Fußpfleger oder Ernährungsberater miteinander kooperieren und so eine bessere Versorgung von Diabeteskranken sowie eine bessere Prävention von Folgekrankheiten stattfinden kann. Der häufigen Forderung von Diabetikerverbänden, dass der Staat eine Diabeteskampagne startet, tragen wir auch mit unserem Antrag Rechnung. Sofern die dazu benötigten Haushaltsmittel bereitgestellt werden können, wollen wir eine breit angelegte Aufklärungskampagne starten. Eine Aufklärungskampagne macht Sinn, denn für die Entstehung von Diabetes mellitus Typ II, die so genannte Altersdiabetes, sind zum Teil vermeidbare Risikofaktoren ausschlaggebend. Neben der erblichen Vorbelastung stehen vor allem Übergewicht und Bewe- gungsmangel im Vordergrund. Auch auf Ärzte und Kran- kenkassen soll eingewirkt werden, die medizinische Fußpflege für Diabetiker in den Leistungskatalog der ge- setzlichen Krankenkasse aufzunehmen. Eine Verbesserung der Diabetesversorgung ist längst überfällig. Im Sinne der Patienten bitte ich Sie daher, die- sem Antrag zuzustimmen. Detlef Parr (F.D.P.): In Deutschland leben circa 7,5 Millionen Diabetiker, die Kosten von circa 40 Milli- arden DM pro Jahr verursachen. Pro Jahr ergeben sich hieraus als Folgeerkrankungen 28 000 Amputationen, 2 300 Erblindungen sowie 4 000 neue Dialysen. Nach Aussage von Professor Scherbaum von der Deutschen Diabetes-Forschungsgesellschaft sind 50 Prozent dieser Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117376 (C) (D) (A) (B) Folgeerkrankungen vermeidbar. Die Dimension zeigt, dass Handlungsbedarf sowohl im Sinne der Menschen als auch im Sinne einer größeren Wirtschaftlichkeit gebo- ten ist. Der Antrag der SPD beschränkt sich nicht etwa darauf, vernünftige Vorschläge zu machen, wie diese Situation verbessert werden könnte, sondern zunächst werden völ- lig unhaltbare Behauptungen aufgestellt. So wird unter anderem behauptet, die alte Bundesregierung habe die Selbstbindung der Erklärung von Sankt Vincent schlicht- weg ignoriert. Auch die Ärzteschaft habe den Auftrag nicht angenommen. Die Versorgung der Diabetiker in der Bundesrepublik Deutschland habe sich nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert. Diese Aussage kann so nicht stehen bleiben. Professor Brech, unterstützt durch Dr. Hansen von der KV Nordrhein, hat in der Anhörung berichtet, dass es in 18 von 23 KVen strukturierte Diabe- tesverträge mit intensiven Schulungen der Diabetiker, In- teraktionen zwischen Hausarzt, diabetologisch versiertem Arzt, Internisten, Nekrologen und Augenarzt sowie Im- plementierungen einer Fußambulanz gibt. Auch in der Arzneimittelversorgung seien Therapieziele nach den Er- kenntnissen der modernen Wissenschaft definiert worden, die unter anderem auf den HbA1c-Werten, den Blut- druckwerten und dem Cholesterinspiegel beruhen. Nur: dafür sind circa 800 DM pro Diabetiker pro Jahr an Mehr- ausgaben erforderlich, die im Rahmen des Arzneimittel- budgets nicht zur Verfügung stehen. Daran wird sich im Übrigen auch durch die Neukonstruktion der Arzneimit- telrichtgrößen nur dann etwas ändern, wenn die von der Bundesregierung vorgesehene darüber gewölbte Ober- grenze diese Neuentwicklungen berücksichtigt. Herr Windisch vom Verband der Krankenversicherten Deutschlands hat in der Anhörung deutlich gemacht, dass er dort das Hauptproblem sieht: „In dem vorliegenden An- trag wird in keinster Art und Weise darüber – die Auswir- kungen des Arzneimittelbudgets – geredet. Gerade Abge- ordneter Horst Schmidbauer hat im Jahre 1997 über die Budgetierung geschrieben. Dabei hat er auch auf die Pro- blematik hingewiesen, wenn am Ende des Quartals die Zahlen abgerechnet werden. Im vorliegenden Antrag wird diese Problematik verschwiegen.“ Ein weiteres Zitat: „Professor Brech hat es eben gesagt, 18 von 23 KVen ha- ben Diabetesverträge abgeschlossen. Das heißt, wenn man sagt, die Selbstverwaltung hat hier versagt, dann geht das etwas zu weit. Es muss natürlich noch einiges getan werden, das ist ganz klar. Aber einfach zu sagen, die Selbstverwaltung hat hier versagt, ich glaube, da macht man sich die Problematik etwas zu einfach.“ Keinesfalls vernachlässigt werden darf, dass es teil- weise einfach nicht gelingt, die Menschen für die Not- wendigkeit bestimmter Maßnahmen zu sensibilisieren. Nur ein Diabetiker, der mitspielt, kann auch entsprechend versorgt werden. Nur dann gelingt es, Folgeerkrankungen zu vermeiden bzw. zumindest zu verzögern. Zudem: Die Experten sind sich darin einig, dass man im Detail daran arbeiten muss, bestehende Strukturverträge zu verbes- sern, die Leitlinien weiterzuentwickeln, die Patienten für eine Mitarbeit zu gewinnen. So etwas ist nicht über bun- desweit allgemein verbindliche Vorgaben zu schaffen. Die in Ziffer 10 des Antrages aufgeführten Maßnah- men sind nicht ausreichend. Mit einer Kampagne allein wird nur eine kurzfristige Aufmerksamkeit erzielt. Eine gesundheitliche Aufklärung und Erziehung kann nur durch breiter angelegte Maßnahmen, die auch den schuli- schen und den Kindergartenbereich mit einschließen, er- folgreich sein. Gerade die Kosten verursachende chroni- sche Erkrankung Diabetes, die auch schon im Kindesalter auftritt, ist durch Unterricht und Aufklärung beeinfluss- bar. Professor Dr. Henrichs von der Deutschen Diabetes- union stellt zum Beispiel die Frage, wie eine zielorien- tierte Prävention konkret aussehen muss. Er sieht diese in einer Umkehr der Adipositas. Gewichtsreduktion bedeu- tet ein Senken des Blutzuckers, der Fettwerte und des Blutdrucks und damit der Gefahr einer Erkrankung an Diabetes. Er regt deshalb zum Beispiel auch Bonusrege- lungen an. Zitat: „Man denkt dabei an ein 13. Monatsge- halt – so paradox das klingen mag – für denjenigen, der sein Gewichtsziel am Jahresende erreicht hat. Wir müssen da ganz originelle Ideen entwickeln. Man könnte das ex- perimentell ausprobieren.“ Fazit: Der Antrag ist gut gemeint, aber schlecht ge- macht. Mit seinen Beschuldigungen der alten Bundesre- gierung geht er in die Irre und bindet zudem Energien, die für die zukünftige Entwicklung genutzt werden sollten. Zudem springt er zu kurz. Deshalb lehnen wir ihn ab. Dr. Ruth Fuchs (PDS): Die medizinische Versorgung der Diabetiker ist ein Beispiel dafür, dass es in unserem Gesundheitswesen zwar oft gelingt, für viele einzelne Pa- tienten, aber nicht für alle flächendeckend ein gleich- mäßig gutes Betreuungsniveau zu gewährleisten. Dabei mangelt es keineswegs an der notwendigen medizi- nisch-technischen und personellen Infrastruktur. Noch immer wird die Krankheit in vielen Fällen zu spät erkannt und die Patienten werden nicht kontinuierlich und mit notwendiger Konsequenz betreut. Auf diese Weise kommt es zu Akutkomplikationen, aber auch zu Folgeschäden wie Amputationen, Erblindungen und Nierenversagen, die heute eigentlich zu vermeiden wären. Früherkennung und sorgfältige Stoffwechseleinstellung sind Schlüssel- probleme für, eine Verbesserung der Behandlungsresul- tate. Die Forderungen des vorliegenden Antrages nach qualifizierter, interdisziplinärer Versorgung, nach Be- handlungsstandards, nach qualitätsgesicherten Diabeti- ker-Schulungen bis hin zur fachgerechten Fußpflege sind unbestrittene Voraussetzungen einer zeitgemäßen Diabe- tes-Behandlung. Wir unterstützen deshalb den Antrag in seinen Grundintentionen und werden ihm zustimmen. Dabei ist zu hoffein, dass er auch über die Diabetes-Pro- blematik hinaus stimulierende Wirkung entfaltet. Natürlich muss auch gesagt werden, dass es künftig weder möglich noch sinnvoll sein kann, für alle großen Volkskrankheiten Regierungskommissionen, Nationale Aktionspläne und entsprechende Berichte an den Deut- schen Bundestag zu beschließen. Die Politik würde sich nicht nur verzetteln, sondern darüber hinaus in die Gefahr begeben, Themen in einer Art und Weise an sich zu zie- hen, für die die gemeinsame Selbstverwaltung kompetent und unmittelbar zuständig ist. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17377 (C) (D) (A) (B) Umso mehr muss es unseres Erachtens eine politische Aufgabe sein, jene strukturellen und finanziellen Voraus- setzungen zu schaffen, welche – um ein Beispiel zu nen- nen – die notwendigen fachgebiets- und berufsübergrei- fenden Kooperationen im erforderlichen Umfang über- haupt erst ermöglichen. Dieser Herausforderung, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist – im Gegensatz zu manchen Darstellungen von Ihrer Seite – auch die Gesundheitsreform 2000 keineswegs gerecht ge- worden. Weder ist es zur beabsichtigten Stärkung der hausärztlichen Tätigkeit noch zu einer wirksamen Ent- wicklung integrierter Versorgungsformen gekommen. Mehr noch: Statt einem engeren Zusammenwirken zwi- schen Haus- und Spezialärzten haben wir fortgesetzte Abschottung und teilweise sogar eine Verschärfung der innerärztlichen Verteilungskämpfe erlebt. Die dringend notwendige Verbesserung der gesund- heitlichen Versorgung der vielen Menschen mit Zucker- krankheit und chronisch Kranker generell kann dann ge- lingen, wenn Politik und Hauptakteure der Selbstver- waltung endlich den Mut zu Reformen aufbringen, die die Organisations- und Vergütungsstrukturen im Gesund- heitswesen so verändern, dass sie die Umsetzung moder- ner medizinischer Behandlungsformen nicht mehr behin- dern, sondern im Gegenteil sogar begünstigen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Erlaubnis zum Führen von Schienen- fahrzeugen (Tagesordnungspunkt 15) Klaus Hasenfratz (SPD): „Denkt an das fünfte Ge- bot: Schlagt die Zeit nicht tot“ hat Erich Kästner gesagt. Deshalb würde ich es eigentlich gerne ganz kurz machen: Ihr Antrag, verehrte Kollegen von der CDU/CSU, ist überholt und hinfällig. Weil es keinen Sinn macht, in einem Antrag etwas zu fordern, was Schnee von gestern ist, werden wir den An- trag ablehnen. Sie, meine Damen und Herren von der Op- position, hätten Ihren Antrag auch ebenso gut zurückzie- hen können. Mit Ihrem Antrag zur Erlaubnis zum Führen von Schie- nenfahrzeugen wollen Sie versuchen, den Bundestag zu überzeugen, die Bundesregierung aufzufordern, auf die Europäische Union einzuwirken, eine Richtlinie zu erlas- sen, die dann in nationales Recht erst noch umzusetzen ist. Währenddessen handelt unsere Regierung und der gefor- derte Lokführerschein ist schon längst Realität. Nun will ich die Möglichkeit nutzen, Ihnen kurz dar- zustellen, was der aktuelle Stand beim Thema Lokführer- schein ist. Das will ich nicht nur tun, um Ihnen zu zeigen, dass wir Ihrem Antrag inzwischen voraus sind. Ich möchte auch allen, die heute zuhören, zeigen, welche Maßnahmen für den sicheren Bahnverkehr von Regie- rung, Europäischer Union und diesem Parlament ergriffen werden. Das Europäische Parlament hat im April dieses Jahres die Richtlinie 2001/16/EG „über die Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems“ beschlossen. Dort steht, dass Bedingungen festgelegt werden sollen, die „die beruflichen Qualifikationen und die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen in Bezug auf das für seinen Betrieb eingesetzte Personal“ betreffen. Diese Richtlinie ist am 20. April dieses Jahres im Amts- blatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht worden. So werden nun, nach dieser Veröffentlichung, auf eu- ropäischer Ebene die Einzelheiten dieser Regelungen er- arbeitet. Im Zuge des Verfahrens ist beabsichtigt, eine ein- heitliche Regelung zur Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen in Form eines Lokführerscheins zu erreichen. Es ist gut, dass hier etwas in Gang gesetzt wurde, ohne das die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen und die Liberalisierung des Schienenverkehrs nicht aus- kommen. Aber gut ist oft nicht gut genug. Daher wurden bereits in den vergangenen Monaten vom Bundesver- kehrsministerium und dem Bundeseisenbahnamt in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten Regelungen für ei- nen solchen Lokführerschein erarbeitet. Der Verband Deutscher Verkehrsträger und die Deutsche Bahn AG ha- ben in der vergangenen Woche das Ergebnis vorgestellt. Voraussichtlich ab Oktober dieses Jahres werden die ers- ten Lokführerscheine ausgehändigt. In Deutschland wer- den also parallel zu den Vorgängen auf europäischer Ebene Maßnahmen ergriffen, um bei der Regelung der Fahrerlaubnis im Schienenverkehr vorwärts zu kommen. Das liegt auch daran, dass bei uns in Deutschland die berufliche Qualifikation von Lokführern stärker in der Diskussion ist als anderswo. Warum das so ist, dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben, das uns alle viel be- schäftigt hat und auch sicher noch weiter beschäftigen wird. Am Sonntag, dem 6. Februar 2000, entgleiste kurz nach Mitternacht der D-Zug 203 der Deutschen Bahn auf der Fahrt von Amsterdam nach Basel beim Bahnhof Brühl bei Köln und verursachte so eines der schwersten Eisen- bahnunglücke der letzten Jahre. Bis heute dauert das not- wendige juristische Nachspiel an, um Schuldigkeiten zu klären. Das ist deshalb notwendig, weil die Klärung der Verantwortlichkeiten derartige Katastrophen künftig ver- hindern kann. Es sieht nach bisherigem Ermittlungsstand so aus, dass den Lokführer keine oder nur geringe Schuld trifft. Gerade vorgestern, am Dienstag, hat die Presse- agentur „ddp“ jedoch wieder gemeldet, dass der Lokfüh- rer zunächst zweimal bei der Bahn durch die Abschluss- prüfung gefallen ist und dass er den notwendigen Befähigungsnachweis zwischenzeitlich bei einer Privat- bahn gemacht habe. Das sagt gar nichts über Schuld oder Unschuld aus. Aber dass überhaupt über die Qualifikation diskutiert wird, ist nicht gut. Wenn bei jedem Autounfall darüber diskutiert werden würde, wo der Fahrer seinen Führerschein gemacht hat, dann würden wir aus dem Pro- zessieren gar nicht mehr herauskommen. Deshalb wollen wir einheitliche Regelungen zur Er- laubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen. Wir wollen, dass man immer, zu jedem Zeitpunkt, sicher sein kann, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117378 (C) (D) (A) (B) dass die Führer von Schienenfahrzeugen auf deutschen Gleisen ihre Arbeit mit höchster Befähigung ausüben, dass sie die bestmögliche Ausbildung genossen haben und dass sie jederzeit psychisch stabil genug sind, mit eventu- ellen Krisensituationen fertig zu werden. – Das wollen wir, denn die Sicherheit der Passagiere geht uns im Bahn- verkehr über alles. Schließlich wollen wir außerdem eine Regelung, die zukunftsweisend für ganz Europa ist. Sie soll den Anforderungen, die auf den Bahnverkehr im Zuge der europäischen Einigung zukommen, standhalten. Ich denke, der jetzt beschrittene Weg ist ein erfolgrei- cher Weg. Ein Lokführerschein wird sofort eingeführt, und zwar als verbindliche Vereinbarung zwischen Ver- kehrsministerium, dem Eisenbahnbundesamt und den ge- nannten Vertretern der Eisenbahnunternehmen. Das hat den Vorteil, dass die Wirklichkeit nicht auf den ordentli- chen Gesetzgebungsgang warten muss. Parallel wird, wie erläutert, auf europäischer Ebene eine Norm erarbeitet, in die die einzelnen Regelungen dieses schon jetzt einge- führten deutschen Lokführerscheins einfließen werden. Die Erarbeitung wird gewiss seine Zeit brauchen, denn den Besonderheiten in einzelnen Ländern muss Rechnung getragen werden. Der Bundestag wird die Schaffung der Vorgaben auf europäischer Ebene abwarten. Schließlich, wenn die Europäische Union ihre Aufgabe erledigt hat, werden wir die Ergebnisse in diesem Hause in bundes- deutsches Recht umsetzen. Für das wirklich Wichtige und Fundamentale an die- sem Vorgehen halte ich, dass wir für die Sicherheit im Bahnverkehr ein deutliches Zeichen setzen. Deutschland hat sich schon bei der Bahnreform an die Spitze der Re- former in Europa gesetzt. Deutschland hat als eines der ersten Länder Europas die in der Richtlinie 91/440/EWG vorgegebenen Voraussetzungen für den freien Netzzu- gang für Dritte auf seinem Schienennetz umgesetzt. Je weiter sich die Öffnung der alten staatsmonopolistischen Strukturen auf den Schienen Europas entwickelt, desto notwendiger sind Regeln, die Mindestnormen und Stan- dards festlegen. Wir alle kennen das Beispiel der verun- glückten Bahnreform in Großbritannien. Dort hat keine Flankierung der Liberalisierung durch Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit stattgefunden. Die eklatanten Si- cherheitslücken im dortigen Bahnsystem sollten uns eine Warnung sein. Im Übrigen treiben wir mit der genannten Lösung auch die Verkehrswende in Deutschland voran – wenn auch nur indirekt. Die über Jahre hinweg vernachlässigte Bahn be- kommt von uns Rahmenbedingungen, die die Wettbe- werbsfähigkeit gegenüber dem Auto deutlich aufwerten. Zur Wettbewerbsfähigkeit gehört auch die Eigenschaft der Bahn als eines der sichersten Verkehrsmittel. Das soll so bleiben. Wenn wir es schaffen können, die Bahn noch sicherer zu machen, dann sollten wir das auch gemeinsam tun. Herr Kollege Lintner, aus Ihren Forderungen spricht eine Sorge um die Sicherheit der bahnreisenden Bevölke- rung, die ich respektiere und teile. Daher haben wir Ihnen ja auch schon erläutert, dass wir inhaltlich voll und ganz mit Ihnen übereinstimmen. Ich möchte deshalb wiederho- len, dass wir Ihrem Antrag deshalb nicht zustimmen, weil wir ihm inzwischen weit voraus sind. Auch Sie müssten die nun in Angriff genommenen Maßnahmen in höchstem Maße zufrieden stellen. Ich bin jedenfalls sehr zufrieden, dass wir nun auch beim Thema „Lokführerschein“ Vor- bild für Europa sind. Eduard Lintner (CDU/CSU): Nicht erst seit dem spektakulären Unglück mit einem Fernzug der Deutschen Bahn in Brühl wird über die Einführung eines Lokführer- scheins diskutiert. Das Thema ist schon längere Zeit ak- tuell, spätestens seit wegen der Richtlinie 91/440/EWG vom 29. Juli 1991 „Zur Entwicklung der Eisenbahnunter- nehmen in der Gemeinschaft“ klar ist, dass es Ziel der eu- ropäischen Verkehrspolitik ist, den Markt für den Schie- nenverkehr in der Gemeinschaft zu liberalisieren. Dabei geht es in erster Linie um die Öffnung des Zugangs zur Ei- senbahninfrastruktur in den einzelnen Mitgliedstaaten für dritte Bahnbetreiber, das heißt in der Regel um Konkur- renz für die staatseigenen, nationalen Monopoleisenbahn- unternehmen. Damit verbunden ist zwangsläufig die Not- wendigkeit, zu gewährleisten, dass auch Drittbetreiber den heute unverzichtbar hohen Qualitäts- und Sicher- heitsstandard im Eisenbahnnetz uneingeschränkt gewähr- leisten müssen. Damit kommt zwangsläufig auch die verantwortungs- volle Tätigkeit der Führer von Schienenfahrzeugen ins Blickfeld. Dabei stellt man verwundert fest, dass es dafür nicht nur noch keine einheitliche europäischen Richtli- nien gibt, sondern dass auch in Deutschland selbst ein ein- heitlicher Lokführerschein als zwingende Voraussetzung für die Berechtigung zum Führen von Schienenfahrzeu- gen noch gar nicht verlangt wird. Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Interesse der Sicher- heit nicht nur des europäischen grenzüberschreitenden Schienenverkehrs, sondern auch zur Erhöhung der Si- cherheit des Schienenverkehrs im eigenen Lande, einen Antrag eingebracht, der solche Mindestvoraussetzungen für die Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen formuliert und ihre Einhaltung sicherstellen soll. Eigentlich möchte man meinen, diesem Gedanken hät- ten sich, weil er gar nicht von der Hand zu weisen ist, so- fort alle Parteien dieses Hohen Hauses angeschlossen. In der Sache trifft dies ja auch zu, aber die Regierungsfrak- tionen waren nicht souverän und frei genug, den diese Ge- danken konkretisierenden Antrag mitzutragen. Sie haben ihn vielmehr abgelehnt und operieren dabei mit dem et- was dünnen Argument, das alles sei ja schon auf bestem Wege. Davon konnte aber zumindest bei der Einbringung des Antrags im Dezember letzten Jahres keine Rede sein. Erst jetzt war der Presse zu entnehmen, dass sich die Deutsche Bahn AG und der Verband Deutscher Verkehrsunterneh- mer in der letzten Woche in Berlin darauf geeinigt haben, dass Lokführer in Deutschland „künftig eine einheitliche Führerscheinprüfung“ ablegen müssen. Und über die eu- ropäische Ebene war der Zeitung am 9. Juni dieses Jahres zu entnehmen, dass sich die Vertreter der Europäischen Kommission, der Eisenbahnen und der dazu gehörenden Industrie in einem „Memorandum of Understanding“ un- ter anderem darauf geeinigt hätten, „die Ausbildung des Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17379 (C) (D) (A) (B) grenzüberschreitend eingesetzten Personals“ künftig ge- meinsam zu regeln. Über Mindeststandards – was ja auch unverzichtbar ist – ist dabei gar nichts gesagt. Es ist also nicht abwegig, davon auszugehen, das diese Entwicklung durch eine von allen Fraktionen unterstützte Initiative der CDU/CSU über das bisherige Tempo hinaus hätte beschleunigt und gefördert werden können. So weit zur Vorgeschichte dieser heutigen Debatte. Was bislang bekannt geworden ist über die Vorausset- zungen und die inhaltliche Ausgestaltung einer dann nach einheitlichen Kriterien durchzuführenden Lokführeraus- bildung klingt vielversprechend. Ob damit allerdings all die von uns im Antrag genannten Voraussetzungen schon erfüllt sind, werden wir genau zu prüfen haben. Was aber nicht so ohne weiteres akzeptiert werden kann, ist das, was der Präsident des VDV nach der Einigung für den na- tionalen deutschen Bereich zur europäischen Regelung gesagt hat. Danach soll er gemeint haben: „Wir erwarten, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre eine entspre- chende EU-Regelung in Kraft tritt.“ Hier ist einfach fest- zustellen – und da hoffe ich wieder auf Gemeinsamkeiten unter allen Fraktionen dieses Hauses –, dass wir nicht so lange warten können, weil dies bedeuten würde, dass die in den andern europäischen Ländern ja längst überfällige Liberalisierung des Netzzugangs für Dritte zu den natio- nalen Eisenbahnnetzen praktisch weiterhin durch inkom- patible Vorschriften und Systembedingungen verhindert werden soll. Denn es ist klar, dass das schriftliche oder verbale Bekenntnis zur „Liberalisierung der europäischen Eisenbahnnetze“ dann nur eine zur Täuschung der Öf- fentlichkeit benutzte Vokabel ist, wenn auf der organisa- torischen, betrieblichen und technischen Ebene sowie bei den vorhandenen Rahmenvorschriften die gegenwärtige, meist inkompatible Vielfalt aufrechterhalten wird. Über diesen Dreh wird es dann den an einer Liberali- sierung nicht ernsthaft interessierten wichtigen EU-Mit- gliedstaaten – an erster Linie wäre Frankreich zu nennen – ein Leichtes sein, die tatsächliche Öffnung des Netzzu- gangs zu verhindern. Die Bundesregierung muss sich da- her verpflichten, unverzüglich und mit Nachdruck die Be- reinigung solcher kontraproduktiven künstlichen Hürden anzugehen. Dabei ist die Einführung eines nach einheitli- chen Mindestkriterien gestalteten Führerscheins in den einzelnen Staaten, der dann zur Erteilung auch einer Lizenz zum Führen von Schienenfahrzeugen in den übri- gen EU-Staaten führt, ein bedeutsamer, unverzichtbarer nächster Schritt. Wenn wir schon im Ausschuss – nicht wegen inhaltli- cher, sondern wegen der von den Regierungsfraktionen aus Mangel an ausreichendem Selbstbewusstsein gegen- über der eigenen Regierung erhobenen Bedenken – nicht zu einem gemeinsamen Ausschussvotum kommen konn- ten, so lassen Sie uns hier zumindest gemeinsam feststel- len, dass wir alle ein Ziel haben und dieses Ziel gemein- sam nachdrücklich unterstützen. Wir erwarten von der Bundesregierung ein dynamisches, nachhaltiges Drängen auf schnelle Fortschritte bei der Vereinheitlichung der Voraussetzungen zur Beteiligung Dritter am nationalen Schienenverkehr. Und dazu ist die Einführung und ein- heitliche Handhabung einer staatlichen Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen ein wichtiger Beitrag. Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mit dem Antrag begehrt die CDU/CSU-Fraktion, die Bundesregierung solle bei der Europäischen Gemein- schaft darauf hinwirken, eine Richtlinie zur Erteilung, Einschränkung und Entziehung einer Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen zu erlassen, und stellt hierzu konkrete Eckpunkte dar. Faktum ist: Dieses Anliegen wurde bereits auf europä- ischer Ebene auf den Weg gebracht, eine entsprechende Richtlinie wird in Kürze veröffentlicht. Ich stimme dem Inhalt des Antrags zu – der Unfall in Brühl hat das gezeigt und der erfreulich zunehmende Wettbewerb auf der Schiene weist ebenfalls in diese Richtung –, dass bei ver- mehrtem Zugang unabhängiger Betriebe zum Bahnnetz der Qualitäts- und Sicherheitsstandard auf hohem Niveau vereinheitlicht werden muss. Die verantwortungsvolle Tätigkeit von Triebfahrzeugführern erfordert eine hohe Vorbildung und eine Qualitätslizenz. Ich freue mich daher, dass die CDU/CSU die Bundes- regierung mit ihrem Antrag unterstützen will. Aber: Diese Harmonisierung auf europäischer Ebene ist längst in Arbeit, das Europäische Parlament hat keine Änderungswünsche angemeldet. Die Umsetzung in natio- nales Recht muss nunmehr in zwei Jahren erfolgen. Die Behandlung des CDU/CSU-Antrags im Verfahren hat ge- zeigt, das inhaltlich Konsens besteht; der Umsetzung der EU-Richtlinie liegt daher hoffentlich keine Barriere im Weg. Also: Auf gute Zusammenarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU! Bereits vergangener Woche haben sich Deutsche Bahn AG, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, Eisen- bahnbundesamt und Bundesverkehrsministerium auf ent- sprechende Regelungen für einen Triebfahrzeugführer- schein geeinigt, der in Form einer VDV-Schrift umgesetzt werden soll. Damit wird eine „anerkannte Regel der Tech- nik“ begründet, die die Verbindlichkeit der Lokführer- scheinregelung für alle Bahnunternehmen zur Folge hat, die auf deutschen Schienen fahren. Er gilt für die DB AG wie die rund 180 nicht bundeseigenen Bahnen. Dies ga- rantiert durch einheitlich hohe Anforderungen aller aktiv tätigen Bahnunternehmen gleiche Wettbewerbsbedingun- gen. Ein Ausbildungs-Dumping wird dadurch vermieden. So bleibt festzuhalten: Bereits jetzt kommt der nationale Lokführerschein, in Kürze der europäische. Der CDU/ CSU-Antrag aber – so richtig er ist – kommt zu spät. Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.): Vor dem Hinter- grund des Eisenbahnunglücks von Brühl ist die Ausbil- dung der Lokomotivführer in Deutschland, aber auch in Europa in die Diskussion gekommen. Offensichtlich war der Triebfahrzeugführer der Unglückslokomotive in Brühl mehrfach durch die Lokomotivführerprüfung ge- fallen und offensichtlich auch im Nachgang nach einer be- standenen Prüfung nicht ausreichend auf die entspre- chende Situation vorbereitet worden. Dies hat im Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117380 (C) (D) (A) (B) Zusammenhang mit verschiedenen anderen Unterlassun- gen und Fehlern offensichtlich zu diesem verheerenden Unglück mit beigetragen. Vor diesem Hintergrund, aber auch vor dem des Zu- sammenwachsens Europas und einer hoffentlich darauf abgestimmten europäischen Schienenverkehrspolitik ist es notwendig, das Führen von Triebfahrzeugen nach ein- heitlichen Kriterien durchzuführen. Dies gilt insbeson- dere auch vor dem Hintergrund, dass durch die auch eu- ropaweit vorgesehene Öffnung der Schienennetze für den Wettbewerb gleiche Regeln und Normen zur Erhaltung der Sicherheitsstandards nötig sind. So wie im Busbereich, im LKW-Bereich – hier insbe- sondere im Gefahrguttransport – erscheint auch im Trieb- fahrzeugbereich auf der Schiene eine qualifizierte Ausbil- dung sinnvoll. Im Antrag der CDU/CSU ist deshalb neben den Zugangsvoraussetzungen insbesondere auf entspre- chende Zwischenschritte innerhalb des Ausbildungsab- schnittes eingegangen worden und ebenso eine entspre- chende sechsmonatige Praxis unter Aufsicht eines erfahrenen Triebzugführers. Der Antrag der CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, in Europa auf einheitli- che Regelungen hinzuweisen und diese möglichst in einer gemeinsamen Richtlinie zu erarbeiten. Dass diese politi- sche Forderung von der Mehrheit des Hauses unter Hin- weis darauf abgelehnt wird, dass in Europa bereits eine Richtlinie in Erarbeitung sei, zeugt von wenig Mut. Der Antrag der CDU/CSU hätte den Vorteil, dass sich die deutsche Regierung auf einen gemeinsamen Antrag des ganzen Hauses stützen könnte. Aber offensichtlich gilt auch hier der Grundsatz „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ und deshalb lehnt die Mehrheit diesen sinnvol- len Antrag ab. Die FDP-Fraktion hält den Antrag der CDU/CSU Frak- tion für sinnvoll und stimmt ihm aus voller Überzeugung zu. Dr. Winfried Wolf (PDS): Die Fraktion von CDU/CSU greift mit ihrem Antrag ein reales Anliegen auf. Spätestens mit dem Eisenbahnunglück von Brühl von Anfang 2000 wird die Problematik „Lokführerschein“ verstärkt diskutiert. Sie wurde im Vorfeld bereits seitens der betroffenen Gewerkschaften andiskutiert – so im Fall der GdED/Transnet – bzw. ein solcher Lokführerschein wird seit geraumer Zeit gefordert – so seitens der GDL. Die Koalitionsfraktionen verweisen einerseits zu Recht darauf, dass das Anliegen auf europäischer Ebene bereits „auf den Weg gebracht“ worden sei – so der Be- richt des MdB Sorge. Wenn dem so ist und wenn auch in Bälde eine entspre- chende Regelung unserem Parlament vorliegt, wird über diese neu zu diskutieren sein. Möglicherweise wird diese Richtlinie eine optimale Lösung im Sinne der Betroffenen bringen. Und möglicherweise werden gewisse Mängel des CDU/CSU-Antrags in dieser EU-Regelung nicht mehr zu finden sein. Beispielsweise müsste eine solche Richtlinie Anforderungen hinsichtlich von Sprachkennt- nissen enthalten (Einsatz in anderen EU- oder EWR-Län- dern; grenzüberschreitender Schienenverkehr). Dennoch findet der CDU/CSU-Antrag unsere Zustim- mung und dies aus drei Gründen: Erstens bedarf dieses Thema dringend einer Regelung. Wenn die Bundesregierung im Fall der illegalen Beschäf- tigung im Güterkraftverkehr einer bereits in Erarbeitung befindlichen EU-Richtlinie mit einem „nationalen Vor- griff“ zuvor kommt, um eine Beschleunigung der EU- weiten Gesetzgebung zu erreichen, dann ist ein solches Vorgehen im vorliegenden Fall mindestens ebenso sinn- voll. Solche nationalen Vorstöße können erfahrungs- gemäß die erforderlichen EU-Regelungen erheblich be- schleunigen. Zweitens enthält der CDU/CSU-Antrag eine Reihe von Konkretisierungen, die zielführend und essenziell sind und die teilweise über das hinausgehen, was derzeit in der Bundesrepublik Deutschland und bei der Deutschen Bahn AG Praxis ist. Dies gilt zum Beispiel für die – richtige – Forderung nach einer Mindestausbildungszeit von drei Jahren und für das Erfordernis einer mindestens sechs- monatigen Betreuung neu ausgebildeter Lokführer nach dem Ausbildungsabschluss durch einen „Betreuungslok- führer“. Drittens zeichneten sich gerade in den letzten Wochen weitere Verschlechterungen – als „Sparmaßnahmen“ ver- kleidet – in der Ausbildung der Lokführer durch die Deut- sche Bahn AG ab. So sollen nach einem Gutachten, das die DB Reise & Touristik in Auftrag gab, die so genann- ten Belehrungsfahrten um die Hälfte gekürzt werden. Bis- her waren sechs praktische Testfahrten auf einer neuen, dem Lokführer nicht bekannten Strecke vorgeschrieben; das Gutachten hält drei solcher Fahrten für ausreichend – und will sich im Übrigen auf „den Einsatz von Videos oder CD-ROM“ verlassen. Auch der Fahrgastverband „pro Bahn“ sprach in die- sem Zusammenhang von „unverantwortlichen Sparplä- nen in stark sicherheitsrelevanten Bereichen“. Aus den vorgenannten drei Gründen sprechen wir uns für den Antrag von CDU/CSU aus. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordung (Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte) (Tagesordnungs- punkt 16) Dr. Evelyn Kenzler (PDS):Wer ein wenig Einblick in den Verlauf eines Strafverfahrens hat, der kann durchaus zu der Einschätzung kommen: Die Strafgerichte küm- mern sich intensiv um die Täter, die Belange der Opfer in- teressieren sie weniger. Opfer von Gewalttaten spielen immer noch eine untergeordnete Rolle im Strafrecht, auch wenn sich vor allem durch das Opferschutzgesetz in den letzten Jahren manches gebessert hat. Sie drohen – wie es der Strafrechtler Professor H. Jung formulierte – „in der bipolaren Auseinandersetzung zwischen öffentlicher Ge- walt und Beschuldigten ... mit ihren Interessen zerrieben Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17381 (C) (D) (A) (B) zu werden“. Sie sind – überspitzt gesagt – Objekte pater- nalistischen Schutzes. Doch darf die staatliche Strafrechtspflege wichtiger sein als die individuellen Interessen der Verletzten? Und soll der Strafrichter wirklich weitgehend unbekümmert an den Interessen der Geschädigten vorbei strafen? Nein, der Verletzte darf im Prozess nicht noch einmal zum Opfer gemacht werden. Der Grundsatz des fairen Strafprozesses hat auch für den Verletzten zu gelten. Seine Persönlich- keitsrechte müssen im Strafverfahren nicht nur schlecht- hin unbedingt gewahrt bleiben, sondern es muss mit dem Verletzten angemessen und sensibel umgegangen werden. Das Anliegen des Gesetzentwurfs ist es, die Rolle des Verletzten im Strafverfahren von der eines bloßen Be- weismittels zu der eines gleichberechtigten Prozessbetei- ligten weiter zu entwickeln. Verletzte sollen in die Lage versetzt werden, ihre Interessen selbst und aktiv in das Prozessgeschehen einzubringen. Das ist angesichts der reformbedürftigen Rechtsstellung der Verbrechensopfer ein gesetzgeberischer Fortschritt. Ob die einzelnen Maß- nahmen, die zur Erreichung dieses Zieles vorgeschlagen werden, nun einen Meilenstein bilden – wie es Hamburgs Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit hofft –, sei dahingestellt. Aber unbestritten würde die Umsetzung dieses Gesetzentwurfs eine deutliche Verbesserung der Stellung der Opfer im Gerichtsverfahren bedeuten. Das Verbrechensopfer könnte dann stärker als Verfahrenssub- jekt agieren und würde auch als solches wahrgenommen. Der Gesetzentwurf geht richtigerweise davon aus, dass die Stärkung der Subjektrolle des Verletzten bei der Auf- klärung über seine Rechte beginnt. So ist es folgerichtig, dass Zeugen zukünftig mit der Ladung nicht nur auf ihre Pflichten, sondern auch auf verfahrensrechtliche Bestim- mungen hingewiesen werden sollen, die ihren Interessen dienen. Ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Opfer im Straf- verfahren ist zweifelsohne sowohl die Stärkung der Teil- haberrechte der Verletzten am Verfahren im Wege der Ausweitung der Nebenklage als auch die gesetzliche Ver- ankerung von Informations-, Akteneinsichts- und Anwe- senheitsrechten. Es ist aus der Sicht der Opfer schwer verständlich, warum Staatsanwälte und Richter bisher so wenig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, den Opfern von Straftaten im Adhäsionsverfahren Wiedergutmachung zu gewähren. Deshalb finde ich es richtig, dass durch den Gesetzentwurf bessere Voraussetzungen dafür geschaffen werden, vermögensrechtliche Ansprüche im Strafverfah- ren geltend zu machen und gegebenenfalls im Wege eines Wiedergutmachungsvergleichs einen vollstreckbaren Ti- tel zu erlangen. Auch dies ist eine deutliche Verbesserung für die Opfer, ist doch das Hauptproblem für den Verletz- ten nicht die gerichtliche Feststellung, sondern die Voll- streckung seines Schadensersatzanspruches. Weiterhin ist positiv zu vermerken, dass Zeugen ver- mehrt durch den Vorsitzenden Richter per Videoüber- tragung vernommen werden können. Und auch die Aus- weitung der Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Opferanwalts auf Staatskosten auf nahe Angehörige Ge- töteter ist ein Gewinn für Betroffene. Bei allem Positiven halte ich den in der Stellungnahme der Bundesregierung vorgebrachten Hinweis auf die Be- achtung der Wechselwirkung von Verletztenrechten und Rechten der anderen Verfahrensbeteiligten für beachtlich. Kurzum: Eine Einbettung der Maßnahmen dieses Gesetz- entwurfs in eine Reform des Strafverfahrensrechtes wäre wünschenswert. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrages: Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft (Tagesordnungspunkt 17) Christel Humme (SPD): Keine Gleichstellung beim Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten, keine Gleichstel- lung beim beruflichen Aufstieg, keine Gleichstellung bei der Entlohnung, keine Gleichstellung in Sachen Führungsfunktionen, keine Gleichstellung beim Risiko, entlassen zu werden, keine Gleichstellung bei Teilzeitbe- schäftigungen und geringfügigen Beschäftigungsverhält- nissen. Frauen ziehen auf dem Arbeitsmarkt nach wir vor den Kürzeren. Frauen haben größere Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden. Frauen sind stärker von Ar- beitslosigkeit betroffen. Dies gilt insbesondere für die Frauen in den neuen Bundesländern. Frauen sind selbst dann häufiger arbeitslos, wenn sie sich für einen zukunfts- orientierten Beruf, einen so genannten Männerberuf ent- scheiden. Das belegt eine Studie des Instituts für Arbeits- markt- und Berufsforschung. Frauen haben schlechtere berufliche Aufstiegschancen als Männer. Frauen werden häufiger als Männer nicht entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation beschäftigt. Frauen verdienen nach wir vor weniger als Männer – usw.! Anfang des 3. Jahrtausends gibt es im Erwerbsleben in Deutschland immer noch keine Chancengleichheit für Frauen und Männer. Stattdessen haben wir einen Arbeits- markt, der schlicht und einfach gespalten ist. Es gibt einen Arbeitsmarkt für Männer und einen anderen, schlechteren für Frauen. Die Analyse der PDS ist also vollkommen richtig. Aber was die Mittel zur Lösung dieses gravierenden und beschämenden Problems anbelangt, unterscheiden wir uns doch gewaltig: Sie schlagen Gleichstellungsbeauf- tragte für Betriebe ab 20 Beschäftigte vor, überbetrieb- liche Gleichstellungsbeauftragte für kleinere Betriebe. Daneben wollen Sie Gleichstellungspläne, Ausgleichsab- gaben, Quotierungsregelungen usw. Sie listen in Ihrem Antrag eine Vielzahl von Maßnahmen auf und schnüren damit ein ehernes Gleichstellungskorsett aus bürokrati- schen Regelungen, das allen Unternehmen gleichermaßen passen soll. Gerade kleine Unternehmen laufen aber Gefahr, von Ihrem Gleichstellungskorsett förmlich er- drückt zu werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117382 (C) (D) (A) (B) Das ist nicht unser Weg, das entspricht nicht unseren Vorstellungen. Denn Ihr Vorschlag lässt den Unternehmen zu wenig Spielraum für eigene kreative Lösungen. Wir wollen den Unternehmen nicht bis ins Detail vorschrei- ben, wie Gleichstellung im Betrieb auszusehen hat. Denn die Unternehmer und die Belegschaft wissen selbst am besten, wo der Schuh drückt. Und sie sind auch die Ex- perten in Sachen Lösungsansätze. Mit diesem Konzept macht die PDS Unternehmer quasi zwangsläufig zu Geg- nern von betrieblicher Gleichstellung. Ein solches Kon- zept ist zum Scheitern verurteilt. Denn Gleichstellung lässt sich niemals gegen den Willen der zentralen Ent- scheidungsträger verwirklichen. Wir setzen daher auf eine andere Lösung. Unser neues Betriebsverfassungsgesetz mit all seinen Verbesserungen für die Interessenvertretung für Frauen werden morgen debattiert. Ich will dem nicht vorgreifen. Nur so viel: Sie machen Ihre Forderungen zum Betriebsverfassungsgesetz überflüssig. Unser Prinzip ist: Wir wollen Unternehmer zu Partnern machen, zu Partnern in Sachen Gleichstellung im Er- werbsleben. Wir wollen, dass Unternehmen Frauen för- dern, weil sie erkennen, dass dies in ihrem eigenen wirt- schaftlichen Interesse liegt, und weil sie erkennen, welch hoch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter sie in Frauen finden, und – last not least – weil sie erkennen, dass Frauen für Führungspositionen hervorragende Vorausset- zungen mitbringen. Frauen können zuhören, im Team ar- beiten und motivieren. Wir wollen auch, dass alle Unternehmen Frauen för- dern, weil sie erkennen, dass es aufgrund des demogra- phischen Wandels höchste Zeit wird, Frauen entsprechend ihrer Fähigkeiten einzusetzen. In einigen Regionen Deutschlands wird bereits heute ein eklatanter Fachkräftemangel beklagt. Hätten die Un- ternehmen rechtzeitig angefangen, Mädchen in technisch orientierten Berufen auszubilden, stünden heute genü- gend qualifizierte Mitarbeiterinnen zur Verfügung. In ganz Deutschland zerbricht man sich den Kopf über den offensichtlichen Mangel an IT-Spezialisten. Dieser Man- gel hätte nicht entstehen müssen, hätte man Mädchen nur rechtzeitig für die Möglichkeiten von Computern begeis- tert. Chancengleichheit ist nur gemeinsam mit den Unter- nehmen zu verwirklichen, niemals gegen sie. Wir setzen daher auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Unterneh- men. Wir fordern die Wirtschaft auf, bis zum Ende der parla- mentarischen Sommerpause eine verbindliche Selbst- verpflichtung zur betrieblichen Gleichstellung einzuge- hen. Diese soll folgende Punkte enthalten: Erstens. Die Spitzenverbände erstellen eine Analyse zur Situation der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft und ziehen nach drei Jah- ren in einem weiteren vergleichenden Bericht eine erste Bilanz. Zweitens. Im Rahmen der verbindlichen Selbstver- pflichtung fordern die Spitzenverbände die Unternehmen auf, betriebliche Ist-Analysen und auf deren Grundlage betriebliche Gleichstellungskonzeptionen mit geeigneten Instrumenten zur Förderung der Chancengleichheit zu er- stellen. Drittens. Durch aktive betriebliche Fördermaßnahmen sollen sowohl die beruflichen Chancen der Frauen als auch die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbs- arbeit für Mütter und Väter in jedem Unternehmen ver- bessert werden. Ziel ist eine deutliche Erhöhung des Beschäftigtenan- teils von Frauen in den Bereichen, in denen sie unterreprä- sentiert sind, insbesondere auch im Führungsbereich. Ziel ist auch die gezielte Förderung der Berufsausbildung von Frauen in zukunftssicheren Berufen. Und Ziel ist schließ- lich die Überwindung der Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern. Die Maßnahmen, die Unternehmen zur Herstellung von Chancengleichheit ergreifen können, sind zahlreich: Nicht jedes Unternehmen wird alle Ziele gleichermaßen verfolgen können. Damit wären gerade viele kleine Un- ternehmen überfordert. Aber aus der Vielzahl von mögli- chen Gleichstellungsmaßnahmen wird jedes Unterneh- men etwas auswählen können, was es umsetzen kann. Familienfreundliche Arbeitszeiten anzubieten ist eine der vielen Möglichkeiten. Ein mittelständisches Unternehmen aus der Textilbran- che beispielsweise beschäftigt über 400 Arbeitnehmer, die große Mehrheit davon Frauen. Für die mehr als 400 Be- schäftigten bietet das Unternehmen mehr als 300 Arbeits- zeitmodelle an. Fast jede Beschäftigte praktiziert eine ei- gens auf sie zugeschnittene Arbeitszeitregelung: Da ist die Mutter, die nur vormittags im Unternehmen ist, mit- tags die Tochter aus dem Kindergarten abholt und nach- mittags zu Hause arbeitet oder die Frau, deren betagte Mutter mittags mit Essen versorgt werden muss. Die Frau arbeitet ganztags, geht aber über Mittag für zwei Stunden nach Hause, um ihre Mutter zu versorgen. „300 Arbeitszeitmodelle, wie soll das gehen?“, wird so mancher fragen. Es geht, das zeigt uns dieses mittelstän- dische Unternehmen. Es geht und davon profitieren alle: die Arbeitnehmerinnen, weil sie ihre Arbeit mit ihren Fa- milienpflichten gut vereinbaren können, und das Unter- nehmen, weil es hoch motivierte Beschäftigte hat. Die Erhöhung des Frauenanteils in allen Funktions- ebenen ist eine andere Möglichkeit zur Herstellung be- trieblicher Chancengleichheit. So will die Deutsche BP 20 Prozent aller Führungsfunktionen mit Frauen besetzen – ein ehrgeiziges Ziel, doch das Unternehmen ist sicher, dies Ziel erreichen zu können. Andere Unternehmen werden ihre Entgeltstrukturen verändern mit dem Ziel, die geschlechtsspezifische Ent- geltdifferenz zu verringern. Auch hiervon werden die Unternehmen profitieren. Denn Ungerechtigkeit in der Bezahlung führt zu Demotivation und demotivierte Mit- arbeiterinnen leisten weniger als motivierte. Wieder an- dere Unternehmen werden sich für die Gewinnung von Mädchen für zukunftsträchtige Ausbildungsberufe ent- scheiden, ebenfalls im eigenen Interesse. Denn wer mor- gen qualifizierte Mitarbeiter beschäftigen will, muss Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17383 (C) (D) (A) (B) heute die fähigsten Köpfe ausbilden – und das sind nun einmal zu einem großen Teil Mädchen. Andere Unterneh- men schließlich werden Qualifizierungspläne für weibli- che Beschäftigte aller Funktionsebenen aufstellen. Wir räumen den Unternehmen im Rahmen der Selbst- verpflichtung also großen Spielraum ein, um ihrer wirt- schaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Verpflich- tung zur Herstellung betrieblicher Chancengleichheit nachzukommen. Sollte es aber zur geeigneten Selbstver- pflichtungen der Wirtschaft bis September dieses Jahres nicht kommen, werden die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen unmittelbar ein Gesetz zur Gleichstellung in der Privatwirtschaft einbringen. Renate Diemers (CDU/CSU): An der Reihenfolge einer Tagesordnung lässt sich einiges ablesen. So könnte man den Eindruck haben, dass das Parlament am Ende ei- nes langen Tages einen lästigen Pflichtpunkt schnell noch abhaken möchte. Dies ist besonders pikant, da es den Ver- antwortlichen der Regierungskoalition anscheinend nicht nur lästig ist, sich mit dem Thema „Gleichstellung von Frauen in der Privatwirtschaft“ zu beschäftigen, sondern auf diese Art und Weise zum wiederholten Male ein ge- brochenes Wahlversprechen unter der Decke halten. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und auch von Bündnis 90/Die Grünen, haben den Frauen im- mer wieder ein Gleichstellungsgesetz versprochen und Sie haben das auch in der Koalitionsvereinbarung fest geschrieben. Sie haben – wie bei vielen anderen wichti- gen Themen – im Wahlkampf große Ankündigungen ge- macht, Sie würden vieles besser machen als wir, aber Sie haben leider wieder einmal versagt. Immerhin haben Sie ein Gleichstellungsgesetz für die öffentliche Verwaltung vorgelegt und wir haben Ihnen in der Debatte vor einigen Wochen unsere Unterstützung zu- gesagt – nicht zuletzt, weil es eine Fortführung unseres Frauenfördergesetzes ist. Natürlich hätten wir bei Ihrem Gesetz für die Verwaltung einige Punkte pragmatischer und weniger dirigistisch gewünscht, aber in der Zielset- zung sind wir uns hier im Großen und Ganzen einig. Ihre Ankündigung, dass Sie die tatsächliche Umset- zung der im Grundgesetz festgelegten Gleichstellung von Männern und Frauen auch in der Privatwirtschaft angehen wollten, hat vielen Frauen Hoffnung gemacht. Wir stimmen ja überein, dass die in vielen Gesetzen festgeschriebene theoretische Gleichstellung der Frauen auch in der Praxis endlich erreicht werden soll. Wir wol- len die tatsächliche Chancengleichheit für Frauen in allen Bereichen – somit auch in der Wirtschaft. Frauen müssen die gleichen Aufstiegschancen wie Männer haben und die damit verbundenen Führungspositionen besetzen können. Es gibt viele Männer und auch Frauen, die bestreiten, dass Frauen heute noch benachteiligt sind. Ich denke hier an die jüngsten Meldungen vom Bund der Deutschen In- dustrie, den Arbeitgeberverbänden und leider auch vom Verband deutscher Unternehmerinnen. Sie lehnen eine gesetzliche Regelung ab und argumentieren, Frauen woll- ten aus eigener Kraft und Qualifikation Karriere machen. Tatsache ist aber – und die Zahlen beweisen es – dass Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft immer noch Exoten sind. Es steht auch fest, dass Frauen weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen, das heißt, auch in Führungspositionen. Aus diesem Grund haben viele Un- ternehmen Geheimhaltungsklauseln in den entsprechen- den Verträgen, sodass die Frauen oftmals gar nicht wissen, dass ihre männlichen leitenden Kollegen – wohlgemerkt in dergleichen Position in dem Unternehmen – ein paar zehn- tausend Mark mehr im Jahr verdienen. Aber dies – das geht quer durch unsere Gesellschaft, die Wirtschaft und die Parteien – wird nach wie vor als gegeben hingenommen und von einer Generation auf die andere weitergegeben. Falsch sind die Aussagen, Frauenförderung stehe im direkten Gegensatz zur Effizienz, zum Gewinn oder zur Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens. Andere war- nen, Frauen würden mit weiteren emanzipatorischen Re- gelungen aus der Arbeitswelt heraus sozialisiert. In der Praxis gibt es genügend positive Beispiele, die beweisen, dass die Unternehmen von der Arbeitskraft der Frauen profitieren, wenn ein partnerschaftliches, modernes und faires Arbeitsverhältnis besteht. Sie erhalten im Gegenzug für eine frauen- und familienfreundliche Arbeitswelt ein gutes Betriebsklima, qualifizierte Mitarbeiter (Väter und Mütter) und wenig Fluktuation und im Endeffekt zufrie- dene Kunden. Unser Auftrag muss es also sein, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Prozessen, auf allen Ebenen eines Unternehmens voran zu bringen, und mit dafür Sorge zu tragen, dass Art. 3 des Grundgesetzes auch im Alltag entsprechend umgesetzt wird. Ich bin sicher, dass dann die Effizienz, der Gewinn und die Wettbewerbsfähigkeit durch die Potenziale der Frauen gesteigert werden. Darüber besteht bei uns allen, so hoffe ich, Einigkeit, wenn wir auch sicherlich unterschiedliche Vorstellungen davon haben, in welch restriktiver Art und Weise die Wirt- schaft für dieses gesamtgesellschaftliche Ziel verpflichtet werden soll. Die PDS befürwortet ein überaus restriktives und die Freiheit beschneidendes Gesetz mit einem Schwerpunkt auf Sanktionen, Schadensersatz und Klage- recht. Dies lehnen wir ab. Sie von der Regierungskoalition sind leider nicht über Ihre Eckpunkte für ein Gesetz hinaus gekommen. Dass dann unmittelbar nach der Vorstellung der Eckpunkte die Diskussion in Ihrer Koalition ins Stocken gekommen ist – sogar mehr als das, das Thema wurde überhaupt nicht mehr erwähnt, es wurde totgeschwiegen –, liegt nicht un- bedingt an den Parlamentariern, sondern allein am Bun- deskanzler. In Ihrer Koalition bestimmen nicht die Abge- ordneten, was im Bundestag passiert, sondern das bestimmt bei Ihnen ganz allein der Bundeskanzler. Das nun angekündigte Ultimatum an die Wirtschaft von Seiten Ihrer Fraktionen wird vom Bundeskanzler wahrscheinlich schon wieder unterlaufen. Schließlich hat er der Wirtschaft zugesagt, dass kein Gesetz komme. Warum sollten sich die Wirtschaftsverbände also von Ihrem Ultimatum beeindrucken lassen? Ich bitte Sie von der Regierungskoalition, Ihre Interes- sen als Parlamentarier zu wahren und den Deutschen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117384 (C) (D) (A) (B) Bundestag nicht nur zum Abnicken der vom Bundeskanz- ler getroffenen Entscheidungen missbrauchen zu lassen. Der Kanzler hat die Richtlinienkompetenz, aber wir haben die Gesetzgebungskompetenz. Die Frauen in unserem Land erwarten viel von Ihnen und von uns allen. Nicht nur die erwerbstätigen Frauen, die selbstständigen Unternehmerinnen, die Existenzgrün- derinnen, auch die Familienfrauen, die Mütter, die nach der Familienphase wieder in den Beruf zurück wollen, also alle Frauen setzen Hoffnung in uns, die Chancen für Frauen in der Wirtschaft zu steigern. Chancen auf Be- schäftigung, auf gleichen Verdienst, auf Karriere. Die Zahl der außerhäuslich berufstätigen Frauen nimmt zu, auch die Zahl der erwerbstätigen Mütter. Von den 8,9 Millionen Müttern im erwerbsfähigen Alter mit mehr als einem Kind arbeiten 63 Prozent außerhäuslich, das sind 4 Prozent mehr als noch vor 10 Jahren. 7 Prozent aller Mütter mit mehr als einem Kind suchen eine Stelle. Klassischerweise sind das Teilzeitstellen und die Zahlen belegen das, denn drei von fünf Müttern arbeiten in Teil- zeitbeschäftigungen. Und damit kommen wir zu zwei wichtigen Aspekten des gesamten Problems: Erstens. Die Schwierigkeit, Familienarbeit, das heißt unter anderem auch Erziehung von Kindern oder Pflege eines Angehörigen, und außerhäusliche Erwerbsarbeit un- ter einen Hut zu bekommen. Ich nenne an dieser Stelle die Stichworte partnerschaftliche Aufteilung der Familien- aufgaben, Ganztagsbetreuung, flexible Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen und auch ein Netz gut ausgebildeter Tagesmütter. Direkt an die Wirtschaft richte ich das Stichwort: Betriebskindergärten. Die Unternehmen sollten sich in diesem Zusammen- hang umfassend informieren. Denn sowohl die Investiti- onskosten als auch die laufenden Betriebskosten sind in voller Höhe absetzbar. Es können auch zum Beispiel Ko- operationen zwischen mehreren Unternehmen, die räum- lich nah beieinander liegen, eingegangen werden. Ein weiteres Stichwort bzw. Hilfe für außerhäusliche erwerbs- tätige Frauen und Männer wäre in diesem Zusammenhang auch ein Angebot von personell gut ausgestatteten und funktionierenden Dienstleistungszentren. Zweitens. Klassische Halbtagsstellen sind nicht das Allheilmittel, um Frauen die Flexibilität zu ermöglichen. Wir brauchen unterschiedliche Teilzeitmodelle mit flexi- blen Arbeitszeiten, die sowohl den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als auch den Firmenstrukturen und den unterschiedlichen Anforderungen der Arbeitgeber ge- recht werden. Vielfach praktiziert die Wirtschaft bereits eine ganz andere Art der Flexibilität, nämlich die Nutzung der neuen Medien. Dienst-Notebooks mit Internet-Zugang und Dienst-Mobiltelefone sind bei Führungskräften fast schon Standard und ermöglichen eine Flexibilität in Bezug auf den Arbeitsort. Warum nutzt die Wirtschaft das nicht, um auch Frauen den Zugang zu Führungspositio- nen zu erleichtern? Es macht qualitativ keinen Unter- schied, ob das Notebook – wie von vielen Managern – auf dem Golfplatz oder im heimischen Wohnzimmer be- arbeitet wird. In diesem Zusammenhang ist von uns allen noch sehr viel Phantasie und Durchsetzungswillen gefragt. Aber die Mitwirkung der Wirtschaft ist unverzichtbar. Eine Selbst- verpflichtung abzugeben wäre ein guter Weg. Es gibt er- freulicherweise bereits einige Unternehmen, besonders auch im mittelständischen Bereich, die schon viel für die Frauenförderung tun. Beispiele können Sie in der Juli- ausgabe des Unternehmermagazins „Impulse“ nachlesen. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein paar Vorzeigeunternehmen und Vorzeigefrauen ersetzen nicht die geforderte selbstverständliche Gleichstellung. Mit einer Selbstverpflichtung auf höchster Ebene und sichtbaren Anstrengungen, um die Selbstverpflichtung umzusetzen, wären wir einen großen Schritt weiter. Die Schüchternheit der Privatwirtschaft in Bezug auf die Selbstverpflichtung wird von den Menschen in unserem Land nicht verstanden. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, Sie sind am Zuge. Setzen Sie Ihre Ankündigung in die Tat um und legen Sie einen Entwurf für eine praxisorientierte Handhabung zur Gleichstellung von Frauen in der Privatwirtschaft vor! Wir werden uns aktiv an der Beratung beteiligen. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Deutschland ist ein modernes, demokrati- sches Land mit qualifizierten Beschäftigten und innovati- ven Betrieben“. Das ist das Bild, das wir gern über unsere Grenzen hinweg vermitteln möchten. Schaut frau allerdings in die Statistik, so ist dieses Bild ein Trugschluss. Deutschland ist Schlusslicht in Europa sowohl bei der Erwerbsquote von Frauen als auch beim Anteil von Frauen in Führungs- positionen. Und Deutschland ist Schlusslicht bei der ganztägigen Kinderbetreuung, die ja häufig eine Voraus- setzung für die Erwerbstätigkeit von Frauen bildet. Von modern und innovativ kann da wohl keine Rede sein. Wie aber ist es um die Demokratie bestellt, die es zu- lässt, dass Frauen, obwohl Sie die besseren Schulab- schlüsse haben und einen höheren Anteil an Studierenden bilden, immer noch im Durchschnitt ein Viertel weniger verdienen als Männer, zu knapp 4 Prozent in den oberen Führungsetagen sitzen und da – wo die wirklichen Ent- scheidungen getroffen werden, in den Vorständen der Ak- tiengesellschaften – bei den größten 100 gar keine Rolle mehr spielen. Das ist nicht nur unmodern und innova- tionsfeindlich, sondern zutiefst undemokratisch. Denn eine wirkliche Demokratie kann es nicht geben ohne eine Geschlechterdemokratie. Was ist zu tun? Da die Wirtschaft mit der Situation, dass Deutschland gleichstellungspolitisch ein Entwick- lungsland ist, offensichtlich – noch – gut leben kann – spä- testens 2015 wird das ganz anders aussehen, dann näm- lich fehlen die Fachkräfte –, muss der Staat handeln. Und er kann es sich gar nicht aussuchen, ob er handeln will oder sich mit einem Basta verweigert. Der Staat muss handeln. So will es das Grundgesetz. „Er fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung ... und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17385 (C) (D) (A) (B) steht in der Verfassung, und nicht: Er kann die Gleichbe- rechtigung fördern. Also brauchen wir gesetzliche Regelungen, denn eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft bringt gar nichts. Das beste Beispiel dafür ist doch das Dosenpfand. Wenn heute der DIHT-Präsident Braun die Unternehmen auffordert, sich selbst zu verpflichten, dass Frauen bei gleicher Qua- lifikation nicht benachteiligt werden dürfen, so muss ich sagen: Das dürfen Arbeitgeber schon heute nicht. Immer- hin gibt es einen § 611 a im BGB. Und heißt das nicht auch indirekt: Bis jetzt wurden Frauen benachteiligt? Die Zah- len sprechen doch Bände: Von circa 2,5 Millionen Betrie- ben haben ganze 200 Konzepte zur Chancengleichheit. Nein, wir müssen schnellstens ein Gesetz für die Pri- vatwirtschaft in die parlamentarische Beratung bringen. Damit bin ich beim PDS-Antrag, der dieses ja vorsieht. Verehrte Kollegin Bläss, mit den Zielen ihres Antrages stimme ich überein. Aber die vorgeschlagenen Wege scheinen mir in der Tat den unterschiedlichen Branchen- strukturen und Betriebsgrößen nicht ausreichend Rech- nung zu tragen. Nun weiß ich auch, dass Demokratie nicht kostenlos zu haben ist, aber ein Teil ihrer Vorschläge scheint mir für Unternehmen, die um das Überleben kämpfen, schlichtweg auch zu kostspielig zu sein. Wenn sie ihren Blick insbesondere auf viele ostdeutsche Be- triebe richten, werden sie mir sehr schnell recht geben. Das darf aber kein Grund sein, nichts zu tun. Darum haben sich die Bündnisgrünen – wenn auch schweren Herzens –zu einem anderen Weg entschieden. Dieser Weg heißt: Die Unternehmen werden per Gesetz zur Gleichstellung verpflichtet. Sie selbst entscheiden dann darüber, welche Maßnahmen sie für ihren Betrieb als die geeigneten ansehen, um die Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen abzubauen, ihre Lohn- diskriminierung zu beseitigen, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit für Männer und Frauen si- cherzustellen und die Ausbildung von Frauen in zu- kunftssichere Ausbildungsplätze zu gewährleisten. Was tun, wenn das Gesetz nicht eingehalten wird? Hier kommt Hilfe aus Europa. Die neue Gleichbehandlungs- richtlinie sieht ausdrücklich ein kollektives Klagerecht vor, das auch von den Mitgliedstaaten umzusetzen ist. Das heißt Frauenverbände oder Gewerkschaften haben das Recht, initiativ zu werden und zu klagen. Das ist ein star- kes Druckmittel, denn es hilft meist schon ohne Anwen- dung. Aus der Schweiz wissen wir, dass viele Verfahren schon im Vorfeld gütlich abgewendet wurden, um Klagen zu vermeiden. Die nächsten Monate werden kein Zuckerschlecken sein auf dem Wege zu einem Gleichstellungsgesetz. Die Haltung der Wirtschaftsverbände ist bekannt, darf aber nicht Maßstab für die Politik sein. Politik darf nicht ein- seitig sein und nur die Interessen der Wirtschaft im Auge haben. Sie hat ihren Grundgesetzauftrag zu erfüllen. Dass es dabei zu einer Abwägung verschiedener Interessen kommt, ist eine Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, dass wir mit der Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen zu einem guten Ergebnis kommen werden. Ina Lenke (F.D.P.): Frauen sind – da sind wir uns alle einig – auch heute immer noch nicht in allen Bereichen gleichgestellt. Besonders der Frauenanteil in den Führungspositionen der deutschen Wirtschaft liegt bei le- diglich 11 Prozent. Das ist blamabel, besonders im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn und den USA. Selbstverständlich wollen wir, dass sich der Anteil der Frauen in den oberen Etagen der Privatwirtschaft wesentlich verbessert. In der Privatwirtschaft, auch im öffentlichen Dienst, sind wir davon noch weit entfernt. Art. 3 GG postuliert an den Staat den Auftrag, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern. Doch wie das zu gesche- hen hat, bestimmt das Grundgesetz nicht. Eine Gleichstellungspolitik mit dem Brecheisen – wie im Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft vorgese- hen – lehnen wir jedoch ab. Die Gründe dafür, dass Frauen und Männer besonders im Arbeitsleben noch nicht gleich- berechtigt nebeneinander stehen, sind sehr vielfältig und deshalb sind einfache Lösungen nicht gefragt. Die PDS will, ebenso wie die SPD und die Grünen, die Gleichstel- lung mit Gewalt in Gestalt eines Gleichstellungsgesetzes. Ich meine, Sie erweisen damit uns Frauen nur einen Bärendienst. Durch solche restriktiven Maßnahmen, wie sie gerade die PDS in ihrem Gesetzentwurf vorschlägt, vertiefen sich nur die Gräben zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bzw. zwischen Männern und Frauen. Durch Zwang ist noch nie etwas erreicht worden. Letztlich wird dies für uns Frauen ein Bumerang sein und uns schaden. Davon abgesehen, erschweren Sie damit zusätzlich die Handlungsspielräume für Betriebe, gerade im kleinen und mittelständischen Bereich. Wenn jetzt nun auch noch neben dem Betriebsrat zwingend eine weitere Person als Gleichstellungsbeauf- tragte tätig sein soll und diese auch noch freigestellt wird, wer erwirtschaftet dann noch den Gewinn, damit die Arbeitsplätze geschaffen bzw. erhalten werden können? Außerdem gehört die Förderung der Chancengleichheit bereits zu den Aufgaben des Betriebsrats. Weitere Pöstchen sind teuer und verhindern im Zu- sammenhang mit den übrigen dirigistischen Zwangsrege- lungen der rot-grünen Bundesregierung, dass Deutsch- land als Wirtschaftsstandort für kleine und mittlere Betriebe attraktiv bleibt bzw. attraktiver wird. Gerade im Mittelstand stecken eine Menge Arbeitsplätze, gerade für Frauen. Zugegebenermaßen ist ärgerlich, wenn sich die Wirtschaft einer Selbstverpflichtung widersetzt. Was sich die Bundesregierung bzw. die SPD-Fraktion aber nun hat einfallen lassen, gleicht einem beispiellosen Affentheater. Hier wird der Wirtschaft tatsächlich ein Ultimatum bis Ende August gesetzt, damit diese eine „freiwillige“ Selbstverpflichtung abgibt. Das ist doch wirklich nicht Ihr Ernst! Mit solch einer kurzen Frist? Deutlicher können Sie von der SPD Ihre Hilflosigkeit in der Gleichstel- lungspolitik nicht machen. Sie sollten nicht noch mehr Zeit mit diesen sinnlosen Spielchen verplempern, sondern endlich mit wirksamen Maßnahmen beginnen und ein richtiges Konzept vorle- gen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117386 (C) (D) (A) (B) Dazu muss der Blick stärker auf die Rahmenbedingun- gen gerichtet werden, um die Berufstätigkeit und gleiche Karrierechancen für Frauen und Männer überhaupt erst zu ermöglichen. Durch die Vereinbarkeit von Kind, Karriere und Beruf muss Frauen und Männern gleichermaßen der Weg in Führungspositionen geebnet werden. Dies bedeu- tet, Betreuungskosten – ungedeckelt – steuerlich abzugs- fähig zu machen und für ein wesentlich besseres und fle- xibleres Angebot an Kinderbetreuungsplätzen zu sorgen. Mehr Ganztagsschulen müssen her. Weiter brauchen wir flexiblere Arbeitsformen, Teilzeit, Telearbeit usw. Die Ausbildung von Frauen in bislang frauenuntypischen Be- rufsfeldern, zum Beispiel in der Zukunftstechnologie oder im gewerblich-technischen Bereich allgemein, ist unbe- dingt zu fördern. Hier sollte bei den Schulen angesetzt werden und das Interesse an solchen Berufen bei den Mädchen geweckt werden. Wenn nur ein verschwindend geringer Teil der Mädchen in frauenuntypischen Studi- engängen und Ausbildungsgängen vertreten sind, sollte man sich nicht über eine geringe Quote später in entspre- chenden Berufen und erst recht in den höheren Etagen entsprechender Wirtschaftsunternehmen wundern. Wir sollten lieber Betriebe ergänzend unterstützen, die über Maßnahmen der betrieblichen Förderung einen sinnvol- len Beitrag zur vollständigen Integration von Frauen in das Erwerbsleben leisten, statt Betriebe, die dies noch nicht tun, zu bestrafen. Petra Bläss (PDS): Chancengleichheit für Frauen und Männer in der Privatwirtschaft – für die einen ist das eine Selbstverständlichkeit für moderne Industrieunter- nehmen, für die anderen noch immer ein Schreckgespenst aus der Mottenkiste. „Ich habe vor dem Gesetz keine Angst“ meint ein erfolgreicher Textilunternehmer aus Süddeutschland, dessen Betrieb schon mehrfach als frauen- bzw. familienfreundlich ausgezeichnet wurde. Kein Wunder: Wer nicht diskriminiert, hat von einer ge- setzlichen Regelung auch nicht zu befürchten. Ich habe verfolgt, wie sich Bundesfrauenministerin Bergmann in der Koalition für die Gleichstellung in der Privatwirtschaft stark gemacht hat, wie sie über Monate darum bemüht war, die Wirtschaft ins Boot zu holen. Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privat- wirtschaft – das wollte die Ministerin gemeinsam mit den Unternehmen erreichen, nicht gegen sie. Dazu hat sie eine ganze Reihe von Diskussionen zwischen Wirtschaft, Ge- werkschaften, Wissenschaft, Verbänden und Politik orga- nisiert. Wir haben dort von vielen positiven Beispielen erfah- ren, von Betrieben, die etwas für die Gleichberechtigung getan haben, durch familiengerechte Arbeitszeiten zum Beispiel oder durch Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Wir haben von Unternehmen gehört, denen es schlicht un- verständlich ist, warum andere die Qualifikation von Frauen brachliegen lassen. Aber wir haben auch erfahren, dass sie die absolute Ausnahme sind. In der gesamten Bundesrepublik haben nur etwa 200 Betriebe freiwillig Maßnahmen zur Gleichstellung ergriffen. 200 von etwa 3 Millionen – das ist entschieden zu wenig. Was ist mit dem Rest? Die Mehrzahl der Betriebe ver- stößt gegen das Grundrecht von Frauen auf Gleichbe- rechtigung. Wir haben uns die Fakten hier schon zigmal gegenseitig präsentiert. Frauen sind in allen Bereichen des Arbeitsmarktes benachteiligt. Sie bleiben trotz gleich guter oder sogar besserer Abschlüsse häufig in der zwei- ten oder dritten Reihe stecken und kommen beruflich nur mühsam voran. Wir können – das ist meine feste Überzeugung – nicht länger auf freiwillige Maßnahmen der Wirtschaft warten. Der Umgang der Industriechefs mit den Konsensge- sprächen beweist mir das. Lassen Sie mich etwas zur Quotenregelung sagen, um gleich einige hartnäckige Missverständnisse auszuräu- men: Es geht darum, dass Frauen, die mindestens genauso gut wie ihre Mitbewerber sind, eine Chance erhalten. Wir fordern also keineswegs, dass Frauen mit geringerer Qua- lifikation bevorzugt werden. Klar ist auch: Wenn sich gar keine Frauen bewerben, können auch zukünftig ganz selbstverständlich Männer den Zuschlag erhalten. Wer ei- nen Kälteanlagenbauer sucht, muss keine Krankenschwes- ter einstellen. In Bereichen, in denen es kaum Frauen gibt, werden natürlich weiter Männer die Jobs bekommen. Wir wollen darüber hinaus die öffentlichen Aufträge an Chancengleichheit binden. Warum soll sich der Staat diese Möglichkeit entgehen lassen? Sie alle wissen im Übrigen, dass ein solches Verfahren durch den Europä- ischen Gerichtshof höchstrichterlich gedeckt ist. Außerdem wollen wir für einzelne Frauen sowie Ge- werkschaften und Frauenverbände die Möglichkeit schaf- fen, gegen Diskriminierung zu klagen – auch das ist eine Neuregelung, welche die Position von Frauen stärken soll. Für kleine und mittlere Betriebe haben wir einige Aus- nahmen vorgesehen, um es ihnen so leicht wie möglich zu machen. Die Unternehmen sollen insgesamt bei der Um- stellung ihrer Unternehmenspolitik unterstützt werden, weshalb wir einige finanzielle Erleichterungen und ein Umlageverfahren bei den Mutterschutzkosten vorsehen. Auch in unseren Vorstellungen gibt es im Übrigen viel Raum für eigene Ideen und Konzepte der Betriebe. Uns sind die Ziele wichtig. Wie genau und durch welche Schritte im Einzelnen sie erreicht werden, das überlassen wir den Betrieben. Mit dem Verzicht auf ein Gesetz und damit auf die Ge- staltungskraft des Staates stellt sich die rot-grüne Bun- desregierung ein Armutszeugnis aus. Die vielen Wortmel- dungen von Frauenverbänden, Gewerkschaften, aber auch von klein- und mittelständischen Unternehmen zeu- gen davon: Es besteht gesetzlicher Regelungsbedarf. Es wird Zeit und es lohnt sich, dass die Politik die Weichen stellt für eine andere, moderne Unternehmenspolitik. Es wird Zeit, dass die Chancengleichheit der Geschlechter als Standortfaktor begriffen wird. Es geht um nicht mehr, aber auch nicht weniger als um einen zivilgesellschaftli- chen Anspruch. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17387 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417600000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
Kolleginnen und Kollegen nachträglich zum Geburtstag
gratulieren: Den 60. Geburtstag konnten der Kollege
Arne Fuhrmann am 5. Juni, der Kollege Horst
Kubatschka am 10. Juni und die Kollegin Renate Jäger
am 17. Juni feiern. Ihren 65. Geburtstag beging die Kol-
legin Hanna Wolf am 14. Juni. Ihnen allen unsere herz-
lichsten Glückwünsche!


(Beifall)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene

Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rah-
menplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum
2001 bis 2004 – Drucksache 14/5900 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 29)

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der

CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der
F.D.P. und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Drei-
undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeord-
netengesetzes – Drucksache 14/6311 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel,
Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Beschäftigung
älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshinder-
nisse abbauen – Drucksache 14/5579 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 30)

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung
einer „Stiftung Jüdisches Museum Berlin“ – Drucksa-
che 14/6028 – (Erste Beratung 170. Sitzung)

aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses

für Kultur und Medien (23. Ausschuss) – Drucksache
14/6331 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin)

Dr. Norbert Lammert
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

Dr. Heinrich Fink

bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache
14/6356 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung der

(Siebtes Euro-Einführungsgesetz)

Beratung 164. Sitzung)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für

(16. Ausschuss)

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur

17211


(C)



(D)



(A)



(B)


176. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Änderung reiserechtlicher Vorschriften – Drucksache
14/5944 – (Erste Beratung 170. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) – Drucksache 14/6350 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann (Hildesheim)

Volker Kauder
Volker Beck (Köln)

Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-
tung der Bundesregierung zu den erneut korrigierten
Wachstumsprognosen der deutschen Wirtschaftsinstitute
und den daraus resultierenden Folgen

5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert,
Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der PDS: Pflege reformieren – Lebens-
qualität in Gegenwart und Zukunft sichern – Drucksache
14/6327 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

6. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-

(15. Ausschuss)

schlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG)

Nr. 881/92 des Rates vom 26. März 1992 über den Zugang
zum Güterkraftverkehrsmarkt in derGemeinschaft fürBe-
förderungen aus oder nach einem Mitgliedstaat oder durch
einen oder mehrere Mitgliedstaaten hinsichtlich einer ein-
heitlichen Fahrerbescheinigung KOM (00) 751 endg.; Rats-
dok. 13905/00 – Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian

7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Hempel,
Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aids-Bekämpfung in den
Entwicklungsländern fördern – Drucksache 14/6320 –

8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Birgit Homburger, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine gemeinsame
europäische VN-Politik – Drucksache 14/6083 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

9. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines

(Spätaussiedlerstatusgesetz – SpStatG)

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-
punkt 23 – Kulturföderalismus in Deutschland – abzuset-
zen sowie den Tagesordnungspunkt 26 – Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes – ohne Debatte aufzurufen.

Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Überwei-
sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 174. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss auch gemäß § 96 derGeschäfts-
ordnung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Familien-
förderung –Drucksache 14/6160 –
überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Sonderausschuss Maßstäbe- /Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den
Ergebnissen des Europäischen Rates in Göte-
borg am 15. und 16. Juni 2001

Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1417600100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf
die Ergebnisse des Europäischen Rates in Göteborg ein-
gehe, möchte ich ein Wort zu den gewalttätigen Aus-
schreitungen am Rande des Gipfels sagen. Ich denke wir
sind uns alle darin einig, dass diese Ausbrüche blindwütig
und menschenverachtend waren, und ich kann im Namen
des ganzen Hauses sprechen, wenn ich sage, unser Mit-
gefühl gilt den schwedischen Polizisten, denen von Ran-
dalierern zum Teil schwerste Verletzungen zugefügt wur-
den.


(Beifall im ganzen Hause)

Eine politische Auseinandersetzung mit diesen Gewalttätern
ist faktisch unmöglich. Sie haben keine politischen Ziele
und waren im Übrigen unter jenen mehr als 20 000 Men-
schen isoliert, die friedlich auf ihre Ziele hingewiesen ha-
ben.

Wir spielten diesen Chaoten nur in die Hände, ließen
wir die guten Ergebnisse des Göteborger Gipfels von den
Bildern jener Ausschreitungen überlagern. In Göteborg




Präsident Wolfgang Thierse
17212


(C)



(D)



(A)



(B)


hat eine erfolgreiche schwedische Präsidentschaft ihren
Abschluss gefunden. Dieser Präsidentschaft unter Minis-
terpräsident Göran Persson gilt heute erneut mein Dank.


(Beifall im ganzen Hause)

Von Göteborg geht eine überragende Botschaft aus:

Der Erweiterungsprozess der Europäischen Union ist un-
umkehrbar. Daran kann auch der negative Ausgang des
irischen Referendums, den ich bedauere, nichts ändern.
Im Gegenteil: Die Verhandlungen zur Erweiterung der EU
sind im letzten Halbjahr so gut vorangekommen, dass es
in Göteborg möglich war, die Vorgaben von Nizza weiter
zu präzisieren. Wir haben uns gemeinsam das Ziel gesetzt,
die Beitrittsverhandlungen mit jenen Kandidaten, die bis
dahin die Bedingungen erfüllen, zum Jahresende 2002
zum Abschluss zu bringen. Wenn dies gelingt, dann sollte
es auch möglich sein, dass die ersten Kandidatenländer als
Mitglieder der Europäischen Union an den Wahlen zum
Europäischen Parlament im Jahre 2004 teilnehmen wer-
den.

Gewiss, diese Zielsetzung ist ehrgeizig. Mit ihr ver-
bunden ist das Bekenntnis zu dem Prinzip, dass jeder
Kandidat ausschließlich nach seinen eigenen Leistungen
beurteilt wird. Hier bedarf es noch erheblicher Anstren-
gungen wichtiger Kandidatenländer. Letztlich haben sie
es selbst in der Hand, ob das Ziel erreicht wird oder nicht.

Am Montag habe ich mit dem polnischen Ministerprä-
sidenten Buzek bei unserem Treffen in Frankfurt (Oder)

unseren gemeinsamen Wunsch bekräftigt, dass Polen das
gesteckte Ziel in der ersten Gruppe erreicht. Einfach wird
das nicht sein. Aber ich denke, wir werden gemeinsam al-
les dafür tun, dass Polen seine Chance nutzen kann. Das
gilt im Übrigen auch für alle anderen Kandidatenländer.
Es hängt von ihnen selbst ab, ob die Fortschritte in den
Verhandlungen und bei der Umsetzung des europäischen
Regelwerkes ausreichend sein werden.

Ich bin recht zuversichtlich, dass wir die in Göteborg
festgelegten Zielvorgaben erreichen werden. Wir haben
im ersten Halbjahr erhebliche Fortschritte im Beitritts-
prozess verzeichnet. Das ist übrigens nicht zuletzt das
Verdienst einer klugen und sachlich orientierten Ver-
handlungsführung des deutschen Kommissars Günter
Verheugen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit der Verabschiedung eines gemeinsamen Stand-
punktes der Mitgliedstaaten zur Freizügigkeit und zum
Kapitalverkehr ist – so denke ich – ein wirklicher Durch-
bruch gelungen. Ungarn hat als erstes Kandidatenland der
siebenjährigen – im Übrigen flexiblen – Übergangsfrist bei
der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugestimmt und damit
das entsprechende Verhandlungskapitel abgeschlossen.
Lettland hat in dieser Woche ebenfalls zugestimmt und ich
bin sicher, dass schon bald weitere Länder folgen werden.
Damit ist ein wesentliches deutsches, von mir mit beson-
derem Nachdruck verfolgtes Verhandlungsziel erreicht.

Der Erweiterungsprozess kann insgesamt nur gelingen,
wenn er auch künftig die Unterstützung der Menschen in
unserem Land findet. Eine für beide Seiten auskömmliche

Lösung bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt hierbei
eine Schlüsselrolle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ebenso müssen die von der Erweiterung besonders be-
troffenen Grenzregionen die mögliche und notwendige
Unterstützung erhalten, um absehbar schwierige Anpas-
sungsprozesse besser bewältigen zu können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch dies hat der Europäische Rat in Göteborg noch ein-
mal bekräftigt. Die Kommission wird schon bald eine ent-
sprechende Mitteilung vorlegen.

Meine Damen und Herren, die Beratungen zur Erwei-
terung in Göteborg standen unter dem Eindruck des iri-
schen Referendums. Zu Beginn des Gipfels hat der iri-
sche Premierminister Bertie Ahern in einer sehr
engagierten und auch überzeugenden Intervention darge-
legt, dass er den Ausgang des irischen Referendums und
die damit verbundenen Fragen als ein originär irisches
Problem ansieht. Dabei hat er noch einmal unterstrichen,
dass weder die irische Regierung noch eine Mehrheit der
irischen Bevölkerung eine Verzögerung der Erweiterung
wünschen. Er hat deutlich gemacht, dass das Referendum
entsprechend zu interpretieren ist. Der Europäische Rat
seinerseits hat einhellig zum Ausdruck gebracht, dass er
die irische Regierung bei ihrer Suche nach einer Lösung
unterstützen wird.

Zugleich wird von allen Partnern der Ratifizierungs-
prozess von Nizza fortgesetzt. Nachverhandlungen – hier
waren sich alle Partner einig – wird und kann es nicht ge-
ben. Ich bin also zuversichtlich, dass wir die Ratifizierung
des Vertrages im vorgesehenen Zeitraum, das heißt bis
Ende des Jahres 2002, wirklich bewältigen können. Aller-
dings wären wir schlecht beraten, wenn wir einfach zur
Tagesordnung übergingen. Eine Politik des „einfach wei-
ter so“ wird es nicht geben können.

Was auch immer die Gründe für den negativen Ausgang
des Referendums gewesen sein mögen, eines scheint mir
unübersehbar: Nicht nur in Irland, sondern auch in den an-
deren Mitgliedsländern haben noch immer viele Men-
schen mehr Fragen als Antworten, wenn es um Europa
geht. Nach meiner Auffassung ist dies kein Zufall. Der
Fortgang des Integrationsprozesses ist – ich glaube, darin
sind wir uns einig – eine Zukunftsfrage allerersten Ranges.

Wir haben in diesem Hohen Hause über den Umgang
mit der Gentechnik diskutiert und uns intensiv mit den
Herausforderungen des demographischen Wandels ausei-
nander gesetzt. Wir werden über die Zuwanderung und
die damit verbundenen Fragen nach dem Selbstverständ-
nis unserer Gesellschaft zu debattieren haben. Genau in
diesem Sinne – geleitet von den Prinzipien der Redlich-
keit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern – müssen
wir auch die Fragen diskutieren, die die Finalität Europas
betreffen.

Jahrzehntelang wurde die europäische Einigung nach
folgendemMuster vorangetrieben: Die beteiligten Regie-
rungen einigten sich hinter verschlossenen Türen und




Bundeskanzler Gerhard Schröder

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präsentierten dann der Öffentlichkeit die im Konsens ver-
abschiedeten Beschlüsse. Ich will nicht missverstanden
werden: Die Ergebnisse, die dabei erzielt worden sind,
darf man wahrlich nicht zu gering schätzen. Nach zwei
großen Kriegen und Jahrzehnten der Feindschaft auf un-
serem Kontinent wurde so die Grundlage für einen Neu-
beginn in guter Nachbarschaft und für eine Zusammen-
arbeit zum Nutzen aller Partner gelegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Heute leben wir in einem anderen Europa. Spätestens
in Nizza ist das soeben gekennzeichnete Konsensmodell
an seine Grenzen gestoßen. In einer Union mit jetzt 15
und schon bald 20 und mehr Mitgliedstaaten führt das
starre Festhalten an bisherigen Verfahren nur allzu oft
dazu, dass wir statt der größten Gemeinsamkeit nur den
kleinsten gemeinsamen Kompromiss finden. Das ist zu
wenig, wenn wir eine künftig erweiterte Europäische
Union politisch führbar halten wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschland steht – das ist eine gute Tradition und hier
besteht eine lange Kontinuität – unabhängig von der par-
teipolitischen Zusammensetzung der Regierungen – für
die Erweiterung. Wir haben aber immer betont, dass sie
ohne die gleichzeitige Vertiefung und die damit verbun-
dene Stärkung der europäischen Institutionen kaum ver-
kraftbar wäre. 27 Mitgliedstaaten können nicht nach den
gleichen Spielregeln zusammenarbeiten wie die ur-
sprünglichen sechs Gründerstaaten der Europäischen
Union. Wir sollten uns nicht täuschen: Die Bürgerinnen
und Bürger wollen an den Entscheidungsprozessen stär-
ker beteiligt werden als in der Vergangenheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Sie wollen mitwirken und auf jeden Fall nachvollziehen
können, wie die Entscheidungen in der Europäischen
Union zustande gekommen sind. Diesem Wunsch, der ei-
ner demokratischen Notwendigkeit entspricht, kommen
wir nicht dadurch nach, dass wir einfach immer nur die
Forderung nach mehr Transparenz, Effizienz und Legiti-
mität herunterbeten, im Übrigen aber so weitermachen,
als sei nichts geschehen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und was machen Sie jetzt?)


Im Herbst des vergangenen Jahres habe ich den Vor-
schlag gemacht, in der Perspektive über Nizza hinaus eine
sehr grundsätzliche Debatte über die Ziele und Methoden
der europäischen Einigung zu führen. Gemeinsam mit dem
damaligen italienischen Ministerpräsidenten Amato habe
ich diesen Vorschlag in die Regierungskonferenz einge-
bracht. In Nizza hat er die Zustimmung aller Partner ge-
funden. Damit ist die Debatte über die Zukunft Europas
auch in diesem Zusammenhang eröffnet. Sie muss breit an-
gelegt sein und darf – hier kann es keinen Zweifel geben –
nicht von den Regierungen allein geführt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Bei dieser Debatte sind alle gefordert: zuallererst die
Bürgerinnen und Bürger, aber auch alle Zweige der Zivil-
gesellschaft – nicht nur die großen Verbände, Parteien und
Kirchen, sondern auch die Vielzahl von bürgerschaftli-
chen Zusammenschlüssen und Initiativen. Dies gilt auch
für diejenigen, die dem bisherigen Prozedere kritisch ge-
genüberstehen. Die nationalen Parlamente und das Euro-
päische Parlament müssen im Sinne einer echten Parla-
mentarisierung umfassend einbezogen werden. Dabei
sollten wir, wo sinnvoll, an die Erfahrungen des Konvents
zur Erarbeitung der Grundrechtscharta anknüpfen.

Meine Damen und Herren, eine ehrliche Debatte um
die Zukunft Europas setzt voraus, dass wir auch den Mut
haben, kontroverse Vorstellungen einzubringen. Ich habe
in den letzten Wochen viel Unterstützung für den Vor-
schlag bekommen, die Europäische Union auf lange Sicht
über die Föderation hinaus zu einem föderalen System
weiterzuentwickeln. Natürlich hat es auch kritische Stim-
men gegeben – und das ist gut so. Niemand darf sich ein-
bilden, dass er diese Debatte unkritisch, gar alleine führen
könnte. Beim deutsch-französischen Gipfel in Freiburg
war ich mit Präsident Chirac und Premierminister Jospin
darin einig, dass wir für diese Debatte jetzt eine Vielfalt
von Stimmen und Meinungen aus allen europäischen
Staaten brauchen. Nur so kann sie wirklich Früchte tra-
gen. Bei der Regierungskonferenz 2002 – darauf haben
wir uns verständigt – wollen wir mit gemeinsamen
deutsch-französischen Vorschlägen arbeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Am Ende des in Nizza angestoßenen Zukunftsprozes-
ses – da bin ich sicher – wird aus unterschiedlichen An-
sätzen, die unterschiedlichen Traditionen in den Ländern
folgen, eine gemeinsame Vision von Europa und seiner
Finalität stehen. Dazu gehört unabdingbar, dass wir Eu-
ropa über gemeinsame politische Ziele definieren. Nichts
anderes steht hinter unserem Bekenntnis zum euro-
päischen Gesellschaftsmodell. Wir haben, so finde ich,
bisher schon Beeindruckendes erreicht: Europa ist der
größte Binnenmarkt der Welt; zwölf Mitgliedstaaten der
Union haben eine gemeinsame Währung; wir sind auf
dem Weg zu einer gemeinsamen Verteidigungs- sowie zu
einer gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik.

Mit der Verabschiedung der Nachhaltigkeitsstrategie
haben wir ein weiteres Kapitel erfolgreicher Zukunftsge-
staltung aufgeschlagen. In dieser Diskussion stehen wir
noch am Anfang; aber die Zielrichtung stimmt: Die Stra-
tegie identifiziert Felder, auf denen es lohnend und dring-
lich erscheint, die Belange der Wirtschafts-, Sozial- und
Umweltpolitik noch sehr viel enger miteinander zu ver-
schränken, als das bisher der Fall war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies gilt insbesondere auch für die Agrarpolitik. Wir ha-
ben uns in Göteborg darauf geeinigt, künftig mehr Ge-
wicht auf die Förderung gesunder, qualitativ hochwertiger
Erzeugnisse und umweltfreundlicher Produktionsmetho-
den zu legen.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da brauchen wir von Ihnen keine Nachhilfe!)





Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Zu einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie gehört
aber über diese Fragen hinaus auch eine engagierte Kli-
mapolitik. Im Juli wird in Bonn die Vertragsstaa-
tenkonferenz zum Kioto-Protokoll zusammentreten. Alle
Partner in der Europäischen Union haben in Göteborg
noch einmal bekräftigt, dass sie die Konferenz zu einem
Erfolg machen wollen. Sie haben dies auch gegenüber
dem amerikanischen Präsidenten Bush deutlich gemacht.
Keine Frage: Die Differenzen zwischen Europa und
Amerika in der Klimapolitik bleiben auch nach unserem
Treffen in Göteborg bestehen. Ich habe beim Abendessen
mit dem amerikanischen Präsidenten vorgeschlagen, dass
wir in Bonn auf der Grundlage des gemeinsamen Zieles,
den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, den
Kioto-Prozess nicht aufgrund von Differenzen über In-
strumente eskalieren lassen. Mein Eindruck war: Die
amerikanische Seite wird in Bonn eine Lösung nicht
blockieren. Wenn das so zuträfe, wäre ein großer Schritt
nach vorne gelungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roland Claus [PDS])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Göteborg
und nicht zuletzt durch das Treffen mit allen Beitrittskan-
didaten zum Abschluss des Europäischen Rates ist das
größere Europa wiederum ein Stück greifbarer geworden.
Es ist aber keine Frage: Es ist noch längst nicht Realität.
Vor uns liegt ein schwieriger Weg. Unter belgischer Prä-
sidentschaft stehen im zweiten Halbjahr Entscheidungen
zur Ausgestaltung der Debatte um die europäische Zu-
kunft an. Gemeinsam müssen wir dafür Sorge tragen, dass
die Dynamik der Erweiterungsverhandlungen erhalten
bleibt.

Bis zum Jahresende soll außerdem eine Zwischenbilanz
der Arbeiten in der gemeinsamen Innen- und Rechtspoli-
tik gezogen werden. Außerdem wollen wir im Dezember
eine erste Einsatzfähigkeit der europäischen Krisenreakti-
onskräfte erreichen. Gemeinsam mit Frankreich – das ha-
ben wir bei unserem Treffen in Freiburg vor zehn Tagen
noch einmal bekräftigt – werden wir alles dafür tun, dass
die belgische Präsidentschaft ihre Aufgaben meistern
kann.

Wir alle haben die große, die einmalige Chance, unse-
ren Kontinent wirklich zu einen und unser Europa für die
Menschen, aber auch mit den Menschen zu einer starken
Kraft des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zu
machen. Ich finde, wir sollten alles dafür tun.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417600200
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1417600300
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Bei der Abgabe dieser
Regierungserklärung des Bundeskanzlers dürfte nie-
mand, der außerhalb dieses Raumes zugehört hat, das
Gefühl bekommen haben, dass die Probleme, die in der

Europäischen Union bestehen, und die mangelnde Zu-
stimmung, die bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur
unseres Landes seit längerer Zeit festgestellt wird, jetzt
mit einem beherzten Sprung nach vorne in der Europä-
ischen Union überwunden werden. Im Gegenteil: Das,
was Sie, Herr Bundeskanzler, hier mit wohlgesetzten
Worten vorgetragen haben, entspricht dem, was wir aus
vielen Kommuniqués der Europäischen Union seit vielen
Jahren kennen. Es fehlt offensichtlich jedes innere Enga-
gement, die Probleme, die wir in Europa und in der Bun-
desrepublik Deutschland mit Europa haben, beherzt zu
lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn der Merz über das Gefühl redet, wird es schräg! Herr Merz als Gefühlsbolzen!)


Ich vermute jedenfalls, dass derjenige, der in der heu-
tigen Ausgabe der Zeitung „Die Zeit“ den Gipfel von
Göteborg beurteilt, eher Recht behalten wird als Sie, Herr
Bundeskanzler, mit Ihrer Regierungserklärung. Dort heißt
es:

... – von diesem ,Europäischen Rat‘ wird wenig in
Erinnerung bleiben. Allenfalls zweierlei: die Bruta-
lität, mit der Hunderte Polithooligans ganze Straßen-
züge verwüsteten. Und die Kaltschnäuzigkeit, mit
der die EU-15 den Völkern Mittel- und Osteuropas
vorgaukelten, das Ziel ihres Langen Marsches gen
Westen sei nahe.

Weiter heißt es:
,Bis Ende 2002‘, verheißt das Gipfel-Kommuniqué,
könnten die Verhandlungen über den EU-Beitritt
,abgeschlossen werden‘. Ende 2002, das verklärt
sich in Prag und Warschau nun zum Symbol. Dabei
ist es doch nur eine Lüge.

(Joachim Poß [SPD]: Was will uns der Autor damit sagen?)

Die Zustimmung, die wir zur europäischen Entwick-

lung wollen und brauchen, um auch im 21. Jahrhundert
eine erfolgreiche gesamteuropäische Friedens- und
Freiheitsordnung zu errichten, lässt sich nicht mehr mit
wohlgesetzten Worten herbeiführen. Wir brauchen einen
Prozess, der nicht nur glaubwürdig ist, sondern in dem
auch die Zuständigkeiten und die Möglichkeiten der Eu-
ropäischen Union auf das Richtige und das Realistische
konzentriert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Europäische Union müsste sich doch gerade jetzt

auf das konzentrieren, was nur sie selber lösen kann und
was die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht
mehr alleine regeln können. Sie müsste sich auf die Voll-
endung des europäischen Binnenmarktes und auf die Voll-
endung der europäischen Wirtschafts- und Währungs-
union konzentrieren und in der Lage sein, die innere und
äußere Sicherheit des europäischen Kontinents zu ge-
währleisten. Alles dies ist in Göteborg nicht nur nicht ge-
lungen; es hat vielmehr keinerlei Fortschritt gegeben.




Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Nun mag es ja sein, Herr Bundeskanzler, dass das
irische Nein – immerhin in einer Volksabstimmung – kein
Votum gegen die auch von uns für notwendig und richtig
erachtete Osterweiterung der Europäischen Union war
und dass dieses Nein mehr innenpolitische Motive hatte,
vielleicht die unzureichende Vorbereitung oder die ge-
ringe Beteiligung der Bevölkerung. Aber klar ist doch
wohl, dass dieses Nein der Iren nicht etwa ein Betriebs-
unfall war, den man nun einfach mit einem neuen Refe-
rendum reparieren kann, wie es offensichtlich die Außen-
minister gesehen haben.

Klar ist doch wohl auch, dass dieses Nein zum Vertrag
von Nizza nicht nur in Irland, sondern in ganz Europa ein
Warnsignal, ein Wecksignal eines kleinen Landes sein
müsste, das gegen europäische Formelkompromisse auf-
begehrt, die keiner versteht, gegen Reformen hinter ver-
schlossenen Türen, an denen die Bevölkerung nicht be-
teiligt wird, gegen Bevormundung durch Brüsseler
Entscheidungen, die im eigenen Land nicht vermittelbar
sind, gegen Ängste vor dem Verlust der Neutralität und
kultureller Eigenständigkeit, gegen vorgebliche Integra-
tionsfortschritte, die in Wirklichkeit keine sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die europäische Politik hat in der Zwischenzeit – da-

ran haben der Gipfel von Göteborg und auch Ihre
Regierungserklärung nichts geändert – eine derart kom-
plizierte und von der Vorstellungswelt der meisten Men-
schen so weit entfernte Konstruktion geschaffen, dass ein
normaler Mensch keine Chance mehr hat, zu verstehen,
was in Europa eigentlich geschieht.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Und was ist Ihre Alternative?)


– Die Alternative, die sich stellt, ist zunächst einmal, dass
wir im Umgang der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union miteinander zu dem zurückkehren, was in der Eu-
ropäischen Union seit 1949 richtig und Wirklichkeit war.


(Günter Gloser [SPD]: Wann waren die Römischen Verträge?)


Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, Herr
Bundeskanzler, dass ein kleines Volk wie die Iren gegen
das aufbegehrt, was in der Europäischen Union geschieht,
wenn Sie bis zum heutigen Tage Ihre herabwürdigende
Haltung gegenüber einem anderen kleinen Land in der
Europäischen Union, nämlich gegenüber Österreich,
fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Du liebe Zeit!)


Sie brauchen sich auch nicht darüber zu wundern, Herr
Bundeskanzler,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kamelle, Kamelle!)


dass sich die Menschen gegen diese Hochmütigkeit zur
Wehr setzen, wenn Sie gleichzeitig dem freigewählten
Ministerpräsidenten eines großen Landes der Europä-
ischen Union und eines Gründerstaates der Europäischen
Gemeinschaften, nämlich dem Ministerpräsidenten Silvio

Berlusconi, den Glückwunsch verweigern, nur weil er
Ihrer parteipolitischen Präferenz nicht entspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Hat er doch!)


Wer so handelt, setzt nicht nur die Solidarität der Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union aufs Spiel; er ge-
fährdet auch jede erfolgreiche politische Führung der
Europäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Europa à la Sauerland!)


Heute vor genau zehn Jahren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, hat der Deutsche Bundestag – damals noch in
Bonn – die Entscheidung getroffen, den Sitz des Parla-
ments und der Regierung nach Berlin zu verlegen. Diese
Entscheidung ist von einer großen Zahl von Rednern be-
fürwortet und damit begründet worden, dass von Berlin
das Signal ausgehe, wir wollten nach der Wiederherstel-
lung der Einheit unseres Landes auch die Einheit des
europäischen Kontinentes nach Osten zügig und erfolg-
reich vorantreiben. Wir haben uns damals nicht vorstellen
können, dass von Berlin aus ein Bundeskanzler der Bun-
desrepublik Deutschland genau zehn Jahre später eher
Bedenken und Vorbehalte gegen die Osterweiterung der
Europäischen Union äußert,


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es! – Widerspruch bei der SPD)


als sie in die Hand zu nehmen und sie gerade zu einer Auf-
gabe der deutschen Politik zu erklären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Peter Struck [SPD]: Wer ist denn gegen die Osterweiterung?)


Diese Europäische Union bräuchte gerade jetzt die
klare und beherzte politische Führung des größten Mit-
gliedstaates der Europäischen Union in der geopoli-
tischen Mitte des europäischen Kontinents, die sich nicht
nur an innenpolitischen Opportunitäten, sondern auch an
europäischen Notwendigkeiten orientiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im größten Mitgliedstaat der Europäischen Union ist

von einer solchen europäischen Politik, von einer wirkli-
chen europäischen Vision gegenwärtig nichts zu erken-
nen. Außer formelhaften Bekenntnissen zur europäischen
Politik hat diese Bundesregierung nichts zu bieten.


(Zuruf von der SPD: Eine Frechheit!)

Fast genauso schwer wiegt, dass die deutsche Wirt-

schaftspolitik das Voranschreiten der Europäischen
Union in einem der zentralen Aufgabenbereiche belastet
und behindert. Und es ist jetzt nicht mehr allein die deut-
sche Opposition, Herr Bundeskanzler, die dies immer
wieder zum Ausdruck gebracht hat. Seit Göteborg können
Sie nicht mehr behaupten, das seien nur wir, die Ihnen
sagten, dass die Wirtschaftspolitik dieses Landes zu ei-
nem Hemmschuh für ganz Europa geworden sei.


(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)





Friedrich Merz
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(B)


In den so genannten Grundzügen der Wirtschaftspolitik
der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft für 2001, ei-
nem Dokument der EU-Kommission, das dem Gipfel in
Göteborg vorgelegen hat und dort verabschiedet worden
ist, wird Ihrer Bundesregierung – wird Ihnen persönlich,
Herr Bundeskanzler – ein denkbar schlechtes Zeugnis
ausgestellt, was Ihre Wirtschaftspolitik in Deutschland
und in Europa betrifft. Ich will Ihnen die Kernsätze aus
diesem Dokument heute Morgen nicht vorenthalten. Es
heißt dort:

In Deutschland ist bislang noch kein starker endoge-
ner Wachstumsprozess in Gang gekommen. Die Wirt-
schaft bleibt deshalb anfällig für außenwirtschaftliche
Schocks. Die Wirtschaftsdynamik wird offenbar
durch Verkrustungen insbesondere des Arbeitsmark-
tes gebremst. Die Steuer- und Sozialleistungssysteme
tragen zu dem allgemeinen Arbeitslosigkeitsproblem
bei, als relativ hohe Grenzsteuersätze bei gleichzeiti-
gem Verlust von Sozialhilfeleistungen dazu führen
können, dass Geringverdienende in die Arbeitslosig-
keitsfalle geraten.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Das ist wörtlich das, was wir Ihnen seit Anfang dieses Jah-
res zur Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik Ih-
rer Regierung gesagt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie haben sich damals, in der Mitte des Jahres 1998,

noch in Bonn hingestellt und erklärt, der Aufschwung,
den wir im Jahre 1998 wirklich hatten, sei – noch vor dem
Wahltermin des Jahres 1998 – Ihr Aufschwung gewesen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Größenwahn war das!)


Heute, im dritten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, ist es zu-
mindest Ihr Abschwung, den wir gegenwärtig erleben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die EU-Kommission schreibt Ihnen das ins Stammbuch
mit den Worten:

Es besteht die Gefahr, dass die Wachstumsraten in
Deutschland schwach bleiben, wenn Reformen des
Arbeitsmarktes und der Transfermechanismen aus-
bleiben.


(Gernot Erler [SPD]: Schwach ist nur die Opposition!)


Immer noch können sich die Steuer- und Sozialleis-
tungssysteme zusammengenommen dahin gehend
auswirken, dass kein Anreiz zur Arbeit besteht.

Meine Damen und Herren, wir diskutieren seit Mona-
ten mit Ihnen, sagen Ihnen seit Monaten, dass Sie Refor-
men der sozialen Sicherungssysteme, der Sozialhilfesys-
teme, der Arbeitslosenhilfe machen müssen, damit wir
endlich eine Wirtschaftsdynamik und Arbeitsplätze in
Deutschland bekommen. Sie haben dies immer als Äuße-
rungen der Opposition zurückgewiesen. Heute schreibt es
Ihnen die EU-Kommission ins Stammbuch, Herr Bundes-
kanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das Ganze endet mit der Feststellung:
Der deutsche Arbeitsmarkt ist durch einen relativ ho-
hen Regulierungsgrad gekennzeichnet. Aktive Ar-
beitsmarktprogramme, zumal in den östlichen Bun-
desländern, sind offenbar ineffizient und werden
häufiger als Instrument der Sozialpolitik missver-
standen.

Besser als das, was Sie beim Gipfel in Göteborg zu hören
bekommen haben, hätten wir das auch nicht zum Aus-
druck bringen können, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich sage Ihnen: Mit Ihrer Politik gefährden Sie den Zu-
sammenhalt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Ah! – Susanne Kastner [SPD]: Jetzt übertreiben Sie aber!)


Sie verschärfen den Abschwung nicht nur der deutschen,
sondern der europäischen Volkswirtschaft. Sie vernach-
lässigen den Mittelstand. Sie verunsichern mit Ihrer neuen
Betriebsverfassung die Unternehmen in Deutschland. Sie
vergreifen sich mit der Ökosteuer am Geldbeutel des klei-
nen Mannes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Sie verhindern gerade für die kleinen und mittleren Un-
ternehmen eine echte steuerliche Entlastung. Sie kommen
her und vertrösten die Familien mit ein paar Mark Kin-
dergelderhöhung,


(Widerspruch bei der SPD)

die in demselben Atemzug durch die Ökosteuer wieder
aufgezehrt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie, Herr Bundeskanzler, versagen mit Ihrer Arbeits-

marktpolitik, Sie verschärfen das Investitionsklima in der
Bundesrepublik Deutschland


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem muss es aber arg schlecht gehen!)


und Sie, Herr Bundeskanzler, verantworten die Inflations-
rate von 3,5 Prozent in Deutschland und ziehen damit die
Geldentwertung in der gesamten Europäischen Union
nach oben. Das ist die europäische und deutsche Wirk-
lichkeit im Jahre 2001.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Herr Bundeskanzler, die Inflationsrate beginnt eine
ernsthafte Gefährdung nicht nur für die europäische Wirt-
schafts- und Währungsunion zu werden, sondern auch für
den Fortbestand von Wohlstand und sozialer Gerechtig-
keit in der Bundesrepublik Deutschland selbst. Eine In-
flationsrate von 3,5 Prozent bedeutet in Wahrheit, dass
den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland
durch die Geldentwertung in einem Jahr rund ein halbes
Monatsgehalt weggenommen wird.


(Widerspruch bei der SPD)





Friedrich Merz

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(D)



(A)



(B)


Das ist die Realität Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler. In-
flation trifft nicht die Besitzer großer Vermögen, trifft
nicht diejenigen, die die Chance haben, mit ihrem Geld in
andere Währungsräume auszuweichen. Inflation trifft zu-
allererst die Kleinen: die Arbeitnehmer, die Rentner, die
Sparer. Inflation ist der Taschendieb des kleinen Mannes,
Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: Der Plusterbeutel der CDU!)


Wenn wir ein solch großes europäisches Projekt – es
geht nicht allein um den Binnenmarkt und die
Währungsunion; die wirtschaftliche Integration war in
der Geschichte der Europäischen Union immer der
Schrittmacher für die politische Integration – in der Euro-
päischen Union retten wollen, dann müssen wir die Zu-
stimmung der Menschen zurückgewinnen, indem wir
ihnen deutlich machen, dass Binnenmarkt und Wäh-
rungsunion für die Menschen auch wirtschaftlich ein
großer Erfolg sein können. Dann bedarf es anderer An-
strengungen als groß und lang abgefasster, fein ziselierter,
sorgfältig formulierter Gipfelkommuniqués von Lissabon
bis Göteborg; dann muss die praktische Politik, Herr
Bundeskanzler, dafür sorgen, dass endlich wirklich ein
wirtschaftlicher Aufschwung durch alle Länder der Euro-
päischen Union und insbesondere durch die Bundes-
republik Deutschland geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das, was Sie hier in Deutschland machen, gefährdet das
gesamte europäische Projekt. Sie gefährden die Zustim-
mung der Menschen zu dem, was vor circa 50 Jahren für
Europa und für die Zukunft unseres Kontinentes auf den
Weg gebracht worden ist.

Deswegen sage ich Ihnen: Wir bieten Ihnen an, an ei-
nem Fünf-Punkte-Programm für Aufschwung, Beschäfti-
gung,


(Zuruf von der SPD: Wie in den 90er-Jahren?)

Wirtschaftswachstum und politische Zukunft in Europa
mitzuwirken.

Erstens. Stoppen Sie das unselige Betriebsverfas-
sungsgesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD)


– Wenn in Ihren Reihen dazu nur Gelächter zu hören ist,
dann zeigen Sie damit, dass Sie die Wirklichkeit von Wirt-
schaftspolitik in den Betrieben in Deutschland längst aus
dem Blick verloren haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Susanne Kastner [SPD]: So ein Quatsch!)


Funktionäre sind es, die die Politik in diesem Lande be-
stimmen.

Zweitens. Ziehen Sie die für das Jahr 2005 vorgese-
hene Steuerreform auf den 1. Januar des Jahres 2002 vor,
damit insbesondere die kleinen und mittleren Unterneh-
men in diesem Lande eine Chance haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Drittens. Setzen Sie wenigstens die nächsten beiden
Stufen der Ökosteuer aus, damit die Menschen das Geld
in der Tasche behalten und nicht durch Ihre verfehlte Po-
litik ein weiterer Inflationsschub auf Deutschland zu-
kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: Europa! – Gernot Erler [SPD]: Zum Thema! Europa!)


Viertens. Beginnen Sie endlich mit dem, was Sie of-
fensichtlich doch selbst für richtig halten, nämlich mit ei-
ner grundlegenden Reform unseres Gesundheitssystems
in der Bundesrepublik Deutschland,


(Günter Gloser [SPD]: So macht man Europa kaputt!)


damit nicht eine große Welle von Beitragserhöhungen auf
uns zukommt. Der in diesen Tagen gefasste Beschluss der
AOK Hessen, den Beitragssatz um 1 Prozent zu erhöhen,
ist ein Menetekel für Ihr Ziel, die Lohnzusatzkosten in
Deutschland auf unter 40 Prozent abzusenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Der eine redet von Europa, der andere redet von der AOK Hessen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417600400
Sorgen Sie dafür,
dass endlich Reformen auf dem Arbeitsmarkt in der Bun-
desrepublik Deutschland – –


(Gernot Erler [SPD]: Reden Sie doch einmal über Europa! – Weiterer Zuruf von der SPD: Provinzieller Blödsinn! – Dr. Peter Struck [SPD]: Zur Sache!)


Herr Präsident, offensichtlich ist die Akustik in diesem
Saal so schlecht, dass große Teile derer – in meiner Frak-
tion sind ja einige mehr anwesend als bei Ihnen –,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Alles Mitglieder von der AOK Hessen!)


die in den hinteren Reihen sitzen, nur geringe Möglich-
keiten haben zuzuhören. Sie von den Regierungsfraktio-
nen können dazu beitragen, das zu ändern, indem Sie sich
mit Ihren Zwischenrufen vielleicht zurückhalten und so
dafür sorgen, dass wir miteinander reden können.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Der Präsident hört ja nicht zu da oben! Der diskutiert ja nur!)


Dies alles sind die Notwendigkeiten nicht nur der deut-
schen Politik, sondern auch der europäischen Politik. Wer
eine wirklich erfolgreiche Gestaltung der europäischen
Politik will, der darf das nicht alles der EU und ihren
Institutionen überlassen, sondern er selbst muss hand-
lungsfähig sein.

Da der Deutsche Bundestag vor zehn Jahren – ich war
damals nicht dabei,


(Gernot Erler [SPD]: Das waren noch Zeiten, Herr Kollege!)


aber ich habe den Beschluss begrüßt – entschieden hat,
nach Berlin zu ziehen, erlauben Sie mir, dass ich zum




Friedrich Merz
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(C)



(D)



(A)



(B)


Schluss einen Hinweis gebe, der jedenfalls uns mit tiefer
Sorge um die Zukunft unseres Landes erfüllt. Sie, Herr
Bundeskanzler, sind auf dem Weg, die Zusammenarbeit
mit denjenigen zu institutionalisieren, auszuweiten und zu
begründen, die in Berlin und ganz Deutschland für Mauer
und Stacheldraht Verantwortung getragen haben. Das ist
Ihre politische Entscheidung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Damit werden wir uns bei anderer Gelegenheit ausein-
ander zu setzen haben.


(Gernot Erler [SPD]: Allerdings!)

Aber wenn Sie eine gute wirtschaftliche Zukunft Deutsch-
lands wollen, dann hilft vielleicht zur kritischen Einschät-
zung dessen, was Sie vorhaben, ein Blick auf die Länder,
in denen die Zusammenarbeit zwischen SPD, Grünen und
PDS längst begonnen worden ist. Mecklenburg-Vorpom-
mern und Sachsen-Anhalt, Herr Bundeskanzler, sind die
einzigen Bundesländer, in denen der Saldo der Anmeldun-
gen von neuen Betrieben negativ ist: Im letzten Jahr hat
das Land Mecklenburg-Vorpommern über 400, das Land
Sachsen-Anhalt fast 1 000 Gewerbebetriebe im Saldo ge-
genüber den Neuanmeldungen verloren.


(Zuruf von der PDS: Das stimmt doch gar nicht! – Rolf Kutzmutz [PDS]: Das war unter Bergner anders?)


Dies ist die politische Botschaft, die Sie nicht nur für Ber-
lin, sondern für ganz Deutschland ausgeben, wenn Sie zu-
lassen, dass SPD, Grüne und PDS jetzt zusammenarbei-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Tatsache, dass Sie gelangweilt in Ihren Dokumen-

ten lesen, Herr Bundeskanzler, lässt gewisse Rück-
schlüsse auf die Art und Weise zu, wie Sie den parlamen-
tarischen Umgang pflegen.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Lächerlich! – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie man in den Wald hineinruft, so kommt es zurück!)


Ich habe Ihnen zugehört, als ich auf meinem Platz geses-
sen habe.

Welches Bild geht von dieser Stadt und diesem Land zu
einem Zeitpunkt aus,


(Susanne Kastner [SPD]: Hören Sie mit der Wahlkampfrede auf!)


wo wir beherzte politische Entscheidungen für Europa
brauchen, wenn eine SPD in Deutschland jetzt die Zu-
sammenarbeit mit den Altkommunisten der DDR beginnt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Günter Gloser [SPD]: Die Suppe kann keiner essen, die Sie löffeln!)


An dieser Wirklichkeit kommen Sie nicht vorbei. Über
diese Fragen werden wir uns mit Ihnen in den nächsten
Wochen und Monaten auseinander zu setzen haben, wenn
es nicht nur um eine bessere Politik für Deutschland geht,

sondern auch um eine gute, eine richtige und eine erfolg-
reiche Politik für ganz Europa.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. – Gernot Erler [SPD]: Eine provinzielle Rede!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417600500
Ich erteile dem Kolle-
gen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Peter Struck (SPD) (von Abgeordneten der SPD
mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren! Herr Kollege Merz, für mich sind
Sie der lebende Beweis dafür, dass innerparteiliche
Schwäche und Konkurrenz zum Tod der politischen Se-
riosität führen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dazu möchte ich gerne Dieter Hildebrandt zitieren: „Sie
sind als Torpedo gestartet und als Flaschenpost gelandet.“
Den Beweis hierfür haben Sie eben hier geliefert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können gerne eine Debatte über Berlin führen.
Dazu will ich Ihnen kurz sagen – das ist jetzt nicht die Ge-
legenheit; Sie haben völlig am Thema vorbeigeredet –:
Die Berliner Situation haben einzig und allein Herr
Diepgen und Herr Landowsky zu verantworten, die das
4-Milliarden-DM-Defizit in dieser Stadt herbeigeführt
haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch können wir über die PDS reden. Ich habe eine
Liste von Mitgliedern Ihrer Fraktion dabei, die der Block-
partei CDU teilweise seit 1952 angehört haben. Von Ihnen
lassen wir uns nicht solche Vorwürfe machen, Herr Kol-
lege Merz! Das werden wir noch bei Gelegenheit bereden,
damit das klar ist.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Das tut Ihnen weh. Das weiß ich. Sie können ja einmal
mit Ihren Kollegen, die seit 1952 in der Block-CDU sind,
darüber reden, wie sie sich gegenüber der SED verhalten
haben. Wenn Sie schon ein solches Thema ansprechen,
dann wird hier über alles geredet. Dann kommt alles auf
den Tisch!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist schon eine Unverschämtheit, wenn Sie, Herr
Merz, sich hier hinstellen und von ein paar Mark mehr
Kindergeld reden. Wir haben das Kindergeld für das erste
und zweite Kind um 80 DM erhöht. Das haben Sie in Ih-
rer gesamten Regierungszeit nicht geschafft. Das ist eine
gute politische Leistung!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Friedrich Merz

17219


(C)



(D)



(A)



(B)


Dann sagen Sie, Sie wollen die Steuerreform vorzie-
hen. Sie waren es doch, die dagegen waren, dass wir die
Steuerreform machen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Natürlich waren Sie dagegen. Sie haben doch eine
schwere Niederlage im Bundesrat erlitten, weil Ihre eige-
nen Leute nicht mitgemacht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Nun hören Sie bloß auf!
Ich möchte einige Worte zur wirtschaftlichen Lage sa-

gen. Natürlich macht uns die Preissteigerungsrate Sorgen,
das ist selbstverständlich.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ach! Das ist ja interessant!)


Natürlich macht uns die konjunkturelle Lage Sorgen; das
ist keine Frage. Aber wir sollten auch darauf hinweisen,
dass die Preissteigerungsrate im Wesentlichen auf die
Ölpreisentwicklung – das ist eine globale Entwicklung –


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ökosteuer!)

und natürlich auch auf die Situation bei den Preisen für
Lebensmittel zurückzuführen ist. Wir haben an anderer
Stelle oft genug darüber diskutiert, dass wir die Gewiss-
heit haben müssen – dafür danke ich der Landwirtschafts-
und Verbraucherministerin sehr –, dass wir gesunde Le-
bensmittel essen können. Das wirkt sich natürlich auf die
Preise aus.

Wir werden die Entwicklung der Preissteigerungsrate
und der Konjunktur im Auge behalten. Aber es ist falsch,
meine Damen und Herren, wenn Sie mit dazu beitragen,
die Stimmung schlechter zu reden, als die Lage tatsäch-
lich ist. Die Lage ist nämlich besser als die Stimmung, die
artikuliert wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden keine hektischen Aktivitäten entfalten.

(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist bei Ihnen auch nicht zu erwarten! Das stimmt!)


Es geht jetzt darum, darauf hinzuweisen – diesbezüg-
lich finde ich die Beiträge von Herrn Professor Siebert
sehr vernünftig –, dass wir, jedenfalls nach den Erfahrun-
gen, die wir aus Amerika haben, im dritten und vierten
Quartal dieses Jahres und erst recht im ersten und zweiten
Quartal des nächsten Jahres eine positive Entwicklung ha-
ben werden.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sieht das der Wirtschaftsminister auch so?)


Es ist klar, dass unsere wirtschaftliche Entwicklung
eng mit der Entwicklung der Weltwirtschaft verbunden
ist. Reden Sie unser Land nicht herunter! Die Stimmung
in der Wirtschaft, beispielsweise in der Maschinen- und
Anlagenbauindustrie, ist besser.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Alles Müller, oder was?)


Ich möchte zu dem Thema sprechen, zu dem auch Sie
hätten sprechen sollen, Herr Kollege Merz, nämlich zu
Europa.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollten lernen, Herr Merz, dass Europa nur mit einem
realistischen Optimismus und nicht mit Miesmacherei zu
bauen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Bei dem Gesicht!)


Wenn Sie Göteborg kritisieren, dann kritisieren Sie
Jacques Chirac und Aznar und nicht nur den Bundes-
kanzler. Das, was in Göteborg, zum Beispiel im Bereich
der Nachhaltigkeitsstrategie verabredet worden ist,
kann sich sehen lassen, und zwar Nachhaltigkeit nicht nur
in der Umweltpolitik, sondern insgesamt. Dabei ist ein
neuer, ein guter Impuls gesetzt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Diskussion über das Abkommen zum Klima-

schutz hat auch uns natürlich Sorge gemacht. Ich finde es
gut, dass wir, die SPD-Fraktion, aber auch die Bundesre-
gierung, die Haltung des amerikanischen Präsidenten zum
Kioto-Protokoll zu Recht kritisieren. Die USAwerden ih-
rer globalen Verantwortung für den Klimaschutz mit der
Haltung ihrer neuen Administration nicht gerecht. Alle
Mitgliedstaaten haben zugesagt, das Kioto-Protokoll zu
ratifizieren.

Die Europäische Union geht dabei mit gutem Beispiel
voran. Wir werden dafür werben, dass andere Vertrags-
partner diesem Beispiel folgen. Die Amerikaner sollten
den Faden nicht ganz abreißen lassen. Wir ermuntern sie,
mit uns weiter konstruktiv darüber zu reden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist über den Fahrplan für die Erweiterung diskutiert

worden. Bis Ende 2002 sollen die Erweiterungsverhand-
lungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Beitritts-
ländern abgeschlossen sein. Das ist ein sehr ehrgeiziges
Ziel. Ich kann Gerhard Schröder gut verstehen, dass er
beim Europäischen Rat in Göteborg ein Fragezeichen hin-
ter dieses Datum gesetzt hat.

Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben
die Erweiterungspolitik der Europäischen Union in den
letzten Jahren maßgeblich vorangebracht. Wir haben uns
immer wieder für eine zügige Erweiterung eingesetzt.
Bisher gab es im Deutschen Bundestag einen parteiüber-
greifenden Konsens, dass die Erweiterung kommt, wenn
die Beitrittsländer die entsprechenden Kriterien erfüllen.

Politische Rabatte – das ist bisher unstrittig gewesen –
darf es nicht geben. Wer aus Verantwortung gegenüber der
EU und den Beitrittsländern ein Fragezeichen hinter ein
bestimmtes Datum setzt, der sollte deshalb nicht kritisiert
werden. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der Vor-
gänger von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Altkanzler
Helmut Kohl, im Hinblick auf den Beitritt von Polen das




Dr. Peter Struck
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(D)



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(B)


Jahr 2000 genannt hat. Wir wissen alle genau, dass das ab-
solut unrealistisch war.

Für die erfolgreiche Politik der Erweiterung gibt es ein
gutes Beispiel: Noch im letzten Herbst sah es so aus, als
könnten die Verhandlungen über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer zu einem Stolperstein werden. Was ist
seitdem passiert? Bundeskanzler Schröder hat im Dezem-
ber 2000 die Initiative ergriffen und in Weiden öffentlich
die Eckpunkte benannt, die dafür von Bedeutung sind.
Dabei hat er auf Maximalpositionen verzichtet und statt-
dessen von Anfang an ein Modell vorgeschlagen, das die
Akzeptanz in den heutigen Mitgliedstaaten, aber auch die
Akzeptanz in den Beitrittsländern im Blick hat. Es war
also ein flexibler Vorschlag.

Kurz vor der Einigung zwischen den Mitgliedstaaten
kam die Verknüpfung von Freizügigkeit und der künftigen
Finanzausstattung der Strukturfonds durch Spanien ins
Spiel. Dieser Versuch ist glücklicherweise gescheitert.
Vor allem Gerhard Schröder und Joschka Fischer haben es
zusammen mit den anderen Partnern geschafft, diesen An-
griff abzuwehren. Denn wie viele Junktims zu dem
Thema Beitritt hätte es noch gegeben, wenn der erste mas-
sive Versuch nicht gestoppt worden wäre, wenn man die-
sem Angriff nicht standgehalten hätte?


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was für ein Angriff? Wer hat wen angegriffen?)


–Aznar; Sie haben nicht zugehört, Herr Repnik. Aber das
ist Ihr Problem und nicht meins.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sie haben den Aznar doch vorhin gelobt!)


Damit konnten die Erweiterungsverhandlungen über
dieses schwierige Kapitel, wie im Verhandlungsfahrplan
vorgesehen, fortgeführt werden.

Ungarn hat die EU-Vorschläge inzwischen als erstes
Beitrittsland akzeptiert. Wir wissen, dass das für Ungarn
zu Hause und im Verhältnis zu den anderen Beitrittslän-
dern nicht leicht war. Wir sollten diese mutige Entschei-
dung würdigen und wir sollten uns bei den Ungarn dafür
ausdrücklich bedanken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Inzwischen hat auch Lettland die Vorschläge zur Freizü-
gigkeit akzeptiert. Das unterstreicht, dass wir auf einem
guten Wege sind.

Ich will an dieser Stelle betonen, dass die Frage der Fi-
nanzierung für die Erweiterung bis 2006 geklärt ist. Wer
etwas anderes sagt, der hat von vornherein keine Bereit-
schaft zu substanziellen Reformen in der gemeinsamen
Agrarpolitik. Das ist die Wahrheit. Wir können das heu-
tige System nicht einfach auf die erweiterte Europäische
Union übertragen. Helfen Sie uns, in diesem schwierigen
Feld voranzukommen! Das – nicht Ihre Miesmacherei –
wäre konstruktiv.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wussten jedenfalls immer, dass die Erweiterung nicht
zum Nulltarif zu haben sein wird. Um das zu begreifen,
brauchen wir keine Nachhilfestunden von Ihnen.

Über das irische Referendum ist gesprochen worden.
Herr Kollege Merz, wenn Sie mit Ihrer Rede allerdings
suggerieren wollten, dass die Bundesregierung auch da-
ran Schuld habe, dann zeigt das, wie wenig Sie von der
Sache verstehen. Mit dem irischen Referendum haben wir
nun wirklich nichts zu tun. Das haben die irischen Bürge-
rinnen und Bürger allein erledigt, auch wenn es nicht in
unserem Sinne war. Wir können zwar nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen; es ist aber richtig, dass uns das
Ergebnis des Referendums Anlass geben muss, über die
Zukunft der Europäischen Union intensiv nachzudenken.
Wir werden diese Fragen bis 2004 auf einer Regierungs-
konferenz zu entscheiden haben.

Meine Partei, die SPD, hat einen Leitantrag für die Dis-
kussion über Europa für den Bundesparteitag in Nürnberg
im November vorgelegt. Der SPD-Parteivorsitzende hat
diesen Entwurf eines europapolitischen Grundsatzpa-
piers vorgestellt. Wir werden die Diskussion darüber
führen. Wir stehen erst am Anfang dieser Diskussion und
deshalb kann es nicht bereits jetzt darum gehen, über
Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Positionen
nachzudenken.

Mir und sicherlich auch dem Bundeskanzler ist klar,
dass wir mit solchen Vorschlägen mit unseren französi-
schen oder britischen Freunden nicht von vornherein in
allen Punkten übereinstimmen werden. Aber das ist doch
eine Selbstverständlichkeit. Wir können nicht erwarten,
dass auch von befreundeten Parteien in vielen Punkten
Positionen vertreten werden, wie wir sie in dem Leitan-
trag aufgelistet haben. Das hängt auch mit den unter-
schiedlichen Traditionen und mit der unterschiedlichen
nationalen Geschichte dieser Länder zusammen. In der
Vergangenheit ist es häufig so gewesen, dass sich beide
Seiten, von unterschiedlichen Positionen kommend, an-
genähert haben und dass die erzielten Kompromisse von
den übrigen Partnern als Ausgangspunkt für eine gesamt-
europäische Lösung akzeptiert worden sind. Ich bin si-
cher, das wird auch mit unseren Vorschlägen geschehen,
über die wir mit unseren französischen und britischen
Freunden Gespräche führen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage einer europäischen Verfassung wird einer
der zentralen Punkte der belgischen Präsidentschaft sein.
Der Verabschiedung dieser Verfassung soll und muss eine
breite öffentliche Diskussion vorausgehen. Es ist wichtig,
dass in Göteborg auf der Ebene der Staats- und Regie-
rungschefs zuerst darüber gesprochen wurde. In den
nächsten Wochen und Monaten kommt es darauf an, den
Rahmen für die öffentliche Debatte über die europäische
Verfassung zu bestimmen und gleichzeitig – das möchte
ich deutlich betonen – die Einsetzung eines parlamenta-
risch besetzten Konvents zu beschließen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Dr. Peter Struck

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(D)



(A)



(B)


Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass Göte-
borg der letzte Beleg für die Unumkehrbarkeit des Bei-
trittsprozesses gewesen sei. Damit verwirklicht sich eine
Vision, die in diesem Hause, zwar nicht an dieser Stelle,
aber in diesem Parlament, vor 50 Jahren zum ersten Mal
formuliert wurde. Damals, 1951, bei der Verabschiedung
der Montanverträge zwischen den Beneluxländern,
Frankreich, Italien und Deutschland, nahm das heutige
Europa mit dem Gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl
seinen Anfang. Einer meiner Vorgänger in meinem jetzi-
gen Amt, Herbert Wehner, hat in der damaligen Debatte
gesagt:

Die europäische Gemeinschaft muss bestrebt sein,
das ganze Europa zu umgreifen, einschließlich der
Länder, die heute noch der demokratischen Freiheit
beraubt sind.

Dieses Zitat von Herbert Wehner wird langsam Realität.
Die Visionen, die damals formuliert worden sind, rücken
immer näher und werden immer greifbarer. Wir sind auf
einem guten Wege.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417600600
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.


Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1417600700
Werter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die deut-
schen Liberalen, aber auch unsere Kollegen im Europa-
parlament bewerten den Gipfel von Göteborg hinsichtlich
der Osterweiterung positiv. Wir haben seit Monaten die
Konkretisierung des Beitrittsfahrplans mit erreichbaren
Bedingungen eingefordert, was nichts mit Datumsfeti-
schismus zu tun hat, Herr Außenminister Fischer. Wir
glauben, Göteborg hat dank der schwedischen Präsident-
schaft dazu geführt, dass die Einigung Europas irreversi-
bel ist und der Fahrplan für die Osterweiterung eingehal-
ten werden kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

Nicht positiv bewerten wir die Rolle der Bundesregie-

rung am Anfang, wenn die Presseberichte stimmen. Wir,
die wir immer der Anwalt der osteuropäischen Länder wa-
ren, haben lange gezögert. Davon war in vielen Pres-
seberichten die Rede. Am Schluss mussten sich Deutsch-
land und Frankreich dem schwedischen Wunsch beugen,
einen konkreten Beitrittsfahrplan vorzulegen. Herr Bun-
deskanzler, wenn es Ihre Absicht war, eine zu kleine
Osterweiterung zu verhindern und einen konkreten Weg
für das wichtigste Beitrittsland, nämlich Polen, offen zu
halten, dann findet dies unsere Zustimmung. Wir halten
das für sehr wichtig.


(Beifall bei der F.D.P.)

Polen ist unser wichtigster Partner und das größte Bei-
trittsland. Wir wollen, dass Polen zur ersten Beitrittsrunde
gehört.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Aber wir sollten nicht nur die Reformanforderungen an
Polen wiederholen, sondern auch unsere Hausaufgaben in
Deutschland machen, damit die Menschen in Deutschland
nicht Angst vor neuen Wettbewerbern auf dem Arbeits-
markt haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Die Fristen retten uns nicht!)


Wer den Arbeitsmarkt nicht reformiert, die Ökosteuer
weiterhin erhebt und das Betriebsverfassungsgesetz zu-
ungunsten des Mittelstandes verschärft, trägt nicht dazu
bei, dass neue Arbeitsplätze für Deutsche entstehen. Des-
halb haben die Deutschen Angst vor neuen Wettbewer-
bern um Arbeitsplätze.


(Joachim Poß [SPD]: Eine sehr krude Logik, Herr Kollege! Sie schlagen jetzt gedanklich Purzelbäume!)


Hier ist der enge Zusammenhang zwischen der Fähigkeit
zu inneren Reformen in Deutschland und der Bereit-
schaft zur Aufnahme neuer Länder in die Europäische
Union evident.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Insofern, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD
mit Ihrer großen Europatradition im Sinne von Willy
Brandt, ist die Schaffung einer Übergangsfrist von sieben
Jahren für die Gewährung eines europäischen Grundrech-
tes, nämlich der Freizügigkeit, 21 Jahre nach Ende des
Eisernen Vorhangs keine europäische Heldentat der Sozi-
aldemokraten und der deutschen Gewerkschaften.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie ist nach wie vor zutreffend!)


1990: Versprechen an die Osteuropäer. Im Jahr 2000:
weitere vier Jahre bis zur Aufnahme neuer Mitglieder,
dann weitere sieben Jahre Übergangsfrist. Das bedeutet
für die Länder in Osteuropa, dass erst im Jahre 2011 volle
Freizügigkeit in Europa herrscht. Ich glaube, viele Osteu-
ropäer haben sich diese Art von europäischer Wiederver-
einigung anders vorgestellt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich glaube, dass mit dem im Feuilleton der „FAZ“ von

heute erwähnten „traurigen Dokument historischen Ver-
gessens“ gemeint ist, dass wir eben wegen mangelnder ei-
gener Reformbereitschaft nicht wirklich aufnahmefähig
sind.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P] und des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])


Die Frage der Aufnahmefähigkeit stellt sich aber nicht
nur in wirtschaftspolitischer, sondern auch in politisch-in-
stitutioneller Hinsicht, und zwar gerade den Altmitglie-
dern und dem größten europäischen Land, Deutschland.
Es geht nach wie vor um die Frage der Organisation der
Entscheidungsprozesse, der Mehrheitsfähigkeit und der
Entscheidungsfähigkeit.

Nur so viel zu unserer Haltung zu Nizza – der Frakti-
onsvorsitzende der F.D.P. wird in der nächsten Woche un-




Dr. Peter Struck
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(D)



(A)



(B)


sere Position präzisieren –: Die F.D.P. und die europä-
ischen Liberalen im Parlament sind keine Neinsager. Viel-
mehr sind sie die besseren Europäer, weil sie versuchen,
Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig zu erreichen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU])


Sie müssen die wichtige Position Deutschlands im euro-
päischen Einigungsprozess unter der Führung eines
liberalen belgischen Ministerpräsidenten dazu nutzen,
dass der Europäische Rat von Laeken erbringt, dass
der Vertragsentwurf von Nizza im Bereich der Ent-
scheidungsfähigkeit so verbessert wird, dass er zustim-
mungsfähig wird. Wir wollen dem Entwurf von Nizza zu-
stimmen, aber nicht um jeden Preis.


(Beifall bei der F.D.P.)

Klar ist auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr

Gloser, dass nicht der ein guter Europäer ist, der intern
sagt: Nizza ist schlecht, Augen zu und durch. Es ist viel-
mehr der ein guter Europäer, der alles versucht, um den
Entwurf von Nizza so zu verbessern, dass sich eine Euro-
päische Union von 20 bis zu 27 Mitgliedern nicht nach
dem Prinzip der Vetoentscheidung, sondern nach dem
Prinzip von wichtigen politischen Mehrheitsentscheidun-
gen organisiert.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aus dem irischen Nein – und dies ausgerechnet am

Vorabend des wichtigsten Projektes, nämlich der europä-
ischen Wiedervereinigung; täuschen wir uns nicht, dies
entspricht einer allgemeinen Europamüdigkeit, auch in
unserem Land – ergeben sich aus unserer Sicht drei ge-
meinsame Aufgaben aller Parteien und aller Fraktionen
im Deutschen Bundestag.

Erstens. Wir sollten die Debatte um die Zukunft Euro-
pas, um die Vision Europa, durchaus mit unterschiedlichen
Ansätzen führen. Wir sollten aber gleichzeitig bei den be-
vorstehenden konkreten europäischen Projekten alles tun,
damit die Einführung der europäischen Währung – ein
wichtiges Projekt – zu einer stärkeren projektbezogenen
Europa-Zustimmung führt. Hier ergibt sich ein Zusam-
menhang mit der Reformpolitik: Wer innenpolitisch, wirt-
schaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht refor-
miert, wird eine weitere Schwächung des Außenkurses
der europäischen Währung zulassen. Dies wird im wich-
tigsten Land Europas erneut zu einer Europamüdigkeit
führen. Wer die Diskussion über die Erweiterung nach
Osteuropa weitgehend auf die Frage der Freizügigkeit
bzw. der Einschränkung der Freizügigkeit verkürzt, der
darf sich nicht wundern, dass viele Menschen die Ost-
erweiterung nur noch unter dem Aspekt des Wettbewerbes
am Arbeitsmarkt sehen und nicht mehr unter dem Aspekt
der politischen Einigung Europas, der Stabilisierung des
Friedens und letztlich auch der Exportchancen deutscher
Firmen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zweitens. Wir haben die Aufgabe, uns selbst, aber auch

die Bevölkerung durch ausreichende innere Reformen auf
mehr Wettbewerb vorzubereiten. Es ist ungerechtfertigt,
so zu tun, als sei die Osterweiterung Europas der Haupt-

grund für mehr Wettbewerb. Die Globalisierung insge-
samt erfordert von unserer Gesellschaft ein sehr viel
höheres Maß an Flexibilität, an Wettbewerbsfähigkeit und
an Qualifikation. Die Osterweiterung ist eigentlich nur ein
kleines Modell der Globalisierung. Deshalb ist der Zu-
sammenhang zwischen innerer Reform in Deutschland
und Aufnahmefähigkeit für neue Partner in Europa so
enorm wichtig.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens. Nicht zuletzt gilt: Das europäische Projekt
muss mithilfe des Konventmodells, also mit einer anderen
Form der Verhandlungen auf europäischer Ebene, dafür
sorgen, dass sich die Menschen wieder stärker beteiligt
fühlen. Herr Außenminister, dem deutschen Parlament
– Sie wissen es aus dem Europaausschuss – kommt dabei
eine wichtige Aufgabe zu. Wir haben die große Bitte auch
an Sie, bei Ihren Überlegungen hinsichtlich der Struktur
und Organisation des Konventmodells die Rolle des na-
tionalen Parlamentes ausreichend zu würdigen und insbe-
sondere die Opposition rechtzeitig zu beteiligen.

Wenn diese drei Anforderungen an die europäische Po-
litik erfüllt werden, besteht die große Chance, dass die
Osterweiterung von den Menschen nicht als Bedrohung
hinsichtlich ihrer persönlichen Lage, sondern als Chance
empfunden wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417600800
Ich erteile dem
Außenminister Joseph Fischer das Wort.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417600900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorsit-
zende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, hat heute
Morgen die Skizze einer neuen christdemokratischen
Europapolitik, gewissermaßen von den lichten Höhen
seiner sauerländischen Heimat herunter, entworfen:


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Diese Arroganz!)


Es ging um die AOK Hessen, das Betriebsverfassungs-
gesetz, die Inflation, die Ökosteuer, die PDS und Bürger-
ferne.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das interessiert die Menschen sehr wohl!)


Unter dem Strich hieß es dann: An allem sei die Bundes-
regierung und vor allem der Bundeskanzler schuld.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das sind, für sich genommen, alles wichtige Themen,
Herr Merz. Das will ich gar nicht abstreiten. Nur mit Gö-
teborg haben diese Punkte fast nichts und zum Teil gar
nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS – Dr. Helmut Haussmann 17223 Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sie müssen sich bei den Krawallen in Göteburg ja wohl gefühlt haben! – Michael Glos [CDU/CSU]: Da kommen Erinnerungen hoch!)





(C)


(D)


(A)


(B)


Ich verstehe ja die Leidenschaft für Wahlkampf; ich
kann das weiß Gott nachvollziehen. Darum ist es in Gö-
teborg aber nicht gegangen. In Göteborg ging es vielmehr
um eine der entscheidenden historischen Herausforderun-
gen für die europäische Zukunft, nämlich um die Erwei-
terung.

Eine erweiterte Union wird im Jahre 2006 vor schwie-
rigen Finanzverhandlungen stehen. Es war daher sehr
wichtig, dass es der Bundesregierung gelungen ist, ge-
meinsam mit unseren Partnern – an dieser Stelle haben
wir uns bei der schwedischen Präsidentschaft zu bedan-
ken – gelungen ist, die unsachgemäße Verknüpfung des
Freizügigkeitskapitels, also Freizügigkeit für Personen
und für Dienstleistungen sowie Freizügigkeit im Rahmen
des Kapitalverkehrs, mit den Struktur- und Kohäsions-
fonds nach 2006 aufzulösen. Diese Verknüpfung hätte in
der Tat ein Problem aufgeworfen, bei dem es nicht nur um
die Frage der Finanzierbarkeit nach 2006 gegangen wäre,
sondern auch um die Frage der Akzeptanz einer erweiter-
ten Union und um die Möglichkeit, hier die notwendigen
Kompromisse zu erreichen. Es ist der Bundesregierung
also gemeinsam mit unseren Partnern gelungen, diese
Verknüpfung aufzulösen. Das war eine der ganz wichti-
gen Entscheidungen, die schon vor dem Gipfel gefallen
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Gipfel hat klargemacht, dass die Erweiterung un-
umkehrbar ist. Aber es ist doch geradezu grotesk, Herr
Merz, wenn Sie dem Bundeskanzler und dieser Bundes-
regierung vorwerfen, sie würden sich nicht mit aller Kraft
dafür einsetzen, mit der Erweiterung voranzukommen
und – vor allen Dingen – sie zum Abschluss zu bringen.

Es war diese Bundesregierung und nicht die Vorgän-
gerbundesregierung, die mit der visionären Datumsdis-
kussion Schluss gemacht hat. Wir haben darauf gedrun-
gen, dass mit dem Beschluss von Helsinki die konkrete
Grundlage für die Erweiterung geschaffen wurde. Jetzt
geht es nicht mehr um eine Wiedereröffnung der Datums-
diskussion, sondern darum, die Erweiterung Kapitel um
Kapitel anzugehen und abzuschließen. Die Verträge müs-
sen möglichst schnell unterzeichnet und mit dem Ratifi-
kationsverfahren muss möglichst schnell begonnen wer-
den; denn das sind die praktischen Voraussetzungen dafür,
dass die Erweiterung endlich – ich wiederhole: endlich –
Realität wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es war diese Bundesregierung, die das gemacht hat.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Endlich!)


Kollege Haussmann, Ihre Vermutung trifft zu: Wir ha-
ben überhaupt kein Interesse daran, eine neue Datumsdis-
kussion zu beginnen. Andere haben durchaus Interesse an
einer neuen Datumsdiskussion. Ich meine nicht die Bei-

trittsländer, die teilweise unter schwerem innenpoliti-
schen Druck stehen. Dafür müssen wir großes Verständ-
nis haben; denn sie haben auch große Anstrengungen zu
leisten. Es gibt noch andere, die – wie man auf Neu-
deutsch sagt – durchaus „second thoughts“ haben. Das hat
die Bundesregierung nicht.

Wir wollen alles tun – der Bundeskanzler hat dies zu
Recht unterstrichen –, allerdings auf der Grundlage der
Beschlüsse von Helsinki und der konkreten Fortschritte
bei den Erweiterungsverhandlungen, damit Polen in der
ersten Runde mit dabei ist.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wer denn? Wer sind denn die anderen?)


Umgekehrt kann dieses aber nicht bedeuten, dass es poli-
tische Kulanzentscheidungen gibt. Das möchte ich hier
zweifelsfrei feststellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben unseren polnischen Freunden auf dem deutsch-
polnischen Gipfel nochmals gesagt, dass wir nach Kräf-
ten dazu beitragen werden, damit es hier zu konkreten
Fortschritten kommt.

Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist
natürlich die Ratifikation des Vertrages von Nizza. Kol-
lege Haussmann, an dem Punkt machen Sie es sich zu ein-
fach. Sonst wurde in der Regel behauptet, es würde im
deutsch-französischen Verhältnis knirschen, und dies
wurde kritisiert.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Leider!)

Die F.D.P. weiß nur zu gut, dass es, wenn es hier zum
Schwur kommt, auf sie nicht ankommt. Dennoch glaube
ich, dass Ihre Tradition Sie dazu verpflichtet, unter
Zurückstellung der Punkte, die Sie kritisieren, dem Ver-
trag von Nizza im Ratifikationsverfahren zuzustimmen.

Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße, es
nicht wieder zusammenzubekommen und gleichzeitig se-
henden Auges in ein schweres deutsch-französisches Zer-
würfnis hineinzulaufen. Auch das muss klipp und klar ge-
sagt werden.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist nicht so einfach!)


Das Paket von Nizza wieder aufzuschnüren, hieße – auch
wenn es nicht in einem formellen Zusammenhang steht –,
dass der entscheidende Punkt nicht umgesetzt werden
könnte, nämlich 2004 die Vertiefung zu erreichen, mit der
auf deutsch-italienische Initiative hin – wie der Bundes-
kanzler zu Recht gesagt hat – im Rahmen des europä-
ischen Prozesses konkret begonnen wurde; es ist also
nicht mehr nur eine theoretische Diskussion, sondern wir
beginnen praktisch damit, die europäische Demokratie
fortzuentwickeln und 2004 auch durchzusetzen. Es geht
darum, die Union – wie allseits gewünscht – bürgernäher,
transparenter, verständlicher zu gestalten, was die Kom-
petenzverteilung, die Aufgabenverteilung zwischen den
Nationalstaaten der Union angeht. Es soll mehr demokra-
tische Anbindung geschaffen werden. Wenn wir den Ver-
trag von Nizza nicht ratifizieren, werden wir uns auch von




Bundesminister Joseph Fischer
17224


(C)



(D)



(A)



(B)


diesem Projekt verabschieden. Das ist Bestandteil des Ge-
samtpakets; das darf man nicht vergessen. Ich sage das ge-
rade in Richtung der Opposition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jeder interpretiert jetzt seine Sicht in die irische Ent-
scheidung hinein. Das war schon beim Europäischen Rat
so. Aber es ist an erster Stelle eine nationale Entscheidung
des irischen Souveräns. Der Respekt gebietet es – das hat
der Bundeskanzler unterstrichen – abzuwarten, wie das iri-
sche Parlament und die irische Regierung diese Entschei-
dung jetzt auswerten und welche Schlussfolgerungen sie
daraus ziehen. Welchen Eindruck hätte es gemacht, wenn
der Europäische Rat irgendwelche Vorschläge gemacht
hätte, bevor die irische Regierung und der irische Gesetz-
geber dazu gesprochen haben? Das hätte so ausgesehen,
als wenn von oben herab in die irischen Verhältnisse hätte
hineinregiert werden sollen. Der Respekt gebietet es, dass
man sich an die Reihenfolge hält. Wenn dann Hilfe oder
Veränderungen notwendig sind, wird man auf europä-
ischer Ebene darüber reden müssen.

Nach der neuen merzschen Europapolitik liegen die
Ursachen für das irische Nein bei Österreich und vor
allem dem Umstand, dass der Bundeskanzler Herrn
Berlusconi nicht gratuliert hat.


(Lachen bei der SPD – Gernot Erler [SPD]: Außerdem hat er das gemacht!)


Herr Merz, ich will Ihnen einmal einen Brief vom 11. Juni
dieses Jahres vorlesen:

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
zur Übernahme Ihres verantwortungsvollen Amtes
an der Spitze der italienischen Regierung gratuliere
ich Ihnen.
Die freundschaftliche Verbundenheit unserer beiden
Länder hat einen besonderen Stellenwert. Deutsch-
land und Italien haben durch ihre enge Zusammen-
arbeit immer wieder wichtige Beiträge zur Entwick-
lung der Europäischen Union leisten können. Ich bin
mir sicher, dass wir diese Partnerschaft erfolgreich
fortsetzen werden.
Ich freue mich darauf, Sie bei der Tagung des
Europäischen Rates in Göteborg persönlich kennen
zu lernen. Für die vor Ihnen liegenden Aufgaben
wünsche ich Ihnen Glück und Erfolg.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Schröder
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das war die zweite Version!)


Es gratulierte also der Bundeskanzler – –

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wann war das denn? Warum hat es so lange gedauert?)


– Am 11. Juni, direkt nach der Vereidigung, noch vor der
Wahl im italienischen Parlament.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: 14 Tage nach Bush!)


Es gratulierte der Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland dem neuen, gerade vereidigten italienischen
Ministerpräsidenten. Herrn Berlusconi nicht gratuliert hat
der Parteivorsitzende der SPD. Dafür habe ich allerdings
Verständnis, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ja schon peinlich!)


Auf welches Niveau ist denn die Europadiskussion in
der CDU gesunken, wenn die Frage der Gratulation
Berlusconis Ursache für das Nein in Irland gewesen sein
soll?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Merz, darüber sollten Sie wirklich noch einmal
nachdenken. Ich frage mich übrigens auch, was Wolfgang
Schäuble bei Ihren Äußerungen über die Entwicklung in
Berlin gedacht hat. Es wäre hochinteressant, das hier ein-
mal zu hören.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Haben Sie Sorgen, Herr Bundesaußenminister!)


Ich komme zurück zu Europa: Ganz entscheidend war
in Göteborg noch die Nachhaltigkeitsfrage. Wir können
jetzt Umsetzungsschritte für sie ausarbeiten; dass wir die
Nachhaltigkeit als konkretes praktisches Programm der
Kommission und der verschiedenen Räte in der Union
haben, ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Auch die
Tatsache, dass sich die Union verpflichtet hat, am Kioto-
Prozess festzuhalten, ist ein entscheidender Schritt nach
vorne: für die Umweltpolitik nicht nur der Union, sondern
auch weltweit.

Noch wichtiger ist Folgendes: In diesem Zusammen-
hang ist klar geworden, dass sich die gemeinsame Außen-
politik derUnion enorm in positiver Richtung entwickelt
hat. Das gilt im Zusammenhang mit Nahost wie auch im
Verhältnis zu den USA. Der Besuch von Präsident Bush
hat klargemacht, welches Niveau die Gemeinsamkeit der
Europäer in zentralen außenpolitischen, aber auch in an-
deren wichtigen internationalen Fragen wie der Umwelt-
politik oder etwa in der Handelspolitik, erreicht hat. Das
ist ebenfalls ein Ergebnis von Göteborg, das ich nicht ge-
ring veranschlage, auch wenn dies nicht direkt in die
Konklusionen und Beschlussfassungen eingeflossen ist.

Einen letzten Punkt möchte ich in diesem Zusammen-
hang ansprechen: die Bedeutung des Jahres 2004. Hier
liegt die Betonung auf der belgischen Präsidentschaft. Ich
habe vorhin schon angesprochen, wie wichtig es ist, dass
der Vertrag von Nizza im Hinblick auf den 2004-Prozess
ratifiziert wird. Auch wenn dies nicht Bestandteil des zu
ratifizierenden Vertrages, sondern in den Schlussfolge-
rungen von Nizza enthalten ist, gehört es dennoch sub-
stanziell zusammen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Und wenn Irland noch einmal Nein sagt?)





Bundesminister Joseph Fischer

17225


(C)



(D)



(A)



(B)


Jeder, der das Ratifikationsverfahren bezüglich des Ver-
trages von Nizza ablehnt, wird den Vertiefungsprozess
ebenfalls infrage stellen, dessen konkrete Organisation
wir jetzt begonnen haben und der auf ein Mehr an Demo-
kratie und Transparenz sowie auf eine Klärung der Zu-
ständigkeiten zwischen Nationalstaaten und Union, also
der europäischen Verfassungsfrage, hinauslaufen wird.
Deswegen appelliere ich an Sie alle, den Vertrag von Niz-
za nicht schlecht zu reden, sondern ihn zu ratifizieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Bescheiden war das!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417601000
Ich erteile dem Kolle-
gen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417601100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als ich vorhin der Rede des
Kollegen Friedrich Merz lauschte, hatte ich für einen Mo-
ment den Eindruck, er habe sich zum Maoismus bekehrt.
Er stellte die Forderung nach einem „großen europäischen
Sprung“. Die Forderung nach einem großen Sprung war
Kern maoistischer Politik.


(Zuruf von der SPD: Das war in seiner Moped-Zeit!)


Die CDU als späte Rache des Maoismus – das wäre eine
neue, sehr interessante Variante.


(Beifall bei der PDS)

Aber ernsthaft: Das eigentliche Problem ist der schlei-

chende Rechtspopulismus, der sich in dieser Partei immer
mehr durchsetzt und auch in der Rede von Friedrich Merz
deutlich geworden ist:


(Beifall bei der PDS)

Die CDU droht zu einer Partei rechts der Mitte zu werden.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo Sie stehen, wissen wir! Hinter der DDR stehen Sie!)


Das ist nicht nur ein Problem der CDU, sondern das wird
ein Problem unseres Landes insgesamt sein.


(Beifall bei der PDS)

Nicht mit großen Sprüngen, auch keinen großen Sprüngen
à la Friedrich Merz – damit ist bereits Mao Tse-tung ge-
scheitert –, sondern mit kleinen, verlässlichen, nachprüf-
baren Fortschritten muss Europa gestaltet werden. Des-
wegen muss man über die Probleme sehr ernsthaft reden.

Viel nüchterner als zum Beispiel Kanzler Schröder
sprach aus meiner Sicht der französische Ministerpräsi-
dent Jospin von einer gewissen Ernüchterung und Unsi-
cherheit, die sich in Europa breit macht. Diese Ernüchte-
rung und Unsicherheit hat der Gipfel von Göteborg nicht
aufgefangen, im Gegenteil. Das muss man doch endlich
einmal kritisch zur Kenntnis nehmen. Die Bevölkerung
von Irland hat den Vertrag von Nizza abgelehnt. Das EU-
Parlament hat eine positive Empfehlung zu diesem Ver-
trag verweigert und der Bush-Besuch hat außer Fototer-
minen im Wesentlichen keinen Fortschritt gebracht.

Um endlich voranzukommen, müssen wir uns über fol-
gende Fragen verständigen: Welches sind die wesentli-
chen Defizite Europas? Warum knirscht es auch und ge-
rade, wenn es um die Erweiterung geht? Wo liegen
mögliche Schlüssel, um diese Probleme zu lösen?

Die deutsche Europapolitik ist aus meiner Sicht noch
zu sehr in der Vergangenheit verhaftet. Sie klebt an alten
Überzeugungen; sie klebt an westeuropäischen Erfahrun-
gen. Sie hat das neue Europa, das sich erweitert, inhaltlich
noch nicht begriffen. Ich finde, sie steht in der Gefahr, die
falsche Strategie beim Aufbau Ost auf europäischer Ebene
zu wiederholen. Genau das wollen wir nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Nicht die Erweiterung der Europäischen Union ist die Ur-
sache der Probleme, sondern die Art und Weise, in der sie
stattfindet, und ihr Inhalt sind es.

Bundeskanzler Schröder hat hier – gar nicht in Frage-
form, sondern als Festlegung – gesagt: Die Zielrichtung
stimmt. Ich sage dagegen: Genau diese Zielrichtung
stimmt nicht. Seitens der Europäischen Union ist Mess-
latte für die Beitrittskandidaten, ob sie das neoliberale
Wirtschaftsmodell glaubwürdig und verlässlich einge-
führt haben. Das ist aus unserer Sicht genau der falsche
Maßstab. Richtig wäre, die soziale Entwicklung in den
Mittelpunkt zu stellen.


(Beifall bei der PDS)

Dazu gibt es Erfahrungen aus dem deutsch-deutschen Ei-
nigungsprozess. Warum bringen wir diese Erfahrungen
nicht in den europäischen Prozess ein?


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)

Wir wissen aus den Erfahrungen: Ein marktradikales

Programm allein bringt Verwerfungen, die eine Gesell-
schaft kaum ertragen kann, in ärmeren Ländern als
Deutschland schon gar nicht. Deshalb muss die EU in den
mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern die Schaf-
fung der Bedingungen für einen sozialen und umweltver-
träglichen Strukturwandel fördern. Da in den Altindus-
trien und in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätze
entfallen, muss sie sich um umweltverträgliche und so-
ziale Ersatzarbeitsplätze in neuen Sektoren kümmern.
Das kostet in erster Linie Umdenken und kostet selbst-
verständlich in zweiter Linie auch Geld. Das ist doch ganz
klar. Gefördert werden muss die ökologische und soziale
Gestaltung des Strukturwandels in den Beitrittsländern.
Sie brauchen deutlich erhöhte finanzielle Transferleistun-
gen zum Aufbau der Infrastruktur, funktionsfähiger öf-
fentlicher Dienste und nachhaltiger Beschäftigung. Im al-
ten wie im neuen Europa müssen existenzsichernde
Einkommensstandards, Standards für Renten und Min-
destlöhne gelten.


(Beifall bei der PDS)

In diese Richtung denkt Jospin. Er hat einen Vor-

schlag dazu unterbreitet. Der Bundeskanzler hat hier kein
Wort zum Inhalt des Vorschlags seines französischen Kol-
legen gesagt. Jospin hat ein europäisches Sozialrecht vor-
geschlagen; er hat vorgeschlagen, unsichere Beschäfti-
gungsverhältnisse und Sozialdumping zu bekämpfen.




Bundesminister Joseph Fischer
17226


(C)



(D)



(A)



(B)



(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Er hat – was mir sehr wichtig ist – vorgeschlagen, die kul-
turelle Vielfalt in Europa zu verteidigen. Wären das nicht
auch Vorschläge, die ein deutscher Bundeskanzler positiv
aufgreifen kann?


(Beifall bei der PDS)

Jospins Ziel ist der Abschluss eines europäischen Sozial-
vertrages. Das unterstützt die Fraktion der PDS nach-
drücklich.


(Beifall bei der PDS)

Von einem sozialen Europa sind wir leider noch weit

entfernt. Wir sollten uns alle klar darüber sein: Würden
die Völker über das real existierende Europa entscheiden,
dann käme in vielen Ländern ein Ergebnis wie in Irland
zustande. Das ist nicht nur ein Problem Irlands; wir haben
diese Probleme in allen europäischen Ländern. Das hat ei-
nen einfachen Grund: Das EU-Europa ist von seinen Bür-
gerinnen und Bürgern meilenweit entfernt. Es ist seinen
Bürgerinnen und Bürgern fremd geworden.

Wer jetzt aber trotzig über die Entscheidung der Insel-
bewohner hinweggeht, der demonstriert nur einmal mehr
die Arroganz der Macht. Von der allerdings haben die
Menschen im kleinen und im erweiterten Europa genug.
Wir brauchen eine andere Europa-Strategie einschließlich
einer anderen Strategie der Erweiterung. Diese andere Eu-
ropa-Strategie beginnt im Kleinen und Alltäglichen.

Herr Außenminister, den Teil Ihrer Rede, in dem Sie
über die alltäglichen Fragen, die Herr Merz aufgeworfen
hat, gespottet haben, fand ich sehr unklug. Wenn die Men-
schen den Eindruck haben, wir bewegten uns nur über
ihren Köpfen von Gipfel zu Gipfel, nähmen ihre Alltags-
probleme – und seien es die der Bürger des Sauerlandes
– nicht wahr und diskutierten nicht über diese, dann wer-
den wir die Fragen, die Europa betreffen, nicht lösen.


(Beifall bei der PDS – Günter Gloser [SPD]: Die hat er ja nicht beschrieben!)


Wir müssen insbesondere die Alltagsprobleme in den
Grenzregionen zu Polen und Tschechien wahrnehmen
und das Problem aufgreifen, dass auch in Deutschland
Angst vor Billigkonkurrenz herrscht. Mit dieser Angst
kann man sich aktiv auseinander setzen. Wir sind für In-
frastrukturmaßnahmen und Sonderaktionsprogramme auf
beiden Seiten der Grenze zur Verhinderung von illegaler
Beschäftigung sowie von Lohn- und Sozialdumping.
Wenn das geschieht, werden Übergangsfristen hinsicht-
lich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern überflüssig. Es
ist ohnehin abstrus, dass sich in Europa das Kapital frei
bewegen kann, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
aber nicht. Wir wollen ein Europa der Menschen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Präsident Bush
Präsident Putin in die Augen gesehen hat – das sagte er im
Fernsehen –, hat der eine erkannt, dass der andere ein
Partner sein könnte. Das hat mich an den Film „Casab-
lanca“ und an Bogarts „Schau mir in die Augen, Kleines“
erinnert. Bei „Casablanca“ ging es allerdings um wahre
Liebe und Verlässlichkeit. Ich weiß nicht, ob Präsident
Bush auch unserem Kanzler Schröder in die Augen gese-

hen hat; das dürfte ja schwer funktionieren. Ich würde
mich freuen, wenn aus dem europäischen Gesicht, den eu-
ropäischen Augen deutlich würde, dass dieses Europa die
Raketenpläne des amerikanischen Präsidenten ablehnt
und wir als Europäer das auch offen und selbstbewusst
dem Präsidenten der USA sagen. Mit „Schau mir in die
Augen, Kleines“ kommt die Politik nicht weiter.

Danke sehr.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417601200
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1417601300
Guten Morgen, Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Mahlzeit!)

Herr Gehrcke, ich glaube nicht, dass der Gipfel in Göte-
borg Anlass dazu bieten sollte, antiamerikanische Res-
sentiments zu pflegen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!)

Wenn sich die Europäer souverän und auch kritisch in den
Dialog mit den Vereinigten Staaten begeben, dann wer-
den wir auch manches Problem, welches es gegenwärtig
im Verhältnis zwischen der Europäischen Union als
Ganzer auf der einen und den Vereinigten Staaten auf der
anderen Seite gibt, lösen können. Wir sollten dies selbst-
bewusst angehen! Auch das war eine Botschaft des Göte-
borger Gipfels.


(Beifall bei der SPD – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Im Augenblick geht Bush an Deutschland vorbei!)


Der Göteborger Gipfel hat vor allem diejenigen von
uns, denen die Erweiterung am Herzen liegt, einen or-
dentlichen Schritt nach vorn gebracht. Das beschlossene
Signal ist begrüßenswert.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Bloß weiß keiner, wohin!)


– Herr Müller, bei der CDU/CSU-Fraktion ist nie ganz
klar, wie sie zur Erweiterung steht. Sie sehen das so, die
anderen sehen das anders und Ihr Ministerpräsident sieht
es noch einmal ganz anders. Diesen Klärungsprozess soll-
ten Sie erst einmal in Ihren eigenen Reihen führen, bevor
Sie hier den Mund aufmachen. Dazu können Sie nachher
ja auch noch etwas sagen.


(Beifall bei der SPD – Günter Gloser [SPD]: Geisterfahrer!)


Es ist ein begrüßenswertes Signal, zu sagen, 2002 sei
nicht nur das Jahr des Euros und es werde nicht nur der
Ratifizierungsprozess abgeschlossen, sondern nach Mög-
lichkeit werden ab 2003 die ersten neuen Mitgliedstaaten
der EU beitreten.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Endlich!)

In dieser ständigen Termindebatte sehe ich aber auch

ein Problem: Martin Winter, ein von mir geschätzter




Wolfgang Gehrcke

17227


(C)



(D)



(A)



(B)


Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ in Brüssel,
hat gesagt, dass sich der Fortschritt nicht nach der Stopp-
uhr, sondern allein anhand des Aufgabenzettels misst. Das
ist das Entscheidende.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Er wird immer besser!)


Wir haben noch große Probleme vor uns liegen, wenn ich
mir allein einmal die Agrarpolitik anschaue, die auch in
Ihrem Interesse, Herr Müller, und in dem Interesse der
Menschen, die Sie hier im Deutschen Bundestag zu ver-
treten beabsichtigen, liegt. Wir sollten den Menschen ehr-
lich sagen, dass es da ein paar Probleme gibt, die wir lö-
sen müssen. Das tun wir nicht dadurch, dass wir sagen:
„Wir öffnen 2002 die Türen“, sondern die Beitrittsländer
müssen, bevor sie die Türen öffnen – das Signal dafür
wurde gegeben –, noch eine Menge Hausaufgaben erledi-
gen.

Bis zu Ihnen, Herr Haussmann, scheint es sich noch
nicht herumgesprochen zu haben, dass der Vorschlag des
Bundeskanzlers – dieser liegt ja glücklicherweise auf ei-
ner Linie mit den Vorstellungen der Europäischen Union –
zwei Seiten beinhaltet: zum einen eine Übergangsfrist von
zwei bis maximal sieben Jahren,


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!)

zum anderen ein gewisses Maß an Flexibilität. Wenn wir
mit Kolleginnen und Kollegen aus den mittel- und osteu-
ropäischen Ländern sprechen, kommen wir alle gemein-
sam zu dem Schluss, dass diese Übergangsfrist nach
zwei bis drei Jahren schon beendet sein könnte. Das kann
man auch in diesen Ländern vertreten, die – darauf haben
Sie zu Recht hingewiesen – ihre Bevölkerung davon zu
überzeugen haben, dass die Mitgliedstaaten aus dem Wes-
ten die osteuropäischen Länder in der Europäischen
Union willkommen heißen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Dafür brauchen Sie aber Wachstum hier!)


Der Ehrlichkeit halber sollten wir aber auch immer wie-
der erwähnen, dass hierfür Flexibilität erforderlich ist.

Im Vorfeld des Göteborger Gipfels wurde ein weiteres
wichtiges Signal gesetzt: Erpressungsversuche, die Er-
weiterung gegen andere, noch zu behandelnde europapo-
litische Felder wie Regional- und Strukturpolitik auszu-
spielen, sind endgültig gescheitert. Das spanische
Memorandum wird, wie ich glaube, einzigartig bleiben.
Das sollte uns alle sehr zufrieden stellen. Wenn wir näm-
lich diese Büchse der Pandora öffnen, also schwierige
Aufgabenfelder aus verschiedenen Ressorts miteinander
verknüpfen und daraus einen Teig machen, der nicht auf-
geht und niemandem in der Europäischen Union
schmeckt, wird uns der ganze Laden um die Ohren flie-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es mag da Differenzen, auch zwischen den Europapo-
litikern hier im Hause, geben, aber ich finde es bedenk-
lich – dabei bleibe ich –, wenn in einer von Berlusconi an-

geführten italienischen Regierung neofaschistische
Kräfte sitzen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Und in einer von Schröder eingeführten Regierung Altkommunisten! Das interessiert Sie nicht?)


Das kann ich nicht akzeptieren. Ich kann es genauso we-
nig akzeptieren, wenn Vertreter der FPÖ, einer aus meiner
Sicht rechtspopulistischen Partei, in der österreichischen
Regierung sitzen. Das muss man doch öffentlich sagen
können. Das muss, wie ich meine, auch ein Parlamenta-
rier sagen dürfen. Vor dem Hintergrund unserer Ge-
schichte hielte ich es für notwendig und richtig, ein paar
kritische Signale in die entsprechenden Länder auszusen-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Sie lieben die PDS und verachten Berlusconi?)


Ein paar Anmerkungen noch zum irischen Nein. Ich
sehe das irische Nein schon als Warnruf an die Europä-
ische Union als Ganzes. Es liegt – da hat der Außenminis-
ter zweifellos Recht – natürlich erst einmal in der innen-
politischen Verantwortung Irlands, zu analysieren, wie
es zu dem Nein beim Referendum gekommen ist. Es ist
aber, so denke ich, eine gemeinsame Aufgabe, Konse-
quenzen daraus zu ziehen. Dass das Referendum ein Nein
zum Resultat hatte, darf nicht dadurch relativiert werden,
dass man sagt, es wird irgendwann einmal ein zweites Re-
ferendum geben. Vielmehr sollten wir versuchen, darauf
eine selbstbewusste Antwort zu geben. Diese kann nur
lauten – der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungser-
klärung ja auch zum Ausdruck gebracht –: mehr Parla-
mentarisierung, mehr Öffentlichkeit und vermehrter kriti-
scher Diskurs.

Es hilft nicht, wenn der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU die Europapolitik wieder einmal für innenpo-
litische Zwecke missbraucht und zwischen 80 und 90 Pro-
zent seiner Rede nur mit innenpolitischen Themen be-
streitet, die ihm gerade in den Kram passen. Es muss auch
über Europa geredet werden. Man braucht da gar keine
Angst zu haben. Das Europa-Thema gehört hier in den
Deutschen Bundestag und nicht nur in Fachkreise. Da
müssen wir uns auch einmal an die eigene Nase fassen. Je-
der von uns sollte das tun und versuchen, einen eigenen
Beitrag zu leisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Fassen Sie sich doch einmal an Ihre Nase!)


Der Göteborger Gipfel ist von Krawallen überschattet
worden. Als Reaktion darauf gibt es zwei Antworten. Die
eine Antwort hat der Bundeskanzler gegeben: Gewalt ist
kein Mittel für Auseinandersetzungen. Mich treibt es aber
schon um, wenn junge Leute, die 16, 17 oder 18 Jahre alt
sind, aus vermeintlicher Angst vor der Globalisierung die
EU zum Mittelpunkt ihrer Kritik machen. Wir sollten ge-
meinsam deutlich machen, was die wesentliche Grund-
lage der Europäischen Union ist. Unsere Basislage für den
europäischen Integrationsprozess ist ein gemeinsames zi-




Michael Roth (Heringen)

17228


(C)



(D)



(A)



(B)


vilgesellschaftliches Modell, das auf Solidarität, kulturel-
ler Vielfalt und Toleranz beruht. Das sollten wir noch
selbstbewusster in unseren Debatten zum Ausdruck brin-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es geht eben nicht nur um Binnenmarkt und Handels-

politik. Die Europäische Union ist unsere demokratische
und Mut machende Antwort auf die Globalisierungsängs-
te vieler Menschen. Davor sollten wir nicht in die Knie
gehen. Wir sollten diesen Punkt, insbesondere im Ge-
spräch mit kritischen jungen Leuten, stärker in den Mit-
telpunkt rücken. Es kann nicht die Lösung sein – das ist
auch diskutiert worden –, die zukünftigen Gipfeltreffen
von der Öffentlichkeit abzuschotten und auf irgendwel-
chen Panzerkreuzern außerhalb der schönen Städte Euro-
pas zu tagen. Die Gipfeltreffen gehören in die Mitte der
Gesellschaft. Aus diesem Grunde sollten wir im Vorfeld
der nächsten Gipfeltreffen versuchen, das Thema „euro-
päische Zivilgesellschaft“, unser gemeinsames Modell in
einer globalisierten Welt, nach außen zu tragen. Ich
glaube, es wartet noch eine Menge Arbeit auf uns. Sie sind
zum Mitmachen herzlich eingeladen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417601400
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1417601500
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat
heute in seinem eher etwas trocken geratenen Bericht


(Zuruf von der CDU/CSU: Es war staubig!)

davon gesprochen, dass es zu seinem Vorschlag zur Wei-
terentwicklung der Europäischen Union im Sinne eines
föderalen Systems auch kritische Stimmen gegeben habe.
Das ist durchaus richtig. Er hat uns aber vorenthalten, wer
die kritischste Stimme zu seinem Vorschlag war. Das war
nämlich der Bundesaußenminister. Deswegen haben wir
eigentlich erwartet, dass die Bundesregierung im Rahmen
dieser Debatte klarstellt, wie es in Europa – nach ihrer ge-
meinsamen Auffassung – weitergehen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Denn wenn man die Menschen mitnehmen will, muss

man diesbezüglich Klarheit schaffen. Ich stehe aber nicht

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417601600
Erfreulicherweise ha-
ben Sie – insofern ist Ihnen eine gewisse Lernfähigkeit zu
bescheinigen, und zwar stärker als Ihrem Außenminister –
Vorschläge, die die CDU/CSU-Fraktion – die Kollegen
Schäuble, Lamers, Pflüger und ich – gemacht hat, aufge-
griffen und durch einige Elemente erweitert haben. Damit
gibt es eine Grundrichtung, über die wir uns vielleicht ver-
ständigen können. Sie sollten sich jedoch auch mit Ihrem
Außenminister darüber verständigen, allerdings nach die-
ser Debatte.

Meine Damen und Herren, welche Botschaft liegt im
Nein der irischen Bevölkerung zum Vertrag von Niza? –

Die eilig angestellten Untersuchungen der Meinungsfor-
scher signalisieren unterschiedliche Gründe. Die einen
beschäftigte die irische Neutralität, andere die BSE-Pro-
blematik, wieder andere das Gewicht der kleineren Staa-
ten. Ich meine, das Entscheidende ist: Wir dürfen uns
nicht der Illusion hingeben, die Skepsis der Iren daran,
wie es in Europa weitergeht, sei ein regionales Sonder-
problem. Ich sage ganz kritisch: Wären auch in anderen
Ländern Volksabstimmungen über den Vertrag von Nizza
durchgeführt worden, hätte auch dort eine Verweigerung
gedroht. Irland ist überall. Deswegen muss uns das irische
Votum als Europapolitiker beschäftigen und darf nicht so
ignoriert werden, wie das die Staats- und Regierungschefs
in Göteborg mit leichter Hand getan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Welche Lösungsvorschläge gibt es? – EU-Kommissar
Verheugen sieht ein Defizit im mangelnden positiven Ein-
treten für Europa. Andere suchen das Heil in mehr Infor-
mationen. Ich sage kritisch: Eine Verdoppelung der Hoch-
glanzbroschüren und eine Verstärkung der Politikerappelle
lösen das Problem nicht. Für mich ist das Kernproblem der
Mangel an Demokratie. Den verspüren die Bürger. Sie
sind unsicher und suchen nach Abhilfe. Es ist der Mangel
an Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Brüssel, der die
Wähler verunsichert. Weil sie den Gang der politischen
Entscheidungen nicht beeinflussen können, wenden sie
sich gegen den Integrationsprozess insgesamt. Wenn wir
die Bürger für den Integrationsprozess gewinnen wollen,
wenn wir sie mitnehmen wollen in das vereinte Europa, in
die Osterweiterung, in die großen historischen Aufgaben,
dann müssen wir ihnen auch ein demokratisches Mittel an
die Hand geben, ihr Ja oder ihr Nein zu Brüssel zu sagen.
Dann brauchen sie ein Europa, das demokratischer, trans-
parenter und effizienter ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das heißt im Klartext: Sie müssen die Möglichkeit be-

kommen, bei der Europawahl darüber zu bestimmen, wie
es in Europa weitergeht. Bei der letzten Europawahl ha-
ben wir ja ein tolles Ergebnis erzielt, zugegebenermaßen
nicht allein aus europapolitischen Gründen, sondern weil
die Bürger empört über die Maßnahmen Ihrer Regierung
waren, Herr Bundeskanzler. Es ist ja nicht so, dass uns das
geärgert hätte; aber es weist aus, dass die Europawahlen
zu vielen Zwecken benutzt werden und auch taugen, dem
Bürger jedoch kein wirkliches Mittel an die Hand geben,
die europäischen Dinge zu beeinflussen.

Deswegen bin ich dafür, dass das Europäische Parla-
ment das Recht bekommt, auch die Spitze der europä-
ischen Exekutive, den Kommissionspräsidenten und diese
Art „europäischer Regierung“ zu wählen. Die Bürgerinnen
und Bürger müssen über die Wahl des Europaparlaments
auch tatsächlich bestimmen, den Daumen heben oder sen-
ken können, ob ihnen das, was in Brüssel vorgeht, gefällt
oder nicht gefällt. Wenn sie diese Mitwirkungsmöglichkeit
bekommen, dann werden sie auch Europa viel näher sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich einen zweiten Komplex ansprechen.

Ein für Europa wichtiges Thema ist die Zukunft des




Michael Roth (Heringen)


17229


(C)



(D)



(A)



(B)


Vertrages von Nizza.Wir werden darüber ja in der nächs-
ten oder übernächsten Woche noch im Detail diskutieren.
Dieser Vertrag stellt keinen von uns zufrieden und, wenn
die Regierung ehrlich ist und in sich geht, sie selbst auch
nicht, weil wir das, was wir uns vorgenommen haben,
hiermit nicht erreichen konnten. Trotzdem ist der Vertrag
wichtig. Er ist ein Schlüssel für die Erweiterungsfähigkeit
der Europäischen Union.

Nun müssen wir uns natürlich mit der Frage auseinan-
der setzen, was passiert, wenn die Iren bei ihrem Nein zu
Nizza bleiben. Das kann ja keiner ausschließen. Was ist
dann mit dem großen historischen Projekt, vor dem wir
stehen? Ich trete nachdrücklich dafür ein, dass wir das his-
torische Projekt der Osterweiterung der Europäischen
Union nicht auf Gedeih und Verderb an diesen Vertrag von
Nizza binden, meine Damen und Herren, sondern dass wir
die Kraft aufbringen, wichtige, erweiterungsrelevante
Aspekte im Rahmen der Beitrittsverträge, verbunden mit
einem mutigen Verfassungsvertrag, zu lösen. Wir müssen
auf dem Weg der Integration vorangehen. Wir müssen ein
demokratisches, transparentes und größeres Europa schaf-
fen und dürfen es nicht an diesem nicht gut gelungenen
Vertragswerk von Nizza scheitern lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eines haben Nizza und Göteborg gezeigt – Kollege

Haussmann hat das eben schon angesprochen –: Die Me-
thode „Regierungskonferenz“ ist an eine kritische Grenze
geraten, sie hat sich erschöpft. Sie hat in den letzten an-
derthalb Jahrzehnten einiges zuwege gebracht; aber jetzt
muss offensichtlich ein neuer Weg gefunden werden. Die-
ser neue Weg, der gefunden werden muss, ist eine verfas-
sungsvorbereitende Versammlung, in der Parlamentarier
der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments,
die nationalen Regierungen, die Europäische Kommission
gemeinsam Arbeiten an einem Verfassungsvertrag für
Europa leisten. Wir dürfen uns nicht im Hickhack der Re-
gierungskonferenzen auf Beamtenebene jahrelang festfah-
ren und die Zeichen und Chancen der Zeit verpassen.

Deswegen müssen wir diesen mutigen Schritt tun.
Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstehe, gibt es auch
eine gewisse Bereitschaft dazu,


(Zustimmung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder)


ein solches Gremium rasch einzuberufen, und zwar unter
einer sinnvollen Beteiligung derer, die morgen mit dabei
sein werden. Wir dürfen das den zukünftigen Mitglied-
staaten nicht einfach vor die Füße werfen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

sondern müssen sagen: Das Europa, das wir bauen, wol-
len wir mit euch gemeinsam bauen.

In dem Sinne verstehe ich auch die Arbeit des Euro-
paausschusses in diesem Hause. Wir haben uns bei-
spielsweise mit dem Europaausschuss des polnischen
Sejm getroffen, um deutlich zu machen, dass Europa
keine Veranstaltung ist, in der Westeuropa sagt, wo es lang
geht, sondern in der wir unsere historische Aufgabe wahr-
nehmen, die Dinge gemeinsam zu beraten. Ich danke auch
dem Vorsitzenden unseres Europaausschusses, Herrn

Kollegen Pflüger, für seine Initiativen, die über die Gren-
zen unseres Landes immer wieder hinausweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich möchte auch nicht, dass diese Debatte zu Ende

geht, ohne dass wir der schwedischen Präsidentschaft ein
Wort des Dankes sagen. Die schwedische Präsident-
schaft hat nicht alles zuwege gebracht; aber sie hat sich
auf die Frage der Osterweiterung konzentriert. Wir kön-
nen feststellen, dass die Beitrittsverhandlungen unter der
schwedischen Präsidentschaft deutlich vorangekommen
sind. Ich möchte – ich denke, das im Sinne des ganzen
Hauses sagen zu können – der schwedischen Präsident-
schaft für dieses Signal von Göteborg, dass die Europä-
ische Union an der Osterweiterung, an dem entscheiden-
den Projekt in diesem Jahrhundert, festhält und arbeitet,
auch ein Wort des Dankes sagen. Das ist eine große Leis-
tung unserer schwedischen Partner.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun lassen Sie mich mit einigen kritischen Worten

schließen. Herr Bundeskanzler, Sie sind, was die Frage
der Förderung der Grenzregionen angeht, mit leeren
Händen zurückgekommen. Wir haben dazu im Deut-
schen Bundestag eine Initiative gestartet. Die Regierung
hat dankenswerterweise gesagt, dass sie das unterstützt.
Es stand auch auf der Tagesordnung, aber leider sind Sie
mit leeren Händen zurückgekommen. Der Deutsche
Bundestag wird darüber wachen, ob diese wichtige Pro-
blematik, die ebenfalls aus der Mitte des Europaaus-
schusses heraus entwickelt wurde, auf der Tagesordnung
bleibt. Das muss spätestens im zweiten Halbjahr 2001 ge-
leistet werden. Auch das gehört zu einer gelingenden Er-
weiterung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die zentrale Frage, von Irland bis zu den Diskussionen

des heutigen Tages, wird in Zukunft sein: Wer macht in
Europa was? Die Übermacht des Rates ist ein Wider-
spruch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung. Auch
hier haben wir ja Vorschläge gehört, über die man disku-
tieren kann. Wir müssen zu einer fairen Gewaltenteilung
kommen, die die Bürger durchschauen. Es muss klar sein:
Was ist die Rolle des Rates? Was ist die Rolle des Parla-
mentes? Was ist die Rolle der Kommission?


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was war denn mit den Chaoten?)


– Der Kollege Austermann ruft gerade dazwischen, dass
vielleicht auch die Regierung hätte nachdenklich werden
müssen – der Bundeskanzler hat das heute ja selbst ange-
sprochen –, als sie sah,


(Joachim Poß [SPD]: Ist die Regierung auch daran schuld?)


wie Gewalttäter die Regierungschefs daran hinderten,
sich frei in Göteborg zu bewegen, weil Polizisten von ge-
walttätigen Demonstranten massiv attackiert wurden.


(Joachim Poß [SPD]: Das geht nur, wenn wir Herrn Austermann für diese Aufgabe einsetzen!)





Peter Hintze
17230


(C)



(D)



(A)



(B)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben uns
für Europa eine Menge vorgenommen. Das Projekt ver-
dient den Einsatz aller, aber das Wichtigste ist – das finde
ich gut; das wird auch in den Reden des heutigen Tages
deutlich –: In der Grundlinie sind sich die großen demo-
kratischen Kräfte dieses Hauses einig.


(Joachim Poß [SPD]: Das war bei Herrn Merz nicht so deutlich!)


Wir wissen, dass wir einen historischen Auftrag haben,
und wir werden ihm nachkommen.


(Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das einmal Ihrem Fraktionsvorsitzenden!)


– Dass heute – lieber Herr Poß, auf Ihren Zwischenruf –
in dieser Debatte auch andere Dinge angesprochen wur-
den, ist ja mehr als berechtigt. Wenn sich Ihr Fraktions-
vorsitzender, Herr Struck, hier hinstellt – und dem deut-
schen Volk verspricht, er werde die Inflationsrate weiter
im Auge behalten, dann antworte ich Herrn Struck: Wir
erwarten von der Regierung nicht, dass sie das selbst pro-
duzierte Elend im Auge behält sondern


(Michael Glos [CDU/CSU]: Gelöst wird!)

dass etwas getan wird, um die Geldwertstabilität in die-
sem Lande wieder sicherzustellen. Das musste eben auch
gesagt werden.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417601700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Sterzing.


Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417601800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, glaube ich, bei der fortschreitenden Debatte schon
zu beobachten, dass wir uns dem Gegenstand dieser Dis-
kussion nähern. Das ist wichtig, weil Göteborg wirklich
keine Routinetagung, kein Routinegipfel gewesen ist. Die
vielfältigen Themen, die dort besprochen worden sind,
werden die Integrationsentwicklung in den nächsten Jah-
ren prägen. Ich will nur kurz auf vier Punkte eingehen: das
Thema Erweiterung, das Thema Nachhaltigkeit, die bis-
her leider nur am Rande erwähnten Beschlüsse und Ge-
spräche zum Thema der Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik und schließlich die Zukunftsdebatte.

Das Signal der Unumkehrbarkeit des Erweiterungs-
prozesses war, so denke ich, nach Irland absolut notwen-
dig. Insofern ist hinsichtlich der Präzisierung des Zeit-
fensters für die erste Beitrittsrunde ein weiterer Schritt
getan worden, um das Vertrauen gerade in den Beitritts-
ländern in den Prozess zu sichern und zu stärken. Nach
alldem, was wir bislang gehört haben, ist dieses Signal an-
gekommen. Es ist wichtig und es war notwendig, dass die-
ses Signal in Göteborg ausgesandt worden ist.

Der zweite Punkt, der in der Öffentlichkeit und auch in
den Medien leider etwas in den Hintergrund getreten ist,
ist das Stichwort Nachhaltigkeit. Die schwedische Präsi-
dentschaft hatte sich ja drei E als Schwerpunkte vor

genommen: Enlargement, Environment und Employment.
Ich glaube, es ist wichtig, dass nach den Fortschritten beim
Thema Umweltschutz in den europäischen Verträgen nun
einmal das Thema Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt der
Beratungen eines Gipfels und dessen Vorbereitung gestellt
worden ist, dass nicht nur Worte gefunden worden sind,
sondern an der Operationalisierung dieses Themas ge-
arbeitet worden ist. Das unterstreicht die wirklich grund-
sätzliche Bedeutung des Nachhaltigkeitsprinzips für die
politische Entwicklung in Europa in allen Bereichen, in
denen im Rahmen der Europäischen Union politisch zu-
sammengearbeitet worden ist. Dieses Gipfelthema wird
dem Thema Nachhaltigkeit weiter zum Durchbruch ver-
helfen und sicherlich – das ist in den Schlussfolgerungen
durchaus zum Ausdruck gekommen – auf europäischer
wie auf nationaler Ebene zur Weiterarbeit anregen. Das ist
eine Verpflichtung, die die Mitgliedstaaten übernommen
haben.

Zum Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die
Entwicklungen auf dem Balkan und im Nahen Osten dis-
kutiert worden. Wie so oft sind es aktuelle politische An-
lässe. Man wäre dankbar, wenn die Notwendigkeit nicht
bestehen würde, über diese Themen in so ernster Form zu
reden. Aber ich glaube, es ist wichtig, noch einmal deut-
lich herauszustreichen, dass die Debatten auf dem Gipfel
zu diesen beiden Themen eine neue Qualität aufzeigen.
Sie haben insofern eine neue Qualität erreicht, als die Ent-
wicklung vor dem Hintergrund der aktiven Beteiligung
von Repräsentanten der Europäischen Union, insbeson-
dere von Solana, aber eben auch – Stichwort: Naher
Osten – des deutschen Außenministers, durch eine we-
sentlich aktivere Rolle der Europäischen Union in diesen
regionalen Konflikten geprägt worden ist.

Ich glaube, dass dieses Signal, das von Göteborg aus-
gegangen ist – „Wir werden im Bereich der gemeinsamen
Außenpolitik aktiv unsere Rolle spielen, gerade in den ak-
tuellen Konflikten auf dem Balkan und im Nahen
Osten!“ –, für die betroffenen Regionen sehr wichtig ist
und dort wahrgenommen wurde. Insofern kann es nicht
unterschätzt werden, dass die EU hier bereit ist, ihre Ver-
antwortung wahrzunehmen. Wir hoffen natürlich, dass
dies – alles deutet darauf hin – auch in der Zukunft seine
Fortsetzung findet.

Der vierte Bereich ist schließlich die Zukunftsdebatte,
verbunden mit dem Thema Irland hier schon vielfach an-
gesprochen. Vielleicht sind in diesem Bereich von Göte-
borg tatsächlich die zaghaftesten Signale ausgegangen. Es
wäre möglicherweise wünschenswert gewesen, wenn hier
deutlichere Signale gesendet worden wären. Das Alar-
mierende des irischen Votums ist ja nicht nur die „no
vote“, also die Ablehnung des Nizza-Vertrages, sondern
alarmierender fast noch ist die „non vote“, also die Ent-
haltung der irischen Bevölkerung.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: That’s right!)


Zwei Drittel sind gar nicht erst an die Wahlurne gegangen.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Was sagt uns das?)





Peter Hintze

17231


(C)



(D)



(A)



(B)


Es gibt keine eindeutige Motivationslage für das iri-
sche Votum. Es wäre sicherlich falsch, es als eine Ableh-
nung des Erweiterungsprozesses zu interpretieren. Zu dif-
fus sind offensichtlich die Gründe, die sehr heterogene
politische Kräfte dazu gebracht haben, sich hier für eine
Ablehnung des Nizza-Vertrages einzusetzen.

Aber ich glaube, es ist deutlich geworden – auch dies
wurde in verschiedenen Beiträgen schon angesprochen –:
Diese Motivationslage ist nicht ein spezifisch irisches
Problem, sondern es ist ein durchaus europäisches Pro-
blem. Es besteht Diskussionsbedarf über die Zukunft Eu-
ropas und die Fragen, wozu wir dieses Europa brauchen
und warum dieses Europa eine stärkere Rolle als bisher
spielen muss.

Die Debatte im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses da-
rüber, wie dieses Europa in Zukunft gestaltet werden soll,
war in den letzten Wochen und Monaten sehr stark von in-
stitutionellen Fragen geprägt. Mitunter wurde gar eine
Verengung der Debatte deutlich, die zu kurz greift. Wir
müssen diese Debatte ausweiten, Europa als Gesell-
schaftsprojekt in den Mittelpunkt der Auseinandersetzun-
gen stellen und über politische Visionen nicht nur im Hin-
blick auf die institutionelle Gestaltung dieses Inte-
grationsprozesses streiten, sondern deutlicher und kontro-
vers darüber diskutieren, wie wir uns diese Gesellschaft in
Europa vorstellen und welche Rolle die Europäische
Union in diesem Prozess der Gestaltung spielen soll.
Wichtig ist also eine stärkere Konzentration auf das
Warum und auf das Wozu und nicht alleine auf das Wie
der politischen Prozesse.

Gerade in den letzten Wochen sind von französischer
Seite, insbesondere durch die Rede von Ministerpräsident
Jospin, einige wichtige Steine in das Wasser geworfen
worden, die Anhaltspunkte bieten, um diese Debatte ver-
tieft weiterzuführen, auch wenn sich hier in der Bundes-
republik Deutschland die Debatte in den Medien leider
Gottes auf die institutionellen Fragen und auf die Diffe-
renzen zwischen deutschen und französischen Sozialde-
mokraten konzentriert hat. Wir müssen dieser Entwick-
lung der Debatte entgegenwirken.

In dieser Debatte haben nicht nur die Europapolitike-
rinnen und Europapolitiker, sondern wir alle eine Bring-
schuld.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist richtig!)


Wir müssen uns in den nächsten Monaten und Jahren, die
diese Zukunftsdebatte in der politischen Realität sicher-
lich prägen wird, an diesen Appellen messen lassen. Wir
müssen sehen, inwieweit wir bereit und in der Lage sind,
diese Bringschuld zu erfüllen, diese Debatte nicht nur de-
mokratisch und unter größtmöglicher Beteiligung zu ge-
stalten, sondern sie wirklich auf die ganze Breite der eu-
ropäischen Fragen auszuweiten. Das sollte die Reaktion
auf die Volksabstimmung in Irland sein. Insofern sollten
wir diese Zukunftsdebatte wirklich als eine Chance be-
greifen können.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417601900
Ich erteile dem Kolle-
gen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1417602000
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! „Lasst den Worten endlich Taten fol-
gen“, schreibt Helmut Schmidt. In der Tat: Die Treffen
von Berlin über Nizza bis Göteborg zeigen, dass die
Bundesregierung die EU in eine tiefe Vertrauenskrise ge-
führt hat.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Ich zitiere Helmut Schmidt:
Nun haben Fischer, Chirac, Blair, Schröder und zu-
letzt Jospin ihre großen Konzepte und Reden vorge-
tragen. Aber ihre alltägliche Praxis ist kümmerlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)

Wo dieser Mann Recht hat, hat er Recht. Die Praxis von
Schröder und Fischer ist kümmerlich. Man fragt sich
doch: Warum konnte Bundeskanzler Schröder die Er-
folgsspur von Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und
Theo Waigel in der Europapolitik nicht halten? Dafür gibt
es Gründe.

Erstens. Europa war nie das Thema dieses Kanzlers. Es
gibt kein abgestimmtes Konzept zwischen dem Außenmi-
nister und dem Kanzler.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Zweitens. Vom ersten Tag der Regierung Schröder/
Fischer an – dies ist der zentrale Punkt – wurde das Ver-
trauen unserer Partner in Europa verspielt. Das, was
Bundeskanzler Kohl, Theo Waigel und Hans-Dietrich
Genscher aufgebaut haben, ging in kurzer Zeit in die
Brüche.


(Günter Gloser [SPD]: Legenden, lieber Herr Müller!)


Ich erinnere daran: Es begann mit den Fußtritten von
Minister Trittin, die Nuklearentsorgungsverträge mit
Frankreich müssten nicht beachtet werden. Es setzte sich
fort, Herr Gloser, mit den heftigen Attacken von Außen-
minister Fischer gegen unsere französischen Freunde.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ja!)

Im Jahr 2000 folgten die Strafaktionen gegen Österreich
mit dem skandalösen Auftreten von Bundeskanzler
Schröder vor wenigen Wochen in Wien.


(Günter Gloser [SPD]: Na, na! Etwas Mäßigung!)


Dann wurden das italienische Volk und die italienische
Regierung brüskiert.


(Otto Schily, Bundesminister: So ein Blödsinn!)


Aus der Sicht der deutschen Bundesregierung, Herr
Schily, haben die Österreicher nicht richtig gewählt, ha-




Christian Sterzing
17232


(C)



(D)



(A)



(B)


ben die Italiener nicht richtig gewählt, haben die Iren nicht
richtig abgestimmt. Und dafür werden sie abgestraft.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun erwarten Sie, nachdem Sie zuerst die Freunde ins
Gesicht geschlagen haben, dass sie Ihnen anschließend
die Hand reichen für große europäische Konzepte. Das
ist der Grund, warum diese Regierung nicht an die Er-
folge der Regierung Kohl/Waigel/Genscher anknüpfen
kann.

Die Konsequenz ist: Die Erfolge bleiben aus. Bei der
Agenda 2000 gibt es keine Lösung der finanz-, agrar- und
strukturpolitischen Fragen. Nizza: keine ausreichende
Reform der Institutionen. Göteborg: Verlassen des Ko-
penhagener Weges, Kriterien vor Zeitplan.

Sie haben den Euro von Theo Waigel, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, bei einem Außenwert von
1,18 US-Dollar im Jahr 1998 übernommen und sind jetzt
bei 0,84 US-Dollar angekommen. Das ist ein vernichten-
des Urteil der Finanzmärkte über diese Politik. Die Bür-
ger bezahlen dafür die Zeche, und zwar nicht nur an der
Tankstelle, sondern auch bei der Currywurst und in vielen
anderen Bereichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir sagen Ja zur Osterweiterung, aber wir fordern eine
Parlamentarisierung der Europapolitik. Wir brauchen
mehr Differenzierung, mehr Föderalismus, wir brauchen
mehr Subsidiarität und eine klare Kompetenzordnung.

Ich komme zum Schluss. Wir brauchen und Europa
braucht einen Bundeskanzler, der weniger ein Spaß- und
Medienkanzler ist, der vielmehr mit mehr Konzentration
auf die Sache, mit mehr Ernsthaftigkeit und mit mehr
Achtung des Parlaments und unserer Freunde an die
Dinge herangeht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.] – Günter Gloser [SPD]: Ja, Herr Müller, wo lebt ihr denn?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417602100
Als letzte Rednerin
hat das Wort die Kollegin Gudrun Roos von der SPD-
Fraktion.


Gudrun Roos (SPD):
Rede ID: ID1417602200
Herr Präsident! Werte Kolle-
ginnen! Werte Kollegen! Ich beginne meine Rede mit ei-
nem mir bisher unbekannten Begriff. Dies tue ich deshalb,
weil mit diesem merkwürdigen Begriff meine Bewertung
der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Göte-
borg vielleicht etwas anschaulicher dargestellt werden
kann. Der Begriff heißt: Befischungsdruck bzw. globaler
Befischungsdruck.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist ja ein Deutsch!)


Dieser Begriff findet sich unter Punkt 31 der Schluss-
folgerungen des Europäischen Rates. Der Kontext, in

dem er auftaucht, lautet: „Verantwortungsvolleres Ma-
nagement der natürlichen Ressourcen“. Ich stelle fest:
Kaum einer kennt das Wort bisher; ich bin nicht alleine so
unwissend. Zum besseren Verständnis will ich daher den
vollen Wortlaut, das heißt auch den Einführungssatz, zi-
tieren. Unter Punkt 31 steht:

Die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum, Ver-
brauch natürlicher Ressourcen und Abfallerzeugung
muss sich ändern. Eine starke Wirtschaftsleistung
muss mit einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen
Ressourcen und vertretbarem Abfallaufkommen ein-
hergehen, sodass die biologische Vielfalt erhalten
bleibt, die Ökosysteme geschützt werden und die
Wüstenbildung vermieden wird. Um diese Heraus-
forderungen zu bewältigen, stimmt der Europäische
Rat darin überein,

– den ersten Spiegelstrich lasse ich aus; der zweite Spie-
gelstrich lautet –

dass bei der Überprüfung der Gemeinsamen
Fischereipolitik im Jahr 2002 auf der Grundlage ei-
ner breiten politischen Debatte dem globalen Befi-
schungsdruck entgegengewirkt werden sollte, indem
der Fischereiaufwand der EU unter Berücksichti-
gung der sozialen Auswirkungen und der Notwen-
digkeit, Überfischung zu vermeiden, an die Höhe der
verfügbaren Bestände angepasst wird, ...

Dies ist eine Art Politiksprache, die – wie wir nur allzu
gut wissen – immer dann angewandt wird, wenn zwischen
den Beteiligten ein nur sehr schwer formulierbarer Kom-
promiss zustande kam, ein Kompromiss, der oft einen Er-
folg darstellt – trotz seines oder gerade wegen seines di-
plomatisch gedrechselten Satzgefüges.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Ist das die erste Rednerin zum Agrarbericht? – Joachim Poß [SPD]: Daran sieht man, dass Sie die Schlussfolgerungen nicht gelesen haben!)


Was ist der Hintergrund für diese Formulierung?
Diese Formulierung ist das Ergebnis einer Intervention
des Chefs der spanischen Regierung, José María Aznar.
Es geht nicht um den Agrarbericht, sondern um Nach-
haltigkeit. Ob dieses Teilergebnis der Verhandlungen
dazu führt, dass die Nachhaltigkeit im Fischereibereich
nachhaltig geschädigt wird und dass sich in ein paar Jah-
ren Fisch nur noch auf dem Tisch derjenigen befindet, die
sich ihn leisten können, bzw. dass viele Fischarten gar
nicht mehr zu haben sein werden, befürchte ich zwar,
auch wenn ich es derzeit nicht zuverlässig beurteilen
kann.

Das ist nur ein Beispiel dafür, wie auch bei diesem
EU-Gipfel Interventionen zugunsten vorgeblich nationa-
ler Interessen eine wirksame gemeinsame europäische
Strategie geschwächt haben.

Wie verschachtelt auch immer diese Kompromisse for-
muliert sind, sie haben eines gemeinsam: Sie beziehen
sich auf eine von allen Regierungen mitgetragene europä-
ische „Strategie für Nachhaltige Entwicklung“. Dies ist,
mit Verlaub, ein Erfolg dieses Gipfels, der bleibenden




Dr. Gerd Müller

17233


(C)



(D)



(A)



(B)


Wert hat und dessen Früchte sich zum Teil erst nach Jah-
ren und Jahrzehnten werden ernten lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn die Nachhaltigkeitsstrategie bisher notge-

drungen in großen Zügen und eher programmatisch for-
muliert ist, so ist sie doch eine Plattform, von der aus eine
umfassende Modernisierung von Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft in Gang gesetzt werden kann. Diese Nach-
haltigkeitsstrategie bietet eine dringend erforderliche
Richtungssicherheit und eine zentrale Perspektive im
Hinblick auf die Reformen für den gesellschaftlichen
Fortschritt im 21. Jahrhundert.

Ich will hier nur auf ein paar Beispiele aus den Be-
schlüssen verweisen, die durchaus bemerkenswert sind.
Ich erinnere an den Beschluss, die eigenen Verpflichtun-
gen im Rahmen des Kioto-Protokolls einzuhalten. Ich zi-
tiere:

Die Vertragsstaatenkonferenz Mitte Juli in Bonn
muss daher ein Erfolg werden.

Ich verweise auf den Entschluss, bis zum Jahr 2010 ein
Richtziel von 22 Prozent des Stromes aus erneuerbaren
Energien zu erreichen, im Verkehrsbereich die Förderung
der „vollständigen Internalisierung der sozialen und Um-
weltkosten“ voranzutreiben und die „integrierte Produkt-
politik der EU“, also eine ressourcenschonende und effi-
zienzsteigernde Produktpolitik zu betreiben.

Wenn wir die Göteborger Schlussfolgerungen mit den
Forderungen vergleichen, die der Bundestag am 17. Mai
dieses Jahres beschlossen hat, so können wir zufrieden
sein; denn viele unserer substanziellen Forderungen wur-
den übernommen. Wir können zufrieden sein, auch wenn
vor allem die operative Umsetzung noch längst nicht aus-
gearbeitet ist.

Zwar gibt es viele Vorgaben, zum Beispiel die, dass die
neue Chemikalienpolitik bis 2004 in Kraft treten soll; je-
doch ist die vom Bundestag geforderte „Entwicklung von
Mindestanforderungen an die Strategien – wie Ziele, Zeit-
pläne und Leitindikatoren“ im Interesse einer engeren Zu-
sammenführung der verschiedenen Sektorstrategien noch
Zukunftsmusik. Aber dafür, dass die Göteborger Be-
schlüsse keine bloßen Deklarationen bleiben, hat sich der
Rat neben dem von der Kommission jährlich vorzulegen-
den Synthesebericht auf der Grundlage von Leitindikato-
ren selbst in die Pflicht genommen. Er will nämlich die
Fortschritte bei der Entwicklung und bei der Umsetzung
der Strategie auf seinen jährlichen Frühjahrstagungen
überprüfen.

Lassen Sie mich resümieren: Der Europäische Rat – so
steht es im Schlussbericht – „einigte sich auf eine Strate-
gie für die nachhaltige Entwicklung und gab dem Prozess
von Lissabon für Beschäftigung, Wirtschaftsreform und
sozialen Zusammenhalt eine Umweltdimension“. Es ist
den Schweden gelungen, den Schwerpunkt ihrer Ratsprä-
sidentschaft umzusetzen. Dass dies in der Berichterstat-
tung der deutschen Presseweitgehend ignoriert wurde, ist
auch angesichts der sensationsgeladenen Bilder von Ge-
walttätern in den Straßen von Göteborg nur schwer zu ent-
schuldigen.


(Beifall bei der SPD)


Die Medien haben, auch wenn sich Sensationen besser
verkaufen, eine Informationspflicht. Wird diese nicht
wahrgenommen, fördert die damit erzeugte Unwissenheit
die Bereitschaft zu Ressentiment, Wut und Enttäuschung.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Medien ausführlich über
die EU-Nachhaltigkeitsstrategie berichten. Ich hätte mir
auch gewünscht, dass sie deren zukunftsträchtiges Poten-
zial ausführlich darstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., die

EU-Erweiterung ist sicherlich – wir sind uns da alle ei-
nig – ein großes Ziel. Aber das ist, meine ich, kein Grund,
in Ihrem heute vorliegenden Antrag zu den Ergebnissen
von Göteborg bezüglich des Zukunftsprojektes „Nachhal-
tigkeit“ nicht ein einziges Wort zu sagen.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist für uns selbstverständlich!)


– Nein, ich glaube nicht. – Gestern hat ein Kollege aus Ih-
rer Fraktion gemeint, Nachhaltigkeit sei ein Modewort.
Das ist es Gott sei Dank nicht. Vielmehr wird Nachhaltig-
keit endlich Mode. Das ist ein riesengroßer Unterschied.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Man darf nicht nur reden, man muss etwas machen!)

Nachhaltige Entwicklung erfordert globale Lösungen.

Darüber sind nicht nur wir uns einig. Das hat auch der Eu-
ropäische Rat in Göteborg erkannt. Die EU wird versu-
chen, auf dem Nachfolgegipfel in Rio im Jahr 2002 ein
globales Übereinkommen über nachhaltige Entwicklung
zu vereinbaren. Die in der Agenda 21 angestoßene Betei-
ligung von gesellschaftlichen Akteuren auf lokaler Ebene
könnte dadurch neue Impulse erfahren. Dies wird jedoch
nur mit einer stärkeren Einbeziehung der Öffentlichkeit
ein Erfolg werden. Das wissen wir alle.

Das ist der Grund, warum ich Sie eindringlich bitte:
Helfen Sie alle mit, den Wert der Nachhaltigkeit auch und
gerade im Sinne der Generationengerechtigkeit herauszu-
stellen sowie uns und der Öffentlichkeit bewusst zu ma-
chen, wie wichtig Nachhaltigkeit für unsere Zukunft ist.
Wir alle wissen doch – vielleicht müssen wir es den
Medien noch öfter erklären –: Nachhaltige Entwicklung
bedeutet die Erfüllung der Bedürfnisse der derzeitigen
Generation, ohne dabei die Möglichkeit zukünftiger Ge-
nerationen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, zu beeinträchti-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für Ihre Hilfe beim Einsatz für Nachhaltigkeit bedanke
ich mich schon jetzt. Ich bin sicher, wir alle werden nach-
haltig daran arbeiten, auch diejenigen, die bisher meinten,
Nachhaltigkeit sei nur ein Modewort.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Gudrun Roos
17234


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417602300
Ich
schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-
antrag der Fraktion der F.D.P.? –


(Zurufe von der SPD: Das sind aber wenige! – Unglaublich!)


Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Entschließungsantrag der F.D.P.-Fraktion mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der F.D.P.-
Fraktion und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der
PDS-Fraktion abgelehnt.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
der PDS? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Entschließungsantrag der PDS-Fraktion mit
den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der PDS-
Fraktion abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis 4 d sowie den
Zusatzpunkt 1 auf:
4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-

regierung
Agrarbericht 2001
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung
– Drucksache 14/5326 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus W.
Lippold (Offenbach), Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr, Albert Deß, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz
sein – Zukunftsfähige Landwirtschaft ermög-
lichen – Gegen BSE mit einem vernetzten
Bekämpfungsplan vorgehen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff

(Wolmirstedt), Heino Wiese (Hannover),

Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller

(Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neuausrichtung der Agrarpolitik:
Offensive für den Verbraucherschutz – Per-
spektiven für die Landwirtschaft

– Drucksachen 14/5222, 14/5228, 14/5580 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Ulrike Höfken
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)


c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die gemeinsame Marktorganisation für Zucker
KOM (2000) 604 endg.; Ratsdok. 12087/00
– Drucksachen 14/4945 Nr. 2.49, 14/5908 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Heinrich
Gustav Herzog
Norbert Schindler

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula
Burchardt, Heidemarie Wright, Christel
Deichmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Nachhaltige Entwicklung für ländliche
Räume

– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Ländlichen Raum gemeinsam mit der Land-
wirtschaft stärken

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung „Politik für
ländliche Räume“
Ansätze für eine integrierte regional- und
strukturpolitische Anpassungsstrategie

– Drucksachen 14/4544, 14/5080, 14/4855,
14/5909 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Heino Wiese (Hannover)


ZP 1 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
besserung der Agrarstruktur und des Küsten-
schutzes“ für den Zeitraum 2001 bis 2004
– Drucksache 14/5900 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Zum Agrarbericht 2001 liegen ein Entschließungsan-
trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die






(C)



(D)



(A)



(B)


Grünen, ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und zwei Entschließungsanträge der Fraktion
der F.D.P. vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der
CDU/CSU-Fraktion.


Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU):
Rede ID: ID1417602400
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor we-
nigen Monaten wurde uns eine Agrarwende angekündigt.
Populistische Reden wurden teils ohne jeden realisierba-
ren Hintergrund gehalten. Vieles orientierte sich mehr am
Politbarometer als an der Notwendigkeit, die europäische
und die nationale Agrarpolitik weiterzuentwickeln. In-
zwischen steht fest: Eine Agrarwende wird manchmal
auch zur eigenen Karikatur.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Deutschland hat in der Europäischen Union einen Be-
schluss mitgetragen. Bei der Umsetzung dieses Beschlus-
ses macht man aus einem ausgewachsenen französischen
Bullen einen Ochsen, damit die Franzosen für Ochsen
Prämien kassieren können, die man ihnen für die Bullen
verwehrt hat. Obwohl dies lächerlich ist, muss man die
Sache leider ernst nehmen. Ich sage das nur, damit die
deutschen Bauern nicht wieder für diesen Quatsch in An-
spruch genommen werden,


(Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!)

damit nicht später wieder gesagt wird, die deutschen Bau-
ern seien dafür verantwortlich. Nein, verantwortlich dafür
sind der Ministerrat und die deutsche Verbraucherschutz-
ministerin.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Meinen Sie, die kennt den Unterschied zwischen einem Bullen und einem Ochsen?)


Ich kann Ihnen nur sagen: Wer dauernd eine Wende
ankündigt, ohne sie zu vollziehen, dreht sich irgendwann
im Kreis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich trete deswegen dafür ein, den Prozess des Dialoges
mit den Bauern in der Bundesrepublik Deutschland
wieder aufzunehmen, weil sich die Bauern manchmal als
klüger erweisen. Ich halte das jedenfalls für richtig. In
Bezug auf den Rindfleischmarkt ist eine Korrektur
beschlossen und auf bestimmte Forderungen verzichtet
worden. Die deutschen Bauern haben zu keiner Zeit mehr
produziert, als ihnen jetzt durch Beschluss vorgegeben
worden ist. Es hat sich erwiesen, dass sie schon immer so
klug waren, wie es der Ministerrat auf europäischer Ebene
jetzt erst geworden ist.

Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen: Der
EU-Verbraucherschutzkommissar Byrne und die deut-
sche Verbraucherschutzministerin, Frau Künast, haben
beschlossen, die vier noch zugelassenen Antibiotika, die

nach wie vor in den Futtertrog hineinwandern – zehn sind
ja schon verboten worden –, bis zum Jahre 2005 zu ver-
bieten. Die deutschen Bauern haben sich inzwischen als
klüger erwiesen. Sie sind bereit, bereits jetzt Antibiotika
aus dem Futter herauszulassen. Das, was von Frau Künast
auf europäischer Ebene nicht erreicht werden konnte,
wird jetzt von den deutschen Bauern selbst vollzogen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Reinhold Hemker [SPD]: Herr Kollege, wir loben die Bauern doch!)


Die Ministerin sagt, in der Agrarproduktion sei
Klasse statt Masse notwendig. Das bedeutet nichts ande-
res, als dass man einen Teil der deutschen Agrarproduk-
tion ins Ausland verlagert. Ich sage: Wir brauchen Masse
und Klasse. Wir müssen in der Agrarproduktion Quantität
mit Qualität zusammenbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das sind wir dem deutschen Verbraucher schuldig, darauf
hat der deutsche Verbraucher einen Anspruch.

Der deutsche Verbraucher will keine Verlagerung der
Agrarproduktion ins Ausland. Eine solche Verlagerung
wird aber das Ergebnis der Politik von Frau Künast sein.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Allein von der Müsliproduktion kann man nicht leben!)


Wir wollen und wir müssen möglichst viele der in
Deutschland benötigten Nahrungsmittel im Lande erzeu-
gen. Das gilt für den ökologischen Landbau genauso wie
für die konventionelle deutsche landwirtschaftliche Pro-
duktion.

Das ist auch eine der Voraussetzungen für die wirt-
schaftliche Entwicklung ländlicher Räume. Die Land-
wirtschaft ist nach wie vor das Rückgrat für die ländlichen
Räume. Sie sichert Wirtschaftsstandorte über die eigentli-
che Nahrungsmittelproduktion hinaus. Deshalb würde bei
einer Abwanderung der Agrarproduktion ins Ausland die
Wirtschaftskraft der ländlichen Räume in der Bundesre-
publik Deutschland geschwächt. Die jetzige wirtschaftli-
che Situation vieler – ich sage nicht: aller – ländlicher
Räume ist ohnehin schon schwierig genug. Wir treten
– ich sage das ganz klar – gemeinsam dafür ein, dass die
ländlichen Räume eine Teilhabe an der wirtschaftlichen
Entwicklung haben. Welche Teilhabe sollen die ländli-
chen Räume aber noch haben, wenn es in der Bundesre-
publik Deutschland überhaupt keine wirtschaftliche Ent-
wicklung mehr gibt?


(Lachen bei der SPD)

Die ländlichen Räume werden zum Leidtragenden einer
verfehlten Wirtschaftspolitik gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir müssen auch über die Agrarpolitik die Wirt-

schaftskraft der ländlichen Räume stärken. Deshalb hat
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer wieder eine
Steuerpolitik eingefordert, die die flächengebundene bäu-
erliche Landwirtschaft genauso entlastet, wie es Rot-Grün
bei der flächenarmen agrargewerblichen Produktion um-
gesetzt hat. Ich finde es nicht gut, wenn man die bäuerli-




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
17236


(C)



(D)



(A)



(B)


che Produktion steuerlich belastet, nachdem man die
agrargewerbliche Produktion entlastet hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein Skandal!)


Das zeigt im Grunde genommen, welche Perspektiven
Rot-Grün in der Agrarpolitik in den Vordergrund gestellt
hat.

Ich möchte nach wie vor – einiges haben wir schon auf
den Weg gebracht –, dass wir die Agrarsozialpolitik aktiv
mitgestalten. Es kann dann aber nicht angehen, dass man
aus der Alterskasse 400 Millionen DM nimmt und in die
Knappschaft steckt. Ich habe nichts dagegen, dass die
Knappschaft mehr Geld bekommt. Aber dieses Geld darf
man nicht der Landwirtschaft nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Albert Deß [CDU/CSU]: Die unsozialen Sozialdemokraten!)


Wir wollen durch diese Politik die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Landwirtschaft für eine qualitätsorientierte
Produktion steigern.

1998 ist ein ganz wichtiger Beschluss auf der europä-
ischen Ebene gefallen. Der Tierschutz ist in die Aufga-
benstellung der Europäischen Union einbezogen worden.
Es besteht jetzt die Möglichkeit der Weiterentwicklung
des Tierschutzes auf europäischer Ebene. Daher kann es
nicht angehen, so wie Rot-Grün zu handeln: Erst hat man
auf europäischer Ebene einer Änderung der Vorschrift be-
züglich der Hennenhaltung zugestimmt. Dafür hat man
sich im Deutschen Bundestag selbst gefeiert. Jetzt aber
verhindert Frau Künast, dass der eigene Beschluss von
Rot-Grün umgesetzt wird. Auf was sollen sich denn die
Landwirte in unserem Land noch verlassen können?
Wenn sie sich auf Frau Künast und auf Rot-Grün verlas-
sen, dann sind sie verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Selbst die Hühner sind enttäuscht!)


– Das ist richtig.
Auf der anderen Seite – da besteht wahrscheinlich ein

Stück Einigkeit – müssen wir auch bei der Seuchen-
bekämpfung ein Mehr an Tierschutz durchsetzen. Wir
dürfen die Seuchenbekämpfung nicht aus dem veterinär-
medizinischen Fortschritt entlassen und dürfen es nicht
zulassen, dass das Keulen und Verbrennen zur letzten Ant-
wort der Seuchenbekämpfung wird.

Es wird viel über Modulation gesprochen. Ich finde es
gut, dass Frau Künast Prinz Charles mag. Wenn sie aber
die deutschen Bauern anders behandelt, als die britische
Regierung Prinz Charles behandelt, dann muss man da-
rüber natürlich diskutieren. In mehreren Gesprächen mit
den Ländern ist angeklungen, dass im Rahmen der Mo-
dulation in Deutschland einem Betrieb mit einer Größe
von 50 Hektar möglicherweise die Prämien um 20 Pro-
zent gekürzt werden.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Was? – Matthias Weisheit [SPD]: Wer hat das angekündigt?)


Vielleicht kann der bayerische Staatsminister Miller das
bestätigen. Staatssekretär Wille, der anwesend ist, hat
ständig davon gesprochen, dass das eine politische Ziel-
vorgabe der Ministerin ist.


(Reinhold Hemker [SPD]: Setzen Sie doch keine Gerüchte in die Welt!)


Wenn diese Zielvorgabe umgesetzt wird, dann würde das
bedeuten, dass Prinz Charles zwar 4,5 Prozent weniger
Prämien bekommt. Aber ein deutscher Bauer, der 50 Hek-
tar bewirtschaftet, würde 20 Prozent weniger Prämien
bekommen. Das halte ich für unerträglich.


(Beifall des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU] – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Unglaublich!)


Es ist jede Woche angekündigt worden, die Tier-
mehle, die noch in Deutschland herumliegen, endlich zu
beseitigen. Jede Woche gibt es eine Ankündigung, dass
das nächste Woche passiert. Bisher ist aber nichts pas-
siert.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist die Ankündigungsministerin!)


Wenn man hinsichtlich des Verbots der Tiermehlfütterung
so gehandelt hätte, dann wäre dieses Verbot in der Bun-
desrepublik Deutschland auf keinen Fall durchgesetzt
worden.


(Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Verbraucherschutz beinhaltet immer etwas Konkretes.
Deshalb werden wir Frau Künast nicht an den Seifenbla-
sen messen, die sie ständig von sich gibt, sondern daran,
welche Politik Frau Künast im Einzelnen realisiert. Da ist
bisher nur sehr wenig passiert. Was passiert ist, ging in die
falsche Richtung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417602500
Herr Kol-
lege Ronsöhr, es gab noch den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage. Aber Sie wollten sie anscheinend nicht beant-
worten.


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Da kann ich ja noch einmal ans Rednerpult zurückgehen!)


– Nein, Herr Kollege Ronsöhr, jetzt ist es zu spät.

(Heiterkeit im ganzen Hause)


Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der
SPD-Fraktion.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1417602600
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Bei-
trag der Opposition zeigt,


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das war ein guter Beitrag!)





Heinrich-Wilhelm Ronsöhr

17237


(C)



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(A)



(B)


dass es der CDU/CSU-Fraktion um Populismus pur geht.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Wenn es hier einen Populisten gibt, dann ist das der Bundeskanzler! – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Er hat ein Monopol darauf!)


Es ist hier gesagt worden, die Agrarwende sei eine Kari-
katur. Hören Sie bitte gut zu. Sie werden anhand meines
Beitrags erkennen, dass das keine Karikatur, sondern zu-
kunftsweisend ist. Im Übrigen: Wenn deutsche Bauern
von sich aus Antibiotika bei der Fütterung herauslassen,
dann zeigt das, dass sie unternehmerischen Geist haben.
So muss es ja wohl sein. Anders können Unternehmer
nicht handeln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit, gläserne
Produktion, artgerechte Tierhaltung – diese und andere
Begriffe sind heute zum alltäglichen Wortschatz gewor-
den und drücken mehr als deutlich den Wunsch der
Bevölkerung nach sicherer, gesunder Nahrung und Le-
bensweise aus. Dies sind neben der Agrarsozialpolitik die
wichtigsten Themen, die wir im Jahre 2001 zu bearbeiten
haben. Deshalb schlagen sie sich im diesjährigen Agrar-
bericht auch nieder. Was in anderen Wirtschaftsbereichen
schon lange Normalität ist, nämlich nachgewiesene Qua-
litätsstandards, wird es zukünftig auch im Ernährungsbe-
reich in breitem Maße geben müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei den Debatten über neue Agrarpolitik gefällt mir
nach wie vor das Wort Wende nicht sonderlich gut; denn
wir erfinden das Rad doch eigentlich nicht neu.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das weiß nur die Ministerin noch nicht!)


In der Landwirtschaft werden zwar neue Prioritäten ge-
setzt. Aber im Grunde genommen gibt es keine andere
landwirtschaftliche Produktion und der Berufsstand ar-
beitet weiterhin bestmöglich. Aus diesem Grund ist mit
Neuausrichtung Sicherheit für die Bauern gemeint; denn
sie gehören nicht an den Pranger, sondern sie sollten – ge-
nauso wie die Verbraucherinnen und Verbraucher – unter-
stützt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: Aber der Bundeskanzler hat sie an den Pranger gestellt!)


BSE und die damit verbundene Unsicherheit waren
letztendlich der Auslöser für die intensive Diskussion in
allen Bereichen. Mit dem Verbot der Verfütterung von
Tiermehl hat die Bundesregierung äußerst schnell gehan-
delt. Wir sind fest entschlossen, die Transparenz im Le-
bensmittel- und Futtermittelbereich durch verbraucher-
freundliche Etikettierung und offene Deklaration aller
Inhaltsstoffe zu verbessern. Damit geben wir den Men-
schen die Möglichkeit, ihre Konsumentscheidungen ganz
bewusst zu treffen.

Eine durchgängig nachvollziehbare Produktion kann
meiner Überzeugung nach auch durch ein gutes regiona-
les Marketing unterstützt werden. Ich weiß, Regionalver-
marktung ist nicht die Lösung. Aber sie ist wenigstens ein
kleiner Stein in dem gesamten Mosaik.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Ein wichtiger!)

– Richtig, auch ein wichtiger.

Mit der Einführung eines Qualitätssiegels für ökolo-
gische Produkte sind wir auf dem richtigen Weg; denn
größere Vereinheitlichung und mehr Markttransparenz
schaffen hier Sicherheit. Mit ins Boot muss neben den
Produzenten und dem Verarbeitungsbereich natürlich
auch der Einzelhandel. Einige positive Erfolge sind ja
schon zu verzeichnen. Die kleinen Ökonischen in den
Lebensmittelketten verschwinden zum Teil. Uns Verbrau-
chern steht ein wesentlich breiteres Sortiment zur Verfü-
gung. Jedenfalls erlebe ich es so, wenn ich einkaufen
gehe.


(Beifall bei der SPD)

Aber – auch das muss man sagen – Qualitätssiegel sind

nicht alles. Es bleibt die Frage: Sind bewusste Konsum-
entscheidungen eine Modeerscheinung oder zeigt sich
jetzt wirklich eine anhaltende Entwicklung in diesem Be-
reich? Hier ist die Politik gefragt. Um das langfristige Ziel
eines auf die Gesundheit bedachten Verbraucherverhal-
tens zu entwickeln, bedarf es nicht nur der Aufklärung,
sondern auch einer intensiven Schulung von Kindheit an.
Deshalb fordern wir eindringlich, dass Inhalte zur Ver-
braucheraufklärung in die Lehrpläne der Schulen und in
Ausbildungsprogramme aufgenommen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wird, wie ich denke, deutlich, dass die künftige Qua-
lität der Nahrungsmittel und die weitere Entwicklung ih-
rer Produktion von dem Zusammenspiel vieler verschie-
dener Akteure abhängen.

Meine Damen und Herren, ein wichtiger Aspekt unse-
rer Politik ist die Vernetzung der Bereiche Gesundheit,
Bildung und Forschung mit Verbraucherschutz, Ernäh-
rung und Landwirtschaft. Nur auf diese Weise wird effi-
zient Wissen gebündelt und Forschung zielgerichtet be-
trieben. Das im Agrarbericht genannte Institut für
Tierschutzforschung in Celle steht kurz vor seiner Grün-
dung. Hier werden schwerpunktmäßig Fragen der art-
gerechten Tierhaltung und des den Tieren angemessenen
Transports bearbeitet werden.

Allerdings können wir diese Frage nicht nur national
betrachten – vorhin ist von der Opposition dazu bereits
etwas gesagt worden –, sondern wir brauchen auch grenz-
übergreifende Regelungen. Generelle Transportzeiten
sind ebenso von Bedeutung wie strenge Anforderungen
an die Bedingungen während des Transportes. Dazu brau-
chen wir fundierte Forschungsergebnisse, die sich euro-
paweit in neue Regelungen umsetzen lassen.

Zum Stichwort Tierhaltung gehe ich auf die Kollegen
und Kolleginnen aus der CDU/CSU-Fraktion ein: Sie ha-
ben vorhin von Populismus gesprochen und werfen in




Waltraud Wolff (Wolmirstedt)

17238


(C)



(D)



(A)



(B)


Ihrem Entschließungsantrag der Bundesregierung vor,
den Agrarbericht für Polemik gegen die Landwirtschaft
zu missbrauchen. Ich halte Ihren Einwand an dieser Stelle
für mehr als polemisch, denn Sie verwenden in Ihrem
Antrag doch nur Halbsätze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Was sind denn Halbsätze?)


Sie schreiben:
Die landwirtschaftliche Praxis wird mit den Begrif-
fen „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt falsch
dargestellt.

Werfen Sie sich vielleicht Fehler und Versäumnisse aus
Ihrer eigenen Regierungszeit vor?

Demgegenüber zitiere ich, was tatsächlich im Agrar-
bericht steht:

Der Erfolg der Agrarwende muss durch ein Bündel
agrarpolitischer Maßnahmen abgesichert werden.
Das sind unter anderem:
– keine Finanzierung von Überschüssen, sondern
von Qualität,

– keine Tierquälerei, sondern artgerechte Tierhal-
tung,

– kein Raubbau, sondern Schutz von Umwelt und
Natur, insbesondere von Boden und Wasser!

Meine Damen und Herren, dies ist das Bild einer
selbstbewussten und nachhaltigen Landwirtschaft.Wir
werden sie weiter stützen; schwarze Schafe sollen es in
Zukunft noch schwerer haben.

Im Übrigen halte ich es für müßig, dass die CDU/CSU-
Fraktion immer wieder utopische Forderungen nach Aus-
gleichszahlungen für die Landwirtschaft stellt. Sie sollten
doch mittlerweile begriffen haben, dass der Konsolidie-
rungskurs fortgesetzt wird, mit dem wir bisher sehr gut
gefahren sind. Ich habe auch keine Lust mehr, Sie darauf
hinzuweisen, dass es letztendlich Ihrer Politik zu verdan-
ken ist, dass wir den Gürtel noch immer nicht lockern
können. Trotzdem wird der Agraretat im Jahr 2002 um
150 Millionen DM und im Jahr 2003 um 180 Mil-
lionen DM aufgestockt werden.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist nicht einmal die Hälfte dessen, was in Bayern gemacht wird!)


Außerdem werden wir die Mittel für die Gemeinschafts-
aufgabe von 1,7 Milliarden DM auf rund 1,85 Milliarden
DM anheben.

Ihr ewiger Einwurf, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, die Ökosteuer solle zurückgezogen
werden, wird langsam langweilig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen sehr wohl, dass die Landwirtschaft von der
zweiten und der dritten Stufe der Ökosteuer ausgenom-
men ist. Den nachgeordneten Zweigen, die nicht von der

Ökosteuer befreit sind, kommt der volle Nutzen durch die
Senkung der Lohnnebenkosten zugute.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht beim Bauern!)


Wir wollen diese positiven Effekte in Zukunft nicht
missen. Dazu möchte ich Ihnen ein Zitat des früheren
Umweltministers Klaus Töpfer, CDU, nicht vorenthalten,
der in einem „Spiegel“-Interview vom 13. November
2000 – man höre und staune – erklärte:

Wir können es uns nicht leisten, ein sinnvolles In-
strument wie die Ökosteuer einfach wegzuwerfen.
Wir brauchen auch in Zukunft ökologische Steuer-
komponenten über die marktwirtschaftliche Preisge-
staltung hinaus – nicht nur in Deutschland, sondern
europa- und weltweit.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417602700
Frau
Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1417602800
Nein, ich möch-
te keine Zwischenfrage zulassen.

Ich empfinde es als äußerst bedauerlich, dass Sie hier
Meinungsmache gegen ein nachweislich positives Regu-
larium der rot-grünen Steuerpolitik betreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, zur Gewinnentwicklung
im landwirtschaftlichen Bereich sage ich Folgendes:
Natürlich gibt es nicht d e n landwirtschaftlichen Be-
trieb, und niemand stellt in Abrede, dass auch im letz-
ten Wirtschaftsjahr eine gewisse Zahl von Betrieben
wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte. Der Vergleich zwi-
schen der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftsbe-
reichen zeigt aber auch, dass die alte Subventionspolitik
nicht von heute auf morgen geändert werden kann.

Wir sind auch weiterhin bestrebt, die Landwirtschaft
zu unterstützen, denn nur durch starke Wirtschaftsstruk-
turen ist ihr Überleben gesichert. Dennoch bin ich davon
überzeugt, dass auf die veränderten Produktionsbedin-
gungen mit unternehmerischer Initiative reagiert werden
muss. Wenn ich etwas verdienen will, muss ich auch be-
reit sein, Einsatz zu leisten.


(Beifall bei der SPD – Albert Deß [CDU/ CSU]: Die Bundesregierung nimmt ihnen den Verdienst weg!)


Meine Damen und Herren, der Agrarbericht zeigt sehr
genau die Situation der Betriebe


(Zuruf von der CDU/CSU: Die es noch gibt!)

und auch die der davon abhängigen Familien auf. Aus
diesem Grund will ich noch einmal kurz auf den Agrar-
bericht 2000 und unseren damaligen Antrag zurück-
kommen.

Im Bereich der Agrarsozialpolitik ist die Situation der
im ländlichen Raum lebenden Frauen und jungen Men-
schen ein genauso wichtiger Aspekt wie in anderen Zwei-
gen. Deshalb erschien uns damals eine Beschreibung der




Waltraud Wolff (Wolmirstedt)


17239


(C)



(D)



(A)



(B)


Lebens- und Erwerbssituation von Frauen im ländlichen
Raum ebenso notwendig wie die Darstellung der weiteren
Perspektiven für die Jugend.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie mal mit mir mit! Dann sehen Sie, wie die leben müssen!)


Beides forderten wir in einem Entschließungsantrag am
17.Mai letzten Jahres. Heute stelle ich fest, dass diese Do-
kumentation leider nicht klar herausgestellt ist. Ich bitte
von dieser Stelle aus, dies im nächsten Bericht explizit
auszuweisen.

Meine Damen und Herren, es gäbe noch viele Stich-
punkte, zu denen ich mich äußern könnte. Als Beispiele
nenne ich nur Forst- und Fischereipolitik, nachwach-
sende Rohstoffe oder mein Lieblingsthema landwirt-
schaftliches Sozialversicherungssystem. Leider habe ich
nicht die gesamte Redezeit der SPD-Fraktion bekom-
men und kann deshalb keine weiteren Ausführungen
machen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber bedauerlich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417602900
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1417603000
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministe-
rin Künast, Sie sind jetzt ein halbes Jahr im Amt und ha-
ben die Politik, die Sie machen wollen, in einer für die
Öffentlichkeit sehr verständlichen Sprache dargestellt.
Sie haben sich sozusagen der sonst üblichen Sprache
der Agrarpolitik entzogen und wurden verstanden:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Klasse statt Masse, Reinheitsgebot beim Rindfleisch.

In der Zwischenzeit, Frau Ministerin, haben Sie sich
eingearbeitet. Dabei haben Sie lernen müssen, dass das
alles nicht so einfach ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Sie mussten zum Beispiel lernen, wie sich die Verhält-
nisse in Brüssel darstellen. Erst vorgestern haben Sie er-
neut drei bittere Niederlagen hinnehmen müssen. Die vor-
hergehenden Niederlagen möchte ich jetzt gar nicht
erwähnen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Weitere werden folgen!)


Sie haben lernen müssen, was es heißt, im eigenen
Land mit einem Finanzminister Eichel zurechtzukom-
men. Sie haben vor allen Dingen in Verhandlungen mit
den Bundesländern – zum Beispiel über die Durchsetzung
der Gemeinschaftsaufgabe und all die Dinge, die damit
zusammenhängen – auch lernen müssen, dass von sehr

selbstbewussten Partnern komplizierte und verflochtene
Sachverhalte vertreten werden.

Im Laufe der kurzen Zeit hat sich auch Ihre Sprache
verändert. Sie sind sozusagen in die „Niederungen“ der
Agrarpolitik eingestiegen


(Albert Deß [CDU/CSU]: Die Sprüche sind kürzer geworden!)


und das Interesse der Öffentlichkeit an Ihrer Politik hat
wesentlich nachgelassen. Das wiederum könnte man ja
noch verschmerzen, wir als F.D.P. jedenfalls. Was aber
viel weittragender ist: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht
gemacht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Krise, die Sie in das Amt gebracht hat, haben Sie bis-
her nicht bewältigt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Eher verschärft!)


Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Nach wie vor
lagern Restbestände von Tiermehl und Futterbestand-
teilen, die möglicherweise kontaminiert sind, in den Län-
dern und warten jetzt – ein halbes Jahr nach In-Kraft-Tre-
ten des Verfütterungsverbots – auf eine entsprechende
Entsorgung.


(Zuruf von der SPD: Wessen Sache ist das?)

Ebenso wenig ist – ein halbes Jahr danach – die Finan-
zierung dessen gesichert und klargelegt.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das kann dauern! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ein Skandal!)


Ein weiteres Beispiel: Sie führen immer wieder den
Tierschutz im Munde, haben es aber nicht geschafft, dass
die Tiere, die zur Marktentlastung herausgekauft worden
sind, auch verwertet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Sie wurden schlichtweg zu Tiermehl verarbeitet und dann
verbrannt. Ethik und Tierschutz sind hier wirklich nicht zu
erkennen. Das ist ein Skandal!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bis vor kurzem waren Sie nicht bereit, für die von BSE
betroffenen Rinderherden das so genannte Schweizer
Modell mit der Kohortentötung zu übernehmen. Sie wa-
ren nicht bereit, von den Schweizern zu lernen. Die
Schweizer haben mit diesem Modell eine jahrelange
Erfahrung. Sie haben es ignoriert.


(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der SPD)

Wir haben Ihnen von Anfang an dieses Schweizer Modell
anempfohlen. Erst jetzt dämmert es bei Ihnen langsam,
aber sicher, dass Sie in diesem Punkt eine andere Rege-
lung anstreben sollten.


(Zuruf von der SPD: Bei Ihnen dämmert es ja noch nicht einmal! – Weitere Zurufe)





Waltraud Wolff (Wolmirstedt)

17240


(C)



(D)



(A)



(B)


– Ich glaube, keiner der Zwischenrufer weiß, wie viele
Tiere im Rahmen dieser Gesamtherdentötung beseitigt
worden sind,


(Zuruf von der CDU/CSU: 10 000 Tiere kamen in den Müllofen! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die alten Lobbyisten wittern wieder Morgenluft!)


Es waren über 10 000. Es geht hier also um keine geringe
Menge. Dies hat gravierende Auswirkungen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Begleiten Sie einmal die Bauern mit ihren Herden an die Müllöfen! Gehen Sie einmal mit!)


Frau Ministerin Künast, Sie vernachlässigen den be-
rechtigten Verbraucherschutz, indem Sie – –


(Weitere Zurufe von der CDU/CSU und Gegenrufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Können wir uns bitte darauf einigen, dass ich jetzt rede?
Nachher kommen Sie dran.

Sie vernachlässigen den berechtigten Verbraucher-
schutz, indem Sie nach wie vor Rindfleischimporte von
nicht getesteten Rindern zulassen. Das Gleiche gilt für
Kälber, die außerhalb von Deutschland gemästet und mit
Tierfetten gefüttert wurden und die ein sehr hohes Risiko
aufweisen, BSE-infiziert zu sein. Mit einem Wort: Sie ha-
ben viel angekündigt und recht wenig recht bescheiden
umgesetzt.

Lassen Sie mich etwas zur Maul- und Klauenseuche
sagen: Nach wie vor gibt es eine unkoordinierte Aussage
zur zukünftigen Impfpolitik. Ich fordere Sie deshalb auf,
alles daran zu setzen, Markerimpfstoffe gegen die Maul-
und Klauenseuche sowie die Schweinepest zu entwickeln
und die notwendigen Genehmigungen zum Einsatz bei
der akuten Seuchenbekämpfung zu erteilen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist allerhöchste Zeit, diese Maßnahmen jetzt zu ergrei-
fen! Wir dürfen nicht warten, bis die nächste Seuche aus-
gebrochen ist. Die unsinnige Vernichtung, die es derzeit
noch bei der Seuchenbekämpfung gibt, also das Vernich-
ten eines riesigen Volksvermögens durch die radikale
Keulung der Bestände, muss endlich aufhören.

Das einzig klare Ergebnis, das Sie bisher vorzuweisen
haben, ist das Ökosiegel.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Ab welchem Niveau?)


Dies ist aber nicht neu und auch nicht auf Ihrem eigenen
Mist gewachsen. Sie haben sich nur bereit erklärt, das,
was auf europäischer Ebene bereits verabschiedet worden
ist, anzuerkennen und zu übernehmen.


(Zuruf von der SPD: Das haben Sie früher nicht geschafft!)


Man reibt sich erstaunt die Augen und stellt fest: Masse
statt Klasse!


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Ministerin, Sie hatten uns etwas anderes versprochen.

(Albert Deß [CDU/CSU]: Das ganze Minis terium!)

Ich warne Sie eindringlich vor einem zweiten Prüf-

siegel für konventionelle Produkte.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das wäre kontraproduktiv und würde die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher verwirren. Damit würden Sie
nichts bewegen, sondern nur Unruhe stiften.


(Zuruf von der SPD: Das sehen aber manche Landwirte anders!)


In diesem Zusammenhang möchte ich genauso ein-
dringlich von einer regionalen Kennzeichnung spre-
chen, die ich für dringend notwendig halte. Diese schafft
in ganz besonderer Weise ein enges Verhältnis zwischen
der Landwirtschaft und den Verbrauchern. Das ist beson-
ders nötig, denn wir stellen fest, dass die Kenntnis über
die Landwirtschaft bei der allgemeinen Verbraucherschaft
gegen Null tendiert. Hier sind in der Tat mehr Kenntnisse
und ein engeres Verhältnis notwendig.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer Kritikpunkt, den ich hier anzuführen habe,
betrifft die katastrophale und verheerende Naturschutz-
politik dieser Bundesregierung,


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist wohl wahr!)

die das Eigentum missachtet, den gut funktionierenden
Vertragsnaturschutz vernachlässigt, zurückdrängt und
allem ein Ordnungsrecht überstülpt. Dies hat natürlich
nicht mehr die Bereitwilligkeit der Landwirte zur Folge,
wie das beim freiwilligen Naturschutz der Fall ist.


(Zuruf von der SPD: Dort müssen auch Verträge gemacht werden!)


Ebenso ist für uns Liberale das Verschenken von Land
bzw. Forstflächen an Greenpeace absolut unakzeptabel.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Flächen gehören privatisiert. Nur dann werden sie
auch entsprechend bewirtschaftet werden.

Die Liste der Kritik an der Bundesregierung ist fast
endlos: Ich nenne als weiteres Beispiel das Stop-and-go
bei der grünen Gentechnik. Weiß eigentlich der Herr
Bundeskanzler, dass die Wirtschaft verlässliche Rahmen-
bedingungen braucht und mit einer auf Stimmung ange-
legten Politik nichts anfangen kann? Bei den Pflanzen-
züchtern haben wir gestern Abend gehört, dass die
Wirtschaft daraus bereits ihre Konsequenzen zieht und
mit ihren Forschungsabteilungen auswandert. Die sind
bereits über den großen Teich! Die F.D.P. hat klare
Vorstellungen zur grünen Gentechnik sowie zum Verhält-
nis von Eigentum und Naturschutz. Wir bringen noch vor
der Sommerpause erneut den Antrag ein, den Tierschutz




Ulrich Heinrich

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in das Grundgesetz aufzunehmen. Wir wollen erneut die-
sen Anlauf unternehmen; ich will, dass dieses Haus da
wirklich Farbe bekennt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


– Ich bedanke mich für den Beifall. Wir wissen, dass wir
hier schon seit längerer Zeit auf der gleichen Linie liegen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Wir vermissen bei der Bundesregierung aber eine klare

Aussage, wie sie die Agrarpolitik in der Zukunft gestalten
will. Nur ein bisschen mehr Öko reicht nicht aus. Ein An-
satz von 130 Millionen DM, um eine Agrarwende herbei-
zuführen, die ihren Namen auch verdient, ist mehr als be-
scheiden. Ich wiederhole mich: Das wird nur ein bisschen
mehr Öko und sonst nichts erreichen.

Die Voraussetzungen für die Einführung der Modulation
fehlen, weil sich bis auf eine Ausnahme alle Bundesländer
dagegen ausgesprochen haben. In der Agrarministerrunde
der Länder hat man sich nur auf Selbstverständlichkeiten
geeinigt. Da können wir alle mitziehen. Diese Eckpunkte,
die großartig herausgestellt wurden, nämlich Verbraucher-
schutz, Tierschutz und Umweltschutz, können wir alle so
lange mittragen, wie sie allgemein und unverbindlich for-
muliert werden. Im Detail ist überhaupt nichts geregelt. Das
ist auch kein Wunder; denn eine so weit reichende Rege-
lung, die in die Einkommen der Landwirte und in die Struk-
turen eingreift, darf nicht übers Knie gebrochen werden.
Hier muss sehr sorgfältig recherchiert und müssen auch
wissenschaftliche Erkenntnisse mit eingebaut werden. Es
darf nicht sein, dass dies schon zum 1. Januar 2002 zur An-
wendung kommen soll. Ich bin absolut dagegen. Das ist
verfrüht.

Lassen Sie mich nun noch einige Ausführungen zu un-
serem eigenen Entschließungsantrag, der heute an den
Ausschuss überwiesen werden soll, machen. Er beinhal-
tet klare Aussagen zur zukünftigen Agrarpolitik. Im
Mittelpunkt steht für uns der unternehmerisch han-
delnde Landwirt. Dazu gehört, dass man ihm den nöti-
gen Freiraum wieder zurückgibt, den Wettbewerb stärkt,
ihn von überflüssigen Kosten und von überbordender
Bürokratie entlastet, Verbrauchersicherheit durch verbes-
serte Produkthaftung herstellt und Zertifizierungssysteme
einführt, um die Lebensmittelherstellung zu verbessern, –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603100
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Heinrich.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1417603200
– und die Europäische
Union – das ist der letzte Punkt – vor dem Hintergrund ih-
rer Osterweiterung und der anstehenden WTO-Runde
handlungsfähig macht. Diese Voraussetzungen brauchen
wir.

Ich empfehle, weil meine Redezeit abgelaufen ist,
dazu die detaillierten Vorschläge der F.D.P.-Fraktion im
Entschließungsantrag zu lesen, gemäß denen produktbe-
zogene Förderungen abgebaut bzw. abgeschafft werden
sollen und stattdessen eine Kulturlandschaftsprämie ein-
geführt werden soll.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Der letzte Satz war gut, Herr Kollege!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603300
Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Präsident!
Meine Damen und Herren, insbesondere Herr Heinrich!
Ich habe zu keinem Zeitpunkt – auch nicht in der
Regierungserklärung – behauptet, dass es eine Agrarwen-
departy gibt und dass wir sozusagen nach Jahrzehnten
verkrusteter Politik nach drei oder vier Monaten sagen
könnten: Ab heute ist alles anders.


(Zurufe von der CDU/CSU und F.D.P.)

Diese Agrarwendeparty wegen des einen Ereignisses wird
es nicht geben.


(Zuruf von der F.D.P.: Das haben wir anders im Ohr! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Was ist denn eigentlich los, meine Herren? Nervös,
oder was? – Ich habe schon in der Regierungserklärung
gesagt, dass wir bei dem Agrarwendeprozess durch ein
langes Tal gehen werden. Zu Ihrer Verwunderung, Herr
Heinrich, werde ich mich jetzt ausdrücklich bei Ihnen be-
danken, und zwar nicht für Ihre Rede, sondern für Ihren
Antrag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich meine, Sie unterstützen mit Ihrem Antrag meine und
unsere Politik.

Erstens. Sie fordern uns auf, ein schlüssiges Konzept
vorzulegen, um die bisherige produktbezogene Förderung
durch eine flächenbezogene Bewirtschaftungsprämie
zu ersetzen. – Daran arbeiten wir. Guten Morgen, danke
für die Unterstützung!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zweitens. Sie fordern uns auf, Qualitätsmanagement,
Ökoaudit, Zertifizierung und eine konsequente Produkt-
haftung stärker zu verankern. – Danke für die Unterstüt-
zung. Daran arbeiten wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Drittens. Sie fordern uns auf, durch regionale Her-
kunftszeichen für Agrarprodukte neue Vermarktungs-
chancen zu nutzen und auszubauen. – Auch daran arbei-
ten wir. Eine Aufgabe der CMA wird die regionale
Vermarktung sein, weil sie nicht deutsche Produkte ver-
markten darf. Für Vermarktungschancen und Ähnliches
geben wir Geld aus. Danke für die Unterstützung.




Ulrich Heinrich
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Viertens. Wir sollen die Vorschläge zur so genannten
Modulation, die zu Prämienkürzungen von bis zu 20 Pro-
zent führen würden, zurückziehen und überarbeiten. Ich
schlage vor: Ziehen Sie diese Forderung zurück. Ich habe
nie gesagt, dass ich 20 Prozent will.


(Zuruf von der CDU/CSU: Daran arbeiten Sie aber!)


– Ich arbeite an einer realistischen Summe. Damit werden
wir Erfolg haben.

Fünftens. Einen freiwilligen Vertragsnaturschutz kön-
nen wir gerne einführen.

Sechstens. Sie fordern die Einführung eines Öko-
Prüfzeichens nach den Richtlinien der EU in Deutsch-
land und die Verschärfung der Richtlinien. – Danke für die
Unterstützung. Wenn ich diese Forderung aufnehmen
würde, müsste ich allerdings wochenlang rückwärts lau-
fen. Das habe ich nicht vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Entscheidung ist gefallen. Sie stand in den Zeitungen.
Sie werden kaum glauben: Der Agrarrat hat in Luxemburg
die Kommission aufgefordert, ein Aktionsplan „Ökologi-
scher Landbau für Europa“ vorzulegen. Ich habe vor eini-
gen Wochen mit Herrn Fischler darüber gesprochen – das
ist auch vor zwei Tagen diskutiert worden –, dass die EU-
Öko-Verordnung überarbeitet und verschärft werden soll.
An diesem Punkt ist also Ihr Papier vom 20. Juni überholt.

Nur in einem waren Sie konsequent, nämlich darin,
dass der Antrag der F.D.P. auf grünem Papier verteilt
wurde. Dafür danke ich Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der F.D.P.: Stimmen Sie zu?)


– Ich bin ja schon weiter als dieses Papier.
Nun zu den Fakten, meine Damen und Herren: Die fi-

nanzielle Situation der deutschen Landwirtschaft ist
gut.


(Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Oh!)


– Ja. Sogar der Rindfleischmarkt kommt wieder auf die
Beine. Schlachtkälber kosteten im Mai mehr als vor ei-
nem Jahr, also vor der BSE-Krise. Die Schweine- und Ge-
flügelhalter haben in den vergangenen Monaten wirklich
sehr gut verdient. Die Erzeugerpreise bei Schlacht-
schweinen lagen im Durchschnitt der ersten vier Monate
dieses Jahres um 50 Prozent über den Preisen des Vorjah-
res, bei Schlachtgeflügel lagen sie um 15 Prozent über den
Preisen des Vorjahres. Die Milcherzeuger – das macht
40 Prozent unserer Agrarbetriebe aus – haben von den
höchsten Auszahlungspreisen seit 1992 profitiert. Da
packt Sie der Neid, nicht wahr? Die Auszahlungspreise
für die Erzeuger lagen rund 8 Prozent über den Vorjahres-
werten. Also lassen Sie doch bitte die Kirche im Dorf.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603400
Frau Mi-
nisterin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Nein, ich lasse
keine Zwischenfrage zu. Ich habe zu wenig Zeit.

Knapp 50 Prozent der 82 BSE-Fälle sind in Bayern
aufgetreten. Ich möchte an dieser Stelle Bayern nicht kri-
tisieren, sondern Sie, Herr Miller, ausdrücklich loben,
weil Bayern erkannt hat, dass es bei den Tiermehl-
kontrollen Defizite hatte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der SPD: So ist es!)


In Bayern sind knapp 50 Prozent der BSE-Fälle aufgetre-
ten, es findet dort aber nur 35 Prozent der Rindfleisch-
produktion statt. Bayern ist also an der BSE-Krise über-
proportional beteiligt. Ich möchte das Bundesland Bayern
ausdrücklich für das Programm, das Sie auflegen, loben,
denn damit werden Sie dem Defizit entgegenwirken und
dafür sorgen, dass es in Zukunft Lebensmittel- und Fut-
termittelkontrolleure auch in Bayern gibt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da gibt es bisher schon mehr als in Nordrhein-Westfalen!)


Darüber hinaus hat Bayern noch weitere Vorhaben auf den
Weg gebracht, die man nur loben kann.

Wir haben in letzter Zeit wirklich konsequent und
flächendeckend


(Zuruf von der CDU/CSU: Bauern vernichtet!)

Verbraucherschutz betrieben. – Wenn die Bauern solch
ein Problem hätten, gäbe es doch eine Demonstration.
Gucken Sie einmal hinaus: Dort sind Leute, die die Agrar-
debatte hören wollen und nicht etwa demonstrieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt fast keine mehr, die demonstrieren könnten!)


– Das ist nun wirklich Quatsch. Dann hätte Herr
Sonnleitner doch Trauer, wenn es keine mehr gäbe. Er
vertritt ja einen großen Verband.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es geht um die Kleinen! Das ist Zynismus!)


– Passen Sie einmal mit Ihren Zwischenrufen „Kleine“
auf. Können Sie mir sagen, woran denn die kleinen
Höfe kaputtgehen? Doch nicht an einer neuen Agrarpo-
litik!


(Zuruf von der CDU/CSU: An Ihrer Politik!)

Die sterben seit Jahren, weil Sie ihnen keine Perspektive
gegeben haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir haben eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen: das
BSE-Maßnahmengesetz, Vorsorgeverordnung, Tests, die
Ausweitung der Liste der Risikomaterialien, verschärfte
Kontrollen und Sanktionen.

Ich will mit ein paar Worten auf die letzte Agrarratssit-
zung eingehen. Wir haben uns mehr vorgestellt, und trotz-
dem ist dieser Agrarrat ein guter Rat gewesen. Statt dass




Bundesministerin Renate Künast

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(B)


das Verfütterungsverbot am 30. Juni, also in wenigen Ta-
gen, Ende nächster Woche, geendet hätte, gibt es ein um-
fassendes Verfütterungsverbot für Tiermehl, das noch
eine ganze Zeit lang halten wird, und zwar gegen den Wi-
derstand einer Reihe von Mitgliedstaaten, die gern gutes
Geld mit dem Tiermehlverkauf verdienen würden.

Wir sind bei der Verordnung über tierische Nebenpro-
dukte weitergekommen. Es gibt umfassende Neuregelun-
gen. Wir werden gemeinsam mit den Ländern – und dabei
bitte ich Sie um Unterstützung – eine Menge zu tun ha-
ben, damit diese auch in der Praxis umgesetzt werden und
wir nicht wieder aus England Hinweise bekommen, dass
wir demnächst einen Exportstopp, eine Sperre haben, weil
Risikomaterialien angehaftet sind.

Wir sind gemeinsam mit den anderen Agrarministern
und der Kommission an dem Punkt angelangt, dass wir
sagen können: Wir gehen von der Bestands- zur Kohor-
tentötung. Ich halte das für einen Erfolg. Herr Heinrich,
was Sie gesagt haben, war ein luxurierender Standpunkt.
Denn Sie haben in den Kategorien einer alten Agrarpoli-
tik gesprochen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Nein!)

Sie haben hier von dem tränenden Herz eines jeden

Bauern und einer jeden Bäuerin gesprochen, wenn die
Herde getötet wird. Sie haben aber nicht über den An-
spruch der Verbraucherinnen geredet, wirklich sicher zu
sein, dass wir nur gesundheitlich vertretbares Fleisch in
die Lebensmittelkette kommen lassen – und dafür stehe
ich! Das werden wir immer wieder so tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat doch damit nichts zu tun! – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist kein Widerspruch!)


– Nein, es ist kein Widerspruch, Herr Heinrich.
Ich habe am Anfang des Jahres klar gesagt, und darauf

können Sie sich in den nächsten Jahren verlassen: Wir
prüfen das, wir testen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie schicken Herden von gesunden Tieren in die Müllöfen!)


Wir haben bei der Herauskaufaktion noch einmal circa
90 000 Tiere getestet. Es gab nur ein positives. Wir haben
in Deutschland nur zwei Fälle, in denen die Geburtsko-
horte betroffen ist. Wir haben mit Brüssel zusammen ver-
glichen, welche Erkenntnisse sie dort haben. Das Ergeb-
nis ist: Heute können wir es vertreten, zu sagen, dass wir
auf die Kohorte gehen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Zehntausende haben Sie unnötigerweise vernichtet!)


Wer von mir die Einzeltiertötung haben will, dem sage ich
deutlich: Lassen Sie uns nicht in eine Situation kommen,
bei der wir in einigen Jahren hier sitzen und erklären müs-
sen, dass wir einen Fall von Creutzfeldt-Jakob-Krank-
heit in Deutschland haben und vorher nicht hinreichend
Sicherheit geschaffen haben. Sie alle wissen: Für die Aus-
wirkung von Creutzfeldt-Jakob auf den Menschen ist die
Inkubationszeit noch nicht vorbei. In England sind circa
hundert Menschen daran gestorben. Wir wissen noch

nicht, ob und wie viele in Deutschland sterben werden.
Deshalb bin ich an dieser Stelle beinhart.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das waren Sie vor wenigen Monaten bei der Bestandstötung auch noch!)


Ich weiß, dass mich viele im Parlamentsausschuss über
alle Fraktionsgrenzen hinaus dabei unterstützt haben, und
ich danke dafür.

Wir haben in Brüssel auch bei den Regelungen zum
Tierschutz noch unter schwedischer Präsidentschaft ein
paar Verbesserungen bekommen. Ich hätte gerne mehr ge-
habt; aber in Brüssel ist der Erfolg eine Schnecke: Haupt-
sache, sie bewegt sich. Wir haben jetzt Regelungen für die
Sauen. 12 Millionen Tiere in der EU werden in Zukunft
nicht mehr in Anbindehaltung dastehen, wenn sie trächtig
sind, sondern andere Bedingungen haben. Das ist schon
einmal etwas!

Der nächste Punkt wird sein, dass wir uns mit den
Mastschweinen beschäftigen. Jeder kann in seinem Bun-
desland im Rindermastbereich – in Bayern oder in NRW
oder in Niedersachsen – dafür kämpfen, dass sich als Vor-
wegnahme hier schon etwas verbessert.

Wir haben in den ersten fünf Monaten dieses Jahres bei
Rindfleisch einige Erfolge gehabt. Wir haben am Diens-
tagabend im Agrarrat mit anderen Ländern eines hinbe-
kommen: In den nächsten zwei Jahren werden die
Großvieheinheiten pro Hektar Fläche im Rinderbereich
reduziert. Nicht mehr zwei Tiere werden gefördert, son-
dern nur 1,8.

Das ist ein Schritt, den Sie einmal nach- oder vorma-
chen sollten, Herr Heinrich. Das haben Sie nicht ge-
schafft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist ein Schritt wider alle – auch gegenläufigen – In-
teressen einiger Länder, auch Südfrankreichs. Wir haben
es geschafft, aus der 90-Tier-Grenze etwas Neues zu ma-
chen, nämlich die Knüpfung an Umwelt- und Beschäfti-
gungsaspekte. Und die Steuerzahler fragen: Wofür zahle
ich eigentlich? Wozu muss ich eigentlich Produktion be-
zahlen? Es ist doch eine freie Marktwirtschaft. Nicht
wahr, Herr Heinrich? Wir haben es geschafft, dass in Zu-
kunft ab dem 91. Tier Umwelt und versicherungspflich-
tige Arbeitsplätze zählen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ist das etwa nichts? Ich bin darauf stolz und auch darauf,
dass wir in Deutschland und nicht jemand in Brüssel die
Kriterien festlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben es erreicht, dass im November in Brüssel unter
belgischer Präsidentschaft ein großer Kongress zur Aus-
wertung der Maul- und Klauenseuche und auch zur Aus-
wertung der Impfpolitik stattfinden wird. Ist das etwa
nichts? Sie müssen es erst einmal schaffen, dass sich alle




Bundesministerin Renate Künast
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die, die Interesse an hohen Exporten haben, zum Beispiel
Dänemark in die USA und nach Japan, überhaupt auf die
Debatte einlassen. Das allein ist ein Zeichen für die For-
schung, dass es sich lohnt, den Marker-Impfstoff zu ent-
wickeln. Wer wüsste denn besser als Sie, dass man auch
die finanziellen Interessen der Wirtschaft animieren
muss? Wir haben sie animiert.

Wir haben, deshalb weiß ich gar nicht, woher die Aus-
einandersetzung kommt –


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben sogar eine mit Frau Höhn!)


auf der Konferenz der Agrar- und Umweltminister der
Bundesländer am 13. Juni in Potsdam ein Papier einstim-
mig verabschiedet. Ich weiß gar nicht, wo der Dissens
sein sollte. Ich habe den Eindruck, in den großen, we-
sentlichen Punkten bin ich mir mit den Bundesländern ei-
nig. Das reicht von der Umwandlung in Grünlandprämien
über Tierhaltungsbedingungen bis hin zu dem Punkt, dass
Klärschlamm gar nicht auf die Felder gehört bzw. der
Schadstoffeintrag auf die Felder reduziert werden muss.
Ich habe im Augenblick so viel Geld für die Agrarwende
zur Verfügung, dass sich die Länder fragen, wie sie über-
haupt mitmachen. Das müssen Sie erst einmal hinbe-
kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie haben gar keine Projekte dafür!)


– Doch. – Wir haben Projekte dafür.
Wir haben Kreativität. Selbst in diesem Ministerium

wecken wir die kreativen Kräfte. Sie von der F.D.P. dür-
fen, wenn Sie dazu etwas beizutragen haben, gern mitma-
chen, sollten aber bitte mehr tun, als auf Ihrem grünen Pa-
pier nur unsere alten Positionen von vor drei Monaten
abzuschreiben.


(Lachen des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Wir haben 1,8 Milliarden DM in der Gemeinschafts-

aufgabe, die wir für neue Dinge ausgeben werden. Wir
werden mehr als die Hälfte für Neues ausgeben. Wir ha-
ben beim Haushalt zusätzliches Geld aus dem Bundesfi-
nanzministerium bekommen. Wir werden diese 90-Tier-
Grenze für den Umweltschutz nutzen und wir werden
die Modulation einführen. Wir werden dafür sorgen,
dass die deutschen Bauern nicht wieder die Bremser
sind, sondern dass die deutschen Bauern mit uns ge-
meinsam ihre Zukunft organisieren. Diese heißt: Weg
von den Beihilfen.

Nach der Halbzeitbilanz – im nächsten, übernächsten
Jahr – und nach der Erweiterung der EU, spätestens dann,
wenn die Agenda 2000 im Jahre 2006 ausläuft, wird es
eine andere Agrarpolitik geben, bei der wir gut beraten
sein werden, bis dahin nicht nur Beihilfeempfänger zu
sein, sondern tatsächlich das Neue zu tun. Das Neue heißt
an dieser Stelle, meine Damen und Herren, auch, dass es
auf die Frage der Steuerzahler eine neue Antwort gibt. Die
Steuerzahler haben in der Vergangenheit immer gefragt:
Wofür zahlen wir? Sie haben gesagt: Dafür wollen wir
nicht zahlen. Was glauben Sie, warum es keinen Aufschrei
gegeben hat, als in der Zeitung stand, jetzt bekommt Frau

Künast von Herrn Eichel noch einmal 330 Millionen DM
dazu, anstatt – wie andere Ressorts auch – einsparen zu
müssen?


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das haben Sie vorher schon den Bauern weggenommen!)


Doch nicht, weil die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen
draußen sagen: Das ist eine tolle Idee, immer hinein in den
Agrarbereich!,


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das sind doch gar keine 330 Millionen DM!)


sondern weil sie wissen, das Geld ist bei uns in guten Hän-
den, wir werden es in Zukunft anders ausgeben. Das ist
unser Angebot.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden dafür sorgen, dass diese Gesellschaft zur
Agrar- und Umweltpolitik sagt: Das sind Bauern, denen
wir für ihre Leistungen zahlen, dafür, dass sie die Natur
und die Umwelt erhalten.

Da dürfen Sie in Zukunft gern weiter abschreiben, wei-
terhin kreative Ideen haben. Ich glaube aber, eingeholt ha-
ben Sie uns noch lange nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das war früher in der DDR auch so! Da hat man eingeholt, ohne zu überholen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603500
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich
Heinrich das Wort.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1417603600
Verehrte Kolleginnen und
Kollegen, ich wollte eine Zwischenfrage stellen, aber die
Frau Ministerin hat keine zugelassen. Da bleibt mir nichts
anderes übrig, als eine Kurzintervention zu machen, und
zwar zu dem Bereich, in dem sie mich mehrmals persön-
lich direkt angesprochen hat, nämlich der Kohortentö-
tung bei BSE-befallenen Beständen.

Frau Ministerin, Sie haben es so dargestellt, als hätten
Sie durch Ihre Weigerung, das Schweizer Modell anzu-
wenden, hier mehr Verbraucherschutz durchgesetzt.
Genau das stimmt nicht. Alle Untersuchungen in der Ver-
gangenheit haben gezeigt, dass ein höheres Verbraucher-
schutzniveau nicht allein dadurch erreicht werden kann,
dass man die gesamten Herden schlachtet, sondern dass es
ausreicht, das erkrankte Tier und, wenn es ein Muttertier
ist, die nachgeborenen Kälber sowie den Jahrgang zu tö-
ten. Das heißt im Klartext, es wäre weniger als ein Drittel
aller getöteten Tiere getötet worden, wenn man das auf
dieser Grundlage durchgeführt hätte.

Ich habe das mit Tränen in den Augen nicht nur im
Blick auf die Landwirtschaft gesagt, sondern auch des-
halb, weil es die Gesellschaft insgesamt aufgeregt hat.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Bundesministerin Renate Künast

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(B)


Die Menschen konnten es nicht mehr sehen und nicht
mehr ertragen, mit welcher Medienpräsenz und in wel-
cher Art und Weise die Betriebe belagert und bis zum Ab-
holen der Kadaver begleitet worden sind. Ich weiß nicht:
Haben Sie tatsächlich so ein kurzes Gedächtnis, dass nicht
einmal diese Bilder nach diesen wenigen Monaten zum
Vorschein kommen? Ich habe die Bilder noch nicht ver-
gessen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich habe schon damals klipp und klar gesagt, wir müs-

sen ein anderes Verfahren wählen. Deshalb habe ich mich
jetzt noch einmal zu Wort gemeldet. Ich wollte den Wi-
derspruch noch einmal darstellen, dass Verbraucherschutz
nur durch das System der Tötung der gesamten Herde,
nicht aber durch die Kohortentötung erreicht werden
könne.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603700
Frau
Künast, wollen Sie erwidern?

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603800
Bitte
schön.

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Heinrich, Sie
haben Recht, wenn Sie sagen, dass es einen ungeheuren
Druck der Medien auf die Bauernhöfe gab. Ich bin mit Ih-
nen froh darüber, dass sich die Spannung und der Druck
in dieser Hinsicht gelöst haben. Aber wir wissen beide:
Auch bei einer Kohortentötung wird eine Tötung teil-
weise auf anderen Höfen erfolgen, weil sich Tiere aus ei-
ner Geburtsgruppe manchmal an anderen Höfen als dem,
auf dem positiv getestet wurde, aufhalten.

Ich habe das Beispiel der Schweiz genannt, weil ich
einmal darauf hinweisen wollte, dass man nicht einfach
das Endprodukt eines langen Prozesses aus der Schweiz
übernehmen kann. Die Schweiz hat zehn Jahre lang
systematisch verhindert, dass Tiermehl an Wiederkäuer,
also auch an Rinder, verfüttert wird. Sie hat das systema-
tisch kontrolliert. Sie hat die verschiedenen Risiko-
materialien der Tiere aus der Nahrungsmittelkette ge-
nommen, das Jahr für Jahr weiter definiert und brillante
Kontrollen an den Schlachthöfen durchgeführt. Sie ist da
noch besser und weiter als wir; deshalb können wir von
ihr lernen. Nach circa zehn Jahren hat sie die Tötung auf
die Kohorten reduziert.

Sie werden mit mir übereinstimmen, dass die letzten
Monate seit dem 26. November letzten Jahres, als es den
ersten positiv getesteten BSE-Fall gab, nicht zehn Jahre
systematischer Arbeit sind. Deshalb war ich auch dort
zurückhaltend, weil ich glaube, dass man erst die
Schlachtvoraussetzungen schaffen muss, bevor man den

Verbrauchern sagen kann, dass wir das, was jetzt auf den
Markt kommt, verantworten können.

Aber ich bin mit Ihnen froh, wenn wir gemeinsam
sagen: Von der Schweiz zu lernen ist etwas Positives. Des-
halb hoffe ich, dass Sie mit mir gemeinsam dafür kämp-
fen werden, dass im Bundesrat die Legehennenverord-
nung mit den Stimmen der F.D.P.-regierten Länder
durchkommt; denn von der Schweiz lernen heißt: keine
Eier aus Käfighaltung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417603900
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-
Fraktion.


Kersten Naumann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417604000
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! So viel Übereinstimmung zwischen
Frau Künast und der F.D.P. macht mich schon stutzig,


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Mich auch! – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Uns auch!)


vor allem, wenn ich mir die Politik der F.D.P. ansehe.
Beim Lesen des Agrarberichtes wird es den Landwir-

ten die Tränen in die Augen treiben, aber natürlich keine
Freudentränen, sondern Tränen aus Wut. Was dort in
Worte gefasst ist, geht im großen Bogen an den Haupt-
sorgen der Bauern vorbei. Im letzten Agrarbericht war
Unternehmertum das Hauptanliegen, nun, nach BSE,
wird die Diskussion über eine Agrarwende überstrapa-
ziert. Die Bauern wollen aber keine Kehrtwende hin zu
Strukturen aus Urgroßmutters Zeiten. Abgesehen davon,
dass die Bundesregierung Multifunktionalität und Nach-
haltigkeit in der Nahrungsmittel- und Rohstoffproduk-
tion bislang nicht ernst genug genommen hat, muss sich
Nachhaltigkeit für die Landwirte rechnen, aber auch der
Umwelt und den Verbrauchererwartungen Rechnung tra-
gen.

Meine Damen und Herren von der Regierung, zugege-
ben, in Ihrem Bericht steht viel Positives. Aber die wirt-
schaftliche Situation vieler Landwirte ist so miserabel wie
nie zuvor, und zwar nicht nur aufgrund von BSE. Zu den
Fakten: Erstens. Der langjährige Abwärtstrend der Brutto-
und Nettowertschöpfung hält weiter an. Zweitens. Der
weitere Verfall der Agrarpreise konnte nicht gestoppt wer-
den. Drittens. Die gesetzliche Verpflichtung aus dem
Landwirtschaftsgesetz wurde wiederum verfehlt. Vier-
tens. Die Landwirtschaft wird weitgehend vom Agrar-
business bestimmt. Fünftens. Der Differenzierungspro-
zess in den Agrarstrukturen geht weiter vonstatten.

Zur Unterlegung der Fakten Folgendes: Die Aussagen
zur Wertschöpfung in der Landwirtschaft vermitteln
mit einem Anstieg der Bruttowertschöpfung um 3,7 Pro-
zent und der Nettowertschöpfung um 6,5 Prozent einen
sehr positiven Eindruck. Genauer betrachtet fand aber gar
kein echtes Wachstum statt. Der Anstieg der Bruttowert-
schöpfung ist ausschließlich auf die verringerte Inan-
spruchnahme von Vorleistungen zurückzuführen. Die




Ulrich Heinrich
17246


(C)



(D)



(A)



(B)


Nettowertschöpfung basiert auf gestiegenen Ausgleichs-
zahlungen und Subventionen. Gleichzeitig wurden jedoch
30 000 Arbeitsplätze abgebaut.

Von einem Bericht der Bundesregierung erwarte ich
eine gründliche analytische Arbeit; denn nur im lang-
jährigen Trend wird sichtbar, dass die Bruttowertschöp-
fung stagniert und die Nettowertschöpfung abnimmt. Mit
22,9 Milliarden DM liegt die Nettowertschöpfung immer
noch unter dem Niveau des Zeitraums von 1995 bis 1998.

Auch für den Berichtszeitraum bestätigt sich, was seit
Jahren als eine der Hauptursachen für die ungenügenden
Ergebnisse der wertmäßigen Reproduktion festgestellt
werden muss: Trotz einer gewissen Erholung vom Preis-
schock des Vorjahres auf dem Schweinefleischmarkt zeigt
die mehrjährige Entwicklung kein Ende der Preisschere.
Durch den Preisdruck wird der Konkurrenzdruck zu-
nehmen. Höfesterben, Arbeitsplatzverlust, Billigarbeits-
plätze, Produktionsintensivierung und Monokulturen sind
die Folgen. Viele Betriebe wirtschaften am Rand der ein-
fachen Reproduktion oder leben gar von der Substanz.

Bereits seit Jahren weist die PDS auf die Gefahr hin,
dass der Preisdruck auf die landwirtschaftlichen Produ-
zenten zum Unterlaufen von sozialen und gesundheitli-
chen Standards und ökologischen Anforderungen führt.
Die aktuellen Preissteigerungen für Lebensmittel resultie-
ren weder aus einer Qualitätssteigerung noch aus mehr
Lebensmittelsicherheit und schon gar nicht aus noch
höheren Erzeugerpreisen. Schön wäre es, wenn beim
Bauern tatsächlich etwas mehr Einkommen über Erzeu-
gerpreise ankäme. Aber die Bauern arbeiten mehr und
verdienen weniger. Das Landwirtschaftsgesetz wird nach
wie vor ignoriert. Ich frage mich: Wozu haben wir eigent-
lich Gesetze? Sie sind bestimmt nicht dazu da, dass sie
ständig unterlaufen werden.

Bei einer Neuausrichtung der Agrarpolitik muss der
gesamte Agrarindustriekomplex mit seinen inneren
Machtstrukturen auf den Prüfstand. Im vergangenen Jahr
gab es im Agrarbericht erstmals einen Abschnitt zum
Agrarbusiness. In diesem Agrarbericht ist er weggefallen.
Wahrscheinlich passt Agrarbusiness nicht zur Agrar-
wende. Somit gibt es aber keinerlei Aussagen über den
Konzentrationsgrad und die Gewinnerwirtschaftung in
der Nahrungsmittelindustrie und im Handel. Fakt ist aber:
Die Bauern sind, bezogen auf die Erwerbstätigen in der
gesamten Branche, nur zu einem Viertel an der Nahrungs-
kette bis zum Verbraucher beteiligt.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Weniger!)


Will man aber negative Wirkungen in der Kette ein-
schränken, braucht man konkrete Analysen der ökonomi-
schen Stellung der Partner und ihrer wechselseitigen Ab-
hängigkeiten. Deshalb unterstützt die PDS die Forderung
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, sie in die
Lösung der Krise und Neugestaltung der Agrarpolitik ein-
zubeziehen.

Im Agrarbericht werden die noch immer vorhandenen
spezifischen Probleme der Landwirtschaft der neuen Län-
der unzureichend widergespiegelt. Tatsächlich ist die leis-
tungsfähige ostdeutsche Landwirtschaft so ausgebootet

worden, dass sie gegenwärtig nicht einmal die geringer
gewordene ansässige Bevölkerung ernährt. Bei Liefer-
rechten und Quotierungen sind die ostdeutschen agrar-
wirtschaftlichen Betriebe eindeutig diskriminiert. Der
Anteil ostdeutscher Betriebe an der Verarbeitung sieht
noch schlechter aus. Milch und Fleisch aus den neuen
Bundesländern werden größtenteils im Westen verarbeitet
und kommen dann als veredelte Produkte zurück.

Wettbewerbsfähigkeit und Strukturwandel sind
von der Politik national und EU-weit gewollt. Damit wer-
den Betriebe gegeneinander ausgespielt. Das Preisseg-
ment ist das A und O aller Handlungserfordernisse in der
Region, in der Nation und auf dem Weltmarkt. Vergessen
Sie nicht, dass im Welthandel wie auf kaum einem ande-
ren Gebiet Öko- und Sozialdumping ausgeprägt sind. Da-
mit aber wird der nachhaltige Ansatz permanent unterlau-
fen. Die Bundesregierung sitzt im Grunde genommen in
der Liberalisierungsfalle, nämlich dann, wenn dieser Pro-
zess nicht von Rahmenbedingungen in der gesamten
Branche sozial-ökologisch begleitet wird. Das jedoch
kostet den Bund und die Länder mehr Geld.

Die Gemeinschaftsaufgaben „Agrarstruktur und Küs-
tenschutz“ sowie „Regionale Wirtschaftsstruktur“ müs-
sen stärker verzahnt und vor allem aufgestockt werden.
Als ein gesellschaftliches Erfordernis ist dies nicht nur
dringend notwendig, sondern wird auch vom Steuerzahler
und Verbraucher akzeptiert.


(Beifall bei der PDS)

Wenn man sich vor Augen hält, dass sich Minister

Scharping großzügig aus den Erlösen des Verkaufs von
Liegenschaften und Waffen bis zu einem Betrag von
2 Milliarden DM bedienen kann, dann lesen sich die
330 Millionen DM für die nächsten zwei Jahre für die
Neuausrichtung in der Landwirtschaft wie Peanuts.


(Beifall bei der PDS)

Landwirtschaft hat nicht nur einen Preis, sondern vor al-
lem auch einen gesellschaftlich anzuerkennenden Wert.
Ich hoffe, wir sind uns alle darin einig: Eine Neuaus-
richtung der Landwirtschaft darf nicht auf dem Rücken
der Bauern ausgetragen werden.


(Beifall bei der PDS)

Die PDS fordert im Agrarbericht 2002 und in den Fol-

geberichten erstens, die Analyse der Einkommenssitu-
ation der Landwirte für alle Rechtsformen und einen
Einkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen vorzu-
nehmen, zweitens, regionale Analysen aus Bundessicht
zu erstellen, um die Fortschritte und Probleme bei der
Verwirklichung der angekündigten stärkeren Regiona-
lisierung der Agrarwirtschaft bewerten zu können, drit-
tens, die Entwicklung der Bedingungen und Leistungen
der multifunktionalen Landwirtschaft abzurechnen und
viertens, einen gesonderten Abschnitt zum Agrarindus-
triekomplex aufzunehmen, damit auch der politische An-
satz des „magischen Sechsecks der Agrarwende“ tatsäch-
lich nachvollzogen werden kann.

Die Bauern in diesem Land können sich darauf verlas-
sen, dass sich die PDS dafür einsetzt, dass die Neuaus-
richtung der Agrarpolitik nicht gegen die Interessen der




Kersten Naumann

17247


(C)



(D)



(A)



(B)


Bauern, sondern mit ihnen zusammen gestaltet wird. Ich
erwarte dies natürlich auch von der Bundesregierung.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417604100
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Karsten
Schönfeld von der SPD-Fraktion.


Karsten Schönfeld (SPD):
Rede ID: ID1417604200
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die erfreulichste Entwick-
lung gleich am Anfang: Die landwirtschaftlichen Betriebe
konnten im abgelaufenen Wirtschaftsjahr gegenüber dem
Vorjahr einen erheblichen Gewinnzuwachs verzeichnen,
unterschiedlich zwar je nach Rechtsform, aber in allen
Bereichen positiv, und das deutlich. Bei Einzelunter-
nehmen waren es sogar 13,5 Prozent, bei Personengesell-
schaften und juristischen Personen waren es immerhin
7 Prozent. Ich denke, das ist sehr erfreulich, und das muss
an dieser Stelle festgestellt werden. Die Verluste aus dem
Vorjahr konnten damit mehr als ausgeglichen werden.
Hauptursache für den Einkommenszuwachs waren ein
deutlicher Anstieg bei den Schweinepreisen und höhere
Erlöse aus dem Getreideanbau.

Auch die Betriebe in der Rechtsform der juristischen
Person – meist eingetragene Genossenschaften in den
neuen Bundesländern – konnten ihre wirtschaftliche Si-
tuation verbessern. Rund 27 Prozent der betrieblichen
Aufwendungen dieser Unternehmen – das ist eine inte-
ressante Zahl – entfielen bei diesen Betrieben auf Löhne
und Gehälter. Diese Betriebe bilden weiterhin das Rück-
grat in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer.

Im Vergleich der Bundesländer erzielten Marktfrucht-
betriebe mit relativ geringem Arbeitskräftebesatz in
Mecklenburg-Vorpommern weiterhin das höchste Ein-
kommen je Arbeitskraft. Die niedrigsten Einkommen
waren in Thüringen und in Sachsen zu verzeichnen. Des-
halb, meine Damen und Herren, müssen wir gerade für
diese Betriebe, die in Regionen mit überwiegend be-
nachteiligten Flächen liegen und die mit einem hohen Per-
sonalaufwand wirtschaften, weitere Verbesserungen errei-
chen.

Wir werden bei den anstehenden Reformen, auch in der
Frage der Modulation, dafür sorgen, dass es für diese Be-
triebe nicht noch zu weiteren Belastungen kommt. Wir
werden, wie es in unserem Entschließungsantrag formu-
liert ist, den Faktor Arbeitsplätze entschieden in die künf-
tige Förderstruktur einbringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Aussage von Frau Bundesministerin Künast auf
dem Landesbauerntag in Sachsen-Anhalt, dass Belastun-
gen aus der Modulation nicht einseitig zulasten der land-
wirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern ge-
hen werden, findet deshalb unsere volle Unterstützung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte es allerdings noch etwas deutlicher formu-
lieren: Die einbehaltenen Gelder aus der Modulation
müssen in den jeweiligen Regionen bzw. im jeweiligen
Bundesland verbleiben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Dann dürfen Sie nicht modulieren!)


So, denke ich, werden wir dort eine entsprechende Ak-
zeptanz erzielen. Um das zu erreichen, wird sich die Bun-
desregierung auf europäischer Ebene für die Genehmi-
gung weiterer modulationsfähiger Maßnahmen einsetzen.
Wir werden sie dabei unterstützen. Ich kann Sie von der
Opposition nur einladen, das ebenfalls zu tun.

Wenn wir zurückblicken, dann sehen wir, dass wir
einiges erreicht haben: Mit dem Beschluss zur
Agenda 2000 im Jahre 1999 sind die Rahmenbedingun-
gen für die Land- und Ernährungswirtschaft der EU
einschließlich ihrer Finanzierung bis zum Jahre 2006 ge-
legt worden. Wir haben mit der zweiten Säule der Agrar-
politik jetzt ein gutes Instrument, um Betrieben zu helfen,
unabhängig von der landwirtschaftlichen Produktion zu-
sätzliche Einkommen zu erwirtschaften. Wir haben darü-
ber hinaus die nationalen Gestaltungsspielräume der
Agenda genutzt und die Wettbewerbs- und Leistungs-
fähigkeit der Betriebe gestärkt.

Heute stellt sich die Situation auf den Märkten deshalb
überwiegend positiv dar. Nur der Rindfleischmarkt – das
wissen wir – ist durch die BSE-Krise massiv unter Druck
geraten. Wir haben – das ist schon bei meinen Vorrednern
deutlich geworden – entschlossen gehandelt und Maßnah-
men ergriffen, um die Ausbreitung von BSE zu verhindern,
den Verbraucherschutz zu verbessern und zusätzliche Er-
kenntnisse über die BSE-Infektion zu gewinnen.

Wir Sozialdemokraten haben uns zum Ziel gesetzt, die
Krise als Chance zu begreifen. Wir haben uns von einer
klassischen Agrarpolitik verabschiedet, weil deutlich ge-
worden ist,


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nicht nur da!)


dass sie die Probleme nicht lösen konnte. Wir sind auf
dem Weg hin zu einer Politik für sichere, gesunde Nah-
rungsmittel und hin zu einer umfassenden Politik für den
ländlichen Raum.


(Beifall bei der SPD)

Die Erwartungen der Verbraucher an eine umwelt-

gerechte Erzeugung gesunder Nahrungsmittel waren mit
den Mitteln der alten Agrarpolitik offensichtlich nicht
mehr zu erfüllen. Die BSE-Krise war für viele Verbrau-
cherinnen und Verbraucher ein Anlass, ihr Konsum-
verhalten zu ändern. Auf diesem Gebiet hat ein Um-
denkungsprozess begonnen. Die Verbraucherinnen und
Verbraucher sind heute nicht nur bereit, genauer hinzu-
schauen, was sie an der Ladentheke bekommen, sondern
sie sind auch bereit, dafür mehr Geld auszugeben. Sie
wollen sicher sein, dass die Lebensmittel umweltfreund-
lich und tiergerecht erzeugt worden sind. Das bietet auch
unseren Landwirten neue Chancen. Wir unterstützen un-
sere Betriebe dabei und setzen neue Schwerpunkte in der
Agrarpolitik.




Kersten Naumann
17248


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Entwurf des Agrarhaushaltes sieht für das
Jahr 2002 Ausgaben in Höhe von über 11 Milliarden DM
vor. Trotz weiterhin notwendiger Konsolidierung des Ge-
samthaushaltes und trotz der Entlastung der Bürgerinnen
und Bürger durch die große Steuerreform ist es gelungen,
weitere Mittel im Einzelplan 10 für das Jahr 2002 in Höhe
von 150 Millionen DM und im Jahr 2003 in Höhe von
180 Millionen DM bereitzustellen.

Wir Sozialdemokraten haben immer darauf gedrun-
gen, verstärkt Mittel für einkommenswirksame und
investive Maßnahmen bereitzustellen. Eine zentrale
Rolle in unserer Agrarpolitik spielt deshalb die Gemein-
schaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur und
des Küstenschutzes“. Die Mittel für diese Gemein-
schaftsaufgabe werden wir deutlich anheben. Mit
1,845 Milliarden DM werden wir 2002 deutlich mehr
Mittel als in diesem Jahr zur Verfügung stellen. Wir er-
möglichen den landwirtschaftlichen Betrieben so, die
Chancen zu ergreifen, die sich aus dem geänderten Kon-
sumverhalten der Menschen ergeben. Wir stärken den
ökologischen Landbau und wir verbessern die Förderung
der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung ökologi-
scher Erzeugnisse.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch das Agrardieselgesetz entlasten wir alle land-
wirtschaftlichen Betriebe weiter. Seit dem 1. Januar 2001
gilt ein fester Steuersatz von 57 Pfennig je Liter Diesel-
kraftstoff. Jetzt haben wir eine weitere Absenkung auf
50 Pfennig je Liter auf den Weg gebracht.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal, was die Franzosen und Holländer zahlen!)


– Ein Vergleich mit Frankreich und den Niederlanden ist
nur dann sinnvoll, wenn man alle Bereiche miteinander
vergleicht. Man kann sich nicht immer nur die Punkte he-
rausgreifen, die einem passen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe haben wir
neue Förderprogramme aufgelegt. Wir fördern die Erzeu-
gung von Strom aus Bioenergie durch das Gesetz über den
Vorrang erneuerbarer Energien. Auch hier sichern wir den
Landwirten zusätzliche Einkommensquellen.

Wir stehen vor der großen Aufgabe, unsere Landwirt-
schaft für die Zukunft zu rüsten. Wir müssen die An-
sprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher an die Ge-
sundheit und die Unbedenklichkeit der Nahrungsmittel
ebenso erfüllen wie die einer naturnahen und tiergerech-
ten Erzeugung der Lebensmittel. Gleichzeitig werden die
WTO-Verhandlungen ebenso wie die Osterweiterung der
Europäischen Union ohne jeden Zweifel zu weiterer Li-
beralisierung des Agrarhandels und zur Ausweitung des
internationalen Agrarhandels führen. Wir unterstützen un-
sere landwirtschaftlichen Betriebe, damit sie sich diesen
Herausforderungen erfolgreich stellen können.

Wir sind in der Agrarpolitik auf einem guten Weg. Die
Fakten des vorliegenden Agrarberichts sprechen eine an-
dere Sprache als der von Ihnen hier aufgeführte Popanz.

Wer alles mies redet, braucht sich nicht zu wundern, wenn
niemand oder kaum mehr jemand – das hat der ansonsten
von mir geschätzte Kollege Deß in der gestrigen Aus-
schusssitzung gesagt – bereit ist, in der Landwirtschaft zu
arbeiten. Das hängt mit dem Popanz zusammen, den Sie
hier und auf Bauernversammlungen aufführen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist das Ergebnis Ihrer Agrarpolitik!)


Sorgen Sie lieber dafür, dass die Landwirte auch in den
von Ihren Parteikollegen regierten Ländern erkennen,
dass Sie eine Zukunft haben! Dass die Bauern eine Per-
spektive haben, machen unsere Politik und der Agrar-
bericht deutlich.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417604300
Das Wort
hat jetzt der bayerische Staatsminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, Josef Miller.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr guter Mann!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417604400
Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundesmi-
nisterin Künast fordert die Agrarwende und erläutert dazu
immer wieder, dass sie die deutsche Agrarpolitik in eine
Agrarumweltpolitik umwandeln wolle. Wenn sich diese
Agrarwende allerdings darin erschöpft, im vorliegenden
Agrarbericht die landwirtschaftliche Praxis erstmals mit
Ausdrücken wie „Tierquälerei“ und „Raubbau“ gezielt in
ein schiefes Licht zu rücken, und dazu führt, dass Öko-
produktion, die nach bisherigem deutschem Recht nur in
den Betrieben möglich ist, die ihre gesamten Flächen nach
Maßgabe ökologischer Grundsätze bewirtschaften, auch
in solchen Betrieben erlaubt sein soll, die nur einen Teil
ihrer Fläche ökologisch bewirtschaften, dann wissen un-
sere Bauern, aber auch unsere Verbraucher, was sie von
dieser Bundesregierung zu erwarten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Mich macht die Dreistigkeit, mit der Sie Selbstver-
ständlichkeiten als Erfolg verkaufen wollen, äußerst
nachdenklich. Sie sagen zum Beispiel: Die Agrarminis-
terkonferenz hat einstimmig beschlossen. Ich muss Ihnen
sagen: Die Beschlüsse der Agrarministerkonferenz sind
immer einstimmig. Wenn die Beschlüsse nicht einstim-
mig gefasst würden, kämen sie gar nicht zustande. Be-
schlossene Selbstverständlichkeiten werden als Erfolg
gefeiert. Aber wie will derjenige, der wie die Regierungs-
koalition in der Frage der Modulation nicht einmal die
eigenen Agrarminister hinter sich bringt, jemals in
Brüssel Erfolg haben?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)





Karsten Schönfeld

17249


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Bundesländer werden sich zwar dem Einbau von
mehr Umweltkompetenzen in die deutsche Agrarpolitik
nicht grundsätzlich widersetzen. Aber dies darf nicht zum
Ruin unserer Bauern führen. Der Staat hat schon aus
Gründen der Sicherung einer gesunden Ernährung und ei-
ner intakten Umwelt auch eine Fürsorgepflicht gegenüber
unseren Bauern. Wir können unsere Bauern nicht außen
vor lassen, so wie Sie das mit Ihrer Agrarpolitik tun.

Wer noch mehr Umweltkomponenten als bisher in die
Agrarpolitik integrieren will, muss es entweder in Brüssel
durchsetzen oder er muss es – wie wir das in Bayern tun –
durch eine entsprechende Leistungskonzeption ausglei-
chen.


(Karsten Schönfeld [SPD]: Wir haben ja gesehen, was bei der Leistungskonzeption herauskommt!)


Die Agrarberichte der letzten Jahre zeigen, dass die deut-
schen Bauern keine Zusatzbelastungen mehr ertragen
können.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sehr wahr!)

Wenn Sie, Frau Bundesministerin, Agrarpreise mit Ein-
kommen gleichsetzen und dabei die Produktionskosten
außen vor lassen, muss ich feststellen, dass es mit Ihrem
Sachverstand nicht weit her ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Buh!)


Unsere Bauern können die Modulation nach rot-grü-
nem Muster nicht ertragen. Sie können sie deshalb nicht
ertragen, weil sie bei ihren schwierigen Einkommensver-
hältnissen – siehe Agrarbericht – überproportional belas-
tet würden. Es macht doch keinen Sinn, den Bauern das
Geld aus der einen Tasche herauszuziehen, ohne es durch
einen entsprechenden Ausgleich in die andere Tasche
wieder hineinzustecken.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist nur Bürokratie!)


Das gilt insbesondere für die mittelbäuerlichen Betriebe,
die auf eine Unterstützung angewiesen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gehört schon Mut dazu, sich hierher zu stellen und

zu sagen, die Bauern hätten günstige Produktionskosten,
nachdem die Preise für einen Liter Agrardiesel von
21 Pfennig auf 57 Pfennig angehoben wurden. Die fol-
gende Reduzierung auf 50 Pfennig als Erfolg darzustellen
verlangt ebenso Mut, wenn man sieht, dass in Italien ein
Liter Agrardiesel 16,5 Pfennig kostet. Die Bauern lassen
sich nicht für so dumm verkaufen, wie Sie sich das vor-
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das Gleiche gilt für die bereits geplante Förderung von
330 Millionen DM – auch in diesem Bereich ist in den
letzten Jahren gekürzt worden –, mit der Sie nun zusätzli-
che Umweltleistungen honorieren wollen.

Ich weiß, wovon ich rede. Wir haben in Bayern mit un-
serem Programm „2 000 – Leistungen für Land und
Leute“ bis zum Jahr 2006 800 Millionen DM jährlich für
Umweltleistungen im Agrarbereich aufgewandt. Zudem
hat Bayern mit einer Verbraucherinitiative für zwei Jahre
zusätzlich 600 Millionen DM bereitgestellt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417604500
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Heidi Wright?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417604600
Nein, die Zeit
ist knapp.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417604700
Herr
Staatsminister, es wird nicht auf die Redezeit angerech-
net.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417604800
Nein, ich ge-
statte trotzdem keine Zwischenfrage.

Zwei Drittel der Flächen in Bayern unterliegen beson-
deren Umweltauflagen.Als Ausgleich dafür erhalten die
Bauern 400 Millionen DM.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist wesentlich mehr als da, wo Rot-Grün regiert!)


Wir handeln in unserem Zuständigkeitsbereich verant-
wortlich und warten nicht darauf, bis der Bund halbherzig
Maßnahmen einleitet, die wir schon längst eingeleitet ha-
ben. Ich wehre mich dagegen, wenn man jetzt so tut, als
hätte man mit der Agrarumweltpolitik erst ab diesem Jahr
begonnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Karsten Schönfeld [SPD]: Reden Sie doch mal über den bayerischen Saustall!)


– Ich kann Sie gerne über den bayerischen Weg informie-
ren: Wir haben bereits 1970 Agrarumweltmaßnahmen in
einem eigenen Leistungsgesetz vorgesehen, um den Um-
bau der deutschen Agrarpolitik in eine Agrarumweltpoli-
tik zu unterstützen.


(Karsten Schönfeld [SPD]: Das haben wir in diesem Jahr gesehen!)


Ich zitiere in diesem Zusammenhang Kommissar Fischler
aus „top agrar“, der von einem „wohlfeilen Wortgeklün-
gel“ gesprochen hat.

Ich weise darauf hin: Wenn Sie Ihre Politik so fortset-
zen, wie Sie sie begonnen haben, verschlechtern Sie die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Bauern ganz erheblich.
Tun Sie was, damit unsere Bauern im Wettbewerb in Eu-
ropa bestehen können, und schwächen Sie nicht unsere
Landwirtschaft!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie haben bisher in Brüssel keine Bündnispartner ge-
funden. Mich wundert das nicht. Auch EU-Agrarkom-




Staatsminister Josef Miller (Bayern)

17250


(C)



(D)



(A)



(B)


missar Fischler, einer der Väter der Agrarsozialpolitik in
Österreich, äußert sich ziemlich skeptisch. Darüber hi-
naus konzentrieren sich die Aktivitäten der Bundesregie-
rung zu wenig auf die zentralen Belange der Landwirt-
schaft und der Ernährungswirtschaft in Deutschland.
Allein die Förderung von mehr Ökoproduktion ist zu we-
nig; denn wir sind für die Ernährung von 100 Prozent un-
serer Mitbürger und für 100 Prozent unserer Bauern ver-
antwortlich und nicht nur für 3, 10 oder 20 Prozent.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Mir fehlen vor allem folgende Ansätze:
Erstens. Erforderlich sind hinreichend konkrete Vor-

schläge für Maßnahmen zur Weiterentwicklung der ge-
meinsamen Agrarpolitik im Hinblick auf „mid term
review“, WTO-Verhandlungen, Osterweiterung sowie
Vorschläge zur Ausweitung der Kofinanzierung in der
Agrarpolitik.

Zweitens. Wir brauchen eine starke Vereinfachung des
Fördersystems. Was Sie im Rahmen der Modulation ma-
chen – das haben Ihnen die Kollegen schon gesagt –, ist
undurchführbar.

Drittens. Es fehlen hinreichende Maßnahmen zur Er-
schließung des Non-Food-Marktes und des Dienstleis-
tungsmarktes.

Viertens. Wir brauchen eine Reform des Marktstruk-
turrechts als effektive Voraussetzung für die Entwick-
lung transparenter, geschlossener Produktlinien.

Fünftens. Überfällig ist eine Novellierung des Land-
wirtschaftsgesetzes des Bundes mit dem Ziel der Aus-
schöpfung aller Möglichkeiten der Einkommenssiche-
rung und der Festlegung ökologischer Komponenten.

Sechstens. Erforderlich ist die Zusammenfassung des
Agrarfachrechtes in einem Agrargesetzbuch.

Siebtens. Wir brauchen die Einführung der Kohorten-
keulung.

Zur Neuorientierung der Agrarpolitik auf der Ebene
der Europäischen Union muss Deutschland sein ganzes
Gewicht in die Waagschale werfen. Als Hauptfinanzier
der Europäischen Union darf es Deutschland nicht zulas-
sen, dass eine Wende in der Agrarpolitik auf dem Rücken
der Bauern und am Ende auf Kosten und zulasten unserer
Verbraucher ausgetragen wird. Wenn die Agrarpolitik so
fortgesetzt wird, wird die Zahl der Landwirte drastisch
zurückgehen. Die Folgen haben die Verbraucher zu tra-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Auch das ist leider wahr! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war eine gute Rede! – Gegenruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]: Sie sind mit wenig zufrieden!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417604900
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die
Grünen.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417605000
Sehr
geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Neuerungen,
für die Bayern von Ministerin Künast gelobt wurde, nicht
auf Ihrem Mist gewachsen sein können, Herr Miller. Ich
hatte Verständnis dafür, dass sich die Staatsregierung dazu
entschlossen hatte, einen Verbraucherschutzminister
Sinner einzusetzen. Aber der bayrische Weg, den Sie ver-
folgt haben, hat doch nur dazu geführt, dass es in Bayern
die meisten BSE-Fälle gibt – ein Skandal –, wie die für
Bayern desaströsen Ergebnisse von Kontrollen der EU-
Kommission zeigen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: In Bayern ist mehr kontrolliert worden als in Nordrhein-Westfalen!)


Sie sind nicht der Protagonist einer zukunftsfähigen
Landwirtschaft. Aber Sie können ja noch dazulernen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Heute stimmen wir im Bundestag über Anträge bezüg-
lich einer Agrarreform ab. Es soll eine neue Verbraucher-
schutz- und Agrarpolitik geben. Der Bundestag fordert die
Bundesregierung auf, die Modulation einzuführen. Herr
Minister Miller, damit gibt der Bundestag der Ministerin
Künast die notwendige Rückendeckung, um dieses In-
strument einzuführen. Es ist der politische Wille nicht nur
der Grünen, sondern auch der Koalitionsfraktionen, der
Bundesregierung und der Gesellschaft, die Modulation
und weitere Elemente der Neuausrichtung der Agrarpoli-
tik einzuführen.

Die Notwendigkeit, dieses Instrument einzuführen, er-
gibt sich auch aus der Tatsache, dass das bisherige System
schlicht und ergreifend nicht mehr finanzierbar ist, dass die
Osterweiterung im Jahre 2004 ansteht und dass es daher
eine Neuorientierung geben muss, die gerade im Bereich
der finanziellen Förderung ansetzt. Dieses bisherige Sys-
tem ist auch nicht mehr haltbar, weil im Rahmen der WTO-
Verhandlungen – das ergab sich auch schon im Rahmen der
Uruguay-Runde – Bedingungen gestellt wurden, die be-
wirken, dass das alte System nicht mehr aufrechterhalten
werden kann. Es gibt also eine unabweisbare Notwendig-
keit, in Deutschland eine Neuausrichtung vorzunehmen.

Der Agrarbericht zeigt auch, dass die in einigen Punk-
ten beklagenswerte Situation der landwirtschaftlichen Be-
triebe durch die Politik der alten Bundesregierung verur-
sacht wurde. Dies zeigt sich vor allem an der hohen Zahl
sterbender Betriebe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir brauchen neue Perspektiven und auch eine Politik,
die verhindert, dass es weitere kontraproduktive Fehl-
allokationen


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Noch einmal!)


im Bereich der Agrarförderung gibt, zum Beispiel ein
Durchreichen der Fördermittel an die Grundstücksei-
gentümer. Das Eigentumsrecht ist in Ordnung. Aber es




Staatsminister Josef Miller (Bayern)


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muss doch keine staatlich subventionierte Förderung von
Landeigentum geben, wie die F.D.P. es will.

Es kommt also notwendigerweise zu einem Abbau der
Garantiezahlungen. Daher sind wir alle in der Verant-
wortung. Das betrifft auch die Opposition. Das betrifft vor
allem die Bundesländer, die an diesem Prozess und an
dem Instrument der Modulation konstruktiv mitwirken
müssen;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn sonst werden gerade die Elemente, die von den Län-
dern gefordert werden, nicht installiert werden können.
Das geht nur bei entsprechender Mitwirkung.

Ich will einen Satz zu der 90-Tier-Grenze sagen. Ich
bin sehr dafür, Elemente, die Arbeitsplätze fördern, ein-
zuführen. Ich schlage vor, noch einmal darüber zu disku-
tieren, ob man es gerade im Bereich Bullen machen sollte,
in dem es eine sehr geringe Verbindung zu dem Arbeits-
kräftebesatz gibt. Man sollte überlegen, dies im Bereich
der Einnahmeseite der Modulation zu machen. Zumindest
geht das und ist sicherlich überlegenswert.

Das bisherige System hat keine Akzeptanz. Die neue Po-
litik muss die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen.
Dazu gehören Lebensmittelsicherheit und -qualität, Tier-
schutz, Kulturlandschaftspflege und natürlich auch Wirt-
schaftskraft und Arbeitsplätze. Dazu bedarf es einer Strate-
gie, die wir entwickeln müssen, was in der Vergangenheit
leider nicht geschehen ist.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Völlig falsch!)


Es ist schon richtig: Verbote und reine Ordnungspolitik
sind Elemente, die auch Abwanderung – beispielsweise im
Bereich der Tierhaltung – zur Folge haben können und da-
her mit anderen Maßnahmen verbunden werden müssen.

Die Grenzen dicht zu machen, wie die CSU es immer
wieder fordert, geht nicht. Daran denkt niemand. Übri-
gens ist der letzte Punkt in dem Antrag der CDU/CSU
wieder so ein Punkt, der im Rahmen der internationalen
Politik überhaupt nicht zu realisieren ist.

Hingegen ist es möglich – darauf setzen wir hauptsäch-
lich –, die Verbraucher für die neue Politik zu gewinnen
und Anreize für neue Produktionsverfahren zu schaffen.
Für diese Politik braucht man Konzepte, die die Bun-
desregierung liefert, und man braucht Geld, und zwar ei-
nerseits aus der Modulation und andererseits aus dem
Bundeshaushalt. Hier ist das passiert, was Renate Künast
gesagt hat. Sie hat nämlich erreicht, dass der Bundes-
finanzminister für Investitionen in die Neuausrichtung
Mittel in einem Rahmen zur Verfügung stellt, den man
angesichts der erforderlichen Konsolidierung des Bun-
deshaushalts nur als riesigen Erfolg und riesige Unter-
stützung für die Politik der Landwirtschafts- und Ver-
braucherministerin werten kann.

Unsere Neuausrichtung der Agrar- und Verbrau-
cherpolitik basiert auf vier Säulen. Eine Säule ist: Ver-
braucherschutz, Transparenz und Lebensmittelsicherheit.
Eine andere ist, im Bereich der konventionellen Produk-
tion die Wettbewerbsfähigkeit für umwelt- und artge-

rechte Produktion zu verbessern. Der Ökolandbau soll als
eine der vier Säulen gefördert werden. Eine weitere Säule
ist, neue Perspektiven im Bereich der erneuerbaren Ener-
gien zu straffen.

Ich will nur zu zwei Punkten etwas sagen, und zwar
zunächst zum Bereich Verbraucherschutz und Transpa-
renz: Diejenigen, die sich jetzt hier hinstellen und die Mi-
nisterin und uns anklagen, BSE-Schutzmaßnahmen
durchgeführt zu haben, Herr Heinrich, sind genau die Rat-
tenfänger, die vorher gesagt haben, BSE-Maßnahmen
seien gar nicht nötig, Deutschland sei BSE-frei.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Mein Name in Verbindung mit Rattenfänger, das nehmen Sie sofort zurück!)


Dass der Tierschutz als Vorwand für die Beendigung der
Seuchenbekämpfungspolitik in Fällen von für Menschen
gefährlichen Krankheiten genommen wird, ist etwas, was
ich nicht unterstützen möchte.

Der andere Punkt ist folgender: Sie fordern – die Mi-
nisterin hat es schon erwähnt – eine Unterstützung des
ökologischen Landbaus. Das ist im Bereich des Öko-
siegels bereits realisiert worden und es gibt einen Akti-
onsplan für den ökologischen Landbau.

Durch die vielen Elemente, die in den sechs Monaten,
die die Ministerin im Amt ist, bereits realisiert worden
sind, hat die Bundesregierung mehr Reformen durchge-
führt, als es in der gesamten Regierungszeit der alten Bun-
desregierung der Fall gewesen ist, Reformen, die wirklich
in dem Sinne sind, wie Verbraucher, Steuerzahler, Tier-
schützer und die Menschen in diesem Lande sich Ver-
braucherschutz und Agrarpolitik wünschen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417605100
Als
nächster Redner hat der Kollege Peter Harry Carstensen,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU) (von
Abgeordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der
Debatte hat mir bisher ein Wort von Uli Höfken am besten
gefallen: die kontraproduktive Fehlallokation. Ich stelle
mir gerade vor, ich verwendete diesen Begriff in meinem
Wahlkreis; insoweit wäre ich dankbar, wenn man mir die
Bedeutung dieses Begriffes erklärte und vielleicht noch
eine plattdeutsche Übersetzung mitlieferte. Ich weiß
nicht, was es ist, und weiß noch nicht einmal, ob ich es
richtig geschrieben habe; aber es hörte sich zumindest
gut an.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach einem Semester Jura müsstest du das schaffen!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will aus
meinem Herzen keine Mördergrube machen und habe




Ulrike Höfken
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auch nicht vor, vielen Dingen hinterherzulaufen, die in der
Agrarpolitik von manchen Seiten vorgetragen werden.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Anderes sind wir von Ihnen auch nicht gewohnt!)


Ich nehme zu einigen Punkten Stellung, die von Ihnen,
Frau Ministerin, und von der Frau Kollegin Wolff ange-
sprochen worden sind.

Sie haben davon gesprochen, Frau Ministerin, dass die
Einkommenslage in der Landwirtschaft gut sei. Sicherlich
gibt es bei Milch gute Ergebnisse und bei Schweinen da-
durch, dass nicht mehr so viel Rindfleisch verzehrt wird,
ebenfalls. Bei Getreide wissen wir es noch nicht, weil die
Ernte noch aussteht. Aber ich sage Ihnen auch, dass wir
bei denjenigen extrem schlechte Ergebnisse haben, die
Rindfleisch produzieren. Sie haben nichts davon, dass es
in anderen Bereichen gute Ergebnisse gibt.

Dies führt ebenso wie Ihre Politik und die Unsicher-
heiten, die diese Politik verursacht, dazu, dass mir zum
Beispiel der größte Landmaschinenhändler in Schleswig-
Holstein sagte, dass er in diesem Jahr 33 Prozent weniger
Schlepper verkauft habe. Das bedeutet, dass aus der
Landwirtschaft heraus keine Investitionen getätigt wer-
den.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei dem Schlepperbesatz ist das ja wohl zu ertragen! – Matthias Weisheit [SPD]: Wegen des Rindfleischs?)


– Matthias, ‘n büschen zuhören, min Jung! Das hast du
früher zu deinen Jungs auch immer gesagt, als du noch
Lehrer warst.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das hat mit der Stimmung in der Landwirtschaft und der
Unsicherheit zu tun, die von dieser Politik ausgeht; die
Landwirte wissen nämlich nicht genau, wohin die Reise
geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Mehrere Wenden in einem Jahr führen dazu, dass die
Leute nicht mehr wissen, in welche Richtung es geht.

Sie haben vorhin gesagt, von der Schweiz lernen, hei-
ße – – Ich weiß nicht mehr genau, was es war.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legehennen!)


– Legehennen, richtig. Von der Schweiz lernen, heißt aber
auch, Eier zu importieren lernen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!)

Das bedeutet, keine Produktion mehr im eigenen Land zu
haben, sondern sie aus dem Land hinauszujagen.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Der Import hat sich verzehnfacht!)


Frau Ministerin, Sie und auch Uli Höfken haben ein
Defizit bei den Tiermehlkontrollen in Bayern angespro-
chen. Nun will ich mich dazu nicht äußern. Ich glaube nur,
dass dann, wenn die Kommission – das wissen Sie – wo-

anders kontrolliert hätte, die Ergebnisse wesentlich
schlimmer ausgefallen wären.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist ja Spekulation!)


– Nein, ich sage dazu noch etwas. – Deswegen halte ich
es für unfair, bei diesem Punkt immer auf Bayern einzu-
schlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In Schleswig-Holstein gab es bis 1996 zwei Futtermit-
telkontrolleure. 1996 wurde einer pensioniert oder war
auf Dauer krank; die Stelle wurde nicht wieder besetzt.
Im schleswig-holsteinischen Haushalt waren für die Fut-
termittelkontrolle 360 000 DM veranschlagt. Von dieser
Summe wurden im Jahre 2000 35 000 DM ausgegeben,
davon 30 000 DM für Bodenproben. Angesichts dieser
Tatsache ist es nicht fair, Bayern den schwarzen Peter
zuzuschieben und zu sagen, dort sei es besonders
schlimm.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Frau Ministerin, Sie haben die Luxemburger Be-

schlüsse zum Thema Tiermehlverfütterungsverbot gelobt.
Ich zitiere dazu die „FAZ“:


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Von heute?)

Die Sitzung in Luxemburg war noch keine drei Stun-
den alt, da hatte die Verbraucherschutzministerin
Renate Künast schon drei Abstimmungsniederlagen
hinnehmen müssen.

Im Weiteren wird geschrieben, dass das beim Mehr-
heitsprinzip des Öfteren vorkomme. Aber dass sich ein
Vertreter der Bundesregierung gleich bei drei wichtigen
Gesetzesvorlagen eine Abfuhr für seine Änderungswün-
sche holt und ein nutzloses Nein zu Protokoll geben muss,
das kommt nicht alle Tage vor.

Besonders schwer wiegt für Frau Künast die Nieder-
lage in den Verhandlungen über das Tiermehlverbot.
Schließlich ist das auch eine Schlappe für Bundeskanzler
Gerhard Schröder. Nun kann man natürlich fragen, wie
und warum sie entstanden ist. Frau Ministerin, diese Nie-
derlage ist auch ein Zeichen dafür, dass der Stellenwert
der deutschen Position im Agrarministerrat nicht mehr der
gleiche wie früher ist,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

als wir CDU-Landwirtschaftsminister hatten, aber auch
nicht mehr der gleiche wie in der Zeit, als Karl-Heinz
Funke noch Minister war. Es ist schon ein besonderer
Vorgang, dass bei Abstimmungen in diesem Agrarmini-
sterrat ohne Skrupel und ohne Zögern über deutsche Po-
sitionen hinweggegangen und abweichend davon abge-
stimmt wird. Frau Ministerin, darüber sollten Sie sich
Gedanken machen.

Ich finde es auch sehr bemerkenswert, dass Sie es nicht
für nötig hielten, bei der Debatte zum Tiermehlverfüt-
terungsverbot die Diskussion über die Tierfette einzu-
bringen. Frau Ministerin, Sie sagten gerade, Verbraucher-
schutz bedeute für Sie, dass nur gesundheitlich
vertretbares Fleisch in die Nahrungsmittelketten hinein




Peter H. Carstensen (Nordstrand)


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(B)


gebracht werde. Wenn wir insoweit über Wettbewerbs-
fähigkeit sprechen, dann muss man sich fragen, ob es für
Sie vertretbar ist, dass Milchaustauscher mit bei uns ver-
botenen Fetten in Holland und anderen Ländern einge-
setzt werden können und anschließend die Kälber bei uns
auf den Markt kommen und bei uns gemästet werden kön-
nen.

Man muss sich ferner fragen, ob es für Sie vertretbar
ist, dass die Diskussion über Fischmehl in anderen Län-
dern in völlig anderer Weise als bei uns geführt wird,
dass Rindfleisch bei uns getestet wird, sobald die Rinder
24 Monate alt sind, während in anderen Ländern ledig-
lich das Fleisch von 30 Monate alten Rindern getestet
wird oder überhaupt nichts geschieht, und dass wir im-
mer noch argentinisches bzw. südamerikanisches Rind-
fleisch bekommen, das überhaupt nicht getestet ist, ob-
wohl wir wissen, dass gegen Maul- und Klauenseuche
geimpft wird, sodass wir den Verbrauchern eigentlich
sagen müssten, dort gelte ein anderer Standard als bei
uns.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Frau Ministerin, Sie haben mit Stolz vermerkt, dass
Sie mehr Geld im Haushalt haben. Sie haben aber auch
viel mehr Aufgaben bekommen. Wenn ich das Mehr an
Aufgaben in Ihrem Ministerium dem Mehr an Geld
gegenüberstelle, dann ergibt sich daraus aber, dass Sie
weniger Geld für die Agrarpolitik und für unsere Bauern
zur Verfügung haben, wenn Sie die zusätzlichen Aufga-
ben erfüllen wollen. Das müssen Sie den Bauern aber
auch sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Sie haben erwähnt, dass die 1,8 Milliarden DM für die
Gemeinschaftsaufgabe ein für Sie ganz wichtiger Posten
sind. Ich halte die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für eine ganz
wesentliche Aufgabe. Aber Sie müssen dann auch sagen,
was die Länder mit diesem Geld machen, ob sich die Län-
der überhaupt an den Ausgaben für die Gemeinschafts-
aufgabe beteiligen und ob diese Ausgaben auch in Ihrem
Sinne sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Ich erinnere daran, dass Schleswig-Holstein im letzten

Jahr von den reichlich 90 Millionen DM, die es aus der
Gemeinschaftsaufgabe erhalten hat, 9,3 Millionen DM
nicht ausgegeben hat.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört, hört! – Das kann doch nicht wahr sein!)


Rechnet man zu diesen 60 Prozent die 40 Prozent Lan-
desmittel hinzu, ergeben sich Zuschüsse in Höhe von
15 Millionen DM für die Landwirtschaft, meinetwegen
auch für die Umstrukturierung der Landwirtschaft. Aber
nichts davon ist ausgegeben worden.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Wer regiert denn dort?)


Weil wir immer davon sprechen, dass die Agrarwende
dazu führen soll, dass wir mehr ökologischen Landbau be-
kommen,


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das muss doch eine rot-grüne Regierung sein!)


erinnere ich auch daran, Frau Ministerin, dass in diesem
Bereich ebenfalls einige Ausgaben vorgesehen sind.
Schleswig-Holstein hat für die Förderung des ökologi-
schen Landbaus im letzten Jahr 930 000DM ausgegeben.


(Matthias Weisheit [SPD]: Der Wahlkampf ist doch vorbei!)


Dagegen hat der Freistaat Bayern – lieber Kollege
Weisheit, Sie werden das sicher gleich lobend erwähnen –
für die Förderung des ökologischen Landbaus 44 Milli-
onen DM ausgegeben. Das sind Zahlen, die sich sehen
lassen können!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Herr Minister Miller sprach Geld für Naturschutzauf-
gaben an.


(Detlev von Larcher [SPD]: Er vergleicht Äpfel mit Birnen! Ja, min Jung!)


– Nein, mein Lieber, das glaube ich nicht. Nehmen Sie das
erst einmal so hin. Warten Sie, bis der nächste Vergleich
kommt.

Bis vor einigen Jahren gab es die Richtlinie 2078 der
Europäischen Union. Diese Richtlinie beinhaltete, dass
man Geld für Umweltmaßnahmen im Bereich der Land-
wirtschaft ausgeben konnte, Herr Minister Miller. In Bay-
ern, in Baden-Württemberg und – um nicht nur die west-
deutschen Länder zu nennen – in Sachsen


(Albert Deß [CDU/CSU]: Und in Thüringen!)

– bei Thüringen weiß ich es im Moment nicht – sind über
400DM je Hektar ausgegeben worden. In Schleswig-Hol-
stein wurden 31 DM pro Hektar ausgegeben,


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört, hört!)

in Niedersachsen 29 DM pro Hektar. Stellen Sie sich bitte
nicht hier hin und sagen, Sie wollten eine Agrarwende,
sondern sagen Sie das erst einmal Ihren roten und grünen
Freunden, damit sie das machen, was sie bei Ihnen ma-
chen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Albert Deß [CDU/CSU]: Rotgrüne Sprücheklopferei!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417605200
Herr Kol-
lege Carstensen, kommen Sie bitte zum Schluss.


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1417605300
Herr
Präsident, ich habe es schon gemerkt. Ich konnte meine
fantastisch vorbereitete Rede zur Seite legen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Ich glaube, es war notwendig, auf einige Punkte hinzu-
weisen.




Peter H. Carstensen (Nordstrand)

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(A)



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Frau Ministerin Künast, hier hat niemand etwas gegen
ökologischen Landbau.


(Detlev von Larcher [SPD]: Na, na!)

Der ökologische Landbau verzeichnet einen Boom. Viele
haben aber etwas dagegen, dass dieser Boom zusätzlich
unterstützt wird und dass dieser dazu führt, dass 97 bis
98 Prozent unserer Landwirte durch Äußerungen, wie Sie
sie im „Stern“ gemacht haben, diskreditiert werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417605400
Als
nächster Redner hat der Kollege Matthias Weisheit von
der SPD-Fraktion das Wort.


Matthias Weisheit (SPD):
Rede ID: ID1417605500
Herr Präsident! Ge-
schätzte Kolleginnen und Kollegen! Das lief mal wieder
so ab, wie es zu erwarten war.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Zahlen lügen nicht!)

Als ich den Antrag der F.D.P.-Fraktion gelesen habe, habe
ich mich gewundert. Der Kollege Heinrich brennt hier ein
Feuerwerk an Negativäußerungen über die Regierung und
die Koalition ab;


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Immer gut zuhören! – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Zu Recht!)


dies geht beim Kollegen Miller nahtlos weiter.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die Rede des Herrn Miller war sehr gut!)

Bei den Kollegen Carstensen und Ronsöhr habe ich oh-
nehin nichts anderes erwartet. Ganz am Schluss kommt in
Ihrer Rede eine Auflistung all der Forderungen Ihres An-
trages, die wir, seit wir an der Regierung sind, in Brüssel
umzusetzen versuchen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Davon habe ich noch nichts gehört!)


– Natürlich. – Diese wurden vorher niemals angegangen.
Erst einmal muss alles niedergemacht werden, um danach
flugs dieselben Forderungen zu stellen,


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Welche Forderungen denn?)


um dabei gewesen zu sein, weil Sie genau wissen, dass
das, was die Regierung als Agrarwende bezeichnet – ich
bezeichne es eher als Neuorientierung der Agrarpolitik –,
in Brüssel und bei uns durchgesetzt werden kann. Da kön-
nen Sie schreien und lamentieren, soviel Sie wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Agrarbericht bietet die Chance dazu, das zu tun,
was die Opposition gemacht hat. Er bietet aber auch die
Chance, ein wenig in die Zukunft zu blicken.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das, was ihr gemacht habt, haben wir euch gesagt!)


Die BSE-Krise und die anschließenden öffentlichen
Diskussionen um BSE haben deutlich aufgezeigt, dass es
eine riesige Diskrepanz gibt zwischen dem, was sich eine
große Mehrheit der Bevölkerung und der Verbraucher un-
ter landwirtschaftlicher Lebensmittelproduktion vorstellt,
und den Erwartungen, die sie an die Landwirtschaft hat,
sowie der Realität. Diese Diskrepanz ist durch BSE das
erste Mal sehr deutlich geworden. Daraus gilt es Konse-
quenzen zu ziehen. Ich will nicht darüber philosophieren,
welche Gründe diese Diskrepanz hat und wer dafür Ver-
antwortung trägt. Tatsache ist, dass wir die Agrarpolitik in
der Zukunft so gestalten müssen, dass die Verbraucher-
wünsche nach höchster Sicherheit der Lebensmittel er-
füllt werden und dass die Produktionsprozesse vor allem
in der Tierhaltung und der Fütterung den ethischen Maß-
stäben genügen, die in der Bundesrepublik nun einmal
höher sind als anderswo. Dies gilt auch für die Tier-
schutzmaßstäbe. Das bedeutet, es darf in Zukunft kein
Tiermehl mehr im Futter geben.

Wenn Sie den Erfolg, dass nicht am 30. Juni dieses Jah-
res, sondern erst am 31. Dezember des nächsten Jahres
wieder neu über das Tiermehl geredet wird und sein Ein-
satz bis dahin verboten bleibt, auch mithilfe der „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“ – was soll sie auch anderes
schreiben, es ist schließlich Ihre Zeitung –


(Lachen bei der CDU/CSU)

niederreden wollen, dann tun Sie genau das, was Sie auch
gegenüber den Bauern immer tun: Sie malen Schwarz und
sagen, es gehe nicht mehr schlimmer. Sie behindern damit
jeglichen Fortschritt und jegliche Zukunftsorientierung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417605600
Herr Kol-
lege Weisheit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Carstensen?


Matthias Weisheit (SPD):
Rede ID: ID1417605700
Nein, ich mag heute
nicht. – Es darf, wie gesagt, um diesen Verbraucherwün-
schen gerecht zu werden, kein Tiermehl mehr im Futter
geben, und zwar auch über 2003 hinaus nicht. Dafür wer-
den wir uns einsetzen. Ich bin mir sicher, dass wir das
auch durchsetzen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Oh, oh!)

– Nicht „oh, oh“, sondern da bin ich mir sicher, Uli.

Es muss eine offene Futtermitteldeklaration geben und
eine Positivliste verbindlich werden. Die Antibiotika
müssen verschwinden, und zwar früher als 2005. Wenn
man im Wissen darum, wie langsam sich die Schnecke EU
bewegt, früher damit angefangen hätte, mit Nachdruck
auf EU-Ebene zu verhandeln, dann wären wir vielleicht
heute schon so weit. Aber es ist eben erst recht spät damit
begonnen worden. Dass inzwischen unsere Bauern – das
hat die Waltraud eben schon gesagt – als Marktwirt-
schaftler schon selber darauf verzichten, ist doch hervor-
ragend. Dann müssen wir das nur noch für die anderen
verbieten. Wir können mit einem deutschen bzw. regio-
nalen Qualitätssiegel unsere Produktion zertifizieren und




Peter H. Carstensen (Nordstrand)


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(D)



(A)



(B)


erreichen dadurch einen Wettbewerbsvorteil für die Be-
triebe. Auf diesem Weg befinden wir uns.

Die Tierhaltungsformen müssen den hohen An-
sprüchen der Bevölkerung gerecht werden. Eine geglie-
derte Kulturlandschaft, die Pflege von Natur, die Sorge
für Artenvielfalt und sauberes Wasser und ein möglichst
geringer Einsatz von Chemie sind weitere Ansprüche der
Gesellschaft, denen Agrarpolitik stärker als bisher gerecht
werden muss. Zukünftig gilt es, hierfür Geld auszugeben.
Der „mid term review“ der EU-Agrarpolitik bietet hierfür
eine große Chance, die ja nicht unbeträchtlichen Steuer-
mittel der EU endlich dafür zu verwenden, gesellschaft-
lich gewollte Leistungen der Landwirtschaft und nicht
wie bisher Produkte angemessen zu entlohnen.

Die bisherige Logik des Preisausgleichs führte doch zu
dem auch sozialpolitisch unverträglichen Zustand, dass
diejenigen Landbewirtschafter – ich wähle das Wort mit
Absicht – mit den besten Böden und den günstigsten
Strukturen den Löwenanteil der Ausgleichszahlungen
kassierten. Das ist die Fehlallokation, Peter Harry, von der
die Rede war. Für die Bewirtschaftung der besten Böden
mit den günstigsten Voraussetzungen und dem niedrigsten
Aufwand bekommt man die höchsten Ausgleichszahlun-
gen. Das ist die bisherige Praxis der EU-Agrarpolitik. Ge-
nau die muss geändert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist doch nicht richtig!)


– Das ist so.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Nein!)

– Natürlich. Diejenigen, die unter schwierigsten Bedin-
gungen – zum Beispiel bei uns im Allgäu, Herr Minister
Miller, oder im Bayerischen Wald – Kultur- und Erho-
lungslandschaften pflegen und damit eine sehr wichtige
und gesellschaftlich gewollte Leistung erbringen, bekom-
men von der EU nur die Brosamen, die übrig bleiben, und
vom Land nur dann etwas drauf, wenn es sich das leisten
kann – es ist schön, dass Bayern es sich leisten kann.
Letztendlich muss es zum Grundprinzip werden, dass die
EU-Milliarden für diese Leistungen und nicht mehr für an
die Produktion gekoppelte Ausgleichszahlungen ausgege-
ben werden.

Die zweite Säule der Agenda stellt einen ersten Schritt
in diese Richtung dar, sie muss aber weiter ausgebaut wer-
den, da sie bisher zu knapp ausgestattet ist. Es gibt viel zu
viele bürokratische Hemmnisse, um diese Idee um-
zusetzen. Das trifft auch auf die Modulation zu, die wir
heute mit unserem Antrag beschließen werden. Wenn aber
so viel Bürokratie von Brüssel verlangt wird, ist das unge-
heuer schwierig. Deswegen wird sich auch die Summe in
Grenzen halten, die wir für die Modulation einsetzen kön-
nen. Selbstverständlich muss da in Brüssel noch einiges
bewegt werden, um hier Lockerungen zu erreichen und an-
dere Schwerpunkte zu setzen. Die Bundesregierung und
wir als Fraktionen arbeiten aber daran, indem wir in Ge-
sprächen mit unseren Kollegen in Frankreich, Großbritan-
nien und Dänemark über diese Probleme versuchen, eine
Veränderung der Einstellung hinzubekommen.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)


Jetzt muss ich einmal nachschauen, was ich sagen
wollte.


(Zurufe von der CDU/CSU: Sollen wir helfen? – Den Rest hat er vergessen! – Zuruf von der F.D.P.: Fällt Ihnen nichts mehr ein?)


– Nein, jetzt reizt ihr mich aber gewaltig. – Ich möchte
noch etwas zu dem Problem der Kulturlandschafts-
pflege, die zu entlohnen ist, sagen. Das wird bisher immer
als ein Punkt angesehen, der eigentlich nicht notwendig
ist, und man sagt: Über den Preis für die Produkte wird
das Einkommen erzielt und das andere geht nebenbei.


(Zuruf von der F.D.P.)

– Hier stimme ich mit euch ausdrücklich überein, Uli
Heinrich,


(Zuruf von der F.D.P.: Endlich!)

aber eure bisherige Politik hat dem natürlich nicht ent-
sprochen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Warum habt ihr die Agenda 2000 nicht so verabschiedet? Ihr habt doch das Gegenteil gemacht!)


– Weil sie nicht vorbereitet war.

(Zuruf von der F.D.P.)


– Jetzt rede nicht so daher. – Die Agenda 2000 war ein
Einstieg – das habe ich gerade gesagt – und es muss noch
viel weiter gehen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ihr wart nicht vorbereitet!)


– Wir konnten es gar nicht vorbereiten. Ihr wart vorher in
der Regierung. Die war nicht vorbereitet. Eure Regierung
hat dafür gesorgt, dass anstatt einer Gründlandprämie
diese sinnlose Silomaisprämie wieder eingeführt worden
ist. Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit der
Agenda 2000.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der F.D.P.)


– Hör doch endlich einmal auf damit.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es wurde bestätigt, dass der Kanzler nicht vorbereitet war!)

– Nein, wir waren erst kurz an der Regierung, als wir das
verhandelt haben. Ihr habt sie nicht vorbereitet. Das ist der
springende Punkt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt zwingt ihr mich aufgrund eurer Zwischenrufe,
zum Schluss zu kommen.

Nun sind wir an der Regierung. Die Regierung und die
Fraktion bereiten diesen „mid term review“ auf allen Ebe-
nen hervorragend vor. Wir werden dafür sorgen,


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wartet noch eineinhalb Jahre!)





Matthias Weisheit
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dass die EU-Milliarden und das Steuergeld in Zukunft für
gesellschaftlich gewollte Leistungen der Landwirtschaft
und nicht für Produkte ausgegeben werden.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Bayern und BadenWürttemberg!)


Dann brauchen das die Länder auch nicht mehr in dem
großen Maße wie bisher zusätzlich zu finanzieren, son-
dern dann wird das aus der EU-Kasse finanziert.

Da ihr immer so auf Bayern und Baden-Württemberg
abfahrt, möchte ich jetzt noch auf einen Punkt zu sprechen
kommen. Vorhin wurde der Strukturwandel bejammert.
Woran liegt es denn, dass Baden-Württemberg und Bay-
ern heute dieses Geld ausgeben können? Das liegt daran,
dass in den vergangenen 20 Jahren in der Gesamtwirt-
schaft dieser beiden Länder ein massiver Strukturwandel
hin zum Guten stattgefunden hat.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Weil gute Politik gemacht wurde!)


Wenn der nicht stattgefunden hätte, dann wären die Län-
der noch heute Empfängerländer. Genauso ist es. Deswe-
gen muss Strukturwandel auch in der Landwirtschaft
stattfinden.
Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der F.D.P.: Politik für den ländlichen Raum war es! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: An der Regierung liegt es!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417605800
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Peter
Harry Carstensen.


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1417605900
Herr
Präsident! Erstens. Ich kann auch andere Zeitungen zitie-
ren. Wenn es der Kollege Weisheit gerne möchte, zitiere
ich aus dem „Spiegel“, der nun wirklich nicht die Zeitung
der CDU ist.

Zweitens. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Er-
klärung, was die kontraproduktive Fehlallokation ist.

Drittens, sage ich aber, Kollege Weisheit, ist es nicht
richtig, dass derjenige mit den besten Böden und der bes-
ten Struktur die meisten Flächenprämien bekommt. Die
Flächenprämien waren Preisausgleichszahlungen und
wurden nach dem durchschnittlichen Ernteertrag berech-
net. Ich kann dazu feststellen, dass zum Beispiel in
Schleswig-Holstein die Flächenprämie nach einem
Durchschnitt von 72 Doppelzentner berechnet wird. Die-
jenigen, die gute Böden und gute Strukturen haben sowie
einen guten Ertrag etwa von 100 Doppelzentner erwirt-
schaften, bekommen wesentlich weniger und diejenigen,
die schlechte Böden und schlechte Strukturen haben, be-
kommen wesentlich mehr. Insofern ist das, was Sie gerade
gesagt haben, falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417606000
Zur Erwi-
derung hat der Kollege Weisheit das Wort.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist jetzt eine Entschuldigung nehme ich an!)



Matthias Weisheit (SPD):
Rede ID: ID1417606100
Nein, es gibt nichts zu ent-
schuldigen. Meine Ausführungen gelten im Prinzip trotz-
dem. Wenn Schleswig-Holstein nicht von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht hat, dass das Land in Regionen einge-
teilt wird, wie das andere Bundesländer getan haben, und
einen Durchschnittsertrag für das gesamte Land berech-
net, dann mag das dort stimmen, aber nur dort.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417606200
Ich schließe
die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5326 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, und
zwar zunächst zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 14/6346. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-
men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen.

Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6347 feder-
führend an den Ausschuss für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an
folgende Ausschüsse zu überweisen: Finanzen, Wirtschaft
und Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Gesundheit,
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Angelegen-
heiten der Europäischen Union und an den Haushaltsaus-
schuss. – Das Haus ist damit einverstanden. Die Überwei-
sung ist so beschlossen.

Die Entschließungsanträge der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksachen 14/6343 und 14/6345 sollen überwiesen
werden: zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
und zur Mitberatung an die Ausschüsse für Wirtschaft und
Technologie, Arbeit und Sozialordnung, Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit. – Auch dies ist so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5580.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU auf der Drucksache 14/5222 mit dem Titel
„Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein – Zu-
kunftsfähige Landwirtschaft ermöglichen – Gegen BSE
mit einem vernetzten Bekämpfungsplan vorgehen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und PDS




Matthias Weisheit

17257


(C)



(D)



(A)



(B)


gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der
F.D.P. angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksa-
che 14/5228 mit dem Titel „Neuausrichtung der Agrarpoli-
tik: Offensive für den Verbraucherschutz – Perspektiven für
die Landwirtschaft“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 4 c. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/5908.
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des „Vorschlags für
eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Markt-
organisation für Zucker“, eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei
Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 4 d. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/5909 die Annahme des Antrags der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4544
mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklung für ländliche
Räume“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Das ist ja langweilig: Im-
mer dieselben Abstimmungsverhältnisse!


(Heiterkeit)

Also: Angenommen mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5080 mit dem Titel „Länd-
lichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit dem gleichen Stimmenergebnis wie soeben ange-
nommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Berichts
der Bundesregierung auf Drucksache 14/4855 mit dem
Titel „Politik für ländliche Räume: Ansätze für eine inte-
grierte regional- und strukturpolitische Anpassungsstrate-
gie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Es
hat doch gewirkt, was ich gesagt habe.


(Heiterkeit)

Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenom-
men.

Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/5900 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie

damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis h sowie die
Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2000/52/EG der Kommission
vom 26. Juli 2000 zur Änderung der Richtlinie
80/723/EWG über die Transparenz der finanziel-
len Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten

(Transparenzrichtlinie-Gesetz – TranspRLG)

– Drucksache 14/6280 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzung
des Abkommens vom 9. September 1994 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
Malta über den Luftverkehr und zu dem Proto-
koll vom 27. Mai 1999 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Re-
gierung des Staates Katar zum Abkommen vom
9. November 1996 über den Luftverkehr
– Drucksache 14/6109 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Medizinproduktegesetzes

(2. MPG-ÄndG)

– Drucksache 14/6281 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereini-
gung offener Fragen des Rechts an Grundstücken

(Grundstücksrechtsbereinigungsgesetz – GrundRBerG)

– Drucksache 14/6204 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder

e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des
Schutzes gefährdeter Zeugen
– Drucksachen 14/638, 14/6279 (neu)




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
17258


(C)



(D)



(A)



(B)


Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

f) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg
van Essen, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Ergänzung des Vermögensgesetzes

(Zweites Vermögensrechtsergänzungsgesetz – 2. VermRErgG)

– Drucksache 14/5091 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Völkerrechtliche Ächtung von Munition, die
Uran oder andere radioaktive Elemente enthält
– Drucksache 14/5509 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christine Lucyga, Annette Faße, Gerd Andres,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln),
Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern
– Drucksache 14/6211 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der

SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS einge-
brachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigs-
ten Gesetzes zur Änderung des Abgeordne-
tengesetzes
– Drucksache 14/6311 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung (f)


Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich
L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Beschäftigung älterer Arbeitnehmer för-
dern und Einstellungshindernisse abbauen
– Drucksache 14/5579 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-
sen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6311, Zusatz-
punkt 2 a, soll, abweichend von der Tagesordnung, nicht
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. – Das
Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis j, 26 sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis c auf. Eine Aussprache ist hier
ebenfalls nicht vorgesehen.

Tagesordnungspunkt 30 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. De-
zember 1999 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Panama über
den Luftverkehr
– Drucksache 14/4988 –

(Erste Beratung 146. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/6123 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)


Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/6123, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen möchten, sich zu erheben. – Stimmt jemand
dagegen? – Enthaltungen? – Kollege Ronsöhr, möchten
Sie sich enthalten?


(Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Nein, ich hatte dafür gestimmt! Das hat man doch gesehen, Herr Präsident!)


– Das ist gut. – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 30 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters

17259


(C)



(D)



(A)



(B)


eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai
1997 zwischen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung der Repu-
blik Estland über den Luftverkehr
– Drucksache 14/4989 –

(Erste Beratung 146. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/6124 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)


Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/6124, auch diesen Gesetz-
entwurf anzunehmen. Ich bitte noch einmal diejenigen,
die zustimmen möchten, sich zu erheben. – Gegenstim-
men? – Keine Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ein-
stimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
den Verträgen vom 27. April 1999 und 8. Juli
1999 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft über grenzüberschreitende polizeiliche
Zusammenarbeit, Auslieferung, Rechtshilfe so-
wie zu dem Abkommen vom 8. Juli 1999 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über
Durchgangsrechte
– Drucksache 14/5735 –

(Erste Beratung 167. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 14/6333 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Graf (Friesoythe)

Sylvia Bonitz
Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Der Innenausschuss empfiehlt auf der Drucksache
14/6333, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, um
ihr Handzeichen.


(Heiterkeit – Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Wir könnten auch aufstehen, Herr Präsident; das ist nicht verboten!)


– Setzen, Herr Kollege Uldall.
Also noch einmal: Ich bitte diejenigen, die dem Ge-

setzentwurf zustimmen möchten, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Gegenstim-
men der PDS und Enthaltung der F.D.P. angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich jetzt zu erhe-
ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist mit dem gleichen Ergebnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einer-
seits und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft andererseits über die Freizügigkeit
– Drucksache 14/6100 –

(Erste Beratung 173. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)

– Drucksache 14/6336 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett

Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
auf der Drucksache 14/6336, den Gesetzentwurf anzu-
nehmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte,
hebe bitte die Hand. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einmütig an-
genommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den
bitte ich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung von Gesetzen und anderen Vor-
schriften auf dem Gebiet des Gesundheitswesens
auf Euro (Achtes Euro-Einführungsgesetz)

– Drucksache 14/5930 –

(Erste Beratung 167. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)

– Drucksache 14/6306 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Maria Hovermann

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksa-
che 14/6306, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer
möchte zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen worden.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte die zustimmenden Kol-
leginnen und Kollegen, sich zu erheben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in
dritter Beratung einstimmig angenommen.




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
17260


(C)



(D)



(A)



(B)


Tagesordnungspunkt 30 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 10. März 2000 zwi-
schen derBundesrepublik Deutschland und der
Republik Korea über soziale Sicherheit
– Drucksache 14/6110 –

(Erste Beratung 173. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11. Ausschuss)

– Drucksache 14/6334 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ekin Deligöz

Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
auf Drucksache 14/6334, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen möchten, um das Hand-
zeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in
dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu einem Wahleinspruch gegen die Gültigkeit
der Berufung eines Listennachfolgers gemäß
§ 48 Bundeswahlgesetz (BWG)

– Drucksache 14/6201 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Bötsch

Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6201, den
Wahleinspruch zurückzuweisen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Wir kommen nun unter Tagesordnungspunkt 30 h bis
30 j zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 30 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 274 zu Petitionen
– Drucksache 14/6183 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 274 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 275 zu Petitionen
– Drucksache 14/6184 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Auch diese Sammelübersicht ist bei Enthaltung
der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 30 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-
tionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 276 zu Petitionen
– Drucksache 14/6185 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Sammelübersicht 276 ist gegen die Stimmen der PDS
mit den Stimmen des Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 26:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes

(6. SGGÄndG)

– Drucksache 14/5943 –

(Erste Beratung 170. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-

(11. Ausschuss)

– Drucksache 14/6335 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme

Wer stimmt zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU gegen die Stimmen der F.D.P. und bei Enthal-
tung der PDS angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer stimmt zu? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter
Lesung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Zusatzpunkt 3 a:
Weitere abschließende Beratungen ohne Ausspra-
che

(Ergänzung zu TOP 30)

a) Zweite und dritte Beratung des von der

Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Errichtung einer
„Stiftung Jüdisches Museum Berlin“
– Drucksache 14/6028 –

(Erste Beratung 170. Sitzung)

aa) Beschlussempfehlung und Bericht des

Ausschusses für Kultur und Medien

(23. Ausschuss)

– Drucksache 14/6331 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Eckhardt Barthel (Berlin)

Dr. Norbert Lammert




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters

17261


(C)



(D)



(A)



(B)


Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto
Dr. Heinrich Fink


(8. Ausschuss)

– Drucksache 14/6356 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel

Dazu darf ich mitteilen, dass es eine Erklärung mehre-
rer Abgeordneter nach § 31 der Geschäftsordnung gibt,
und zwar der Abgeordneten Norbert Lammert,
CDU/CSU, Bernd Neumann (Bremen), CDU/CSU,
Hartmut Koschyk, CDU/CSU, Anton Pfeifer, CDU/CSU,
Margarete Späte, CDU/CSU, Erika Steinbach, CDU/
CSU, Rita Süssmuth, CDU/CSU, Hans-Joachim Otto,
F.D.P. Die Erklärung wird zu Protokoll genommen.1)

Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen möchten, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den
bitte ich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem
gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung
angenommen.

Zusatzpunkt 3 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung der umweltrechtlichen Vorschrif-

(Siebtes Euro-Einführungsgesetz)

– Drucksache 14/5641 –

(Erste Beratung 164. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)

– Drucksache 14/6351 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen möchten, um das Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie zustimmen möchten. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Zusatzpunkt 3 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung reiserechtlicher Vor-
schriften
– Drucksache 14/5944 –

(Erste Beratung 170. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses

(6. Ausschuss)

– Drucksache 14/6350 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann (Hildesheim)

Volker Kauder
Volker Beck (Köln)

Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

Wer möchte dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-
stimmig angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in dritter Beratung angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den erneut
korrigierten Wachstumsprognosen der deut-
schen Wirtschaftsinstitute und den daraus re-
sultierenden Folgen

Ich gebe für die antragstellende Fraktion dem Kollegen
Rainer Brüderle das Wort.


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1417606300
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! „Die Konjunktur schmiert ab“, schreibt
„DER SPIEGEL“ von diesem Montag. „Inflationsein-
bruch in der Euro-Zone“, titelt die „Financial Times
Deutschland“ am Dienstag. „Regierung rechnet mit Null-
wachstum“, steht in der „Welt“ vom Mittwoch. „Progno-




Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
17262


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 2

sen im Sturzflug“, lautet die Schlagzeile in der „Berliner
Morgenpost“ von heute.


(Konrad Gilges [SPD]: Wir lesen selbst Zeitung!)


Jeden Tag gibt es eine neue Hiobsbotschaft – Sie verste-
hen es anscheinend nicht – von der Konjunktur- und
Preisfront. Das ist die Lage im Sommer 2001 in Deutsch-
land.

Ich zitiere noch einmal den Kommentar in der „Finan-
cial Times Deutschland“:

Viel zu lange haben Politiker wie Bundeskanzler
Gerhard Schröder glauben machen wollen, dass
der Abschwung nur ein Phantom ist, von bösen Pes-
simisten herbeigeredet.

Gleichzeitig wird die Bundesregierung auf dem EU-Gip-
fel in Göteborg von den europäischen Regierungschefs
für ihre schlechte Wirtschafts- und Finanzpolitik geschol-
ten, denn die lahme Ente Deutschland reißt ganz Euro-
Land in eine Wachstumskrise. Was macht diese Regie-
rung? Nichts! Grün-Rot leistet sich ein fröhliches „Weiter
so!“. Der Kanzler schweigt und taucht ab.

Wenn einmal Monopolminister Müller in einem An-
flug von schonungsloser Ehrlichkeit vom „Nullwachs-
tum“ spricht, wird er offensichtlich sofort zum öffentli-
chen Widerruf und zur Selbstkritik bewegt. Jetzt erzählt
Herr Müller wieder das Märchen von einem Wachstum
von 2 Prozent in diesem Jahr. Zuvor hat er das Märchen
von einem Wachstum von 2,75 Prozent erzählt. Aber wir
brauchen keine Märchentanten. Wir brauchen ganze
Kerle und „Kerlinnen“, die den Kampf gegen die dro-
hende Stagflation aufnehmen.


(Heiterkeit – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Wort übernehmen wir nicht!)


– Man muss dem Zeitgeist Rechnung tragen, Frau Kolle-
gin.

Diese sitzen aber offensichtlich nicht auf der Regie-
rungsbank. Herrn Müller, Herrn Eichel, Herrn Riester und
erst recht Herrn Schröder scheint nicht zu interessieren,
was die Menschen im Lande bewegt.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie müssen erklären, was ein Kerl ist!)


Heute ist, wie ich in der Zeitung gelesen haben, der Tag
des Schlafes. Vielleicht gönnt sich die Regierung ein aus-
giebiges Schläfchen.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ein Nickerchen!)

Ich kann im Interesse Deutschlands nur sagen: Aufwa-
chen, Herr Bundeskanzler! Das ist Ihr Abschwung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

3,5 Prozent Inflationsrate in Deutschland und 3,4 Pro-

zent in Euro-Land sind Werte, wie wir sie seit acht oder
neun Jahren nicht kannten. Die Inflation kehrt offenbar
zurück. Die Stichworte hierzu sind: Ökosteuer und Strom-
umlage. In Deutschland haben wir eine saisonbereinigte
Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Das ist

keine Bewertung von bösen Vertretern der Opposition.
Herr Noé, der bis vor kurzem noch Staatssekretär der SPD
im Bundesfinanzministerium war,


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor kurzem? Das ist schon etwas länger her!)


spricht das aus, was auch andere Konjunkturforscher sa-
gen. Diese Entwicklung ist eine Art Frühindikator einer
anstehenden Rezession.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor-

schung sieht eine Rezessionsgefahr in Deutschland. Der
Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Walter, sagt öffent-
lich, dem Bundeskanzler werde sein Versprechen, die
Arbeitslosigkeit auf bescheidene 3,5Millionen zu senken,
um die Ohren fliegen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute
korrigieren in Rekordzeit ihre Wachstumsprognosen. Was
tun Sie? Sie tun nichts bzw. das Falsche. Sie erhöhen die
Krankenversicherungsbeiträge. Sie werden morgen die
Mitbestimmung verschärfen. Diese Regelung werden Sie
durchziehen


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl! Genau!)


und den deutschen Mittelstand damit drangsalieren. Mor-
gen Abend um 20 Uhr wird das Postmonopol in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion verlängert und damit werden
Zehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland aktiv
gefährdet.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Sie versündigen sich am Wirtschaftsstandort Deutsch-
land.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich appelliere an die Regierung: Schauen Sie nicht wei-
ter tatenlos zu, wie die Konjunktur bei uns immer
schwächer, wie der Verfall erkennbar wird, wie die Stag-
flation droht und eine Rezession nicht auszuschließen ist.
Was wir brauchen, ist ein schnelles Handeln, ein Blitz-
programm, und zwar besser heute als morgen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erstens. Grün-Rot muss die Steuerreformstufen vor-
ziehen. Frau Scheel als Dampfplauderin erzählt uns das
Gleiche. Natürlich wird es nicht gemacht, genauso wie
Rezzo Schlauch als Dampfplauderer etwas Richtiges vom
Arbeitsmarkt erzählt. Nur handelt keiner.

Zweitens sollte der Beitrag zur Arbeitslosenversi-
cherung so schnell wie möglich um einen Prozentpunkt
sinken. Das bringt eine Entlastung in Höhe von 13 Milli-
arden DM.

Drittens. Grün-Rot muss auf die mittelstandsfeindliche
und teure Verschärfung der Mitbestimmung, auf die
nächste Stufe der die Inflation anheizenden Ökosteuer
und auf die investitionsschädlichen neuen Abschreibungs-
tabellen verzichten.




Rainer Brüderle

17263


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie sehen, die Amerikaner haben gehandelt. Sie haben
ihre Steuerreform vorgezogen. Die Amerikaner bekommen
in Kürze die ersten Steuerentlastungsschecks in die Hände.
Die Amerikaner handeln und werden deshalb auch diese
Konjunktureinbrüche eher als wir bewältigen können.

Sie können es täglich an den Währungsbörsen der Welt
sehen: Der Wert des Euro spiegelt die Bewertung des
Euro-Landes und insbesondere des größten Teils des
Euro-Landes, von Deutschland, in der Welt wider.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Euro ist mit einem Wert von 1,18 US-Dollar gestar-
tet. Jetzt dümpelt er bei 85 Cent herum.


(Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Er wird noch weiter fallen!)


Weil die Entwicklung draußen in der Welt genauso
empfunden wird, sind seit der Einführung des Euro mehr
als 400 Milliarden Euro aus dem Euro-Land abgezogen
worden. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres
sind aus Deutschland 80 Milliarden Euro abgeflossen und
woanders angelegt worden.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417606400
Herr Kol-
lege Brüderle, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1417606500
Dies geschah, weil man
dieser Regierung nicht mehr zutraut, zu handeln. Deshalb:
Tun Sie es! Beschimpfen Sie nicht die Opposition, die
ihre Pflicht tut! Erfüllen Sie vielmehr Ihre Pflicht, damit
es in Deutschland nicht noch weiter abwärts geht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Am Schluss muss er immer über sich selbst lachen! Das ist so sympathisch!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417606600
Ich erteile
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmi-
nister der Finanzen, Karl Diller, das Wort.

K
Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1417606700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Die von einigen Wirtschaftsforschungs-
instituten vorgelegten neuen Prognosezahlen


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Stimmen!)

lauten: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft prognosti-
ziert statt wie im März 2,1 Prozent jetzt 1,3 Prozent, das
Hamburger Weltwirtschaftsarchiv prognostiziert statt wie
im März 2,3 Prozent jetzt 1,7 Prozent, Herr Professor
Rürup vom Sachverständigenrat prognostiziert eine
Spanne von 1,6 bis 1,8 Prozent. Bemerkenswert ist an die-
sen Zahlen im Prinzip nur eines, meine Damen und Her-
ren:


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie sinken!)

Trotz der Verlangsamung des Wachstums sind die ge-
nannten prognostizierten Zahlen von 1,6 bis 1,8 Prozent

immer noch deutlich höher als die durchschnittliche Stei-
gerungsrate in Ihrer Regierungszeit, die in den Jahren
1991 bis 1998 bei 1,3 Prozent lag.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bei welcher Inflation?)


Herr Brüderle, wäre er damals schon hier gewesen und
hätte es jedes Jahr eine solche Steigerungsrate gegeben,
wie er sie heute befürchtet und beklagt, hätte dies zum An-
lass genommen, eine freudige Pressemitteilung zu ma-
chen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bei weiter steigender Inflation!)


Dank unserer Wirtschaftspolitik erreichte das Wirt-
schaftswachstum im letzten Jahr stolze 3 Prozent real.
Dabei hatten wir schon im zweiten Halbjahr 2000 eine
konjunkturelle Abschwächung mit Zuwächsen von nur
0,3 Prozent im dritten und 0,2 Prozent im vierten Quar-
tal. Im ersten Quartal dieses Jahres dagegen hat sich
diese Entwicklung nicht fortgesetzt; denn das Bruttoin-
landsprodukt erhöhte sich um 0,4 Prozent gegenüber
dem vorigen Quartal und übertraf damit die entspre-
chenden Zuwächse in der zweiten Hälfte des letzten Jah-
res. Schaltet man noch Kalendereinflüsse aus, lag das
bereinigte BIP um 2 Prozent höher als im ersten Quartal
des Jahres 2000.

Die Entwicklung der aktuellen Konjunkturindikatoren
– Geschäftsklima, Auftragseingänge, Produktion – liegt
im Rahmen der Erwartungen der Frühjahrsprojektion der
Bundesregierung. Wir waren damals realistisch und ha-
ben einiges von dem, was die Institute nun in ihren Pro-
gnosen korrigieren, schon vorweggenommen.

Es ist noch zu früh, eine Einschätzung des Wirtschafts-
wachstums für das zweite Quartal vorzunehmen. Die meis-
ten Konjunkturexperten gehen aber von einer Fortsetzung
der Aufwärtsbewegung im weiteren Jahresverlauf aus;
das gilt im Übrigen auch für das Kieler Institut für Welt-
wirtschaft.

Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für
ein Wachstum, das innerhalb des Bereichs unserer Pro-
gnose liegt, sind weiterhin günstig, Herr Brüderle:

Erstens. Die Auftragsbestände der Unternehmen lagen
von Januar bis April dieses Jahres um rund 3 Prozent über
dem schon sehr hohen Niveau des Vorjahres.

Zweitens. Die Produktionstätigkeit ist seit Jahresbe-
ginn noch um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestie-
gen.

Drittens. Der Umfang der Exporte übertraf in den ers-
ten vier Monaten dieses Jahres trotz weltwirtschaftlicher
Abschwächung das hohe Niveau des Vorjahres real um
– sage und schreibe – 11,5 Prozent.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Bei schwachem Euro!)


Viertens. Die Kapazitätsauslastung im verarbeitenden
Gewerbe ist im langfristigen Bereich noch sehr hoch.

Fünftens. Die langfristigen Nominalzinsen sind nied-
rig.




Rainer Brüderle
17264


(C)



(D)



(A)



(B)


Sechstens. Die Lohnabschlüsse aus dem Vorjahr sind
stabilitäts- und beschäftigungsorientiert.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Noch! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das folgt doch erst nach der Inflation!)


Die wirtschafts- und finanzpolitischen Weichenstel-
lungen der Bundesregierung tragen zu einer Stabilisie-
rung der konjunkturellen Entwicklung bei; denn mit dem
Nachlassen der durch Sonderfaktoren bedingten Preis-
steigerungen im Verlauf des Jahres, Herr Michelbach,
werden die positiven Effekte der Steuerreform zuneh-
mend spürbar. Ich zitiere Professor Scheide vom Welt-
wirtschaftsinstitut. Er sagte in einem Interview mit der
„Süddeutschen Zeitung“ gestern als Antwort auf die
Frage, weshalb sich die Geldentwertung plötzlich be-
schleunige, Folgendes:

Es sind reine Sondereffekte: Benzin ist sehr teuer ge-
worden, weil die Amerikaner auf dem Rotterdamer
Markt eingestiegen sind und so den Preis in die Höhe
getrieben haben. Hier gibt es bereits wieder eine ge-
wisse Beruhigung. Und dann BSE und die Maul- und
Klauenseuche: Wir wussten, dass es diese Seuchen
gibt, aber wie sehr dies die Preise antreibt, das konn-
ten wir nicht ahnen.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ist hier Karls Lesestunde? – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Märchenund Lesestunde haben wir jetzt!)


Ohne diese Sondereffekte läge die Inflationsrate deutlich
unter 1,5 Prozent. Die Auswirkungen dieser Sonderef-
fekte werden bis Ende dieses Jahres auslaufen.

Herr Brüderle, nach allem gibt es keinen Anlass, die
konjunkturelle Lage schwarz zu malen; wohl aber gibt es
Anlass, über die Seriosität des Herrn Brüderle nachzu-
denken;


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


denn Herrn Brüderles Blitzprogramm würde in das abso-
lute Chaos führen. Er hat heute wiederholt, was er fordert.
Den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung um ei-
nen Prozentpunkt zu senken


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das hätten Sie schon vor einem Jahr gekonnt! Entlastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer heißt das!)


würde bedeuten, dass die Bundesanstalt für Arbeit im Jahr
14 000 Millionen DM weniger zur Verfügung hätte. Das
heißt, das Programm für eine aktive Arbeitsmarktpolitik
müsste um ein Drittel oder sogar um die Hälfte zusam-
mengestrichen werden.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das sind Arbeitsplätze, die da geschaffen werden!)


Das zöge Hunderttausende von zusätzlichen Arbeitslosen
nach sich. Das ist das Rezept von Herrn Brüderle.


(Beifall bei der SPD)


Wenn man seiner Forderung folgte und aus dem Haushalt
des Bundes der Bundesanstalt für Arbeit 14 Milliar-
den DM zuweisen würde, dann wäre der Haushalt des
Bundes sofort wieder verfassungswidrig.


(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Null zu viel!)

Ich stelle fest: Herr Brüderle war als Wirtschaftsminis-

ter meines Bundeslandes ein sehr seriöser Mann.

(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das haben wir schon damals anders gesehen!)

Er wurde in Rheinland-Pfalz Wirtschaftsminister, als un-
sere Partei mit seiner dort eine Koalition eingegangen
war. Seitdem er hier ist, ist er leider Gottes von der
waigelschen Krankheit befallen, nämlich immer mehr
Schulden zu machen. Das ist Ihr Rezept.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem fordert er jetzt, die Steuersenkungen für das
Jahr 2005 auf das Jahr 2002 vorzuziehen. Das zu tun,
würde bedeuten, dass Bund, Länder und Gemeinden im
nächsten Jahr zusätzliche Einnahmeminderungen von
mehr als 45 000 Millionen DM verkraften müssten. Da-
durch wäre nicht nur der Haushalt des Bundeslandes
Rheinland-Pfalz verfassungswidrig; vielmehr wären auch
die Haushalte des reichen Bayern, des reichen Hessen und
des reichen Baden-Württemberg verfassungswidrig.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das gut regierte Bayern! Das gut regierte Hessen!)


Das Gleiche gilt erst recht für den Bund. Ihre Rezepte sind
die Rezepte des Herrn Waigel, der von der Bevölkerung
zu Recht abgelehnt wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schauen wir uns doch noch einmal an, was uns die

Wirtschaftswissenschaftler empfehlen. Professor Scheide
vom Kieler Institut für Weltwirtschaft ist im vorhin ge-
nannten Interview gefragt worden:

Was empfiehlt der Konjunkturforscher in dieser Si-
tuation den Politikern?


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Valium!)

Seine Antwort lautete:

Die Abschwächung wurde nicht durch Fehler der Po-
litik ausgelöst, deshalb gibt es auch keine solchen zu
korrigieren. Unser Rat ist: Keine Hektik!

Weiter heißt es:
Der Rat an die Finanzpolitik heißt ebenfalls: Ruhe
bewahren!

Genau das ist unsere Linie.
Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417606800
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Gunnar
Uldall.




Parl. Staatssekretär Karl Diller

17265


(C)



(D)



(A)



(B)



Gunnar Uldall (CDU):
Rede ID: ID1417606900
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Wir haben eben gehört, wie Herr
Staatssekretär Diller versucht hat, die schlechten Wirt-
schaftsdaten und insbesondere die schlechten Wachs-
tumsraten zu verniedlichen. Herr Kollege Diller, Sie
können sicherlich viel darum herumreden. Nur eines kön-
nen Sie nicht machen, nämlich die renommierten
Wirtschaftswissenschaftler der Forschungsinstitute in
Deutschland als Kronzeugen Ihrer Politik benennen; denn
diese verurteilen einhellig die Politik, die Sie heute be-
treiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Insofern ist es geradezu eine Loriot-reife Nummer, wenn
Sie diejenigen, die Sie kritisieren, zu Ihrer Unterstützung
zitieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Diller ist ein ernster Loriot!)


Fest steht: Die Steuerreform ist ein Fehlschlag gewe-
sen. Es hat nicht den erwarteten Konjunkturschub gege-
ben. 89 Prozent der deutschen Bevölkerung sagen, dass
sie die Auswirkungen der Steuerreform in ihrem Porte-
monnaie nicht oder nur in ganz geringem Maße spürten.
Der deutsche Arbeitsmarkt stagniert. Es hat keinen Sinn,
darum herumzureden oder es schönzureden. Es gibt nur
eines, was permanent steigt, nämlich die Preise.

Seit dem Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt
– das ist fast 20 Jahre her – hat es nie eine solch hohe In-
flationsrate wie in diesem Jahr gegeben. Damals stiegen
die Preise um 5 Prozent. Seit der Übernahme der Regie-
rung durch Gerhard Schröder kletterte die Preissteige-
rungsrate von 0,6 Prozent auf jetzt 3,5 Prozent. Als die
Regierungsverantwortung an die Sozialdemokraten ging,
herrschte Preisstabilität. Aber die Sozialdemokraten ha-
ben die Preisstabilität wiederum verspielt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Hier wiederholt sich die Geschichte. Ich habe nachge-

lesen und festgestellt: Beim Antritt der SPD-Regierung
im Jahre 1969 machten die Preise einen Sprung nach
oben. Innerhalb der ersten drei Regierungsjahre der SPD
verdreifachte sich die Inflationsrate und stieg Mitte der
70er-Jahre – das war der traurige Höhepunkt – auf
7,1 Prozent. Mit einer einzigen Ausnahme hat es in den
13 Jahren SPD-Regierung nicht ein einziges Jahr gege-
ben, in dem die Preissteigerungsrate unter 3,5 Prozent
gelegen hätte. Genau dort sind wir jetzt wieder angekom-
men. Offensichtlich ist es so, dass eine Preissteigerungs-
rate von 3,5 Prozent der SPD-Mindestinflationssatz ist.
Eine solche Wirtschaftspolitik dürfen wir uns in Deutsch-
land nicht bieten lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dass es nicht so sein muss, haben wir in den 80er-Jah-
ren erlebt. Damals herrschte 16 Jahre lang faktische Preis-
stabilität, allerdings mit einer einzigen Ausnahme, die im-
mer wieder gerne angeführt wird, nämlich mit Ausnahme
des Jahres der deutschen Wiedervereinigung. Aber es ist

völlig klar, warum die Preise damals angestiegen sind: Als
die Mauer geöffnet wurde, haben die Menschen aus der
DDR, die jahre- und jahrzehntelang auf Autos, Telefon-
anschlüsse und Südfrüchte verzichten mussten, alles Ver-
säumte nachgeholt. Aber wir haben es fertig gebracht, die
Preissteigerungsrate sofort wieder zu senken. Insofern
haben wir Ihnen damals ein gut gemachtes Bett hinterlas-
sen, das Sie aber regelrecht verlottern ließen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein schönes Bett mit diesen Schulden!)


Dass Sie dies selber verursacht haben und eben nicht
die Ölscheichs oder die Entwicklung der US-amerikani-
schen Konjunktur daran schuld ist, kann man zum Bei-
spiel an der Entwicklung der Strompreise sehen. Es gibt
eine Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung, die Ökosteuer
und einen Aufschlag für erneuerbare Energien. Das alles
hat die Preise für Strom so nach oben getrieben, dass ein
Vierpersonenhaushalt zusätzliche Kosten in Höhe von
660 DM pro Jahr verkraften muss. Da kann ich nur sa-
gen: Egal, welche Erleichterungen Sie im Rahmen der
Steuerreform versprechen, Sie können die Mehrbelas-
tung nicht ausgleichen, treiben aber die Preise nach
oben. Das trifft wiederum vor allen Dingen die sozial
Schwachen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Schauen wir uns einmal an, wer von den negativen Fol-
gen getroffen wird: Getroffen werden vor allem die Rent-
nerhaushalte. Die Rentner mussten im vergangenen Jahr
einen Kaufkraftverlust von 1 Prozent hinnehmen, in die-
sem Jahr kommen noch einmal 1,5 Prozent hinzu. Ich
kann nur noch einmal feststellen: Es betrifft immer die so-
zial Schwächsten.

Die Arbeitnehmerhaushalte werden in diesem Jahr ei-
nen realen Kaufkraftverlust von 1 Prozent zu verzeichnen
haben. Es kann sich jeder ausrechnen, dass sich die Ge-
werkschaften das nicht bieten lassen und in den nächsten
Tarifrunden kräftig zulangen werden. Auf diese Weise
wird genau das Problem verstärkt, das wir heute schon zu
beklagen haben, nämlich eine Stagflation. Die Konjunk-
tur und der Abbau der Arbeitslosigkeit stagnieren, aber die
Preise werden inflationiert.

Deshalb kann man nur sagen: Herr Bundeskanzler, ge-
ben Sie mit einer vernünftigen Politik hinsichtlich Ener-
gie, Steuern und Arbeitsmarkt endlich die richtigen Si-
gnale für eine gute Wirtschaftspolitik nach vorne.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417607000
Ich gebe der
Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417607100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Uldall, es ist ein bisschen übertrieben, wenn Sie sagen,






(C)



(D)



(A)



(B)


Sie hätten uns ein nettes Bett hinterlassen. Sie haben uns
einen gigantischen Schuldenberg hinterlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dieser Schuldenberg hat unsere Spielräume eingeengt,
sodass wir das, was wir gerne tun würden, nicht mit der
notwendigen Geschwindigkeit tun können.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weshalb treiben Sie die Inflation an?)


Das ist das Problem, wenn man eine verantwortungsvolle
Finanzpolitik macht: Man muss die Umstände, die man
vorfindet, berücksichtigen und kann nicht alle Wünsche
in dem Zeitrahmen erfüllen, den Sie sich vorstellen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt treiben Sie aber die Inflation an!)


Gegenüber der letztjährigen Prognose haben wir bei
der konjunkturellen Entwicklung derzeit eine Wachs-
tumsdelle. Das ist unbestritten und darüber muss man
nicht diskutieren.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist keine Delle, das ist ein Loch!)


Die Forschungsinstitute legen fast jeden Tag neue Zahlen
vor, die wir nicht ignorieren wollen und können. Karl
Diller hat sehr richtig auf die Sondereffekte bei den Preis-
steigerungen hingewiesen. Wir haben gesehen, dass der
Konjunktureinbruch in den USA auch bei uns Wirkung
zeigt. Das war zu erwarten, da der Anteil Deutschlands an
den Ausfuhren in die USAim letzten Jahr 10,9 Prozent be-
trug. Daran kann man sehen, welcher Zusammenhang
zwischen der wirtschaftlichen Situation in den USA und
den deutschen Ausfuhren in die USA besteht. Wenn we-
niger Aufträge eingehen, wird in den entsprechenden Sek-
toren ein geringeres Wirtschaftswachstum erwartet wer-
den können. Das ist ein ganz normaler Effekt.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was ist mit der Ökosteuer?)


Auch wenn Sie so tun, als sei die Entwicklung eine ab-
solute Katastrophe, muss man die Sache in einer vernünf-
tigen und ruhigen Art und Weise betrachten. Wenn wir uns
ansehen, wie sich das Wachstum in den 90er-Jahren ent-
wickelt hat, müssen wir feststellen, dass das durchschnitt-
liche Wachstum in den Jahren 1992 bis 2000 bei 1,5 Pro-
zent lag, obwohl wir im Jahre 2000 bereits ein Wachstum
von 3 Prozent hatten, was die Durchschnittszahlen ent-
sprechend beeinflusst. Dagegen hatten wir zum Beispiel
1996 – in Ihrer Regierungszeit, wenn ich Sie daran viel-
leicht einmal erinnern darf – ein Wachstum von nur
0,8 Prozent.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und die Inflation? Es war Preisstabilität!)


Die Gesamtsituation gibt Anlass zu ernsthaften Sorge
um den Arbeitsmarkt, etwa darüber, dass die Zahl der Ar-
beitslosen nicht so schnell abgebaut werden kann, wie wir
uns das wünschen. Wir haben aber Voraussetzungen für
bestimmte Effekte geschaffen, die erst mit einer späteren
Wirkung greifen: Die Steuerreform, die umgesetzt wor-
den ist und in diesem Jahr eine massive Senkung des Steu-

ersatzes für die Steuerzahler und die Wirtschaft gebracht
hat, bedeutet ein Entlastungsvolumen von 45 Milliar-
den DM in diesem Jahr.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Und für wen?)

Viele Steuerpflichtige, die einkommensteuerveranlagt
sind und Jahresabschlüsse machen, haben diese Ab-
schlüsse für das Jahr 2000 noch gar nicht gemacht. Des-
wegen sind auch die Umfragen irreführend, in denen
Menschen gefragt werden, ob sie die Steuerentlastung
spüren. Sie können sie überhaupt noch nicht gespürt ha-
ben, weil sie ihre Jahreseinkommensteuererklärung noch
nicht abgegeben haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Effekt, der noch nicht zu spüren ist, muss aber
trotzdem berücksichtigt werden.

Von den kleinen und mittleren Unternehmen hört man
die klare Aussage, dass die Vorauszahlungen geringer ge-
worden sind.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aha!)

Die Überraschung darüber, wie sich die Anrechnung der
Gewerbesteuer auf ihre Einkommensteuer auswirkt, war
doch sehr groß. Man hat nämlich nicht geglaubt, dass bei
einem durchschnittlichen Hebesteuersatz keine Gewerbe-
steuer gezahlt wird.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und bei den Lohnsteuerzahlern?)


Diese Wirkungen, die jetzt langsam wahrgenommen wer-
den, hat man unterschätzt.

Neben der Steuerentlastung gibt es noch andere Maß-
nahmen, die sich auf die Nachfragesituation auswirken.
Eine Maßnahme ist zum Beispiel, dass wir im nächsten
Jahr, also im Jahr 2002, knapp 5 Milliarden DM mehr für
die Familienförderung ausgeben. Durch die zweite Maß-
nahme, nämlich durch die Einführung der privaten Al-
tersvorsorge im Jahr 2003, wobei die zu leistenden
Beiträge steuerbefreit sind, entlasten wir die Arbeitneh-
mer und Arbeitnehmerinnen zusätzlich um 5,5 Milliar-
den DM. Diesen Effekt muss man ebenfalls betrachten.

Herr Brüderle spricht immer das Beispiel USA an.
Dazu will ich sagen: Wenn wir die vergleichbaren Daten
aus den USAbetrachten, dann können wir feststellen, dass
es gemäß den Bush-Vorschlägen in den USA eine Steuer-
entlastung von rund 88 Milliarden DM im Jahr gibt.


(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Zusätzlich!)

Wenn wir die gleiche Berechnungsmethode auf unser
Land anwenden, dann können wir feststellen, dass es bei
uns eine Steuerentlastung von rund 100 Milliarden DM
pro Jahr gibt.


(Rainer Brüderle [F.D.P.]: Quatsch!)

Das heißt, wir brauchen den USA nicht zu folgen, indem
wir die Steuerreform vorziehen, weil wir bereits einen
Vorsprung haben.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Nein!)





Christine Scheel

17267


(C)



(D)



(A)



(B)


Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Ich habe im-
mer eine Kombination zwischen einer soliden Haushalts-
politik, dem Abbau der Nettoneuverschuldung bis zum
Jahr 2006 auf Null und der Frage, welchen Spielraum man
gewinnen kann, hergestellt. Wenn man diesen Spielraum
gewonnen hat, kann man über ein Vorziehen der Steuer-
reform reden – aber nur dann. Das ist die Voraussetzung.
Dazu stehe ich.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Rückwärts und Vorwärts gleichzeitig! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum haben es alle anders verstanden?)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417607200
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.


Rolf Kutzmutz (PDS):
Rede ID: ID1417607300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass jede Konjunk-
turprognose zu einer neuen Steuerdebatte führt. Diese
Konjunkturprognose zeigt doch nur, dass insbesondere
die westdeutsche Wirtschaft nach wie vor extrem vom Ex-
port abhängig ist. Ich will nur drei Gründe anführen,
warum die wieder aufgenommene Debatte aus meiner
Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion falsch ist.

Erstens – das kann man in diesem Haus offenbar nicht
oft genug betonen –: Wirtschaftsentwicklung über Steu-
ern steuern zu wollen funktioniert einfach nicht.


(Beifall bei der PDS)

Es ist doch eine Tatsache, dass bei den Kriterien für Inves-
titionen die abstrakten Steuersätze unter „ferner liefen“
rangieren. Diese Steuersätze rangieren in der Hitliste auf
Rang acht oder neun. Wir sollten uns daher nicht immer
auf dieses Thema fokussieren.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: 90 Prozent Steuern!)


Wo ist der Beweis dafür, dass niedrige Steuersätze zu
mehr Arbeitsplätzen führen? Wer garantiert eigentlich,
dass niedrige Einkommen-, Spitzen- und Körperschaft-
steuern tatsächlich zu neuen Arbeitsplätzen in Bitburg
oder Löbau führen und nicht stattdessen auf den Maledi-
ven verfrühstückt oder in Taiwan investiert werden?


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie wollen lieber verstaatlichen!)


– Herr Niebel, wir können gerne darüber reden. Ich glaube
aber, Sie sollten sich nur zu Themen äußern, von denen
Sie etwas verstehen.


(Beifall bei der PDS – Dirk Niebel [F.D.P.]: Ihr stellvertretender Vorsitzender will doch verstaatlichen! Das hat er doch gesagt!)


Die Spielräume für mehr Beschäftigung durch einen
ernsthaft angegangenen sozialen und ökologischen Um-
bau würden weiter verengt. Um das zu verhindern – nur
darum muss es der Wirtschaftspolitik gehen –, muss sie
neue Märkte, die zukunftsträchtige Arbeitsplätze verspre-

chen, per Ordnungsrecht definieren und bei ihrer Ausfül-
lung auch helfen können. Politik, die auf das Prinzip Hoff-
nung, also auf Steuersenkungen setzt, beraubt sich selbst
der erforderlichen Mittel, um aktiv handeln zu können.


(Beifall bei der PDS)

Damit bin ich bei einem zweiten Aspekt: Was nützen

einem jungen Wissenschaftler niedrige Steuersätze, wenn
ihm schon das Geld für eine Existenzgründung fehlt, um
so seine Ideen umsetzen zu können? Hinzu kommt das
Verhalten der Banken, das diese schon seit Jahren an den
Tag legen.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das weist doch die Staatsbank zu!)


Wenn er das Geld zusammenbekommt, fehlen ihm Ge-
schäftspartner und qualifiziertes Personal für die Ver-
wirklichung seiner Geschäftsidee. Hier ist Politik gefragt.

Sachverständige haben gestern in der Anhörung des
Wirtschaftsausschusses die Rahmenbedingungen für
mehr Arbeitsplätze genannt. Steuersenkungen waren
nicht darunter, obwohl Lothar Späth und auch der
Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt dabei waren. Sie
haben aber genannt: Förderung der Umsetzung von Inno-
vationen, Schaffung und Unterstützung von regionalen
und internationalen Netzwerken sowie eine Bildungs-
und Qualifizierungsoffensive, die diesen Namen tatsäch-
lich verdient. Darüber, wie man dort öffentliches und pri-
vates Geld am effizientesten einsetzen kann, um mehr
Arbeitsplätze zu schaffen und wie viel das kosten würde,
sollten wir gemeinsam reden,


(Beifall bei der PDS)

beispielsweise auf der Ministerpräsidentenkonferenz in
den nächsten Tagen. Haushaltspolitik ist Gestaltungspoli-
tik. Haushaltskonsolidierung wird zum Wahn, wenn sie
Zukunftschancen verbaut.

Abschließend ein dritter Grund, warum diese Debatte
eigentlich nur nervt. Ich stimme mit dem Bundeswirt-
schaftsminister nicht häufig überein. Aber wenn er be-
tont – wie er es vorgestern Abend im ZDF getan hat –, ein
Festhalten an den bis 2005 beschlossenen Spitzensteuer-
sätzen sei auch eine Frage der Verlässlichkeit gegenüber
den Unternehmen und Investoren, eine Frage der Pla-
nungssicherheit, so kann ich das nur unterstützen. Wer
jede Woche die Illusion nährt, es könnte ja noch günstiger
werden, der behindert geplante Investitionen, weil er zu
ihrem Aufschub einlädt. Warum sollte jemand jetzt inves-
tieren, wenn wir ihm ständig erklären, die Lage könnte in
zwei, drei Monaten noch etwas besser sein? Dann wird er
sein Geld parken und es dann einsetzen, wenn er meint,
dass es so weit ist. In den zwei, drei Monaten passiert dann
aber nichts. Das muss einfach einmal gesagt werden.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Er kann auch warten, bis Sie es ihm abnehmen!)


Aber vielleicht ist gerade das von den früheren Regie-
rungsparteien – entgegen ihren öffentlichen Bekundun-
gen – beabsichtigt.

Ich will auch sagen, Frau Kollegin Scheel: Ich weiß,
was man mit einzelnen Sätzen machen kann, wenn man




Christine Scheel
17268


(C)



(D)



(A)



(B)


sie aus dem Zusammenhang reißt. Dienlich war Ihr Vor-
schlag, die Steuerreform vorzuziehen, nicht, zumindest
nicht für die Diskussion innerhalb der Koalition.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das war ein guter Vorschlag! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Da hat er endlich einmal Recht gehabt! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Darum müssen Sie sich jetzt wirklich keine Sorgen machen!)


– Herr Staffelt, ich übernehme gern Verantwortung – das
wissen Sie doch –, auch für die Kollegin.

Das gilt im Übrigen nicht nur für Einkommen- und Un-
ternehmensteuer, sondern auch für die Ökosteuer. Auch
wenn die jetzige Ökosteuer sozial ungerecht und ökolo-
gisch wenig optimal ist – wovon wir nichts zurückneh-
men –, ist festzuhalten: Wer wegen jedes Ausschlags an
den Welterdölmärkten ihre Höhe infrage stellt, der be-
raubt sie nicht nur ihrer letzten bescheidenen ökologisch
wie auch ökonomisch sinnvollen Lenkungswirkungen. Er
macht Politik auch endgültig zur Geisel weniger großer
Konzerne. Auf diesem fatalen Weg ist selbst Rot-Grün mit
seinem berüchtigten Verbändekonsensunwesen schon
sehr weit fortgeschritten. Ich verweise nur auf den so ge-
nannten Atomausstieg oder das Tauziehen um Kraft-
Wärme-Koppelung. Kurzum: Rot-Grün muss tatsächlich
umsteuern, aber bitte nicht in schwarz-gelbe Richtung.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417607400
Ich gebe
dem Kollegen Reinhard Schultz für die Fraktion der SPD
das Wort.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1417607500
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifellos ist es
sinnvoll, dass sich das Plenum über die wirtschaftliche
Entwicklung in Deutschland und in Europa unterhält.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wird uns das zugestanden?)


– Wir diskutieren das selbstverständlich auch innerhalb
der SPD-Fraktion und innerhalb der Koalition. Erhebliche
Abweichungen von Prognosen müssen natürlich besorgt
machen und man muss zu einer Einschätzung kommen.
Unserer Einschätzung nach ist es ein Problem, aber es ist
nicht Panik angesagt. Man sollte nicht in hektische
Scheinaktivitäten verfallen und suggerieren, man könnte
mit fiskalpolitischen oder anderen staatlichen Mitteln
kurzfristig etwas herbeiführen, wodurch die Prognose in
diesem Jahr deutlich nach oben korrigiert werden könnte.

Ich bin etwas verwundert darüber, Herr Brüderle – ich
bin sehr gespannt darauf, was Herr Rexrodt sagen wird –,
mit welcher Staatsgläubigkeit nun ausgerechnet die F.D.P.
in eine solche Diskussion geht. Herr Rexrodt, der Erfin-
der des großen klassischen Spruchs „Wirtschaft findet in
der Wirtschaft statt“, lässt hier heute erklären, dass alle
Mittel der Steuer- und Haushaltspolitik in den Dienst ei-
ner kurzfristigen konjunkturpolitischen Verbesserung ge-
stellt werden müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn das
eine oder andere davon im vergangenen Jahrzehnt, als das

Wachstum deutlich niedriger war, als es jetzt ist, stattge-
funden hätte.

Wir sind davon überzeugt, dass wir im Schnitt der
kommenden Jahre ein Wachstum von deutlich mehr als
2 Prozent haben werden, sobald erstens Schwächen auf
unseren Exportmärkten überwunden sein werden, die wir
politisch kaum beeinflussen können – dies gilt insbeson-
dere für den amerikanischen Markt –, sobald sich zwei-
tens Sondereffekte im Bereich der Energiepreissteigerun-
gen weitgehend neutralisiert haben werden – selbst wenn
sie auf hohem Niveau verblieben, führte dies nicht zu wei-
teren vergleichbaren Steigerungen –, und sobald der Son-
dereffekt im Nahrungsmittelsektor neutralisiert sein wird,
wovon wir ebenfalls noch für dieses Jahr ausgehen.

Ferner gehen wir davon aus, dass eine stetige, planbare
und sichere Politik im Hinblick auf die Rahmenbedin-
gungen für Wirtschaft und Wachstum viel wichtiger als
kurzfristige Konjunkturprogramme ist. Unsere Steuerpo-
litik führt schrittweise zu einer Entlastung von Bürgern
und Wirtschaft; Jahr für Jahr wird dadurch mehr „freies“
Geld in den Kreislauf gegeben. Wir haben eine Entlastung
bei den Beitragssystemen.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Deswegen bricht auch die Konjunktur zusammen!)


Wir haben dazu beigetragen, dass Unternehmen sich we-
sentlich leichter aufstellen können, was ihre Zugehörig-
keit zu Unternehmensgruppen und den Verkauf von Be-
teiligungen angeht, und dass Strukturreformen in der
Wirtschaft selber möglich werden in Bereichen, die zuvor
steuerlich belastet waren.

Ich bin davon überzeugt, dass die Bemühungen der
Bundesregierung zur Flexibilisierung der Arbeitsmarkts-
politik dazu beitragen werden, dass Arbeitslose vermittelt
werden können, wenn wir den Menschen auf ihre Situa-
tion zugeschnittene Programme anbieten. Auch bin ich
davon überzeugt, dass eine Qualifizierungsoffensive und
eine vernünftige Einwanderungspolitik bewirken werden,
dass die seltsame, das Wachstum bremsende Schere zwi-
schen relativ hoher Arbeitslosigkeit und Fachkräfteman-
gel geschlossen werden wird.

All dies geht nicht über Nacht. Wir haben hier einen
riesigen Reformstau aus Ihrer Regierungszeit übernom-
men,


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

den wir nun abarbeiten müssen. Damit sind wir seit gut
zwei Jahren beschäftigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nun ist erkennbar, dass wir nicht nur ein Lüftchen

durchs Land wehen lassen, sondern die gesamte struktur-
politische Kulisse dahin gehend verändern, dass stetiges
Wachstum möglich sein wird. Ich gebe hier dem Bundes-
kanzler völlig Recht: Abgerechnet wird am Ende dieses
Jahres und am Ende der Wahlperiode.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Bundeskanzler ist ein ökonomischer Analphabet!)





Rolf Kutzmutz

17269


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie werden dann erleben, dass stabile Wachstumsbedin-
gungen, eine Entlastung des Arbeitsmarkts und Innova-
tionen möglich werden. Das, was heute noch zu Recht kri-
tisiert werden kann und was – übrigens mit Zustimmung
unserer Bundesregierung; das war eine einstimmige Er-
klärung der Regierungschefs – in Göteborg im Hinblick
auf Deutschland ja auch kritisiert wurde, wird dann als
eine Bilanz erscheinen, die ersichtlich macht, was aus der
Vergangenheit bis heute fortgeschrieben werden musste
und womit wir aufgeräumt haben.

Deswegen appelliere ich an die vereinigte Opposition,
insbesondere an die CDU/CSU, aber auch an die F.D.P.:
Wirken Sie mit, gemeinsam mit uns das abzubauen, was
von Ihnen an Reformstau aufgebaut worden ist! Entflam-
men Sie keine Strohfeuer! Setzen Sie nicht auf eine kurz-
fristig wirksame expansive Haushaltspolitik! Setzen Sie
nicht darauf, für kurzfristige Konjunkturerfolge die Ver-
schuldung um zig Milliarden D-Mark in die Höhe zu trei-
ben, wie Sie, Herr Brüderle, es eben vorgeschlagen haben,
als Sie sich für das Vorziehen der nächsten Stufen der
Steuerreform und das Absenken der Beiträge zur Arbeits-
losenversicherung aussprachen! Machen Sie vielmehr
eine seriöse, planbare Politik! Dann stellt sich auch dau-
erhaftes, arbeitsmarktwirksames Wachstum ein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417607600
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin Dagmar
Wöhrl.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sag mal etwas ökonomisch Vernünftiges!)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1417607700
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Konjunkturforscher an
den Wirtschaftsforschungsinstituten sind keine Berufs-
pessimisten. Sie sind Wissenschaftler, die Daten zusam-
menführen und unter Berücksichtigung volkswirtschaft-
licher Regeln bewerten. So ist es eine gnadenlose
Unverschämtheit,


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Gnadenlos?!)

wenn Sie die jüngsten Wachstumsprognosen der Institute
von 1,3 Prozent und 1,7 Prozent als „Wasserstandsmel-
dungen“ abqualifizieren. Ich verstehe ja, meine lieben
Kollegen von der Koalition,


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: „Meine gnadenlosen Kollegen“, würde ich jetzt sagen!)


dass Sie Berufsoptimisten sein müssen. Aber wie hier
Kanzler Schröder und seine Kabinettskollegen die Wirt-
schaftslage in Deutschland schönreden, ist weit mehr als
regierungsüblicher Optimismus. Sie stecken einfach den
Kopf in den Sand und wenn ein Minister hier die Wahr-
heit zu sagen versucht, wird er ganz schnell wieder
zurückgepfiffen.

Was ist Fakt? – Fakt ist, dass unsere Wirtschaft krankt.
Wenn es einen Kranken gibt, stellt man zunächst einmal

eine Diagnose. Danach sucht man nach der Therapie. Was
machen Sie? Sie weigern sich, überhaupt eine Diagnose
zu stellen. Sie betreiben reine Realitätsverweigerung und
schaden somit unserem Standort Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Würden Sie eine Diagnose stellen, dann merkten Sie

ganz schnell, dass die jetzige Konjunkturschwäche zum
größten Teil hausgemacht ist. Sie verweisen immer auf
das schwächere Wirtschaftswachstum in den USA. Das
aber erklärt nicht, warum wir mit unserem Wirtschafts-
wachstum im europäischen Vergleich an letzter Stelle lie-
gen. Das erklärt auch nicht, warum wir die Arbeitslosen-
quote im europäischen Vergleich bei uns am langsamsten
zurückgeht. Das erklärt auch nicht die Entwicklung auf ei-
nem Gebiet, auf dem wir immer vorbildlich waren, näm-
lich bei der Währungsstabilität. Das erklärt nicht, warum
es jetzt im Mai zu einer Preissteigerung von 3,6 Prozent
gekommen ist, was bei weitem über dem EU-Durch-
schnitt liegt.

Ich erinnere nur einmal an Folgendes: 1998, als wir
endlich eine Phase hatten, in der es mit der deutschen
Wirtschaft wieder aufwärts ging – wir wissen, welche
Schwierigkeiten international im Hinblick auf das Wirt-
schaftswachstum bestanden –, sagte Gerhard Schröder,
seinerzeit noch Kanzlerkandidat, in einer Anmaßung oh-
negleichen: „Dieser Aufschwung ist mein Aufschwung.“
Jetzt kann man zu Recht sagen: Dieser Abschwung ist Ihr
Abschwung! Denn seit drei Jahren stellen Sie die Regie-
rung. Jetzt liegt es an den von Ihnen getroffenen Fehlent-
scheidungen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der AbwärtsKanzler!)


Jetzt rächt es sich, dass Sie den Arbeitsmarkt mit der
Verschärfung des Kündigungsschutzes, mit der Neurege-
lung der 630-DM-Jobs, mit dem Gesetz zur Scheinselbst-
ständigkeit, mit dem Teilzeitanspruch, um nur einige der
Regelungen hier aufzuführen, noch unflexibler, noch star-
rer gemacht haben.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Betriebsverfassung!)

Jetzt rächt es sich, dass Sie mit jedem Ihrer Gesetze den
Mittelstand immer weiter benachteiligen, besonders krass
durch die Steuerpolitik. Jetzt rächt es sich, dass Sie mit der
Ökosteuer die kleinen Leute belasten und so die Binnen-
konjunktur schwächen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Kaufkraftvernichter!)


Jetzt rächt sich auch, dass wir einen Kanzler haben, der
noch vor einigen Monaten sagte, ein schwacher Euro sei
gut für unsere Wirtschaft, ohne zu erkennen, dass ein
schwacher Außenwert ebenso die Preisstabilität im Inland
gefährdet. Vor allem aber rächt sich – darauf möchte ich
besonders hinweisen – jetzt der Versuch, mit guter Laune
eine sehr schwierige Lage retten zu wollen.

Die jetzige Preissteigerung ist fünfmal höher als 1998.
Das heißt: Das Realeinkommen der Normalverdiener
sinkt, die Ersparnisse werden entwertet. Das heißt:
Höchstwahrscheinlich wird es im nächsten Jahr höhere




Reinhard Schultz (Everswinkel)

17270


(C)



(D)



(A)



(B)


Tarifabschlüsse geben. Das heißt: Verteuerung der Arbeit
im internationalen Vergleich.


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Sie sollten langsam den Ernst der Lage erkennen. Set-

zen Sie Rahmenbedingungen für ein dauerhaftes Wirt-
schaftswachstum! Wir wollen und fordern keinen blinden
Aktionismus.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Sie können es halt nicht!)


Wir wollen Rahmenbedingungen für ein dauerhaft stärke-
res Wirtschaftswachstum.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Investitionsquote darf nicht weiter gesenkt werden.
Wir brauchen eine Stärkung der Investitionsfähigkeit. Ich
appelliere an Sie: Ziehen Sie die Steuerreform vor und
lockern Sie endlich unseren verkrusteten Arbeitsmarkt!

Einen ersten Schritt dazu können Sie morgen machen:
Stimmen Sie der mittelstandsfeindlichen Novelle des Be-
triebsverfassungsgesetzes, wie Sie sie geplant haben,
nicht zu. Zeigen Sie endlich: Mittelständische Betriebe,
wir wissen, dass ihr es seid, die die Arbeitsplätze schaf-
fen. Mittelständische Betriebe, wir wissen, dass ihr Flexi-
bilität braucht. Mittelständische Betriebe, wir wissen,
dass ihr euch im internationalen Wettbewerb behaupten
müsst und dass ihr das nur könnt, wenn die Rahmenbe-
dingungen stimmen.

Ich hoffe, dass es in Zukunft nicht mehr heißen muss
– wie es heute zu Recht in der „Berliner Zeitung“ steht –:

Die ökonomische Kompetenz der rot-grünen Regie-
rung erreicht mitunter die Stufe des Analphabetis-
mus.

Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417607800
Ich erteile
dem Kollegen Werner Schulz für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Wöhrl, die ökonomische Kompetenz dieser Regierung
reicht – von wegen Analphabetismus – allemal noch aus,
um Ihnen die Leviten zu lesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)


– Haben Sie Lust, etwas von mir zu hören, oder wollen Sie
die Rede mit Zwischenrufen begleiten?

Herr Brüderle hat die alte Platte aufgelegt: 630-Mark-
Gesetz, Ökosteuer, Scheinselbstständigkeit und Teilar-
beitslosigkeit im Rahmen des Betriebsverfassungsgeset-
zes bei hoher Inflationsrate ergeben Stagflation.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.])


Das ist alles, was Ihnen einfällt. Wenn Sie an einer se-
riösen Diskussion interessiert wären – –


(Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU)

– Hören Sie doch einmal zu!


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417607900
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, ich bitte um etwas mehr Ruhe,
damit der Redner zu seinem Recht kommt.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wie war das denn mit Konrad Weiß?)


Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Rexrodt, wenn Sie von mir eine Antwort auf
Konrad Weiß erwarten, dann hätten Sie für diese Aktuelle
Stunde ein anderes Thema wählen müssen, denn ich
würde Ihnen darauf gern eine Antwort geben.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind aber mutig!)


– Das hat was mit Politik zu tun.

(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Sie sind so ner vös!)

– Überhaupt nicht!

Sie können die wirtschaftliche Lage – die uns natürlich
Sorgen macht, denn die Prognosen werden permanent
korrigiert – nicht in einer Aktuellen Stunde abhandeln.
Diese Debatte ist die Wiedervorlage sämtlicher Diskus-
sionen, die wir vor drei Wochen in diesem Haus geführt
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie bringen kein einziges neues Argument. Es hat sich
auch nichts verändert. Ich glaube nicht, dass wir gut bera-
ten sind, im Wochenrhythmus, so, wie sich die Prognosen
ändern, oder so, wie Professor Walter in die Kristallkugel
der Deutschen Bank schaut, diese Diskussionen zu
führen. Natürlich ist es richtig, dass sich die Konjunktur
abgeschwächt hat. Alle Experten warnen aber den deut-
schen Staat davor, jetzt einen hektischen Aktionismus zu
betreiben.

Ihr Blitzprogramm – nun wahrlich kein Geistesblitz –
hat in dieser Richtung nichts zu bieten. Herr Brüderle,
wenn man beispielsweise Ihren Einschätzungen und
Empfehlungen gefolgt wäre – bei der Haushaltsberatung
zum Haushalt 2001 haben Sie uns vorgeworfen, wir wür-
den die Wachstumsraten zu gering ansetzen, wir wollten
das Geld den Bürgern nicht zurückgeben, wir wollten
Steuern und Nettokreditaufnahme nicht senken –, würden
wir uns jetzt in einer außerordentlich prekären Situation
befinden. Deshalb: Über Ihre Empfehlung, jetzt die Steu-
erreform vorzuziehen, kann man natürlich reden. Es ist si-
cher eine Möglichkeit, um solchen Phasen abgeschwäch-
ter Konjunktur entgegen zu wirken.


(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann macht es doch!)





DagmarWöhrl

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(C)



(D)



(A)



(B)


– Natürlich, das machen wir jetzt in der Aktuellen Stunde,
so wie Helmut Kohl das in Ihrer Zeit in Aktuellen Stun-
den entschieden hat. Ich kann mich bestens daran erin-
nern: Die großen politischen Entscheidungen unter Bun-
deskanzler Kohl, Wirtschaftsminister Rexrodt und solch
großen Könnern der Wirtschaftspolitik sind in Aktuellen
Stunden getroffen worden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was Sie hier verbreiten, ist Hysterie. Sie verbreiten ei-
nen Zweckpessimismus. Sie wollen diese Regierung an-
greifen und ihr vorwerfen, dass sie nichts tut. Sie ignorie-
ren die gesamten Reformen, die in der letzten Zeit
durchgeführt wurden, von der Rentenreform über die
Steuerreform bis hin zur Haushaltskonsolidierung, und
verschweigen, dass die Situation in Deutschland noch
lange nicht so dramatisch ist wie in anderen Ländern.
Schauen Sie sich einmal den letzten OECD-Bericht an!
Dort wurden Korrekturen bezüglich der Erwartung des
Inlandsprodukts vorgenommen: USA 1,8 Prozent, Japan
1,2 Prozent, Niederlande 0,9 Prozent, OECD 1,3 Prozent
und Deutschland 0,5 Prozent. Bei der Produktivitätsent-
wicklung haben wir im gesamten Euro-Raum momentan
Einbußen zu verzeichnen, nur in Deutschland besteht im-
merhin ein leichtes Plus.

Ich möchte das nicht übertreiben: Ich nehme diese
Dinge wirklich ernst und wir sind in der Tat gut beraten,
diese Sache sehr aufmerksam zu verfolgen und zu über-
legen, was man tun kann. Dies haben alle Redner – auch
Staatssekretär Diller – herausgestellt. Aber Ihren blinden
Aktionismus mit der ewig gleichen Platte, was schief
laufe, sollten Sie uns wirklich ersparen. Das ist genauso
unfruchtbar und unproduktiv wie das Bemühen, der
Frage nachzugehen, ob Herr Eichel oder Herr Müller mit
ihren Prognosen Recht haben. Am Ende dieses Jahres
werden wir über all den Unsinn, den Sie, Herr Brüderle,
hier geredet haben, erneut debattieren; das verspreche ich
Ihnen.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Schönredner!)

Die Sache sieht dann etwas anders aus. Ich glaube, auch
Sie sehen dann etwas anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417608000
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Günter Rexrodt.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1417608100
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Schulz, erlauben Sie mir einmal
ein ganz persönliches Wort: Die Lage ist ernst; man kann
sich auch aufregen; aber wenn man in der Regierungs-
verantwortung – das gilt auch für Ihre Partei – steht, sollte
man nicht die Nerven verlieren.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber, Herr Rexrodt!)

Was Sie hier vorspielen, gibt kein überzeugendes Bild ab.
Zur Sache haben Sie kein Wort gesagt. Sie haben sich nur

über unsere Vorschläge aufgeregt, aber zur Sache kein
Wort gesagt.


(Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)


Die Lage ist in der Tat ziemlich besorgniserregend und
auch der Kassenbericht, den Herr Diller hier abgegeben
hat, hat nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Ak-
tionen und Maßnahmen notwendig sind. Wir haben des-
halb die Aktuelle Stunde beantragt, um die Gründe für die
wirtschaftliche Schwäche aufzuzeigen und Korrekturen
anzumahnen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das ist ja wohl legitim. Wir wissen sehr wohl – ich sage
das ganz nüchtern –, dass die Lage der Wirtschaft immer
von vielen Datenkonstellationen abhängt. Wenn man sich
aber die unsrige hier in Deutschland anschaut, kommt man
sehr schnell zu dem Ergebnis, dass es sich um eine haus-
gemachte Krise und um eine hausgemachte Schwäche
handelt. Das muss gesagt werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage es nüchtern: Die Lage in der Weltwirtschaft ist
nicht besonders günstig, aber auch nicht besonders
schlecht; ich denke dabei an die europäischen Nachbarn.
Auch der Euro-Kurs – bei aller Problematik, die da an an-
derer Stelle hereinkommt – stützt unsere Exportwirtschaft
immer noch.

Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren durch eigene
Anstrengungen Enormes geleistet: in technologischer
Hinsicht, in der Einstellung auf die Globalisierung und in
der Umstellung auf Dienstleistungen. In vielen Bereichen
haben wir Kostenführerschaft, dennoch bildet unser Land
in Bezug auf die gesamtwirtschaftlichen Daten das
Schlusslicht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das gilt für die fünf Rahmendaten, die bei der Bewertung
der Wirtschaft eine Rolle spielen. Wir sind Schlusslicht,
die anderen stehen nicht so übel da: Die Probleme sind
also hausgemacht. Aus dieser Verantwortung können Sie
sich, meine Damen und Herren, nicht herausstehlen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen einmal ganz klar: 1998 hatte der Auf-
schwung mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent
eingesetzt. Als Reaktion von der SPD kam darauf nur
– ich erinnere mich noch –: „Das geht ja nur auf den Ex-
port zurück.“ 1999 haben wir dann Ihr Desaster mit einem
Wachstum von etwas mehr als 1 Prozent erlebt.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,6 Prozent!)


Da hieß es von Ihrer Seite: „Das ist das Erbe von Helmut
Kohl“; dabei war dieses Desaster auf Ihr erstes Regie-
rungsjahr zurückzuführen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Werner Schulz (Leipzig)

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(C)



(D)



(A)



(B)


Dann kam das Jahr 2000; das war ein gutes Jahr. Zur
Hälfte ist dieses Ergebnis Ihnen anzurechnen – ich bin da
ganz fair –, weil die Steuerreform und andere Weichen-
stellungen Anlass zu ein wenig Optimismus gaben. Zur
anderen Hälfte geht dieses Ergebnis auf die günstige Ex-
portkonjunktur zurück, die Sie vorher ja abgetan hatten.
Aber das Ergebnis war in Ordnung. Für 2001 zeichnet
sich wieder ein Desaster in Bezug auf das gesamtwirt-
schaftliche Wachstum ab. Das hat nicht weltwirtschaftli-
che oder europäische Gründe, sondern im Gegenteil eher
folgende: Sie haben die Stimmung in der deutschen Wirt-
schaft kaputtgemacht und das Vertrauen verspielt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das fing bei der Steuerreform an, die ja von der Rich-
tung her okay ist – darüber haben wir lange diskutiert –,
aber den Mittelstand diskreditiert.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Mittelstandsvernichter!)


Das hat die Stimmung kaputtgemacht. Die Leute fühlen
sich geprellt. Dann kam diese unselige Ökosteuer, eine
abwegige Steuer, die die Stimmung ganz und gar kaputt-
gemacht hat. Nur darum geht es.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann haben Sie groß angekündigt, Sie wollten die Lohn-
nebenkosten senken. Ich weiß, wie schwierig das ist, und
will hierbei auch angesichts des Vorhabens einer Gesund-
heits- und Rentenreform ganz fair sein. Aber dieses Ver-
sprechen, die Lohnnebenkosten für Arbeitgeber und Ar-
beitnehmer zu senken, können Sie nicht einhalten.

Der entscheidende Grund aber sind meines Erachtens
die Fehlentwicklungen im gesamten Bereich Arbeits-
recht, Mobilität und Flexibilisierung der Arbeitswelt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist das große Handicap der deutschen Wirtschaft. Sie
tun da nicht nur nichts, weil Sie sich mit den Gewerk-
schaften nicht anlegen wollen – die mussten ja für die
Steuer- und Rentenreform eingekauft werden –, sondern
Sie drehen das Rad sogar zurück.

Dazu gehören die Verpflichtungen im Zusammenhang
mit Teilzeitarbeit, das 630-Mark-Gesetz, alles das, was
wir in Sachen Scheinselbstständigkeit erlebt haben,


(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Frauenquote!)

die Rückführung des Schwellenwertes beim Kündigungs-
schutz und vieles andere mehr.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Morgen der Gipfel mit dem Betriebsverfassungsgesetz!)


Meine Damen und Herren, nun haben wir auch noch
Inflation. Die Inflation ist zu weiten Teilen hausgemacht.
Ich rechne Ihnen dabei gar nicht den Sondereffekt, näm-
lich die Verteuerung der Lebensmittel, an,


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie reden schon eine Minute über der Zeit!)


wohl aber, dass sie drauf und dran sind, 40 Prozent des li-
beralisierten Energiemarktes in die Regulierung zurück-
zuführen. Das führt zusammen mit der Ökosteuer zu einer
Verteuerung.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind außerhalb der
Redezeit!)

Mein letzter Satz, Herr Präsident. Während andere
Länder ihr Arbeitsrecht flexibilisieren und eine Mobili-
sierung in der Gesellschaft herbeiführen, fällt uns ein
großes probates Mittel ein: Deutschland erfindet das Do-
senpfand.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das habt ihr beschlossen!)


Das Dosenpfand – 1,5 Milliarden DM werden so zusätz-
lich abgeschöpft – wird unsere Probleme lösen. Dosen-
pfand und eine Verlängerung des Briefmonopols – das ist
die deutsche Wirtschaftspolitik im Tagesablauf. So rich-
ten Sie die Wirtschaft zugrunde und machen Sie die Stim-
mung kaputt! Das muss ein Ende haben.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine tote Dose! – Gegenruf des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Sie haben noch nie etwas Anständiges sagen können! Sie sind die größte Flasche, die wir haben! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Präsident, Sie sollten einmal einschreiten! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das muss man sich von einem sagen lassen, der mit den Kommunisten kooptiert!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417608200
Für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Nina Hauer das Wort.


Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1417608300
Herr Präsident! Verehrte Damen
und Herren! Lieber Herr Rexrodt, es ehrt Sie, dass Sie am
Schluss Ihres Redebeitrages über Ihre Ausführungen sel-
ber lachen mussten. Es ist hier ohnehin immer nett mit Ih-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Brüderle, der Hang zum staatlichen Interventio-

nismus ist offensichtlich derzeit eine Marktlücke in der
politischen Meinungsbildung. Mir macht es Spaß, dass
ausgerechnet die F.D.P. meint, diese Marktlücke für sich
besetzen zu müssen. Richtig ist natürlich: Es scheint of-
fensichtlich ein Wettbewerb der deutschen Wettbewerbs-
institute ausgebrochen zu sein, die Prognosen nach unten
zu korrigieren. Die beängstigende Begeisterung, die die
Opposition schon am Anfang der Debatte gezeigt hat,
nämlich diese Korrektur nach unten zu beklatschen, mag
damit zusammenhängen, dass sich Ihre Umfrageergeb-
nisse genauso verhalten. Verlassen Sie sich aber nicht
auf diesen Zusammenhang! Dieselben Wirtschaftsinsti-
tute sagen, es sei zu erwarten, dass das Wachstum in der




Dr. Günter Rexrodt

17273


(C)



(D)



(A)



(B)


zweiten Hälfte des Jahres steigt. Dann kann es sein, dass
Sie den Anschluss verpassen.

Wir nehmen den Rückgang der Konjunktur in einigen
Bereichen der Wirtschaft sehr ernst, weil wir wissen, dass
dies für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland
nicht nur günstige Auswirkungen hat. Aus diesem Grunde
prüfen wir jeden Vorschlag, der in der politischen Debatte
in diesem Zusammenhang gemacht wird. Ich gebe zu,
dass die Vorschläge der F.D.P. nach höheren Inverstitio-
nen besser sind als die der CDU.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist kein Wunder!)

Der CDU wäre es am liebsten, wir steckten unser Geld in
den konsumtiven Teil unseres Haushalts, zum Beispiel in
den Bereich Verteidigung, was bedeuten würde, dass die-
ses Geld für Investitionen verloren ist. Sie hingegen, Herr
Brüderle, schlagen ein Blitzprogramm vor, sagen aber
nicht, wie das funktionieren soll. Auch wenn Sie in der
Marktlücke eines staatlichen Interventionismus bleiben
wollen, sage ich Ihnen: Die Wirtschaft kann besser wirt-
schaften als der Staat.


(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Ich meine, dass wir uns auch in Zukunft auf diesen Me-

chanismus verlassen können. Der Staat muss seine Haus-
aufgaben in den Bereichen machen, in denen es von der
Marktentwicklung her nicht unbedingt dann zu Investi-
tionen kommt, wenn sie nötig sind. Das tun wir auch.
Wenn Sie sich den neuen Haushaltsplan ansehen, dann
stellen Sie fest, dass wir auf Zukunftsinvestitionen setzen,
vor allem im Bereich der Forschung und der Bildung. Da-
rüber hinaus setzen wir im Haushalt des Bundesministers
für Arbeit und Sozialordnung auf Weiterqualifikationen
für ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, deren
Chancen auf dem Arbeitsmarkt wegen ihrer mangelnden
Qualifikation im Moment nicht so gut sind.


(Beifall bei der SPD)

Dann gibt es den Vorschlag, der auch aus der CDU

kommt, man möge doch die nächste Stufe der Steuerre-
form vorziehen. Ich weiß nicht, ob Sie darüber einmal mit
den Ländern gesprochen haben, in denen die CDU mit ih-
rer Mehrheit die Verantwortung trägt.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Die reden doch mit den Ländern nicht mehr! Die machen eine Politik der verbrannten Erde!)


Ich kann mir kaum vorstellen, dass es Begeisterung
dafür geben wird, die Haushalte der Länder mehr zu be-
lasten, obwohl die immer noch besser dastehen als der
Bundeshaushalt.

Abgesehen davon ist das Vorziehen der Steuerreform
von der volkswirtschaftlichen Wirkung her nicht notwen-
dig. Die Zahlen für die einzelnen Stufen liegen ja auf dem
Tisch. Wir geben auf der Nachfrageseite allein in diesem
Jahr mit der Steuerreform 45 Milliarden DM in die Volks-
wirtschaft hinein,


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Und was nehmt ihr den Leuten mit der Ökosteuer wieder weg?)


nämlich durch Senkung der Einkommensteuersätze, von
der auch der Mittelstand in erheblichem Maße profitiert.
Allein dadurch, dass die gezahlte Gewerbesteuer nun von
der Einkommensteuerschuld abziehbar ist, erfahren die
mittelständischen Unternehmen eine Entlastung von rund
13 Prozent gegenüber dem Vorjahr.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und was nehmt ihr den Leuten ab?)


Dies wird sich auch im Jahresabschluss zeigen.
Darüber hinaus machen wir das deutsche Steuerrecht

wieder international wettbewerbsfähig,

(Beifall bei der SPD)


indem wir den Systemwechsel den anderen Ländern und
ihren Volkswirtschaften anpassen. Auf diese Veränderun-
gen hat die deutsche Wirtschaft unter Ihrer Regierung jah-
relang gewartet.

Ein letzter Punkt: Ich kann ja verstehen, wenn sich die
Opposition an jeden Strohhalm klammert, der ihr hinge-
worfen wird. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn
Leute, die sich für ernst zu nehmende Wirtschafts- und
Finanzpolitiker halten mögen, den Standort Deutschland
bewusst und mit Begeisterung hier im Parlament herun-
terreden.


(Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist eine Unverschämtheit!)


Das ist wirtschaftspolitisch und angesichts der Entwick-
lung, die wir nehmen können, grob fahrlässig. Die Bran-
chen weisen ja durchaus unterschiedliche Wachstumsraten
auf. Im Bereich der Kommunikationstechnologien, in der
Elektrotechnik, in Teilen der Metall verarbeitenden Indus-
trie herrscht die Erwartung riesiger Wachstumsraten. Die
Prognosen in einigen Branchen sind sehr positiv. Das ist in
den letzten Monaten überall deutlich geworden und auch
von Unternehmensverbänden bestätigt worden.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Schauen Sie sich einmal die Gewinnrücknahmen an!)


Dann als Politiker zu sagen, das alles könne nicht rich-
tig sein und daran glaube man nicht, bedeutet, der psy-
chologischen Wirkung, die das Vertrauen in den Wirt-
schaftsstandort braucht, einen Riegel vorzuschieben.
Insofern kann ich Sie nicht verstehen. Ich denke aber, dass
auch niemand darauf hören wird, was Sie hier sagen, weil
das Vertrauen des Auslandes in die Wirtschaftskraft
Deutschlands ungebrochen ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417608400
Ich erteile
dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1417608500
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Um mit dem Letzten anzufan-
gen, was die Kollegin gesagt hat: Das Vertrauen des Aus-




Nina Hauer
17274


(C)



(D)



(A)



(B)


landes ist ungebrochen. Das müsste sich ja dann in auslän-
dischen Investitionen in Deutschland niederschlagen,
aber auch in der weiteren Entwicklung, die mit unserem
Lande zusammenhängt.

Was mich an der Diskussion, die wir seit einigen Wo-
chen führen, einigermaßen erstaunt, ist, dass offensicht-
lich versucht wird, den Eindruck zu erwecken, das, was
sich jetzt in der Wirtschaft abspielt, sei überhaupt nicht zu
erkennen gewesen, habe sich bisher nicht abgezeichnet.


(Zuruf von der F.D.P.: Ein Wunder!)

Im November 2000 habe ich bei der Haushaltsrede gesagt,
dass es dunkle Wolken am Konjunkturhimmel gibt. Ich
habe auch klar begründet, weshalb diese dunklen Wolken
am Konjunkturhimmel erscheinen. Das konnte jedermann
nachvollziehen. Es gab damals böses Gelächter und es
hieß, man wolle die Konjunktur schlecht reden. Das war
das Gleiche wie das, was Sie heute erzählen. Aber die Si-
tuation war in der Tat abzusehen.

Es zeigt sich, dass unsere Kritik, die an der Steuerre-
form angemeldet wurde, auch völlig berechtigt gewesen
ist. Diese Steuerreform hat ihre Wirkung nicht entfaltet.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Anfang der 80er-Jahre gab es einmal den Satz: Stell dir
vor, es ist Krieg, und keiner geht hin! – Heute könnte man
sagen: Stell dir vor, man senkt die Steuern, und keiner
merkt etwas davon! Das charakterisiert in etwa die Poli-
tik, die Sie hier betreiben.

Ganz eindeutig ist aber, dass in den letzten zweieinhalb
Jahren eine Reihe von Maßnahmen getroffen worden
sind, die schädliche Wirkungen hinterlassen mussten:
Bremsspuren beim Wachstum, die seit geraumer Zeit und
nicht erst seit den letzten Tagen erkennbar sind. Da ist ein-
mal die Energiepolitik: Es soll der Eindruck vermittelt
werden, das habe nur etwas mit den ausländischen Mine-
ralölkonzernen zu tun. Aber 30 Pfennig der letzten Sprit-
preiserhöhung sind hausgemacht. Dazu kommt noch die
schlechte Wirtschaftspolitik, die die Dollar-Euro-Relation
verschlechtert. Das war doch mit Händen zu greifen. Und
dass die Energiepreiserhöhung mehr auffrisst als die Steu-
erreform an Entlastung bringt, kann auch jeder nachvoll-
ziehen. Deswegen sage ich: Die Regierung stellt sich
dumm, aber sie hätte wissen müssen, was sich abzeich-
nete und was sich tatsächlich verwirklicht.

Sie konnten es beispielsweise auch an der Entwicklung
der Zahl der Existenzgründer ablesen. Ich habe mich
heute noch einmal bei der Ausgleichsbank und der KfW,
erkundigt: Was tut sich denn bei der Zahl der Anträge von
Existenzgründern, also bei Leuten, die mittelständisch in-
vestieren wollen? Absolute Flaute, Trendwende nicht ab-
zusehen. Das heißt doch, Arbeitsplätze, die in absehbarer
Zeit entstehen müssten, werden auch in den nächsten Mo-
naten nicht entstehen. Das ist die Situation.

Ich habe das Thema Energiepreise angesprochen.
Gucken Sie Ihre Haushaltspolitik, auf die Sie ja so stolz
sind, an. Das ist auch eine – wie wir heute sagen – Wir-
kung der falschen und schlechten Haushaltspolitik. Wenn
ich das Sparen alleine dadurch erreiche, dass ich die In-

vestitionen reduziere, dann muss ich mich über die Wir-
kung an vielen Stellen im Lande nicht wundern.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)


Das ist aber gemacht worden.
Also: Energiepreise – hausgemachte Situation; eine

Haushaltspolitik, die die Investitionen bestraft und nicht
belohnt; und dann – wie die Kollegen meiner Fraktion
schon vor mir gesagt haben – eine Fülle von Nadelstichen
gegen die Wirtschaft, die, wenn man sie zusammen-
nimmt, die Wirtschaft in einem unerträglichen Maße zu-
sätzlich belasten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wenn ich an diesen drei Stellen nichts ändere, dann
kann ich auch keine Verbesserung der wirtschaftlichen Si-
tuation erwarten; dann geht es tatsächlich in Richtung Re-
zession. Das heißt – das ist eine Forderung, die wir in
nächster Zeit konkretisieren werden –, wir müssen zum
1. Januar eine drastische Steuersenkung vornehmen. Da-
bei ist es relativ egal, ob Sie sagen, ich verzichte auf die
gesamte Ökosteuer – das trifft dann vor allen Dingen den
Bund; Sie brauchten mit den Ländern gar nicht lange da-
rüber zu verhandeln –, oder ob Sie sagen – wie die Kolle-
gin Scheel, die ja außerhalb des Parlaments manchmal
mutig redet – ich ziehe die gesamte weitere Steuerreform
auf den 1. Januar des kommenden Jahres vor. Das war ja
unsere Kritik: dass man eine Salamireform, also in Schei-
ben, macht, und zwar so dosiert, dass überhaupt keine po-
sitive Wirkung mehr entsteht.

Sie müssen natürlich auch mit den Maßnahmen auf-
hören, mit denen Sie die Wirtschaft belasten. Gucken Sie
sich die Situation im Einzelhandel an. Gucken Sie sich die
Situation bei der Bestellung von Kraftfahrzeugen an.
Gucken Sie sich – das ist heute in den Zeitungen zu lesen –
die reduzierten Gewinnerwartungen vieler Betriebe an.
Gucken Sie sich an, was im Handwerk passiert. Viele im
Handwerk – nicht nur im Bauhandwerk – sagen, so drama-
tisch wie jetzt war die Situation in den letzten Jahrzehnten
nicht – nicht in den letzten drei Jahren, nicht in den letzten
16 Jahren! Das ist die Folge einer falschen Finanz-, Haus-
halts- und Wirtschaftspolitik dieser Regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ein Eingeständnis dafür, dass das so ist, war vor
kurzem in einer kleinen Randnotiz zu lesen, in der die
Kollegin Wolf – sie ist ja im Moment nicht da –, gesagt
hat: Wir überlegen, ob wir dieses Teilzeitzwangsgesetz
zum Ende des Jahres auslaufen lassen. Es hat sich näm-
lich herausgestellt, dass es Arbeitsplätze kostet, aber
keine neuen Arbeitsplätze schafft.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da hat sie Recht!)

Das merkt man gelegentlich bei den Grünen. Ab und zu
kommt einmal so ein konservativer Gedanke, natürlich
nur außerhalb des Parlaments, außerhalb der Regierungs-
tätigkeit. Das, was Sie in der Regierung machen, ist genau
das Gegenteil: Sie belasten Wirtschaft und Betriebe und




Dietrich Austermann

17275


(C)



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(B)


die Steuerzahler. Dazu kommt dann noch diese gewaltige
Inflation.

Lassen Sie mich mit einer weiteren Bemerkung
schließen. Heute Morgen war vom Kindergeld die Rede.
In unserer Regierungszeit haben wir das Kindergeld übri-
gens beim ersten Kind von 50 DM auf 220 DM erhöht.
Darüber wurde geschwiegen. Was hilft denn die küm-
merliche Erhöhung des Kindergeldes von 30 DM vom
1. Januar an, wenn bei einem durchschnittlichen Ein-
kommen von 3 000 DM durch die Inflation 105 DM weg-
gefressen werden? Wie soll sich derjenige denn noch
über die Erhöhung des Kindergeldes freuen? Und den
Rest kriegt er dann noch durch die nächste Stufe der Öko-
steuer.

Diese hohe Inflation und dieses mickrige Wachstum
belasten Bürger und Betriebe. Deswegen sagen wir: Ohne
eine Kurskorrektur werden Sie keine Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation in Deutschland erreichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417608600
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Ditmar Staffelt.


Dr. Ditmar Staffelt (SPD):
Rede ID: ID1417608700
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal bedauere
ich die Tatsache, dass hier in aller Massivität versucht
wird, die Fakten, über die wir heute in dieser Aktuellen
Stunde an sich reden sollten, in einer Weise zu entstellen,


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was? Nullwachstum! Kennen Sie Müller?)


dass wir in diesem Hause zu keiner ernsthaften Debatte
über Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik fähig sind.
Ich sage Ihnen: Der Opposition stünde es gut an, wenn sie
den Standort Deutschland nicht in der Art und Weise, in
der sie es hier praktiziert, schlechtreden,


(Beifall der SPD – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Kennen Sie einen Wirtschaftsminister Müller?)


sondern mithelfen würde, diesen Standort Deutschland zu
gestalten. Ich habe überhaupt keine vernünftigen, reali-
sierbaren Vorschläge von Ihrer Seite gehört.


(Beifall der SPD)

Da kommt der Rexrodt – Günter Bleichgesicht in

früheren Tagen; seit er nicht mehr Minister ist, hat er ein
bisschen rote Farbe –, der in all den Jahren seiner Tätig-
keit als Bundeswirtschaftsminister nun überhaupt nichts
vom dem, was er hier gefordert hat, durchgesetzt hat.


(Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Untätigkeit!)


Warum haben Sie denn nicht die Arbeitsmärkte deregu-
liert?


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Weil Sie gegengehalten haben!)


Warum haben Sie denn, bitte schön, Rentenreform, Steuer-
reform und andere Dinge nicht durchgesetzt?


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Wer hat sie denn blockiert? – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wer hat denn privatisiert? Wer denn?)


Sie reden hier, als hätten Sie keine Geschichte und als
hätte es nicht eine Bundesregierung gegeben, für die Sie
höchstpersönlich mitverantwortlich waren.


(Beifall bei der SPD)

Schauen Sie sich doch einmal das Ergebnis an, über

das wir heute reden und das natürlich dazu führt, dass wir
in dieser Zeit in massiver Weise Haushaltskonsolidierung
durchführen müssen. Sie haben das Land in die Schul-
denkrise gestürzt, mit all den Wirkungen, die das am Ende
eben auch für die konjunkturelle Entwicklung in unserem
Lande hat.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ihr macht über 200 Milliarden DM mehr Schulden als wir!)


Da werden Argumente ins Feld geführt, bei denen ich
nur sagen kann: Sie versuchen mit aller Kraft, Negativ-
punkte zusammenzuführen. Sie reden davon, die Gesetze
zur Lohnfortzahlung, zum Kündigungsschutz, zu den
630-Mark-Jobs, zur Förderung der Selbstständigkeit – be-
schlossen übrigens in 1999 – hätten den Unternehmerin-
nen und Unternehmern das Investieren sozusagen un-
möglich gemacht.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Richtig!)

Wie kommt es denn, dass die konjunkturelle Entwicklung
trotz dieser beschlossenen Gesetze gerade in 2000 so po-
sitiv war, wie sie war? Das sind doch Argumente, die an
den Haaren herbeigezogen sind.


(Beifall bei der SPD)

Ich setze ausdrücklich dagegen: Wir haben unsere

Schularbeiten gemacht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das merken wir!)


Schauen Sie sich das doch einmal an! Wir haben eine
Steuerreform und eine Rentenreform verabschiedet, wir
haben die Lohnnebenkosten gesenkt. Wenn Sie heute an
der Wall Street, in Washington, in Kanada wie in Europa
über den Standort Deutschland reden, dann werden Sie
hören, dass man aufgeatmet hat, dass diese Regierung
diese Reformen eingeleitet hat


(Lachen bei der CDU/CSU)

– ja, so ist es – und Deutschland wieder zu einem interes-
santen Investitionsstandort in Europa geworden ist.


(Beifall bei der SPD)

Da können Sie noch so viel erzählen; das sind die objek-
tiven Tatsachen.

Ich sage Ihnen noch eines: Die Binnenkonjunktur ist
das, was im Moment das allgemeine Bild aufhellt; sonst
hätten wir in sehr viel stärkerem Maße eine Konjunktur-
delle. Ohne Steuerreform sähe die konjunkturelle Ent-
wicklung sehr viel schlechter aus.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Fragen Sie doch mal die Leute in den Betrieben! – Dr. Günter Dietrich Austermann 17276 Rexrodt [F.D.P.]: Noch schlechter geht doch gar nicht!)





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(B)


Reden Sie doch nicht andere Standorte gut. Schauen Sie
sich die USAmit ihren aktuellen Problemen an; daraus er-
klären sich auch viele der Exportprobleme, die wir im
Moment haben.

So einfach, wie Sie es sich machen, geht es wirklich
nicht. Herr Rexrodt ist ja jetzt auf dem Wege, Agitprop zu
machen, seitdem er mit bestimmten politischen Kräften
auf der Straße zusammenarbeitet,


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist das schlagendste Argument! Jetzt wissen wir es!)


und hier predigt er das Lied des Kleinunternehmers. Ich
sage Ihnen eines, Herr Rexrodt: Wir bleiben bei unserem
Kurs, eine offensive Politik für die kleinen und mittleren
Unternehmen in unserem Lande zu machen. Wir haben
viele Reformen in Gang gesetzt und wir haben darüber hi-
naus eine Förderkulisse geschaffen, die sich sehen lassen
kann, die wirkt und greift.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!)

Deshalb wird der Standort Deutschland auch durch Ihr
Gerede nicht schlechter werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Realitätsverleugnung!)


Sie sollten sich überlegen, ob Sie mit dieser Art der Ar-
gumentation irgendwo Gehör finden; denn sie ist destruk-
tiv und nicht konstruktiv nach vorne gerichtet.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417608800
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Peter Rauen für die Fraktion der
CDU/CSU.


Peter Rauen (CDU):
Rede ID: ID1417608900
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über
die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Es ist
schon sonderbar, dass Wirtschaftsminister Müller heute
bei der Debatte nicht anwesend ist.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Überhaupt sind auf der Regierungsbank wenige zu sehen!)


Entweder darf er nicht mehr kommen, nachdem er vom
„Nullwachstum“ gesprochen hat, oder er will die Position
der Bundesregierung nicht mehr verteidigen.

Herr Staffelt, wir reden hier von Fakten. Es liegt mir
fern, von anderen Dingen zu sprechen.

Bereits im Frühjahr haben die führenden Wirtschafts-
institute festgestellt, dass wir Deutsche beim Wachstum in
Europa das Schlusslicht bilden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Rote Laterne!)

Sie haben festgestellt, dass wir beim Beschäftigungszu-
wachs weit unter dem Durchschnitt in Europa liegen und
dass wir bei der Abnahme der Arbeitslosigkeit auf die

zwölfte Stelle zurückgefallen sind. Diese Prognosen wur-
den im Februar aufgestellt.

Atemberaubend und beängstigend ist, wie schnell diese
Daten noch einmal nach unten korrigiert worden sind. Das
muss uns doch in höchstem Maße zu denken geben. Ich
wundere mich nach wie vor, dass von der Regierung nicht
zur Kenntnis genommen wurde, was uns die Bundesbank
im Februar mitgeteilt hat, dass nämlich in 2000 das reale
Wachstum mit 3,1 Prozent um 0,4 Prozent höher als das
nominale Wachstum war. Das hat es im letzten Jahr-
hundert nur zweimal gegeben: einmal bei der Weltwirt-
schaftskrise Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre und
einmal nach der Korea-Krise 1953.

Ich habe der Regierung wegen dieses Phänomens ge-
schrieben und eine erstaunlich klare Antwort bekommen.
Man hat die Tatsache festgestellt, dass im Jahr 2000 viele
Betriebe ihre durch höhere Energiekosten entstandenen
Mehrkosten nicht über ihre Preise haben weitergeben kön-
nen. Was heißt das im Klartext? Weniger Gewinne, weni-
ger Investitionsfähigkeit und -tätigkeit und damit weniger
Arbeitsplätze. Ferner stand in der Antwort von Frau
Hendricks, man erwarte, dass sich die Preise im Jahr 2001
erholen würden. Das bedeutet eine höhere Inflation. Ge-
nau das haben wir heute. Auch das ist abenteuerlich.

Vor über einem Jahr haben die sachkundigen Männer
und Frauen, die die Steuerschätzungen vornehmen, ange-
nommen, dass die Inflationsrate bei 0,6 Prozent liegen
werde. Nur zwölf Monate später liegt die Inflationsrate
bei 3,5 Prozent. Es ist ein atemberaubendes Tempo, was
hier vorgelegt wird. Ich habe vor über einem Jahr vor die-
ser Entwicklung gewarnt. Im März dieses Jahres haben
Sie mir noch Schwarzmalerei unterstellt.

Wer so wie Sie eine Politik gegen den Mittelstand und
Arbeitnehmer in Deutschland macht, der muss auf dem
Arbeitsmarkt scheitern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich habe bei der hier vorhandenen Ignoranz – man spürt
sie auch heute wieder –, die Realität zur Kenntnis zu neh-
men, keine Lust, in die Details zu gehen. Aber der Ar-
beitsmarkt ist das Spiegelbild einer guten oder schlechten
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Sie stehen vor
dem Scherbenhaufen dieser Politik, die gescheitert ist.


(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Leider ist das so!)


Der Arbeitsmarkt gibt ganz klar Auskunft. Wir hatten
im Januar, Februar, März, April und Mai dieses Jahres sai-
sonbereinigt eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um
51000 Personen. Sie haben zunächst mit einer Abnahme
gerechnet. Aber 100 000 Arbeitslose mehr bedeuten
5 Milliarden DM mehr Kosten und nicht vorhandene Ein-
nahmen der sozialen Sicherungssysteme.

Herr Schröder wollte schließlich am Abbau der Ar-
beitslosigkeit gemessen werden. Was ist jetzt die Realität?
Ich will die Verbindung zur vorherigen Regierung durch-
aus herstellen. Nachdem die Zahlen korrigiert worden
sind, wissen wir, dass wir, gerechnet in Erwerbstätigen-
stunden – nur diese zählen; denn sie sind die Grundlage




Dr. Ditmar Staffelt

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für die Zahlung von Steuern und Abgaben –, beginnend
von Mitte 1997 einen Aufwuchs bis 1998 hatten. Der Ar-
beitsmarkt ist nach den Erwerbstätigenstunden in 2000
zum Stillstand gekommen und geht in 2001 sogar zurück.
Das ist die Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Eindruck, dass diese Regierung auf dem Arbeits-

markt Erfolge gehabt haben könnte, hat damit zu tun, dass
wir bei den Zahlen zwei Jahre im Dunkeln getappt sind,
weil statistische Daten korrigiert wurden. Heute werden
Teilzeitarbeitsplätze, die 630-DM-Jobs, mitgezählt. Das
war früher nicht der Fall. Bei den Arbeitslosenzahlen wer-
den die über 58-Jährigen im Vorruhestand nicht mehr mit-
gezählt. Das ist die Realität.

Wir haben keine Abnahme der Arbeitslosigkeit. Sie
kennen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes – damit
werde ich schließen –:


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das denke ich auch!)

Wir haben im Jahr 1999/2000 einen Rückgang der Ar-
beitslosenzahl um 370 000. Das ist aber weniger als der
Wert, um den die Arbeitslosenzahl im gleichen Zeitraum
aus demographischen Gründen zurückgehen musste, weil
mehr ältere Leute aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als
junge Leute in das Erwerbsleben eintreten.

Ich sage Ihnen eines voraus: Diese Politik zulasten von
Mittelstand und Arbeitsplätzen wird Sie auf dem Arbeits-
markt einholen. Wir werden am Ende des Jahres noch ein-
mal darüber sprechen. Dann wird die Situation noch
schlechter sein. Denn in den Zweigen der Wirtschaft, de-
ren Produkte nicht exportiert werden können, die nicht
über Grenzen operieren können, haben wir zurzeit eine
Situation, wie sie schlimmer nicht sein kann. Ich weiß,
wovon ich rede.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417609000
Als letztem
Redner in dieser Aktuellen Stunde gebe ich das Wort dem
Kollegen Dr. Rainer Wend für die Fraktion der SPD.


Dr. Rainer Wend (SPD):
Rede ID: ID1417609100
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Staffelt hat
mir gerade gesagt, er habe in der Zeitung gelesen, dass
sich Herr Uldall Hoffnungen auf das Amt des Finanz-
senators der Freien und Hansestadt Hamburg macht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Mit gutem Grund! – Genau, weil die CDU die Wahl gewinnt!)


Ich muss sagen, nach Ihrem heutigen Redebeitrag kann
man das den Hamburgern nicht zumuten.

Ich will mich an einer Stelle mit Ihnen streiten. Sie wis-
sen, dass ich bei vielen Dingen mit Ihnen sehr gerne dis-
kutiere, aber das greife ich auf. Sie haben uns im
Jahr 1998 ein „gut gemachtes Bett“ hinterlassen: mit
4,2 Millionen die höchste Arbeitslosigkeit seit Bestehen
der Bundesrepublik, mit 1,5 Billionen DM die höchste

Staatsverschuldung seit Bestehen der Bundesrepublik,
mit 42,3 Prozent Lohnnebenkosten die höchste Abgaben-
quote seit Bestehen der Bundesrepublik und die höchste
Steuerbelastung, die es in der Bundesrepublik Deutsch-
land seit ihrem Bestehen gegeben hat.

Das ist das, was Sie uns als „gut gemachtes Bett“ ver-
kaufen wollen. Das ist im Grunde nicht einmal eine Luft-
matratze.


(Zuruf von der SPD: Es ist nicht einmal ein Strohhalm!)


Es ist ein unglaublicher Vorgang, dass Sie sich heute hier
hinstellen und sagen, dass diese Zahlen in Ordnung ge-
wesen sind. Wir sind dabei, das, was Sie uns hinterlassen
haben, mit viel Arbeit in Ordnung zu bringen. Selbst diese
mühseligen Anfänge, mit denen wir es nicht leicht haben,
versuchen Sie heute kaputt- und schlechtzureden. Das ist
nicht in Ordnung, Herr Uldall. Das kann ich nicht akzep-
tieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir uns doch wenigstens über drei Dinge ver-
ständigen könnten, wobei ich an dritter Stelle ausdrück-
lich auch etwas in unsere eigene Richtung sagen will.

Erstens. Es ist mehrfach gesagt worden, deshalb dazu
nur ein Satz: Sie sagen, diese Krise sei hausgemacht. Das
ist schon deswegen absurd, weil jeder weiß, die Konjunk-
turdelle im Euro-Raum wird tiefer – „Handelsblatt“ –; Ja-
pan, Amerika, die Zahlen sind bekannt.

Zweitens. Wirtschaft hat viel mit Psychologie zu tun.
Das sagen alle, das räume ich auch ein. Da das so ist,
würde ich Ihnen auch gerne etwas aus dem „Handelsblatt“
vorlesen:

Positiv fiel im April nur die Verbrauchsgüterproduk-
tion auf, die als einziger Bereich des verarbeitenden
Gewerbes einen Zuwachs ... verzeichnen konnte. Da
die Bestellungen von Konsumgütern im April eben-
falls gestiegen sind, werden leise Hoffnungen ge-
weckt, dass der deutsche private Verbrauch nun doch
durch die Steuererleichterungen Impulse erhält.

Ich sage nicht, es läuft alles prima. Aber all die positiven
Dinge, die wir sehen, sollten wir nicht kleinreden, sondern
herausheben, um eine gute psychologische Stimmung in
der Wirtschaft zu erzeugen. Das wäre unsere gemeinsame
Aufgabe und nicht nur unsere Aufgabe. Stellen Sie sich
bitte auch dieser Aufgabe.

Drittens. Ich glaube, man kann nicht bestreiten, dass
es auch in Deutschland Sonderentwicklungen gibt, mit
denen man sich beschäftigen muss. Der erste Punkt, den
ich nennen möchte – ihn hat der Kollege Austermann an-
gesprochen; er macht auch mir Sorgen –, ist der Um-
stand, dass in den öffentlichen Haushalten das Verhält-
nis zwischen Investitionen einerseits und konsumtiven
Ausgaben andererseits nicht in Ordnung ist. Dies führt
in der Bauwirtschaft, aber nicht nur dort zu großen Pro-
blemen.

Diese Schwierigkeit besteht aber nicht etwa nur beim
Bundeshaushalt, meine Damen und Herren. Es ist fast




Peter Rauen
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(D)



(A)



(B)


gleichgültig, in welches Bundesland wir gehen. Es ist fast
gleichgültig, in welche Kommune wir gehen. Es ist fast
gleichgültig, welche politische Konstellation in diesen
Körperschaften an der Regierung ist. Überall besteht das
Problem, dass es alle politischen Kräfte bisher letztlich
nicht geschafft haben, konsumtive Ausgaben zurückzu-
drängen und stattdessen investive Ausgaben zu finan-
zieren. Diese schwierige Aufgabe müssen wir gemeinsam
angehen.

Ein weiterer Punkt – Sie haben das nicht ganz zu Un-
recht angesprochen – betrifft die Arbeitsmärkte. Dazu
muss man sagen: Die rot-grüne Regierung kann noch
nicht am Ende dessen sein, was in dieser Hinsicht zu tun
ist. Stichwort Lohnabstandsgebot: Es ist richtig, dass die
Abstände zwischen staatlichen Transferleistungen einer-
seits und niedrigen Löhnen im Tarifbereich andererseits
größer werden müssen. Das darf aber nicht zulasten der
Sozialhilfebezieher passieren; vielmehr muss es zuguns-
ten derjenigen arbeitenden Menschen geschehen, deren
Einkommen im unteren tariflichen Bereich liegt. Der erste
Schritt dazu ist unsere Steuerreform, durch die der Ein-
gangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt und der Steuer-
freibetrag auf 15 000 DM angehoben wird. Für mich
persönlich sind weitere Schritte denkbar; Stichwort Lohn-
subventionen. Ich meine, man muss diese Dinge anspre-
chen, wenn man über die Bekämpfung von Arbeitslosig-
keit und über Wirtschaftspolitik redet.


(Beifall des Abg. Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD])


Zusammengefasst: Wir haben es in Deutschland und in
Euro-Land mit einer konjunkturellen Delle zu tun. Tun
wir unsererseits doch alles, die deutlich werdenden posi-
tiven Ansätze in den Vordergrund zu rücken, damit wir
den für das zweite Halbjahr prognostizierten Aufschwung
tatsächlich erreichen! Reden wir positiv über unser Land!
Machen wir weitere Schularbeiten! Stichwort öffentliche
Investitionen in den Arbeitsmarkt; diese Investitionen
müssen wir vornehmen. Schaffen Sie hier keine Welt-
untergangsstimmung, sondern sagen Sie: Wir sind auf
einem guten Weg und wir sind bereit, diesen Weg mitzu-
gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417609200
Ich schließe
die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der F.D.P.
Deutsche und Polen in Europa: Eine gemein-
same Zukunft
– Drucksache 14/6322 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
das Wort dem Kollegen Markus Meckel von der Fraktion
der SPD.


Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1417609300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Vor zehn Jahren, am 17. Juni 1991, haben
Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki den von Hans-
Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski ausge-
handelten Vertrag über gute Nachbarschaft und freund-
schaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Voraussetzung
dafür war der Abschluss des Grenzvertrages zwischen
Deutschland und Polen.

Mit diesen Verträgen ist eine neue Epoche zwischen
Deutschland und Polen eingeleitet worden. Die Entwick-
lung der Beziehungen zwischen diesen Ländern seit 1989
kann als eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte des
20. Jahrhunderts bezeichnet werden, eines Jahrhun-
derts, das auch durch schlimmstes Geschehen zwischen
Deutschland und Polen gekennzeichnet ist.

Polen ist seit mittlerweile mehr als zwei Jahren Mit-
glied der Nordatlantischen Allianz und wird demnächst
Mitglied der Europäischen Union sein. Damit werden die
beiden wichtigsten Ziele der polnischen Außenpolitik in
den letzten zehn Jahren mit unserer Unterstützung erfüllt.
Die deutsch-polnischen Regierungskonsultationen am
Anfang dieser Woche haben gezeigt, wie partnerschaft-
lich unsere Beziehungen auf Regierungsebene sind. Die
Kontakte auf politischer, wirtschaftlicher und gesell-
schaftlicher Ebene haben sich in den letzten Jahren so in-
tensiv entwickelt, dass auch für Menschen, die sich damit
intensiv beschäftigen, ein Überblick kaum möglich ist.
Ich nenne beispielsweise die Vielzahl der Kontakte in der
Grenzregion, in den vier EU-Regionen an Oder, Neiße,
Spree und Bober.

In Anbetracht unserer Geschichte mag besonders er-
staunen, dass gerade unsere militärische Zusammenarbeit
sehr gut ist, wie das trilaterale deutsch-dänisch-polnische
„Korps Nordost“ in Stettin zeigt. Ich möchte auch auf die
Entwicklung des wirtschaftlichen Austausches zwischen
Deutschland und Polen hinweisen. Polen ist heute außer-
halb der Europäischen Union unser drittwichtigster Han-
delspartner nach den USA und der Schweiz. Das ist ein
wichtiges Fundament unserer Beziehungen. Diese Ent-
wicklung ist überwältigend.

Ich freue mich, dass wir hier angesichts dieses Jahres-
tages einen parteiübergreifenden Antrag verabschieden
werden. Das zeigt, dass die Beziehungen zu Polen kein
Streitthema mehr in der deutschen Innenpolitik sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es ist symbolträchtig, dass auch der Sejm in dieser
Stunde über eine Resolution zum zehnten Jahrestag des
Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche
Zusammenarbeit diskutiert. Ich glaube, dass die guten
Kontakte zwischen den beiden Parlamenten für die guten
Kontakte zwischen unseren Ländern bezeichnend sind.




Dr. RainerWend

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Die Ereignisse von 1989 haben dazu geführt, dass erst-
mals in der gemeinsamen Geschichte ein demokratisches
Deutschland und ein demokratisches Polen aneinander
grenzen – ohne gegenseitige Gebietsansprüche, aber
dafür mit stabilen demokratischen Strukturen auf beiden
Seiten und dem festen Willen zur Zusammenarbeit. Da-
durch hat sich der Charakter unserer Beziehungen grund-
legend verändert. Es hat sich ein Perspektivwechsel so-
wohl für Polen als auch für West- und Ostdeutsche mit
ihrer unterschiedlichen Geschichte ergeben. Vorausset-
zung für diesen Perspektivwechsel in unseren Bezie-
hungen war der Prozess der Aussöhnung von Deutschen
und Polen.

Zu danken haben wir all denjenigen, die sich in vielen
Jahrzehnten in den verschiedensten Bereichen für Ver-
söhnung und die Annäherung von Deutschen und Polen
eingesetzt haben. Zu erwähnen sind in diesem Zusam-
menhang die Bemühungen vieler Einzelner, aber beson-
ders die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche und der
Brief der polnischen Bischöfe. Auf Regierungsebene hat
die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt den Ver-
söhnungsprozess eingeleitet. Alle Folgeregierungen ha-
ben diesen Prozess fortgesetzt und sich wichtige Ver-
dienste dabei erworben.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Dies hat möglich gemacht, dass auch in Polen frühere

Tabus gebrochen wurden. Ein Beispiel dafür ist, dass die
Frage der Vertreibung durch polnische und deutsche His-
toriker gemeinsam aufgearbeitet wird. Dies hat dazu bei-
getragen, dass wir mit unserer gemeinsamen Geschichte
viel unverkrampfter umgehen können. Zur weiteren Ent-
spannung hat auch die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aus-
söhnung“, die Anfang der 90er-Jahre gegründet worden
ist, beigetragen. Besonders wichtig war natürlich die Er-
richtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ zur Entschädigung der Zwangsarbeiter. Die be-
lastete Geschichte unserer beiden Länder wird zwar in un-
serer Erinnerung bleiben, aber sie stellt eben keine ernst-
hafte Belastung mehr für unsere Beziehungen dar. Dies ist
ein wichtiger Erfolg. Wir hoffen, dass auch das letzte zu
lösende Problem in Bezug auf die Vergangenheit, die
Rückführung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern,
in Bälde gelöst werden kann.

Wir stehen in unserem bilateralen Verhältnis wahr-
haftig noch vor einer Fülle von Herausforderungen. Wenn
man sich die gesellschaftliche Entwicklung anschaut,
dann stellt man fest, dass zwar die Eliten aus Wirtschaft,
Politik und Kultur intensiven Kontakt miteinander haben,
dass aber unsere beiden Bevölkerungen vor allem eines
gemeinsam haben, nämlich dass sie jeweils nach Westen
schauen. Das heißt, dass die Polen nach Deutschland
schauen und sich die Deutschen normalerweise nicht nach
Osten wenden. In Deutschland mangelt es an Interesse für
Polen. Wir müssen deshalb viel dafür tun, dass sich die
Menschen aus Deutschland und Polen mehr begegnen,
damit Vorurteile abgebaut werden, die auf beiden Seiten
noch vorhanden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Besonders wichtig ist deshalb auch, die Begegnung
von Jugendlichen unserer beiden Länder zu fördern, da-
mit sie zusammenkommen, miteinander Zeit verbringen
und zusammen arbeiten können. Sehr erfreulich ist, dass
sich die beiden Regierungschefs in den Konsultationen
vom Anfang dieser Woche darauf verständigt haben, den
jeweiligen Beitrag für das Deutsch-Polnische Jugend-
werk im nächsten Jahr außerplanmäßig zu erhöhen. Wir,
die wir uns lange darum bemüht haben, haben hier einen
wichtigen Erfolg erzielt. Das ist ein großer Schritt. Aber
wir sollten uns auch darum bemühen, dass es so weiter-
geht; denn auch diese Erhöhung kann und darf nicht die
letzte bleiben.

Es ist zu begrüßen, dass die Stiftung für deutsch-pol-
nische Zusammenarbeit ein neues Förderprofil erhalten
wird. Die Stiftung wird in Zukunft keine Infrastruktur-
projekte mehr finanzieren, sondern sich auf die Förderung
wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Aus-
tauschprojekte konzentrieren.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Lage der
deutschen Minderheit in Polen nicht mehr das wichtigste
Thema zwischen der alten Bundesrepublik und Polen ist,
wie es das neben der Grenzfrage vor 1989 noch war; denn
die Situation der deutschen Minderheit hat sich grund-
legend verbessert. Grundsätzlich sehe ich hier keine Pro-
bleme mehr. Das Verhältnis zwischen Polen und ihren
Mitbürgern deutscher Nationalität, die auch polnische
Staatsbürger sind, wird sich weiter normalisieren, wenn
Polen Mitglied der Europäischen Union ist.

Ich denke, es wäre auch erfreulich, wenn manches, was
bisher nicht geschehen ist, in Zukunft ermöglicht würde.
Dies betrifft etwa die schon vor zehn Jahren angespro-
chene Frage von zweisprachigen Ortsschildern. Ich hoffe,
dass in Polen der Mut wächst, das zu tun. Dies wäre ein
Zeichen der europäischen Normalität, wie es zum Bei-
spiel in den sorbischen Gebieten der Lausitz oder in den
deutschsprachigen Regionen Belgiens seit langem die
Regel ist.

Eine wichtige Rolle in der Annäherung beider Länder
kommt den Hunderttausenden deutschen Bürgerinnen
und Bürgern zu, die sprachliche, familiäre und kulturelle
Bindungen zu Polen haben, sowie den vielen polnischen
Staatsbürgern, die in Deutschland leben, arbeiten oder
studieren. In all ihrer Verschiedenheit erfüllen sie eine
wichtige Mittlerrolle zwischen unseren beiden Ländern.

Die deutsch-polnischen Beziehungen werden und wur-
den schon in den letzten zehn Jahren ganz wesentlich
durch die europäische Perspektive geprägt. Wir unterstüt-
zen den Weg Polens in die Europäische Union. Dies ist
für uns nicht nur eine Sache, die beiläufig geschieht. Sie
ist übrigens auch kein Gnadenakt Deutschlands oder
Westeuropas gegenüber den Staaten Ostmitteleuropas.
Vielmehr macht der Beitritt dieser Staaten die Europä-
ische Union europäischer; ihre eigentliche Identität ist da-
von wesentlich berührt.

In Göteborg ist die Perspektive für die Mitgliedschaft
mit dem Vertragsabschluss und der Teilnahme an den
Wahlen 2004 auch zeitlich klar beschrieben worden. Das
ist zu begrüßen. Klar ist ebenfalls, dass hinsichtlich man-




Markus Meckel
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cher Sorge – ich denke an die Kapitelabschlüsse in den
Verhandlungen, wo Polen etwas zurückgefallen ist; wir
wissen, dass das auch mit der Behandlung von Themen
und politischen Fragen im Wahlkampf zu tun hat – noch
Wichtiges zu tun ist. Gleichzeitig ist aber zu sagen, dass
Polen insgesamt weit vorangekommen ist.

Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen: Wir
gehen davon aus, dass Polen demnächst Mitglied ist, und
nehmen diese Perspektive heute schon vorweg. Es ist
wichtig, nicht nur über die Übergangsregelungen bei der
Freizügigkeit und den Fragen des Bodenerwerbs zu reden.
Das sind schwierige Fragen, aber ich denke, dass sie in
nicht zu ferner Zukunft gelöst sein werden, zumal nach
dem Wahlkampf etwas mehr Gelassenheit bestehen wird,
wenn es in Polen eine neue Regierung geben wird.

Es ist wichtig – wir haben das als Parlamentarier prak-
tiziert –, über die Zukunft Europas gemeinsam nachzu-
denken. Polen und Deutsche als Partner in Europa, mit
den Franzosen vereint im Weimarer Dreieck, müssen sich
darüber Gedanken machen, wie das Europa der Zukunft
aussehen soll. So haben wir in der deutsch-polnischen
bzw. der polnisch-deutschen Parlamentariergruppe in den
letzten Monaten zusammengesessen und ein Papier über
die Zukunft Europas erstellt, in dem wir uns auf gemein-
same Aussagen zu diesen Fragen geeinigt haben. In der
nächsten Woche wird die polnisch-deutsche Parlamenta-
riergruppe mit einer Delegation hier sein und wir werden
Mitte der nächsten Woche das Papier der Öffentlichkeit
vorstellen. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Es ist er-
staunlich, in welch hohem Maße es uns gelungen ist,
Übereinstimmung in wichtigen Fragen der künftigen Eu-
ropapolitik zu erzielen.

Die europäische Integration spielt sich nicht nur in
Brüssel und den europäischen Hauptstädten ab. Integra-
tion und Annäherung zwischen zwei Gesellschaften sind
besonders im Grenzraum konkret erfahrbar. In diesem
Bereich müssen wir noch weitere Brücken zwischen un-
seren Ländern und Völkern schlagen. Dazu gehören neue
Grenzübergänge, die Förderung des wirtschaftlichen Aus-
tausches sowie die Abfederung der Belastungen, die
durch die Erweiterung zumindest zeitweise bestehen wer-
den. Wichtig ist auch, die Bereitschaft zum Erwerb der
jeweils anderen Sprache zu unterstützen, denn die Sprach-
grenze zwischen Deutschland und Polen ist bis heute eine
der schärfsten Grenzen innerhalb Europas.

Ich komme zum Schluss: Den direkten Austausch zwi-
schen den Menschen und das gegenseitige Kennenlernen
zu fördern, das wird auch in Zukunft die größte Heraus-
forderung im deutsch-polnischen Verhältnis bleiben. Ich
hoffe, dass wir diese Herausforderung gemeinsam bewäl-
tigen werden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417609400
Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dr. Friedbert
Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU) (von der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Beziehungen zwi-
schen Ländern haben sehr oft mit herausragenden Per-
sönlichkeiten und deren Leistungen zu tun.

Ich will in dieser Debatte zunächst über Lech Walesa
sprechen. Zweihundert Jahre nach der Französischen Re-
volution stand er mit seiner Solidarnosc auf. Es gab
Streiks an der Lenin-Werft und die Umwälzung in Polen.
Es war die ungeheure Leistung eines Mannes und einer
Bewegung, dieses ganze schreckliche Regime in die Knie
zu zwingen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir danken Lech Walesa und der Solidarnosc für das, was
sie auch für uns getan haben. Ohne Walesa hätte es keine
Umwälzung in Polen, keine europäische Revolution und
keine deutsche Einheit gegeben. Dieser Dank verpflichtet
uns, uns jetzt für Polen auf dem Weg in die Europäische
Union einzusetzen.

Ich möchte über Wladyslaw Bartoszewski sprechen.
Was für ein fabelhafter Mann!


(Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU])


Wir haben ihn hier im Hause anlässlich der Festveranstal-
tung zum 50. Jahrestag des Endes des Krieges erlebt. Er
ist jetzt bald 80 Jahre alt, Außenminister von Polen. Er
verbrachte neun Jahre im Gefängnis – für seine Überzeu-
gungen. Zunächst war er in Auschwitz. Auschwitz, das
sagt sich so leicht. Danach saß er in stalinistischen Ge-
fängnissen. Er war fast das ganze Leben im Widerstand.
Was für eine ungeheure Kraft dieser Mann hat! Dann
wurde er Außenminister seines Landes, des jetzt freien
Polen. Er hat ein kleines Büchlein „Es lohnt sich anstän-
dig zu sein“ herausgegeben. Da sage noch jemand, es
gebe zu wenig Vorbilder in Europa. Bartoszewski gehört
zum Besten in Europa. Menschen wir Bartoszewski sind
eine Bereicherung für unsere Europäische Union.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich möchte über Bronislaw Geremek sprechen. Kurz
bevor das Warschauer Ghetto von Deutschen zerstört
wurde, schmuggelten ihn seine Eltern heraus. 45 Jahre
später erhielt er den Karlspreis der Stadt Aachen und hielt
seine Dankesrede – das war das erste Mal überhaupt bei
einem offiziellen Anlass – auf Deutsch: Das sei zwar die
Sprache der Mörder seiner Eltern, aber er spreche
Deutsch, weil sich unser Land mehr als jedes andere Land
für Polens Beitritt in die NATO und in die EU eingesetzt
habe. Wir beginnen erst jetzt zu verstehen, was es für eine
enorme Chance für unser Land ist, wenn wir Anwalt der
Wiedervereinigung Europas, der Öffnung von NATO und
EU sind. Wir gewinnen nicht nur neue Märkte. Wir ge-
winnen vor allen Dingen neues Ansehen, neues Gewicht
und neues Vertrauen.

Diese drei Beispiele stehen für viele Menschen, die
sich in den letzten Jahren in hervorragender Weise für die
Verständigung zwischen unseren Ländern stark gemacht




Markus Meckel

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(B)


haben. Das waren nicht nur Politiker – wahrlich nicht –,
sondern viele Intellektuelle und Schriftsteller, zum Bei-
spiel Karl Dedecius, Adam Michnik, Siegfried Lenz,
Andrzej Szczypiorski und Adam Krzeminski. Man könnte
noch viele andere nennen.

Denken wir auch an die unzähligen Initiativen von
deutsch-polnischen Gesellschaften, des Jugendaustau-
sches, der Städtepartnerschaften, des Sports und der Sol-
daten. Was ist das für ein Wunder, dass wir nicht mehr auf-
einander schießen, sondern zusammen den Frieden auf
dem Balkan sichern! Wir haben ein deutsch-dänisch-pol-
nisches Korps. Wir sind zusammen – Volker Rühe sei
Dank – Mitglieder der NATO. Ist das nicht eine fantasti-
sche Entwicklung, die keiner so hätte voraussehen kön-
nen? Nehmen wir sie nicht schon viel zu sehr als selbst-
verständlich hin?

Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen be-
dürfen aber der Pflege. Sie sind besser, als sie es jemals in
den letzten 250 Jahren waren. Aber sie sind ein zartes
Pflänzchen. Deswegen müssen wir uns fragen, was wir
tun können, um diese Freundschaft zu vertiefen.

Erstens nehme ich die Beibehaltung der Interessen-
identität zwischen unseren Ländern. Wir müssen Polen
bei seinem Weg in die EU unterstützen. Eine erste Bei-
trittsrunde im Jahre 2004 ohne Polen wäre ein schwerer
Fehler.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS])

Dann würde es große Enttäuschung in Polen geben. Das
würde zur Abwendung von Europa führen. Dann würde es
keine Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa geben.
Dennoch gibt es einige Kandidatenländer, die nicht auf
Polen warten wollen, das aufgrund seiner Größe und
Struktur natürlich die meisten Probleme zu bewältigen
hat. Aber haben nicht auch die Polen damals, als sie mit
Solidarnosc streikten, lange auf die anderen Länder war-
ten müssen, bevor die sich dem polnischen Freiheits-
kampf angeschlossen haben?

EU-Mitgliedschaft und das Ziel, 2004 dabei zu sein,
heißt natürlich nicht eine Carte blanche, ein Freifahrt-
schein. Warschau muss die Kriterien erfüllen. Momentan
droht das Land bei den Verhandlungen zurückzufallen.
Das hat mit objektiven Problemen zu tun, aber auch mit
übertriebenen Ängsten.

Diese gibt es allerdings auch bei uns. Weder droht mit
der EU-Erweiterung ein Massenansturm von Arbeitern
aus Polen, noch werden Deutsche massenhaft polnischen
Boden aufkaufen. Wir müssen diese Debatte endlich
rationalisieren und von den unsinnigen irrationalen Ängs-
ten wegführen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir brauchen – zweitens – gemeinsame Strategien mit

den Polen, etwa für das Verhältnis zu den baltischen Staa-
ten, für eine gute Zusammenarbeit mit der Oblast
Königsberg, mit der Ukraine oder mit Russland. Unsere
beiden Länder sollten zusammen konzeptionelle Vorden-
ker für die zweite Runde der NATO-Öffnung sein und
das nicht den Amerikanern überlassen.

Drittens. Ist Polen das trojanische Pferd der USAin Eu-
ropa? Das ist absoluter Unsinn. Die Polen wollen die ge-
meinsame europäische Außenpolitik und die gemeinsame
europäische Verteidigung. Aber sie erinnern uns – wie ich
finde, zu Recht – daran, dass wir uns nicht überschätzen
sollten und dass es ohne die Präsenz Amerikas keine Ba-
lance in Europa gäbe. Übrigens würde sie auch zwischen
Deutschen und Polen schwerer zu erreichen sein.

Nächster Punkt: Eine wichtige Rolle kommt der deut-
schen Minderheit und den Vertriebenen zu. In Polen
gibt es immer wieder Irritationen. Sie wissen, dass auch
ich nicht mit jeder Tonlage einverstanden bin. Aber ich
finde doch, dass sich die Polen manchmal überlegen soll-
ten, wo auf der Welt es noch Vertriebene gibt, die auf Ge-
walt verzichten, neue Grenzen anerkennen und Beiträge
zur Versöhnung leisten.

Dass wir auf diesem Weg voranschreiten können, wird
auch dadurch erleichtert, dass in Polen heute das Leid im
Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen dis-
kutiert wird. Wie sagte es der polnische Bürgerrechtler
Jan Józef Lipski:

Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keine
Rechtfertigung für das Böse, das wir selbst anderen
zugefügt haben.

(Zurufe des Bundesministers Joseph Fischer)


– Das ist keine feierliche Rede, Herr Bundesaußenmi-
nister. Aber ich finde Ihre Unaufmerksamkeit völlig un-
angemessen. Sie ist genauso unangemessen wie der Um-
stand, dass Sie selbst bei solchen Anlässen immer reden
und ständig den Eindruck vermitteln, Sie wüssten sowieso
schon alles sehr viel besser. So können wir nicht zusam-
menarbeiten, vor allem nicht an einem solchen Tag und
bei einem solchen Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt machen Sie doch Ihr Pathos selbst kaputt!)


Es bleibt viel zu tun, was das Verhältnis unserer beiden
Länder angeht. Es gibt immer noch viele Vorurteile und
Stereotypen. Das böse Wort von der „polnischen Wirt-
schaft“ zum Beispiel ist angesichts der polnischen
Wirtschaftsdynamik noch lächerlicher geworden. Wenn
wir doch so reformfreudig wären oder auch nur annähernd
solches Wachstum hätten! Natürlich gibt es in Polen Pro-
bleme, auch noch viel Armut. Aber wenn wir in die Städte
gehen, sehen wir eine unglaubliche Entwicklung. Da
lohnt es sich, mitzumachen, sich zu engagieren, hinzuge-
hen und sich nicht ängstlich abzuwenden. Nein, EU-Er-
weiterung – in Wahrheit: Vereinigung Europas – ist nicht
ein Akt der Nächstenliebe des reichen Westens gegenüber
dem armen Osten, sondern das ist – wie wir an diesen
großartigen Persönlichkeiten, an dieser Revolution im ei-
genen Land erleben – eine Bereicherung für uns alle. Es
schafft im Übrigen auch Arbeitsplätze bei uns.

Wir müssen diesen Osterweiterungsprozess – das gilt
für uns im Hause, aber auch generell für die Menschen in
unserem Lande – endlich mit mehr Freude, mehr Kraft
und mehr Zukunftszuversicht annehmen und dürfen nicht
defensiv in der Ecke verharren. Die Menschen, besonders




Dr. Friedbert Pflüger
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die jungen Leute, müssen sich besser kennen lernen. Po-
len ist ein so spannendes, ein so schönes, ein kulturell so
reiches Land. Es ist für uns im Osten so wichtig wie
Frankreich im Westen. Wenn sich Polen und Deutsche so
wie Deutsche und Franzosen verstehen, dann haben wir
Frieden und Freiheit in Europa. Darum geht es uns allen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417609500
Jetzt spricht der
Kollege Helmut Lippelt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417609600

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Es ist richtig – die vorhergegangenen Reden haben
es belegt –, dass wir heute, anlässlich des zehnten Jahres-
tages des deutsch-polnischen Vertrages, eine Polen-De-
batte führen, und es ist gut, dass, anders als beim letzten
Mal, die CDU aus ihrer sektiererischen Ecke heraus-
kommt


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Na, na, na!)

und den gemeinsamen Antrag mitformuliert hat, sodass
wir wieder zu einer gemeinsamen, in die Zukunft weisen-
den Polenpolitik finden. Wie gut dies ist, zeigte eben die
Rede von Herrn Pflüger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer den Vertrag nochmals gelesen hat, weiß, dass es
ein historischer Vertrag ist, und zwar in doppeltem Sinne:
Mit der Anerkennung der Grenzen des vereinten Deutsch-
lands schloss er eine ganze Etappe des deutsch-polni-
schen Verhältnisses ab. Zugleich legte er das Fundament
für eine gemeinsame Zukunft, wie es der junge polnische
Historiker Borodjiei vor zwei Jahren in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ beschrieb: Jetzt müssten Deutsche
und Polen endlich nicht mehr übereinander reden, nicht
mehr gegeneinander aufrechnen und nach Wegen zuei-
nander suchen, jetzt könne endlich eine gemeinsame Po-
litik gegenüber Dritten definiert werden.

Der Vertrag hat eine beachtliche Dynamik entfaltet:
Waren 1991 die ersten Artikel im Kern noch ein Nichtan-
griffsvertrag, so ist Polen heute in der NATO und wir for-
mulieren gemeinsam eine europäische Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik. Enthält der Vertrag noch das Verspre-
chen, Polen bei der Lösung seiner internationalen Ver-
schuldungsprobleme zu unterstützen, so hat Polen heute
eine kräftige Wirtschaft, von der Wachstumsimpulse auch
auf die deutsche Wirtschaft ausgehen und in Zukunft si-
cherlich noch verstärkt ausgehen werden. Enthält der Ver-
trag noch die Zusage, Polen bei der Annäherung an die EU
nach „unseren Möglichkeiten“ zu unterstützen, so befin-
den wir uns heute in der Endphase der Beitrittsverhand-
lungen.

Vier Bemerkungen möchte ich anschließen: Erstens.
Es hat nach Göteborg Irritationen gegeben, die Beitritts-
länder hätten sich zu stark auf Termine fixiert, während
das eigentlich schwierige Landwirtschaftskapitel noch
bevorstehe und die EU sich zuvor auf ihre eigene Reform
einigen müsse. Meine Fraktion ist dafür, dass die Mit-
gliedschaft Polens so schnell wie möglich kommt; auf
jeden Fall muss es in die erste Gruppe gehören. Die not-
wendigen Übergangsfristen sollten so flexibel und kurz
wie möglich gehalten werden. Polen muss sich an den
EP-Wahlen 2004 beteiligen können. Wir wollen auch,
dass Polen an dem einzuberufenden Konvent beteiligt
wird.

Und die Landwirtschaft?Wir selber wollen doch alle
eine Agrarwende, soweit ich heute Morgen wieder gehört
habe, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung und
nicht ohne Polemik, aber doch quer durch alle Parteien.
Diese Wende wird sich aber zwischen der an Subventio-
nen gewöhnten französischen und der noch relativ natur-
nahen polnischen Landwirtschaft abspielen, zwischen
einzelbetrieblicher Förderung und der Förderung des
ländlichen Raums. Es liegt doch geradezu nahe, das Wei-
marer Dreieck, also die französisch-deutsch-polnische
Zusammenarbeit, zu intensivieren und, begleitend zu den
Kommissionsverhandlungen, eine Initiative dieser drei
Länder zur Lösung des Kernproblems Landwirtschafts-
politik zu versuchen. Dann ist auch der ins Auge gefasste
Termin spielend zu halten.

Zweitens. Im Vertrag von 1991 verpflichten sich beide
Seiten, ein Lernen der jeweils anderen Sprache zu unter-
stützen. Deutschland hat hier einen großen Nachholbe-
darf. Polnische Freunde in Berlin weisen immer wieder
darauf hin, wie schwierig es ist, für ihre Kinder eine
Schule zu finden, in der Polnisch eine akzeptierte Unter-
richtssprache und nicht nur eine Sprache der Ausgesie-
delten ist, die auch in sprachlicher Hinsicht möglichst
schnell in Deutschland integriert werden sollen.

Wir treten dafür ein, dass wir den Polnischunterricht in
unseren Schulen deutlich fördern. Polnische Sprache, pol-
nische Literatur, polnische Geschichte müssen in unseren
Schulen und Universitäten einen entschieden größeren
Stellenwert bekommen.

Drittens. Der Bundestag kann viele der Verhandlungen
zur Aufnahme Polens in die EU nur begleiten. Viel mehr
können wir aber zur kulturellen Vorbereitung unseres
Landes auf die Mitgliedschaft Polens tun. Das ist hier be-
reits gesagt worden.

Wenn es für manche Teile unserer Bevölkerung auch
nicht gerade ein Kulturschock werden wird, dass Polen in
kurzer Zeit ein völlig gleichberechtigtes Mitglied mit
gleichen Rechten, gleichen Pässen, vielleicht bald auch
gleichem Geld sein wird, so wird es aber doch ihr Welt-
bild verändern. Jede Fraktion im Bundestag wird feststel-
len, dass dieser Schock auf ihre Klientel jeweils etwas an-
ders wirken wird. Wir haben da andere Probleme als die
CDU. Gemeinsam sollten wir uns aber dafür einsetzen,
dass im zusammenwachsenden Europa die Vielfalt und
der kulturelle Reichtum jedes Landes zur gemeinsamen
europäischen Kultur gehört. Die Intensivierung der




Dr. Friedbert Pflüger

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Zusammenarbeit mit unseren jeweiligen Partnern in Po-
len gehört substanziell dazu.

Viertens. Eine aus meiner Sicht schon jetzt zentrale
Aufgabe ist die Entwicklung einer gemeinsamen Ost-
politik.Mit Polen kommt ein Land in die EU, das an meh-
rere osteuropäische Länder grenzt und viele Erfahrungen
und Kenntnisse in der Zusammenarbeit mit diesen Län-
dern hat. Diese Grenzen müssen sicher und zugleich
durchlässig für Menschen und Ideen sein. Europa endet
nicht an den Grenzen der EU, jetzt nicht und auch in eini-
gen Jahren noch nicht.

Am 22. Juni 1941 begann der Einmarsch Hitlerdeutsch-
lands in die Sowjetunion. Die Aufgabe, eine neue gesamt-
europäische Friedensordnung zu schaffen, ist noch nicht
erfüllt, der Traum vom gemeinsamen europäischen Haus
noch nicht ausgeträumt. Polen – da bin ich ganz sicher – ist
darin schon jetzt ein sehr wichtiger Partner.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417609700
Der nächste Redner ist
der Kollege Jürgen Türk für die F.D.P.-Fraktion.


Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1417609800
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die „FAZ“ titelte am
Montag:

Göteborger EU-Gipfel für zügige Erweiterung
und

Die ersten Beitrittsverhandlungen sollen bis Ende
2002 abgeschlossen sein – Deutschland beugt sich.

Es ist gut, dass sich die EU zu einem Beitrittsfahrplan
durchgerungen hat, wenn auch unter erheblichem Wider-
stand Deutschlands. Eine weitere Verschleppung ver-
schlechtert die Chancen der Erweiterung. Deshalb kann
man es dem liberalen ungarischen Ministerpräsidenten
Victor Orbán gut nachfühlen, dass er das Göteborger Ver-
handlungsergebnis überaus bewegt aufgenommen hat. Ver-
stehen kann man auch Polens Außenminister Bartoszewski,
der frohlockte:

Wir wollten eine Deadline, jetzt haben wir sie.
Ich bin vorige Woche von einer Ausschussreise nach

Polen und Litauen zurückgekommen, habe also die Auf-
forderung des Kollegen Meckel schon realisiert. Dort
konnten wir uns einerseits davon überzeugen, dass die
Beitrittskandidaten bereits gewaltige Anstrengungen un-
ternommen haben, um die Kriterien für die Aufnahme zu
erfüllen. Andererseits gibt es noch viele Defizite. So lässt
die Verkehrsinfrastruktur sehr zu wünschen übrig. Sie
stellt in ihrem derzeitigen Zustand ein Hemmnis für wei-
teres Wirtschaftswachstum dar; und das ist ja ebenfalls
eine Grundlage für die Erweiterung.

Dieses und andere Probleme werden nicht ohne Hilfe
der EU gelöst werden können; das muss vor dem Beitritt
geschehen. Man kann die Aufnahme nicht nach dem
Motto, nach dem Beitritt Polens sei alles besser als vorher

– so Außenminister Fischer vor kurzem in Cottbus –, dem
Selbstlauf überlassen, sondern man muss den Prozess ge-
zielt vorbereiten und begleiten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das liegt in Deutschlands ureigenem Interesse.

Wir brauchen die Kooperation mit Polen, das inzwi-
schen Russland hinsichtlich seiner Bedeutung als Han-
delspartner überrundet hat und in das jährlich deutsche In-
vestitionen in Höhe von mehreren Milliarden Euro
fließen, wie uns die Vorstände der vorbildlichen Deutsch-
Polnischen Wirtschaftsfördergesellschaft klar machten.
Ich bitte übrigens darum, diese wichtige Gesellschaft bei
den nächsten Haushaltsberatungen nicht zu vergessen,


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


genauso wenig wie die Europa-Universität Viadrina in
Frankfurt/Oder, die derzeit unserer Meinung nach kaputt-
gespart wird, obwohl sie für das Zusammenwachsen von
Deutschland und Polen sehr wichtig ist.

Ich bin entschieden der Meinung, dass Deutschland al-
les in seinen Kräften Stehende tun muss, um Polen bei sei-
nen Beitrittsbemühungen zu unterstützen. Deshalb haben
wir auch diesen Antrag formuliert. Es ist besonders er-
freulich, dass es diesmal sogar ein fraktionsübergreifen-
der Antrag geworden ist und wir uns in dieser Sache einig
sind.

Es ist bereits vieles eingeleitet worden, das wollen wir
nicht ignorieren und leugnen. Das reicht aber noch nicht.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich daran erinnern: Auf
beiden Seiten sind die Grenzregionen nicht ausreichend
darauf vorbereitet, dass dort in wenigen Jahren die
Schlagbäume fallen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])


Das wird und muss schrittweise geschehen; denn man
darf die Kriminalitätsbekämpfung nicht auf die leichte
Schulter nehmen. Dies habe ich gestern auf einem BGS-
Forum in Potsdam gelernt.

Das an sich gute Grenzlandkonzept des Bundeswirt-
schaftsministeriums ist wieder in der Schublade ver-
schwunden; ich bedauere das. EU-Kommissar Verheugen
verschiebt Monat für Monat die Herausgabe des groß an-
gekündigten EU-Konzepts für das Grenzland. Da es so
lange dauert, hoffen wir, dass dann auch etwas darin steht.
Man muss sich nicht wundern, wenn sich bei der Bevöl-
kerung und den Unternehmen in der Grenzregion Verun-
sicherung und Angst breit machen. Das ist keine Panik-
mache. Es wird immer gesagt, man solle die Vorteile
besser erklären. Besser erläutern kann man aber nur et-
was, wenn man etwas zu erläutern hat. Die Konzepte von
Bund, Ländern und EU müssen jetzt auf den Tisch und
aufeinander abgestimmt werden. Sie müssen also
deckungsgleich sein. Im Anschluss daran muss die Um-
setzung erfolgen. Herr Kollege Pflüger, ich bin auch be-
reit, das mit Freude zu tun. Nur mit Freude allein wird es
aber auch nicht gehen. Man muss natürlich etwas haben,
was man mit Freude machen kann.




Dr. Helmut Lippelt
17284


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich komme nun zu den umstrittenen Übergangsfris-
ten: Deutschland fordert sie bei der Freizügigkeit für Ar-
beitnehmer und bei der Gewerbefreiheit. Ich bekenne
mich dazu, dass ich dies auch tue. Wir haben in der vori-
gen Woche erfahren, dass dies in Polen und Litauen auf
Protest stößt. Wenn dort aber deutlich gemacht wird, dass
diese Einschränkungen sowohl zeitlich als auch vom Um-
fang her flexibel gestaltet werden, und zwar gemeinsam,
nicht einseitig, findet man Zustimmung. Wenn man diese
Dinge gemeinsam angeht – das kann und sollte man ma-
chen –, wird es gut gehen.


(Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD])

Ich glaube, dass unsere fraktionsübergreifende Forde-

rung einer regelmäßigen Überprüfung hinsichtlich der
Übergangsfristen richtig ist. Die Notwendigkeit, dies vor-
zunehmen, ist eine vernünftige Zielsetzung. Insbesondere
kommt sie den Grenzlandbewohnern – halb Ostdeutsch-
land, das wollte ich bei dieser Gelegenheit noch einmal
sagen, besteht aus Grenzland – entgegen.

Die Polen wollen Übergangsfristen für den Land-
erwerb. Während der Reise habe ich gelernt, dass es bei
Wirtschaftsinvestitionen die Freizügigkeit beim Land-
erwerb gibt. Dies wird immer anders dargestellt. Das Pro-
blem sind die landwirtschaftlichen Flächen. Hier befürch-
ten die Polen einen Ausverkauf, dem sie vorbeugen wol-
len. Ich glaube aber, dass man dies verhandeln und so zu
einer Lösung kommen kann.

Alles in allem müssen jetzt endlich Konzepte auf den
Tisch, denn vom allgemeinen Gerede – das ist meine
Überzeugung – wird die Infrastruktur nicht besser: Es sie-
deln sich keine Wirtschaftsunternehmen an und es entste-
hen keine Arbeitsplätze. Auch die zu beobachtende wach-
sende Abwanderung kann dann nicht gestoppt werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417609900
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417610000
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Weil sehr viele Menschen bei
mir angefragt haben, muss ich zu Beginn erklären und
deutlich klarstellen, dass die PDS nicht eingeladen wurde,
den gemeinsamen Antrag der anderen Fraktionen mit zu
unterzeichnen. Ich bedauere, dass auf diesem unsinnigen
Wege immer ein Dialogverlust zustande kommt. Ich will
aber auch sagen, dass ich meiner Fraktion empfohlen
hätte, den Antrag in der vorliegenden Form nicht zu un-
terschreiben, und dass wir dem Antrag nicht zustimmen
werden.


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Obwohl er gut ist!)

Ich möchte das inhaltlich erläutern und zuerst einige

Dinge klarstellen, damit keine Missverständnisse auf-
kommen: Das deutsch-polnische Verhältnis ist für die
PDS – auch für mich persönlich – eine zentrale, wenn
nicht sogar die zentrale Frage der Osterweiterung der

Europäischen Union. Das deutsch-polnische Verhältnis
sollte in der deutschen Europapolitik – da stimme ich mit
dem Kollegen Pflüger durchaus überein – einen ähnlichen
Stellenwert wie das deutsch-französische Verhältnis ein-
nehmen. Dazu muss man sich deutlich bekennen. Für
mich ist eine Osterweiterung der Europäischen Union
ohne Polen nicht denkbar.


(Beifall bei der PDS)

Ich will zugespitzt sogar sagen: Eine Osterweiterung der
Europäischen Union, bei der Polen nicht in der ersten
Reihe steht, ist für mich politisch nicht denkbar und nicht
gewollt. Ich denke, hierüber kann es aus historischen wie
auch aus aktuellen Gründen breite Verständigung geben.
Ich bin überzeugt davon, dass das deutsch-polnische Ver-
hältnis unabhängig von politischen Konjunkturen und
Mehrheitsverhältnissen in den einzelnen Ländern bestän-
dig gemacht werden muss.

Es ist aber doch nicht zu übersehen, dass die deutsche
Unterstützung für die Aufnahme Polens in die EU sehr
zögerlich – aus meiner Sicht zu zögerlich – ausfällt. Rasch
kam die deutsche Forderung nach Übergangsfristen bei
der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Forderung nach
Einführung von Fristen wäre nicht nötig gewesen, wenn
man rechtzeitiger die Probleme in den Grenzregionen
nicht nur betrachtet und allgemein erörtert, sondern sie
angepackt und dort konkrete Wirtschaftsentwicklung
durchgesetzt hätte.


(Beifall bei der PDS)

Wir wissen seit zehn Jahren, was auf uns zukommt. Jetzt
so zu tun, als ob das Problem neu aufgetreten sei, ist die-
sem Verhältnis aus meiner Sicht nicht angemessen. Wir
brauchen gezielte Förderung in den Regionen auf beiden
Seiten der Grenze. Wir müssen dafür sorgen, dass diese
Räume zusammenwachsen. Wenn das gelingt, werden
Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit
wahrscheinlich nicht nötig. Heute muss man konkret eine
solche Politik betreiben und sollte sie nicht nur immer all-
gemein ankündigen. Das bedeutet auch, dass den Ländern
Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg endlich in
besserer Form und umfangreicher bei der Bewältigung
dieser Probleme geholfen werden muss.


(Beifall bei der PDS)

Ich finde schon, Probleme muss man lösen und darf sie

nicht vertagen. Darauf haben auch die Bürger einen An-
spruch. So rasch die deutsche Forderung nach Über-
gangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit kam, so
gering fiel das Verständnis für die polnischen Sorgen und
das Anliegen der polnischen Politik aus, Übergangsfristen
für den privaten Erwerb von Grund und Boden in Polen
einzuführen. Ich kann diese polnischen Sorgen verstehen,
weil sich die wirtschaftliche Macht noch immer diesseits
und nicht jenseits der Grenze zusammenballt. So viel Sen-
sibilität sollten wir doch gemeinsam aufbringen.


(Beifall bei der PDS)

Ich möchte sehr, dass wir eine Politik betreiben, dass in

Polen nicht der Eindruck entsteht, dass sein Beitritt zur
Europäischen Union ein Beitritt zweiter Klasse sei, wie es
polnische Politiker formuliert haben. Systematisch sollten




Jürgen Türk

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(C)



(D)



(A)



(B)


alle Kontakte der zivilen Gesellschaft – da gibt der Antrag
sehr viel Konkretes her, was ich für sehr vernünftig
halte –, alle Treffen und jede Zusammenarbeit von Men-
schen aus Polen und Deutschland sowie gemeinsame Pro-
jekte gefördert und unterstützt werden. Jugendaustausch,
gemeinsame Forschungsprojekte, Universitätsarbeit, kul-
turelle Beziehungen und gemeinsame Geschichts-
forschung stehen immer noch am Anfang und haben ihren
Endpunkt noch lange nicht erreicht. Ich würde polnische
Politiker und Bürger sehr bitten, sich auch als Brücke der
Europäischen Union für die weiter östlich liegenden Staa-
ten zu verstehen. An unsere Adresse richte ich die Bitte,
dies zu befördern.

Ich komme zum Schluss. Ich finde, das Geschichts-
bild im Antrag stimmt nicht. Es klammert nämlich den
grundlegenden Wandel in den deutsch-polnischen Bezie-
hungen, der mit dem Warschauer Vertrag und der
Entspannungspolitik eingetreten ist, ebenso aus wie, dass
alles andere, was danach geschehen ist, auf diesem Werk
aufbaut. Das blenden Sie in Ihrem Antrag völlig aus; das
wird noch nicht einmal erwähnt. Die Politiker auf der
deutschen und auf der polnischen Seite, die Entspannung
schon in Zeiten verfochten hatten, als sie gesellschaftlich
noch höchst umstritten war, und nicht erst in Zeiten, als
sie gesellschaftlich akzeptiert war, müssen mit Namen
genannt werden. Das fehlt in Ihrem Antrag. Sie berufen
sich in Ihrem Antrag auf die Tradition der Zusammenar-
beit mit der NATO. Ich will Ihnen abschließend sagen,
dass es auch eine andere Tradition polnischer wie deut-
scher Politik gibt, die es wert wäre, sich auf sie zu beru-
fen. Ich nenne hier den Vorschlag des polnischen Außen-
ministers Adam Rapacki einer kernwaffenfreien Zone in
Europa. Solche Traditionen hätten Sie zumindest aufneh-
men und nicht aus Ihrem Antrag ausblenden sollen.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417610100
Jetzt spricht der Kol-
lege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion.


Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1417610200
Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine lange an-
dere Tradition, die es allerdings viele Jahre vorher gege-
ben hat, war, dass Polen immer die Sorge haben musste,
zwischen Russland und Deutschland germanisiert oder
russifiziert zu werden und dabei von der Landkarte der eu-
ropäischen Geschichte zu verschwinden. 123 Jahre lang
war das ja auch der Fall. Genau das ist der Punkt, um den
es heute in Polen geht, nämlich dass die Aufnahme in die
Europäische Union genau das Dementi dieser schreckli-
chen langen Geschichte der nationalen Erfahrung, der
Demütigung Polens ist. Sich an diesem Dementi zu betei-
ligen und mitzuhelfen, dass Polen einen festen gesicher-
ten Platz in der europäischen Völkerfamilie hat, ist wohl
die große historische Aufgabe, die insbesondere wir Deut-
schen gegenüber Polen haben und haben müssen. Aus die-
sem Grund ist die Aufnahme in die Europäische Union der
zentrale gemeinsame Punkt, der Polen und Deutsche mit-
einander verbindet, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die zweite Republik Polens war von zwei Diktaturen,
nämlich der kommunistischen Diktatur und der national-
sozialistischen Diktatur, zerrissen worden. Schmerzhaft
ist, dass in das historische Bewusstsein, in das Gedächtnis
der Polen eingeschrieben ist, wieder und wieder in der Ge-
schichte gedemütigt worden zu sein. Im historischen Ge-
dächtnis der Polen ist aber auch fest eingeschrieben, wie-
der und wieder den Mut zu haben, gegen den Selbstlauf
der Geschichte aufzustehen, sich aufzulehnen und mutig
und gemeinsam dagegen zu handeln. 1980 war das
Schlüsseljahr – Solidarnosc –, in dem deutlich geworden
ist: Wir Polen wollen gemeinsam aktiv handeln, um uns
gegen den Selbstlauf der Geschichte zu wenden und einen
eigenen Beitrag in das Geschichtsbuch Europas zu schrei-
ben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist es
wichtig, dass Namen wie Jan Józef Lipski und Tadeusz
Mazowiecki genannt werden. Letzterer hat bereits 1974
auf dem Deutschen Katholikentag deutlich gesagt, was
ihn umtreibt und woher seine innere Unruhe kommt, näm-
lich: Der Glaube selbst ist Unruhe, eine Unruhe um die
Authentizität des Lebens. – Das hat etwas mit dem zu tun,
was zum Beispiel Vaclav Havel geschrieben hat, nämlich
sein Leben zu beschreiben auf der Suche nach der Wahr-
heit. Das hat etwas mit der Dissidenz in jener Zeit zu tun,
die sich gegen die Diktatur aufgelehnt und dabei nichts
anderes als den Kern Europas entdeckt hat. Der Kern Eu-
ropas sind die Werte Europas: Freiheit, Gerechtigkeit
und Solidarität. Das ist der entscheidende Punkt, der mit
dem Aufbruch Polens – übrigens auch mit dem Aufbruch
Tschechiens – verbunden ist. Die demokratische Revolu-
tion am Ende der 80er-Jahre konnte nur möglich werden,
weil die damalige kommunistische Diktatur von denen,
die die Demokratie für sich selbst entdeckt haben, zu-
grunde gerichtet worden ist, und zwar gewaltfrei und
friedlich. Das ist der Kernpunkt dessen, was wir jetzt voll-
ziehen müssen, wenn es darum geht, dass Polen Mitglied
der Europäischen Union wird.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt keinen Zweifel, dass auch Deutsche dazu etwas
beigetragen haben. Dazu gehören natürlich die Entspan-
nungspolitik, Willy Brandt und – er ist eben schon ge-
nannt worden – Karl Dedecius, jemand, der vor wenigen
Tagen 80 Jahre alt geworden ist und aus Lodz stammt, je-
ner vielfarbigen multikulturellen Stadt, in der Polen und
Deutsche jiddisch miteinander gesprochen haben. Dort
gab es also schon ein Modell, das wir Europäer noch ent-
wickeln müssen. Wir haben nach 1945 die Homogenisie-
rung des Nationalstaats erlebt. Dabei ist sozusagen – so
schrecklich man es auch bezeichnen mag und wie furcht-
bar es für die Menschen gewesen ist – die Heterogenität
dessen entsorgt worden, was es zuvor gegeben hat, zum
Beispiel in der zweiten Republik in Polen. Darüber hinaus
ist damit eine wichtige Aufgabe verknüpft, die wir gegen-
über Polen haben, betreffend zum Beispiel Galizien und
die Bukowina, jene Räume, die es zu entdecken gibt.




Wolfgang Gehrcke
17286


(C)



(D)



(A)



(B)


Nehmen Sie bitte das Buch von Karl Schlögel, das er
gerade eben veröffentlicht hat, in dem Sie das alles sehr
schön nachlesen können: von den Räumen Europas, die es
gegeben hat, die vielleicht versunken sind, die es aber zu
bergen gilt, die in dieses gemeinsame Europa als ein
Schatz eingebracht werden müssen, der nie verloren ge-
hen darf.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Denken wir an die Diktaturen, unter denen die Polen so

unendlich haben leiden müssen: einmal die innere Dikta-
tur des Nationalismus, nicht zu vergessen, auch nicht zu
verschweigen, die kommunistische Diktatur am Ende und
dazwischen das ungeheure Leid der nationalsozialisti-
schen Diktatur.

Gegenwärtig gibt es in Polen eine eruptive Debatte
über jenes schreckliche Genozid in Jedwabne, also in je-
ner Stadt in Nordpolen, in der 1 600 Menschen erschla-
gen, erstochen worden sind, eine furchtbar aufwühlende,
aber eine notwendige Debatte, die Jan Tamosz Gross in
seinem Buch „Die Nachbarn“ vorangetrieben hat. In die-
ser Debatte wird deutlich, dass wir, die wir die Nachfol-
ger derer sind, die die Zeitzeugen waren, die dies alles er-
lebt, erlitten und mit eigenen Augen gesehen haben, als
Politiker, die diese Verantwortung tragen, verpflichtet
sind, dass das nicht der Vergangenheit überantwortet
wird, sondern dass die Verantwortung für die Gegenwart
und für die Zukunft heißt, sich mit diesen schwierigen
Konflikten auseinander zu setzen.

Wenn Adam Michnik sagt: „Es ist mein Gewissen be-
drückt und bedrängt, wenn ich höre, dass am 10. Juli 1941
in Jedwabne 1 600 Juden von Polen ermordet worden
sind“, dann muss dabei aber auch unverrückbar die histo-
rische Wahrheit festgehalten werden: Dieser Genozid war
nur möglich, weil es den Überfall Deutschlands gegeben
hat, weil es die Vernichtungspolitik der NS-Besatzer ge-
geben hat und weil Himmler wenige Tage vor diesem Po-
grom in der Region war und dazu beigetragen hat, dass es
missgeleitete Gefühle auch von anderen gegeben hat. Wer
durch die Allee der Gerechten in Jad Vashem gegangen
ist, wird wissen, dass die überwiegende Zahl der Gerech-
ten einen polnischen Namen tragen Jedwabne: Das war
ein lokales Ereignis.

Es ist mit einer ungeheuren Kraft verbunden, was jetzt
in Polen geschieht. Die innere Debatte zeigt, dass die pol-
nische Gesellschaft die Kraft hat, mit jenen Konflikten
auch umzugehen, sie zu verarbeiten und damit einen Bei-
trag zu leisten, dass Europa eine Gemeinschaft der ge-
meinsamen Erinnerung ist, die uns auffordert, dass das,
was damals geschehen war, nie wieder geschehen darf.


(Beifall im ganzen Hause)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417610300
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Katherina Reiche für die Fraktion der
CDU/CSU.


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1417610400
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vor zehn Jahren unterzeichne-
ten der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki

und Bundeskanzler Helmut Kohl den deutsch-polnischen
Nachbarschaftsvertrag. Vor zehn Jahren begannen Deut-
sche und Polen, nach bitteren Jahren des Eisernen Vorhan-
ges wieder aufeinander zuzugehen. Heute befinden wir uns
im Prozess des Beitritts Polens in die Europäische Union.
Heute ist Polen längst zuverlässiger NATO-Partner.

Diese Entwicklung ist ohne die Ereignisse der 80er-
Jahre nicht vorstellbar. Es war die oppositionelle Ge-
werkschaft Solidarnosc, die die kommunistischen
Machthaber das Fürchten lehrte. Der Eiserne Vorhang
wurde in Polen rissig und war schließlich der Wegbereiter
für die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR und
im gesamten Ostblock.

Der Blick zurück erfüllt uns Deutsche – auch mich als
Vertreterin der jungen Generation aus Ostdeutschland –
daher mit Dankbarkeit, gibt uns aber gleichzeitig ein ver-
pflichtendes Mandat, Polen auf seinem Weg in die Euro-
päische Union zu unterstützen. Es geht heute darum, Po-
lens Weg in die EU engagiert weiter voranzubringen. Es
geht vor allem darum, die Menschen diesseits und jenseits
der Oder zusammenzubringen.

Das deutsch-polnische Verhältnis beruht nicht mehr
auf einer verordneten Freundschaft, wie sie vor der
Wende in der DDR gepflegt wurde. Es sind nicht mehr
die staatlich überwachten Begegnungen, die jede kriti-
sche und politische Diskussion zu unterdrücken suchten.
Heute gehen Polen und Deutsche selbstverständlich auf-
einander zu, sind neugierig aufeinander und schließen
Freundschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Die vielen Aktivitäten im Bereich des Jugend- und
Studentenaustausches sind ein eindeutiger Beleg für die
großen Gemeinsamkeiten der jungen Generation hier und
drüben. Junge Polen und junge Deutsche streben beruf-
liches Fortkommen an und wollen die europäischen
Nachbarn kennen lernen. Wie viele Kontakte es bereits
gibt, stelle ich immer wieder fest, wenn ich mit jungen
Menschen aus Polen und aus Deutschland spreche, mit
Schülern, Studenten, Soldaten.

Herr Kollege Lippelt, eines möchte ich dann doch ge-
rade stellen: Es war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
die einen Antrag zur Zukunft des deutsch-polnischen
Verhältnisses eingebracht hat. Dieser Antrag muss of-
fensichtlich so gut gewesen sein, dass wir die Kollegen
von SPD und Grünen überzeugen konnten, einen ge-
meinsamen Antrag zu machen. Der Weg war nicht um-
gekehrt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Worum geht es? Es gibt zwei vordringliche Aufgaben.

Zum einen muss es darum gehen, die Kontakte zwischen
Deutschen und Polen weiter zu intensivieren. Hierbei
bauen wir gerade auf die junge Generation. Deshalb for-
dere ich: Das Deutsch-Polnische Jugendwerk braucht
eine bessere finanzielle Ausstattung.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Gert Weisskirchen (Wiesloch)


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(C)



(D)



(A)



(B)


Nur wenn das Deutsch-Polnische Jugendwerk auf einer
sicheren finanziellen Basis steht, kann der Dialog lang-
fristig fortgesetzt und ausgebaut werden.

Ebenso wichtig ist es, sprachliche Barrieren zu über-
winden. Im Erlernen der Sprache des jeweils Anderen
sehe ich einen Schlüssel zur Verständigung zwischen
Deutschen und Polen. Wenn junge Menschen schon früh
deutsch bzw. polnisch lernen, wird manch blindes Vorur-
teil gar nicht erst entstehen können. Die zweisprachige
Schulbildung in den Grenzregionen ist nicht nur eine kul-
turelle Notwendigkeit, sondern wird sich auch als erheb-
licher Standortvorteil auswirken. Ein Lebenslauf, der eine
bilinguale Schulausbildung aufweist, wird nicht nur den
Arbeitgeber beeindrucken, sondern auch Jugendlichen
selbst neue Perspektiven eröffnen. Als Brandenburgerin
habe ich mich immer wieder für Polnischunterricht in der
Oderregion eingesetzt. Dieser Forderung möchte ich
heute noch einmal Nachdruck verleihen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zum anderen geht es darum, die in den letzten zehn

Jahren gewachsenen deutsch-polnischen Beziehungen
durch einen zügigen Beitritt Polens zur Europäischen
Union auch institutionell zu festigen. Die Aufnahme Po-
lens in die EU darf deshalb keinesfalls verzögert werden.
Es würde viel Vertrauen aufs Spiel gesetzt werden. Ge-
wiss, die EU-Osterweiterung ruft bei vielen Menschen
Ängste und Vorbehalte hervor. Diese Befürchtungen sind
auch verständlich; denn wir müssen verstehen, dass es ge-
rade für die Menschen in den neuen Ländern und in den
Grenzregionen erneut um Veränderungen und Anpassun-
gen geht. Aber umso wichtiger ist es deshalb, die Men-
schen zu überzeugen und ihnen die großen Vorteile dieses
Prozesses nahe zu bringen. Was wir deshalb brauchen, ist
eine offensive Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Ost-
erweiterung. Lagebeschreibungen reichen nicht aus. Nur
konkrete Maßnahmen können den Sorgen der Menschen
begegnen. Kommunikation und Öffentlichkeit über das,
was geschieht, und über die Chancen schaffen Vertrauen.


(Beifall des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.])

Die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses

ist kein Selbstläufer. Es bedarf immer wieder neuer Im-
pulse. Selbstverständlich sind Übergangsfristen in der
Freizügigkeit für Arbeitnehmer und in der Dienstleis-
tungsfreiheit notwendig, um eine Verschärfung der Situa-
tion auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Sie müssen aber
flexibel gestaltet werden und je nach Beitrittsland und
Branche verschieden sein. Sie müssen auch je nach wirt-
schaftlicher Entwicklung angepasst werden. Es ist nicht
angebracht, deutsche Interessen holzschnittartig oder po-
pulistisch geltend zu machen. Populismus täuscht Men-
schen und er ist hier fehl am Platz.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Die wirtschaftlichen Vorteile einer erweiterten Europä-
ischen Union sind schon heute in Polen und Deutschland
zu spüren. Zum einen ist Polen Deutschlands wichtigster
Handelspartner im Osten, zum anderen schaffen deutsche
Investitionen in Polen Arbeitsplätze. Ich denke zum Bei-
spiel an Kooperationsvereinbarungen zwischen Unter-

nehmen aus Brandenburg und aus Polen im Bereich der
Umwelttechnik. Investitionen deutscher Unternehmen in
Polen helfen, Umweltstandards zu verbessern und zum
Beispiel die Trinkwasserqualität und damit die Lebens-
qualität zu erhöhen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die deutsch-polnischen Beziehungen stehen heute auf
einem soliden Fundament. Der Nachbarschaftsvertrag hat
dafür vor zehn Jahren eine gute Ausgangslage geschaffen.
Gleichzeitig müssen wir uns immer wieder mit neuen Per-
spektiven und Entwicklungen auseinander setzen. Manch-
mal wünsche ich mir etwas mehr Gelassenheit auf beiden
Seiten, insbesondere im Alltagsgeschäft. Die Beziehungen
zwischen Polen und Deutschland sind heute partner-
schaftlich. Beide Länder arbeiten vertrauensvoll zusam-
men. Gerade deshalb dürfen wir in unserer Anstrengung
nicht nachlassen und müssen den richtigen Weg der Ver-
tiefung der europäischen Integration entschlossen weiter-
gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417610500
Das Wort hat der
Bundesaußenminister Joseph Fischer.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Auf gute Reden antwortet der Minister selbst!)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417610600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zehn
Jahre seit der Unterzeichnung des Vertrages über gute
Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
waren eine Phase historisch einzigartigen Erfolgs in den
deutsch-polnischen Beziehungen. Wichtige Brücken über
den Abgrund der Geschichte waren allerdings bereits zu-
vor geschlagen worden, so etwa durch die ausgestreckte
Hand zur Versöhnung der polnischen Bischöfe von 1965,
dann vor allem durch Willy Brandts Ostpolitik und sei-
nen historischen Besuch in Warschau im Dezember 1970
und durch den Vertrag über die Bestätigung der gemein-
samen Grenze von 1990. Dies war ein sehr wichtiger
Schritt; denn dieser deutsch-polnische Grenzvertrag war
die Voraussetzung für die Zustimmung zum Zwei-plus-
Vier-Vertrag und damit zur deutschen Einheit. Das macht
klar, wie wichtig die Frage der deutschen Ostgrenze und
wie aufs Engste verbunden die Frage der Anerkennung
der deutschen Ostgrenze und damit der polnischen West-
grenze für die Wiedererlangung der deutschen Einheit in
Freiheit war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gehört – da hier die Geschichte bemüht wurde – mit
zur Tragik, dass der Aufstieg Preußens an die polnische
Teilung gebunden war. Wenn über Preußen gesprochen
wird – was heute ein abgeschlossenes Kapitel in unserem
Geschichtsbuch ist –, wird vergessen, dass es sich bei




Katherina Reiche
17288


(C)



(D)



(A)



(B)


Preußen nie nur um einen deutschen, sondern immer um
einen deutsch-polnischen Staat gehandelt hat. Das hat jen-
seits aller ideologischen Auseinandersetzungen die ganze
Problematik unserer Geschichte mitgeprägt, bis hin zur
nationalsozialistischen Barbarei.

Dass dieses Kapital abgeschlossen ist, dass heute klar
ist, wo die Deutschen zu Hause sind, und damit auch klar
ist, wo die Polen zu Hause sind, war nicht nur die Vo-
raussetzung für die Wiedererlangung der deutschen Ein-
heit, sondern ist auch die Voraussetzung für Frieden in
ganz Europa und für die europäische Integration. Wir
dürfen also nicht vergessen, welche Bedeutung die
deutsch-polnischen Beziehungen haben. Ich kann allen
nur zustimmen, die gesagt haben: Die Beziehungen müs-
sen ähnlich intensiv, ähnlich gut und ähnlich selbstver-
ständlich werden wie die zwischen Deutschland und
Frankreich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Gewiss ist die Geschichte nicht alles; doch wir dürfen
sie nicht zur Seite legen, wir dürfen sie nicht vergessen.
Gerade auch hinsichtlich des deutsch-polnischen Verhält-
nisses dürfen wir dies nicht tun. Deswegen war es wich-
tig und richtig, dass wir, angestoßen durch die Initiative
von Bundeskanzler Schröder – wir konnten dies gerade
wieder bei den deutsch-polnischen Konsultationen in
Frankfurt/Oder von der polnischen Seite hören –, eine Lö-
sung für die Zwangsarbeiterentschädigung


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hier
im Bundestag beschließen konnten. Es geht nicht um Ent-
schädigung für erlittenes Unrecht und erlittenes Leid, son-
dern um Anerkennung dieses Leids und dieses Unrechts.
Dies wurde uns immer wieder gesagt. Gerade für das
deutsch-polnische Verhältnis ist das nicht gering zu ver-
anschlagen.

Aber auch all jenen, die gesagt haben, die Probleme
der Zukunft würden über unser Verhältnis entscheiden,
möchte ich Recht geben. Diese gemeinsame Zukunft
heißt Europa. Die Osterweiterung ist ein historisches
Projekt. Wir haben heute Morgen darüber gesprochen.
Ich hoffe, dass all diejenigen, die das in dieser Debatte
mit Worten gesagt haben, die ich alle unterschreiben
kann, ihre Unterstützung geben, wenn sie sich im
wahrsten Sinne des Wortes in materielle Münze umset-
zen muss.

Wenn wir über eine gemeinsame Agrarpolitik und über
die nächsten Finanzvereinbarungen der erweiterten Union
im Jahre 2006 reden, wenn wir darüber sprechen, dass wir
durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten für einen ge-
wissen Zeitraum durchaus auch Wettbewerbsnachteile
haben können, dass aber die Vorteile insgesamt überwie-
gen, wie die Erfahrungen aus den unterschiedlichen Er-
weiterungsrunden der Europäischen Union gezeigt haben,
wenn wir die sattsam bekannten, unsäglichen Vorurteile
über Polen, die bei uns leider noch viele im Kopf haben,

untersuchen und ihnen, wie ich hoffe, sehr massiv und ra-
tional entgegentreten werden,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


wenn man sich all diese Dinge des praktischen Zusam-
menlebens und Zusammenfindens im gemeinsamen Eu-
ropa ins Gedächtnis ruft, dann wird sich erweisen, wie
weit diese Bekundungen tatsächlich von Bestand sind, ob
es nur Worte sind oder ob sie angesichts der harten Rea-
lität im gemeinsamen europäischen Alltag von Bestand
sind.

Ich will, Herr Türk – ich sage es noch einmal, weil Sie
heute Morgen in der Debatte nicht anwesend waren –,


(Jürgen Türk [F.D.P.]: Richtig!)

die Anwaltschaft, die wir für den Erweiterungsprozess ha-
ben, ansprechen. Dieser liegt auch aus historischer Ver-
pflichtung im deutschen Interesse, wie dies alle Redner
unterstrichen haben. Aber er liegt auch in unserem aktu-
ellen Interesse. Vergleichen Sie einmal die Handelszahlen
der deutschen Volkswirtschaft und der EU-Volkswirt-
schaft mit den Beitrittsländern! Man wird dann feststel-
len, dass der Handel mit diesen Ländern von überragen-
der Bedeutung ist. Es sind keine Länder, die um Almosen
anstehen, sondern Länder, die für uns wie für sich selbst
Wirtschaftswachstum kreieren und damit Arbeitsplätze,
Beschäftigung, Einkommen auch und gerade für unsere
Bürger schaffen werden.

Das Wegfallen der EU-Außengrenze ist besonders
für die ostdeutschen Grenzländer von überragender Be-
deutung. Eine Stadt wie Görlitz in Sachsen hat durch die
historischen Veränderungen des Zweiten Weltkrieges
nachgerade ihr ökonomisches Hinterland verloren. Das
gilt auch für Städte wie Frankfurt/Oder oder andere Be-
reiche wie Vorpommern, in denen diese Grenzverän-
derungen dazu geführt haben, dass vorher existente Wirt-
schaftsräume zerrissen und unterbrochen wurden. Das
alles wird sich positiv ändern. Darin liegt eine gewaltige
Chance im deutsch-polnischen Verhältnis, und zwar kon-
kret im Verhältnis von Region zu Region.

Dass diese Chance bereits genutzt wird, davon konn-
ten wir uns jüngst bei einem Treffen in Breslau selbst
überzeugen, bei dem die Ministerpräsidenten und die
Woiwoden anwesend waren. Hier entwickelt sich etwas,
was für das deutsch-polnische Verhältnis mindestens so
wichtig ist wie die Erfahrungen, die wir an unserer West-
grenze gemacht haben, wo über Jahre hinweg das Zusam-
menwachsen von unten von überragender Bedeutung
war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eine dreiviertel Million deutsche und polnische Ju-
gendliche haben am Programm des Deutsch-Polnischen
Jugendwerks teilgenommen. Das ist ein positives Zei-
chen. Noch etwas anderes: Der polnische Ministerpräsi-
dent hat dem Bundeskanzler und uns mitgeteilt, dass über
zwei Millionen polnische Jugendliche Deutsch als erste
Fremdsprache lernen. Auch das ist, wie ich finde, eine be-




Bundesminister Joseph Fischer

17289


(C)



(D)



(A)



(B)


eindruckende Zahl, auf die wir unbedingt positiv reagie-
ren sollten und müssen.

Über die Entwicklung des Handels habe ich schon ei-
niges gesagt. Kollege Pflüger, Sie haben mich ganz zu
Unrecht gescholten. Angeregt durch Ihre Rede, in der Sie
über die gemeinsamen Interessen der Ostpolitik, wie etwa
beim Baltikum oder der Ukraine, gesprochen haben, habe
ich dem für die Spätaussiedler zuständigen Kollegen aus
dem Innenministerium als Beispiel dafür Kasachstan ge-
nannt. Mir sagte der polnische Außenminister: Wir haben
gemeinsame Interessen in Kasachstan. Ich fragte ihn,
warum. Er antwortete mir schlicht und einfach: Wir haben
dasselbe Problem wie auch ihr, nämlich durch Stalin nach
Kasachstan deportierte Polen, und zwar in ähnlicher
Größenordnung, mit denselben Rückwanderungs- und In-
tegrationsproblemen und demselben Interesse an Ka-
sachstan. Darüber habe ich gesprochen. Ich hoffe, es fin-
det Ihre nachträgliche Billigung.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ja!)

– Gut, das beruhigt mich.

Dies ist ein Aspekt, der völlig klarmacht, dass wir mit
dem Beitritt Polens in der Tat eine verstärkte Hinwendung
der Europäischen Union nach Osten bekommen. Das liegt
auch im deutschen Interesse. Diese Dimension der Ko-
operation müssen wir unbedingt ausbauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die kulturelle, die wissenschaftliche Zusammenarbeit
– dies alles mit Zukunftsorientierung, aber nicht gründend
auf dem Vergessen der Vergangenheit, sondern aufbauend
auf den Erfahrungen der Vergangenheit – wird die
deutsch-polnischen Beziehungen als eine der Haupt-
achsen der europäischen Integration in Zukunft bestim-
men und daran wollen wir gemeinsam arbeiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417610700
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Erika
Steinbach, CDU/CSU.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1417610800
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Europa hört nicht an Oder und
Neiße oder am Böhmerwald auf. Europa reicht weit da-
rüber hinaus. Deutschland, das zurzeit den Osten der Eu-
ropäischen Union markiert, liegt im Grunde genommen
im Zentrum und im Herzen Gesamteuropas.

Vor diesem Hintergrund ist das zehnjährige Jubiläum
des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages ein
wichtiges Datum. Es macht deutlich, dass der Weg Euro-
pas in Richtung Osten ganz offensiv auch von Deutsch-
land – primär sogar von Deutschland – angegangen wird.

Die Tatsache, dass sich im deutsch-polnischen Verhält-
nis innerhalb der letzten zehn Jahre unendlich viel ver-
bessert hat, ist überall sichtbar. Dass sich etwas verbessert

hat, war nicht nur von oben oktroyiert, sondern wuchs
auch von unten, wuchs durch die Menschen, die hin und
her reisten und miteinander sprachen. Das zu wissen ist
wichtig.

Der Herr Außenminister hat angeführt, dass auch die
Vergangenheit wesentlich ist. Ich glaube, darüber muss
man sich im Klaren sein. Die Zukunft der Gemeinschaft
von Völkern kann gut gestaltet werden, wenn Vergangen-
heit und Gegenwart zusammengefügt und gemeinsam
fruchtbar aufgearbeitet werden. Nur daraus erwächst ein
konstruktives Miteinander in der Zukunft.

Zu diesem Aufarbeiten für die Zukunft gehört die
schwierige deutsch-polnische Geschichte in der Zeit des
Nationalsozialismus und natürlich auch danach. Ich bin
fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass Deutsch-
land seinen Teil der Last bei der Aufarbeitung dieser Ge-
schichte offensiv trägt. Ebenso ist es für Polen unab-
dingbar notwendig, seinen Teil, das, was nach 1945 kam,
aufzuarbeiten und damit verantwortungsvoll umzuge-
hen.

Es hat sich vieles positiv entwickelt. Die Menschen,
die aus Deutschland in Richtung Polen reisen und wan-
dern, sind in allererster Linie Menschen, die aus dem
heute polnischen Bereich kommen, die dort einmal ihre
Heimat hatten. Sie reisen nicht mit der geballten Faust in
der Tasche dorthin, sondern mit offenem Herzen und sie
tun vieles, um in Polen Kirchen aufzubauen oder Kran-
kenhäuser auszustatten. Die meisten anderen Deutschen
haben nicht das Bedürfnis, nach Schlesien oder Pommern
zu fahren. Es sind in aller Regel die Heimatvertriebenen,
die heute dorthin reisen. Sie tun das mit offenem Herzen.

Ich wünsche mir für die Zukunft eines: dass wir auch
seitens Deutschlands, seitens der Bundesregierung den
Teil, der viele Menschen hier im Land betrifft, bei der
Aufarbeitung nicht vergessen. Er gehört dazu. Man kann
Geschichte ganz oder gar nicht aufarbeiten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417610900
Frau Kollegin
Steinbach, Sie müssen zum Schluss kommen.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1417611000
Ich bedanke mich. Ich
bin auch schon fast am Ende.

Man soll keine Schlussstriche ziehen. Man soll in kei-
nerlei Weise Schlussstriche ziehen. Wir haben als Völker
gemeinsam eine gute Zukunft, wenn beide willens sind,
Polen und Deutsche, die jeweilige Vergangenheit kon-
struktiv und verantwortungsbewusst in die Hand zu neh-
men, aufzuarbeiten und das, was an Schwierigkeiten und
Defiziten noch vorhanden ist, aus dem Weg zu räumen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417611100
Frau Kollegin
Steinbach, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie eine
Kurzintervention angemeldet hatten. Es hat sich haar-
scharf an der Grenze zu einem Redebeitrag bewegt.


(Zuruf von der SPD: Es war einer!)





Bundesminister Joseph Fischer
17290


(C)



(D)



(A)



(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten grundsätz-
lich darauf achten, dass wir die Instrumente, die wir als
Abgeordnete haben, den Regeln entsprechend nutzen.

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hartmut Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1417611200
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Dedecius, der
Übersetzer, Schriftsteller und Gründer des Deutschen Po-
len-Instituts in Darmstadt, der heute schon verschiedent-
lich zitiert worden ist, hat im Hinblick auf das
deutsch-polnische Verhältnis einmal die Maxime erho-
ben, es gelte, Vorurteile durch Urteile zu ersetzen.
Dedecius verstand und versteht sich wie kein anderer als
Brückenbauer, was die Beziehungen zwischen dem deut-
schen und dem polnischen Volk betrifft.

Auch die Funktion des deutsch-polnischen Nachbar-
schaftsvertrages war es, Brücken zwischen unseren bei-
den Völkern zu bauen. Der Vertrag war und ist ein Mei-
lenstein in unseren Beziehungen. Zehn Jahre nach seiner
Unterzeichnung muss festgestellt werden, dass sein
Hauptergebnis, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die wir
noch heute im deutsch-polnischen Verhältnis zu beklagen
haben, im Abbau von Vorurteilen bestanden hat und be-
steht. Vorurteile werden bekanntermaßen am besten durch
das Kennenlernen des anderen, seiner Sprache und seiner
Kultur abgebaut. Der Vertrag hat auf vielen Feldern, im
Bereich der Politik, im gesellschaftlichen Bereich, im
kirchlichen Bereich und auch im wirtschaftlichen Be-
reich, Hervorragendes geleistet.

Durch den heutigen Antrag und durch den Verlauf der
Debatte wird deutlich, wie unstrittig die Weiterentwick-
lung der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in
unserem Parlament, aber auch in unserer Gesellschaft ge-
worden ist. Man kann es nur begrüßen, dass wir in diesem
Antrag heute fraktionsübergreifend feststellen,

... dass die Angehörigen der deutschen Minderheit in
Polen und die in Deutschland lebenden Polen und
Bürger polnischer Abstammung sowie viele Heimat-
vertriebene in den bilateralen Beziehungen eine ak-
tive, verbindende und konstruktive Rolle spielen.

Sicherlich ist es richtig, wenn wir in diesem Antrag an
die Regierungen beider Länder appellieren, die Anliegen
dieser Bevölkerungsgruppen bei unseren regelmäßigen
deutsch-polnischen Konsultationen entsprechend dem
Nachbarschaftsvertrag zu berücksichtigen. Ein solches
Anliegen ist zum Beispiel die humanitäre Frage, wie wir
mit Altersarmut von Angehörigen der deutschen Min-
derheit in Polen umgehen. Wir sollten diese Frage nicht
allein der polnischen Seite überlassen. Herr Außenminis-
ter, vielleicht ist es möglich, dass wir bilateral, also mit
Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland, versu-
chen, dieses humanitäre Problem gemeinsam lösen und
uns nicht nur auf den Rechtsstandpunkt zurückziehen, wie
es zum Beispiel im deutsch-polnischen Sozialversiche-
rungsabkommen geregelt ist.

Ein solches Anliegen ist die Frage der Ausweitung des
muttersprachlichen Unterrichts. Herr Außenminister,
Sie haben gesagt, dass in Polen 2 Millionen junge Men-

schen Deutsch als Fremdsprache lernen. Das zeigt, dass
die deutsche Sprache in Polen einen hervorragenden Stel-
lenwert hat. Wir dürfen diese Entwicklung allerdings
nicht konterkarieren, indem wir gerade in der auswärtigen
Kulturpolitik unsere Mittel zur Stärkung der deutschen
Sprache in Polen kürzen. Wir müssen sicherlich noch An-
strengungen zugunsten des muttersprachlichen Unter-
richts in denjenigen Gebieten, in denen die deutsche Min-
derheit lebt, unternehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich ein Thema nennen, das ich dazu nut-

zen möchte, dafür zu werben, in die Zukunft gerichtete
Lösungen anzustreben. Ich denke an die Diskussion um
Archivalien im Zusammenhang mit den Verhandlungen
über kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter. Wir sollten in
Deutschland wie in Polen für zukunftsgerichtete Lösun-
gen werben. Eine solche Lösung wäre etwa der gesicherte
Zugang zu Archivalien von beiden Seiten, indem wir sie
– was deutsche Archivfachleute vorschlagen – mikrover-
filmen. Wenn dies geschieht, dann spielt es überhaupt
keine Rolle mehr, wo diese Archivalien liegen. Beide Sei-
ten könnten die für die Geschichtswissenschaft notwendi-
gen Archivalien nutzen, ohne dass wir uns darüber strei-
ten, wo die Bestände einzulagern sind.

Für mich ist die herausragende Bedeutung des
deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, dass er auf
beiden Seiten die Sicht auf den Nachbarn verändert hat.
Die deutschen Heimatvertriebenen haben die Offenheit
der deutsch-polnischen Grenze für 1 000fache Besuche in
ihrer alte Heimat genutzt und sie haben inzwischen ein
festes Beziehungsnetz zu den Menschen in ihrer Heimat
– auch zur polnischen Bevölkerung – aufgebaut. Ich
glaube, wir können erfreut feststellen, wie unbefangen die
politisch-gesellschaftlichen Verantwortlichen in Polen
heute auf die Heimatvertriebenen zugehen. Ich möchte
das an einer Person festmachen, die zu kommunistischer
Zeit in Polen als Unperson galt, nämlich unserem ehema-
ligen Bundestagskollegen Dr. Herbert Hupka, der heute in
Polen ein gern gesehener Gast ist, überall Vorträge hält
und sogar vom polnischen Bürgermeister seiner Heimat-
stadt Ratibor mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet
worden ist, weil er sich dafür eingesetzt hat, dass Mittel
aus Europa und aus dem deutsch-polnischen Verständi-
gungsfonds für die Kanalisation dieser Stadt bereitgestellt
wurden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die polnische Seite – auch das müssen wir sehen – geht

heute wesentlich unbefangener mit dem deutschen Kul-
turerbe in Schlesien, Ostpreußen und Pommern um,
weil sie erkannt hat, dass es ein verbindendes europä-
isches Kulturerbe ist. So, wie es in der deutschen Kultur
immer wieder wertvolle Bereicherungen durch die Ver-
wobenheit mit der polnischen Kultur gegeben hat
– schauen Sie sich unsere Kulturtradition an –, so gilt das
in gleicher Weise auch für Polen. Nach meiner Meinung
hat es der ehemalige polnische Botschafter in Deutsch-
land, Janusz Reiter, in einem Interview, ich glaube, mit
dem „Spiegel“, mit folgendem schönen Satz auf den
Punkt gebracht:




Vizepräsidentin Petra Bläss

17291


(C)



(D)



(A)



(B)


Heute kann man ruhig sagen, die Steine in Breslau
sprechen auch deutsch und sie haben sehr viel auf
Deutsch zu berichten, sehr viel!

Ich glaube, auf beiden Seiten wird vieles enttabuisiert.
Ich halte es für einen ganz bemerkenswerten Akt, wenn
ein junger Wissenschaftler wie Borodziej in Polen eine
Quellenedition über polnische Akten zur Vertreibung der
Deutschen herausgibt.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417611300
Herr Kollege
Koschyk, ich muss Sie leider unterbrechen.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1417611400
Unterbrechen?

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417611500
Ja, weil Sie Ihre Re-
dezeit bereits überzogen haben. Da es sich mehrfach so
anhörte, als würden Sie Ihren Schlusssatz sagen, war ich
bis jetzt geduldig.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1417611600
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss. – Wir sollten nicht verschweigen,
dass es noch eine Reihe großer Herausforderungen in un-
seren Beziehungen gibt. Aber all die Fortschritte, die wir
in den letzten zehn Jahren in unseren Beziehungen er-
reicht haben, sollten uns den Mut geben, die noch beste-
henden Herausforderungen anzugehen, sie zu meistern
und die Dinge aufzugreifen, die die Menschen jenseits
und diesseits von Oder und Neiße heute mehr verbinden,
als dass sie sie noch trennen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so wie bei Abgeordneten der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417611700
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der F.D.P. mit dem Titel „Deutsche
und Polen in Europa: Eine gemeinsame Zukunft“. Wer
stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/6322? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jochen-
Konrad Fromme, Peter Götz, Dietrich
Austermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Umsetzung des Versprechens der Bundesregie-
rung zur Stärkung der Kommunalfinanzen
– Drucksache 14/6163 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Sonderausschuss Maßstäbe-/ Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Erster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kol-
lege Peter Götz.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417611800
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Diese Bundesregierung macht eine kommu-
nalfeindliche Politik. Sie verschiebt immer mehr Kosten
und staatliche Aufgaben hin zu den Städten, Gemeinden
und Landkreisen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Verschiebebahnhof!)


Gleichzeitig nimmt sie den Kommunen auch noch das
Geld weg.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Schande!)

Das ist unanständig, unredlich und gefährdet die kommu-
nale Selbstverwaltung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Unwahr!)


– Das ist nicht unwahr. Welche Bedeutung die Kommu-
nen für die Bundesregierung haben, ist deutlich an der
Präsenz auf der rot-grünen Regierungsbank ablesbar. Nie-
mand sitzt dort!


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nicht einmal ein Regierungsrat!)


Damit steht Rot-Grün fest in zentralistisch-sozialistischer
Tradition.


(Lachen bei der SPD)

Sogar Ministerpräsident Clement aus Nordrhein-West-
falen beklagt dieser Tage die „großen zentralstaatlichen
Versuchungen“ der Berliner Regierung. Damit meint er
diese Bundesregierung.

CDU und CSU haben ein anderes Staatsverständnis.
Wir wollen eine starke lokale Demokratie. Wir wollen,
dass die Bürger mitreden und mitentscheiden können. Wir
wollen weniger Staat, weniger Bevormundung und für
Städte, Gemeinden und Landkreise eigenverantwortliche
Aufgaben und klare Zuständigkeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dazu gehört auch die notwendige Finanzausstattung.

Durch den Antrag, über den wir heute diskutieren, wird
die dramatische Verschlechterung der Haushaltssituation
deutscher Städte und Gemeinden sehr deutlich. Wir for-
dern die Koalitionsfraktionen auf, ihre Versprechungen
gegenüber den Kommunen einzuhalten. Leider machen
Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer Koali-
tionsvereinbarung angekündigt haben. Das ist eine Irre-
führung der Bevölkerung und ein Betrug an vielen kom-
munalpolitisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die




Hartmut Koschyk
17292


(C)



(D)



(A)



(B)


sich in ihrer freien Zeit ehrenamtlich zum Wohl ihrer
Heimatstadt einbringen.

In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht unter anderem:
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung unterziehen.

Die Prüfung des Gemeindefinanzsystems ist in weite
Ferne geschoben. Bei der Hauptversammlung des Deut-
schen Städtetages in Leipzig im vergangenen Monat hat
der Bundeskanzler gesagt, dass er das Thema in dieser Le-
gislaturperiode nicht mehr anpacken will. So einfach
macht sich Rot-Grün das Regieren. Wir nennen das: Ver-
sprechen gebrochen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Zusammenhang mit der versprochenen Stärkung

der Finanzkraft der Gemeinden will ich nur eine Zahl nen-
nen: 11,3Milliarden DM, und zwar nicht zur Stärkung der
Finanzkraft; das ist vielmehr der Betrag, der seit 1998
deutschen Kommunen vom Bund weggenommen wurde.
Also 11,3Milliarden DM weniger statt auch nur eine Mark
mehr. Diese Summe macht etwa ein Zehntel aller kom-
munalen Steuereinnahmen aus. Ein Abbau um 10 Prozent
ist viel und ist deshalb besonders schlimm, weil zusätzlich
der Anteil staatlicher Pflichtaufgaben weiter wächst. Die
Möglichkeit zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben, die den
Gestaltungsspielraum eines Gemeinderates ausmachen,
wird immer weiter eingeschränkt.

Das führt dazu – das gilt für alle Parteien –, dass es im-
mer schwieriger wird, Persönlichkeiten zu finden, die be-
reit sind, für ein kommunales Mandat zu kandidieren.
Auf kommunaler Ebene wollen die Menschen gestalten
und nicht nur einen Mangel verwalten. Durch Ihre Politik
fügen Sie der lokalen Demokratie einen großen Schaden
zu. Sie machen auf diese Weise die kommunale Selbst-
verwaltung bewusst und ganz gezielt kaputt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wollten durch ein höheres Wirtschaftswachstum

Mindereinnahmen als Folge Ihrer Steuerreform – ein
Jahrhundertreformwerk – ausgleichen. Kaum ein Jahr
später bekommen die Deutschen die Quittung Ihrer
schlechten Politik präsentiert: Die Konjunktur lahmt – wir
wissen es alle und haben es heute wieder gehört –, dafür
steigt die Inflation auf inzwischen 3,5 Prozent. Hinsicht-
lich des Wachstums haben Sie Deutschland zum Schluss-
licht in der Europäischen Union herunterregiert. Dadurch
ergeben sich weitere Steuerausfälle, von denen neben den
Bürgerinnen und Bürgern wiederum die Gemeinden be-
sonders betroffen sind. Für das Jahr 2001 sind 1,9 Milli-
arden DM weniger Steuereinnahmen zu erwarten. Die
Folgen sind katastrophal: Viele Kommunen müssen ihren
Verwaltungshaushalt auf Pump finanzieren; für dringend
notwendige kommunale Investitionen fehlt das Geld. Das
gilt nicht nur für Gemeinden im Osten, sondern betrifft
auch viele Regionen des Westens. Besonders schlimm
sieht es in den Ländern aus, in denen die SPD in der Re-
gierungsverantwortung steht oder gar die PDS noch mit
im Boot sitzt.

Nach einer gestern veröffentlichten Umfrage des Bun-
des der Steuerzahler in Nordrhein-Westfalen fehlen in
diesem Jahr in Nordrhein-Westfalen rund 3,64 Milliar-
den DM in den kommunalen Kassen. Damit ist das Defi-
zit um 15 Prozent höher als im Vorjahr. Seit Jahrzehnten
hat es nicht mehr so schlechte Straßenverhältnisse in den
Gemeinden gegeben wie heute. Ähnliches gilt hinsicht-
lich der Unterhaltung von Schulen und anderen öffentli-
chen Einrichtungen.

Auch der Bauwirtschaft – früher ein kraftvoller Motor
unserer Konjunktur – fehlen die Aufträge aus den Kom-
munen. Das ist auch keine Frage irgendwelcher Konjunk-
turprogramme, sondern Aufgabe einer verlässlichen und
kontinuierlichen Politik.

Lassen Sie mich anhand von nur einem Beispiel auf die
Folgen rot-grüner Politik für die kommunalen Haushalte
etwas näher eingehen: die Versteigerung der UMTS-
Lizenzen. Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen hat
fast 100Milliarden DM zusätzlich in die Kassen des Bun-
des gebracht.


(Zuruf von der SPD: Wir mussten auch eure Schulden abbauen!)


Wir haben sofort gefordert, Länder und Kommunen zu
beteiligen; denn Deutschland ist ein Bundesstaat. Nach
dem Grundgesetz müssen Einnahmen und Ausgaben in
einem äquivalenten Verhältnis zueinander stehen. Wenn
der Bund mit 100 Milliarden DM etwa ein Fünftel mehr
einnimmt als geplant, dann gerät dieses äquivalente Ver-
hältnis aus dem Gleichgewicht. Schon alleine deshalb
hätte der Bundesfinanzminister Länder und Kommunen
beteiligen müssen. Das hat er aber nicht getan.

Doch damit nicht genug: Durch die steuerliche An-
rechnung der Lizenzkosten verlieren die Kommunen bei
der Gewerbesteuer und bei der Körperschaftsteuer über
den Abschreibungszeitraum 14Milliarden DM. Der Bund
kassiert; die Städte, Gemeinden und Landkreise zahlen
die Zeche.

Hinter solch abstrakten Zahlen verbergen sich drama-
tische Verhältnisse in den Gemeinden, in denen Telekom-
munikationsfirmen vertreten sind. Ich nenne ein Beispiel:
Das Amt Stahnsdorf, eine Gemeinde in Brandenburg mit
12 000 Einwohnern, hatte im vergangenen Jahr 4,2 Milli-
onen DM Gewerbesteuereinnahmen, im Wesentlichen
von Telekommunikationsfirmen. 2001 entfällt diese Ein-
nahme völlig. Dafür gibt es keinerlei Ausgleich. So ge-
staltet sich ganz konkret in der Praxis das Versprechen aus
der Koalitionsvereinbarung, die kommunalen Finanzen
zu stärken.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Herr Kollege Götz, es ist immer noch niemand auf der Regierungsbank vom zuständigen Haus anwesend!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417611900
Inzwischen hat die
Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis Platz
genommen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das wäre mir aber das Neueste, wenn sie zuständig ist!)





Peter Götz

17293


(C)



(D)



(A)



(B)



Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417612000
Für mich ist maßgeblich,
welches Gewicht die Bundesregierung in ihrer Politik auf
Kommunen, Städte und Gemeinden legt. Wie gering die-
ses Gewicht ist, wird heute demonstriert.

In Bundestagsreden ist oft von abstrakten Geldbeträ-
gen die Rede. Aber mit diesen Beträgen werden Leistun-
gen für die Menschen bezahlt. In den Gemeinden sind es
die ganz alltäglichen Leistungen, bei denen immer mehr
Einschnitte gemacht werden müssen: bei Schulen, Kin-
dergärten, Sportstätten und Bädern, bei der Kultur, bei Bi-
bliotheken sowie bei der Theater- und Vereinsförderung.
Viele dieser kommunalen Leistungen sind einfach nicht
mehr möglich, weil die rot-grüne Bundesregierung die
kommunalen Haushalte kontinuierlich zu ihren Gunsten
plündert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Im Jahr 2001 müssen die Kommunen über 50 Prozent
ihrer Steuereinnahmen für Sozialleistungen aufbringen.
Im vorigen Jahr waren es noch 47 Prozent. Ob bei der
Grundsicherung im Zuge der Rentenreform oder beim
Kindergeld, an dem sich die Kommunen mit 6 Milliar-
den DM zu beteiligen haben – um nur einige wenige Bei-
spiele aus der Sozialpolitik zu nennen –:


(Zuruf von der SPD: Wie wäre das beim Familiengeld?)


Überall bei diesen staatlichen Aufgaben bitten Sie die
Kommunen mit zur Kasse und stellen dies gleichzeitig
– wie bei der Kindergelderhöhung – als Wohltat dieser
Bundesregierung dar.

Ich könnte mit dem Verbraucherschutz fortfahren, zum
Beispiel mit dem so genannten BSE-Schnellgesetz. Auch
hier werden den Kommunen und Ländern Aufgaben aufs
Auge gedrückt. Für den Bund entstehen keine Kosten, für
Länder und Gemeinden aber erhebliche. Damit ist für
Rot-Grün das Problem erledigt.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417612100
Herr Kollege Götz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417612200
Bitte.


Heinz Seiffert (CDU):
Rede ID: ID1417612300
Herr Kollege Götz, ich
finde es beachtenswert, dass bei diesem wichtigen Thema
und angesichts der dramatischen Finanzsituation der
Kommunen kein zuständiges Regierungsmitglied auf der
Regierungsbank sitzt. Können Sie sich dies erklären?


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417612400
Herr Kollege Seiffert, ich
kann mir das nur so erklären, dass diese Bundesregierung
ihre Prioritäten so setzt, dass die Städte und Gemeinden
für sie überhaupt keine Rolle spielen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417612500
Herr Kollege Götz, es
gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Danach lasse ich aber keine Fragen mehr zu, weil wir
nicht in der Fragestunde sind.


Jochen-Konrad Fromme (CDU):
Rede ID: ID1417612600
Herr Kol-
lege Götz, teilen Sie meine Meinung, dass sich die Bun-
desregierung wegen ihrer schlechten Leistungen gegen-
über den Kommunen so schämt, dass sich kein Vertreter
der Bundesregierung traut, während dieser Debatte anwe-
send zu sein?


(Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU] – Zurufe von der SPD: Oh!)



Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417612700
Herr Kollege Fromme, ich
teile Ihre Meinung.

Die Fälle, die ich vorhin aufgeführt habe, sind keine
Einzelfälle. Das Schlimme ist – das wird durch die man-
gelnde Präsenz der Bundesregierung während dieser De-
batte deutlich –: Das Ganze hat System. Deshalb prangern
wir es an. Rot-Grün will das Gesicht unserer Demokratie
verändern, hin zu mehr Staat, mehr Zentralismus, mehr
Sozialismus, mit Regulierung sowie mit Gängelung und
Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger. Berlin lässt
grüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der PDS)

– Klatschen Sie nur, Sie bei der PDS!

Die Union steht für mehr Freiheit und mehr Selbstver-
antwortung. Wir wollen eine starke Demokratie vor Ort.


(Zuruf von der SPD: Freiheit statt Sozialismus!)


Sie haben auch versprochen, das Konnexitätsprinzip
einzuhalten. Das heißt im Klartext, dass jede staatliche
Ebene, die durch Gesetz Aufgaben verursacht, auch für
die Kosten aufkommt. Einfach ausgedrückt: Wer bestellt,
bezahlt. – In Wahrheit machen Sie permanent das Gegen-
teil und brechen regelmäßig Ihre Versprechen. Sie treten
mit Ihrer verfehlten Politik Ihre eigene Koalitionsverein-
barung ständig mit Füßen und entwickeln sich zuneh-
mend zu Künstlern im Brechen von Versprechen.

Wir fordern Sie deshalb zu einer Kurskorrektur auf.
Halten Sie endlich Ihre Versprechungen und ändern Sie
Ihre kommunalfeindliche Politik! Legen Sie die verspro-
chene Gemeindefinanzreform vor und nicht laufend
Stückwerk mit neuer Bürokratie! Machen Sie Schluss mit
dem ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler
Haushalte! Wir wollen starke Städte und Gemeinden. Wir
wollen eine starke kommunale Selbstverwaltung. Wir
wollen bürgerschaftliches Engagement auf kommunaler
Ebene. Das erreichen wir nur, wenn wir den Städten und
Gemeinden auch die notwendige finanzielle Ausstattung
belassen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417612800
Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.






(C)



(D)



(A)



(B)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1417612900
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Das, was wir hier gerade er-
lebt haben, scheint eine neue Veranstaltung zu sein. Die
CDU/CSU-Fraktion ist offensichtlich sehr ratlos. Sie
muss sich schon selbst befragen. Mittwochs ist ja immer
Fragestunde. Wir könnten für Ihre Fraktion eine eigene
Fragestunde einrichten, damit Sie sich endlich informie-
ren können.


(Beifall bei der SPD)

Ihnen, Herr Kollege Götz, kann ich nur sagen: Es wäre

gut gewesen, Sie hätten Ihre Rede während Ihrer Regie-
rungszeit gehalten. Da wäre sie angebracht und berechtigt
gewesen; denn Sie haben heute einen Antrag eingebracht
– dazu will ich Ihnen ein paar Dinge sagen –, der acht Sei-
ten umfasst. Drei der acht Seiten sind weiße Blätter.


(Rolf Kutzmutz [PDS]: Das liegt am Druck!)

Anderthalb Seiten enthalten Unterschriften der Unter-
zeichner, weitere anderthalb Seiten völlig veraltetes Zah-
lenmaterial und zwei Seiten unwahre Behauptungen.


(Beifall bei der SPD)

Angesichts dieser Qualität des Antrages kann ich schon
verstehen, dass sich die Bundesregierung das nicht antun
möchte. Für diesen Antrag sollten Sie sich schämen. Er ist
nur peinlich.


(Beifall bei der SPD – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie sollten sich schämen!)


Das will ich Ihnen anhand von zwei Daten Ihres An-
trages kurz erläutern. Der Antrag datiert vom 29. Mai
2001. Das ist noch nicht allzu lange her, drei Wochen und
zwei Tage. Der Antrag ist demzufolge sehr frisch. Das
darin enthaltene Zahlentableau, auf das Sie sich bei Ihrer
Kritik im Wesentlichen berufen, stammt allerdings von
November vorigen Jahres.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Weil Ihr Ministerium keine neueren Zahlen herausgeben konnte!)


– Herr Fromme, seien Sie ein bisschen vorsichtig mit
Ihren Zwischenrufen. Sie werden gleich hören, warum
das an dieser Stelle ein falscher Zwischenruf war.

Spätestens seit dem Vermittlungsverfahren, was das
Problem Rente angeht – dieses Vermittlungsverfahren lag
deutlich vor dem Datum Ihres Antrages –, hätten Sie wis-
sen müssen, dass die Zahlen, die beispielsweise zur sozi-
alen Grundsicherung in Ihrem Antrag niedergelegt sind,
völlig verkehrt sind.


(Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Die habt ihr doch jede Woche geändert!)


Sie haben unter Bezugnahme auf das Tableau behaup-
tet, die Gemeinden würden durch die Reform der gesetz-
lichen Rentenversicherung mit 1 Milliarde DM belastet.
Die Wahrheit ist: Die Gemeinden werden durch die Re-
form der sozialen Grundsicherung nicht mit einer einzi-
gen müden Mark belastet werden.

Für unsere Zuhörer bzw. Zuschauer will ich einmal kurz
erklären, worum es bei der bedarfsorientierten Grund-

sicherung geht, damit klar ist, wo hier die Verantwortlich-
keiten liegen.

Ältere Menschen, deren Rente unterhalb der Sozial-
hilfe liegt, haben einen Anspruch, diese Rente auf Sozial-
hilfeniveau aufgestockt zu bekommen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Durch Ihre Rentenreform liegt sie unterhalb der Sozialhilfe!)


Von diesem Recht – das wissen wir – machen viele ältere
Menschen keinen Gebrauch. Es sind hauptsächlich ältere
Frauen betroffen, die den Gang zum Sozialamt scheuen,
weil sie nicht möchten, dass sich das Sozialamt im Wege
des Rückgriffs bei unterhaltsverpflichteten Verwandten
– das sind in der Regel die Kinder – das Geld zurückholt.
Aus diesem Verhalten der älteren Menschen resultiert die
so genannte verschämte Altersarmut. Mit dieser verschäm-
ten Altersarmut werden wir durch die im Rahmen der
Rentenreform beschlossenen bedarfsorientierten Grund-
sicherung Schluss machen.


(Beifall bei der SPD)

Dies ist ein Meilenstein in der Sozialpolitik dieser Repu-
blik; so etwas haben Sie in 16 Jahren nicht zustande ge-
bracht.

Nun ist es klar, dass der Verzicht auf den Rückgriff bei
den Sozialämtern Geld kostet. Es kostet die Gemeinden
schätzungsweise 600 Millionen DM. Das war jedenfalls
die Zahl, die Sie schon im November vergangenen Jahres
anstelle der von Ihnen behaupteten 1 Milliarde DM in
Ihren Antrag hätten übernehmen können. Wiese Ihr Zah-
lentableau diese 600 Millionen DM wenigstens ansatz-
weise aus, könnte man Ihren Antrag noch für halbwegs
seriös halten, aber eben auch nur für halbwegs seriös;
denn die Bundesregierung hat immer klar gemacht, dass
sie diese Belastung der Kommunen ausgleichen wird. Sie
wird die Kosten dafür übernehmen und die Kommunen
mit dem notwendigen Geld versorgen, um diese soziale
Leistung erbringen zu können. Im Vermittlungsausschuss
hat man sich – das wissen Sie – nicht auf nur 600 Mil-
lionen DM, sondern auf eine Erstattung des Bundes in
Höhe von 800 Millionen DM geeinigt, und zwar mit der
Maßgabe, diese Summe alle zwei Jahre zu überprüfen
und, wenn es einen Mehrbedarf gibt, anzupassen. Von
kommunalfeindlicher Politik, meine Damen und Herren,
keine Spur!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ganz im Gegenteil: Hier wird das in der Koalitionsver-
einbarung niedergelegte Konnexitätsprinzip voll erfüllt:
Wer die Musik bestellt, bezahlt. Das hat es in Ihrer Re-
gierungszeit nie gegeben.

Ein zweites Beispiel für die Unseriosität Ihres Antrages
ist die von Ihnen propagierte Belastung der Gemeinden
durch die Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung auf
die Sozialhilfe. Wir haben das bei der letzten Erhöhung
um 20 DM zum 1. Januar 2000 einmal gemacht. Das hat
verfassungsrechtliche Hintergründe, die ich hier nicht
näher erläutern will, die Sie aber kennen. Nach Ihrer
Lesart belastet dies die Kommunen mit 200 Milli-
onen DM. Ehrlicher wäre es gewesen, Sie hätten darauf






(C)



(D)



(A)



(B)


hingewiesen, dass der Bund im Zusammenhang mit die-
ser Kindergelderhöhung den Ländern einen weiteren
Viertelprozentpunkt der Umsatzsteuer zugestanden hat,
was gute 600 Millionen DM ausmacht. Ehrlicher wäre es
auch gewesen, Sie hätten die Kindergelderhöhung zum
1. Januar 1999 in Höhe von 30 DM erwähnt, die bei der
Sozialhilfe angerechnet worden ist. Dies entlastete die
Kommunen um 300Millionen DM. Dasselbe wird bei der
nächsten Kindergelderhöhung zum 1. Januar 2002 ge-
schehen, was die Kommunen um weitere 300 Milli-
onen DM entlasten wird.

Im Saldo ergeben die drei Kindergelderhöhungen also
eine Entlastung der Kommunen von mindestens 400 Mil-
lionen DM. Darin sind die 600 Millionen DM aus dem
Viertelprozentpunkt Umsatzsteuer noch gar nicht einge-
rechnet. Von kommunalfeindlicher Politik, meine Damen
und Herren, wiederum keine Spur!


(Beifall bei der SPD)

Ein dritter Punkt, der zeigt, wie seriös Ihr Antrag ist,

sind die verkürzten Zitate, mit denen Sie Ihren Antrag
spicken, um ihm eben einen seriösen Anstrich zu geben.
Beispielsweise zitieren Sie den Präsidenten des Deut-
schen Städtetages, Hajo Hoffmann, wie folgt:

Die Investitionstätigkeit geht dramatisch zurück. Die
Kommunen können wichtige Investitionen – etwa für
Straßen, Kanalisation, Schulen und soziale Einrichtun-
gen – nicht mehr vornehmen. Die Länder haben ihre
Zuweisungen an die Kommunen der neuen Länder

– jetzt achten Sie einmal auf die Jahreszahl –
seit 1992 um über ein Drittel und in den alten Län-
dern um über ein Viertel verringert.

An dieser Stelle endet Ihr Zitat. Wie unredlich dies ist,
zeigt der im direkten Anschluss daran von Hajo Hoffmann
geäußerte Satz:

Sie
– also die Länder –

tragen damit die Hauptverantwortung dafür, dass die
Investitionen der Kommunen heute um 19 Milli-
arden DM oder fast 30 Prozent unter denen des Jah-
res 1992 liegen.

Er sieht die Verantwortung ganz eindeutig bei den Län-
dern. Im Übrigen waren Sie 1992, was den Bund angeht,
an der Regierung. Auch hier, meine Damen und Herren,
von kommunalfeindlicher Politik des Bundes keine Spur!

Das sehen die kommunalen Spitzenverbände genauso;
ich erläutere es Ihnen ganz kurz am Beispiel der Steuer-
reform. Hier sind wir, die Koalition aus SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen, von den Spitzenverbänden – Sie wa-
ren ja selbst bei der Anhörung anwesend – für unser
kommunalfreundliches Verhalten im Zusammenhang mit
der Beratung der Steuerreform gelobt worden. Das be-
gann damit, dass der Finanzausschuss zu diesem Thema
eigens eine Anhörung für die kommunalen Spitzen-
verbände durchgeführt hat. Das hat es zu Ihrer Regie-
rungszeit niemals gegeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So konnten die Bedenken und Anregungen der Kom-
munen sofort und unmittelbar eingebracht werden.

Das setzte sich in sehr engen Kontakten während des
gesamten Gesetzgebungsverfahrens fort, was für die
Kommunen auch zu positiven Resultaten wie der Fest-
schreibung der Absenkung der Gewerbesteuerumlage
nach 2005 und der Revisionsklausel für 2004 geführt hat.
Der größte Erfolg allerdings, den die Kommunen erzielt
haben – wir haben sie dabei unterstützt –, ist ihre unter-
durchschnittliche Beteiligung an den Ausfällen, die die
Steuerreform mit sich bringt.

Es muss doch klar sein: Steuersenkung heißt weniger
Einnahmen, und zwar bei Bund, Ländern und Gemeinden.
Wer auf der einen Seite ständig Steuersenkung predigt,
kann nicht auf der anderen Seite kritisieren, dass dann
auch wirklich Steuerausfälle eintreten. Gerade die Steuer-
ausfälle beweisen doch, dass diese Steuerreform richtig
ist und die Zielgruppen auch erreicht hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An den Gesamtsteuereinnahmen des Staates – meine
Damen und Herren, das wissen Sie – sind die Gemeinden
mit 12,2 Prozent beteiligt. Daher wäre es nur gerecht und
logisch, wenn man die Gemeinden an den Ausfällen, die
eine Steuerreform mit sich bringt, in genau diesem Ver-
hältnis beteiligte.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Aber nicht überproportional!)


– Völlig korrekt, Herr Götz. Aber Sie kennen doch die
Zahlen, die Ihnen auch die kommunalen Spitzenverbände
bestätigen: Die Gemeinden haben insgesamt nur 8,9 Pro-
zent der Steuermindereinnahmen zu tragen. Sie sind doch
sehr dankbar dafür, dass wir diese kommunalfreundliche
Politik machen. Von kommunalfeindlichem Verhalten
wiederum keine Spur!

An dieser Stelle möchte ich den Kommunen und den
sie vertretenden Spitzenverbänden – dem Städtetag, dem
Städte- und Gemeindebund sowie dem Landkreistag – für
ihre Bereitschaft, die Steuersenkungspolitik der Bundes-
regierung voll zu unterstützen, sehr danken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist ein einmaliger Fall, dass die Spitzenverbände die
Politik der Bundesregierung unterstützen. Das hat es zu
Ihren Zeiten nie gegeben.


(Beifall bei der SPD)

Eines ist klar: Auch eine Beteiligung von 8,9 Prozent

bei den Ausfällen ist selbstverständlich eine Belastung für
die Gemeinden. Das hat unweigerlich Konsequenzen für
die kommunalen Haushalte. Wer wollte das leugnen? Das
ist aber im System so angelegt. Steuersenkung heißt eben
nicht nur Steuersenkung beim Bund, während alle an-
deren mehr Geld bekommen, sondern Steuersenkung
heißt: geringere Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und
Gemeinden.




Bernd Scheelen
17296


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich glaube, den Kommunen wurde die Zustimmung zur
Steuerreform durch die Tatsache, dass wir die Gewerbe-
steuer in vollem Umfang erhalten haben, sehr erleichtert.
Das ist ein wichtiger Punkt.

Die Ihnen bekannte Steuerschätzung hat gezeigt, dass
die Gewerbesteuereinnahmen in den kommenden Jahren
weiter steigen werden. In diesem Jahr werden 48 Milli-
arden DM erwartet, im nächsten Jahr 53 Milliarden DM
und 63 Milliarden DM im Jahr 2005. Die Einnahmen aus
der Gewerbesteuer brechen also nicht weg, sondern stei-
gen ständig.

Durch den pauschalierten Abzug der Gewerbesteuer
von der Einkommensteuer haben wir erreicht, dass die
Gewerbesteuer für die Personenunternehmen, also für
den Mittelstand, als Belastung abgeschafft, für die Kom-
munen aber gleichzeitig als Einnahmequelle erhalten
wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist doch im Grunde ein genialer Trick. Da sollten Sie
eigentlich sagen: Wunderbar, auf diese Idee hätten wir
früher kommen sollen. – Das ist mittelstandsfreundliche
Politik, ein hervorragender Beitrag zur Entlastung des
Mittelstandes bei gleichzeitiger Sicherung der Finanz-
kraft der Gemeinden. Das wissen Städte, Gemeinden
und Kreise zu schätzen, denn sie wissen genau, was sie
von einer Regierung unter Führung der CDU/CSU oder
auch mit Beteiligung der F.D.P. zu erwarten gehabt hät-
ten.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wollten die nicht die Gewerbesteuer abschaffen?)


Die F.D.P. wollte die Gewerbesteuer völlig und ohne
Ersatz abschaffen. Die CDU/CSU wollte die Messzahlen
absenken. Das hätte einen dramatischen Rückgang der
Einnahmen aus der Gewerbesteuer, der wichtigsten kom-
munalen Steuer, zur Folge gehabt. Sie hätten damit nach
meiner Überzeugung Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes
ausgehöhlt, der den Gemeinden eine wirtschaftsbezogene
Steuer mit eigenem Hebesatzrecht garantiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie, meine Damen und Herren, sind ein schlechter Rat-

geber und ein schlechter Helfer bei der Durchsetzung
kommunaler Interessen. Wir Sozialdemokraten brauchen
von Ihnen in Bezug auf Kommunalpolitik nun wirklich
keine Ratschläge, denn die Fraktion der Sozialdemokra-
tischen Partei Deutschlands ist diejenige Bundestagsfrak-
tion, die besonders stark in den Kommunen verwurzelt ist.
Wir sind die Kommunalpartei schlechthin und das seit
über 130 Jahren.

Wir haben unsere Wurzeln in den Stadt- und Gemein-
deräten; das wissen Sie auch. Wir sind dort gut verankert.
Wir wissen, woher wir kommen, und vergessen das nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das kann man auch sehr gut am Beispiel des Finanz-

ministers klar machen. Der Finanzminister Hans Eichel
war Oberbürgermeister in Kassel, er war Ministerprä-
sident in Hessen und ist jetzt Bundesfinanzminister. Das

heißt, er hat alle drei staatlichen Ebenen selbst kennen
gelernt


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Und wo ist er jetzt? Offensichtlich interessiert ihn das alles nicht mehr!)


und weiß, wo die Probleme liegen, und er handelt danach.
Wir nehmen den Auftrag der Koalitionsvereinbarung

sehr ernst, das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung zu unterziehen. Aber Sie wissen doch genau wie
ich, dass uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 11. November 1999 eine sehr knappe Frist im Hin-
blick auf den Länderfinanzausgleich und das Maßstäbe-
gesetz gesetzt hat. Das ist eine Folge der Klagen, die im
Wesentlichen von den süddeutschen Ländern betrieben
worden ist.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417613000
Kollege Scheelen, ich
muss leider auch Sie etwas bremsen.


Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1417613100
Ich komme sofort zum
Schluss.

Wie Sie wissen, binden die Arbeiten am Maßstäbege-
setz und am Länderfinanzausgleich personelle Kapazi-
täten sowohl in den Ministerien als auch in den Fraktio-
nen. Wir müssen dieses Gesetzesvorhaben zum Abschluss
bringen. Deswegen bleibt in dieser Legislaturperiode lei-
der keine Zeit für eine Gemeindefinanzreform. Wir wer-
den sie aber in der nächsten Legislaturperiode anpacken.
Dazu ist uns das Thema zu wichtig.

Zum Abschluss möchte ich den Kollegen von der Op-
position noch einen guten Rat geben: Bereichern Sie die
Debatte lieber mit konstruktiven Vorschlägen zur Ge-
meindefinanzreform und nicht mit einem solch peinlichen
Antrag; denn in Ihrem Antrag ist kein einziger Vorschlag
zu einer Gemeindefinanzreform enthalten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das werden Sie gleich hören!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417613200
Jetzt spricht der Kol-
lege Gerhard Schüßler für die F.D.P.-Fraktion.


Gerhard Schüßler (FDP):
Rede ID: ID1417613300
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Scheelen, es ist schon vermessen, wie Sie angesichts der
Vernachlässigung der Kommunen durch die rot-grüne
Bundesregierung, die es in dieser Form noch nie gegeben
hat, Ihre Politik mit hehren Worten zu verteidigen ver-
suchen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


All Ihre hehren Worte aus Ihrer Regierungserklärung,
nach denen Sie die Finanzkraft der Gemeinden stärken
wollten, sind wie Seifenblasen zerplatzt. Herr Kollege
Scheelen, wenn selbst eine Zeitung wie die „Frankfurter
Rundschau“, die bekanntlich manche Vorlagen zu ihren




Bernd Scheelen

17297


(C)



(D)



(A)



(B)


Artikeln direkt aus dem Büro des Kollegen Struck be-
kommt, Alarm schlägt und titelt „Kommunen klagen über
finanzielle Zwangsjacke“, und wenn man sich die Zahlen,
die für sich sprechen, anschaut, ist mir Ihr Beitrag über-
haupt nicht mehr verständlich.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Wer wollte denn die Gewerbesteuer abschaffen? – Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Was man hier alles erfährt!)


Jeder vernünftige Mensch muss sich angesichts dieser
Aussichten sagen: So kann es nicht weitergehen. Was
macht denn diese Bundesregierung? Nichts! Es ist jedes
Jahr das gleiche Spiel: Nachdem die Bürgerinnen und
Bürger ihre Steuern abgeliefert haben, beginnt eine aben-
teuerliche, wilde Umverteilung. Je nachdem, wie das
jährliche Gezerre ausgeht, bekommen davon der Bund,
das jeweilige Bundesland und die Kreise und Gemeinden
ihre jeweiligen Anteile. Damit aber nicht genug. Die Län-
der praktizieren untereinander einen Finanzausgleich und
auch die kreisfreien Städte und Landkreise unterliegen
noch einmal einem Finanzausgleich.

Unser Grundprinzip, gleiche Lebensbedingungen für
alle zu erreichen, war sicher eine lange Zeit richtig. Für
die neuen Bundesländer müssen auch weiterhin Ausnah-
men möglich sein. Alle anderen Umverteilungsszenarien
sollten aber so schnell wie möglich abgeschafft werden.
Das ganze System taugt nichts mehr.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieses System hat alle Verantwortlichkeiten verwischt.
Die Finanzströme sind nicht mehr transparent und auch
nicht mehr kontrollierbar. Was wir dringend brauchen,
ist eine präzise und punktgenaue Struktur der Steuerge-
setzgebung. Nur mit einem solch längst überfälligen
Schritt kann das Ende der für niemanden mehr
nachvollziehbaren Umverteilungsorgien eingeläutet
werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. JochenKonrad Fromme [CDU/CSU])


Jede Gebietskörperschaft muss in der Lage sein, eigene
Steuern zu erheben, sie muss also das Recht auf Erhebung
eigener Steuern haben.


(Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Auch die Landkreise?)


Herr Clement und Herr Beckstein haben in dieser Woche
vorsichtige Vorschläge gemacht. Es gibt danach Bundes-
steuern für die Verpflichtungen, für die der Bund die Ver-
antwortung trägt. Die Länder werden in die Lage versetzt,
ihre Hoheitsaufgaben und alles, was ihnen der föderative
Staat übertragen hat, zu finanzieren. Die Selbstverwal-
tung der Kommunen bekommt dann wieder einen Sinn
und eigene Gestaltungsspielräume, die ja völlig verloren
gegangen sind.

In Nordrhein-Westfalen stehen 90 Prozent aller kreis-
freien Städte unter Haushaltsbewirtschaftung. Das ist das

Ergebnis kommunaler SPD-Politik im Lande Nordrhein-
Westfalen. Das machen sie ja schon seit Jahren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Angesichts dieser Zustände haben Sie längst den An-
spruch verloren, eine Kommunalpartei zu sein.

Das Recht auf eigene Steuern für die Kommunen ist in
den meisten Demokratien eine Selbstverständlichkeit.
Nicht so bei uns. Zurzeit erleben wir erneut ein peinliches
Gezerre um den Bund-Länder-Finanzausgleich und das
Maßstäbegesetz. Es ist peinlich, was sich dort abspielt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wer wollte die Gewerbesteuer abschaffen?)


Sie wissen ganz genau, dass dabei nichts anderes he-
rauskommen wird als ein Minimalkonsens, welcher die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade noch er-
füllt. Am Grundübel des Umverteilungspokers wird
nichts geändert. Von der dringend erforderlichen Gemein-
definanzreform ist keine Rede. Das wird jetzt mit der
knappen Zeit begründet.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das hätten Sie doch 16 Jahre lang machen können!)


– Herr Kollege Scheelen, Sie haben es nie gewollt. – Es
ist nicht einmal ein Silberstreif am Horizont sichtbar.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Eichel hat als Bundesfinanzminister schon x-mal
expressis verbis erklärt, dass er keine Gemeindefinanz-
reform will.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! Das ist die glatte Unwahrheit! – Nicolette Kressl [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Das Ganze erinnert mich sehr an das mehr als peinliche
Hickhack um die so genannte größte Steuerreform aller
Zeiten. Da erpressten sich Bund und Länder gegenseitig,
um noch etwas für sich herauszuschlagen. Da wurden po-
litische Kämpfe gewonnen und verloren, aber da wurde
nicht die bestmögliche Steuerreform beschlossen. Wenn
jeder für sich – Bund, Länder und Gemeinden – seine ei-
genen Einnahmen und Rechte hätte, könnten man sich
auch nicht mehr gegenseitig erpressen. Das hätte einen
ganz besonderen Charme.

Kommunalpolitik hatte weder in der Vergangenheit in
Bonn noch hat sie heute in Berlin den Stellenwert, der ihr
gebührt. Alle gegenteiligen Bekundungen helfen nichts,
wenn die Tendenz „Nur ja nichts verändern!“ zum Grund-
prinzip wird. So ist das! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion
fordert seit langem die vollständige Abschaffung der Ge-
werbesteuer.


(Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Sie ist und bleibt wettbewerbsfeindlich und ist eine der
Hauptursachen – das wissen die Finanzpolitiker auch –
für unser hochkompliziertes Steuersystem.


(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Und damit stärken Sie die Finanzkraft der Gemeinden?)





Gerhard Schüßler
17298


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir fordern eine angemessene Beteiligung der Gemein-
den an der Umsatzsteuer, Herr Kollege Spiller.


(Beifall bei der F.D.P.– Bernd Scheelen [SPD]: Und was ist mit Art. 28?)


Wenn ich Stadtkämmerer wäre, würde ich jubeln, wenn
ich an der Umsatzsteuer beteiligt würde. Außerdem for-
dern wir ein Recht auf die Erhebung eines Zuschlags auf
die Einkommensteuer im Rahmen des geltenden Steu-
ertarifs. Das hat sogar den Charme, dass es dazu keinerlei
Verfassungsänderung bedarf.

Diese Bundesregierung hat nicht einmal Lösungs-
ansätze aufgezeigt, sondern nur Gesetze beschlossen, die
den Kommunen in erheblichem Umfang neue Pflichten
und Kosten auferlegen. Damit verschlechtert sich die Si-
tuation der Kommunen dramatisch. Da können Sie reden,
was Sie wollen. Wenn Sie und in Sonderheit auch die
Länder vom Konnexitätsprinzip reden, ist das nichts als
eine leere Worthülse. Glaubwürdig werden Sie erst, wenn
Sie das System wirklich ändern. Dann können die gegen-
seitigen Erpressungsszenarien nicht weiter angewandt
werden und man braucht sich nach der Tat nicht über die
jeweils praktizierten Verfahren aufzuregen. Das nämlich
ist unglaubwürdig und löst kein einziges Problem.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Unsere Gemeinden brauchen wieder Luft zum Atmen.

Bund-Länder-Finanzausgleich und Gemeindefinanzre-
form gehören untrennbar zusammen. Sie aber wollen es
nicht begreifen, obwohl Sie es wissen. Wir brauchen eine
Rückverlagerung von Kompetenzen an die Länder im
Sinne des Subsidiaritätsgedankens. Wir brauchen eine
klare Regelung der Kompetenzen von Bund, Ländern und
Kommunen.


(Zuruf von der SPD: Ha, ha!)

In ihrer Haushaltswirtschaft müssen sie selbstständig,
selbstverantwortlich und voneinander unabhängig sein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Durch die Neufassung des Art. 109 des Grundgesetzes
muss die Steuerverantwortung der jeweiligen Gebietskör-
perschaften klar voneinander getrennt und die Umvertei-
lung über den Finanzausgleich auf das absolute Minimum
beschränkt werden. Es sagt jeder, dass sich die Gemein-
schaftsaufgaben nicht bewährt haben, wenn man betrach-
tet, was sie alles in ihrem Gefolge mit sich gebracht ha-
ben. Folglich gehören sie abgeschafft.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es sind also klare Ausgabenverantwortlichkeiten
notwendig. Ich hoffe, dass der Grundsatz „Wer bestellt,
bezahlt“, also das Konnexitätsprinzip, hier einmal zum
Zuge kommen wird. Dazu bedarf es aber längerer, aus-
führlicherer und intensiverer Debatten, auch hier im
Hause, zumal damit zum Teil Verfassungsänderungen
verbunden sind. Ich hoffe, dass diese Debatte zumindest
einen Anstoß dazu gibt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417613400
Jetzt spricht der Kol-
lege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417613500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kommu-
naldebatten im Bundestag haben natürlich immer den
Charme, dass hier zwar das Klagelied der kommunalen
Ebene angestimmt wird, aber in der politischen Praxis,
wenn es wirklich um die Geldverteilung geht, die ver-
schiedenen Ebenen durchaus ihre Pfründe verteidigen.
Die Tatsache, dass das Bundesfinanzministerium – inzwi-
schen ist der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller
eingetroffen –


(Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Seit 20 Sekunden!)


und vor allem der Bundesfinanzminister heute im großen
Umfang gefordert ist, kennen die Insider. Heute kämpft
der Bundesfinanzminister mit 16 Bundesländern um den
Finanzausgleich bzw. das Maßstäbegesetz. Dieses Ge-
fecht geht zulasten des Bundes. Im Zweifelsfall scheren
sich auch die Länder, egal, von wem sie regiert werden,
keinen Deut darum, wie es ihren Kommunen geht. Die
Passage aus dem Bericht des Städte- und Gemeindebun-
des – der Kollege Scheelen hat es angesprochen –, die
nicht im CDU-Antrag zitiert ist, spricht eine deutliche
Sprache: An den klebrigen Fingern der Länderfinanz-
minister bleibt so manches Geld hängen, das eigentlich
für die Kommunen bestimmt war, auch in der Finanzver-
teilung zwischen Bund und Ländern, speziell bei den ost-
deutschen Bundesländern.

Zur Abwehr der Hiobsmeldungen in Ihrem Antrag
möchte ich Folgendes sagen: Ich habe mir die Finan-
zierungssalden aus den kommunalen Kassenberichten
zwischen 1994 und 1998 angeschaut.


(Bernd Scheelen [SPD]: Alle negativ!)

– 1998 nicht mehr. – 1994 lag der Wert bei minus 11 Mil-
liarden DM – ich runde –, 1995 lag er bei minus 14 Mil-
liarden DM, 1996 lag der Wert bei minus 8Milliarden DM
und 1997 lag er bei minus 5 Milliarden DM. Im Jahre
1998 wurde der Wert positiv. In dem Jahr lag er bei 5 Pro-
zent. Im Jahre 1999 – in diesem Jahr hatten wir die Re-
gierungsverantwortung – lag der Wert bei plus 4,5 Milli-
arden DM. Im vergangenen Jahr lag der Wert bei plus
2 Milliarden DM. Nach einer Hochrechnung der kommu-
nalen Spitzenverbände von Ende Januar – hierin spiegelt
sich sicherlich auch die Steuerreform wider, die auch
technische Reaktionen bei der Rechtsumstellung zur
Folge hatte, was zum Beispiel im ersten Quartal das Ge-
werbeertragsteueraufkommen betroffen hat – wird in die-
sem Jahr erstmals in unserer Regierungszeit der Wert ne-
gativ, was aber sehr in der steuertechnischen Umstellung
und in der nachlassenden konjunkturellen Dynamik be-
gründet liegt. Die Zahlen lassen also nicht den Schluss zu,
dass diese Koalition kommunalfeindlicher ist als die Vor-
gängerregierung, im Gegenteil: Die Zahlen sprechen eher
für uns.

Ich rede hier als jemand, der auch Abgeordneter in ei-
nem Kommunalparlament ist. Im Kreistag in Biberach im




Gerhard Schüßler

17299


(C)



(D)



(A)



(B)


Oberschwäbischen, wo es eine gute Beschäftigungslage
gibt, sind im vergangenen Jahr die Sozialhilfekosten und
die Kosten für Hilfe zum Lebensunterhalt deutlich gesun-
ken. Das ist eine Tatsache, die in vielen Teilen dieser Re-
publik aufgrund des Anziehens der Beschäftigung zu kon-
statieren war. Das begrüße ich und hoffentlich auch der
F.D.P.-Kollege und die Unionsfraktion, weil das natürlich
der kommunalen Seite gut tut.

Zu Recht hat der Kollege Scheelen darauf hingewie-
sen, dass bestimmte Sozialleistungen, die wir auf Bun-
desebene verbessern, automatisch zur Verbesserung der
Einnahmesituation der Kommunen führen. Auch der
Familienleistungsausgleich des nächsten Jahres wird für
die kommunale Seite, wenn das Kindergeld um 30 DM er-
höht wird, eine Entlastungskomponente beinhalten. Das
darf man nicht unterschlagen. So viel zu diesem Ver-
gleich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte jetzt den Blick über den Tellerrand wagen.
Ich persönlich hatte mich dafür eingesetzt, dass die Pas-
sage, auf die Sie Ihren Antrag stützen, in die Koalitions-
vereinbarung hinein geschrieben wurde. Das bezog sich
auf eine etwas größere Finanzreform und nicht auf eine
kleine wie jetzt beim Maßstäbegesetz und Finanzaus-
gleich. Weiter nenne ich die Finanzverfassungsreform
und das Konnexitätsprinzip. Die Bundesländer, und zwar
in ihrer Gesamtheit – egal, von wem sie regiert werden –,
blockieren eine größere Reform. Das kann man heute
konstatieren. Wenn wir eine große Finanzverfassungsre-
form wollen, dann sollten wir den Weg einschlagen, den
der Deutsche Landkreistag in der letzten Woche empfoh-
len hat, nämlich die Einberufung einer entsprechenden
Finanzverfassungskommission in der nächsten Legisla-
turperiode mit dem Ziel, im Grundgesetz die nötigen
Rechtsänderungen für die Trennung der Zuständigkeiten
herbeizuführen. Gleichzeitig müssen wir natürlich in der
Steuergesetzgebung die künftige Entwicklung abbilden.
Hierzu gehört zum Beispiel – hierfür hat meine Fraktion
durchaus Verständnis –, den Gemeinden Hebesatzrechte
auf direkte Steuern einzuräumen, beispielsweise auf die
Einkommensteuer. Denn die Trennung der Verantwort-
lichkeiten hat den Vorteil, dass Ausgaben- und Einnah-
meverantwortung auf einer bestimmten Ebene angesie-
delt sind und damit künftig die kommunale Seite den
schwarzen Peter nicht immer nach oben schieben kann,


(Zuruf von der CDU/CSU: Du schwätzt doch bloß!)


sondern vor Ort zu vertreten hat, was eingenommen und
ausgegeben wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Lege einen Gesetzentwurf vor!)


Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der deut-
lich macht, warum die Gemeinden jetzt in Hab-Acht-
Stellung sind. Sie wissen, dass, wenn man – um die Ver-
antwortung zu bündeln – die beiden sozialen Sicherungs-
systeme, nämlich die Sozialhilfe, die von den Kommunen
bezahlt wird und für die sie rund 50 Milliarden DM pro
Jahr ausgeben, und die Arbeitslosenhilfe, die aus dem

Bundeshaushalt bezahlt wird, und zwar mit rund 25 Mil-
liarden DM pro Jahr, miteinander verschränkt, sich natür-
lich sofort die Frage stellt, ob damit der Bund seine Las-
ten in Höhe von 25Milliarden DM kommunalisieren will.
Dazu sage ich deutlich und spreche es auch als Bun-
despolitiker an: Das wollen wir nicht.

In dem Kontext einer solchen Maßnahme wird der
Handlungsdruck für eine Finanzverfassungsreform we-
sentlich größer; denn wenn Sie dieses Problem für die Ge-
meinden tatsächlich dauerhaft befriedigend lösen wollen,
dann müssen Sie im System Änderungen grundsätzlicher
Art vornehmen. Sie müssten etwa das Konnexitätsprin-
zip auch im Grundgesetz verankern, sodass es verbriefte
Ansprüche der Gemeinden, also eine Absicherung, gibt,
wie es in manchen Ländern durch landesverfassungsge-
richtliche Urteile geregelt wurde. Dort haben die Verfas-
sungsgerichtshöfe entschieden: Wenn die Länder Aufga-
ben auf die Kommunen übertragen, dann müssen die
verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen wer-
den, dass dafür auch entsprechende Einnahmen vom Land
kommen. Eine solche Koppelung im Grundgesetz ist aus
meiner Sicht denkbar.

Ich gehe jetzt über den Diskussionsrahmen hinaus.

(Zuruf des Abg. Peter Götz [CDU/CSU])


– Herr Götz, seien wir reell: Sie waren Bürgermeister
in Gaggenau. Alle Redner, die vor mir geredet haben, ha-
ben eine kommunalpolitische Funktion: Bernd Scheelen
in Krefeld, Schüßler in Hagen. Sie sehen, dass ich den
„Kürschner“ aufmerksam studiert habe, während Sie ge-
redet haben.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Besser hätten Sie zugehört!)


– Ich habe auch zugehört. Was ich damit sagen will – Kol-
lege Fromme, Sie können darauf dann eingehen; Sie re-
den ja noch –, ist etwas anderes: Alle kommunalen Prak-
tiker wissen ganz genau, wie mühsam das Geschäft ist,
beiden übergeordneten staatlichen Ebenen, nämlich Län-
dern und Bund, etwas abzutrotzen. Warum das so ist, ist
doch klar: Die Kommunen sind verfassungsrechtlich für
den Bund Bestandteil der Länder und die Kommunen
haben keine Mitwirkungsrechte verbriefter, verfassungs-
rechtlicher Art im Gesetzgebungsverfahren. Insofern sit-
zen sie, wie viele Präsidenten der Städtetage in der
Vergangenheit gesagt haben, immer am Katzentisch,
wenn im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bun-
desrat Kompromisse zulasten der kommunalen Ebene ge-
schmiedet werden.

Weil an den Kompromissen immer der „gesamte La-
den“ hier beteiligt ist, weil alle Parteien des Bundestages
irgendwo auf Länderseite mitregieren, verbietet sich eine
zu stark polarisierende Diskussion; denn alle, die hier im
Parlament vertreten sind, sitzen im Glashaus.


(Zuruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD])

– Nein, ich rate ja zur Mäßigung, Kollegin Kressl. Mäßi-
gung bedeutet: Nehmen wir uns Zeit für eine vernünftige
Reform! Nehmen wir den Kommunen in Deutschland die
Angst, dass durch die Änderung bei der Arbeitslosen- und
Sozialhilfe ein Generalangriff auf die kommunale Seite




Oswald Metzger
17300


(C)



(D)



(A)



(B)


geplant ist. Deuten wir vor allem an, dass mit der nächs-
ten Finanzverfassungsreform tatsächlich eine umfassende
Reform kommt und nicht das, was an diesem Wochen-
ende zwischen Ländern und Bund „ausgedealt“ wird:
Maßstäbegesetz und neuer Finanzausgleich. Für das, was
bei diesem Ereignis herauskommt, schäme ich mich fast.
Das ist marginal.


(Zuruf von der CDU/CSU: Peinlich!)

– Die Peinlichkeit allerdings kann kein Abgeordneter mit
Überzeugung herausstellen, weil alle diesen Deal im Hin-
terzimmer mitmachen und der Exekutivföderalismus da
fröhliche Urständ feiert, statt dass im Parlament transpa-
rent und offen verhandelt und diskutiert wird.

Vielen Dank! – Und, Frau Präsidentin: Ich war sekun-
dengenau!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Rolf Kutzmutz [PDS]: Das nennt man Punktlandung!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417613600
Solche Punktlandun-
gen sind immer beeindruckend, zweifellos.

Nächster Redner für die PDS-Fraktion ist der Kollege
Dr. Uwe-Jens Rössel.


Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS):
Rede ID: ID1417613700
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da beißt die Maus keinen Fa-
den ab: Die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Koali-
tionsvereinbarung, wonach die Finanzkraft der Gemein-
den zu stärken ist, nicht eingehalten. Sie hat sie nicht nur
nicht eingehalten, sondern sie hat im Gegenteil sogar die
Situation der Kommunen durch ihre Haushalts- und Fi-
nanzpolitik weiter verschärft.

Der erste Beleg dafür ist die Steuerreform. Es ist eben
nicht so, Kollege Scheelen, wie Sie dargestellt haben – ich
war auch auf dem Deutschen Städtetag in Leipzig –, dass
die Kommunen die großen Profiteure der Steuerreform
sind. In diesem Jahr fehlen den Städten, Gemeinden und
Landkreisen wegen der Steuerreform immerhin 8,5 Milli-
arden DM – Zahlen des Deutschen Städtetages – an eige-
nen Einnahmen.

Zweitens. Bundesfinanzminister Hans Eichel – übri-
gens viele Jahre lang Oberbürgermeister der Großstadt
Kassel – hat mit dafür gesorgt, dass der Bundeshaushalt
zulasten der Kommunen saniert worden ist. Das ist eine
unverantwortliche Praxis.


(Beifall bei der PDS)

Deswegen gibt es heute vielerorts leere Haushaltskassen
und Rathäuser verfügen nicht über die notwendigen Geld-
mittel. Und leere Rathauskassen sind ja wohl die Toten-
gräber für die Unternehmen, sie sind Totengräber für die
sozialen Vereine, Totengräber für Kultur, Totengräber für
Sport und natürlich auch ein unheimlicher Störfaktor für
kommunale Demokratie.


(Jörg-Otto Spiller [SPD]: Totengräber vergreifen sich nie an Lebendigen!)


Die Kommunen haben über Jahre hinweg geringere ei-
gene Einnahmen, müssen dennoch ihre Aufgaben erfül-
len. Ein Beispiel: Die kommunalen Investitionen sind
seit 1994 – inflationsbereinigt – um 40 Prozent zurückge-
gangen. Dafür tragen der Bund, aber auch die Länder die
Verantwortung. Die Folge ist, dass es beim Baugewerbe,
für das die kommunalen Investitionen ein wichtiger Aus-
löser sind, zu immer mehr Problemen kommt. Wir haben
in Deutschland 637 000 arbeitslose Bauleute. Ein gerüt-
telt Maß davon ist auf die unzureichende Finanzausstat-
tung der Kommunen zurückzuführen.

Ein weiterer Faktor: Kommunale Investitionen in
Höhe von 1 DM, liebe Kolleginnen und Kollegen, lösen
in der Regel private Investitionen in Höhe von 7 DM aus.
Sie sehen hieran die unheimliche Flächenwirkung.

Oder nehmen wir die sozialen Vereine: Fehlende Zu-
schüsse behindern das soziale Klima. Kommunale Demo-
kratie wird beeinträchtigt. Ein Bürgermeister, der faktisch
nichts mehr zu entscheiden hat, ein Gemeinderat, der
nicht über die benötigten Geldmittel verfügt, ist diskredi-
tiert. Die Bürger erkennen das. Die derzeitige Wahlbetei-
ligung bei einigen Stichwahlen in Ostdeutschland von um
die 20 Prozent spricht eine beredte Sprache. Das ist eine
Furcht erregende Entwicklung. Und immer weniger
Kommunalpolitiker sind bereit, für kommunale Mandate
zu kandidieren.

Die PDS – ich sage das noch einmal – ist die einzige
Partei, die in dieser Legislaturperiode über ein umfassen-
des Konzept für eine Reform der Kommunalfinanzie-
rung, die vielerorts eingefordert wird, verfügt.


(Beifall bei der PDS)

Unsere Eckpunkte lauten: Wir sind erstens dafür, dass

die Kommunen über stabile eigene Steuereinnahmen
verfügen und dass sie über diese Einnahmen eine lang-
fristige Planungssicherheit haben.

Zweitens Gewerbesteuerumlage: 30 Prozent der Ge-
werbesteuer müssen an Bund und Länder abgeführt wer-
den. Der Anteil soll noch weiter steigen. Das ist unver-
antwortlich.

Drittens. Wir brauchen in strukturschwachen Regionen
für die Kommunen eine Investitionspauschale des Bun-
des, und zwar für ostdeutsche Städte, Gemeinden und
Landkreise und auch für strukturschwache Regionen in
Westdeutschland.


(Beifall bei der PDS)

Diese Investitionspauschale soll direkt vom Bund an die
Kommunen fließen. Dort soll mit der Sachkompetenz der
Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinderäte über de-
ren Verwendung für Sozialpolitik, für kommunale Inves-
titionen, für ökologische Fragen sowie das Bildungswe-
sen entschieden werden. So etwas gab es schon einmal,
aber es ist notwendig, es sozusagen wieder neu aufzule-
gen, weil die Situation dramatisch wird.

Viertens. In der Tat, Kollege Metzger, brauchen wir
eine Reorganisation der Finanzverfassung in der Bun-
desrepublik überhaupt. Grundlegende Schritte sind




Oswald Metzger

17301


(C)



(D)



(A)



(B)


notwendig. Jetzt ist es immer noch so, dass die Kommu-
nen – die übrigens bei Treffen, bei denen es um bundes-
und landespolitischen Entscheidungen geht, meistens am
Katzentisch sitzen: eine unverantwortliche Praxis


(Bernd Scheelen [SPD]: Aber leider Verfassungsrecht!)


in der Finanzverfassung völlig unterbewertet sind. Und es
wird nach folgendem Strickmuster gehandelt: Erst wird
der Bund bedient, dann die Länder, dann die Kommunen.
Die Kommunen als Letzte beißen immer die Hunde. Das
muss aber umgekehrt sein. Deswegen brauchen wir sofort
die Debatte über die dringend notwendige Kommunalfi-
nanzreform in der Bundesrepublik und nicht deren Verta-
gung in die nächste Wahlperiode.


(Beifall bei der PDS)

Ein letztes Wort an die Kollegen der CDU/CSU: Viele

Beiträge zur Lageeinschätzung kann man unterstützen.
Das ist auch unsere Auffassung. Aber Sie müssen sich
natürlich fragen lassen, warum Sie in den 16 Jahren Re-
gierungszeit unter Helmut Kohl dafür gesorgt haben, dass
wichtige finanzielle Grundlagen kommunaler Selbstver-
waltung, Steuergrundlagen, ausgehöhlt worden sind. Des-
wegen würde ich an Ihrer Stelle auf diesem Gebiet ein
bisschen mehr Selbstkritik üben. Sie haben ja jetzt dazu
die Gelegenheit. Der nächste Redner ist von der
CDU/CSU.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Wir brauchen in Deutschland eine Kommunalfinanz-
reform für die Bürgerinnen und Bürger in den Städten,
Gemeinden und Landkreisen, für unser Gemeinwohl. Ge-
meinsam sollten wir jetzt dafür streiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417613800
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Frank Schmidt von
der SPD-Fraktion das Wort.


Dr. Frank Schmidt (Weilburg) (SPD):
Rede ID: ID1417613900
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nur eines
richtig stellen: Natürlich bin ich nicht Mitglied der
CDU/CSU-Fraktion, sondern der SPD-Fraktion, Herr
Rössel.


(Beifall bei der SPD)

Nach den deutlichen Ausführungen meines Kollegen

Bernd Scheelen möchte ich das eine oder andere gerne
noch ergänzen. Insbesondere nach dem letzten Redebei-
trag hier muss man wohl klarstellen, wer die letzten
16 Jahre vor 1998 regiert hat. Ich denke, es muss auch
deutlich gemacht werden, wie kommunalfeindlich die
CDU in diesen Jahren gewesen ist.


(Beifall bei der SPD)

Wir können feststellen, dass Ihr Antrag, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, eine gewisse

Bewusstseinsspaltung deutlich macht, da nämlich Sie es
waren, die in den Jahren 1982 bis 1998 bewusst und mit
gezielten Anträgen, die ich auch gerne noch darlegen
möchte, die Gemeindefinanzen auf den Hund gebracht
haben. Sie haben in den Jahren 1990 bis 1997 durch Ihre
bundespolitischen Entscheidungen dazu beigetragen,
dass der Bund in diesem Zeitraum um 69,3 Milliar-
den DM entlastet worden ist, während die Länder um
13,5 Milliarden DM und die Kommunen um 5,2 Milliar-
den DM belastet worden sind. Das ist Fakt und das fiel in
Ihre Regierungszeit.


(Beifall bei der SPD – Bernd Scheelen [SPD]: Unerhört!)


Bei uns Kommunalpolitikern machte damals sehr oft
der Ausdruck „Ausverkauf derKommunen“ die Runde.
Die logische Konsequenz aus einer solchen Situation,
nämlich dass man mangelnde Einnahmen hat, ist, dass
man auch weniger Geld ausgeben kann. Logischerweise
gingen die Investitionen zurück. Ich hätte es für gut be-
funden, wenn der Debattenredner der CDU heute hier ein-
mal dargestellt hätte, wann die Investitionen der Kom-
munen zurückgegangen sind: Sie sind in den Jahren 1992
bis 1998 massiv von 65,5 Milliarden DM auf 47,7 Milli-
arden DM zurückgegangen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Unglaublich!)

Das war das Ergebnis Ihrer Politik. Dann stagnierten sie
und steigen jetzt wieder leicht an.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Es ist eine Unverschämtheit, dass die überhaupt so einen Antrag stellen!)


Der Grund ist darin zu suchen, dass Sie vor allen Din-
gen in den Jahren 1992 bis 1997 massiv dazu beigetragen
haben, die Sozialhilfekosten, die sozialen Lasten der
Kommunen extrem in die Höhe zu treiben. Dabei gibt es
Entscheidungen, die man nachvollziehen kann. Sie haben
aber einfach tatenlos hingenommen,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Haben Sie schon mal was von der Pflegeversicherung gehört?)


dass ungefähr 4,2Millionen Menschen in diesem Land ar-
beitslos waren. Sie rutschen irgendwann in die Sozialhilfe
ab, wenn man nichts dagegen tut, und Sie haben 16 Jahre
lang nichts dagegen getan.


(Beifall bei der SPD)

Sie haben auch Entscheidungen getroffen – zum Bei-

spiel 1996 – durch die die Arbeitslosenhilfe um 3 Pro-
zent gekürzt worden ist. Sie haben 1997 beschlossen, die
Bezugszeit von Arbeitslosenhilfe zu kürzen. Die Folge
war: Hunderttausende von Arbeitslosenhilfeempfängern
sind in die Sozialhilfe gerutscht – Lasten für die Kom-
munen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Alles vergessen!)

Durch einige Entscheidungen, die Sie getroffen haben,
haben Sie massiv zulasten der Kommunen gehandelt.


(Beifall bei der SPD)





Dr. Uwe-Jens Rössel
17302


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(D)



(A)



(B)


Das Ergebnis waren 2,9 Millionen Sozialhilfeempfänger
in diesem Land mit einem Belastungsvolumen von fast
50 Milliarden DM.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417614000
Herr Kol-
lege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Götz?


Dr. Frank Schmidt (Weilburg) (SPD):
Rede ID: ID1417614100
Bitte sehr.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417614200
Herr Kollege, haben Sie ei-
gentlich zur Kenntnis genommen, dass in der Zwi-
schenzeit eine Pflegeversicherung eingeführt worden ist,
durch die viele Menschen aus der Sozialhilfe herausge-
kommen sind, wodurch kommunale Haushalte im Sozial-
hilfebereich um 10 Milliarden DM jährlich entlastet wor-
den sind?


Dr. Frank Schmidt (Weilburg) (SPD):
Rede ID: ID1417614300
Werter Herr
Kollege Götz, es ist richtig


(Peter Götz [CDU/CSU]: Danke!)

– ich bin noch nicht fertig –, dass die kommunalen Haus-
halte hinsichtlich der Sozialhilfe durch die Einführung der
Pflegeversicherung in einem Jahr – das war ungefähr um
1996 – massiv entlastet worden sind. Danach sind die So-
zialhilfekosten wieder massiv angestiegen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch gar nicht wahr!)


Schauen Sie sich die Kurve an: Sie geht erst hoch, dann in
einem Jahr, 1996, runter und dann entsprechend wieder
hoch, weil Sie nämlich nichts gegen die Arbeitslosigkeit
getan haben.


(Beifall bei der SPD)

Schauen Sie sich doch einmal, lieber Herr Kollege, die
prozentuale Verteilung zwischen Hilfe in Einrichtungen
bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt an. Vor allen Dingen zur
Entlastung bei der Hilfe zum Lebensunterhalt haben Sie
keinen Beitrag geleistet. Bei der Hilfe in Einrichtungen
war das der Fall, aber in dem anderen Bereich nicht.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417614400
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Götz?


Dr. Frank Schmidt (Weilburg) (SPD):
Rede ID: ID1417614500
Bitte sehr.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417614600
Bitte
schön, Herr Götz.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1417614700
Herr Kollege, haben Sie
auch zur Kenntnis genommen, dass die Pflegeversiche-
rung nicht nur für ein Jahr eingeführt worden ist, sondern
die Sozialhilfekassen jährlich entlastet?


(Bernd Scheelen [SPD]: Umso schlimmer!)



Dr. Frank Schmidt (Weilburg) (SPD):
Rede ID: ID1417614800
Ich nehme gern
auf, was der Kollege Scheelen gerade gesagt hat. Umso
schlimmer ist es, dass die Sozialhilfekosten der Kommu-
nen trotz der Pflegeversicherung wieder massiv ange-
stiegen sind. Selbst das, was Sie gemacht haben, hat nicht
einmal im Entferntesten ausgereicht, um die Sozialhilfe-
kosten der Kommunen einigermaßen einzuschränken.
Weitere Belastungen kamen auf die Kommunen zu.


(Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/ CSU]: Das waren doch die Asylbewerber!)


Ich denke, ich sollte in meiner Rede fortfahren. Weil
Sie dieses Thema gerade angesprochen haben, möchte ich
ein aktuelles Beispiel aus meinem Landkreis nennen. Ich
komme aus dem Landkreis Limburg-Weilburg. Im
Jahre 1990 sind 7 Millionen DM für Sozialhilfe, und zwar
für die Hilfe zum Lebensunterhalt, ausgegeben worden.
1998, im – Gott sei Dank – letzten Jahr Ihrer Regie-
rungszeit, waren es bereits 40 Millionen DM. Dies war
also eine Steigerung um fast 600 Prozent bei den Kosten
für die Hilfe zum Lebensunterhalt.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: In einem Jahr?)

– Nein, von 1990 bis 1998. In diesem Zeitraum gab es eine
Steigerung von fast 600 Prozent im Bereich der Sozial-
hilfe. Das ist der sozialpolitische Bankrott, den allein Sie
zu verantworten haben.


(Beifall bei der SPD – Peter Götz [CDU/ CSU]: Die Asylbewerber waren das!)


Sie haben bewusst viele Menschen in die Armut ge-
trieben. Schauen Sie einmal in den Armuts- und Reich-
tumsbericht der Bundesregierung hinein. Dieser Armuts-
und Reichtumsbericht spiegelt deutlich wider, dass Sie in
Ihrer Regierungszeit Hunderttausende von Menschen in
Deutschland in die Armut getrieben haben.


(Beifall bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Nun ist es aber gut! Es reicht!)


Gleichzeitig haben Sie unsere Kommunen an den Rand
des Ruins gebracht. Wenn ich bei fehlenden Einnahmen
für riesige Ausgaben sorge, dann brauche ich mich nicht
zu wundern, dass Schulden und Defizite entstehen, die bis
heute beklagt werden. Aber diese Defizite sind vor allen
Dingen in Ihrer Regierungszeit entstanden.


(Beifall bei der SPD)

Es muss konstatiert werden, dass unsere Regierungs-

zeit seit dem Oktober 1998 vor allen Dingen davon ge-
prägt ist, dass wir Entscheidungen getroffen haben, die
nicht kommunalfeindlich, sondern besonders kommunal-
freundlich sind. Ich greife einmal den Themenbereich der
Sozialhilfe auf, einer der Hauptkostentreiber der Kom-
munen. Die Entscheidungen, die die Bundesregierung
und das Parlament hierzu getroffen haben, haben in der
Zwischenzeit vor allen Dingen im Bereich der Sozialhilfe
sehr stark gegriffen.

Ich nehme noch einmal das Beispiel von vorhin auf.
Mein Landkreis hatte Sozialhilfeausgaben in Höhe von
40 Millionen DM. Jetzt sind wir wieder bei
32 Millionen DM, und zwar innerhalb von zwei Jahren.
Es sind nämlich Entscheidungen getroffen worden, die




Dr. Frank Schmidt (Weilburg)


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(C)



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(A)



(B)


direkt vor Ort umgesetzt werden können: Die aktive Ar-
beitsmarktpolitik ist verstetigt worden und hilft dabei,
dass nicht noch mehr Leute in die Sozialhilfe rutschen.

Wir haben dafür gesorgt, dass ein Modellprojekt auf
den Weg gebracht worden ist, bei dem die Zusammen-
arbeit von Arbeits- und Sozialämtern intensiviert wird
und an dem 30 Kommunen teilnehmen. Hier muss ange-
setzt werden. Es geht nicht nur um die kostenmäßige Ver-
teilung zwischen den Arbeits- und Sozialämtern. Es geht
vielmehr darum, dass die Sozialämter in die Lage versetzt
werden, die Maßnahmen zu koordinieren. Damit ist ange-
fangen worden. Es wird umgesetzt und sich entsprechend
segensreich in den Kommunen auswirken.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben durch die Auflage des Sofortprogramms

zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit 200 000 Ju-
gendlichen, die arbeitslos waren oder keine Ausbildung
hatten, eine Chance für die Zukunft eröffnet. Diese Men-
schen wären ansonsten in die Sozialhilfe abgerutscht und
sind nun aus diesem Gefahrenbereich herausgeholt.

Im Zusammenhang mit dem direkten Einfluss auf die
Kommunen sind zwei Entscheidungen sehr wichtig. Da
Sie eben die Pflegeversicherung angesprochen haben,
möchte ich kurz darauf eingehen. Die Erhöhung der
Pflegesätze, die wir beschlossen haben, ist ein ganz wich-
tiger Beitrag zur Reduzierung der Sozialhilfekosten der
Kommunen; denn dadurch wird Hilfe in die Ausgaben der
Kommunen für die Einrichtungen proportional reduziert.
Diese Auswirkungen kann man nachweisen. Dies kann
man in den kommunalen Haushalten wiederfinden. Das
ist ein Erfolg dieser Regierung.


(Beifall bei der SPD)

Gleichzeitig werden durch die Anhebung des Wohn-

geldes, die jetzt greift, 170 000Menschen in diesem Land
aus der Sozialhilfe geholt. Wer mehr Wohngeld bekommt,
braucht keine Sozialhilfe mehr von der Kommune in An-
spruch zu nehmen. Das hat etwas mit der Menschenwürde
der Betroffenen zu tun. Vor allen Dingen hat es etwas da-
mit zu tun, dass so die kommunalen Finanzen wieder in
Ordnung gebracht werden.


(Beifall bei der SPD)

Allein im Bereich der Sozialhilfe kann ich konstatie-

ren: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
haben den Karren in den Dreck gefahren. Wir reißen das
Ruder für die Kommunen und für die Menschen in den
Kommunen entschieden herum.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte noch ein paar Dinge anmerken, die eben-
falls mit hineinspielen. Ich nenne nur das Programm, das
Brennpunkte entschärft: „Die soziale Stadt“. Auch denke
ich an die Forderungen der Kommunen, die Infrastruktur
sicherzustellen, was wir mit der Post-Universaldienstleis-
tungsverordnung getan haben. Wir haben sichergestellt,
dass in jedem Ort eine Post vorhanden ist, welches eine
Forderung der Kommunen war. Dies ist eine kommunal-
freundliche Politik. Wir haben dafür gesorgt, dass im Rah-

men eines Gebäudesanierungsprogramms jedes Jahr
200 000 Wohnungen saniert werden. Das ist für die In-
nenstädte wichtig. Es hat etwas mit der Ausstattung der
Kommunen und den Menschen, die dort leben, zu tun.
Das ist kommunalfreundliche Politik.


(Beifall des Abgeordneten Bernd Scheelen [SPD])


Wir haben dafür gesorgt – das ist ein Thema, das uns
immer wieder beschäftigt –, dass ein Sonderprogramm
zur sprachlichen Integration von Spätaussiedlern aufge-
legt und mit einem besonderen D-Mark-Betrag bedacht
wird. Das ist auch eine Forderung der Kommunen. Die
Kommunen treten immer wieder an uns heran und for-
dern: Tut etwas für die Integration der Menschen. Wir
nehmen Geld in die Hand, um diese Leute zu integrieren.

Wir haben – das ist schon erwähnt worden, das möchte
ich aber nach den Reden, die hier gehalten worden sind,
noch einmal ansprechen – eine kommunalfreundliche
Steuerreform beschlossen. Die Steuerreform belastet die
Kommunen im Verhältnis zu ihrem Steueraufkommen un-
terproportional. Einfach ausgedrückt heißt das: Die Kom-
munen bekommen 12,2 Prozent des gesamten Steuerauf-
kommens. Von allen Steuerausfällen tragen sie aber nur
8,9 Prozent. Den Rest schultern Bund und Länder. Wir ha-
ben deutlich gemacht, dass die Kommunen hierbei ent-
lastet werden, und ich sage in Richtung der F.D.P.: Wir
haben auch deutlich gemacht, dass für uns die Gewerbe-
steuer ein Teil des kommunalen Finanzsystems bleibt.
Wir sind in der Lage, deutliche Zeichen in die Richtung
zu setzen, was die Kommunen für ihren Finanzbedarf
benötigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
lassen Sie mich vielleicht einmal anmerken: Angesichts
dessen, was diese Bundesländer wie Bayern oder Hessen
mit ihren Kommunen getan haben, sollten Sie sich lieber
an Ihre eigene Nase fassen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das hat der niedersächsische Staatsgerichtshof zweimal gerügt!)


– In Bayern ist die Höhe des Finanzausgleichs für die
Kommunen in den letzten Jahren nie in gleichem Umfang
gestiegen wie die Steuermehreinnahmen des Landes. Da-
bei gibt es jedes Jahr eine Lücke. Das Ergebnis sehen wir:
Die Schulden des Landes Bayern sind seit 1998 um
28 Prozent gestiegen. Bei den Kommunen, die nicht an
den Steuermehreinnahmen teilhatten, sind die Schulden
im gleichen Zeitraum um 72 Prozent gestiegen. Das ist
Ihre Politik in Bayern. So saniert sich das Land Bayern
auf Kosten der Kommunen!


(Beifall bei der SPD)

Gleiches sehen wir in Hessen. Dort können wir fest-

stellen, dass die Landesregierung 800 Millionen DM aus
der Planung des Finanzausgleichs herausgenommen hat,
vor allem im Bereich der Kindergartensubventionierung.
Im Städtebau hat das Land Kürzungen beschlossen, die
dazu führen, dass die Kommunen weniger Einnahmen ha-
ben. Sie haben die Kürzungen bei den Zuschüssen be-
schlossen, wir nicht. Das ist der Unterschied in der Art,
wie Finanzpolitik für die Kommunen betrieben wird.




Dr. Frank Schmidt (Weilburg)

17304


(C)



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(A)



(B)


Ich möchte gar nicht darauf eingehen, was Sie in den
letzten Wochen und Monaten noch an tollen Dingen zum
Besten gegeben haben. Sie haben Forderungen mit einem
Volumen von mehr als 300 Milliarden DM gestellt. Sie
fordern heute – das konnten wir vernehmen –, die Steuer-
reform vorzuziehen, was jedes Jahr einen Steuerausfall in
Höhe von 45 Milliarden DM bedeuten würde. Ich frage
mich, wie Sie das Ihren Kommunen beibringen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oswald Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich möchte gar nicht davon reden, was derartige Steuer-
ausfälle für das Land Berlin bedeuten würden. Das ma-
chen Sie so eben einmal aus der Tasche.

Es ist festzustellen, dass die CDU hier einen Schau-
fensterantrag gestellt hat. Für uns stand und steht fest,
dass unser Gedächtnis nicht wie das Ihrige nachlässt. Wir
werden in Zukunft weiterhin an Ihre Sünden aus der Ver-
gangenheit erinnern, wenn es sein muss, auch anlässlich
eines solchen Eigentores, wie Sie es heute geschossen
haben.

Danke.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417614900
Herr Kol-
lege Schmidt, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme

von der CDU/CSU-Fraktion.


Jochen-Konrad Fromme (CDU):
Rede ID: ID1417615000
Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass we-
nigstens Staatssekretär Diller nach der halben Debatte
eingetroffen ist. Ich empfinde es aber schon als einen
Skandal, dass das Kommunalministerium hier überhaupt
nicht vertreten ist.

Herr Kollege Scheelen,

(Bernd Scheelen [SPD]: Herr Fromme!)


wenn Sie nicht die leeren Seiten von der Bundestagsver-
waltung gelesen hätten, sondern die Textseiten, dann hät-
ten Sie festgestellt,


(Bernd Scheelen [SPD]: Alles Unwahrheiten!)

dass die angeblich falsche Zahl aus einer Mitteilung des
Städte- und Gemeindebundes stammt. Da Sie aber eben
leere Seiten lesen, kann ich verstehen, wie Sie zu dem
Bild von der Meinung der kommunalen Spitzenverbände
kommen. Wenn Sie deren Verlautbarungen lesen würden,
kämen Sie zu einem ganz anderen Urteil. Denn die sagen
etwas ganz anderes.

Wir haben im Hinblick auf die Steuerreform niemals
die proportionalen Verluste der Gemeinden gerügt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Die gab es doch gar nicht!)


Diejenigen, die das getan haben, waren die Oberbürger-
meister Ihrer Partei. Wir haben vielmehr die überpropor-
tionalen Verluste gerügt.

Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einem Anstieg
der Sozialhilfekosten in den 90er-Jahren gesprochen.
Sie dürfen natürlich nicht vergessen, dass in diesem An-
stieg 8 Milliarden DM für Zuwanderer enthalten sind.
Sie haben sich geweigert, die Rechtslage zu ändern.
Erst als die rheinischen Oberbürgermeister Ihrer Partei
Druck gemacht haben, haben Sie sich bewegt. Wenn
Ihre Arbeitslosenpolitik wirklich so gut wäre, dann
müssten die Ausgaben für Sozialhilfe jetzt dramatisch
in den Keller sinken. Auch das kann ich nicht feststel-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Die sinken auch!)


Herr Kollege Metzger, ich kann Ihnen in vielen Punk-
ten folgen. Aber bei Ihnen ist es genauso wie bei Ihrer
Kollegin Scheel: Sie erzählen das eine und tun das andere.
Früher haben die Grünen die Kröten über die Straße ge-
tragen und heute schlucken sie sie.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Betreiben Sie doch einmal die Politik, die Sie verkünden.
Wenn das geschieht, dann können wir zueinander kom-
men.

Wer einen föderalen Staat haben will, der muss dafür
sorgen, dass auf jeder Ebene nach dem Prinzip gehandelt
wird, dass die Verantwortung für Einnahmen und Ausga-
ben in ein und derselben Hand liegt. Das einzig adäquate
Mittel, um dafür auf Dauer zu sorgen, ist das Konne-
xitätsprinzip. Sie haben es in Ihre Koalitionsvereinba-
rung richtigerweise hineingeschrieben, auch wenn Sie es
– wie so vieles – inzwischen vergessen zu haben scheinen.
Konnexitätsprinzip heißt: direkt und unmittelbar ausglei-
chen. Man erkennt den Unterschied zu dem, was Sie jetzt
machen.

Sie gehen einen doppelten Umweg. Der erste Umweg
ist, dass Sie über die Länderhaushalte gehen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist verfassungsrechtlich leider so geboten! Das wissen Sie doch!)


– Dazu sage ich gleich etwas. – Dabei kommen die kleb-
rigen Finger der Länderfinanzminister ins Spiel, an denen
vieles hängen bleibt. Der zweite Umweg besteht darin,
dass Sie keinen direkten Ausgleich, sondern, wie bei der
Grundrente, den Ausgleich über das Wohngeld vorneh-
men.

Ich kann Ihnen nur sagen: Durch diese beiden Umwege
vervielfacht sich das Risiko für die Kommunen. Warum?
Der erste Grund sind – ich habe es gesagt – die klebrigen
Finger der Länderfinanzminister; der zweite Grund ist,
dass nach einigen Jahren überhaupt keiner mehr die Kom-
pensation, die irgendwann einmal festgeschrieben wor-
den ist – am Tage X mag sie zahlenmäßig stimmen –,
nachvollziehen kann. Daraufhin verabschiedet sich der
Bund möglicherweise aus der Wohngeldfinanzierung;
Bund und Länder einigen sich über die Kompensation für




Dr. Frank Schmidt (Weilburg)


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(B)


die Länder, während die Kommunen auf der Strecke blei-
ben. Aus dem doppelten Umweg wird also ein vierfaches
Risiko. So darf es nicht sein.

Es ist doch klar: Politik wird von Menschen gemacht,
auf denen der Druck lastet, in den Verhandlungen zwi-
schen Bund und Ländern Ergebnisse zu erzielen. Die
Kommunen, die bei diesen Verhandlungen nicht dabei
sind, bleiben auf der Strecke. Weil das so ist, muss das
Grundgesetz entsprechend geändert werden, damit ein
rechtstechnischer Druck entsteht und nicht die menschli-
che Schwäche zum Tragen kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Kollege Scheelen, Sie haben gesagt, dass, verfas-

sungsrechtlich gesehen, eine Lösung ohne den doppelten
Umweg nicht möglich ist. Sie haben anscheinend ein an-
deres Grundgesetz gelesen. Es gibt drei direkte finanzielle
Achsen zwischen Bund und Kommunen. Wenn drei di-
rekte finanzielle Achsen zwischen dem Bund und den
Kommunen möglich sind, dann ist auch die Umsetzung
des Konnexitätsprinzips möglich. Wir haben den Ge-
meindeanteil an der Einkommensteuer im Grundgesetz
sogar mit einem Heberecht versehen. Wir haben die Be-
teiligung an der Umsatzsteuer auf den Weg gebracht. Wir
haben die Gewerbesteuerumlage, die leider immer gegen-
teilig wirkt – gleichwohl besteht hier eine direkte Bezie-
hung –, eingeführt. Außerdem sind in der letzten Wahlpe-
riode die Art. 28 und 106 Grundgesetz geändert worden,
sodass man nicht mehr von einem zweistufigen System
sprechen kann. Inzwischen ist ein anderes System ent-
standen, durch das die Rechte der Kommunen besser ge-
wahrt werden können.

Herr Kollege Metzger, wenn man Ihre Zahlen hört – Fi-
nanzierungssaldo positiv usw. – dann könnte man denken,
dass hinsichtlich der Kommunalfinanzen alles in Butter
ist. Entsprechend sehen die Veröffentlichungen der Län-
der und der Europäischen Union aus. Aber die Wahrheit
ist doch völlig anders. Warum ist denn der Finanzierungs-
saldo positiv geworden? Der Finanzierungssaldo ist posi-
tiv geworden, weil man Tafelsilber veräußert hat. Man hat
Staatsvermögen eingesetzt, um laufende Ausgaben zu fi-
nanzieren.

Warum haben die Kommunen, insbesondere die
großen Städte im Rheinland und in Niedersachsen, so
hohe Kassenkredite? Die Höhe der Kassenkredite ist der
Maßstab dafür, ob Finanzen geordnet sind oder nicht;
denn sie sind nicht beeinflussbar. Da liegt doch der Hase
im Pfeffer. Für diejenigen, die es nicht wissen: Kassen-
kredit heißt Überziehungskredit. Wer etwas auf Dauer
über einen Kassenkredit finanziert, der finanziert das But-
terbrot auf Pump.
Wer das tut, wird finanziell ganz schnell am Ende sein,
weil er nämlich von der Substanz lebt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen noch einmal:
Viele Städte müssen Sozialhilfe oder Personalausga-
ben auf Pump finanzieren, weil die Defizite in ihren
Verwaltungshaushalten nicht mehr beherrschbar
sind. Sie summierten sich schon 1999 auf 7,2 Milli-

arden Mark und werden durch die künftigen Steuer-
ausfälle erheblich zunehmen.

Diese Aussage stammt vom Oberbürgermeister – ich
muss eigentlich sagen: Noch-Oberbürgermeister – Hajo
Hoffmann.

Wenn ich mir die Verlautbarung des Deutschen Land-
kreistages anschaue, an dessen Spitze der Landtags-
abgeordnete Axel Endlein von der SPD steht, dann stelle
ich fest, dass dort genau dasselbe steht: Für 323 deutsche
Landkreise ergibt sich allein im Jahr 2000 ein Finanzie-
rungssaldo von rund 1 Milliarde DM. Ich könnte noch
zahlreiche andere Beispiele aufführen.

Die kommunalen Investitionen – ich trage Ihnen die
Zahlen vor, Herr Kollege Dr. Schmidt, auch wenn Sie sich
für sie anscheinend nicht interessieren – sind von 1998 bis
heute um 11,3 Milliarden DM – daran sind wir nicht
schuld – zurückgegangen. Das sind 0,5 Prozent des
Bruttosozialproduktes. Wir dürfen uns über die Wachs-
tumsschwäche nicht wundern, wenn eine solch wichtige
Investitionsquelle ausfällt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist nicht nur ein Thema für Bürgermeister und

Kommunalpolitiker, sondern insbesondere auch für
Handwerker sowie Handel- und Gewerbetreibende; denn
wenn diese keine Arbeit mehr haben, dann bedeutet das
geringere Steuereinnahmen und mehr Sozialhilfe. Wenn
man die Zahlen aus Niedersachsen, wo der jetzige Bun-
deskanzler damals als Ministerpräsident die Verhältnisse
lange geprägt hat, als Beispiel nimmt, dann stellt man fest,
dass am 30. März 2001 167 von 410 Kommunen Kassen-
kredite – das ist ein ausgabenschwaches Quartal – in Höhe
von insgesamt 3,48 Milliarden DM in Anspruch genom-
men hatten. Das ist die wahre und schwierige Lage der
Kommunen.

Was machen Sie? Sie haben die Grundsicherung ge-
lobt. Dabei haben Sie genau das gemacht, was ich eben
geschildert habe: Bund und Länder einigen sich zulasten
der Kommunen und legen gleich die Zuständigkeiten der
Landkreise und der kreisfreien Städte fest. Das bedeutet,
gegenüber dem Bund haben die Kommunen keinen An-
spruch. Das Land kann sagen: Wir waren es nicht. So zie-
hen Sie sich aus der Affäre. Von Kommunalfreundlichkeit
kann hier keine Rede sein.

Jetzt komme ich auf Ihren schlimmsten Sündenfall zu
sprechen – das ist ein besonders trauriges Kapitel –, näm-
lich die Familienleistungen. Sie haben mithilfe der Mi-
nisterpräsidenten Voscherau, Schröder, Eichel und
Lafontaine – viele kennen diese gar nicht mehr als Minis-
terpräsidenten – 1996 die Festschreibung eines Sonderlas-
tenausgleiches zur Finanzierung des Kindergeldes im
Grundgesetz durchgesetzt. Aber Sie halten sich nicht da-
ran. Sie verteilen die Lasten gemäß dem Verhältnis der
Steuerquoten. Der Anteil der Städte, Gemeinden und
Landkreise an der Finanzierung des Kindergeldes betrug
1999, wie ich Ihnen bereits vorgerechnet habe, 5,5 Milli-
arden DM. Im Finanztableau des neuen Gesetzes lässt
sich nichts dazu finden, dass sich der Bund mit 74 Prozent
und die Länder mit 26 Prozent an der Finanzierung des
Kindergeldes beteiligen sollen. Sie haben das bis jetzt nur




Jochen-Konrad Fromme
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politisch verlautbaren lassen. Ich bin gespannt, wie Sie
das umsetzen werden.

Der Bundesrat hat festgestellt, dass – erstens – die Kos-
ten mit 300 Millionen DM zu niedrig angesetzt seien und
dass sich – zweitens – daraus ein Anspruchsausgleich der
Länder und Kommunen von zusammen 2 Milliarden DM
ergebe.


(Nicolette Kressl [SPD]: War das 1997 nicht auch so?)


– Bleiben Sie geduldig; es kommt noch besser. – Die Län-
der sagen, den Ländern und Kommunen seien in der Zeit
von 1996 bis 2001 18,5 Milliarden DM vorenthalten wor-
den. Da die Länder das meiste auf die Kommunen abge-
wälzt haben, sind Letztere die Leidtragenden.

Ich möchte Ihnen einmal Ihre Sündenliste vorlesen:
SGB IX, BSE-Kosten, Energiekosten und steigende
Krankenkassenbeiträge, die die Kommunen für die So-
zialhilfeempfänger und Asylbewerber bezahlen müssen.
Wer soll die Zeche für die Veränderungen in der Bil-
dungspolitik bezahlen? Die Kommunen! Auf diese wer-
den Kosten in Höhe von 17Milliarden DM allein dadurch
zukommen, dass für je vier Schüler ein PC gekauft wer-
den soll. Ich nenne als weiteres Stichwort die private Al-
tersvorsorge. Des Weiteren müssen die Kommunen die
Zuwanderer integrieren. Das niedrige Wirtschaftswachs-
tum und die hohe Inflationsrate stellen für die Kommunen
große Risiken dar.

Deshalb fordere ich Sie auf: Folgen Sie Ihren eigenen
Erkenntnissen aus der Koalitionsvereinbarung! Folgen
Sie beispielsweise den Vorschlägen, die der Deutsche
Landkreistag in diesen Tagen auf den Tisch gelegt hat!
Der in Österreich existierende Konsultationsmechanis-
mus ist vorbildlich. Wenn wir dieses System übernehmen,
dann müssen wir uns hier nicht mehr streiten. Dann kann
jeder in Ruhe die Verantwortung auf seiner Ebene wahr-
nehmen. Das gilt übrigens nicht nur für die Kommunen,
sondern auch für die Länder, wie es auch Ministerpräsi-
dent Clement gesagt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615100
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6163 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-

regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes
– Drucksache 14/5399 –

(Erste Beratung 158. Sitzung)


Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)

– Drucksache 14/6366 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Arne Fuhrmann
Irmingard Schewe-Gerigk
Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Klaus Haupt
Monika Balt

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im
Alter
– Drucksachen 14/5565, 14/6366 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Arne Fuhrmann
Irmingard Schewe-Gerigk
Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Klaus Haupt
Monika Balt

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Mit der Novellierung des Heimgesetzes haben wir einen
wichtigen Schritt zur Weiterentwicklung der Altenpflege
in Deutschland getan. Ich finde, es ist sehr erfreulich, dass
die vorliegende Novelle über die Fraktionsgrenzen hin-
weg eine breite Zustimmung findet. Das ist ein gutes Bei-
spiel.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat viel Arbeit gekostet!)


– Ja, es hat viel Arbeit gekostet, aber ich denke, es hat sich
gelohnt.

Mit der Novellierung des Heimgesetzes schaffen wir
bessere Rahmenbedingungen für die rund 850 000 älteren
und behinderten Menschen in Deutschland, die auf Dauer
in einem Heim leben. Dabei geht es darum, den Schutz
und die Rechtsstellung der Hilfsbedürftigen zu verbes-
sern, die Qualität der Hilfe zu sichern und die Strukturen
der Altenhilfe weiterzuentwickeln und effektiver zu ge-
stalten.

Ich denke, wir sind uns darin einig, dass sich die An-
forderungen an die Betreuung älterer pflegebedürftiger
Menschen in den letzten Jahren wesentlich verändert




Jochen-Konrad Fromme

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haben. Das haben auch die Ergebnisse des Dritten Alten-
berichtes gezeigt, den wir bereits im Februar diskutiert ha-
ben: Das durchschnittliche Alter bei Eintritt in eine Al-
teneinrichtung liegt bei über 80 Jahren. Etwa 530 000
Bewohnerinnen und Bewohner von Alteneinrichtungen
sind pflegebedürftig. Von diesen sind zwei Drittel schwer-
oder schwerstpflegebedürftig. Etwa 60 Prozent leiden an
einer demenziellen Erkrankung oder an einer psychischen
Störung.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, alles dafür zu tun,
dass Menschen, auch wenn sie pflegebedürftig sind, in
diesem Land in Würde leben können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Leider werden wir immer wieder mit Missständen in Hei-
men konfrontiert. Dabei will ich eines ganz klar feststel-
len: Die meisten Pflegerinnen und Pfleger in den Heimen
leisten unter sehr schwierigen Bedingungen eine gute Ar-
beit. Dafür soll ihnen an dieser Stelle auch gedankt wer-
den.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir können und wollen Missstände in der Pflege nicht
hinnehmen. Deshalb schaffen wir mit der Novellierung
des Heimgesetzes bessere rechtliche Rahmenbedingun-
gen im Sinne pflegebedürftiger Menschen. Die Neufas-
sung des Heimgesetzes verbessert die Rechtsstellung der
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, entwickelt die
Mitwirkung in den Heimen weiter, stärkt die Heim-
aufsicht und institutionalisiert die Zusammenarbeit von
Heimaufsicht, Medizinischem Dienst der Krankenkassen,
Pflegekassen und Trägern der Sozialhilfe.

Ich möchte zu diesen vier Schwerpunkten ein paar
Worte sagen:

Zum Ersten geht es um die Verbesserung der Rechts-
stellung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner.
Wir sorgen mit der Umsetzung des Gesetzentwurfes für
mehr Transparenz und mehr Nachvollziehbarkeit in den
Heimverträgen. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner sowie ihre An-
gehörigen bei Entgelterhöhungen nachvollziehen können,
für welche Leistungen wie viel bezahlt werden muss.
Endlich wird in diesem wichtigen Bereich das umgesetzt,
was bei jeder Handwerksrechnung selbstverständlich ist.
Wir sorgen auch dafür, dass das Entgelt für alle Heimbe-
wohnerinnen und Heimbewohner künftig nach ein-
heitlichen Grundsätzen bemessen wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweiter Schwerpunkt, Weiterentwicklung der Mit-
wirkung: Durch die Öffnung der Heimbeiräte für Dritte,
beispielsweise für Angehörige und sonstige Vertrauens-
personen der Bewohnerinnen und Bewohner, sorgen wir
für die Weiterentwicklung der Mitwirkung. Das ist not-
wendig, weil in vielen Fällen ein Heimbeirat aufgrund des
hohen Alters und der Pflegebedürftigkeit der Bewohne-

rinnen und Bewohner bisher nicht gebildet werden
konnte. Diese Situation finden wir leider in vielen Heimen
vor.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615200
Frau Mi-
nisterin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne-
ten von Stetten?

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615300
Bitte
schön.


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1417615400

Frau Ministerin, Sie haben eben erwähnt, dass auch An-
gehörige in Zukunft Heimbeiräte sein können. Teilen Sie
meine Sorge, dass Angehörige, die vielleicht jemanden
mit schlechtem Gewissen in einem Alters- oder Pflege-
heim untergebracht haben, das Pflegepersonal nicht nur
mit besonderer Akribie beobachten, sondern vielleicht
auch schikanieren, um ihr schlechtes Gewissen zu beru-
higen?

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Abgeordneter,
wir haben all diese Bedenken im Rahmen der Anhörung
und der Ausschussberatung sehr ausgiebig diskutiert und
– das Gesetz ist im Ausschuss einstimmig bei Enthaltung
der PDS angenommen worden – weitestgehend aus-
geräumt. Es gibt dafür also eine breite Mehrheit in diesem
Hause. Ich teile diese Bedenken grundsätzlich nicht. Es ist
wichtig, dass es handlungsfähige Heimbeiräte gibt, damit
die Rechte der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner
gestärkt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieser Heimbeirat muss künftig auch an Vergütungs-
verhandlungen sowie an Leistungs- und Qualitätsverein-
barungen beteiligt werden. Auch das ist ein wichtiger
Punkt.

Ich komme zum dritten Punkt: Stärkung der Heim-
aufsicht. Bei der Stärkung der Heimaufsicht geht es vor
allem auch darum, neben der Aufsichtsfunktion die wich-
tige Beratungsfunktion der Heimaufsicht zu stärken. Es
geht um den Grundsatz „Beratung vor Überwachung“.
Wir alle wissen, dass es bei diesem Punkt noch einiges zu
tun gibt. Aber wenn es um Prävention geht und wenn wir
verhindern wollen, dass Missstände in den Heimen über-
haupt auftreten, dann ist es wichtig, die Beratungsfunk-
tion zu stärken.

Wir wollen und müssen im Hinblick auf die schwarzen
Schafe, die es leider auch gibt, die Kontrollen in den Hei-
men verbessern. Zukünftig wird jedes Heim mindestens ein-
mal im Jahr überprüft. Verantwortungsvoll pflegende
Heime – auch das haben wir bei der Anhörung festgestellt –
haben damit keine Probleme. Es ist nur konsequent, dass
künftig Überprüfungen jederzeit sowohl angemeldet als




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
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auch unangemeldet erfolgen können, in begründeten Fällen
auch nachts, weil bestimmte Dinge nur zu dieser Zeit zu
kontrollieren sind.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Kontrolle
und Bürokratie sagen. Es gab den Vorwurf, wir würden
mehr Bürokratie einführen. Der Entwurf enthält eine Ver-
pflichtung der Träger, Aufzeichnungen über den sachge-
rechten Umgang mit Arzneimitteln und über die Anord-
nung freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehender
Maßnahmen zu machen. Es handelt sich eben nicht um
eine unnötige bürokratische Mehrbelastung der Heim-
träger, sondern um eine Selbstverständlichkeit, die schon
nach geltendem Recht zu beachten ist. Im Falle der Arz-
neimittelverordnung geht es um die Gesundheit der
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner. Es geht auch
um Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Rechtsposi-
tion. Das muss entsprechend dokumentiert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Mit der Novellierung des Heimgesetzes wird
schließlich die Zusammenarbeit von Heimaufsicht, Medi-
zinischem Dienst der Krankenkassen, Pflegekassen und
Trägern der Sozialhilfe institutionalisiert. Durch die Bil-
dung von Arbeitsgemeinschaften sollen im Sinne der
Qualitätssicherung die Prüftätigkeit abgestimmt und
Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln und Vermei-
dung von Fehlern besprochen werden. Es geht also auch
um den Abbau von Bürokratie, indem Doppelkontrollen
verhindert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei bleibt die Letztverantwortung der Heimaufsicht
unberührt.

Parallel zum Heimgesetz wird heute das Pflege-Qua-
litätssicherungsgesetz beraten. Beide Gesetzentwürfe er-
gänzen sich in dem Ziel, die Qualität in der Pflege zu ver-
bessern.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch an-
sprechen, warum ich mir einen solch breiten Konsens, wie
es ihn für das Heimgesetz gibt, auch für das Altenpflege-
gesetz gewünscht hätte: Die Sicherung von Pflegequalität
ist nicht denkbar ohne eine zeitgemäße Ausbildung der
Pflegekräfte. Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Be-
troffenen und Fachleuten, wie dringend notwendig eine
bundeseinheitliche Pflegeausbildung im Interesse der
pflegebedürftigen älteren Menschen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese einheitliche Pflegeausbildung haben wir nach
zehnjähriger Diskussion – auch Teile der CDU/CSU und
F.D.P. haben dankenswerterweise zugestimmt – mehr-
heitlich beschlossen. Sie kennen aber die Lage: Durch den
Antrag eines einzelnen Landes – von keinem anderen
Bundesland ist diese Auffassung geteilt worden – kann
dieses Gesetz zum 1.August nicht in Kraft treten, obwohl
die meisten Länder darauf vorbereitet sind. Es ist in der
Hauptsache noch nicht entschieden. Die Entscheidung

wird noch kommen. Aber es geht wieder wertvolle Zeit
verloren.


(Zuruf von der SPD: So ist das, zulasten der Ausbildung!)


Ich komme viel im Lande herum. Selbst in Bayern
herrscht im zuständigen Ministerium die Ansicht vor, dass
die bayerische Ausbildung verbessert werden könnte, also
die zweijährige Ausbildung vielleicht nicht das Nonplus-
ultra ist. Wie ich mir habe sagen lassen, werden zurzeit in
Berlin Pflegekräfte für Bayern abgeworben. Ich glaube,
Sie haben der Sache keinen guten Dienst erwiesen; denn
die einheitliche Ausbildung der Pflegekräfte ist im Hin-
blick auf die Qualität der Pflege und die Aufwertung die-
ses Berufes, die wir dringend brauchen, enorm wichtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So viel zu dem Kapitel. Ich möchte Ihnen abschließend
dafür danken, dass Sie durch Ihre konstruktive Arbeit ei-
nen breiten politischen Konsens für die Novellierung des
Heimgesetzes ermöglicht haben. Wir haben diesbezüglich
– wie wir wissen – noch einiges zu tun. Hier sind die Län-
der, die Kostenträger und die Einrichtungsträger gefragt,
damit wir das Gesetz entsprechend umsetzen können und
gemeinsam dafür sorgen – ich sage es nochmals –, dass
pflegebedürftige Menschen in diesem Land in Würde le-
ben können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615500
Das Wort
hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der CDU/CSU-
Fraktion.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Mi-
nisterin Bergmann, die Freude am relativen Konsens – er
ist kein absoluter; das werde ich gleich deutlich machen –
teilen wir.


(Zuruf von der SPD: Das wäre auch schlimm!)

Ein gewisser Stolz auf ein Gesetz, das aus dem eigenen
Hause kommt und verabschiedet wird, ist auch in Ord-
nung. Dennoch ist das neue Heimgesetz kein großer Wurf,
Frau Bergmann.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, ein kleiner

Wurf sei besser als gar keiner. Aber es ist einige Kritik an-
zubringen. Trotz mancher positiver Aspekte – Sie haben
einige aufgezählt – bleibt das Gesetz stark im bürokrati-
schen Ansatz stecken.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Eine wirklich durchgreifende Strategie, eine durch-

greifende Konzeption zur Verbesserung der Pflege er-
wächst daraus mit Sicherheit nicht. Dazu bleiben zu viele
Felder unbestellt. Das gilt beispielsweise für das Feld ei-
ner besseren Betreuung der Demenzkranken, der Al-
tersverwirrten. Damit verbunden – aber unabhängig




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

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davon zu betrachten – ist die entscheidende Frage nach
ausreichendem und gutem Pflegepersonal. Auch diese
Frage haben Sie nicht beantwortet.

Eine effektivere Heimaufsicht ist mehr eine Heraus-
forderung für die Länder. Warum pfuschen Sie denn den
Ländern ins Handwerk? Die Heimaufsicht qualitativ und
quantitativ so auszustatten, dass sie ihre Aufgabe optimal
wahrnehmen kann, ist Sache der Länder.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der im Gesetz enthaltene Befehl, dass die Heimaufsicht
grundsätzlich mindestens einmal im Jahr jedes Heim auf-
suchen soll, ist eher lächerlich denn hilfreich. Das ist Sa-
che der Länder.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundesrat hat da aber zugestimmt, Herr Weiß!)


An den Kern des Problems gehen Sie nicht. Gute Pfle-
geleistungen, hinreichende Personalversorgung, leis-
tungsfähige Heimaufsicht – das Gesetz kann auf diesen
Feldern zum Teil nichts oder nur wenig bewirken. Im Ge-
genteil: Je mehr pflegerische Kraft Sie in Administration
binden, desto mehr wird dies zulasten der Zuwendung für
die Pflegebedürftigen gehen, wenn hinsichtlich der Leis-
tung und Versorgung ansonsten nichts geschieht. So ein-
fach ist das.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dennoch stärken Sie die Ordnungsfunktion des Staa-

tes. Die Transparenz der Heimverträge und des Leis-
tungsgeschehens wird größer. Die Heimmitwirkung – ein
Kollege hat in dem Zusammenhang mit Recht einen kri-
tischen Aspekt angesprochen – wird verstärkt. Das sind
im Prinzip alles positive Ansätze.

Wir brauchen den starken Staat, wenn es um relativ
schwache Menschen geht. Deshalb ist es schon in Ord-
nung, in dieser Richtung vorzugehen. Aber wie Sie es
handwerklich gemacht haben, lässt zu wünschen übrig. Ih-
nen müssten die Ergebnisse der Anhörungen doch auch ein
wenig zu denken geben. Ihre Kolleginnen und Kollegen
haben ja nachgedacht: Nicht weniger als 22 oder 23 An-
träge hat die Regierung selbst eingebracht, nachdem so
viele Mängel in den Anhörungen offenkundig geworden
waren,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wir lernen aus Anhörungen!)


darunter vieles, was auch aus unserer Sicht eine vernünf-
tige Reparatur darstellt.

Darüber hinaus haben wir viele – auch grundlegende –
Änderungswünsche gehabt. Wir haben uns auf drei An-
liegen konzentriert: Vertragsende, Verjährungsfrist und
Differenzierung der Entgelte. Das sind zentrale Fragen im
Hinblick auf Rechtssicherheit und fairen Interessen-
ausgleich zwischen allen Beteiligten, den Heimbewohne-
rinnen und -bewohnern und den Heimträgern; diese
Punkte waren in Ihrem Gesetz falsch geregelt. Immerhin
war die Koalition – hier danke ich Ihnen, Herr Fuhrmann
und Frau Schewe-Gerigk – in der Lage, was in diesem
Hause auch nicht an jedem Tage geschieht, in der Sache

auf die Opposition zuzugehen, wie auch wir umgekehrt
auf Sie zugegangen sind. Herausgekommen ist, dass Sie
zwei dieser zentralen Anliegen, die Rechtssicherheit und
einen fairen Interessenausgleich zwischen Heimträgern
und den Heimbewohnerinnen und -bewohnern sowie den
Erben verstorbener Heimbewohnerinnen und -bewohner
schaffen sollen, erfüllt und die entsprechenden Anträge
im Ausschuss angenommen haben. Zum Schaden der Sa-
che sind Sie leider nicht unserem Antrag gefolgt, was die
mögliche Differenzierung der Heimentgelte anbetrifft. In
einer Marktwirtschaft muss eine gewisse Preisdifferen-
zierung normal sein, wenn beispielsweise die Auslastung
sinkt oder Renovierungsmaßnahmen amortisiert werden.

Wir sind keine politischen Zechpreller. In diesem Ge-
setzentwurf hat sich vieles positiv verändert und Sie ha-
ben viele unserer Anliegen an- und aufgenommen. Des-
halb werden wir trotz der Bedenken, die ich skizziert
habe – Herr Kollege Holetschek wird das noch etwas ver-
tiefen –, diesem Heimgesetz unsere Zustimmung nicht
verweigern.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615600
Für Bünd-
nis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegen Irmingard
Schewe-Gerigk das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Das Gesetz, das wir heute beschließen, könnte ei-
gentlich auch aus dem Hause der Verbraucherschutzminis-
terin Renate Künast sein. Die Affinität besteht darin, dass
es sich um ein Verbraucherschutzgesetz handelt: ein Ge-
setz, das die Bewohnerinnen und Bewohner von Alten-
heimen nicht länger als Objekte staatlicher Fürsorge sieht,
sondern ihnen einen Anspruch auf Qualität der von ihnen
bezahlten Leistung und mehr Rechte zur Durchsetzung
ihrer eigenen Interessen gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dass es in diesem Hause für diese Änderung einen
breiten Konsens gibt, ist ein Zeichen dafür, dass es im In-
teresse der alten Menschen gelingen kann, aufeinander
zu- und einzugehen. Dafür sei allen gedankt, die an dem
intensiven Abstimmungsprozess beteiligt waren.

Dieses Gesetz wird hoffentlich dazu führen, dass es
künftig zu weniger Missständen in Heimen kommen wird.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615700
Frau Kol-
legin Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Seifert?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417615800
Frau Kollegin Schewe-Gerigk,
Sie betonten gerade den bürgerrechtlichen Aspekt und




Gerald Weiß (Groß-Gerau)

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führten aus, dass die Rechte der Heimbewohnerinnen und
-bewohner gestärkt würden; das begrüße ich natürlich
auch. Aber sehen Sie nicht genauso wie ich, dass den
Menschen im Heim, die auf Hilfe angewiesen sind, mehr
Personal viel mehr helfen würde als irgendwelche ein-
klagbaren Rechte, zumal sie ja überhaupt keine Möglich-
keit haben, zum Rechtsanwalt zu gehen?


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ausnahmsweise hat die PDS Recht! Ich bedaure, dass die PDS Recht hat, aber Recht hat sie!)


Das Problem, vor dem wir stehen, ist doch, dass es in al-
len Einrichtungen zu wenig Personal gibt. Ihr Gesetz
bringt kein zusätzliches Personal in die Einrichtungen,
sondern höchstens noch von den Leuten weg.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dacht. Sie wissen genau, dass es ein Modellprojekt na-
mens „Plaisir“ gibt, in dessen Rahmen eine angemessene
Personalbemessung geprüft wird, sodass man genau er-
fährt, wie der Personalbestand in einem bestimmten Heim
mit einer bestimmten Anzahl von zu pflegenden Men-
schen und unterschiedlichen Pflegestufen ausgelegt wer-
den muss. Danach wird entschieden, ob es nötig ist, in ge-
wissen Heimen mit mehr Personal zu arbeiten. Den
Bericht über dieses Modellprojekt werden wir Ihnen in
Kürze vorlegen. Damit tragen wir dazu bei, festzustellen,
wie die Situation in den Heimen ist. Ich gebe Ihnen natür-
lich Recht, dass die Personalsituation in vielen Heimen
schwierig ist. Genau das werden wir aufgrund der Ergeb-
nisse des Modellprojektes zu verändern suchen.

Wir alle verbinden mit diesem Gesetz die Zuversicht,
dass Pflegefehler und ein schlechtes Qualitätsmanage-
ment nun endlich der Vergangenheit angehören werden.
Menschen, die abhängig von Pflege in Pflegeeinrichtun-
gen leben, müssen sich darauf verlassen können, dass ihre
Menschenwürde gewahrt bleibt. Deshalb geht es in dem
neuen Heimgesetz auch nicht um mehr Bürokratisierung
– Herr Weiß von der CDU hat diesen Vorwurf heute wie-
der erhoben –, sondern es geht um dringend notwendige
Schutzvorschriften. Herr Weiß, Sie können doch einfach
einmal sagen, dass die Regierung hiermit ein gutes Gesetz
vorgelegt hat, dem Sie zustimmen. Machen Sie das doch
einfach! Sie suchen jetzt nach Gründen, weshalb es doch
nicht so gut ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Er muss doch bei der Wahrheit bleiben!)


Mit diesem neuen Gesetz wollen wir das Qualitätsma-
nagement der Heime durch die Verpflichtung zur detail-
lierten Buch- und Aktenführung sowie durch kürzere Prüf-
intervalle verbessern. Bei der Dokumentationspflicht
legen wir die Messlatte der Qualitätssicherung gerade so
an, dass es bei einem ohnehin schon ordentlich arbeiten-
den Heim zu keinerlei Mehraufwand kommt. Mehrauf-
wand werden nur die Heime haben, die vorher schlecht
gearbeitet haben.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Die werden Märchenbücher schreiben!)


Vergleichbare Pflichten ergeben sich ohnehin bereits aus
dem Bundessozialhilfegesetz und aus dem SGB XI. Die
Leistungs- und Aufgabenbeschreibung für die Heime wie
auch für die Verträge führt zu deutlich mehr Transparenz.
Das war eines unserer Hauptanliegen bei der Novellie-
rung.

Jetzt komme ich zu Ihrem Anliegen, Herr Seifert.
Sollte es durch die Veränderung für eine Vielzahl von Al-
tenpflegerinnen und Altenpflegern zu einem krassen
Mehraufwand kommen, muss also festgestellt werden,
dass ein großer Mehrbedarf an Personal besteht, muss in
der Heimpersonalverordnung eine angemessenere Perso-
nalbemessung verankert werden.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sehr schnell! Wenn es geht, sehr schnell!)


Mit dem neuen Gesetz soll aber auch die Kontrolle der
Heime intensiviert werden. Sie soll mindestens einmal im
Jahr erfolgen, und zwar zu beliebiger Zeit und ohne Vor-
anmeldung.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist ja richtig!)


Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens haben wir
weitere wichtige Ergänzungen vorgenommen; Sie haben
von der Vielzahl der Änderungsanträge gesprochen. Wir
haben durch Modellversuche unter anderem den Weg für
echte Mitbestimmungsrechte geöffnet. Durch Modellver-
suche in geeigneten Bereichen wie beispielsweise im so-
zialen oder kulturellen Leben sollen die Chancen für die
Mitbestimmung zunächst erprobt werden. Auf diese
Weise ist zu klären, wie Konflikte zwischen Heimträgern
und Bewohnerinnen und Bewohnern, die natürlich vor-
kommen, gelöst werden können und welche rechtlichen
Rahmenbedingungen für eine echte Mitbestimmung
künftig zu schaffen sind.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Abgrenzung zwi-
schen betreutem Wohnen und den Heimen. Die vorge-
nommene Klarstellung gibt dem Bereich des betreuten
Wohnens eine eindeutige Rechtsgrundlage und sichert da-
mit deren Fortbestand. Neue Betreuungsformen werden
somit gefördert. Deren Ausbau wird außerdem durch die
neuen Erprobungsregelungen weiter in Gang gebracht.
Dies ist meines Erachtens von großer Bedeutung, denn die
Zukunft des altengerechten Wohnens wird nicht weiter in
Altenheimen liegen, sondern in alternativen Wohnfor-
men.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)

Menschen, die dort leben, dürfen nicht schutzlos bleiben.
Darum brauchen wir so schnell wie möglich ein Ambu-
lante-Dienste-Gesetz. Ich habe mich gefreut, heute in ei-
ner Tickermeldung zu lesen, dass die Ministerin gerade an
einem solchen Gesetz arbeitet. Ich finde es wunderbar,
dass wir das jetzt noch realisieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem neuen
Heimgesetz werden die Rechtsstellung und der Schutz
der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner deutlich




Dr. Ilja Seifert

17311


(C)



(D)



(A)



(B)


verbessert. Das Gesetz beseitigt eklatante Mängel im gel-
tenden Recht und füllt bestehende Regelungslücken aus.
Auf diese Reform haben viele sehr lange gewartet. Ich bin
froh, dass wir das heute auf den Weg bringen, und bitte um
Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417615900
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Haupt von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1417616000
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die F.D.P. hat die Beratung über die
Novelle des Heimgesetzes von Anfang an konstruktiv be-
gleitet. Wir sehen die Novellierung als notwendig und
überfällig an und unterstützen deren Zielsetzung. Aller-
dings gab es gut begründete Einzelkritik am ursprüngli-
chen Entwurf.

Die F.D.P. hat die ihr wichtigsten Punkte in Ände-
rungsanträgen formuliert. Ich freue mich, hier feststellen
zu können, dass die Regierung die Kritik – sowohl die aus
der Anhörung als auch jene, die aus den Reihen der F.D.P.-
Fraktion geäußert wurde – weitgehend aufgegriffen hat.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist gut, dass auch in Zeiten zunehmender politischer
Polarisierung eine solche Sachzusammenarbeit noch
möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)


Freiheit und Verantwortung kennen weder Ruhestand
noch Altersgrenzen. Deshalb begrüßt es die F.D.P., dass
Partizipation und Stärkung der Mitwirkungsrechte der
Heimbewohner zu den wichtigsten Zielen der Heimgesetz-
novelle gehören. Die Öffnung der Heimbeiräte für externe
Personen findet unsere Zustimmung. Dies ermöglicht auch
die Erschließung einer größeren Sachkompetenz für Heim-
beiräte. Das Eintritts- bzw. Durchschnittsalter in Senioren-
heimen liegt heute schließlich so hoch wie nie zuvor. Umso
wichtiger ist es, dass die Komponente „Heimbeiräte“ ihrer
wichtigen Rolle gerecht werden kann. Ich möchte hinzufü-
gen: Im Zusammenhang mit den Heimbeiräten ist auch die
erforderliche Ausstattung mit finanziellen Mitteln anzu-
mahnen, dazu Möglichkeiten der Schulung, der externen
Unterstützung, aber auch die immer wieder notwendige
Bestärkung und Motivation zur Mitgestaltung.

Die F.D.P. hatte vorgeschlagen, durch eine Experimen-
tierklausel die Möglichkeit zu schaffen, in bestimmten
Teilbereichen Mitbestimmungsrechte in Modellversu-
chen zu erproben. Es ist erfreulich, dass sich die Bundes-
regierung diesem Vorschlag angeschlossen hat. Schade ist
dagegen, dass unsere Forderung, die Heimbewohnerfür-
sprecher – wie wir sie lieber nennen möchten – durch
Wahl demokratisch zu legitimieren, nicht den gleichen
Widerhall gefunden hat. Wir freuen uns, dass unserem
Antrag, das Vertragsverhältnis nach dem Tod des Bewoh-

ners noch einige Zeit weiterlaufen zu lassen, in der von
der CDU/CSU vorgeschlagenen Kompromissform ge-
folgt wurde. Auch unser Vorschlag, eine kommissarische
Heimleitung einzusetzen, wenn das Heim wegen Mängel
sonst geschlossen werden müsste, fand Zustimmung. Das
ist im Interesse der betroffenen Seniorinnen und Senioren
gut so.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein anderes zentrales Ziel der Gesetzesnovelle ist die
Transparenz, die bessere Durchschaubarkeit und Rechts-
wirksamkeit des vertraglichen Miteinanders von Bewoh-
nern und Trägern. Wir begrüßen die Leistungs- und Auf-
gabenbeschreibung der Heime und die differenzierte
Aufstellung einzelner Leistungsbereiche und Entgeltbe-
standteile. Dass die Unterrichtung und Beratung der
Heimbewohner nicht mehr allein dem Heimbetreiber ob-
liegt, ist auch eine Verbesserung der bisherigen Regelung.
Beide Neuregelungen können zu einer erhöhten Kunden-
orientierung beitragen und dienen dem Verbraucher-
schutz.

Nach wie vor haben wir aber leichte Bauchschmerzen
mit einigen zu unbestimmten und schwammigen Formu-
lierungen im Gesetzestext. Sie könnten in der Praxis zu er-
heblichen Interpretationsschwierigkeiten führen. Auch
bei der vorgesehenen Aufzeichnungspflicht zur Qualitäts-
sicherung fürchten wir einen erheblichen Mehrbedarf an
Arbeitszeit, der nicht auf Kosten der eigentlichen Pflege-
arbeit gehen darf. Dennoch darf ich für die F.D.P. fest-
stellen: Das neue Heimgesetz ist im Großen und Ganzen
ein gutes Gesetz für die Seniorinnen und Senioren in
Deutschland. Deshalb findet es die Unterstützung der Li-
beralen.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417616100
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Balt von der PDS-Fraktion.


Monika Balt (PDS):
Rede ID: ID1417616200
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Vor circa vier Wochen bekam ich einen Brief,
in dem eine 71-jährige Mutter die Zustände in einem Pfle-
geheim meines Wahlkreises beschreibt, in dem ihre 47-jäh-
rige querschnittsgelähmte Tochter gepflegt wird. Sie
schreibt: Pampers werden reduziert. Stattdessen müssen
Einlagen verwendet werden. Ihr wurde geraten, weniger zu
trinken


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Pfui!)

– zur Kosteneinsparung! Im Heim wird sie nur alle 14 Tage
gebadet.


(Zuruf von der SPD: Was ist das für eine Einrichtung?)


Glauben Sie allen Ernstes, dass dieser unwürdige und
skandalöse Zustand dadurch beseitigt wird, dass man sich
bei der Heimaufsicht beschwert, die ja bekanntermaßen
aus dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen und




Irmingard Schewe-Gerigk
17312


(C)



(D)



(A)



(B)


den Kostenträgern besteht? Hinzu kommt – wie diese
Frau schreibt – dass ihre Tochter im Moment große Sorge
habe, dass durch ihr Eingreifen Nachteile für sie entstehen
könnten.

Pflegekassen und Sozialhilfeträger können keinesfalls
die legitimen Vertreter der Heimbewohner sein;


(Beifall bei der PDS)

denn als Kostenträger und Verhandlungspartner sind sie
mitverantwortlich für eine personelle Ausstattung, die der
Qualität der Pflege und der Betreuung unter Kostenge-
sichtspunkten sehr enge Grenzen setzt. Dieser Interessen-
konflikt wird mit der Änderung des Heimgesetzes nicht
aufgelöst.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Genau das ist es!)

Wir fordern daher die Einrichtung einer unabhängigen

und mit Befugnissen ausgestatteten Schiedsstelle.

(Beifall bei der PDS)


Meine Damen und Herren, Sie wollen die Qualität in
den Einrichtungen der Alten- und Behindertenpflege
kontinuierlich verbessern und den Rechtsschutz der
860 000 Bewohnerinnen und Bewohner stärken. Das wol-
len wir auch. So weit, so gut. Die Rahmenbedingungen
und die Anforderungen haben sich aber seit 1974 ent-
schieden geändert. Das durchschnittliche Heimeintritts-
alter liegt bei 80 Jahren, das Durchschnittsalter bei 83 Jah-
ren. 530 000 Personen in Heimen sind pflegebedürftig.
Für Demenzkranke sieht das Gesetz sogar überhaupt
keine Regelungen vor. Wir unterstützen Ihre Schritte zur
Stärkung der Heimbeiräte und zur Verbesserung des
Rechtsschutzes der Heimbewohner. Wir unterstützen die
Forderung nach mehr Transparenz bei den Entgelten.
Aber die gravierenden Probleme werden nicht gelöst und
die Mängel nicht beseitigt.

Bewohnerschutz und Qualität entstehen nicht durch
Verschärfung der bestehenden Regelungen. Es sind so-
wohl im jetzigen Heimgesetz als auch im SGB XI umfas-
sende und ausreichende Instrumentarien vorhanden. Wenn
Verfehlungen auftreten, liegt das oft am Fehlverhalten ei-
niger Betreiber oder aber an der fehlenden Anwendung der
bestehenden Beratungs-, Prüf- und Kontrollpflichten. Hält
man sich nicht daran, greift auch eine Ausweitung der
gesetzlichen Bestimmungen nicht.

Das neue Gesetz wird darüber hinaus zu einem weite-
ren Aufblähen bürokratischen Aufwandes führen. Da-
durch, dass die Heime immer mehr Unterlagen zu führen
und vorzuhalten haben, wird der Verwaltungsaufwand er-
höht; das wird wegen der ohnehin knappen Ressourcen
einen Rückgang an Pflege zur Folge haben. Das will die
PDS nicht.


(Beifall bei der PDS)

Unser Anliegen muss es sein, unbürokratische Hilfen

für die Betroffenen durchzusetzen, und nicht, eine aufge-
blähte Kontrollbürokratie aufzubauen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417616300
Jetzt hat
das Wort der Kollege Arne Fuhrmann von der SPD-Frak-
tion.


Arne Fuhrmann (SPD):
Rede ID: ID1417616400
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich will gar keinen Hehl daraus ma-
chen, dass diese zweite und dritte Lesung des Dritten Ge-
setzes zur Änderung des Heimgesetzes für mich mit ein
bisschen Herzblut verbunden ist. Viele unter Ihnen, ge-
rade die Berichterstatter der Oppositionsparteien, wissen
das. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Weiß,
und bei Ihnen, Herr Haupt, dafür, wie wir gemeinsam mit
Frau Schewe-Gerigk an die parlamentarische Arbeit her-
angegangen sind.

In dem Zusammenhang möchte ich auch, weil ich ge-
sagt habe, das sei mir ein Anliegen, sehr deutlich machen,
inwieweit wir Abgeordnete auf Menschen um uns herum
angewiesen sind, die etwas von der Materie verstehen.
Diese verrichten ihre Arbeit im Interesse eines großen An-
teils, ja fast der gesamten Bevölkerung; denn wir werden
ja alle älter und keiner von uns kann heute mit Sicherheit
sagen, dass er nicht eines Tages auf Hilfe und Unterstüt-
zung in einer Alteneinrichtung angewiesen ist.

Wenn ich an der Stelle zwei Personen meinen beson-
deren Dank ganz öffentlich ausspreche, so soll das nicht
bedeuten, dass ich alle anderen vergessen habe. Ich bitte
die Ministerin, mir zu erlauben, an erster Stelle Herrn
Herweck zu benennen, der hinter der Regierungsbank
sitzt. Ohne ihn und seine Unterstützung in Fragen, denen
auch ich in der Anfangsphase der parlamentarischen Ver-
handlung zum Teil hilflos gegenüberstand, hätte ich man-
chen Schritt nicht gewagt und manches fachliche Wissen
kaum vermittelt bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Zweite ist leider nicht mehr für uns tätig, sondern
jetzt in Potsdam als persönlicher Referent der Staats-
sekretärin im Sozialbereich tätig. Er sitzt auf der Besu-
chertribüne. Ich freue mich sehr über seinen Besuch. Es
ist Herbert Fuchs, der bisherige Referent in unserer Ar-
beitsgruppe,


(Beifall bei der SPD)

der auch in einer Phase, in der ich vorübergehend außer
Gefecht gesetzt war – ich lag aufgrund einer unschönen
Operation im Krankenhaus –, die Stellung gehalten und
den Kontakt innerhalb des Kreises der Referenten in einer
Art und Weise aufrechterhalten hat, die weit über das
normale Maß hinausging.

Ich habe erstmals in meiner parlamentarischen Ge-
schichte – die ist mittlerweile elf Jahre alt – festgestellt,
dass wirklicher Parlamentarismus und wirkliches demo-
kratisches Miteinander zu einem Ziel führen können, das
wir alle gewollt haben und für das wir uns alle verant-
wortlich fühlen. Ich stelle mit großer Befriedigung fest,
dass es uns trotz Ihrer Kritik, Herr Weiß – ich vermute,
dass auch Herr Holetschek den einen oder anderen Kri-
tikpunkt anführen wird –,


(Klaus Holetschek [CDU/CSU]: Wie kommen Sie darauf?)





Monika Balt

17313


(C)



(D)



(A)



(B)


gelungen ist, diesen wichtigen Gesetzentwurf, der weit
über den Rahmen der beteiligten Parlamente hinaus Wir-
kung erzielen wird, nämlich in den Verbänden, in den
Ländern und bei den betroffenen Heimbewohnerinnen
und Bewohnern und deren Angehörigen, Freunden und
Verwandten, vorzulegen. Ich meine, dass wir nach der Ab-
stimmung erstmals seit längerer Zeit, in der wir uns häu-
fig um Strohhalme gestritten haben, mit Befriedigung
feststellen können: Dies ist ein gutes Gesetz. Ich danke al-
len, die daran mitgewirkt haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417616500
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Kollege Klaus Holetschek von der CDU/CSU-Frak-
tion.


Klaus Holetschek (CSU):
Rede ID: ID1417616600
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich einen Satz zu Ihnen, Frau Ministerin, sagen: Wenn
ein Bundesland verfassungsrechtliche Bedenken gegen
einen Gesetzentwurf hat, dann sollten Sie das nicht in der
Weise kommentieren, wie Sie es gemacht haben, sondern
einfach akzeptieren, dass das überprüft wird. Wir leben in
einem Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat ist das durch-
aus legitim.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Fuhrmann, ich hoffe, dass ich Ihren Erwartungen

gerecht werde, die Sie an mich gestellt haben. Wie der
Kollege Weiß schon ausgeführt hat, ist dieser Gesetzent-
wurf tatsächlich aber nicht der große Wurf. Es ist viel-
leicht ein Schritt in die richtige Richtung. Positiv ist, dass
Sie dieses Mal die Ergebnisse der Anhörung, die wir
durchgeführt haben, aufgegriffen haben. Sie haben sich
durchaus die Expertenmeinungen zu Eigen gemacht. Das
erkennt man zum Beispiel an den 23 Punkten des Ände-
rungsantrages. In der gleichen Weise hätten Sie auch bei
vielen anderen Gesetzentwürfen vorher vorgehen sollen;
dann hätten wir jetzt wahrscheinlich bessere Gesetze.
Aber immerhin: Dieses Mal haben Sie einiges übernom-
men. Mein Dank gilt daher den vielen Sachverständigen
und Experten, die es möglich gemacht haben, dass der
Konstruktionsfehler des Gesetzes nicht ganz so groß ist,
wie es am Anfang ausgesehen hat.

Ein Verbraucherschutzgesetz ist das, was hier vorliegt,
sicherlich nicht mehr.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht?)


Das Gesetz wird aber einzelne Verbesserungen in ge-
wissen Bereichen bringen.

Unsere zwei zentralen Änderungsanträge, die Ver-
jährung von Ansprüchen nach vier Jahren – das ist rechts-
systematisch wichtig und richtig – sowie die weitere Gül-
tigkeit des Vertrages zwei Wochen über den Tod des

Heimbewohners hinaus, sind eingeflossen. Diese haben
Sie mit Ihrer Mehrheit angenommen. So konnten wir zwei
zentrale Anliegen, die wir gehabt haben, durchsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die personelle Ausstattung der Heimaufsichtsbe-

hörden wird sich drastisch ändern, vor allem durch die
bundeseinheitliche Regelung in § 15 Abs. 4, die Sie hier
eingeführt haben. Ich hoffe, dass gerade die Länder, die
von Rot oder Rot-Grün regiert werden, auf diese neuen
Aufgaben vorbereitet sind. Ich bin hier sehr skeptisch.
Kontrolle ist wichtig und richtig. Um jedoch die Qualität
der Pflege zu erhalten und zu verbessern, müssen wir
nicht nur die Kontrolle, sondern auch die Verbesserung
der Pflege im Auge behalten. Auch hinsichtlich der unab-
hängigen Sachverständigen, der so genannten Zertifizie-
rer, stellt sich die Frage, wer letztendlich die Zertifizierer
zertifiziert.


(Susanne Kastner [SPD]: Herr Holetscheck zertifiziert die Zertifizierer!)


Die Verzahnung von Heimgesetz und SGB XI ist
rechtssystematisch falsch. Der Grundsatz der strikten
Trennung zwischen dem ordnungsrechtlichen Heimgesetz
und dem leistungsrechtlichen Pflegeversicherungsgesetz
wurde hier durchbrochen, was nicht richtig sein kann.

Leider haben Sie unseren dritten Änderungsantrag,
meine Damen und Herren, die Differenzierung der Ent-
gelte – der Kollege Weiß hat es vorhin angesprochen –,
nicht aufgegriffen. Wenn Sie hier nicht irgendwelchen so-
zialistischen Träumen anhängen würden, sondern sich
auch einmal auf marktwirtschaftliche Dinge verlassen
hätten, hätten wir echte qualitative Verbesserungen in den
Heimen erreichen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Letztendlich muss, wer Pflege leisten will, auch Geld

in die Hand nehmen. Die Argumentationskette für eine
menschenwürdige Pflege muss lauten: mehr Zeit und
mehr Zuwendung mit mehr Personal und dafür mehr
Geld. Das muss die Maxime sein, an der wir unsere Hand-
lungen orientieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Ministerin, weil Sie vorhin auf Bayern abgehoben

haben: Ich finde es gut, dass die bayerische Sozialminis-
terin Stewens und der Freistaat Bayern 75 Millionen DM
für die Schaffung und Modernisierung von Altenpflege-
plätzen in den Haushalt einstellen und dieses Geld dann
zur Verfügung steht. Das sind Beispiele, an denen wir uns
orientieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden diesem Gesetz mit Bauchschmerzen zu-

stimmen, Herr Fuhrmann,

(Arne Fuhrmann [SPD]: Ich gebe Ihnen nach her eine Tablette!)

weil wir glauben, dass wir kleine Verbesserungen erreicht
haben, weil wir eine konstruktive Opposition sind,


(Susanne Kastner [SPD]: Ach!)





Arne Fuhrmann
17314


(C)



(D)



(A)



(B)


wie es die Bevölkerung von uns erwartet, und weil wir
letztlich auch zum Wohle der Heimbewohnerinnen und
Heimbewohner entscheiden wollen. Aber ich sage Ihnen
jetzt auch: Die Praxis wird uns lehren, dass wir diese No-
velle in vielen Ansätzen werden nachbessern müssen,
weil wir in der Praxis noch viele Dinge feststellen werden,
die uns zu Korrekturen veranlassen werden. Lassen Sie
uns das dann auch gemeinsam angehen! Lassen Sie uns
keine Scheuklappen haben, sondern dann, wenn es not-
wendig ist, auch weiter an dem Gesetz arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417616700
Ich
schließe die Aussprache.

Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-
kannt, dass eine persönliche Erklärung gemäß § 31 der
Geschäftsordnung des Kollegen Dr. von Stetten vorliegt,
die wir mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll nehmen.1)

Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes, Drucksachen
14/5399 und 14/6366. Der Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. mit Ausnahme der Gegen-
stimme des Herrn von Stetten bei Enthaltung der PDS-
Fraktion angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen

wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 b: Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel
„Für ein aktives und mitbestimmtes Leben im Alter“,
Drucksachen 14/5565 und 14/6366. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von F.D.P. und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU ange-
nommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie Zu-
satzpunkt 5 auf:

8 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des

(Pflege-Qualitätssicherungsgesetz – PQsG)


– Drucksache 14/5395 –

(Erste Beratung 158. Sitzung)

– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Verbesserung der Leistungen in der
Pflege (Pflege-Leistungs-Verbesserungsgesetz)


– Drucksache 14/5547 –

(Erste Beratung 158. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Gesundheit (14. Ausschuss)

– Drucksache 14/6308 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulf Fink, Eva-
Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der sozialen Pflegeversicherung

– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weiterentwicklung der sozialen Pflegever-
sicherung

– Drucksachen 14/3506, 14/4391, 14/6308 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Zweiter Bericht über die Entwicklung der
Pflegeversicherung
– Drucksache 14/5590 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Pflege reformieren – Lebensqualität in Gegen-
wart und Zukunft sichern
– Drucksache 14/6327 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss




Klaus Holetschek

17315


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3

Zum Entwurf des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort die Kollegin Margrit Spielmann von der SPD-Frak-
tion.


Dr. Margrit Spielmann (SPD):
Rede ID: ID1417616800
Herr Präsident! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute zu ver-
abschiedenden Qualitätssicherungsgesetz werden wich-
tige Weichenstellungen für die Zukunftsfähigkeit der
pflegerischen Versorgung in Deutschland vorgenommen.

Die demographische Entwicklung in unserem Lande
weist, wie wir alle wissen, einen deutlichen Anstieg des
Anteils der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung
aus. Unsere Lebenserwartung steigt kontinuierlich. Es ist
also keine Frage, dass wir uns mit den Folgen dieser Ent-
wicklung beschäftigen müssen, insbesondere natürlich
mit den Auswirkungen dieser Entwicklung auf unsere so-
zialen Sicherungssysteme. Wir müssen uns Gedanken
über adäquate Angebote, über Betreuungs- und Pflege-
einrichtungen für ältere Menschen machen.

Ein in die Zukunft weisender Schritt war ja die Ein-
führung der gesetzlichen Pflegeversicherung vor sechs
Jahren. Sie ist als Grundsicherung konstruiert. Die Leis-
tungen aus der Versicherung decken aber nicht alle erfor-
derlichen Hilfen ab. Sie geben eine wichtige Hilfestel-
lung, um die schwierige Situation von Pflegebedürftigen
zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Pflegebe-
dürftigen bis zum Jahre 2010 um bis zu 350 000 ansteigt.
Diese Schätzungen verlangen von uns, dass wir mit den
Ressourcen der gesetzlichen Pflegeversicherung verant-
wortungsvoll umgehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die GRÜNEN)


Bei allem, was in diesem Bereich in Zukunft noch zu
erörtern und zu entscheiden ist, steht hier und heute aber
eines im Vordergrund: die Sicherung der Pflegequalität.
Es geht bei der Verabschiedung des Pflege-Qualitätssi-
cherungsgesetzes um jeden einzelnen Menschen, dem
Pflege zuteil wird, sei es in einer Pflegeeinrichtung oder
aber auch in ambulanter Betreuung. Die Sicherung einer
guten, einer angemessenen Pflege duldet, so denke ich,
keinen Aufschub.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Pflegebedürftige Menschen sind in ganz besonderer
Weise darauf angewiesen, dass der Staat Regelungen zu
ihrem Wohl und zu ihrem Schutz trifft, da sie ihre eigenen
Interessen, wie wir wissen, oftmals nicht mehr artikulie-
ren können. Qualitätssicherung und Qualitätsverbesse-
rung sind zunächst einmal, wie wir wissen, originäre Auf-

gaben der Heime. Deshalb haben wir in diesem Gesetz
auch Regelungen zum internen Qualitätsmanagement
vorgesehen. Aber aus der besonderen Schutzbedürftigkeit
der pflegebedürftigen Menschen ergibt sich auch, dass
wir weiterhin externe Qualitätssicherung durch die
Landesverbände der Pflegekassen und staatliche Kon-
trollen durch die Heimaufsichtsbehörden durchführen
müssen. Die externe Qualitätssicherung und die Kontrolle
sind deshalb – das sage ich ganz ausdrücklich – kein Miss-
trauensbeweis gegenüber den Einrichtungen, sondern
eine Pflicht des Staates gegenüber den Schwachen in un-
serer Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von daher halte ich es für selbstverständlich, dass diese
Kontrollen unangemeldet durchgeführt werden. Ich
denke, diejenigen, die eine gute Pflege gewährleisten,
brauchen sich keine Sorgen zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie können diesen Kontrollen auch sehr gelassen entge-
gensehen.

Natürlich – auch das wissen wir – ist es mit Kontrollen
alleine nicht getan. Deshalb war es uns auch ein ganz
wichtiges Anliegen, eine angemessene und – Herr
Dr. Seifert – eine qualifizierte Personalausstattung und
einen wirksamen Vertrauensschutz zu gewährleisten.
Wir wollen mit diesem Gesetz Pflegebedürftige und ihre
Angehörigen vor allem durch verstärkte Beratung und In-
formation in die Lage versetzen, ihre Rechte wirksam
wahrzunehmen. Mit den Regelungen im Pflege-Qua-
litätssicherungsgesetz zur Stärkung der Verbraucher-
rechte war ja nicht einfach brachliegendes Neuland zu
betreten, sondern wir sind auf bewährten Wegen fortge-
schritten.

Der Verbraucherschutz wird im Wesentlichen verbes-
sert – ich möchte einige Punkte nennen – durch die
Beteiligung der Pflegekassen an kommunalen Beratungs-
angeboten, durch die stärkere Verpflichtung zur Durch-
führung von Pflegeschulen im häuslichen Bereich
– übrigens ein sehr wichtiger Aspekt, der auch immer wie-
der gefordert wird –, durch die Pflicht zum Abschluss und
zur Aushändigung eines schriftlichen Pflegevertrages bei
häuslicher Pflege, durch die probeweise Inanspruch-
nahme des Pflegedienstes, durch Rückzahlungspflichten
bei Schlechtleistungen und durch die verbesserte Beteili-
gung der Pflegebedürftigen, der Behinderten und der Be-
rufsverbände an bundesweiten Qualitätsvereinbarungen,
an landesweiten Rahmenempfehlungen sowie an der
geplanten Verordnung über Beratungs- und Prüfvor-
schriften.

In den Beratungen zu diesem Gesetz gab es den
Wunsch nach noch weiter gehenden Regelungen. Ich
denke, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
richtige und wichtige Weichenstellungen vorgenommen
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
17316


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich appelliere an alle, sich unseren Argumenten nicht zu
verschließen und dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Tat
eine bessere Qualität in den stationären und auch in den
ambulanten Einrichtungen bekommen.

Allen, die uns geholfen haben – ich denke in besonde-
rer Weise an die Wohlfahrtsverbände –, dieses Gesetz auf
den Weg zu bringen, möchte ich herzlich danken.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417616900
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva-Maria
Kors von der CDU/CSU-Fraktion.


Eva-Maria Kors (CDU):
Rede ID: ID1417617000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Leider ist es beim Qualitäts-
sicherungsgesetz nicht so wie beim Heimgesetz, dass ein
Konsens möglich gewesen wäre. Denn es ist von der Sub-
stanz des Gesetzes her nicht möglich. Zwar hat die erste
Lesung natürlich ergeben, dass wir alle das gleiche Ziel
haben: Verbesserung der Qualität der Pflege. Es hat sich
aber auch bis zum heutigen Tag bestätigt, dass unsere Auf-
fassungen über das Wie, über den Weg hin zu mehr Qua-
lität in der Pflege meilenweit auseinander liegen.

Während die Regierung und die sie tragenden Fraktio-
nen fast ausschließlich auf mehr Kontrolle und mehr
Bürokratie setzen, wollen wir von der Union unter ande-
rem mehr qualifiziertes Personal und damit mehr fachge-
rechte Pflege und Betreuung für die pflegebedürftigen
Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Parr [F.D.P.] – Zuruf von der SPD: Da müssen Sie noch mal mit der CSU sprechen!)


Das Gesetz der Bundesregierung verlangt von den Hei-
men ein unvergleichlich hohes Maß an zeit- und kos-
tenintensiven Maßnahmen, über deren Sinn und Nutzen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
nicht nur wir mehr als streiten können, sondern auch die
Verbände.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Von Anreizen für eine wirkliche Qualitätssicherung, ge-
schweige denn Qualitätssteigerung ist in ihrem Gesetz
keine Spur. Der Entwurf der Bundesregierung enthält
keinerlei Leistungsverbesserungen, die die Qualität der
Pflege nachhaltig stärken könnten. Kurz gesagt: Ihr Ge-
setzentwurf ist unzureichend.

Unser Gesetzentwurf hingegen beinhaltet konkrete
Vorschläge für wirkliche Leistungsverbesserungen in
der Pflege:


(Beifall bei der CDU/CSU)

zum einen durch die Einbeziehung des Betreuungsbedarfs
altersverwirrter Menschen – dies fehlt bei Ihnen völlig –,
zum anderen durch die Schaffung einer besseren Perso-
nalausstattung in den Heimen im Wege der Personal-
schlüsselerhöhung.

Um Ihrem Argument wegen der Kosten gleich zuvor-
zukommen: Wir machen auch seriöse Vorschläge zur Fi-
nanzierung dieser Verbesserungen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die erforderlichen Mittel können unserem Gesetzentwurf
zufolge einerseits durch die sachgerechte Verlagerung der
medizinischen Behandlungspflege in die gesetzliche
Krankenversicherung und andererseits – wenn Sie Mut
beweisen – durch die Rücknahme der Absenkung der
Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosengeld aufge-
bracht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Parr [F.D.P.])


Im Übrigen wird die medizinische Behandlungspflege
im ambulanten Sektor ohnehin bereits von der Kranken-
versicherung bezahlt. Warum also das nicht auch im sta-
tionären Bereich? Lassen Sie uns das doch nachholen!
Auf diesem Weg wären immerhin 2 Milliarden DM mehr
zugunsten der Pflegebedürftigen vorhanden – 2 Milliar-
den DM, die in die Pflegeversicherung gehören und den
Pflegebedürftigen zugute kommen müssen.

Wir wollen mit unseren Vorschlägen vor allem dafür
Sorge tragen, dass den wirklichen Bedürfnissen der Men-
schen, sowohl der Pflegebedürftigen als auch der Pfle-
genden, Rechnung getragen wird und die Pflegesituation
in den Einrichtungen entschärft und verbessert wird.
Durch bürokratische Kontrollen wird ein hohes Maß an
Qualität, das wir zweifelsohne brauchen, weder erreicht
noch gesichert. Qualität und Qualitätssicherung erfordern
unserer Auffassung nach mehr gut ausgebildetes Perso-
nal, als heute zur Verfügung steht. Dafür schaffen wir mit
unserem Gesetzentwurf die Voraussetzungen.

Die unzweifelhaft vorhandenen Probleme, deren Lö-
sung wir im Bereich der Pflege in Deutschland dringend
angehen müssen, die wir als verantwortliche Politi-
kerinnen und Politiker zu lösen haben, sind keine abs-
trakten, sondern ganz reale Probleme, die uns alle, Fami-
lienangehörige und Freunde eingeschlossen, früher oder
später treffen können oder schon getroffen haben,
manchmal völlig unvorbereitet. Bei dem Versuch, diese
Probleme zu lösen, kann ich mich manchmal des Ein-
drucks nicht erwehren, dass wir hin und wieder verges-
sen, dass es sich um Menschen handelt, die von den
Auswirkungen unseres Paragraphenwirrwarrs be- und
getroffen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es sind Menschen, die unsere besondere Aufmerksam-

keit, aber auch unsere besondere Anstrengung brauchen.

(Susanne Kastner [SPD]: Wir sind auch dafür!)

– Dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. – Dies
gilt insbesondere für die Demenzkranken. Deswegen ent-
hält unser Gesetzentwurf auch eine Regelung für diese
Menschen. Zudem kommen unsere Vorschläge auf die-
sem Gebiet auch den professionellen Pflegekräften und
den Angehörigen zugute. Wir als Politiker haben die
Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Verwaltungsaufwand in




Dr. Margrit Spielmann

17317


(C)



(D)



(A)



(B)


den Einrichtungen aufgrund neuer gesetzlicher Regelun-
gen nicht noch größer wird und dadurch noch weniger
Zeit für die eigentliche Pflege am Menschen übrig bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass beruflich

Pflegende ebenso wie pflegende Angehörige nicht immer
stärkeren physischen und psychischen Belastungen aus-
gesetzt werden. Ebenso haben wir die Pflicht, zu verhin-
dern, dass sich immer mehr Beschäftigte in den Pflege-
heimen mit dem Gedanken tragen, ihren erlernten Beruf
aufzugeben oder – noch schlimmer – sich nicht mehr in
der Lage sehen, so zu pflegen, wie es den fachlichen An-
forderungen und ihrer Ausbildung entspricht und wie es
vor allem die pflegebedürftigen Menschen brauchen und
verdienen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Vor diesem Hintergrund muss die Frage erlaubt sein,

warum Sie glauben, mit einem Mehr an Verwaltungs-
aufwand und zusätzlichen Kontrollen Qualität in der
Pflege schaffen und sogar sichern zu können. Diesen
falschen Weg werfen nicht nur wir Ihnen vor. Das sagen
auch die betroffenen Verbände, liebe Frau Spielmann,
zum Beispiel der Paritätische Wohlfahrtsverband. Ich zi-
tiere:

Durch die neuen Gesetze werden in erster Linie
Dokumentations- und Zertifizierungspflichten sowie
Hygienebestimmungen und -kontrollen übermäßig
ausgeweitet, strukturelle Mängel aber nicht beseitigt.

Wer die Qualität der Pflege in den Einrichtungen ernst-
haft verbessern wolle – so der Hauptgeschäftsführer die-
ses Verbandes –, müsse mit einer durchgreifenden Reform
der Pflegeversicherung den bereits jetzt überzogenen Ver-
waltungsaufwand in den Einrichtungen eindämmen. Zu-
dem müsse endlich der Betreuungsaufwand demenzkran-
ker Menschen in der Pflegeversicherung angemessene
Berücksichtigung finden. Diese berechtigten Forderun-
gen erfüllt unser Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihr Gesetzentwurf hingegen ist von einem generellen

Misstrauen gegenüber Pflegeeinrichtungen und damit
auch gegenüber den dort Beschäftigten durchzogen. Mit
noch mehr Bürokratie und noch mehr Kontrollen schaffen
Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nur noch
mehr Frust und noch mehr Stress, der seinen Ausdruck in
mangelhafter Pflege finden und im schlimmsten Fall zu
den allseits beklagten Missständen in einzelnen Heimen
führen kann – aber nicht muss.

Wie wollen Sie dem Pflegepersonal oder jungen Men-
schen, die in der Altenpflege tätig werden wollen, erklä-
ren, dass sie in Zukunft immer weniger Zeit für die per-
sönliche Betreuung der Pflegebedürftigen, also für ihre
eigentliche Aufgabe, haben und einen noch größeren Teil
als bisher für Verwaltungsaufgaben aufzuwenden haben?
Wir von der Union wollen, dass insbesondere junge Men-
schen den Pflegeberuf wählen, weil sie sich mit Freude
den Anforderungen stellen und weil sie sich der Aufgabe
annehmen wollen, pflegebedürftige ältere Menschen in
einem Abschnitt ihres Lebens zu begleiten, der ein hohes

Maß an pflegerischer und sozialer Kompetenz erfordert,
aber eben auch Raum für menschliche Zuwendung lässt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Entwurf bringt dementsprechend – ich darf das

kurz zusammenfassen – konkrete Verbesserungen für die
Demenzkranken, die bisher durch alle Raster gefallen
sind, er bringt Verbesserungen für das Personal und er ist
seriös finanziert. Damit setzen wir die richtigen Rahmen-
bedingungen für mehr Pflegequalität und deren Sicherung
und damit, meine Damen und Herren, auch für mehr
Menschlichkeit für die Pflegebedürftigen. Deshalb wer-
den wir Ihren Antrag ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417617100
Für das
Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich könnte mich eigentlich meiner Fraktionskollegin
Schewe-Gerigk anschließen, die vorhin hier gesagt hat,
dass das, was wir beim Heimgesetz machen, eigentlich
ein echtes Verbraucherschutzprojekt ist. Ich glaube, das
trifft auch für das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz zu.

Wenn wir das Gesetz heute verabschieden, werden wir
einen großen Schritt auf dem Weg weiterkommen, den
wir mit der Pflegeversicherung beschritten haben. Die
Pflegeversicherung hat ja eine letzte Lücke in den sozia-
len Sicherungssystemen gegen Lebensrisiken geschlos-
sen. Von der Pflegeversicherung leiten heute immerhin
rund 60 Millionen Menschen Ansprüche ab.

Natürlich wurde die Pflegeversicherung ganz bewusst
als Teilabsicherung konzipiert. Das dürfen wir in der De-
batte, die wir heute auch um die Finanzierung, auch um
die Frage, welche Möglichkeiten es über die Pflegever-
sicherung hinaus gibt, nicht vergessen. Die Pflegeversi-
cherung ist als Teilabsicherung konzipiert worden, und
trotzdem gibt es nach wie vor unakzeptable Lücken in der
Versorgung. Auch hier haben wir es mit einer Hinterlas-
senschaft zu tun, die auf jahrelange Untätigkeit zurück-
geht. Das wiederum betrifft vor allem und in erster Linie
die Qualität der Versorgung in der ambulanten und sta-
tionären Pflege.

Die Berichte über Mängel häufen sich. Wenn man Be-
suche in Pflegeheimen macht oder Berichte in den Me-
dien verfolgt, dann wird man oft von entwürdigenden Zu-
ständen in Pflegeheimen erfahren. Dem steht natürlich
eine große Zahl von Pflegenden gegenüber, die Pflegeleis-
tungen in hoher Qualität erbringen. Aber ein Qualitätssi-
cherungsgesetz ist dringend notwendig, weil es diese Miss-
stände gibt, weil es schwarze Schafe in der Pflege gibt, die
erkannt werden müssen, und weil insbesondere Konse-
quenzen daraus gezogen werden müssen.


(Beifall bei der SPD)

Worum geht es? Es geht um Qualität, es geht aber auch

um Eigenverantwortung und mehr Patientenrechte. Die
Anhörung hat aus meiner Sicht gezeigt, dass sich alle Be-




Eva-Maria Kors
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(C)



(D)



(A)



(B)


teiligten einhellig für bessere Instrumente der externen
und internen Qualitätssteuerung aussprechen. Es ist ge-
rade ein positives Merkmal dieses Gesetzes, dass es beide
Elemente, die Qualitätskontrolle von außen und die Qua-
litätskontrolle innerhalb der Heime, aufweist. Ich glaube,
nur beides zusammen wird vernünftig funktionieren.

Nun sprechen Sie, Frau Kors, von Misstrauen, von
Kontrolle und von mehr Bürokratie. Nein, interne Qua-
litätssteuerung bedeutet nicht in erster Linie mehr Büro-
kratie. Sie bedeutet vielmehr in jedem Unternehmen und
insbesondere dort, wo es um Menschen, wo es – das ist
hier zu Recht gesagt worden – um die Schwächsten geht,
auch Eigenkontrolle dessen, was passiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu gehört selbstverständlich, dass Kontrolle auch

von außen stattfinden kann. Eine solche Kontrolle von
außen müssen diejenigen, die eine gute Pflege leisten,
natürlich nicht fürchten. Wir werden genau das erkennen,
was wir brauchen, nämlich die Stellen, an denen es
tatsächlich Lücken und auch Verfehlungen gibt.


(Beifall bei der SPD)

Sie haben, Frau Kors, zwei Sachen miteinander ver-

mischt – das ist auch in Ihrem Entwurf so –, nämlich auf
der einen Seite Leistungsverbesserungen, die auch wir
uns sicherlich an der einen oder anderen Stelle, gerade bei
den Demenzkranken, wünschen, und Qualität auf der an-
deren Seite. Beides ist aber nicht dasselbe. Sie haben von
seriöser Finanzierung gesprochen. Dazu muss ich sagen,
dass das, was Sie unter seriöser Finanzierung verstehen,
offensichtlich darauf beruht, Lücken in anderen Versor-
gungssystemen herzustellen, beispielsweise in der GKV.
Vor dem Hintergrund der Gesamtsituation, in der wir uns
gegenwärtig befinden, ist das nicht sehr verantwortungs-
bewusst und es macht den Menschen vor, dass es genügt,
ihnen etwas zu versprechen, ohne es auch einzuhalten. Ich
halte das nicht für verantwortungsvoll.

Was heißt Qualität? Qualität heißt: Es geht um ange-
messene Versorgung, die vor allen Dingen Würde und
Selbstbestimmung gewährleistet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eine solche Vorstellung von Qualität haben wir sowohl
im Hinblick auf das Heimgesetz als auch im Hinblick auf
das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz ganz oben auf die
Agenda gesetzt. Das Pflegepersonal ist keine Verschiebe-
masse im Falle von chronischer Unterbesetzung und Fehl-
management. Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen
nicht mehr auf dem Rücken der zu Pflegenden und des
Pflegepersonals ausgetragen werden. Auch aus diesem
Grunde ist es notwendig, über objektive Kriterien der
Qualitätskontrolle zu verfügen. Solche Kriterien streben
wir mit diesem Gesetz an.

Ich kann Sie im Interesse der Pflegenden und der zu
Pflegenden nur herzlich bitten, unserem Entwurf zuzu-
stimmen. Er ist ein großer und wichtiger Schritt. Er wird
noch nicht alles erfüllen, was auch wir uns wünschen; ich
habe über die Leistungsverbesserungen gesprochen. Auch
uns ist klar – wir werden in den nächsten Wochen ent-

sprechend handeln –: Gerade was die Demenzkranken an-
geht, bedarf es weiterer Verbesserungen.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das höre ich seit einem Jahr! – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Sie prüfen und prüfen und prüfen!)


Verschließen Sie sich bitte trotzdem nicht diesem Schritt
der Qualitätssicherung.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417617200
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1417617300
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Heute ist der Tag des Schlafes, aber den dür-
fen wir uns als Gesetzgeber gegenüber Missständen in der
Pflege und Leistungslücken, wie bei der Betreuung De-
menzkranker, nun wirklich nicht leisten. Die F.D.P.
möchte jedoch nicht zulassen, dass den Heimen auf dem
Wege zu Verbesserungen immer mehr formaler Aufwand
aufgebürdet wird und dadurch Mittel für die Pflegebe-
dürftigen der Bürokratie zum Opfer fallen.

Frau Göring-Eckardt, der Arbeitgeber- und Berufsver-
band Privater Pflege hat als Folge des vorliegenden Ge-
setzentwurfs der Bundesregierung – sie hört gar nicht zu –
allein Prüfkosten in Höhe von 120 Millionen DM errech-
net.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Also, Ihr Anfang war noch gut!)


Sie sollen über die Pflegepreise refinanziert werden und
mindern den Anspruch der Versicherten auf Pflegeleis-
tungen damit erheblich.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Starkes Stück!)

Dies geschieht auch noch vor dem Hintergrund, dass die
Bundesregierung die Einnahmebasis durch Absenkung
der Bemessungsgrundlage beim Bezug von Arbeitslosen-
geld deutlich geschmälert hat. Das ist sozialpolitisch nicht
akzeptabel.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Kahlschlag!)


Wie Pflegequalität kostengünstiger gesteigert werden
kann, hat die Stadt München bewiesen. Der Medizinische
Dienst der Krankenkassen führt nach Überprüfungen in
Bayern die bessere Situation der Stadt gegenüber dem
ländlichen Raum auf die schlichte Tatsache zurück, dass
die bayerische Hauptstadt eine Beschwerdestelle einge-
richtet hat und dass in der Folge viel für die Heime getan
werden konnte.


(Susanne Kastner [SPD]: Da gibt es auch einen SPD-Oberbürgermeister!)


Ich wiederhole deshalb unsere Forderung – hören Sie zu,
Frau Kollegin –: Es müssen mehr unabhängige Anlauf-
stellen nach dem Muster „Pflege in Not – Krisentelefone




Katrin Göring-Eckardt

17319


(C)



(D)



(A)



(B)


und Beschwerdestellen“ – davon gibt es im Bundesgebiet
bereits 14 – eingerichtet werden. Das sollte man vielleicht
sogar verpflichtend in Verträge einarbeiten. Wir brauchen
im System mehr Transparenz. Je mehr bekannt wird,
umso eher kann gezielt gehandelt werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ein gezieltes Handeln zur Qualitätsverbesserung ist

aus unserer Sicht zum Beispiel bei der Arzneimittelver-
sorgung von Pflegeheimen vonnöten. Die definierten
Qualitätsstandards müssen in die bald gesetzlich vorgese-
henen Versorgungsverträge zwischen Heimen und Apo-
theken einbezogen werden. Wir sollten in Modellversu-
chen, getrennt nach Stadt und Land, ausgewählte
Apotheken bestimmte Heime versorgen lassen.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Herr Parr, da sind wir viel weiter als Sie!)


– Ich weiß nicht, ob Sie da weiter sind, Frau Kollegin.
Mit der Garantie einer Lieferung und Dokumentation

von Medikamenten unter pharmazeutischen Gesichtspunk-
ten, was zum Beispiel die Dosierung und Verordnungsin-
tervalle angeht, könnte eine Schulung des Pflegepersonals
und eine Überwachung der Arzneimittelversorgung bzw.
der Lagerhaltung verbunden werden. Damit können der
sachgerechte Umgang mit Arzneimitteln und die ord-
nungsgemäße Verabreichung sichergestellt werden. Wir
vermeiden Fehlgebrauch und steigern die Arzneimittelsi-
cherheit. Das wäre ein Schritt hin zu einer notwendigen
Umstrukturierung in den Pflegeheimen mit dem Ziel, auf
die Bedürfnisse der Patienten besser einzugehen.

Der Gerontologe Rolf Hirsch fordert zu Recht über-
schaubare Heime mit einem professionellen Manage-
ment, das einen kooperativen Führungsstil pflegt und auf
die Fachkompetenz des Personals setzt.


(Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Da hat er Recht!)

Dazu tragen aus unserer Sicht die vorliegenden Anträge
und Gesetzentwürfe nicht hinreichend bei.

Wir lehnen einerseits eine Überreglementierung der
Heime und andererseits finanzielle Verschiebebahnhöfe
zugunsten der Pflege- und zuungunsten der Krankenver-
sicherung zur Gegenfinanzierung besserer Leistungen ab.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die wachsenden Probleme in der Pflege werden so nicht
gelöst.

Unsere Vorstellungen – zwei Punkte möchte ich nen-
nen – sind: Erstens. Die Pflegeversicherung ist bekannt-
lich nur eine Teilkaskoversicherung. Wir müssen verdeut-
lichen, dass die Menschen, bereits während sie jung und
mobil sind, viel mehr Vorsorge für den Fall der Pflege-
bedürftigkeit treffen müssen.

Zweitens. Qualitätsverbesserungen kann man nicht von
außen in die Heime „hineinregulieren“. Gemeinsam mit
den Betreibern der Heime wollen wir überlegen, wie haus-
intern qualitätssichernde Maßnahmen durchgeführt werden
können. Hier wäre die Einrichtung eines runden Tisches
vielleicht sinnvoller und würde eher zu konkreten Ergeb-

nissen führen als der Versuch, die Gesundheitsreform mit-
hilfe von runden Tischen voranzutreiben und damit eigent-
lich nur weiße Salbe auf die Probleme zu reiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417617400
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417617500
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wenn auch halbherzig, so versucht die
CDU/CSU-Fraktion doch jetzt wenigstens, die Pflegever-
sicherung zu reparieren. Sie, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, bauen die falschen Er-
satzteile ein. Das kann man wirklich nicht gutheißen.


(Beifall bei der PDS)

Pflegequalität muss an der Frage gemessen werden, ob

die richtige, die benötigte Assistenzleistung zum ge-
wünschten Zeitpunkt und in ausreichendem Umfang vor-
handen ist. Das ist das einzig wahre Kriterium.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb haben wir Ihnen in unserem vorliegenden Antrag
entsprechende Vorschläge unterbreitet. Ich bitte Sie: Las-
sen Sie Ihren Gesetzentwurf fallen und greifen Sie die in
unserem Antrag enthaltenen Vorschläge auf; denn unser
Antrag beinhaltet eine Konzeption, nach der man wirklich
arbeiten könnte.

Es muss endlich damit Schluss gemacht werden, die
Qualität der Pflege anhand der Kriterien „satt, sauber und
– bestenfalls – trocken“ zu definieren. Wir müssen einen
Pflegebegriff finden, der die Ganzheitlichkeit und die
Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und der
sich nicht wie bisher an Teilleistungen orientiert, weil
man die Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung
begreift. Das ist das Problem, vor dem wir stehen.

Liebe Dr. Margrit Spielmann, Sie wissen so gut wie
ich, dass sich das, was wir wollen, eigentlich nur erreichen
lässt, wenn es eine ausreichende Zahl von in der Pflege
tätigen Menschen gibt, die auch über die entsprechenden
Qualifikationen verfügen. Sie müssen nicht unbedingt
ein Hochschulstudium absolviert haben. Aber sie müssen
ordentlich ausgebildet und in ihre Arbeit eingewiesen
worden sein. Das Problem besteht nicht allein darin, dass
es kein für Gesamtdeutschland geltendes Pflegeausbil-
dungsgesetz gibt. Vielmehr besteht das Problem darin,
dass diejenigen, die bereits ausgebildet und in der Pflege
tätig sind, ihren Beruf auf Dauer nicht ausüben können,
weil sie psychisch kaputtgehen. Wir wissen doch, dass
nach fünf Jahren nur noch 10 bis 20 Prozent der ausge-
bildeten Pflegekräfte in den Einrichtungen arbeiten, weil
sie es nicht mehr aushalten. Sie halten es nicht mehr aus,
weil sie Arbeitsbedingungen vorfinden, die sie daran
hindern, das umzusetzen, was sie gelernt haben, nämlich
die pflegebedürftigen Menschen ganzheitlich zu be-
treuen, sie zu aktivieren und sie nicht nur satt, sauber und
trocken zu halten.




Detlef Parr
17320


(C)



(D)



(A)



(B)


Im Zusammenhang mit dem Heimgesetz las meine
Kollegin Balt einen Brief vor, in dem sich eine 71-jährige
Mutter darüber beklagt, dass ihre etwa 45-jährige quer-
schnittsgelähmte Tochter im Heim inzwischen keine
Pampers mehr bekomme, sondern nur noch Einlagen.
Aber auch die Versorgung mit Pampers, also mit „pflege-
erleichternden Maßnahmen“, ist doch schon unanständig.
Die Frau gehört auf die Toilette gesetzt! Wenn es sein
muss, zehnmal pro Tag.

An diesem Punkt müssen wir durch qualitätsverbes-
sernde Maßnahmen ansetzen. Es nützt nichts, pflegeferne
Bereiche wie die Kontrolle zu stärken und in diese Geld
fließen zu lassen, während in den Bereichen gespart wird,
in denen Menschen direkt profitieren könnten. Jede Mi-
nute der Arbeitszeit, die nicht am Menschen gearbeitet
wird, sondern der Dokumentation dient, ist für die Men-
schen verloren. Sie wissen das so gut wie ich. Sie können
Ihr Vorhaben nicht als großen Erfolg darstellen. Wenn Sie
ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass das nur ein
mickriger Erfolg ist. Machen Sie etwas Vernünftiges,
dann werden Sie uns und erst recht die Menschen, die es
brauchen, auf Ihrer Seite haben.

Fassen Sie sich ein Herz, ziehen Sie Ihren Gesetzent-
wurf zurück und machen Sie etwas Vernünftiges.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417617600
Als letzte
Rednerin hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin
Gudrun Schaich-Walch das Wort.

G
Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1417617700
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Tat
kein neues Leistungsgesetz vor, das hier jetzt verabschie-
det werden soll. Es liegt vielmehr ein Gesetz vor, mit dem
wir die Qualität der bisher erbrachten Leistungen sichern
wollen.


(Zustimmung bei der SPD)

An diesem Anspruch muss der Gesetzentwurf gemessen
werden. Wir wollen mit dem geplanten Gesetz bestimmte
Sachverhalte regeln; andere Probleme, die durchaus
ebenso gelöst werden müssen, haben wir nicht in unseren
Entwurf einbezogen. Dafür wird es dann andere Geset-
zesvorhaben geben müssen.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das sagen Sie aber schon anderthalb Jahre!)


Ich bin der festen Überzeugung, dass Sie alle sehr ge-
nau wissen, dass wir Mängel und Defizite in der pflege-
rischen Versorgung haben und dass diese inzwischen lei-
der keine Einzelfälle mehr sind. Wir sind uns aber auch
dessen bewusst, dass diese Defizite weder alleine den Ein-
richtungen noch alleine den Kostenträgern und schon gar
nicht dem Personal, das eine sehr aufopferungsvolle Ar-
beit leistet, zuzuschreiben sind. Wir sind aber auch ver-
pflichtet, den Ursachen der Mängel nachzugehen. Dabei

stellen wir fest, dass es ein ganzes Bündel von Ursachen
gibt: Es können Managementfehler in den Einrichtungen
oder das Qualifikationsniveau der Pflegekräfte – das ist
bereits angesprochen worden – eine Rolle spielen.

Auch wenn heute verfassungsmäßige Rechte wahrge-
nommen worden sind, ist es natürlich traurig, feststellen
zu müssen, dass wir nun immer noch keine bundes-
einheitliche Ausbildung für die Pflegeberufe haben, die
eine einheitliche Qualität der Pflege sichert.


(Beifall bei der SPD)

Einige Menschen werden den Beruf des Altenpflegers
jetzt sicherlich nicht ergreifen, weil wir nicht in der Lage
sind, die Berufsausbildung finanziell abzusichern. Eine
Sicherung des Qualitätsniveaus in der Ausbildung wäre
eine wesentliche Voraussetzung für die Qualität in der
Pflege. Qualität in der Pflege lässt sich nicht nur mit mehr
Geld erreichen.


(Beifall bei der SPD)

Der andere Punkt – Herr Seifert, darin gebe ich Ihnen

Recht – ist: Eine Verbesserung wird wesentlich von der
Personalausstattung abhängen. Wir müssen in diesem
Punkt ehrlich miteinander umgehen: Wir haben eine Pfle-
geversicherung, die einen Zuschuss zur Pflege gewährt.
Wir müssen aber vor der Gewährung von Leistungen er-
mitteln, an welchen Orten welches Maß an Pflege
benötigt wird. In den einzelnen Häusern werden sehr un-
terschiedliche Leistungen angeboten. Wir brauchen zur
Herstellung von Transparenz, Herr Parr, Daten, und diese
erhalten wir nur über Dokumentation.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Erst nach dem Abschluss der Dokumentation wissen wir,
für welche Leistungen wir welches und wie viel Personal
brauchen. Durch die Schaffung von Transparenz haben
wir für die Zukunft eine vernünftige Grundlage. Eine sol-
che vernünftige Grundlage will dieser Gesetzentwurf
schaffen; er sieht die Notwendigkeit entsprechender Ver-
einbarungen durch die Selbstverwaltung vor. Diese bieten
für die Häuser eine vernünftige Grundlage bei ihren Ho-
norarverhandlungen. Uns allen ist dabei klar gewesen,
dass es das nicht zum Nulltarif gibt. Ich kann mir vorstel-
len, dass einige Häuser etwas mehr und einige Häuser
etwas weniger brauchen. Ich wundere mich aber schon ein
wenig, dass Häuser des gleichen Trägers für die gleiche
Pflegestufe Preise mit Unterschieden von bis zu
1 000 DM im Monat haben. Auch darauf muss man ach-
ten.

Qualität kostet Geld. Zu dem ausgehandelten Pflege-
satz wird die Pflegeversicherung einen bestimmten Bei-
trag leisten. Dieser ist beschränkt, solange der Beitrag zur
Pflegeversicherung 1,7 Prozent beträgt. Man lügt sich
selbst in die Tasche, Frau Kors, wenn man den Menschen
erklärt, mit einem Beitragssatz von 1,7 Prozent wäre sehr
viel mehr zu machen und zu erreichen, als das bis jetzt der
Fall ist.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Wir haben andere Finanzierungsvorschläge gemacht!)





Dr. Ilja Seifert

17321


(C)



(D)



(A)



(B)


Damit weckt man bei den Menschen Erwartungen, die so
nicht zu erfüllen sind. Das ist für meine Begriffe absolut
unredlich.

Zu Ihren Finanzierungsvorschlägen, mit denen Sie den
Verschiebebahnhof von Herrn Seehofer, dem Sie zuge-
stimmt haben und der Grundlage für das Zustandekom-
men dieses Gesetzes war, rückgängig machen wollen,
muss ich sagen: Die Gesundheitspolitiker meiner Frak-
tion haben damals dagegen gestimmt. Es kann nicht an-
gehen, dass Sie sagen, es müsse so weiterlaufen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417617800
Frau
Staatssekretärin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Fuchs von der PDS-Fraktion?

G
Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1417617900
Ja.


Dr. Ruth Fuchs (PDS):
Rede ID: ID1417618000
Verehrte Frau Staatssekretä-
rin, es hört sich für mich logisch an, dass Sie sagen, Sie
können nicht alle Erwartungen an die Qualität bezüglich
der Pflege erfüllen. Sie sprachen davon, dass wir ehrlich
sein müssen und dass wir bei den Menschen nicht Erwar-
tungen wecken dürfen, die wir nicht erfüllen können.
Wäre es dann aber nicht ehrlicher gewesen, beim Pflege-
Qualitätssicherungsgesetz nicht von einem Gesetz zur
Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucher-
schutzes, sondern von einem Ergänzungsgesetz, mit dem
ein Problem bei der Pflege gelöst wird, zu sprechen? Mit
diesem Titel wecken Sie Erwartungen bei den Betroffe-
nen, die Hilfe benötigen, die nicht erfüllt werden können.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: So ist es!)


Das bedauere ich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


G
Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1417618100
Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf soll die Qualität der bestehenden Leis-
tungen gesichert werden. Alle dazu notwendigen Instru-
mente sind enthalten. Wir haben an keiner Stelle gesagt,
es handele sich um ein neues Leistungsgesetz. Ich habe
zwar davon gesprochen, dass es an manchen Stellen
durchaus teurer werden könnte. Aber das bedeutet nicht,
dass in diesem Fall die Pflegeversicherung mehr bezahlt.
Sie zahlt immer einen festen Zuschuss. Man muss den
Menschen ehrlicherweise sagen, dass der Einzelne oder
die Sozialhilfe die zusätzlichen Kosten tragen muss.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Das muss man denen aber auch sagen! Sagen Sie ihnen, dass sie für Bürokratie viel Geld bezahlen müssen!)


Wir wollen aber dafür Sorge tragen, dass sich jemand,
der Pflege braucht, darauf verlassen kann, dass mithilfe
unserer Gesetze die Leistung und die Qualität der Pflege
gesichert werden. Der Betroffene soll genau wissen, wel-
che Leistungen ihm zustehen und was er zu erwarten hat.

Nur wenn man beide Gesetze – das Heimgesetz und die-
ses Gesetz – in Kombination sieht, Frau Dr. Fuchs, kann
man sie unter dem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung
beurteilen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417618200
Frau Kol-
legin Schaich-Walch, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Ilja Seifert? – Bitte schön, Herr
Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417618300
Frau Staatssekretärin, in der
von Ihnen gerade vorgetragenen Logik gedacht: Stimmen
Sie mir zu, dass der Eigenanteil, der für die pflegenahen
Bereiche aufgebracht werden muss, größer wird, wenn
die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten über-
nimmt, aber gleichzeitig ein Teil der Finanzmittel in die
pflegefernen Bereiche, also zum Beispiel in die Doku-
mentation, geht? Das heißt mit anderen Worten, dass Sie
die Leistung, die ohnehin schon nicht ausreicht, sozusa-
gen von den Menschen abziehen und hin zur Bürokratie
verschieben. Sind Sie also nicht der Meinung, dass dies
auch unter Berücksichtigung der von Ihnen gerade vorge-
tragenen Logik zum Nachteil für die pflegebedürftigen
Menschen ist?


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


G
Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1417618400
Herr Dr. Seifert,
aus folgendem Grunde sehe ich das nicht so: Es gibt oft-
mals das Problem, dass Einrichtungen nicht in der Lage
sind, bei Verhandlungen über Pflegesätze bestimmte
Pflegesatzhöhen auszuhandeln. Mit der Prüfung, was bei
den einzelnen Menschen gemacht werden muss, schaffen
wir ein Instrument, um die notwendige Transparenz bei
Verhandlungen über Pflegesätze zu erreichen. Wenn es
nicht zu vernünftigen Pflegesatzverhandlungen und -ab-
schlüssen kommt, wird sich nichts ändern. Das Gesetz
trägt dazu bei, dass diese Basis gefunden wird.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wegen des Nachweises müssen sie noch mehr bezahlen!)


– Was sagten Sie?

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So, wie Sie es jetzt begründet haben, müssen sie noch mehr bezahlen!)


– Nein, sie müssen dadurch nicht mehr bezahlen. Es wird
dadurch Transparenz und die Grundlage für die Abwä-
gung dessen geschaffen, was notwendig ist.

Das derzeitige System enthält eine Art Blackbox. Wir
geben einen bestimmten Betrag aus. In vielen Bereichen
ist das gut und in Ordnung. In anderen Bereichen aber
wird es kritisiert. Durch das Gesetz werden gute Arbeits-
grundlagen für die Selbstverwaltung geschaffen. Dadurch
ist es möglich, nachzuvollziehen, was für Personal man
für welche Leistungen braucht.

Dass wir darüber hinaus für die Versorgung alter Men-
schen – das hat meine Kollegin Frau Spielmann schon ge-
sagt – und für den Bereich der Dementen im ambulanten




Parl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch
17322


(C)



(D)



(A)



(B)


Bereich Regelungen brauchen, ist klar. Der Gesetzent-
wurf dafür ist in Vorbereitung. Ein Arbeitsentwurf ist
schon zugestellt worden. Man kann auf dieser Basis dis-
kutieren.


(Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Der kommt!)

– Das kommt.

Wir werden in der Zukunft auch noch einmal prüfen
müssen, inwieweit es an den Schnittstellen zwischen ge-
setzlicher Krankenversicherung und Pflegeversicherung
Probleme gibt und welche Alternativen vorhanden sind.
Da gibt es aus der Enquête-Kommission Anregungen, mit
denen wir uns inhaltlich auseinander setzen.

Ich denke, wir werden das Ganze Stück für Stück erar-
beiten müssen. Jetzt haben wir eine Einheit von Qua-
litätssicherung und von Regelungen im Heimgesetz,
durch die Kontrolle und Transparenz für Verbraucherin-
nen und Verbraucher geschaffen wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben dafür im Bundesrat eine große Mehrheit ge-
funden.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Für das Heimgesetz!)


– Nein, wir haben im Bundesrat für beides eine große
Mehrheit gefunden.


(Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Nein! Das werden Sie sehen!)


Ich wünschte mir sehr, wir würden für das schrittweise
Vorgehen mit Plausibilität und Seriosität auch hier wei-
terhin eine gemeinsame Mehrheit finden.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417618500
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf
eines Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes auf Drucksa-
che 14/5395.

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6308 die
Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor, über den wir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa-
che 14/6329? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen
der PDS abgelehnt.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der

Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen
Fraktionen angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
mit demselben Stimmenverhältnis wie bei der vorherigen
Abstimmung angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Verbesserung der Leis-
tungen in der Pflege auf Drucksache 14/5547. Der Aus-
schuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/6308, den
Gesetzentwurf abzulehnen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion der CDU/CSU bei Enthaltung von
F.D.P. und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 d: Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU zur Zukunft der sozialen Pfle-
geversicherung, Drucksachen 14/3506 und 14/6308. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Was ist mit den
Grünen? –


(Heiterkeit – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Nein, zu spät!)


Ich frage erneut, wer für diese Beschlussempfehlung
stimmt. – Wer stimmt dagegen? –


(Heiterkeit – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Herr Präsident, die können nicht immer vor jeder Abstimmung geweckt werden! – Heiterkeit)


Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.

Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 14/4391 zur Weiterentwicklung der sozialen Pfle-
geversicherung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktio-
nen angenommen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/5590 und 14/6327 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis d auf:




Parl. Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch

17323


(C)



(D)



(A)



(B)


a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Erfolge und Defizite derWeltausstellung EXPO
2000
– Drucksachen 14/4956, 14/5344 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(21. Ausschuss)

Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den
Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch-
land nutzen
– Drucksachen 14/3374, 14/6332 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brähmig

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Haushaltsführung 2000
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 09 02
Titel 682 27 – Finanzierungsbeiträge an die
EXPO 2000 Hannover GmbH – sowie Erhö-
hung des Regressverzichts bei den gewährten
Bürgschaften an die EXPO 2000 Hannover
GmbH
– Drucksache 14/4008 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht über den Verlauf der Weltausstellung

(1. Juni bis 31. Oktober 2000)

– Drucksache 14/5883 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Herr
Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1417618600
Sehr geehrter Herr Prä-
sident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Es ist nicht
alles Gold, was glänzt“, sagt ein altes Sprichwort. Es trifft
auch auf die EXPO zu. Die EXPO war eine großartige
Werbung für Deutschland; das ist unbestritten. Deutsch-

land hat sich gerade bei dieser EXPO als weltoffenes,
attraktives und tolerantes Reiseland präsentiert. Aber die
Zahl der Besucher blieb unter den Erwartungen und der
Anteil ausländischer Besucher betrug nur 17 Prozent. Das
war ungefähr die Hälfte derer, die einige Jahre vorher zur
Weltausstellung nach Sevilla gekommen sind. Dies ist be-
sonders bemerkenswert, da sich 155 Länder auf der Aus-
stellung ein Stelldichein gaben.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade hinsicht-

lich der EXPO gab es viel negative Begleitmusik, hervor-
gerufen durch gravierende Mängel. Dadurch ist in der Öf-
fentlichkeit nicht das positive Bild entstanden, das hätte
entstehen müssen. So wirkte zum Beispiel die Ausstellung
„Mensch – Natur – Technik“ wie eine langweilige Lehr-
veranstaltung zur Ökosteuer. Zu hohe Eintrittspreise wa-
ren eine weitere Ursache dafür, dass der Zuspruch des
kleinen Mannes nicht so groß war, wie es an und für sich
hätte sein sollen.


(Monika Ganseforth [SPD]: Vor allen Dingen die Miesmacher aus Süddeutschland, aus Bayern!)


Familientarife haben wir erkämpfen müssen.

(Monika Ganseforth [SPD]: Gemeckert haben Sie!)

– Wir haben sie erkämpft; von selbst wäre man nicht da-
rauf gekommen. Von Ihnen, Frau Ganseforth, habe ich
diesbezüglich überhaupt keinen wesentlichen positiven
Beitrag dazu gehört, dass aus der EXPO etwas Vernünf-
tiges hätte werden können.

Die wirtschaftspolitische Bilanz dieser EXPO ist sehr,
sehr mager. Statt 40 Millionen wurden nur 18 Millionen
Tickets verkauft. Ein Defizit von sage und schreibe
2,32Milliarden DM ruft Heulen und Zähneknirschen her-
vor.

Die Verantwortlichen – das ist unbestritten festzustel-
len – haben die Wirklichkeit immer zurechtgebogen. Als
zum Beispiel die Prognosen für den Inlandsverkauf
zurückgingen, hat man das Planziel für den Auslandsver-
kauf einfach erhöht. Die Folge ist das gigantische Defizit,
von dem ich eben gesprochen habe.

Frau Kollegin Ganseforth, damit Sie es genau wissen:
2,32 Milliarden DM sind 2 320 Millionen DM.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417618700
Herr Kollege
Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ganseforth?


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1417618800
Selbstverständlich, gerne,
weil ich sie sehr, sehr schätze.


Prof. Monika Ganseforth (SPD):
Rede ID: ID1417618900
Herr Hinsken, halten Sie
es für eine richtige Planung, die Völker der Welt, 40 Mil-
lionen Menschen, einzuladen und keine Mark dazuzahlen
zu wollen?




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
17324


(C)



(D)



(A)



(B)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1417619000
Frau Kollegin Professor
Ganseforth, wenn 2 Milliarden DM Peanuts sind, wenn
ein solcher Betrag keine Rolle spielt, dann verstehe ich die
Welt nicht mehr. Reden Sie einmal mit Ihrem Finanzmi-
nister, der momentan als Pfennigfuchser durch die Lande
zieht!

Hier sind über 2 Milliarden DM ausgegeben worden,
ohne dass man sich vorher Gedanken darüber gemacht
hat, wie man vermeiden könnte, dass das Defizit insge-
samt zu groß wird. Das prangere ich hier zu Recht an, weil
diese 2,32 Milliarden DM zu guter Letzt nicht als Manna
vom Himmel kommen, sondern vom bundesrepublika-
nischen Steuerzahler erbracht werden müssen, unabhän-
gig davon, wo der Einzelne wohnt.


(Zuruf von der PDS: Und die Verwalterin war Ihre Frau Breuel!)


Verehrte Frau Präsidentin, bei der Beantwortung einer
Frage kann die Uhr nicht weiterlaufen. Ich war noch da-
bei, die Frage zu beantworten. Wenn sich die Fragestel-
lerin hinsetzt, brauche ich die Antwort nicht mehr zu Ende
zu führen. Das ist nicht fair. Auf diese Art und Weise wer-
den mir kostbare Minuten gestohlen.


(Unruhe)

Meine Damen und Herren, ich frage mich, wo bei die-

ser Angelegenheit der prominent besetzte Aufsichtsrat
war.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Richtig!)

Dieser Aufsichtsrat hat versagt. Das stelle nicht ich fest,
sondern das sagt sinngemäß der Niedersächsische Lan-
desrechnungshof.

Wo waren zum Beispiel die aufeinander folgenden Mi-
nisterpräsidenten, der jetzige Bundeskanzler Schröder,
Herr Glogowski und Herr Gabriel? An sechs von 14 Sit-
zungen haben sie überhaupt nicht teilgenommen. Sie ha-
ben, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt, „die Zei-
chen an der Wand ignoriert“.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie sollen hier nicht die Zeitung vorlesen! – Iris Gleicke [SPD]: Haltet den Dieb!)


Auch so kann man mit dem vom Steuerzahler aufge-
brachten Geld umgehen. Man kann sich in irgendein Gre-
mium wählen lassen und dann zu guter Letzt nicht anwe-
send sein.

Meine Damen und Herren, in Berlin hat man wegen
des Bankenskandals die Regierung gestürzt. Die SPD-
Verwaltungsräte verblieben hier in der Regierung, obwohl
sie versagt haben. Auch bei der EXPO haben führende
Genossen versagt. Sie werden in ihren Ämtern bleiben
und der Steuerzahler zahlt das Defizit.


(Susanne Kastner [SPD]: Frau Breuel nicht!)

Das ist, schlicht und einfach gesagt, eine Heuchelei, die
ich nicht nachvollziehen kann


(Susanne Kastner [SPD]: Frau Breuel bekommt Pension! Das ist viel Geld! Herr Hinsken, das ist unglaublich!)


und die an den Pranger gestellt gehört. Daraus sollen jetzt
vor allem diejenigen Konsequenzen ziehen, die für dieses
Defizit verantwortlich zeichnen.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie haben das Ganze angeleiert!)


Wir haben uns über das, was als Erfolg zu verzeichnen
war, gefreut, aber wir freuen uns nicht über das entstan-
dene Defizit.


(Susanne Kastner [SPD]: Sie haben das Defizit mit angeleiert!)


Dafür tragen mehr als sechs der zehn Aufsichtsratsmit-
glieder, die eingetragene Genossen sind, die Verantwor-
tung. Das muss dem Wähler draußen auch gesagt werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Monika Ganseforth [SPD]: Sie sind nur neidisch, weil es nicht in Bayern war! – Gegenruf des Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Da wäre es besser gelaufen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417619100
Das Wort hat der Par-
lamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1417619200
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Abgeordnete
Hinsken ist immer für eine lebhafte Debatte gut.


(Susanne Kastner [SPD]: Für eine schreckliche!)


Man muss nur die Dinge, die nicht ganz richtig sind,

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was ist nicht richtig?)

aus der Debatte herausnehmen.

Lieber Ernst Hinsken, zunächst einmal sollten wir ge-
meinsam feststellen: Die EXPO hat der Welt mit über
18 Millionen Besuchern und einem spannenden, interes-
santen Programm ein gutes Bild Deutschlands vermittelt.
Das ist ein Erfolg für Deutschland. Ich glaube, das sehen
Sie auch so.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417619300
Herr Staatssekretär,
Sie haben zwar den ersten Satz noch nicht beendet, aber
es gibt schon eine erste Frage des Kollegen Hinsken.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1417619400
Vielleicht darf
ich meinen zweiten und dritten Satz noch sagen. Ernst,
hast du eine Sekunde Geduld? Dann kannst du die Fragen
gleich stellen.

Die EXPO hat mit über 18 Millionen Besuchern eine
große Resonanz gefunden. Was ich besonders bemer-
kenswert finde, ist, dass 2 Millionen junge Leute dort wa-
ren. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Auch ein großer
Erfolg ist, dass 17 Prozent der Besucher aus dem Ausland






(C)



(D)



(A)



(B)


kamen. Wir haben mit dieser EXPO deutlich gemacht,
dass das moderne, wiedervereinigte Deutschland weltof-
fen ist, und gezeigt, dass wir neugierig sind und uns um
Fragen der Natur und der technologischen Entwicklung
kümmern. Wir haben die ganze Welt eingeladen, an die-
sen großen Zukunftsprojekten mitzuwirken. Wenn sich
jetzt die EXPO-Weltorganisation zum Ziel gesetzt hat,
diesen globalen Dialog, den wir in Hannover begonnen
haben, fortzusetzen, dann ist das, glaube ich, ein wichti-
ges Zeichen dafür, dass dieser globale Dialog in einer glo-
balen Welt mit dieser EXPO sehr gut gestartet worden ist.
Das sollte man auch einmal herausstellen. Es ist nämlich
nicht selbstverständlich, dass das auch gelingt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417619500
Herr Staatssekretär,
bevor sich der Kollege Hinsken die Beine in den Bauch
steht, möchte ich Sie an die Zwischenfrage erinnern.


(Zuruf von der CDU: Er ist schon kleiner geworden! – Heiterkeit)


S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1417619600
Ja, ich lasse sie
jetzt zu. Ich könnte das nicht verantworten.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1417619700
Frau Präsidentin, ich
darf mich zunächst für Ihre Fürsorge bedanken und auch
dafür, dass Sie den Redner noch einmal daran erinnert ha-
ben, dass er die Frage, die ich stellen möchte, zulassen
wollte.

Herr Staatssekretär Mosdorf, sind Sie bereit, nochmals
zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die inhaltliche Gestal-
tung der EXPO großartig fand?


(Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Frage?)


– Das ist die Frage. Passen Sie bitte auf! – Was ich ange-
prangert habe, waren vor allen Dingen die Zahlen. Sie ha-
ben mir unterstellt, dass ich keine richtigen Zahlen ge-
nannt bzw. keine richtigen Aussagen getroffen hätte.


(Susanne Kastner [SPD]: Wo ist die Frage? Das ist eine Kurzintervention!)


Ich habe ein Dokument dabei, nämlich einen Auszug
aus der „Süddeutschen Zeitung“, aus der ich eine Vielzahl
von Informationen bezogen habe. Ich meine, dass Sie
auch dieser Zeitung unterstellen müssten, dass sie nicht
richtig recherchiert habe; denn sonst hätte sie solche Zah-
len nicht veröffentlichen können.


(Susanne Kastner [SPD]: Frau Präsidentin, wo ist die Frage?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417619800
Laut Geschäftsord-
nung ist dies durchaus noch drin.

Herr Kollege Hinsken, würden Sie bitte eine Frage
stellen.

S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1417619900
Frau Präsiden-
tin, ich möchte die Bemerkung des Kollegen Hinsken in
eine Frage umwandeln: Der Kollege Hinsken wollte fra-
gen, ob ich denn glaube,


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


dass die „Süddeutsche Zeitung“ richtig recherchiert und
richtig festgestellt hat, dass die Aufsichtsräte nicht anwe-
send waren.

Lieber Kollege Hinsken, ich spreche für die Bundesre-
gierung. Ich muss auch einmal Kollege Rexrodt in Schutz
nehmen, der immer da war, genauso wie unser Wirt-
schaftsminister Müller. Dafür ist die Bundesregierung zu-
ständig. Ob sonst jemand gefehlt hat, habe ich nicht im
Kopf. Ich weiß auch nicht, wer gefehlt hat. Wenn die
„Süddeutsche Zeitung“ das berichtet, dann wird es – ich
möchte die vernünftige Recherche gar nicht bestreiten –
richtig sein. Die Bundesregierung war aber immer or-
dentlich vertreten, genauso wie ich als Mitglied des Auf-
sichtsrats des deutschen Pavillons. Wir, Rexrodt, Minister
Müller, sind also auf der richtigen Seite.

Ich komme jetzt zu den Zahlen:

(Susanne Kastner [SPD]: Sie können sich jetzt setzen, Herr Hinsken! – Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das brauche ich mir von Ihnen nicht sagen zu lassen, Frau Oberlehrerin!)


Ernst Hinsken hat gesagt, wir hätten viel zu hohe Preise
genommen. Gleichzeitig hat er aber das Defizit beklagt.
Das geht auch in deinem Backwarengeschäft nicht. Man
kann doch nicht sagen, die Preise waren zu hoch, und
gleichzeitig beklagt man sich über das Defizit.

Wir haben – Herr Hirche, Sie wissen das – große
Anstrengungen unternommen: Wir haben das Abend-
ticket und entsprechende Vergünstigungen für Familien
und für viele andere mehr, auch für Schüler, eingerichtet.
Dies hat auch einen positiven Effekt gehabt. Wir sind jetzt
in der glücklichen Lage, Ihnen mitteilen zu können, dass
nicht der „worst case“ mit einem Defizit von 2,4 Milli-
arden DM eingetreten ist, sondern dass wir von einem
Nettodefizit von 2,1 Milliarden DM ausgehen. Wir alle
wissen auch – das ist ein positives Ergebnis –, dass wir
etwa 2,7 Milliarden DM Steuermehreinnahmen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man darf nicht nur die Defizite betrachten, sondern muss
sich einmal die makroökonomische Gesamtbilanz an-
sehen.


(Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Jetzt nicht, ein andermal wieder, Herr Brähmig.
Darüber hinaus können wir feststellen, dass die Infra-

struktur, die für die EXPO aufgebaut wurde, dem Land
wirklich hilft und dass die Messestadt Hannover dank der




Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
17326


(C)



(D)



(A)



(B)


EXPO zu einer ersten Adresse für Weltmessen überhaupt
geworden ist. Insofern haben wir ein nachhaltiges Kon-
zept verfolgt und nicht nur eine kurzfristige Showmesse
durchgeführt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Messe wirkt gerade auch in den nächsten Jahren nach.
Deshalb sollten wir sie positiv bewerten.

Meine Damen und Herren, die Inhalte großer Messen
dieser Welt orientieren sich natürlich an neuen Prozessen
und neuen technologischen Entwicklungen. Wenn man
sich anschaut, welche Projekte auf dieser EXPO gezeigt
wurden, wie viele Länder dieser Welt sich engagiert ha-
ben und wie viele Nationen ihre eigenen Projekte präsen-
tiert haben – 155 Länder und 17 internationale Organisa-
tionen haben sich auf dieser großen EXPO präsentiert –,
dann erkennt man, dass wir als führendes Land in der
technologischen Entwicklung hier eine Chance genutzt
haben.

Die nach der EXPO weiter genutzte Infrastruktur hat
einen Wert von gut 1 Milliarde DM. Internationale Teil-
nehmer haben fast 1,5 Milliarden DM für den Bau ihrer
Pavillons ausgegeben, 80 Prozent dieser Pavillons werden
weiter genutzt; auch das ist eine wichtige Entscheidung
gewesen. Zugleich war das Thema „Mensch, Natur, Tech-
nik – eine neue Welt entsteht“ zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts ein anspruchsvolles Thema, das auch die Veranstal-
ter so ausgelegt haben. Das erkannte man an ihrem
Engagement.

Ich glaube, dass mit der EXPO auch ein Signal für den
Tourismus gesetzt wurde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im letzten Jahr gab es in diesem Bereich mit 108 Millio-
nen Gästen und 326 Millionen Übernachtungen ein Re-
kordergebnis für Deutschland. Das wissen wir alle. Die
Zahl der inländischen Gäste hat um 6 Prozent, die der aus-
ländischen Gäste um 11 Prozent zugelegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das heißt, die EXPO war ein wichtiges Signal eines offe-
nen Deutschlands an die Welt und hat neugierig gemacht.
Mit dem Jahr des Tourismus in diesem Jahr knüpfen wir
an die EXPO an; hiermit machen wir einen wichtigen
Schritt nach vorn. Deutschland muss auch in Zukunft eine
Zielregion für viele Besucher und für Leute, die sich für
Europa und für unser Land interessieren, sein. Die EXPO
war dafür ein wichtiger Türöffner. Wir werden sehen, die
Zahl der Touristen, die Deutschland besuchen, wird auch
in diesem Jahr enorm zunehmen. Das ist nicht nur für Ho-
tellerie und Gastronomie gut, sondern auch für unser An-
sehen in der Welt. Insofern war die EXPO ein großer Er-
folg.

Zwar rief die EXPO über viele Jahre auch Skepsis und
Kritik hervor, aber im Ergebnis – so habe ich auch Ernst
Hinsken verstanden – wird die EXPO als ein positives Er-
eignis in die Geschichte Deutschlands eingehen. Wir tun
jetzt alles, damit die Ergebnisse der EXPO auch positiv in
die Zukunft wirken. Das gilt auf alle Fälle für die aufge-

baute Infrastruktur. Wir sind aber auch dabei, das Defizit
so zu bearbeiten, dass wir damit umgehen können. Wir
warten noch die letzten Daten ab, aber dann werden ent-
sprechende Entscheidungen getroffen. Ich glaube, die
EXPO war ein Erfolg. Wir haben etwas riskiert und un-
ternommen. Von daher kann man sagen: Die Gesamtbi-
lanz der EXPO ist positiv.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417620000
Für die F.D.P.-Frak-
tion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1417620100
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Staatssekretär
Mosdorf, dem letzten Satz kann ich zustimmen: Das Ge-
samturteil über die EXPO ist sicherlich positiv. Die EXPO
hat Deutschland viel gebracht. Sie hat ohne jeden Zweifel
ein positives Bild vermittelt. Wer selbst bei der EXPO
war, konnte auch die wirklich gute Stimmung spüren, die
dort geherrscht hat. Darüber sind wir uns, so denke ich, in
diesem Hause alle einig.


(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Trotzdem muss kritisch nachgefragt werden, was nicht
so gelaufen ist, wie es hätte laufen können. Wir haben be-
reits die Zahlen gehört. Anstatt 40 Millionen Besucher
waren es am Schluss 18 Millionen Besucher. Es fehlten
die ausländischen Besucher. Natürlich muss jetzt kritisch
gefragt werden, worin die Fehler lagen.

Meine Damen und Herren, es gab ein EXPO-Manage-
ment mit Frau Breuel an der Spitze. Wenn solche Fehler
passieren, dann ist dafür natürlich zuallererst das Mana-
gement verantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Vorfeld gab es Dinge, die nach wie vor völlig un-
verständlich sind und nicht nachvollzogen werden kön-
nen. Die Besucherprognosen wurden rechtzeitig nach
unten korrigiert. Allerdings wurde nach wie vor mit
40 Millionen Besuchern kalkuliert. In den Sitzungen des
Tourismusausschusses konnten wir oftmals nicht glau-
ben, was uns präsentiert wurde. Einiges haben wir im
Ausschuss alle zusammen korrigiert. Ich erinnere an die
Schülertarife, die Familientarife und anderes, was sonst
wahrscheinlich erst recht schief gegangen wäre. Es gibt
allerdings ein Defizit von 2,4 Milliarden DM. Wenn man
die 200 Millionen DM, die Herr Wellensiek noch erwirt-
schaften will, abzieht, dann beträgt das Defizit 2,2 Milli-
arden DM. Das ist zu viel. Das durfte nicht passieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Mosdorf, interessant ist, dass Sie sagen, dass Ent-
scheidungen getroffen wurden. Mich würde allerdings in-
teressieren, welche Entscheidungen das sind. Mit wel-
chem Anteil wird sich der Bund beteiligen, fünfzig zu
fünfzig oder zwei Drittel zu einem Drittel? Es kann nicht




Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf

17327


(C)



(D)



(A)



(B)


sein, dass der Bundeskanzler und der niedersächsische
Ministerpräsident etwas ausmauscheln. Es gab klare Re-
geln. Diese müssen auch in dieser Situation gelten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht überhaupt nicht darum, Schuld zuzuweisen.
S
Siegmar Mosdorf (SPD):
Rede ID: ID1417620200



(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Mehrere!)

Wir haben relativ schnell nach Eröffnung der EXPO

gesehen, dass die Besucherzahlen weit unter dem pro-
gnostizierten Maß liegen. Die F.D.P. hat sehr früh bean-
tragt, 50 Millionen DM für zusätzliches Marketing zur
Verfügung zu stellen. Das wurde von Ihnen abgelehnt.
Das war der entscheidende Fehler.


(Beifall bei der F.D.P.)

Als Sie dann die 50 Millionen DM für die berühmte Wer-
bekampagne mit Verona Feldbusch zur Verfügung gestellt
haben, hat es etwas genützt. Es kam allerdings zu spät.
Das ist der Fehler, den die Bundesregierung gemacht hat.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Susanne Kastner [SPD])


– Nein, es lag an den Finanzen. – Es gab einen zweiten
Fehler. Wir wissen heute genau, dass das Management die
Werbekampagne wollte. Man durfte es aber nicht offen
fordern. Das war damals die Krux.

Lieber Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, dass die
EXPO für den Deutschlandtourismus positiv war, dann
stimmt das zwar. Aber der Erfolg hätte viel größer sein
können.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Müssen!)

Ich bemängele heute nach wie vor, dass es nicht gelun-

gen ist, die EXPO mit dem Deutschlandtourismus insge-
samt zu verknüpfen, nämlich Leute von anderen Ländern
zu uns zu holen und sie dazu zu bringen, in Verbindung
mit dem EXPO-Besuch einen Urlaub in Deutschland zu
machen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das waren die Versäumnisse. Wenn wir heute über
Konsequenzen reden, dann ist es erforderlich, dass auch
die Regierung sagt: Ja, wir haben einen Fehler gemacht. –
Wir müssen bei künftigen Ereignissen – ich denke an die
Fußballweltmeisterschaft und an andere Großveranstal-
tungen – den Mut haben, Geld in die Hand zu nehmen –
das würde jeder Betrieb machen –, um das Marketing zu
verstärken. Außerdem müssen wir im Deutschlandtouris-
mus vernetzte Angebote schaffen und solche Großveran-
staltungen nutzen, damit Menschen aus anderen Ländern
zu uns kommen, Deutschland kennen lernen und ein we-
nig Geld hier lassen. Hierdurch könnte der Erfolg noch
viel größer werden.


(Beifall bei der F.D.P.)


Zum Schluss: Es geht nicht um irgendwelche partei-
politischen Auseinandersetzungen, sondern darum, dass
man Fehler klar aufzeigt und daraus Konsequenzen zieht.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417620300
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Sylvia Voß von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417620400
Sehr ge-
ehrte Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnetenkollegen!
Die CDU/CSU hat offensichtlich ein seliges und glückli-
ches Gedächtnis. Nach der Rede von Herrn Hinsken kann
einem das jedenfalls so vorkommen. Ich kann Herrn
Burgbacher nur zustimmen, dass wir hier etwas kritisch
hinterfragen müssen. Deswegen spreche ich auch noch
einmal das Gedächtnis an, Herr Hinsken.

Es gab ein hässliches Entlein, das dann doch noch zu
einem schönen Schwan wurde. Die CDU/CSU und die
F.D.P. bemühten sich damals, das Ei EXPO nach Deutsch-
land zu bekommen, haben sich dann aber beim Bebrüten
wie die Rabeneltern benommen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Völliger Quatsch!)


In den ersten Jahren nach dem Zuschlag hat nämlich die
Kohl-Regierung kaum ein nennenswertes Engagement
für dieses Projekt EXPO entwickelt.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist doch überhaupt nicht wahr! Wenn sich jemand engagiert hat, waren wir das! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das sind Märchen!)


Die Wirtschaft gründete erst 1993 die EXPO-Beteili-
gungsgesellschaft. – Genau! Sie erzählen sogar Märchen.
Deswegen erzähle ich Ihnen jetzt das vom hässlichen Ent-
lein.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Eine Märchentante sind Sie!)


Die Folge dieser späten Gründung und des späten En-
gagements der CDU/CSU-Regierung war, dass die EXPO
GmbH und ihr Management jenseits jeder Entschei-
dungsstruktur der Parlamente angesiedelt waren. Es war
eine privatrechtliche GmbH. Sie sind ohnehin immer so
veranlagt, dann, wenn es Ihnen passt, etwas zu privatisie-
ren, und wenn etwas privatisiert ist, zu fragen: Wo bleibt
der Staat?


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Hauptsache Marktwirtschaft! Das ist doch das Entscheidende!)


Genau das war Ihr Fehler!
Es gab ebenso falsche Berechnungen der Besucher-

zahlen. Das haben Sie selbst im Ausschuss immer ange-
prangert. Deswegen können Sie jetzt hier so viel schreien,
wie Sie wollen. Die Besucherzahlen waren einfach falsch
berechnet. Es waren zu viele berechnet. Wer selbst auf der
EXPO war – wir vom Ausschuss waren mehrfach dort –,




Ernst Burgbacher
17328


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(D)



(A)



(B)


kann sagen: Im Juni 2000 war es noch ziemlich ange-
nehm. Da waren aber die Besucherzahlen noch so niedrig,
dass sie stark beklagt worden sind.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da haben wir eine Werbekampagne gemacht, und dann ging das nach vorn los!)


Es war ein angenehmes Wandern. Es gab wenig Ge-
dränge, und man brauchte sich nicht so lange anzustellen.
An und für sich waren das die richtigen Besucherzahlen
für ein Wohlfühlen auf der EXPO.

Im letzten Monat hatten wir dann 160 000 Besucher.
Da war es schon weniger angenehm; da gab es nämlich
mächtig viel Gedränge und ganz lange Warteschlangen,
sodass man sagen kann: Wenn man so hohe Besucherzah-
len zugrunde legt, ist man nicht davon ausgegangen, dass
sich dann auch ein Besucher auf einer solchen Ausstel-
lung wohlfühlen kann.

Alle diese Fehler – Berechnung, Management, Wer-
bung und Verkauf – waren solche, die schon unter Ihrer
Ägide installiert worden sind


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Völliger Quatsch!)


und die uns sozusagen ein krankes Entlein EXPO hinter-
lassen haben.

Wir haben uns als Ausschuss gemeinsam bemüht – das
wissen Sie auch ganz genau –, dieses kranke Entlein mit
vereinten Kräften doch gesunden zu lassen, und haben es
auch geschafft, dass es gesünder und kräftiger wurde.


(Zuruf von der PDS: Die Grünen als die Retter der EXPO?)


– Ich rede nicht von den Grünen. Ich habe gesagt: der Aus-
schuss gemeinsam. Bitte genau hinhören!

Wir haben es also geschafft, dass aus diesem häss-
lichen Entlein doch noch ein schöner Schwan geworden
ist. Wir haben es tatsächlich geschafft – das haben alle bis-
herigen Redner auch schon betont –, hiermit Deutschland
etwas für die Welt zu bescheren: ein weltoffenes Fest der
Völkerverständigung. Und was bleibt davon? Nicht nur
die Begeisterung aller, die dort waren, die auch mehrfach
hingefahren sind, weil es dort eben so schön war, sondern
es bleibt erstens ein weltweit schönes und fröhliches
Deutschlandbild, das die internationalen Besucher mit
nach Hause genommen haben. Auch leben heute noch
Spuren der weltweiten EXPO-Projekte: Wiederauffors-
tung im tropischen Regenwald, durch medizinische For-
schungsprojekte, durch Jugendhilfeprojekte in der Welt,
durch Umwelttechnikprojekte in der Dritten Welt. Es gab
auch Projekte speziell für die indigenen Völker.

Insofern kann man sagen: Die EXPO lebt weiter, und
das ist ein hervorragender Effekt, den wir mit angescho-
ben haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist außerdem auch zu einer Bereicherung der deut-
schen Kulturlandschaft gekommen. Das darf man auch
nicht vergessen! Wir haben jetzt eine Preussag-Arena, in

der man hervorragende Veranstaltungen durchführen
kann. Auch dorthin können viele Leute aus ganz Europa
und der Welt zu kulturellen oder sportlichen Veranstal-
tungen kommen. Wir haben ein Europahaus mit einer sehr
großen Fläche, in das jetzt zum Beispiel arg bedrängte
Hochschulen einziehen können und Studenten endlich
einmal bessere Möglichkeiten für ihr Studium haben. So
haben wir auch noch andere wunderbare Dinge, die wir
von der EXPO in Deutschland nachnutzen und durch die
die EXPO weiterlebt.

Ich möchte hier auch noch einmal die wirklich gut ge-
lungenen 280 dezentralen Projekte hervorheben, die den
gesamten deutschen Raum, alle Bundesländer, alle Re-
gionen bis heute bereichern. Das ist meiner Meinung nach
auch ein sehr positiver Effekt der EXPO für unser eigenes
Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was lehrt uns jetzt all das, was wir, auch im Ausschuss,
immer wieder an Kritik am Management und an dem, was
ich auch in Ihre Richtung sagen muss, angebracht haben? –
Wenn man etwas will, dann muss man es ganz wollen.
Man hätte also schon Ihre anfänglichen Brutfehler besei-
tigen müssen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dafür sind wir als Abgeordnete doch gar nicht zuständig! Das ist doch völliger Quatsch!)


– Sie haben selbst immer beklagt, dass wir immer nur zu-
füttern dürfen, aber selbst in die Entscheidungen wenig
eingreifen können. Also bitte!


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wir haben aber sehr frühzeitig kritisiert! Erst sehr viel später ist das umgesetzt worden!)


Wenn man sich ein Ei ins Nest holt, dann muss man
auch für die Entwicklung sorgen. Das haben Sie nicht ge-
tan. Sie haben das Konzept angelegt. Deswegen fassen
Sie sich doch endlich einmal an Ihre eigene Nase und kri-
tisieren Sie nicht ständig an uns herum. Wir haben, wie
gesagt, die Fehler, die wir entdeckt haben, gemeinsam zu
beseitigen versucht. Dadurch ist die EXPO noch ein her-
vorragender Erfolg geworden und aus diesem hässlichen
Entlein wurde der schöne Schwan, den wir uns gewünscht
hatten und dessen Wirkungen wir jetzt in Deutschland und
in der ganzen Welt weiterhin haben.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417620500
Jetzt spricht die Kol-
legin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1417620600
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich würde sagen, wir kommen
jetzt auf den Boden der Tatsachen zurück und versuchen,
dem Vorwort des Berichts der Bundesregierung, in dem es
heißt: „Die EXPO 2000 war eine gelungene Inszenie-
rung“, einmal etwas auf den Zahn zu fühlen. Dem Wort




Sylvia Voß

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(C)



(D)



(A)



(B)


„Inszenierung“, Herr Staatssekretär, kann ich durchaus
zustimmen, doch mit dem Begriff „gelungen“ habe ich
große Schwierigkeiten. Da wir hier jetzt eine Märchen-
stunde haben, denke ich, wir sollten etwas konkret wer-
den. Vergleichen wir die hehren Ziele und Versprechun-
gen im Vorfeld, die Intendanten dieser Inszenierung wie
Frau Breuel – oder, im Sprachgebrauch des Kollegen
Hinsken, „führende Genossen“ – gemacht haben,


(Brunhilde Irber [SPD]: Frau Breuel ist keine Genossin!)


mit dem, was unter dem Strich herausgekommen ist, dann
bleibt der herbe Beigeschmack, der bereits im Vorfeld ent-
standen war und der die EXPO die ganze Zeit über be-
gleitet hat.

Dementsprechend lustlos fällt auch die Bilanz der Bun-
desregierung aus. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, die
18,1 Millionen verkaufter Tickets in Tages- und Abendkar-
ten zu unterteilen. Eine Bewertung der inhaltlichen Präsen-
tation der Länderpavillons und Projekte der teilnehmenden
Staaten fehlt in der Bilanz gänzlich. Hier findet man ledig-
lich einen Hinweis auf „lateinamerikanische Tänze,
fernöstliche Kunst oder afrikanische Musik“. Ausführlich
wird lediglich die eigene Präsentation abgefeiert: der Deut-
sche Pavillon und die verschiedenen Themenparks. Doch
wer lange genug sucht, findet sogar ein paar Zeilen zur Ent-
wicklungspolitik, zum „global dialogue“ und ein paar
Hinweise auf einige wenige der 218 dezentralen Projekte
außerhalb des hannoverschen EXPO-Geländes.

Dass die EXPO unter dem Motto „Mensch – Natur –
Technik“ stand, scheinen die Autoren der Bilanz ebenso
vergessen zu haben wie das Wort Nachhaltigkeit. Erst in
der abschließenden Betrachtung heißt es:

Die EXPO 2000 stand unter dem Leitthema
„Mensch, Natur, Technik – eine neue Welt entsteht“.

Erst dort findet sich ein Hinweis auf die Agenda 21. Im-
merhin war Bundesumweltminister Trittin von Anfang an
schlau genug, sich erst gar nicht an der EXPO zu beteili-
gen. So muss er heute auch keine Kritik einstecken. Die
Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 21 für die ökonomi-
schen, sozialen und ökologischen Handlungsoptionen zu-
gunsten einer Eine-Welt-Politik blieb und bleibt aus.

Doch nachhaltig wirken sich die finanziellen Verluste
insbesondere für das Land Niedersachsen sowie die nie-
dersächsischen Städte und Gemeinden aus. Nachhaltig
sind die Verluste für Gastronomiebetreiber, die zum Teil
Konkurs anmelden mussten, weil die versprochenen Be-
sucherzahlen nicht erreicht wurden. Nachhaltig wirkt sich
natürlich der Autobahnbau aus. Allerdings vermissen wir
auch hier die ökologische Lenkungswirkung, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen. Nachhaltig ist auch
der Bau des EXPO-Knastes am Flughafen Langenhagen,
der zum Abschiebeknast umgewandelt wurde. Diese
Nachhaltigkeit hat einen sehr herben Beigeschmack.

Eine mögliche positive Nachhaltigkeit durch die dau-
erhafte Weiterfinanzierung sinnvoller Projekte bleibt lei-
der aus. Stattdessen werden viele Regionen mit ihren Pro-
jekten heute allein gelassen.


(Brunhilde Irber [SPD]: Sie verschließen die Augen vor der Realität!)


Der letzte Absatz des Berichts der Bundesregierung
macht deutlich, worum es den Intendanten der EXPO
ging. Dort heißt es:

Es bleibt festzustellen, dass die EXPO 2000 die mit
ihr verbundenen qualitativen Ziele in vollem Um-
fang erreicht hat und insgesamt ein großer Erfolg
war: Zufriedene Besucher, ein Gewinn für den Stand-
ort Deutschland, eine Aufwertung des Messeplatzes
Hannover...

Dieses Ziel hat Frau Breuel mehr oder weniger erreicht.
Doch unter einer „gelungenen Inszenierung“ hätten wir
erwartet, dass das anspruchsvolle Thema „Mensch – Na-
tur – Technik“ qualitativ mit Inhalten gefüllt wird und
Lösungsansätze für einen ökologischen und sozialen Um-
bau, für eine gerechte Weltwirtschaftspolitik und letzt
endlich für einen Ausgleich zwischen Industriestaaten
und der so genannten Dritten Welt aufgezeigt werden.

Unter dem Strich bleibt mir nur zu sagen; Kolleginnen
und Kollegen von der CDU im Hause, Frau Breuel:
Thema verfehlt! Ungenügend! Eigentlich müsste Frau
Breuel, wenn sie Anstand genug hätte, einen Teil ihres
Honorars zurückzahlen.


(Beifall bei der PDS – Klaus Brähmig [CDU/ CSU]: Die PDS war gegen die EXPO!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417620700
Jetzt spricht die Kol-
legin Birgit Roth für die SPD-Fraktion.


Birgit Roth (SPD):
Rede ID: ID1417620800
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die
EXPO 2000 war schon des Öfteren unser Thema: im Tou-
rismusausschuss, im Haushaltsausschuss, in anderen Aus-
schüssen, aber selbstverständlich auch hier, im Plenum
des Deutschen Bundestages.

Wir alle sind uns darüber im Klaren, dass Fehler ge-
macht worden sind; aber es waren in erster Linie ekla-
tante, gravierende Managementfehler.Herr Hinsken, ich
möchte auf einen Punkt eingehen, den Sie gleich am An-
fang angesprochen haben. Der Schwerpunkt Ihrer Kritik
lag aber auf der angeblich mangelnden Kontrolle durch
den Aufsichtsrat. Da muss ich Ihnen ganz klar sagen,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, so einfach können Sie es sich wahrhaft nicht
machen. Selbst die F.D.P. hat das bestätigt: Es waren in
erster Linie Managementfehler.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


An diesem Punkt finde ich Ihre Kritik überzogen.
Ich hatte mehr erwartet, nämlich dass von Ihrer Seite

eine Sachanalyse und sachliche Kritik kommen und nicht
irgendwelche parteipolitischen Spielchen. Erinnern wir
uns doch einmal ein bisschen: Wie war es denn 1987? Da
hat die niedersächsische Finanzministerin – damals Birgit
Breuel – zusammen mit dem Ministerpräsidenten – da-
mals Albrecht von der CDU – und dem Bundeskanzler –
damals Helmut Kohl von der CDU – die EXPO angewor-
ben.




Heidi Lippmann
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(C)



(D)



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(B)


Ich finde es nicht fair, wenn jetzt auf diese Art und
Weise parteipolitisch aufgerechnet wird. Wir sollten ganz
klar sehen: Die Defizite lagen im Managementbereich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Quatsch! Völliger Quatsch!)


Und die hat die EXPO-GmbH verursacht, bei der Frau
Breuel und Herr Volk den Vorsitz innehatten.

Sowohl Frau Breuel als auch Herr Volk mussten uns
des Öfteren bei Anhörungen im Ausschuss Rede und Ant-
wort stehen. Ich glaube, wir waren parteiübergreifend der
Meinung, dass sie das mehr schlecht als recht getan ha-
ben. Doch Sie führen jetzt im Nachhinein eine parteipoli-
tisch motivierte Diskussion. Wir beziehen unsere Kritik
ganz klar auf die sachliche Ebene.

Herr Burgbacher hat es bereits angesprochen: Die Feh-
ler lagen in erster Linie im Werbekonzept, in der Ver-
marktungsstrategie, im Ticketing. Vor allem ist die touris-
tische Positionierung der EXPO 2000 im Kontext
Deutschlands eigentlich gar nicht erfolgt. Wir haben die
Werbestrategie bemängelt, die die Zielgruppe, die breite
Masse, im Grunde genommen gar nicht erreicht hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie war abgehoben und wurde nur schlecht verstanden.
Herr Burgbacher, Sie haben gesagt, die 50 Milli-

onen DM für den Werbeetat seien erst viel zu spät, näm-
lich nachträglich, bewilligt worden.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Ja! Das war euer Fehler!)


Da kann ich Ihnen nur sagen: Hätten wir dies gleich am
Anfang getan, dann wäre die EXPO noch weitaus mehr
heruntergeredet worden, als es sowieso leider schon der
Fall war.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Warum haben Sie denn abgelehnt? Wir haben doch den Vorschlag gemacht!)


Doch ich stehe hier, um die Vorteile und die positiven
Errungenschaften zu nennen, die Niedersachsen und die
Stadt Hannover, aber auch Deutschland insgesamt von der
EXPO 2000 gehabt haben. Wir hatten 18 Millionen Besu-
cher auf der EXPO, die sich gerade auch die Themenparke
angeschaut haben. 155 Nationen haben sich präsentiert.
Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Lippmann, finde ich, dass
dort ein faszinierendes Kulturprogramm geboten
wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist unfassbar! Sie dreht alles um!)


Die EXPO 2000 hat sicherlich auch einen weiteren,
vielleicht nur ganz kleinen Schritt in Richtung Weltoffen-
heit, in Richtung Toleranz, aber auch in Richtung Integra-
tion gemacht. Wenn es auch nur ein kleiner war, muss ich
Ihnen sagen: Ich finde es richtig.

Die EXPO 2000 hat sicherlich auch den Standort Han-
nover als Messestadt und den Standort Deutschland ge-
stärkt. Auch dafür gebührt ihr unsere Anerkennung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Im Gegensatz zu Ihnen finde ich, dass durch die The-
menparke das Thema Nachhaltigkeit wirklich gut aufge-
arbeitet wurde.


(Heidi Lippmann [PDS]: Aber die EXPO hatte keine Nachhaltigkeit!)


Wir haben darüber geredet: Wie will der Mensch leben,
nicht nur morgen, sondern auch in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten? Es sind wegweisende Botschaften von
der EXPO ausgegangen, von denen wir in den nächsten
Jahren sicherlich profitieren werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Hinsken, noch einmal zur finanziellen Situation:

Sie haben gesagt, es sei ein Defizit von 2,3Milliarden DM
entstanden. Darin muss ich Ihnen – leider – zustimmen.
Aber ich bitte darum, dass nicht nur die Seite mit den
Defiziten dargestellt wird, sondern dass man auch die an-
dere Seite sieht: Inwiefern haben Hannover, die Umge-
bung von Hannover und das Land Niedersachsen profi-
tiert? Die Infrastrukturmaßnahmen sind nicht nur für
einen Tag gebaut worden, sondern es sind dort dauerhafte
Maßnahmen getroffen sowie Institutionen und Einrich-
tungen geschaffen worden, von denen wir noch Jahre und
Jahrzehnte profitieren werden.

Allein in das Messegelände wurden 528Millionen DM
investiert, in Hallenneubauten und Erweiterungsbauten
285 Millionen DM, von denen die Messegesellschaft in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten profitieren wird,
ganz abgesehen von den technischen Innovationen in
Höhe von 106 Millionen DM. Auch in Grün- und Frei-
zeitanlagen, die alle erhalten bleiben, sind 68 Milli-
onen DM investiert worden, um hier nur einige Beispiele
zu geben.

Deswegen muss ich sagen: Ja, die EXPO hat Defizite
gemacht, sicherlich viel mehr, als wir befürchtet hatten.
Aber die qualitativen Ziele der EXPO 2000 sind erreicht,
indem das Leitthema „Mensch – Natur – Technik“ und
Nachhaltigkeit wirklich aufgearbeitet worden ist, indem
es eine Ausstellungs- und Diskussionsplattform gegeben
hat und die Botschaften über die Zeit hinaus präsent sein
werden. Nehmen Sie zum Beispiel das internationale
Weltausstellungsbüro in Japan. Es wird wahrscheinlich so
sein, dass diese Idee der weltweiten dezentralen Pro-
jekte – Sie haben es selber gesagt, es waren über 200 –
aufgegriffen wird und dass andere Staaten die Idee nach-
ahmen, um nicht nur eine Stadt, sondern auch das Umland
und die Regionen insgesamt mit einzubeziehen.

Insofern schließe ich mich der Bilanz des Staatsse-
kretärs an: Der Standort Deutschland und gerade auch der
Messestandort Hannover haben durch die Weltausstel-
lung 2000 ganz klar gewonnen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Birgit Roth (Speyer)


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(A)



(B)


Wir haben unsere Leistungsfähigkeit und insbesondere
unsere Lösungskompetenz präsentiert. Ich glaube, dass
sich viele Dinge, die die EXPO 2000 gebracht hat, nicht
durch Zahlen aufzeigen lassen. Manchmal lässt sich ein
Gewinn eben nicht in Zahlen verdeutlichen. Insofern zie-
hen wir von unserer Seite ganz klar eine positive Bilanz.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417620900
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der Kollege Klaus Brähmig für die
CDU/CSU-Fraktion.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1417621000
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Bühne frei“ hieß es
vor fast 13 Monaten in Hannover bei der Eröffnung der
ersten Weltausstellung auf deutschem Boden. „Manege
frei“ lautet anscheinend das Motto der heutigen Plenarde-
batte.

Diesen Eindruck vermitteln mir zumindest die Zauber-
künstler und Finanzjongleure der rot-grünen Bundesre-
gierung.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In dem Bericht der Bundesregierung über den Verlauf der
EXPO heißt es, die EXPO 2000 sei eine „gelungene Ins-
zenierung“ gewesen. Darauf stellt sich für mich die Frage:
Was gehört zu einer gelungenen Inszenierung? Eine ge-
lungene Inszenierung bedeutet im Normalfall ein volles
Haus und volle Kassen.

Frau Roth, ich weise darauf hin, dass es zu einfach ist,
die Verantwortung für all das, was in den nächsten Mona-
ten noch zu klären ist, auf die Geschäftsleitung abzuwäl-
zen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass uns Herr Volk
und Frau Breuel immer wieder darauf hingewiesen haben,
dass der Aufsichtsrat sowie die Bundesregierung für die
dringend notwendigen Entscheidungen leider nicht das
notwendige grüne Licht gegeben haben.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Sie haben versagt!)


Das Defizit von 2,4 Milliarden DM und eine Besucher-
zahl von nur 18,1 Millionen widerlegen die These von der
gelungenen Inszenierung. Im Vorfeld wurde eine Besu-
cherzahl von 40 Millionen Menschen prognostiziert, die
für eine nahezu ausgeglichene Bilanz am Ende der
EXPO 2000 sorgen sollte.

Warum wurde das national und international aner-
kannte gute Projekt nicht besser in Szene gesetzt? Schon
im Vorfeld der EXPO-Eröffnung zeigte der schleppende
Kartenvorverkauf dringenden Handlungsbedarf im Be-
reich Marketing.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das ist richtig! Das war ein Fehler!)


Schon damals hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus
Verantwortung für einen erfolgreichen Verlauf der Welt-

ausstellung eine deutliche Erhöhung der Marketingmittel
eingefordert.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig! Jawohl!)

Die rot-grüne Bundesregierung schenkte diesen Forde-

rungen kein Gehör. Am 8. Juni 2000, also nach der EXPO-
Eröffnung, forderte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hier im Bundestag aufgrund der schlechten Vorverkaufs-
und Besucherzahlen eine Erhöhung der Marketingmit-
tel um 50 Millionen DM. Branchenkenner aus dem Tou-
rismus sahen in dieser Forderung den Königsweg für ein
Plus bei den Besucherzahlen. Sie, sehr geehrte Frau Roth,
haben mich damals in Ihrer Rede für diese Forderung mit
Häme überschüttet. Die Debatte war nach Ihrer damaligen
Ansicht unnötig. Sie appellierten an das Verantwortungs-
gefühl gegenüber dem Steuerzahler und zweifelten an
meinen „hellseherischen Fähigkeiten“.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So war es! – Susanne Kastner [SPD]: Und jetzt sind Sie beleidigt!)


Dabei vergaßen Sie, dass ich mir als Ostdeutscher ein
gesundes Maß an Skepsis und Realismus in Bezug auf
Planzahlen bewahrt habe. Meine Aussagen haben sich
später voll bewahrheitet und meine Forderungen wurden
erfüllt. Zwei Monate später wurde unserem Drängen
nachgegeben und sogar 70 Millionen DM für eine zweite
Marketingkampagne zur Verfügung gestellt.

Rasant stiegen die Besucherzahlen, doch die Maßnah-
men kamen zu spät, um das Einnahmendefizit entschei-
dend zu minimieren. Meine Vorredner sind darauf schon
eingegangen.

Meine Damen und Herren, bei Gesamtausgaben von
10,5 Milliarden DM für die Expo 2000 wurden in zwei
Stufen nur circa 140 Millionen DM für die Vermarktung
Ihrer „gelungenen Inszenierung“ ausgegeben.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417621100
Herr Kollege Brähmig,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1417621200
Ja.


Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1417621300
Herr Kollege Brähmig, Sie
haben in Ihrem Beitrag die Versäumnisse der Bundesre-
gierung angeprangert. Bis 1997 hat das Management der
Expo, das vom damaligen Ministerpräsidenten Albrecht,
bekanntlich CDU, und Bundeskanzler Kohl eingesetzt
wurde,


(Zuruf von der F.D.P.: Das ist falsch!)

mehrmals gewechselt.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das Management ist von Schröder und Kohl gemeinsam eingesetzt worden!)


– Schröder war aber damals noch nicht Ministerpräsident,
Herr Hirche. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Aber
jetzt bin ich dran. Sie können später selbst eine Frage stel-
len.




Birgit Roth (Speyer)

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(D)



(A)



(B)


Ich möchte von Ihnen gern wissen, ob Sie glauben,
dass die Maßnahmen, die in der Zeit ab Mitte 1998/1999
getroffen wurden, die Fehler der Jahre 1990 bis 1997, in
denen wirklich die Geschäftsführer, die Sprecher, die Ma-
nager – –


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die Frage!)

– Ich sagte ja: Glauben Sie wirklich, dass die Maßnahmen
ausgereicht hätten, um die Versäumnisse dieser sieben
Jahre wettzumachen?


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1417621400
Frau Kollegin Irber, ich
glaube, wir sind uns darin einig – das haben wir im Aus-
schuss im Konsens debattiert –, dass es an dem Produkt
– ich habe schon versucht, das darzustellen – trotz des
Wechsels von Personen und auch bei den Strukturen nicht
gemangelt hat. Es hat vielmehr eindeutig Mängel in der
Vermarktung gegeben. Das sagt jeder, der sich mit der
Sache beschäftigt.

Wir haben ausreichend und recht frühzeitig darauf hin-
gewiesen. Wir sind auch auf Initiative unseres Ausschuss-
vorsitzenden, Herrn Kollegen Hinsken, mehrfach in Han-
nover gewesen und haben uns dort an hochkarätiger Stelle
informiert. Wir haben die Verantwortungsträger nach
Bonn und nach Berlin eingeladen. Wir haben mit der BCG
über das Auslandsmarketing verhandelt.

Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass all das, was
gesagt worden ist, nicht umgesetzt worden ist; ob das
Norwegen, Schweden, Österreich oder die Schweiz be-
trifft, überall Fehlanzeige.


(Susanne Kastner [SPD]: Wer war daran wohl schuld?)


Eine Expo kann nur letztendlich funktionieren – das ist
uns allen klar –, wenn ein Mix aus internationalen und
einheimischen Gästen – wie es in Sevilla der Fall war und
wie es, da bin ich sicher, in den nächsten Jahren auch in
Japan gelingen wird – ein solches Event besucht.


(Brunhilde Irber [SPD]: Das ist keine Antwort auf meine Frage!)


Dies war bei uns nicht der Fall. Das können Sie nicht ab-
streiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, von der Marketingsumme

in Höhe von 140 Millionen DM gingen nur
38 Millionen DM in die Auslandsvermarktung – kein
Wunder, dass nur 17 Prozent der Besucher aus dem kauf-
kraftstarken Ausland den Weg nach Hannover fanden. Bei
der Weltausstellung in Sevilla betrug der Anteil der aus-
ländischen Besucher noch 34 Prozent.

Was ich jetzt sage, tut mir zwar Leid, aber es ist der
Sachverhalt: Auf diese Weise degenerierte die Weltaus-
stellung in Hannover zu einer größtenteils norddeut-
schen Nabelschau.


(Brunhilde Irber [SPD]: Na, na!)


Die große Chance, das wiedervereinte Deutschland als
gastfreundliche, innovative und moderne Kulturnation
auf die Weltbühne zu rücken, wurde unzureichend ge-
nutzt.

Ich frage Sie, Frau Roth: Sind Sie bereit, eine Teilver-
antwortung für das Defizit von 2,4 Milliarden DM gegen-
über dem Steuerzahler zu übernehmen?


(Susanne Kastner [SPD]: Das waren 2,1 Milliarden DM, Herr Brähmig! Das werden bei Ihnen immer mehr! – Gegenruf der Abgeordneten Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann nicht rechnen! – Zuruf von der CDU/CSU: Frau Breuel war im Ausschuss sehr gut! Sie hat immer sehr viel hinterfragt!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417621500
Herr Kollege
Brähmig, Sie haben zwar Frau Roth gefragt, aber Frau
Roth hat jetzt eine Frage an Sie. Gestatten Sie die?


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1417621600
Ja. Die eine noch, dann
ist Schluss.


Birgit Roth (SPD):
Rede ID: ID1417621700
Herr Kollege Brähmig,
Sie haben eben die Expo als norddeutsche Nabelschau be-
zeichnet. Glauben Sie wirklich, dass dieses Nachkarten
nach einem Dreivierteljahr dem Standort Deutschland
oder dem Messestandort Hannover in irgendeiner Weise
zuträglich ist?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es geht um Steuergelder!)



Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1417621800
Sie werden nicht ab-
streiten können, dass der Sachverhalt, den ich mit diesen
Worten beschrieben habe, durchaus zutrifft, wenn Sie sich
die Struktur der Besucherströme anschauen, die im We-
sentlichen aus dem Raum Hannover, aus Hamburg, aus
Sachsen-Anhalt und aus Niedersachsen kamen.


(Zuruf von der SPD)

Darüber kann man sicherlich streiten. Ich lasse diese Aus-
sage mal so im Raume stehen.


(Heidi Lippmann [PDS]: Hatte Potsdam die EXPO 2000? – Susanne Kastner [SPD]: Ist es nun zuträglich oder nicht, Herr Brähmig?)


Was fehlte der EXPO 2000 weiterhin, um ein Zuschau-
ermagnet zu sein? Meines Erachtens fehlte ihr ein iden-
titätsstiftendes Symbol wie der Eiffelturm in Paris oder das
Atomium in Brüssel, das die Thematik „Mensch – Na-
tur – Technik“ bildhaft veranschaulicht.

Im Transrapid schlummerte dieses Potenzial.

(Lachen bei der SPD – Susanne Kastner [SPD]: Sehr mutig!)

Der moderne Mensch wird von Mobilität, Flexibilität und
schneller Kommunikation bestimmt. Der Transrapid ver-
ursacht keine klimagefährdenden Emissionen und ist im




Klaus Brähmig

17333


(C)



(D)



(A)



(B)


Vergleich zu anderen Verkehrssystemen im Hinblick auf
den Flächenverbrauch genügsam.


(Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU] – Susanne Kastner [SPD]: Jetzt wird es echt fröhlich!)


Der Transrapid stellt zurzeit wie kaum ein anderes
deutsches Produkt die technische Leistungsfähigkeit un-
serer Volkswirtschaft dar. Leider hat die rot-grüne Bun-
desregierung unseren Vorschlag zum Spatenstich bzw.
zum Startschuss für die erste Transrapidstrecke auf deut-
schem Boden während der EXPO 2000 nicht umgesetzt,
obwohl das Land Niedersachsen – SPD-regiert – den
Transrapid als weltweites EXPO-Projekt angemeldet
hatte. Die Kollegen in Niedersachsen, auch die der SPD,
wären natürlich sehr erfreut gewesen, wenn der Transra-
pid zu solch einem Projekt geworden wäre. Dank
Rot-Grün werden sich chinesische Städte in Zukunft mit
deutscher Hightech gelungen inszenieren – ein Treppen-
witz der Industriegeschichte, übrigens, wie uns allen be-
kannt, nicht der erste und nicht der einzige.

Abschließend stellt sich die Frage: Was von der
EXPO 2000 war wirklich gelungen und wie können wir
dies für die Zukunft des Tourismusstandorts Deutsch-
land – Kollege Burgbacher hat dazu schon einige Anre-
gungen gemacht – nutzen? Die farbenfrohen Kultur-
veranstaltungen auf der EXPO 2000 mit ihrer inter-
nationalen Vielfalt waren eine wirklich gelungene Insze-
nierung. Sie erfreuten sich des größten Interesses. Von
diesen Erfahrungen kann zum Beispiel die Fußballwelt-
meisterschaft 2006 profitieren. Bund, Länder und die
WM-Austragungsorte sind schon heute aufgerufen, aktiv
zu werden. Durch ein buntes Kulturprogramm können wir
unserer Bevölkerung die gottgewollte Vielfalt und Schön-
heit anderer Kulturen vermitteln.

Gleichzeitig zeigen wir den Fans der Gästemannschaf-
ten nicht nur die Attraktivität Deutschlands; vielmehr ge-
ben wir ihnen auch ein Stück Heimat in der Fremde. Die
Fans werden nachher als Botschafter deutscher Gast-
freundschaft in die Heimat zurückkehren – ein Beitrag
für gelebte Völkerverständigung und eine wirklich gelun-
gene Inszenierung des Tourismusstandortes Deutschland
auf der Weltbühne.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417621900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Tourismus auf Drucksache 14/6332 zum Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weltausstel-
lung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- und
Tourismusstandort Deutschland nutzen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3374 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
der F.D.P. angenommen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4008 und 14/5883 an die in der Ta-

gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es
besteht im gesamten Hause Einverständnis. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zu-
satzpunkt 6 auf:
10. – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-

nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung

(GüKBillBG)

– Drucksache 14/5446 –

(Erste Beratung 155. Sitzung)


– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung

(GüKBillBG)

– Drucksache 14/5934 –

(Erste Beratung 167. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(15. Ausschuss)

– Drucksache 14/6305 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europä-
ischen Parlaments und des Rates zur Änderung
der Verordnung (EWG) Nr. 881/92 des Rates
vom 26. März 1992 über den Zugang zum Gü-
terkraftverkehrsmarkt in der Gemeinschaft
für Beförderungen aus oder nach einem Mit-
gliedstaat oder durch einen oder mehrere Mit-
gliedstaaten hinsichtlich einer einheitlichen
Fahrerbescheinigung
KOM (00) 751 endg.; Ratsdok. 13905/00
– Drucksachen 14/5172 Nr. 2.71, 14/6305 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian

Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämp-
fung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güter-
kraftverkehr liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Par-
lamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.




Klaus Brähmig
17334


(C)



(D)



(A)



(B)


A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1417622000
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wettbewerb ist
allgemein der Motor der Marktwirtschaft; er ist ein effizi-
entes Instrument zur Kostensenkung und zur Produkti-
vitätssteigerung sowie eine wesentliche Grundlage für
Wachstum und Beschäftigung. Voraussetzung ist aber: Er
ist fair. Die Liberalisierung des Transportmarktes in Eu-
ropa haben einige Unternehmen dazu genutzt, sich unge-
rechtfertigt Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. So, wie
der Markt jetzt ist, ist er nicht fair.

Seit Einführung der Kabotagefreiheit in der EU am
1. Juli 1998 nehmen in Deutschland die Probleme der il-
legalen und missbräuchlichen Beschäftigung von Arbeit-
nehmern aus Nicht-EU-Staaten zu. In- und ausländische
Transportunternehmer haben Wettbewerbsvorteile, indem
sie beim Einsatz von Fahrern Regelungen des Aufent-
halts-, des Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialversiche-
rungsrechts verletzen oder umgehen.
Immer häufiger beschäftigen Unternehmen mit Sitz in der
EU auf ihren dort zugelassenen Fahrzeugen Fahrer aus
Osteuropa. Diese werden zu extrem niedrigen Löhnen für
Transporte eingesetzt. Die Folge ist ein ruinöser Preis-
druck für das gesamte Transportgewerbe. Hinzu kommen
die gemeinwirtschaftlichen Schäden durch Wettbewerbs-
verzerrungen, Ausfälle bei Steuern und Sozialbeiträgen
sowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Obwohl diese Folgen absehbar waren, hat die alte Bun-
desregierung keinerlei Vorkehrungen dagegen getroffen,
übrigens auch eine Form des „Weiter so!“


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Das ist aber knapp an der Wahrheit vorbei!)


Wir gehen zum Schutz des deutschen Transportgewer-
bes konsequent gegen diese Praktiken vor. Wir warten
nicht, bis ein entsprechender Entwurf eines Gesetzes der
EU-Kommission zur Bekämpfung dieses Missbrauchs
verabschiedet ist. Das tun wir im Interesse des deutschen
Transportgewerbes und auch im Interesse eines fairen eu-
ropäischen Wettbewerbs.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein kurzer Satz zu dem Änderungsantrag der
CDU/CSU: Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehene
Ausweitung der Verladerhaftung auf Fälle von Fahrläs-
sigkeit destabilisiert den Güterverkehrsmarkt nicht. Im
Gegenteil: Ihr Vorschlag, die Verladerhaftung auf Fälle
von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zu beschränken,
würde definitorische Graugrenzen schaffen


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Eben nicht! Sie schaffen solche mit Ihrem Konzept!)


und die geplante Zielsetzung des Gesetzes ins Leere lau-
fen lassen. Die Regelungen für das Transportgewerbe
können im Übrigen auch nicht mit denen für die Bauwirt-
schaft verglichen werden, weil diese den steuerlichen Be-
reich betreffen und nichts mit den von uns geplanten Re-
gelungen zu tun haben.


(Beifall bei der SPD)

Mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung

der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraft-
verkehr stoppen wir den ruinösen Preis- und Wettbe-
werbsdruck zulasten der gesetzestreuen Unternehmer und
wir verhindern illegale Beschäftigung. Wir haben fol-
gende Sofortmaßnahmen vorgesehen: Pflicht des Unter-
nehmers, nur Fahrer einzusetzen, die ihre Arbeitsgeneh-
migung im Original mit einer amtlich beglaubigten
Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativattest mit
sich führen; Ausdehnung dieser Verpflichtung auch auf
die Verlader; Verpflichtung der Verlader, nur solchen Un-
ternehmen Aufträge zu geben, die Inhaber einer Erlaubnis
oder Gemeinschaftslizenz sind; deutliche Erhöhung der
Bußgelder für Verstöße gegen diese Pflichten und Kon-
trollzuständigkeit des Bundesamtes für Güterverkehr für
die Einhaltung der Bestimmungen des Aufenthalts-, des
Arbeitsgenehmigungs- und des Sozialrechtes von Fahrern
aus Drittländern.

Unser Ziel lautet: Wettbewerb ja, aber zu fairen Bedin-
gungen, und das überall. Unser Gesetzentwurf ist ein
wichtiger Schritt in diese Richtung. Wir lösen mit ihm
– das muss auch gesagt werden – ein Versprechen ein,
das die Regierung und vor allem die sie tragenden Koali-
tionsfraktionen dem Transportgewerbe gegeben haben.
Heute ist der Tag, an dem wir dieses Versprechen einlö-
sen. Darüber können wir alle sehr froh sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417622100
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Wilhelm-Josef
Sebastian.


Wilhelm Josef Sebastian (CDU):
Rede ID: ID1417622200
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin, Sie haben behauptet, dass die alte Bun-
desregierung in dieser Frage nie etwas unternommen
habe. Ich muss das zurückweisen. Sie haben angedeutet,
dass Sie unserem Änderungsantrag nicht zustimmen wer-
den. Das ist uns unverständlich, weil Ihre Regierung und
Ihre Koalitionsfraktionen ähnliche Formulierungen in den
Regelungen für das Baugewerbe gewählt haben. Wir
glaubten, einen guten Vorschlag für das Transportgewerbe
zu machen.

Heute wird ein wichtiges Gesetz beschlossen, um in ei-
nem Bereich des sich öffnenden Europas eine große
Lücke zu schließen. Seit der Öffnung des europäischen
Marktes für Kabotage hat die illegale Beschäftigung im
gewerblichen Güterkraftverkehr in Besorgnis erregendem
Maße zugenommen. Mit der jetzt bevorstehenden gesetz-
lichen Regelung wird in Deutschland ein erster Schritt ge-
macht, um die illegale Beschäftigung einzudämmen. Da-
mit wird der europaweit geplanten Einführung einer
einheitlichen Fahrerlizenz vorgegriffen und auf europä-
ischer Ebene klargemacht, dass Deutschland hier keine
Kompromisse macht.






(C)



(D)



(A)



(B)


Unsere gemeinsamen Ziele sind die Wahrung eines
freien Wettbewerbs, faire Wettbewerbschancen für unsere
deutschen Unternehmen,


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


die Wahrung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für
alle eingesetzten Fahrer und die Gewährleistung von Ver-
kehrssicherheit auf unseren Straßen. In der parlamentari-
schen Beratung ist sehr schnell klar geworden, dass in
diesen Fragen eine grundlegende Übereinstimmung zwi-
schen Regierung und Opposition besteht.


(Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dies ist auch bereits in der ersten Lesung des Gesetzent-
wurfes sowie bei den Ausschussberatungen deutlich ge-
worden.

Eine Frage jedoch hat sich als Knackpunkt erwiesen,
nämlich die Frage der Verladerhaftung. Soll der Auf-
traggeber die Verantwortung übernehmen, wenn der von
ihm beauftragte Spediteur Fahrer illegal beschäftigt?
Wenn ja: In welchem Rahmen soll er haften und wie soll
er seiner Sorgfaltspflicht nachkommen? Diese scheinbar
marginale Frage ist in der äußerst komplexen Wirt-
schaftswelt von nicht zu unterschätzender Tragweite. Lo-
gistische Verkehrsbewegungen gehören sicher zu den
kompliziertesten Abläufen, die es in einer arbeitsteiligen
Ökonomie zu organisieren gilt. Gerade an diese Tatsache
knüpfen sich die entscheidenden Fragen. Wie soll der
neue § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes verstanden
werden, wenn es heißt, dass ein Auftraggeber einen Auf-
trag nicht ausführen lassen darf, wenn er weiß oder fahr-
lässig nicht weiß, dass sich der Spediteur einer illegalen
Beschäftigung schuldig macht?

Juristisch und politisch unstrittig ist sicher der Fall des
Vorsatzes. Selbstverständlich muss der Auftraggeber, der
solche illegalen Praktiken wissentlich unterstützt, mit zur
Rechenschaft gezogen werden. Gerade daran setzt die
Regelung unseres Entwurfs an, weil aus der Tatsache,
dass Anbieter und Nachfrager von Transportleistungen
gesetzliche Regelungen missachten, kein wirtschaftli-
cher Profit gezogen werden darf. Eine solche Regelung
ist auch ordnungspolitisch zu vertreten. Sie alle wissen,
dass sich Wettbewerb nur im Rahmen der Gesetzes-
normen und niemals unter Missachtung von Gesetzen
vollziehen darf.

Für die aktuelle Diskussion relevant ist damit nur der
Bereich der Fahrlässigkeit. Alle Teilnehmer der Ar-
beitsgruppen wissen, dass es zu dieser Frage im Vorfeld
zahlreiche Eingaben von Verbänden gegeben hat, seien
es die Spediteure oder die Wirtschaftsverbände als Sach-
walter der potenziellen Auftraggeber. Wir wissen aber
auch alle, dass es eine Kompromisslinie gibt, auf die sich
die beteiligten Fachleute mit den Ministerien geeinigt ha-
ben.

Gestatten Sie, dass ich diese Linie hier kurz skizziere:
Grundsätzlich muss der Auftraggeber von der Gesetzes-
treue des Spediteurs ausgehen können, so wie das auch in
allen anderen Wirtschaftsbereichen der Fall ist. Die Tat-

sache, dass wir illegale Beschäftigung im Güterkraftver-
kehr als Problem erkannt haben, gibt uns nicht das Recht,
eine ganze Branche gleichsam von vornherein zu
kriminalisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ausgehend von der Vermutung der Rechtstreue des

Vertragspartners kann sicher nur eine stichprobenartige
Kontrolle der Papiere durch den Auftraggeber verlangt
werden. Soll allein die Tatsache, dass nicht jeder Trans-
port kontrolliert wird oder werden kann, als fahrlässiges
Handeln ausgelegt werden? Nach unserer Meinung wäre
das nicht richtig.

Nach unserer Meinung muss es nachvollziehbare Kri-
terien geben, an denen sich ein Anfangsverdacht eines
Auftraggebers, der ihn zum Handeln veranlassen sollte,
festmachen lässt. Nicht zu Unrecht ist die Kombination
eines sehr niedrigen Angebotspreises durch den Spediteur
in Verbindung mit einer mehrmaligen Unzulänglichkeit
der kontrollierten Papiere als beispielhafter Anhaltspunkt
ausgemacht worden.

Fakt ist, dass eine Kontrolle durch den Auftraggeber
umso schwieriger wird, je weiter er von der Organisation
und Durchführung des Transportes entfernt ist. Dies sollte
ein klarer Anhaltspunkt dafür sein, dass die Kontroll-
pflicht durch den Auftraggeber umso geringer ist, je wei-
ter er vom Transportgeschehen entfernt ist. An dieser
Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es auch im
Bereich des Güterkraftverkehrs grundsätzlich Aufgabe
staatlicher Stellen sein sollte, Gesetzesnormen zu kon-
trollieren. Wenn wir eine solche Kontrolle von privaten
Vertragsparteien im Übermaß verlangen, so leisten wir ei-
ner Reglementierung und Bürokratisierung des Wirt-
schaftslebens in Deutschland Vorschub.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Diskussion dieses Fragenkomplexes hat uns von

der CDU/CSU-Fraktion zu der Überzeugung gebracht,
dass letztlich nur eine Verdeutlichung der Formulierung
die Rechtssicherheit der Beteiligten erheblich erhöhen
wird. Daher schlagen wir eine veränderte Formulierung
von § 7 c des Gesetzentwurfes in dem Sinne vor, dass der
Auftraggeber nur haften soll, wenn ihm grobe Fahrläs-
sigkeit vorzuwerfen ist. Es ist unsere Überzeugung, dass
das realistischerweise Machbare im heutigen Logistikge-
schehen einer großen Volkswirtschaft am ehesten durch
diese Formulierung abgebildet werden kann. Wenn man
Juristendeutsch für die Menschen verständlich machen
will, so heißt Fahrlässigkeit doch: Das kann jedem pas-
sieren. Grobe Fahrlässigkeit bedeutet dann: Das hätte
nicht passieren dürfen.

Wir würden uns freuen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, wenn Sie diesen Weg des Kompromisses und des
Ausgleichs mit uns gehen könnten, und fordern Sie auf,
unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)





Wilhelm-Josef Sebastian
17336


(C)



(D)



(A)



(B)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417622300
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Albert
Schmidt.

Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern haben 420 Beamte des Bun-
desgrenzschutzes, des Zolls, der Steuerfahndung und des
Bundeskriminalamtes in der saarländischen Stadt Perl die
Geschäftsräume einer bundesweit tätigen Spedition
durchsucht. Nach Mitteilungen der Staatsanwaltschaft hat
diese Spedition Fahrer aus früheren Ostblockstaaten zu
Dumpinglöhnen beschäftigt. Die Razzia, die übrigens
auch in zwölf weiteren Niederlassungen der Spedition in
ganz Deutschland stattgefunden hat, hat zutage gefördert,
dass offenbar Monatslöhne in der Größenordnung von
100 DM pro Fahrer plus 10 Pfennig pro gefahrenen Kilo-
meter gezahlt worden sind. Dieses aktuelle Beispiel illus-
triert, wie ich finde, in beeindruckender Weise, wie ver-
kommen, wie kaputt und wie selbstzerstörerisch der
Markt im speditierenden Gewerbe inzwischen geworden
ist.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Speditieren, aber nicht transportieren!)


– Auf Schwyzerdütsch kann man auch „speditieren“ sa-
gen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Aber es ist ein kleiner Unterschied, ob ich lenken lasse oder selbst fahre!)


Nun sind wir uns, glaube ich, alle darin einig, dass es
höchste Zeit ist, dass wir regulierende Maßnahmen – nicht
nur im Sinne der Beschäftigten, sondern auch im Sinne
der Verkehrssicherheit – ergreifen. Genau das tun wir mit
dem Gesetz, das heute zur Abstimmung und zur Schluss-
beratung vorliegt.

Das Europäische Parlament hat zu Beginn dieses Jah-
res eine Studie zum Sozialdumping im Straßengüter-
transportgewerbe durch Unternehmen aus Drittländern
veröffentlicht und dabei zutage gefördert, dass das Lohn-
und Sozialkostengefälle zwischen Deutschland und eini-
gen Ländern Mittel- und Osteuropas bei 10:1 liegt, dass
sich die Löhne also um den Faktor zehn unterscheiden.
Das bewirkt genau jenes Sozialdumping, das hierzulande
Arbeitsplätze gefährdet und darüber hinaus die Verkehrs-
sicherheit in den EU-Mitgliedstaaten massiv in Mitlei-
denschaft zieht.

In derselben Studie werden – ich möchte das gerne
wörtlich zitieren – „die missbräuchliche Verwendung und
Fälschung von Lizenzen sowie die illegale Beschäftigung
von Fahrern aus Drittländern auf Fahrzeugen, die in der
Gemeinschaft zugelassen sind“, als wesentliche Miss-
brauchstatbestände konstatiert. Insbesondere wird in die-
ser Studie die Kontrolllücke reklamiert, die darin besteht,
dass es keine EU-einheitliche Fahrerbescheinigung gibt,
die es ermöglicht, im Inland wie im Ausland die Recht-
mäßigkeit des Fahrereinsatzes zu überprüfen.

Genau in diese Regelungslücke stoßen die gesetzlichen
Bestimmungen vor, die wir heute beschließen werden. Im
Vorgriff auf beabsichtigte EU-Lösungen beschließen wir
heute im Deutschen Bundestag als Sofortmaßnahme die
Normierung der Pflicht eines jeden Transportunterneh-
mens, nur noch Fahrer einzusetzen, die eine Arbeitsge-
nehmigung im Original mit einer amtlich beglaubigten
Übersetzung bzw. ein entsprechendes Negativtestat mit
sich führen.

Wir beschließen heute – nämlich durch die Änderung
des § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes – dass die Aus-
dehnung dieser Verpflichtung auch die Verlader trifft. Das
heißt im Klartext: Wer zukünftig als Auftraggeber, als
Verlader, arglistig vom Transportunternehmer getäuscht
wird, muss nicht mit Strafe rechnen. Wer aber fahrlässig
handelt, indem er wegschaut und sich nicht vergewissert,
dass er es mit legitimen Auftragnehmern zu tun hat, ist
möglicherweise verantwortlich. Ich finde diese Formulie-
rung der Fahrlässigkeit durchaus richtig und angemessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit wird die gesamte Transportkette vom Verlader
über den Transportunternehmer im engeren Sinne in die
Mitverantwortung einbezogen.

Des Weiteren wird in beträchtlichem Umfang das bei
Verstößen gegen dieses Gesetz angedrohte Bußgeld er-
höht. Darüber hinaus wird die Zuständigkeit des Bundes-
amtes für Güterverkehr für die Kontrolle festgehalten, das
übrigens auch mit zusätzlichen Mitteln, zusätzlichem Per-
sonal und zusätzlichen Fahrzeugen ausgestattet wird.

Summa summarum ist dies, glaube ich, heute ein we-
sentlicher Schritt zur Regulierung eines ruinösen Kon-
kurrenzkampfes, der letztlich zulasten aller geht, vor al-
lem aber zulasten der mittelständischen Transport-
unternehmen. Diese wollen wir schützen. Wir wollen kei-
nen Wettbewerb mit unlauteren Mitteln, sondern wir wol-
len fairen Wettbewerb. Wir wollen die Einhaltung von So-
zialstandards. Dafür lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und
Kollegen, heute möglichst gemeinsam sorgen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417622400
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht der Kollege Horst Friedrich.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1417622500
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kol-
lege Schmidt, es wird Sie überraschen, dass ich mit den
wesentlichen Inhalten Ihres Vortrags durchaus einverstan-
den bin. Das ist gar nicht die Konfliktlinie. Auch wir se-
hen das Problem.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber Ihr habt es nicht gelöst!)


Wir haben immer kritisiert, dass Sie das, was am Schluss
kommen sollte, zuerst machen, und das in einer Zeit, in






(C)



(D)



(A)



(B)


der Sie – im Gegensatz zu uns, die wir vor der Kabotage-
freigabe am 1. Juli 1998 die Steuern gesenkt und zumin-
dest seit 1994 keine Mineralölsteuererhöhung mehr vor-
genommen haben – drei Stufen der Ökosteuer mit
18 Pfennig plus Umsatzsteuer eingeführt haben. Darüber
hinaus haben Sie die AfA-Tabellen verschlechtert und im
letzten Jahr Ausnahmeregelungen für die Konkurrenz in
Europa zugestimmt, durch die das deutsche Gewerbe be-
nachteiligt wird. Sie haben eine Steuerreform gegen den
Mittelstand gemacht. Ferner haben Sie – jetzt erst wie-
der – weitere Steigerungen bei den Lohnnebenkosten zu-
gelassen. Nach wie vor haben Sie keine verlässlichen Ent-
lastungen zum 1. Januar 2003 für die Umstellung der
LKW-Gebühr von Zeit auf Strecke zugesagt. Es gibt
nichts außer der blumigen Äußerung, dass es dann zu ei-
ner größtmöglichen Harmonisierung auf europäischem
Niveau kommen muss, was auch immer das heißen mag.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie haben nur Unfug gemacht!)


Vor dem Hintergrund all dieser Themen, die wir immer
kritisiert haben, kommt jetzt Ihre Aussage, dass Sie nun
ein Problem lösen müssen. Zugegeben, es handelt sich um
ein Problem. Es wäre aber wahrscheinlich ein sehr viel
kleineres Problem in Deutschland, wenn Sie all das, was
ich eben aufgezählt habe, nicht beschlossen hätten.


(Beifall bei der F.D.P. – Zurufe von der SPD: Falsch! – Das glauben Sie doch selber nicht!)


Nun kommen wir zum eigentlichen Thema. Der
Knackpunkt ist – das wird eine juristische Überprüfung
jederzeit ergeben –, dass Sie die verladende Wirtschaft in
Deutschland bereits bei einfacher Fahrlässigkeit voll in
die Haftung nehmen. Herr Kollege Schmidt, es stimmt
eben nicht, dass Wegschauen eine einfache Fahrlässig-
keit ist. Nach BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Zur Definition
heißt es in der Kommentierung im Palandt zu § 277 BGB:
Einfache Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn die Handlung
als Fehlverhalten gedeutet werden kann, die jeder Person
passieren kann. Das ist mit Wegschauen noch lange nicht
erreicht. Anders verhält es sich bei der groben Fahrlässig-
keit, bei der subjektive Maßstäbe angelegt werden.

Mir leuchtet immer noch nicht ein, warum Sie in dem
Gesetzgebungsverfahren betreffend die Bekämpfung der
illegalen Beschäftigung im Baugewerbe bei Steuerhin-
terziehung die grobe Fahrlässigkeit ansetzen, während Sie
bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im
Transportbereich auf einmal die einfache Fahrlässigkeit
konstruieren und damit einer Rechtsunsicherheit Tür und
Tor öffnen. Wie groß diese Unsicherheit ist, kann man da-
raus ersehen, dass es den beteiligten Verbänden DIHT,
BDI, BGL und BSL sowie der Regierung nicht gelungen
ist, sich in ihrem Gespräch Anfang April auf eine einheit-
liche Regelung zu verständigen, obwohl die Transport-
verbände zugestanden haben, dass nicht jede Fahrlässig-
keit bestraft werden soll. Hierüber kam aber keine
einheitliche Definition zustande. Deswegen habe ich be-
reits in der Ausschusssitzung darauf hingewiesen, dass
hier mehr rechtliche Übereinstimmung vonnöten ist. Ich

habe dem Haus die Fundstelle – wir haben das zu Zeiten
unserer Regierung beschlossen – gezeigt, weil es sie nicht
gekannt; aber es hat offensichtlich nicht zum Nachdenken
geführt.

Dem, was heute beschlossen werden soll, können auch
wir zu 99 Prozent zustimmen. Sie brauchen lediglich aus
der einfachen Fahrlässigkeit bei der Haftung des Verla-
ders eine grobe Fahrlässigkeit zu machen, was dem Tat-
bestand schon allein deswegen angemessen wäre, weil
wir in das Güterkraftverkehrsgesetz in Abstimmung mit
dem Gewerbe die persönliche Zuverlässigkeit ganz be-
wusst aufgenommen haben. Ein Unternehmer, der in
Deutschland Güterkraftverkehr betreibt und Fahrzeuge
mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als
3,5 Tonnen bewegt, hat bereits jetzt besondere Sorgfalts-
pflichten zu beachten. Wer dagegen verstößt, müsste
schon nach dem geltenden Güterkraftverkehrsgesetz die
entsprechenden Konsequenzen ziehen. Das ist übrigens
auch eine Aufgabe des Gewerbes.

Wir legen Ihnen nochmals unseren Antrag zur Abstim-
mung vor. Sollten Sie ihn ablehnen, sehen wir leider keine
Möglichkeit, dem Gesetz insgesamt zuzustimmen.


(Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417622600
Jetzt spricht der Kol-
lege Winfried Wolf für die PDS-Fraktion.


Dr. Winfried Wolf (PDS):
Rede ID: ID1417622700
Sehr geehrte Präsidentin!
Werte Damen und Herren! Der Tatbestand ist bekannt; er
wurde hier bereits angesprochen. Im LKW-Gewerbe gibt
es Sozialdumping und ruinösen Wettbewerb. Der krasses-
te Ausdruck dafür sind illegal Beschäftigte in Unterneh-
men mit Sitz in der Europäischen Union oder im EWR.
Es ist auch angesprochen worden, dass das Lohngefälle
illegal eingesetzter osteuropäischer Arbeiter zu den
EU-Arbeitern bis zu 1:10 ausmacht. Wir wissen, dass es
Bemühungen auf europäischer und jetzt auch auf deut-
scher Ebene gibt, hier Abhilfe zu schaffen.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
machen hier etwas, was sie nachher bei dem CDU/CSU-
Antrag zum Thema Lokführerschein nicht machen wer-
den, nämlich im nationalen Alleingang etwas zu be-
schleunigen, was auf EU-Ebene läuft. Im Grundsatz sind
sich alle Parteien einig, dass gegen Sozialdumping und
ruinösen Wettbewerb etwas getan werden muss und dass
die vorgelegten Vorschläge in die richtige Richtung ge-
hen. Ich wiederhole sie an dieser Stelle nicht; sie sind
kompliziert genug.

Die Debatte über § 7 c und den Begriff der groben
Fahrlässigkeit berührt tatsächlich den entscheidenden
Punkt. In der ersten Lesung am 8. März sagte ich, dass ich
unsicher sei, ob die Kritik von CDU/CSU und F.D.P. nicht
doch berechtigt ist. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu
einer anderen Meinung gekommen. Nach dem Lesen der
Ergebnisniederschrift der Besprechung zwischen den
Verbänden und dem zuständigen Ministerium vom
2.April bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Ver-
bände – darunter der BDI, aber auch die ÖTV – eine Ver-
einbarung unterschrieben haben, in der das fahrlässige




Horst Friedrich (Bayreuth)

17338


(C)



(D)



(A)



(B)


Nichtwissen relativ verladerfreundlich definiert und fest-
gestellt wurde, dass sogar im Falle extrem niedriger
Transportpreise, die Dumpingpreise zu sein scheinen,
keine erhöhte Sorgfaltspflicht vonnöten sei, sondern man
misstrauisch sein und Rückfragen stellen müsse. Es
wurde sogar gesagt, dass man in solchen Fällen keine Ver-
zögerung der Fracht oder Vertragsstrafen in Kauf nehmen
müsse.

Unter den Bedingungen dürfte das Papier gerichtlich
belastbar sein, wenn Unterschriften darunter stehen. Inso-
weit ist die Definition korrekt. Wir stimmen daher dem
Gesetzentwurf zu und lehnen wegen der Präzisierung in
dieser Vereinbarung die beiden Änderungsanträge ab.
Wie bereits in der ersten Lesung und wie auch einige Red-
ner in der heutigen Debatte verweisen wir weiterhin da-
rauf, dass damit nur ein Ausschnitt von Sozialdumping
angetippt wurde.

Im Grunde kann die Liberalisierung des EU-Marktes in
diesem Bereich nicht funktionieren, wenn solche krassen
Beispiele von Sozialdumping vorkommen, wie sie Albert
Schmidt zu Beginn seiner Ausführungen dargelegt hat.
Ich verweise weiter darauf, dass vor allem die falsche
Verkehrspolitik – die von uns in einem anderen Sinne als
vom Kollegen Friedrich als falsch definiert wird –, wo-
durch Verkehr immer billiger wird und immer mehr ab-
strakte und absurde Arbeitsteilungen produziert werden,
im Zentrum der Debatte stehen müsste.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417622800
Letzte Rednerin ist die
Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1417622900
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute wirk-
lich sagen: Dies ist ein guter Tag für das mittelständische
deutsche Fuhrgewerbe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Be-
schäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr, das wir
heute beschließen werden, treten wir einer Verschärfung
der schwierigen Wettbewerbssituation des deutschen
Transportgewerbes deutlich entgegen.

Zu oft – die Frau Staatssekretärin hat das schon ange-
sprochen – sind bereits heute auf deutschen Straßen
LKWs unterwegs, die von Fahrern gelenkt werden, die
aus europäischen Drittstaaten kommen und illegal hier ar-
beiten. Dies hat schon zu Marktstörungen deutlichen Um-
fangs geführt.

Wir verpflichten deshalb einerseits die Fuhrunterneh-
mer aus den Staaten der EU und des Europäischen Wirt-
schaftsraums, auf deutschen Straßen nur Fahrer einzu-
setzen, die im Staat des Unternehmenssitzes eine
Arbeitsgenehmigung haben. Die Unternehmer müssen
auch dafür sorgen, dass das Fahrpersonal die Arbeitsge-

nehmigung im Original zusammen mit einer beglaubigten
Übersetzung mit sich führt.

Zum Schutz unseres Gewerbes greifen wir der Ein-
führung der europäischen Fahrerlizenz in diesem Sinne
vor und berechtigen das Bundesamt für Güterverkehr
zukünftig, die Arbeitsgenehmigungen der Fahrer zu kon-
trollieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist heute in der Diskussion schon deutlich gewor-
den: Die Beschäftigung von illegalen Fahrern wäre ohne
die stillschweigende Duldung eines Teils der verladenden
Wirtschaft – das sind beileibe nicht alle – schon bisher
schlicht nicht möglich gewesen.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist das Problem!)


Machen wir uns nichts vor: Dem Verlader muss es auffal-
len, wenn der Transportpreis eines Spediteurs regelmäßig
niedriger ist als der seiner Konkurrenten,


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und zwar viel niedriger!)


wenn die Fahrer immer aus Osteuropa kommen und wenn
bestimmte Dokumente nicht freiwillig vorgelegt werden.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!)


Sicherlich haben diese schwarzen Schafe unter den
Verladern auch einen nicht unerheblichen finanziellen
Vorteil aus der illegalen Beschäftigung. Wäre dem nicht
so, dann wäre auch die Wettbewerbsverzerrung im Fuhr-
gewerbe, die durch diese Praxis mitbestimmt wird, an-
ders, als sie ist.

Der Bericht des Europäischen Parlaments ist bereits
vom Kollegen Schmidt angesprochen worden. Dort
spricht man von Preisunterschreitungen von bis zu
30 Prozent. Deshalb haben wir in das Gesetz die so ge-
nannte Verladerhaftung aufgenommen. Wir wollen da-
mit bewirken, dass zukünftig Verlader und Spediteure ein
wirkliches Interesse an der Durchführung der Transporte
nach Recht und Gesetz haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genau hier scheiden sich die Geister. Das Gesetz verwen-
det in § 7 c – wir haben das von den Kollegen schon aus-
führlich gehört – den Begriff des fahrlässigen Nichtwis-
sens. Seit Mitte Mai drängt nun insbesondere der BDI
darauf, diesen Begriff durch den des grob fahrlässigen
Nichtwissens zu ersetzen. Die F.D.P. und die CDU/CSU
haben diese Idee in ihrem Antrag aufgenommen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Wir haben unseren Antrag schon vorher eingebracht! Wir brauchen den BDI nicht!)


Aber auch nach reiflicher Überlegung können wir diesem
Begehren nicht folgen. Der Begriff der Fahrlässigkeit
nach § 276 BGB wird in der juristischen Literatur – als




Dr. Winfried Wolf (PDS)


17339


(C)



(D)



(A)



(B)


Nichtjuristin muss man das nachlesen – als das Außer-
Acht-Lassen der erforderlichen Sorgfalt beschrieben.


(Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Genau!)

Wer also als Verlader in diesem Sinne fahrlässig nicht

wissend einem Fuhrunternehmer oder Spediteur sein Gut
zur Beförderung anvertraut, das heißt bewusst nicht über-
prüft, ob dieser Unternehmer seine Fahrer nach Recht und
Gesetz einsetzt, wird zukünftig eventuell mit einem hohen
Bußgeld rechnen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Iris Gleicke [SPD]: Jawohl! Das ist auch richtig so!)


Der Verlader muss sich – das ist der Sinn hinter diesem
Gesetz – so weit wie möglich um diese Erkenntnis
bemühen. Er muss Stichproben machen und sich nach An-
zeichen erkundigen. Der Formulierung im vorliegenden
Gesetz haben übrigens auch der Bundesrat und bei Ab-
stimmungsgesprächen Anfang April zunächst auch alle
befragten beteiligten bzw. betroffenen Gruppierungen
einschließlich des BDI und des Deutschen Industrie- und
Handelstages zugestimmt. Erst Mitte Mai kam dann der
Sinneswandel.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Nein! Das ist nicht wahr!)


– Mit mir haben sie doch gesprochen, wahrscheinlich ge-
nauso wie mit Ihnen, Herr Friedrich.

Lassen Sie mich ganz klar sagen: Wer hier ein grob
fahrlässiges Nichtwissen einführen möchte, muss zur
Kenntnis nehmen, dass eine Formulierung – die ich ge-
funden habe – bezüglich der groben Fahrlässigkeit besagt,
dass die verkehrsübliche Sorgfalt in besonders grobem
Maße verletzt wird, dass also selbst einfachste, jedem ein-
leuchtende Überlegungen nicht angestellt werden. Das
heißt, der Verlader müsste erst tätig werden, wenn es sehr
offenkundige Hinweise auf die Illegalität des Beschäfti-
gungsverhältnisses gibt, wenn sich ihm also die Erkennt-
nis über das illegale Beschäftigungsverhältnis förmlich
aufdrängt, sodass er die Augen davor nicht mehr ver-
schließen kann. Das ist – so meine ich – zu spät und das
ist uns zu wenig. Würden wir uns hier nur auf die grobe
Fahrlässigkeit beschränken, wären dem Gesetz alle Zähne
gezogen, die es hat.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)

Wir würden insbesondere der aktiven Rolle, die der Ver-
lader bei dem Geschäft spielt, mit dieser Regelung nicht
gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Walter Hirche [F.D.P.]: Sie betreiben Knebelei und wundern sich, dass die Arbeitsplätze verloren gehen!)


Auch der Hinweis auf das Gesetz zur Eindämmung il-
legaler Betätigung im Baugewerbe geht wegen des völlig
anderen Kontextes, in dem die grobe Fahrlässigkeit dort
angeführt wird, in die Irre. Sie haben es doch nachgele-
sen: Es geht um den § 48Abs. 3 EStG. Dort wird die Haf-
tung des Auftraggebers bei grob fahrlässiger Unkenntnis
geregelt. Diese Unkenntnis bezieht sich aber nur auf die

rechtswidrige Erlangung der vom Bauunternehmer zu be-
antragenden Freistellungsbescheinigung.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Bau gibt es den gleichen Tatbestand! Eure Gesetzgebung ist katastrophal!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417623000
Frau Kollegin, auch
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1417623100
Es gibt außerdem
eine ganze Reihe anderer Beispiele: Sowohl im Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz, im Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetz als auch im Zollrecht stellen fahrlässige Verstöße
gegen Rechtsvorschriften eine Ordnungswidrigkeit dar.
Fest steht: Würden wir dem Drängen nachgeben, ließen
wir unser Fuhrgewerbe im Regen stehen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Oh Gott!)

Genau das wollen wir nicht, das ist nicht das Ziel dieses
Gesetzentwurfes.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417623200
Frau Kollegin Graf,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1417623300
Das sollten sich
auch die Antragsteller überlegen. Wir bitten Sie deshalb
um Zustimmung für den Gesetzentwurf und dass Sie den
Änderungsantrag der F.D.P. und der CDU/CSU mit uns
ablehnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417623400
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-
che 14/6305.

Der Ausschuss empfiehlt unter II seiner Beschlussem-
pfehlung, den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bekämpfung der ille-
galen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr
auf Drucksache 14/5446 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.

Unter I seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäfti-
gung im gewerblichen Güterkraftverkehr auf Drucksache
14/5934 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu
liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst ab-
stimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/6360? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist gegen




Angelika Graf (Rosenheim)

17340


(C)



(D)



(A)



(B)


die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion ab-
gelehnt.

Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/6361? – Wer stimmt dagegen?
– Wer enthält sich? – Auch dieser Änderungsantrag ist ge-
gen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion
abgelehnt.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion angenommen.

Wir kommen zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.

Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt unter Ziffer III seiner Beschlussempfehlung,
den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Par-
laments und des Rates zur Änderung der Verordnung über
den Zugang zum Güterkraftverkehrsmarkt hinsichtlich ei-
ner einheitlichen Fahrerbescheinigung zur Kenntnis zu
nehmen und eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wehrpflicht aussetzen
– Drucksachen 14/5078, 14/6274 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt Palis
Paul Breuer

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1417623500
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es bezweifelt niemand, dass
es gute Argumente für eine Wehrpflichtarmee gibt. Die
muss uns niemand nennen. Wer wollte denn die erfolgrei-
che Geschichte der Bundeswehr in der Nachkriegsge-
schichte der alten Bundesrepublik Deutschland, das Ver-
wachsen zwischen Gesellschaft und Armee sowie die
Prinzipien der Inneren Führung bestreiten?


(Johannes Kahrs [SPD]: Bravo!)


Aber auch die Befürworter einer Wehrpflicht müssen
heute erklären, wie sie gegenüber einer jungen Generation
in der Bundesrepublik Deutschland angesichts des En-
des der bipolaren Welt und einer völlig geänderten sicher-
heitspolitischen Lage die Wehrpflicht begründen wollen,


(Peter Zumkley [SPD]: So haben Sie doch nicht immer gedacht!)


wenn am Ende nur noch 20 Prozent eines Jahrgangs
tatsächlich in der Bundeswehr ihren Dienst versehen.


(Beifall bei der F.D.P. – Johannes Kahrs [SPD]: Vor fast einem Jahr haben Sie noch ganz anders geredet!)


Das wäre auf den Plenarsaal übertragen etwa so, als wenn
von allen Abgeordneten nur noch so viele den Dienst tun
würden, wie jetzt noch anwesend sind. Das ist keine
Wehrgerechtigkeit mehr. Mit dem Verfall der Wehrge-
rechtigkeit verfällt aus unserer und meiner Überzeugung
auch die Wehrpflicht.

Es mag noch so häufig an eine bestimmte Größenord-
nung der Bundeswehr erinnert und ihre finanzielle Aus-
stattung schön ausgemalt werden. Selbst die Personal-
stärke, die die lieben Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU vorschlagen, trägt die Wehrpflicht nicht mehr.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das sicherheitspolitische Umfeld trägt sie nicht mehr und
auch nicht mehr die finanzielle Ausstattung.

Wir befinden uns ja im Übrigen in guter Gesellschaft.

(Johannes Kahrs [SPD]: Nicht in diesem Hause!)

Ich sage dieses jetzt an die Adresse der Sozialdemokraten:
Der von uns sehr geschätzte Wehrbeauftragte hat es
zurückhaltend


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig zitieren!)

in eine Fragestellung gekleidet. Er hat gefragt, ob über-
haupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht gesprochen
werden kann, wo doch der immer größere Teil eines Jahr-
gangs gar nicht eingezogen wird. Ich zitiere immer kor-
rekt, deshalb wiederhole ich es noch einmal: Die Frage
war, ob überhaupt noch von der allgemeinen Wehrpflicht
gesprochen werden kann, wo doch der immer größere Teil
eines Jahrgangs gar nicht eingezogen wird. Die Beant-
wortung dieser Frage können Sie nicht dauernd verschie-
ben und sich vor einer Entscheidung drücken. Irgendwann
stellt sich Ihnen diese Frage.


(Beifall bei der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Abwarten!)


Im Übrigen wäre ich mir gar nicht so sicher, auch wenn
wir jetzt nur eine halbe Stunde diskutieren und unser An-
trag mit Sicherheit abgelehnt wird,


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Möglicherweise!)


– ja, ja – ob wir uns nicht dereinst wiederbegegnen: Im
Leben sieht man sich meistens zweimal.


(Peter Zumkley [SPD]: Manchmal sogar mehrmals!)





Vizepräsidentin Petra Bläss

17341


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich wäre nicht so sicher, ob nicht Karlsruhe alsbald auch
eine Entscheidung trifft, die Ihre Überzeugung infrage
stellt und uns zwingt, uns erneut damit zu befassen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Da viele ja immer sagen, die Politik solle lieber selber
Lösungen anbieten, als abzuwarten und dann Gerichts-
entscheidungen zur Kenntnis nehmen zu müssen, emp-
fehle ich Ihnen, dieses im Vorgriff politisch zu entschei-
den. Ich frage noch einmal die SPD: Wie haben Sie sich
denn beim Thema „Frauen in die Bundeswehr“ verhal-
ten? Sie haben es verschoben und verschoben.


(Peter Zumkley [SPD]: Das hat doch der Rühe verschoben! – Weitere Zurufe von der SPD)


Wir haben es dauernd gefordert und beantragt. Heute ist
es so weit. Ich sage Ihnen heute voraus, dass dieser An-
trag alsbald wieder auf die Tagesordnung kommt und Sie
sehr wahrscheinlich gezwungen sein werden, eine andere
Entscheidung zu treffen.


(Beifall bei der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Die alte Regierung hat das geschoben!)


Sie sollten Helmut Schmidt

(Johannes Kahrs [SPD]: Guter Mann! Kommt aus Hamburg! – Gegenruf von der F.D.P.: Zuhören! Das war zu früh!)


Beachtung schenken, der darauf hinweist, dass die poli-
tisch-psychologische Vorbedingung für die Beibehaltung
des Wehrpflichtprinzips ein hohes Maß an tatsächlicher
Allgemeinheit der Wehrpflicht ist. Ein hohes Maß an
tatsächlicher Allgemeinheit der Wehrpflicht gibt es in der
Bundesrepublik Deutschland nicht mehr. Die Frage da-
nach beantwortet sich ganz einfach.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ganz besonders interessant – das habe ich nachge-

lesen – ist die Haltung der Grünen.

(Zuruf von der F.D.P.: Die Grünen haben eine Haltung?)

In einer Beschlussempfehlung des Verteidigungsaus-

schusses ist Folgendes festgehalten: Die Position der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, dass die Wehrpflicht
sicherheitspolitisch nicht für unverzichtbar und verfas-
sungsrechtlich für schwer begründbar gehalten wird. –
Was denn jetzt, meine Damen und Herren von den Grü-
nen?


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wiedergabe ist unvollständig!)


– Man verwendet ja nicht selten gewundene Formulie-
rungen, um um die Lösung eines Problems herumzukom-
men.

Meine Damen und Herren, angesichts der veränderten
sicherheitspolitischen Lage – im Übrigen im Konzert der
NATO-Mitgliedstaaten, von denen heute zehn von 19
keine Wehrpflichtarmee mehr haben –,


(Johannes Kahrs [SPD]: Traurig!)


angesichts der tatsächlichen Lage, dass nur jeder Fünfte
einer Jahrgangsstärke derer, die nach der Verfassung
wehrpflichtig sind, tatsächlich eingezogen werden wird,
und angesichts des Missverhältnisses, dass 40 Prozent Zi-
vildienst leisten und 20 Prozent die Wehrpflicht erfüllen,
während der Verfassungsauftrag eine Priorität für Wehr-
pflicht und Respekt für Kriegsdienstverweigerer und die
Anerkennung ihrer Leistung als Zivildienstleistende vor-
sieht, kann doch niemand von einem ausgewogenen Ver-
hältnis zwischen der verfassungsrechtlichen Pflicht und
der wirklichen Lage sprechen. Sie machen sich doch et-
was vor, wenn Sie so über dieses Thema diskutieren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Der Bundesverteidigungsminister sagt, es seien mehr
einzuziehen, weil noch Stellen aus anderen Bereichen zur
Verfügung stünden. Tatsache ist aber, dass selbst von de-
nen, die wehrtauglich sind und eingezogen werden könn-
ten, wegen der Haushaltsausstattung nur zwei Drittel ein-
gezogen werden. Das führt das Ganze ad absurdum,
meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es mag gute gesellschaftliche Gründe für eine Wehr-

pflicht und überzeugende Befürworter einer Wehrpflicht
geben, aber der Kaiser hat sein Recht verloren, wenn es
der Wirklichkeit nicht mehr entspricht.


(Zuruf von der F.D.P.: Richtig!)

Es war für meine Partei keine einfache Entscheidung

gewesen. Es gab Gegner und Befürworter.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einige sind vom Antrag wieder heruntergesprungen!)


Aber wir wollten eigentlich keine politischen Argumente
vortragen, die von der Wirklichkeit geradezu zerschlagen
werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb empfehlen wir Ihnen, sich der Realität zu stel-

len,

(Werner Siemann [CDU/CSU]: Damit gibt es keine 18 Prozent!)

angesichts der sicherheitspolitischen Veränderungen die
Wehrpflicht auszusetzen, wie das in bedeutsamen NATO-
Partnerländern auch geschehen ist, und der jungen Gene-
ration keine Wehrpflicht mehr aufzuerlegen, wozu Ihnen
die junge Generation heute aus guten Gründen sagen
kann, dass Sie ihr die Wehrgerechtigkeit nicht mehr ga-
rantieren können.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wenn das nicht mehr zu garantieren ist, nützen alle
guten, wünschenswerten gesellschaftspolitischen Argu-
mente nichts. Politik darf nicht an der Wirklichkeit vor-
beigehen. Deshalb – wenn Sie es heute nicht entscheiden
wollen, werden Sie es später entscheiden müssen – ist das
Ende der Wehrpflichtarmee in der Bundesrepublik




Dr. Wolfgang Gerhardt
17342


(C)



(D)



(A)



(B)


Deutschland gekommen, ob wir es mögen oder nicht. Die
Wehrgerechtigkeit ist eine tragende Akzeptanzsäule unse-
rer Verfassung. Wenn die nicht mehr gegeben ist, kann
niemand eine Wehrpflichtarmee begründen. Herzlichen
Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgoerdneten der PDS – Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine typische Minderheitenmeinung! – Johannes Kahrs [SPD]: Das war schwach!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417623600
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhold Robbe von der SPD-Fraktion.


(Johannes Kahrs [SPD]: Bravo, guter Mann! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Reinhold, setz dich wieder hin!)


– Noch habe ich hier vorne das Kommando, Herr Kollege
Niebel.


Reinhold Robbe (SPD):
Rede ID: ID1417623700
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! So kennen wir ihn: im-
mer für einen flotten Spruch gut. Unabhängig von der Tat-
sache, dass der Kollege Niebel das gar nicht so meint, will
ich jetzt ein paar Ausführungen zur Sache machen.

Nicht zum ersten Mal beschäftigen wir uns im Deut-
schen Bundestag mit der allgemeinen Wehrpflicht in
Deutschland. Was die heutige Debatte jedoch von vorhe-
rigen Diskussionen unterscheidet, ist die von der F.D.P.-
Fraktion eingebrachte Forderung nach einer Aussetzung
der Wehrpflicht. Begründet wird dieser Antrag mit dem
knappen Hinweis, die allgemeine Wehrpflicht sei sicher-
heitspolitisch nicht mehr zwingend notwendig.

Auch wenn dieser Antrag zumindest indirekt die Frage
offen lässt, Herr Gerhardt, ob die Aussetzung zu einem
späteren Zeitpunkt zurückgenommen werden kann,
würde die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht – da-
rüber müssen wir uns im Klaren sein und das müssen Sie
auch dazusagen – praktisch bedeuten, dass wir die Wehr-
pflicht in Deutschland de facto abschaffen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Das ist die Konsequenz!)


Vollkommen unabhängig von der Tatsache, dass sich
die beiden großen Volksparteien eindeutig und auch ohne
Wenn und Aber für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus-
gesprochen haben, sollten wir die heutige Aussprache
auch dazu nutzen, noch einmal sehr intensiv darüber
nachzudenken, was eine Abschaffung der Wehrpflicht
tatsächlich für Folgen hätte. Ich plädiere in diesem Fall
also nicht unbedingt dafür: Die Mehrheit ist für die Wehr-
pflicht – und damit basta! Lassen Sie uns lieber Argu-
mente ins Feld führen.

Wir müssen, wenn wir es mit der Wehrpflicht wirklich
ernst nehmen, sehr verantwortungsvoll und vor dem Hin-
tergrund der sicherheitspolitischen Situation, der gesell-
schaftspolitischen Auswirkungen und nicht zuletzt auch
unter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Rahmenbe-
dingungen durchaus sensibel argumentieren.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Da ist zunächst das Hauptargument derer, die behaup-
ten, aufgrund der seit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs
völlig veränderten sicherheitspolitischen Situation habe
die eigentliche Hauptaufgabe unserer Bundeswehr, näm-
lich die nationale Landesverteidigung, eine ganz unterge-
ordnete Bedeutung bekommen. Gleichzeitig wird daraus
die nach meiner Auffassung falsche Schlussfolgerung ge-
zogen, bei der Bundeswehr handele es sich heute um eine
reine Interventionsarmee, die praktisch nur noch außer-
halb unserer eigenen Landesgrenzen zum Einsatz kom-
men würde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das sagt Frau Beck!)


Das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist richtig: Die
Landes- und Bündnisverteidigung ist immer noch die
Hauptaufgabe der Bundeswehr,


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

auch wenn die Auslandseinsätze auf dem Balkan in der
Öffentlichkeit und im allgemeinen Bewusstsein den Ein-
druck hinterlassen haben sollten, dass die Notwendigkeit
der Landesverteidigung de facto gar nicht mehr gegeben
sei.

Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie sich
die sicherheitspolitische Lage unseres Landes verändert
hat. Wir sind praktisch nur noch von Freunden umgeben,
und wohl niemand im Deutschen Bundestag und auch da-
rüber hinaus wird bestreiten, welch großes Glück unser
Volk aus der Tatsache gewinnt, dass ehemalige Feinde,
die noch vor wenigen Jahren ihre Massenvernichtungs-
waffen auf uns richteten und umgekehrt vom Westen auch
bedroht wurden, jetzt unsere Bündnispartner werden wol-
len.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P.)

Dies alles ist richtig, und trotzdem möchte ich nicht

wissen, was beispielsweise unsere wichtigsten Verbünde-
ten in London, in Paris und in Washington dazu sagen
würden, wenn wir die originäre Landesverteidigung als
überholt bzw. überflüssig deklarieren würden. Ohne an
dieser Stelle negative sicherheitspolitische Szenarien ent-
wickeln zu wollen: Wer von uns vermag denn mit hun-
dertprozentiger Sicherheit auszuschließen, dass sich ir-
gendwann sicherheitspolitische Konstellationen ergeben,
die das Thema „Landesverteidigung“ von heute auf mor-
gen wieder auf die Tagesordnung bringen könnten?


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Insofern ist die militärische Landesverteidigung unab-

dingbare Verfassungspflicht unseres Staates. Die Wehr-
pflicht ist eine verfassungsrechtlich abgesicherte Pflicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ihre Einführung war seinerzeit bekanntlich eine Entschei-
dung von sehr hohem staatspolitischem Rang. Sie wirkt in
sämtliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen
Lebens hinein. Die Ableistung der Wehrpflicht ist Aus-
druck des allgemeinen Gleichheitsgedankens und ihre Er-
füllung ist demokratische Normalität.




Dr. Wolfgang Gerhardt

17343


(C)



(D)



(A)



(B)


Im Jahre 1985 hat das Bundesverfassungsgericht
festgestellt, dass der Verfassungsgeber mit den nachträg-
lich in das Grundgesetz eingeführten wehrverfassungs-
rechtlichen Bestimmungen eine „verfassungsrechtliche
Grundentscheidung für eine wirksame militärische Lan-
desverteidigung getroffen“ habe. Demnach haben Ein-
richtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr heute
verfassungsrechtlichen Rang.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sehr gut!)


Die allgemeine Wehrpflicht, meine Damen und Her-
ren, wird in dem Urteil als eine „gemeinschaftsbezogene
Pflicht hohen Ranges“ bezeichnet. Aus dieser Verantwor-
tung heraus haben sich bisher alle Bundesregierungen für
die Beibehaltung der Wehrpflicht entschieden. Hierfür
sprechen neben sicherheitspolitischen auch allgemeinpo-
litische, gesellschaftspolitische und auf Streitkräfte bezo-
gene Erwägungen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wehrgerechtigkeit!)


Ihre erste Begründung erfährt die Wehrpflicht aber in der
Absicht, auch in Zukunft eine funktionstüchtige Landes-
verteidigung sicherzustellen und einen wesentlichen Bei-
trag zur Bündnisverteidigung zu leisten.

In diesem Zusammenhang will ich auf einen zusätzli-
chen Punkt eingehen, der zwar nicht unbedingt von ver-
fassungsrechtlicher Relevanz ist, aber im Hinblick auf die
Weiterentwicklung unserer Gesellschaft trotzdem nicht
vernachlässigt werden darf. Eine Aussetzung der Wehr-
pflicht, wie sie von der F.D.P. gefordert wird, hätte natür-
lich automatisch eine Aussetzung des Zivildienstes zur
Folge. Sie hätte darüber hinaus eine Aussetzung aller Er-
satzdienste zur Folge. Ich weiß, dies kann nur ein Hilfs-
argument sein, weil sicherheitspolitische Gründe selbst-
verständlich absolut im Mittelpunkt der Debatte stehen.

Meine Damen und Herren, zusammenfassend darf ich
für die SPD-Fraktion feststellen:

Erstens. Sicherheitspolitisch hat sich an der Notwen-
digkeit für die Beibehaltung der Wehrpflicht nichts geän-
dert.

Zweitens. Es gibt viele gute Gründe für die Beibehal-
tung der Wehrpflicht. Am Leitbild „Bürger in Uniform“
kann ohne die Wehrpflicht nicht festgehalten werden.

Drittens. Auf der Grundlage der Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission hat die Bundesregierung mit
Zustimmung der sie tragenden Parteien beschlossen, die
Wehrpflicht als wesentlichen Bestandteil der künftigen
Struktur unserer Bundeswehr einzuplanen.

Viertens. Unabhängig von tagespolitischen Meinungs-
verschiedenheiten sind zwei Drittel der Mitglieder des
Deutschen Bundestages der Auffassung, dass die Wehr-
pflicht auch in Zukunft unverzichtbar ist.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Bravo!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417623800
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Helmut Rauber.


Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1417623900
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU lehnt
den Antrag der F.D.P. auf Aussetzung der Wehrpflicht
– was de facto einer Abschaffung gleich kommt – ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Johannes Kahrs [SPD]: Bravo!)


Herr Dr. Gerhardt, Ihr Antrag ist nicht sachlich, sondern
rein parteipolitisch motiviert. Dieser Antrag ist ein Tribut
an den Zeitgeist mit dem Ziel, auf eine populistische Tour
Wählerstimmen zu fangen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Nur sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass laut einer Em-
nid-Umfrage zwei Drittel der Bevölkerung nach wie vor
für die Beibehaltung der Wehrpflicht sind, und ich sage:
mit guten Gründen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich habe von Wehrgerechtigkeit gesprochen!)


– Ich komme noch dazu.
Es ist ja schon erstaunlich, dass die gleichen F.D.P.-Ver-

teidigungs- und Außenpolitiker, die auf ihrem Parteitag
leidenschaftlich auch mit sicherheitspolitischen Argumen-
ten für die Wehrpflicht gekämpft haben, jetzt plötzlich to-
tal die Fronten gewechselt haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber nur teilweise! – Peter Zumkley [SPD]: Das hat etwas mit dem Vorsitzwechsel zu tun!)


Die Faktenlage hat sich in den letzten Monaten nicht ver-
ändert.


(Johannes Kahrs [SPD]: Richtig!)

Wir leugnen nicht, dass auch uns die sinkende Zahl der

einzuberufenden Wehrpflichtigen große Sorgen macht.
Wenn das neue Wehrpflichtmodell mit rund 53000
Wehrpflichtigen und 27 000 freiwillig Grundwehrdienst
Leistenden in Zukunft greift, dann können wir, aufs Jahr
gerechnet, noch 85 000 junge Menschen einziehen, je
nachdem, wie viele freiwillig dienen. Diese Zahlen sind
zu niedrig und wir plädieren für eine Aufstockung;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn während unserer Regierungszeit waren immerhin
noch 160 000 Wehrdienstleistende in der Bundeswehr.

Ein Teil dieser Lücke lässt sich schließen, wenn wir
von dem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgehen und die
jetzt schon vorhandenen Freistellungsmöglichkeiten zum
Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem THW, dem
Deutschen Roten Kreuz usw. erweitern. Dies würde die
Arbeit der betroffenen Hilfsorganisationen vor allem an
der Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Risi-
kovorsorge stärken.

Wir als CDU teilen die Meinung derer

(Zuruf von der F.D.P.)





Reinhold Robbe
17344


(C)



(D)



(A)



(B)


– das steht ja auch in Ihrem Antrag –, die meinen, dass die
Wehrpflicht in erster Linie sicherheitspolitisch begründet
werden muss.


(Johannes Kahrs [SPD]: Bravo!)

Dies gilt aber nicht nur für die Wehrpflicht, sondern dies
gilt für die Bundeswehr allgemein. Wenn wir allein unsere
momentane Bedrohungssituation betrachten – wobei die
Betonung auf momentan liegt –, dann droht Deutschland
kein militärischer Überfall von irgendeiner finsteren
Macht. Aber wie die bisherige Menschheitsgeschichte ge-
zeigt hat, kann leider niemand eine Garantie dafür geben,
dass dies auf Dauer so bleibt. Ein Blick auf die aktuellen
Krisenherde und Kriege weltweit macht deutlich, dass der
Frieden leider kein Allgemeingut für alle Menschen ge-
worden ist.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Zur Zeit des Kalten Krieges war Deutschland Bündnis-

und auch Blockgrenze. Diesseits und jenseits unserer
Grenzen stand ein Zerstörungspotenzial, das jede Vorstel-
lungskraft sprengte. Diese tödlichen Gefahren des Krie-
ges sind bei uns – ich betone: bei uns – Gott sei Dank ver-
schwunden. Nur darf uns das nicht dazu verführen, die an
den Bündnisgrenzen nach wie vor latent vorhandenen
Bedrohungen außer Acht zu lassen und uns aus der Ge-
samtverantwortung für das Bündnis herauszustehlen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Landesverteidigung beginnt an den Bündnis-
grenzen. Nicht von ungefähr wurde die neue NATO-Stra-
tegie dahin gehend verändert, Konflikte auf Distanz zu
halten. Wenn wir von diesem Ansatz, dem Unsicherheits-
faktor und der neuen Bündnisgrenze ausgehen, dann gibt
es eine sicherheitspolitische Begründung sowohl für eine
starke Bundeswehr als auch für die Wehrpflicht.

Die strategische Begründung für die Beibehaltung der
Wehrpflicht liegt in unserer exponierten geostrategischen
Lage als stärkste Zentralmacht Europas. Wir als Bundes-
republik Deutschland stehen in der besonderen Verant-
wortung, ausreichend Kräfte für die Verteidigung Gesamt-
europas zur Verfügung zu stellen. Die dazu notwendige
Aufwuchsfähigkeit im Rahmen unserer Bündnis- und
Landesverteidigung, die nach wie vor im Grundgesetz
verankert ist, ist ohne Wehrpflicht nicht gewährleistet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Auch der laufende Betrieb bei der Bundeswehr wäre

ohne die Wehrpflichtigen so nicht möglich. Dass allerdings
8 000 Wehrpflichtige auf Unteroffiziersstellen dienen, ist
auch nach unserer Meinung ein unhaltbarer Zustand.

Die Wehrpflichtigen repräsentieren ein sehr breites
Spektrum von Fähigkeiten, Wissen und auch Fertigkeiten.
Gerade die Erfahrungen auf dem Balkan zeigen, wie un-
verzichtbar es ist, aus dem Wehrpflichtpotenzial Spezialis-
ten zu rekrutieren, die die Bundeswehr selbst aus vielerlei
Gründen nicht ausbilden kann.

Derzeit sind auf dem Balkan rund 7 300 Soldatinnen
und Soldaten eingesetzt, darunter 1 600 Wehrpflichtige,
überwiegend freiwillig Grundwehrdienst Leistende, die

hervorragende Arbeit leisten. Mit anderen Worten: Über
22 Prozent der Soldaten im Auslandseinsatz kommen
aus der Wehrpflicht. Würden wir auf die Wehrpflicht ver-
zichten, wäre die Belastung für die restlichen Berufs- und
Zeitsoldaten noch größer und damit die Nachwuchsge-
winnung noch schwieriger.

Damit sind die Gründe für die Wehrpflicht jedoch bei
weitem nicht erschöpft. Die Wehrpflicht hält die Bundes-
wehr jung. Dies gilt nicht nur für das Durchschnittsalter,
das bei uns um zehn Jahre niedriger liegt als in der Berufs-
armee der Belgier, sondern ebenso für das Jungsein im
Denken. Die Wehrpflichtigen sind es, die Meinungen,
Moden, Denkrichtungen in die Bundeswehr tragen und so
für die Führung auf allen Ebenen eine ständige Heraus-
forderung darstellen. Die Gefahr von Verkrustungen im
Denken wird so am ehesten gebannt.

Wehrpflichtige sind weiterhin ein entscheidendes Kon-
trollorgan der Armee. Diejenigen, die nicht zu befürchten
brauchen, durch zu viel Zivilcourage berufliche Nachteile
zu erleiden, sind am ehesten bereit, Kritik zu üben und tat-
sächliche oder vermeintliche Missstände beim Namen zu
nennen.


(Johannes Kahrs [SPD]: So ist das!)

Für die Wehrpflicht sprechen auch die Erfahrungen der

Staaten – mit denen sollten Sie sich einmal unterhalten –,
die die Wehrpflicht abgeschafft haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Kenne ich!)


Die werden Ihnen nämlich in Vier-Augen-Gesprächen et-
was gänzlich anderes sagen, als offiziell verlautbart wird.


(Peter Zumkley [SPD]: Das sind auch unsere Erfahrungen!)


Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die
Leistungswettbewerbe unserer „gemischten“ Armee mit
den Berufsarmeen anderer Staaten zeigen, dass wir uns
vor keiner Armee dieser Welt zu verstecken brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wer die Wehrpflicht abschafft, löst auch den Zivil-

dienst auf – mit allen Konsequenzen für unseren Sozial-
staat.

Ich komme zum Schluss: Der Prophet Jesaja, der Sohn
des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon ge-
sprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit
der Völker spricht und die Nationen zurechtweist.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417624000
Herr Kollege Rauber,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Jetzt nicht!)



Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1417624100
Ja, selbstverständlich.
Jetzt wollte ich zum Propheten Jesaja kommen und schon
kommt der Kollege Nolting mit einer Zwischenfrage.


(Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Helmut Rauber

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(C)



(D)



(A)



(B)


Sie bringen mich ganz aus dem Konzept.

(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Erst der Jesaja, dann der Nolting! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein falscher Prophet! – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Ich kann die Frage auch einen Moment später stellen! Das ist nicht das Problem!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417624200
Das wäre wohl zu viel
der Rücksichtnahme. Schießen Sie los.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Von Jesaja zu Nolting ist es nicht weit!)



Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1417624300
Herr Kollege
Rauber, können Sie noch einmal etwas zur Legitimation
der Wehrpflicht sagen, wenn in Zukunft nur noch 20 Pro-
zent eines Jahrgangs den Grundwehrdienst, aber fast
40 Prozent eines Jahrgangs Ersatzdienst leisten? Das
heißt, der Sekundärdienst dient als Legitimation für die
Wehrpflicht. Können Sie auch etwas zur Wehrgerechtig-
keit sagen, die vom Fraktionsvorsitzenden der F.D.P.,
Dr. Gerhardt, angesprochen wurde?


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])



Helmut Rauber (CDU):
Rede ID: ID1417624400
Herr Kollege Nolting,
ich habe einleitend gesagt, dass es auch uns große Sorgen
bereitet, dass zukünftig nur noch 85 000 junge Menschen
einberufen werden können. Auch wir als CDU plädieren
dafür, dass diese Zahl erhöht wird.


(Peter Zumkley [SPD]: Übers Jahr sind es aber mehr!)


– Nicht viel. Wenn ich die 53 000 Wehrpflichtigen und
diejenigen nehme, die freiwillig Grundwehrdienst leisten,
sind es 80 000. Aber streiten wir nicht darüber.

Wir hatten schon mal die Situation – wer die Ge-
schichte kennt, weiß dies –, in der durch Losverfahren
entschieden wurde, wer als Wehrpflichtiger zur Bundes-
wehr geht und wer nicht.


(Peter Zumkley [SPD]: 1957 war das!)

Das ist damals nicht verfassungsrechtlich angegriffen
worden. Warten wir einmal ab, wie das Verfassungsge-
richt entscheidet. Ich sehe aber nicht ein, als Parlament,
als legitimes Organ, in vorauseilendem Gehorsam gegen
unsere Überzeugungen in eine falsche Richtung zu gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Werner Siemann [CDU/CSU]: Jetzt kommen Sie mal zu Jesaja!)


– Jetzt komme ich zum Propheten Jesaja. Jesaja, der Sohn
des Amos, hat 700 vor Christus in einer Vision davon ge-
sprochen, dass der Herr vom Berg Zion Recht im Streit
der Völker spricht und die Nationen zurechtweist. Dazu
das berühmte Zitat:

Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflug-
scharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer

wird Volk gegen Volk zum Schwerte greifen; üben
wird man nicht mehr für den Krieg.

– Jesaja 2, 4.
Wie lange ist das her und wie oft hat der Mensch gegen

den Menschen das Schwert gezückt und für den Krieg
geübt? Wir können und wir müssen wie in der Vision
Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Aber wir dürfen
nie vergessen, wie oft leider vergeblich versucht wurde,
dieses Ziel zu erreichen.

Alles in allem hat sich die Wehrpflicht bewährt. Es gibt
heute keine überzeugenden Gründe für ihre Abschaffung.
Deshalb lehnen wir den F.D.P.-Antrag mit großer Ent-
schiedenheit ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417624500
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Winfried
Nachtwei das Wort.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Wollen wir mal sehen, wie er die Kurve kriegt!)



Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417624600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
einem Jahr billigte das Bundeskabinett die Eckpfeiler der
vom Verteidigungsminister eingebrachten Bundeswehr-
reform und damit die Beibehaltung der Wehrpflicht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das war gut so!)

Die von uns geforderte Abschaffung der Wehrpflicht
wurde somit vorläufig ausgesetzt. Solange sich dazu die
Meinung in der Koalition nicht ändert, werden die Koali-
tionsfraktionen in der Sache gemeinsam handeln.


(Beifall bei der SPD)

Unabhängig davon geht natürlich die politische De-

batte um dieses Thema unvermeidlich weiter, und zwar
nicht einfach wegen dieses F.D.P.-Antrages, sondern weil
es für die jungen Leute schlichtweg immer ein Problem
ist, sich zu entscheiden. Dabei geht es um die Legitima-
tion der Wehrpflicht.


(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist eine Gewissensentscheidung, keine saloppe Entscheidung!)


Ich sage nichts Neues und kann nur immer wieder be-
tonen, dass die Grünen, unabhängig von der Koalitionspo-
sition, in der wir eine gemeinsame Linie vertreten, an ih-
rer Position zur Überwindung der Wehrpflicht festhalten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Vor dem Hintergrund finden wir zunächst einmal den Po-
sitionswechsel der F.D.P. begrüßenswert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Dann könnt ihr ja zustimmen!)


– Herr Nolting, Sie haben immer wieder das Problem,
nicht richtig hinhören zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Helmut Rauber
17346


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn Sie die letzten zwei Minuten hingehört hätten, dann
hätten Sie bereits eine Antwort.

Hier im Saal müsste Einigkeit darüber bestehen, dass
die entscheidende politische Begründung für die Wehr-
pflicht eine sicherheitspolitische Begründung sein muss.
Ich glaube, darin stimmen auch alle überein.

Die F.D.P. leistet diesem gemeinsamen Anspruch aller-
dings einen ziemlichen Bärendienst, wie man feststellt,
wenn man sich ihre Verlautbarungen von Anfang 2000 an-
schaut. Darin steht: sicherheitspolitisch unbedingt not-
wendig, unverzichtbar. Ein paar Monate später: sicher-
heitspolitisch nicht mehr unverzichtbar.


(Peter Zumkley [SPD]: Es hat sich ja so vieles geändert!)


Wenn Sie dies wenigstens mit einer veränderten sicher-
heitspolitischen Lage begründen würden! Ich glaube, es
ist ein bisschen schwierig, das nachzuweisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das gibt uns Aufschluss darüber, dass nicht eine verän-
derte sicherheitspolitische Lage, sondern eine verän-
derte parteiinterne Bedrohungssituation für Ihren Wech-
sel entscheidend ist.

Wie aber verhält es sich nun mit der sicherheitspoli-
tischen Begründung? Es wird immer gesagt: Die Wehr-
pflicht muss sicherheitspolitisch notwendig sein. Und
dann vielleicht: Sie muss nützlich sein. – Das ist richtig;
die Wehrpflicht ist nützlich, zum Beispiel was die Nach-
wuchsgewinnung anbelangt. Das ist nicht in Abrede zu
stellen. Nur, der Anspruch an eine sicherheitspolitische
Begründung ist ein anderer: Es geht um einen massiven
Grundrechtseingriff. Deshalb geht es nicht einfach nur um
Notwendigkeit und Nützlichkeit. Die Wehrpflicht muss
vielmehr unverzichtbar und alternativlos sein, um die
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewähr-
leisten.


(Johannes Kahrs [SPD]: So ist das auch!)

Das ist der Kernpunkt; darauf muss man es bringen. Das
kann man nicht daran messen, wie der Auftrag der Bun-
deswehr lautet. Man muss zunächst einmal fragen: Wie
ist die mittelfristig absehbare Lage? Diesbezüglich be-
haupten wir, dass mittelfristig auch kein Restrisiko eines
großen Verteidigungsfalles für die Bundesrepublik und
das Bündnis besteht, dass dieses Risiko mittelfristig aus-
geschlossen werden kann. Wie die Lage später ist, bei-
spielsweise in 15 Jahren, kann keiner sagen. Das ist völ-
lig richtig.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Jetzt müssen Sie aber vorsichtig sein!)


Von daher ist nach unserer Auffassung die sicherheits-
politische Unverzichtbarkeit der Wehrpflicht nicht mehr
gegeben. Wir müssen feststellen, dass schon die Vorgän-
gerregierung eigentlich davon ausging, dass dieses Rest-
risiko nicht mehr besteht. Denn wie anders ist es zu er-
klären, dass schon die Vorgängerregierung aus dem
Zivilschutz, aus der Zivilverteidigung ausgestiegen ist

und dass die bekannten Regierungsbunker zum Verkauf
stehen? Insofern besteht ein gewisser Widerspruch.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Ein Letztes: Die sicherheitspolitische Begründung

muss plausibel sein, und zwar gerade für junge Leute.

(Reinhold Robbe [SPD]: Sehr richtig!)


Ich glaube, wir stimmen darin überein, dass es schwer
fällt, diese Plausibilität angesichts der sicherheitspoli-
tischen Lage darzustellen. Hinzu kommt der Umstand,
dass wir, ehrlich gesagt, nicht mehr von einer allgemeinen
Wehrpflicht reden können. Wir haben eine allgemeine
Dienstpflicht für Männer bzw. Wehrpflicht für einen Teil
der Männer, der immer geringer wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Warum stimmen Sie nicht für den Antrag der F.D.P.? – Dirk Niebel [F.D.P.]: Sagen Sie doch, dass das ein guter Antrag ist!)


Es besteht also in der Tat ein Problem hinsichtlich der
Wehrgerechtigkeit.

Zusammengefasst: Einer Wehrstruktur, die den verfas-
sungsrechtlichen Anforderungen und den sicherheitspoli-
tischen Notwendigkeiten entsprechen soll, ist mit Be-
kenntnissen nicht gedient. Was wir brauchen, ist eine
sorgfältige und offene Diskussion über die Begründungen
und über die verantwortbaren Alternativen. Darüber soll-
ten wir unabhängig davon, wie unsere Position zur Wehr-
pflicht direkt ist, diskutieren.

In etlichen anderen Ländern ist dies schon so gesche-
hen: Man hat sich an der einen Wehrform festgehalten,
dann hat es einen plötzlichen Wechsel in den Reihen der
Regierung gegeben, man war überrascht und stand auf
einmal vor dem schnellen Wechsel. Über diese Dinge
sollte man rechtzeitig und sorgfältig diskutieren. Wenn
diese Debatte dazu einen Beitrag leistet, ist es gut.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417624700
Ich erteile das Wort
der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1417624800
Lieber Kollege Nachtwei,
ich kann dir zu dieser Rede nur gratulieren. Ich denke, du
hast einen fantastischen Spagat zwischen deinem poli-
tischen Anspruch und der Machtbeteiligung hingelegt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Deshalb werdet ihr an der Macht auch nicht beteiligt werden!)


Heilige Kühe darf man nicht schlachten und für
CDU/CSU und SPD ist die Wehrpflicht eine heilige Kuh.
Kollege Robbe, Sie haben selbst gesagt: „... und damit
basta!“


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417624900

Wenn die Gründe, die für die Beibehaltung der Wehr-
pflicht sprechen, nicht mehr gelten sollten, dann




Winfried Nachtwei

17347


(C)



(D)



(A)



(B)


muss über sie neu nachgedacht werden. Man macht
sich unglaubwürdig, wenn man an Positionen fest-
hält, die sich unter veränderten Bedingungen nicht
mehr halten lassen.

Zu den veränderten Bedingungen gehört nun einmal das
Ende des Kalten Krieges und damit die Tatsache, dass wir
nur noch von Freunden und Partnern umgeben sind.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Wuppertal ist ein gefährlicher Platz in der Republik!)


Vor dem Hintergrund dieser sicherheitspolitischen Ana-
lyse hat auch der Kollege Penner Recht, wenn er sagt:
„Ich bin ... davon überzeugt, dass Wehrpflicht vom Staat
nur abverlangt werden kann, wenn es um Landesverteidi-
gung geht.“

Aber selbst in der Logik von CDU und SPD ist nicht
ersichtlich, warum man derart starr an der Wehrpflicht
festhält.


(Johannes Kahrs [SPD]: Da stimmt die Reihenfolge nicht!)


Denn Sie wollen doch eine Bundeswehr, die im Kern auf
Kriseninterventionsfähigkeiten zugeschnitten ist. Da-
für brauchen Sie eine hochprofessionalisierte Hightech-
armee, die sich auf erheblich weniger Personal stützen
kann.


(Johannes Kahrs [SPD]: Und schon ist Ihre These tot!)


Es bleiben zwei Gründe: Der eine, Kollege Kahrs, ist
praktischer Natur, nämlich die Nachwuchsgewinnung für
die Streitkräfte.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist auch ein sicherheitspolitisches Anliegen!)


Für diesen Zweck leisten Sie sich – das wurde hier schon
erwähnt – einen Auswahlwehrdienst, der nach 2004 nur
noch 20 Prozent der jungen Männer eines Altersjahrgangs
erfassen wird. In drei Jahren werden 40 Prozent eines
Jahrgangs andere Dienste leisten und 40 Prozent werden
ganz verschont bleiben. Es wird wieder einmal die Auf-
gabe des Bundesverfassungsgerichtes sein, dem Parla-
ment zu sagen, wie das Grundgesetz zu interpretieren ist.

Der andere Grund für Ihre Hartnäckigkeit ist aus-
schließlich ideologischer Natur: Sie fürchten um den Ver-
lust der gesellschaftlichen Legitimation der Streitkräfte,
wenn auf die Wehrpflicht verzichtet wird.


(Reinhold Robbe [SPD]: Zuhören, Frau Kollegin Lippmann! Zuhören!)


Ihnen geht es um Gesellschaftspolitik. Sie haben Angst,
dass Sie Ihr militärisches Tschingderassabum nicht mehr
so öffentlich wie bisher präsentieren können. Sie haben
Angst davor, dass die militärische Akzeptanz in den Fa-
milien der jungen Wehrpflichtigen verblassen wird. Das
ist nicht nur hochgradig fantasielos, sondern auch gefähr-
lich, weil Sie damit das Denken in Richtung Entmilita-
risierung und Zivilisierung der internationalen Beziehun-
gen blockieren.

Die F.D.P. schreibt völlig zu Recht:

Die Allgemeine Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch
nicht mehr zwingend notwendig.

Die F.D.P. möchte die Wehrpflicht aussetzen. Wir gehen
einen Schritt weiter und sagen: Wir wollen die Wehr-
pflicht aufheben.


(Johannes Kahrs [SPD]: Seltsame Koalitionen hier!)


Trotzdem werden wir dem F.D.P.-Antrag zustimmen.
Zwangsdienste sind Relikte aus Zeiten des Kalten Krie-
ges. Machen Sie endlich damit Schluss, steigen Sie in die
Debatte ein! Diskriminieren Sie nicht länger einen be-
stimmten Anteil der jungen Männer in diesem Land und
legen Sie endlich ein Konzept zur Aufhebung des Zivil-
dienstes und zur Reform der sozialen Dienste vor, damit
der Zivildienst nicht länger zur Legitimation der Wehr-
pflicht herangezogen werden muss!

Danke.

(Beifall bei der PDS – Werner Siemann [CDU/ CSU]: Das war der größte Beifall des heutigen Tages!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417625000
Nun erteile ich dem
Kollegen Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion das Wort.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1417625100
Hochverehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir scheint, die
F.D.P.-Fraktion führt hier einen Dauerkalender für An-
träge auf Aussetzung der Wehrpflicht.


(Peter Zumkley [SPD]: Ja, so ist das!)

Im letzten Jahr hatten Sie bereits einen Antrag gestellt,
den Sie aus internen Gründen nicht weiterverfolgt haben.
Dann haben Sie am 19. Januar dieses Jahres einen Antrag
gestellt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Wir stellen schon mal Anträge hier! Was haben Sie denn getan?)


Nach Ihrer Logik müssten Sie, wenn weitere fünf Monate
vergangen sind, den nächsten Antrag stellen. Dann haben
wir den 21. November. Da findet zwar keine Sitzung statt;
aber immerhin ist dies der Bußtag.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Mein Gott, wer hat das aufgeschrieben?)


Das bietet für Sie vielleicht Zeit und Gelegenheit, Ihre
bisherigen Anträge in aller Ruhe zu überdenken, Herr
Nolting.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Offensichtlich sind Sie nicht willens oder dazu in der
Lage, die Realitäten zu erkennen.


(Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


Zu diesen Realitäten gehört nun einmal, dass die über-
wältigende Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen in




Heidi Lippmann
17348


(C)



(D)



(A)



(B)


diesem Hause die Notwendigkeit für die Beibehaltung der
Wehrpflicht sieht, sie vertritt und sich zu ihr bekennt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Mehrheiten müssen nicht immer Recht haben!)


– Die Wehrgerechtigkeit ist auch weiterhin gegeben, trotz
Ihrer Unkenrufe, Herr Kollege.

Ich frage mich, welche Ihrer neuen sicherheitspoli-
tischen Erkenntnisse Sie dazu veranlasst haben, Ihren An-
trag heute erneut zu stellen.


(Peter Zumkley [SPD]: Das frage ich mich auch!)


Bisher haben Sie sie noch nicht genannt. Lassen Sie uns
doch an Ihrem Wissen teilhaben. Sagen Sie mir, was sich
seit dem Sommer des letzten Jahres in diesem Land si-
cherheitspolitisch so grundlegend verändert hat! Damals,
als Sie, Herr Nolting, noch das Kommando hatten, hieß
es: Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch unverzichtbar.
Deswegen dürfen Sie heute wohl nicht mehr reden. Sie
stellen nicht nur alte Anträge endlos neu, Sie widerspre-
chen sich auch noch. Das ist nicht nur taktisch unklug,
sondern auch unglaubwürdig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie mögen Ihre Überzeugungen im vorauseilenden Ge-
horsam über Bord schmeißen. Wir dagegen stehen zu un-
seren Überzeugungen und begründen sie.


(Heidi Lippmann [PDS]: Dann begründe doch bitte einmal!)


Ich durfte nun lesen, dass Sie angesichts einer erneuten
öffentlichen Diskussion über die Wehrpflicht bereit sind,
weiterführende Konzeptionen zu entwickeln und vorzu-
stellen. Das finde ich zwar gut. Aber im Umkehrschluss
heißt das doch, dass Sie sich zurzeit in einer konzeptions-
losen Phase befinden und wider besseres Wissen versu-
chen, eine erneut unnötige Debatte loszutreten. Ehrlich
gesagt, etwas anderes habe ich von Ihnen im Moment
auch nicht erwartet.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich muss schon sagen, dass Sie eine solche Courage bei dem Wehretat haben!)


Ihrem jüngsten Beitrag, man dürfe die Wehrpflicht nicht
aus der Notwendigkeit des Ersatzdienstes heraus legiti-
mieren, stimme ich dagegen zu. Damit haben Sie aus-
nahmsweise einmal Recht. Das ist ein typisches Stamm-
tischargument, das sich kein ernsthafter Politiker zu Eigen
machen würde. Von diesem haben wir jedenfalls noch nie
Gebrauch gemacht. Deswegen rennen Sie hier gegen
Wände an, die es gar nicht gibt.

Die F.D.P. ist der Ansicht, dass die Aufgaben der Bun-
deswehr auch mit einer Freiwilligenarmee bestritten wer-
den könnten. Diese Feststellung mag in einigen kleinen
Teilbereichen zutreffend sein. Aber die weiterführende
Frage ist doch, ob wir bereit sind, den Preis dafür zu zah-
len. Die Wehrpflicht steht für den Charakter der Bundes-
wehr. Sie symbolisiert eine gute bundesrepublikanische
Tradition. Ich spreche hier nicht von Rentabilitäts-, Effi-
zienz- oder reinen Kostenfragen. Darauf lässt sich die De-

batte über die Wehrpflicht nicht reduzieren. Auch das,
Herr Nolting, wussten Sie noch vor einem Jahr.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das ist auch nicht unser Ansatz!)


– Sehen Sie! – Viele von uns betonen, wie wichtig die Be-
teiligung des Einzelnen am Staate ist, und zwar zu Recht.
Das sollte eigentlich auch die F.D.P. wissen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Halten Sie die Rede doch einmal in einer deutschen Schulklasse!)


Auch wenn die Wehrpflicht eine Pflicht ist: Wo sonst
finden wir eine solch deutliche Verbindung von Bürger
und Staat?Wo sonst wird so deutlich, dass die Grundbe-
dingung für unser Gemeinwesen die Teilnahme des Ein-
zelnen ist? In den vergangenen vier Jahrzehnten haben
über 8 Millionen Wehrpflichtige Mitverantwortung für
die Sicherheit unseres Landes übernommen. Fast 50 Pro-
zent des Führungsnachwuchses an Offizieren und Unter-
offizieren der Bundeswehr werden aus den Reihen der
Wehrpflichtigen gewonnen. Das trägt dazu bei, dass der
Soldat in unserer Gesellschaft fest verankert ist. Auch das
Genöle der F.D.P.-Fraktion und ihres Vorsitzenden wird
daran nichts ändern.


(Beifall bei der SPD)

Vielleicht ist es nunmehr an der Zeit, zu erkennen, dass

die Wehrpflicht in der Bundeswehr – ich wiederhole das
gern für Sie – eine bundesrepublikanische Tradition ist,
die nicht dadurch getrübt wird, dass sich andere Demo-
kratien gegen eine Wehrpflichtarmee entschieden haben;
denn die Erfahrungen unserer Bündnispartner, die die
Wehrpflicht aufgegeben haben, bestärken uns ein um das
andere Mal, an derselben festzuhalten.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417625200
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von der PDS-
Fraktion?


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1417625300
Von wem?

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417625400
Kollegin Lippmann.

Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1417625500
Ach, nein, von der heute

nicht.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heidi Lippmann [PDS]: Das ist die tapfere Jugend von heute!)


– Frau Kollegin, wir reden einmal in aller Ruhe und Sach-
lichkeit miteinander.

Die Wehrpflicht ermöglicht es, die Potenziale an In-
telligenz, Fähigkeit und beruflicher Qualifikation unserer
jungen Männer effizient miteinander zu verbinden.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Toller Hauptmann!)


– Herr Kollege, halten Sie etwas an sich!

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Jawohl, Herr Hauptmann!)





Johannes Kahrs

17349


(C)



(D)



(A)



(B)


Eine Bundeswehr mit Berufs- und Zeitsoldaten sowie
Wehrpflichtigen ist in ihrer Qualität jeder Berufsarmee
überlegen. Haben Sie, verehrte Kollegen von der F.D.P.-
Fraktion, überhaupt gedient?


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der F.D.P.)


Offenbar nicht; denn ansonsten könnten Sie gar nicht
solch unsinnige Aussagen machen.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Wehrpflicht ist nicht nur eine Bereicherung für die
Bundeswehr. Die Wehrpflicht ist ein Gewinn für die
ganze Gesellschaft. Die Wehrpflicht ist der lebendige
Ausdruck dafür, dass die Bevölkerung und ihr Gemein-
wesen zusammengehören, sich bedingen und gegenseitig
bereichern. Das hat auch die F.D.P. mehr als 50 Jahre
gewusst. Was Sie hier veranstalten, ist trauriges Schielen
nach neuen Mehrheiten – die Sie vielleicht im Container
finden werden, aber nicht hier und heute!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe daher, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen von der F.D.P., dass wir für die nächste Zeit von
solch albernen Anträgen verschont bleiben. Zum Schluss
möchte ich gerne den früheren Verteidigungsminister
Georg Leber zitieren:

Der Wehrdienst heute, wie ihn Gesetz und Recht ge-
bieten, ist ein ehrenhafter Dienst, nicht mehr und
nicht weniger ehrenhaft als beispielsweise der Dienst
unserer Richter, deren Aufgabe, wenn auch von an-
derer Art, der Wahrung von Freiheit und Recht zuge-
wandt ist.

Deswegen glaube ich, dass der Spruch: ...wovon er
ganz besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“
vielleicht für Sauerkraut, Gulasch und Eintopf gilt, aber
garantiert nicht für Anträge der F.D.P.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417625600
Ich schließe die Aus-
sprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses auf Drucksache 14/6274 zu dem Antrag
der F.D.P. mit dem Titel „Wehrpflicht aussetzen“. Zu die-
sem Antrag gibt es eine Erklärung zur Abstimmung des
Kollegen Winfried Nachtwei, die wir zu Protokoll nehmen.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/5078 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfeh-
lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist damit gegen die Stimmen von F.D.P. und
PDS bei Enthaltung des Kollegen Nachtwei angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-

zung derRichtlinie über den rechtlichen Schutz
biotechnologischer Erfindungen
– Drucksache 14/5642 –

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1417625700
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetz-
entwurf, dessen Inhalt in den letzten Jahren bekanntlich
ausgesprochen intensiv öffentlich diskutiert worden ist.
Ich finde, es ist bemerkenswert, dass hierbei Argumente
parteiübergreifend ausgetauscht worden sind. Auch die
Öffentlichkeit hat sich intensiv engagiert. Wir haben zahl-
reiche Eingaben, Zuschriften und Briefe von Organisatio-
nen, Kirchen und Einzelpersonen erhalten. Das zeigt das
große Interesse der Menschen an diesem neuen Technolo-
giebereich und gibt Hinweise auf die Bedeutung dieses
Themas.

Der vorliegende Gesetzentwurf regelt nicht – ich
möchte das gleich zu Anfang sagen – die Möglichkeiten
und Grenzen eines neuen Technologiebereichs. Es geht
nicht um das, was Forschung darf oder nicht darf, sondern
es geht um den rechtlichen Schutz von Erfindungen.Das
Recht des geistigen Eigentums, also insbesondere das Pa-
tentrecht, soll modernisiert und auf einen möglichst aktu-
ellen Stand gebracht werden.

Eines ist wichtig: Wir bewegen uns beim Schutz des
geistigen Eigentums in einem internationalen Bereich.
Man muss diesen Aspekt, wenn man ehrlich mit dem
Thema umgeht, deutlich machen. Deswegen muss unser
Schutzsystem konkurrenzfähig bleiben. Denn wenn es
keinen angemessenen Schutz von Forschungsergebnissen
gibt, wird sich das mit Sicherheit auch auf die Qualität un-
serer Forschung auswirken. Die Diskussionen über den zu
beratenden Entwurf geben Anlass, klarzustellen, dass der
Forschung nicht etwas erlaubt wird, was ethisch nicht ver-
tretbar ist, sondern es um den angemessenen rechtlichen
Schutz von Forschungsergebnissen, die die Forschung in
legitimer Weise erzielt hat, geht.
Das Patentrecht ist – ich sagte es schon – wie kaum ein an-
derer Rechtsbereich durch europäisches, aber auch durch
internationales Recht geprägt. Es geht vor allem darum,
einen effektiven Patentschutz auf allen Gebieten der
Technik zur Verfügung zu stellen.

Heute haben wir eine europäische Richtlinie umzuset-
zen: die Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotech-




Johannes Kahrs
17350


(C)



(D)



(A)



(B)


nologischer Erfindungen. Dabei bleibt uns wenig Spiel-
raum. Richtlinien sind – auch das ist zu betonen – gelten-
des europäisches Recht und müssen umgesetzt werden. In
diesem Fall ist die Umsetzungsfrist bereits am 30. Juli des
letzten Jahres abgelaufen.

Zur Biopatentrichtlinie und ihrer Entstehung will ich
nicht viel sagen, mir aber den Hinweis erlauben, dass ihr
auch auf der europäischen Ebene – insbesondere im Eu-
ropäischen Parlament – eine intensive Diskussion
vorangegangen ist. Man kann den Abgeordneten des Eu-
ropäischen Parlamentes mit Sicherheit nicht die Ernsthaf-
tigkeit ihres Bemühens absprechen.

Die europarechtliche Verpflichtung zur Umsetzung
von Richtlinien liegt auf der Hand. Die Biopatentrichtli-
nie sollte aber, wie ich finde, auch wegen ihres Inhalts
bald umgesetzt werden, denn sie bringt – das will ich ganz
deutlich sagen – für das Patentrecht ganz erhebliche Vor-
teile, auf die nicht verzichtet werden sollte. Das geltende
Patentrecht bleibt zwar die wesentliche Grundlage für den
Rechtsschutz von Erfindungen; mit der Biopatentrichtli-
nie und ihrer Umsetzung werden aber gerade für biotech-
nologische Erfindungen mehr Rechtssicherheit und
Rechtsklarheit erreicht. Damit wird für die Nutzer des
Patentsystems, insbesondere aber auch für unsere For-
schung und für unsere Industrie, im rechtlichen Bereich
ein verlässlicher Rahmen geschaffen.

Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten der EU vor,
dass sie bestimmte und fundamental wichtige Patentie-
rungsverbote in ihre Patentgesetze aufnehmen müssen.
Dabei geht es um die gebotenen ethischen Grundsätze, die
die Würde und Unversehrtheit des Menschen gewährleis-
ten. Auch das ist nichts Neues; aber ich denke, es war ge-
rade dem europäischen Gesetzgeber wichtig, dass die
wichtigsten Verbote in der Richtlinie und damit später in
den nationalen Gesetzen genannt werden. Der wichtigste
dieser Grundsätze ist sicher der, wonach der menschliche
Körper in allen seinen Phasen – seiner Entstehung und
Entwicklung – nicht patentierbar ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Biopatentrichtlinie dient also vor allem der Konkreti-
sierung der Grundsätze der Ethik und Menschenwürde für
das Patentrecht. Es ist unser Ziel, dass diese Grundsätze
bald auch in unserem deutschen Patentrecht ausdrücklich
verankert werden.

Wir wollen – weil wir wissen, dass das notwendig ist –
die Entwicklung genau beobachten. Die Bundesregierung
hat im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Ge-
setzes klargemacht, dass sie die Beobachtung der künfti-
gen Entwicklung ernst nimmt. Zudem ist die Kommis-
sion zur Berichterstattung aufgefordert – wozu es ja in
diesem Jahr kommen wird. Darüber hinaus sind wir von
unserem Hause aus an die Europäische Kommission
herangetreten, um mit ihr in einen Meinungsaustausch
über eine Verbesserung und Präzisierung der Richtlinie
einzutreten.

Wir wissen, dass es im Moment ein Verfahren vor dem
Europäischen Gerichtshof gibt. Genau vor einer Woche
hat der Generalanwalt dafür plädiert, die Nichtigkeits-
klage zweier Staaten der Europäischen Union abzuleh-

nen. Ich denke, dass die Begründung, die er genannt hat,
auch für uns von Bedeutung ist. Er hat nämlich gesagt, es
handele sich bei der Richtlinie nicht um eine Neuerfin-
dung des Patentrechts, sondern um eine Weiterentwick-
lung;


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Rückwärtsentwicklung!)


in der Richtlinie würden Grenzen neu definiert.
Ich bin sicher, dass wir diese Frage in diesem Hause

weiterhin kontrovers, aber ernsthaft diskutieren, und be-
danke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Nichts Konkretes!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417625800
Für die CDU/CSU-
Fraktion erteile ich dem Kollegen Norbert Hauser das
Wort.


Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1417625900
Frau Präsiden-
tin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Dein Gen gehört mir.“ Die Möglichkeit, dass
dieser Satz einmal Wirklichkeit werden könnte, darf nicht
am Ende der Beratungen über die Umsetzung der EU-
Biopatentrichtlinie in deutsches Recht stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

„Genpatente als Blankoscheck für die Ausbeutung

natürlicher Güter“, so formulierte Jeremy Rifkin seine Ab-
lehnung. „Genpatente sind notwendige Voraussetzungen
für die Forschung in der Medizin“, heißt es von der ande-
ren Seite. Damit sind die Fronten abgesteckt.

Wir haben uns zu fragen: Müssen wir, sollen wir, dürfen
wir die Richtlinie mit dem Gesetz, dessen Entwurf uns die
Bundesregierung vorgelegt hat, umsetzen? Art. 15 – das
klang eben an – hat die Umsetzung bis zum 30. Juli 2000
gefordert. Das Verfallsdatum ist also längst überschritten.
Das Justizministerium – das ist gerade noch einmal bekräf-
tigt worden – hat erklärt, eine Aussetzung verstoße gegen
europäisches Recht. Im Übrigen sei die Richtlinie im Prin-
zip bereits geltendes Recht.

Nur Großbritannien, Irland, Dänemark und Finnland
haben die Richtlinie umgesetzt. Die Niederlande haben
eine Nichtigkeitsklage eingereicht. Italien hat sich ange-
schlossen. Frankreich hat die Umsetzung in nationales
Recht zurückgestellt, weil es die Patentierung menschli-
cher Gene mit der Menschenwürde für unvereinbar hält.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Es gibt also offenbar in den meisten Ländern der Euro-
päischen Union Bedenken, die auch der Bundesrat teilt
und so zum Ausdruck gebracht hat:

Die bahnbrechenden Fortschritte in der Entschlüsse-
lung der Erbanlagen des Menschen und anderer Le-
bewesen und die anhaltende Diskussion in einer
Reihe von Mitgliedstaaten der EU geben aber deut-
liche Hinweise darauf, dass das auf diesem Wege




Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick

17351


(C)



(D)



(A)



(B)


umzusetzende europäische Patentrecht in einer
Reihe von Punkten noch keine endgültigen Antwor-
ten auf die Herausforderungen des neuen Technolo-
giebereichs gefunden hat.

Ebenso denkt offensichtlich die Mehrheit in der En-
quête-Kommission „Recht und Ethik der modernen Me-
dizin“, die uns einen Teilbericht mit der Überschrift
„Schutz des geistigen Eigentums in der Biotechnologie“
vorgelegt hat.

Sie, Herr Staatssekretär, haben gerade noch einmal da-
rauf hingewiesen, durch die Richtlinie werde kein beson-
deres und auch kein neues Patentrecht geschaffen. Die
Biopatentrichtlinie schaffe größere Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit und führe die ethischen Grenzen der
Patentierung ins Bewusstsein und benenne sie konkret.
Die meisten der in neun Eckpunkten aufgestellten Forde-
rungen der Enquête-Kommission seien ja bereits seit vie-
len Jahren im deutschen Recht verwirklicht – ich frage
mich, was die Enquête-Kommission hierbei übersehen
hat –, andere Eckpunkte würden mit der Umsetzung der
Biopatentrichtlinie deutsches Recht.

Das klingt gut, trägt aber offensichtlich nicht; denn
gleichzeitig heißt es – Sie haben das heute noch einmal
bekräftigt –, auch die Bundesregierung wolle eine Über-
prüfung der Reichweite des Stoffpatents. Also kann es mit
der Klarheit und Rechtssicherheit so weit nicht her sein.

Dieser Eindruck wird auch durch den Gesetzestext
selbst erhärtet. § 1a Abs. 1 Patentgesetz soll lauten:

Der menschliche Körper ... sowie die bloße Ent-
deckung seiner Bestandteile ... können keine paten-
tierbaren Erfindungen sein.

So weit, so gut. In Abs. 2 heißt es aber:
Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers
...kann eine patentierbare Erfindung sein...

Dies gilt ohne jede Einschränkung, wie sie etwa für
Gene gilt. Nur für sie fordert Abs. 3 die Angabe der Funk-
tionen bei der gewerblichen Anwendbarkeit.

Das ist wie Feuer und Wasser. Was gilt denn nun? Ist
der menschliche Körper patentierbar oder ist er nicht pa-
tentierbar?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die katholischen Bischöfe haben in einer Stellung-
nahme dazu erklärt:

Diese Vorschrift widerspricht der Würde des Men-
schen und dem daraus folgenden Grundsatz, dass
menschliches Leben nicht patentiert werden darf.
Die Regelung

– gemeint ist § 1 a Abs. 2 Patentgesetz –
steht zudem in sachlichem Widerspruch zu § 1a
Abs. 1 PatG, der den menschlichen Körper ausdrück-
lich von der Patentierung ausnimmt.

Ein weiteres Beispiel: In § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Entwurfs
wird die Verwendung von menschlichen Embryonen zu

industriellen oder kommerziellen Zwecken ausdrück-
lich ausgeschlossen. So weit wäre dies noch eine unmiss-
verständliche Regelung. Jedoch schränkt der Gesetzent-
wurf selbst in seiner Begründung mit Hinweis auf den
Erwägungsgrund 42 der EU-Patentrichtlinie ein, dass da-
runter nicht solche Erfindungen fallen, „die therapeuti-
sche oder diagnostische Zwecke verfolgen und auf den
menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewendet
werden“. Dies würde bedeuten, dass Forschungsergeb-
nisse an Embryonen oder auch Stammzellen, die der gen-
technischen Therapierung eines Embryos dienen, paten-
tierbar wären. Meine Damen und Herren, dies ist ein
erstaunliches Ergebnis vor dem Hintergrund der bundes-
weit geführten Ethikdiskussion.

Aber es gibt darüber hinaus auch Unklarheit in einem
ethisch wesentlich unproblematischeren Bereich, nämlich
in der Landwirtschaft: Es ist nicht abschließend geklärt,
ob ein durch Auskreuzung in den Patentschutz gelangen-
des Erntegut der Nachbauregelung unterliegt, was für
zahlreiche Landwirte weit reichende und kostenträchtige
Folgen bis hin zu einem unwissentlichen Verstoß gegen
das Patentrecht hätte. Klarheit und Rechtssicherheit? Die
Antwort ist wohl eher Nein.

Es lohnt sich also, innezuhalten. Aber es reicht nicht
– wie Sie, Kollege Pick, es anlässlich der Debatte am
10. Mai getan haben – die Frage nur nach den „Voraus-
setzungen einer Patentierbarkeit von Genen, Gensequen-
zen und Teilen von Gensequenzen“ zu stellen. Die Frage
lautet grundsätzlicher: Dürfen überhaupt Gene, dürfen
Bestandteile des menschlichen Körpers, darf die Natur
patentiert werden? Oder kommerziell gefragt, wie es der
in letzter Zeit oft gescholtene Professor Dr. Winnacker
ausdrückte:

... wem denn am Ende das menschliche Genom
gehört, den Investoren, den diversen Biotechfir-
men ... der Öffentlichkeit?

„Oder der Wissenschaft?“, ließe sich hinzufügen.
Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärzte-

kammer, hat die Antwort so formuliert:
Das genetische Erbe der Menschheit ist Allgemein-
gut und keine Handelsware.

Dies sei auch nicht beabsichtigt, wenden die Befür-
worter ein und verweisen auf den Entwurf des § 1 a Abs. 3.
Danach sei eine Patentierung nur möglich, wenn „in der
Anmeldung die gewerbliche Anwendung konkret unter
Angabe der von der Sequenz oder Teilsequenz erfüllten
Funktion beschrieben“ werde. Damit seien Vorratspa-
tente oder spekulative Patente ausgeschlossen, die Wis-
senschaft könne ungehindert forschen und diejenigen, die
Geld in die Forschung gesteckt hätten, könnten ihren
wohlverdienten Nutzen daraus ziehen. Vorratspatente
oder spekulative Patente werden jedoch nicht ausge-
schlossen. Dazu noch einmal Professor Winnacker:

Gene und ihre Produkte können nämlich Teile ver-
schiedener Eiweißnetzwerke in unseren Zellen sein,
die sie, je nach Netzwerk, ganz unterschiedliche
Funktionen ausüben lassen.




Norbert Hauser (Bonn)

17352


(C)



(D)



(A)



(B)


Er macht dann mit einer Frage, die die Biopatentricht-
linie ebenfalls nicht beantwortet, deutlich, dass wir die
Antwort vor der Umsetzung der Richtlinie in nationales
Recht kennen sollten:

Sollen die Entdecker einer einzigen dieser Eigen-
schaften zugleich auch die Rechte für bislang nicht
entdeckte Anwendungen erhalten, die sich aus diesen
Beobachtungen gegebenenfalls ableiten lassen?

Die Antwort kann nur Nein lauten.
Aber genau so sieht die Praxis des Europäischen Pa-

tentamtes in München aus, das unter Berufung auf die
Biopatentrichtlinie Patente auf Gene erteilen will, wenn
für ein Gen eine bestimmte Funktion angegeben werden
kann, diese Funktion bisher nicht bekannt war und eine
daraus abgeleitete gewerbliche Anwendung beschrieben
wird. Ein solches Stoffpatent, meine Damen und Herren,
zieht nicht nur einen kommerziellen Schutzzaun um die
beschriebene gewerbliche Anwendung, ein solches Stoff-
patent zieht einen kommerziellen Schutzzaun um das Gen
an sich.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Da sind wir wieder: „Dein Gen gehört mir.“
Ebenso wenig wie ein Wissenschaftler für Elemente

wie Sauerstoff, Blei, Chlor oder Zink geistiges Eigentum
reklamieren kann, dürfen Gene, Gensequenzen oder Teil-
sequenzen zum geistigen Eigentum werden. Gene sind
keine Rohstoffe und Patentbehörden keine Bergämter für
genetische Bodenschätze.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])


Genetische Informationen sind keine Software, an denen
Urheberrechte begründet werden dürfen. Dies gilt es klar-
zustellen, bevor die Biopatentrichtlinie umgesetzt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie bei der Stammzellenforschung sollten wir uns
dazu die notwendige Zeit nehmen. Die Bundesregierung
hat ihrerseits die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in Brüssel
die notwendigen Klarstellungen erfolgen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417626000
Das Wort hat nun die
Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417626100
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir reden über die Biopatentrichtlinie. In der „FAZ“

heißt es: Jeder kennt die Goldmine und holt sich etwas he-
raus. Darauf werde ich dann noch zurückkommen.

Eine Änderung des geltenden Patentrechts ist jeden-
falls überfällig. Das deutsche Patentrecht datiert von 1877
und ist auf die Probleme biotechnologischer Forschung
und Entwicklung tatsächlich in keiner Weise vorbereitet.
Gleichzeitig schafft das Europäische Patentamt derweil
durchaus problematische Fakten, denen wir parteiüber-
greifend keinesfalls zustimmen, wie die gerade gestern
von Greenpeace dargestellte Patentierung eines so ge-
nannten Brustkrebsgens, ein Patent, das – an eine Firma
vergeben – dann gleichzeitig auch das Monopol auf alle
anderen, von ihr nicht konkret beschriebenen Funktionen
dieses Gens halten kann. Das zeigt: Eine sowohl ethisch
wie auch rechtlich deutliche Grenzziehung ist in diesem
Bereich dringend geboten.

Eine Novellierung des Patentgesetzes ist jedenfalls
besser als der jetzige Zustand; das muss man zugeben.
Aber in diese Debatte fließt ein, dass seit wenigen Mo-
naten bekannt ist, dass die Menschen – im Übrigen auch
Tiere und Pflanzen – insgesamt nur über weniger Gene
als bisher angenommen verfügen. Seitdem ist auch klar,
dass ein einziges Gen nicht nur wenige Proteine kodiert,
sondern viele Hunderte, möglicherweise sogar Tau-
sende.

Wenn nun ein Gen aufgrund seiner beschriebenen Ei-
genschaften patentiert würde, dann wäre nach derzeiti-
gem Stand der Richtlinie gleichzeitig die Nutzung Hun-
derter anderer Eigenschaften exklusiv in der Hand des
Patentnehmers. Die Gefahr des Entzugs von für das All-
gemeinwohl wichtigem Wissen, der Monopolisierung
und der daraus resultierenden negativen Folgen für die
Forschung und die Gründung junger Unternehmen liegt
auf der Hand.


(Beifall der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Viele Ethiker, Ärzte und Forscher haben uns wiederholt
darauf hingewiesen.

Diese Gefahr besteht trotz Forschungsfreiheit, trotz Li-
zenzmöglichkeiten, trotz Zwangslizenzmöglichkeiten,
weil faktisch der ökonomische Anreiz für eine solche For-
schung nicht mehr vorhanden ist und sich möglicherweise
auch die Investitionen für teure Forschungsaktivitäten
nicht mehr lohnen. Es ist auch kein wirkliches Argument,
dass es in den USA noch sehr viel schlechter ist.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Wir stimmen also mit der Enquête-Kommission darin
überein, dass Stoffpatente grundsätzlich nicht geeignet
sind, den Besonderheiten des biologischen Wirkungszu-
sammenhangs der Gene Rechnung zu tragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)


Das Problem besteht doch in Folgendem: Man kann sa-
gen, das bisherige Patentrecht umfasst eben auch Stoffpa-
tente; man muss konsequent sein. Man muss aber auch be-
denken, dass Stoffpatente in Deutschland erst seit 1967




Norbert Hauser (Bonn)


17353


(C)



(D)



(A)



(B)


überhaupt erlaubt sind. Erst nach etwa 200 Jahren chemi-
scher Forschung und Produktion war die Zeit reif, um eine
solche Entwicklung zuzulassen. Ich habe in diesem Arti-
kel der „FAZ“ interessiert nachgelesen, dass die Patent-
rechtler selbst dieser Entwicklung kritisch gegenüber-
standen.

Die Zukunft darf also nicht schon heute verbaut wer-
den, denn wir stehen bei der Biotechnologie schlichtweg
am Anfang einer solchen Entwicklung und nicht an deren
Ende.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])


Es muss Präzisierungen der neuen Regelung geben, die
eine möglichst weit gehende Einschränkung der Patenter-
teilung auf eine bestimmte Funktion oder ein Verfahren
erreichen kann.

Auch wenn ich nur noch sehr wenig Redezeit habe,
möchte ich kurz auf diesen „FAZ“-Artikel zurückkom-
men. Darin kommen drei Experten des Patentamtes zu
Wort, Herr Schatz, Herr Moufang und Herr Claes, die sich
sehr kritisch äußern. Herr Claes sagt: „Meistens sind die
Patentansprüche sehr weit gefasst ...“, und fährt fort, dass
„auch Ansprüche auf noch unbekannte Faktoren“ ange-
meldet werden. Sie widmen sich vor allem der Frage – ich
zitiere Herrn Schatz –,

ob nicht schon der absolute Stoffschutz, wie er heute
praktiziert wird, an sich ein zu umfassender Claim
ist, weil er Rechte an Folgeentwicklungen abdeckt.

Herr Schatz sagt weiter:
Wir könnten uns auch einen Patentschutz rein auf die
konkrete Anwendung bezogen vorstellen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Eine solche Haltung zieht sich durch die gesamte Diskus-
sion, die sehr differenziert geführt wird.

Herr Moufang führt aus:
Immer mehr Unternehmen sehen, dass ein zu weiter
Patentschutz den Wettbewerb nicht fördert, sondert
hemmt.

Sie weisen auch darauf hin, dass die Kompetenz letztlich
im Bereich des nationalen Rechts liegt. Zum Schluss be-
merkt Herr Schatz:

Das Patentrecht ist nicht dafür da, maximale Ge-
winne zu erzielen, sondern spezifische Erfindungen
zu schützen, zu belohnen und der Öffentlichkeit zur
Verfügung zu stellen, damit andere damit auch um-
gehen können. Für mich steht das Patentrecht im
Dienst der Allgemeinheit.

Ich denke, das ist eine sehr ernst zu nehmende Ein-
schätzung dieser drei hochrangigen Vertreter des Patent-
amtes. Sie bietet Anlass genug für eine grundsätzliche
Kritik und Überarbeitung. Das ist auch die Haltung der
Fraktion der Grünen. Wir sind uns mit der Ministerin ei-

nig, dass wir hier Erfindungen und nicht Entdeckungen
belohnen möchten. Wir melden unseren Änderungsbedarf
in diesen Punkten noch einmal an. Wir sehen einen Hand-
lungsbedarf bei der Beschränkung des Schutzumfanges
der Patente, der wirksamen Ausgestaltung des Embryo-
nenschutzes, der Sicherung der Persönlichkeitsrechte Be-
troffener, der Sicherheit für Entwicklungsländer und indi-
genen Völker gegen Biopiraterie und der Absicherung
landwirtschaftlicher Nutzung von Saatgut und Tierrassen.
Diese Bereiche werden in der EU-Richtlinie sehr wider-
sprüchlich geregelt. Natürlich werden wir auch konkrete
Anträge für die Neugestaltung der EU-Patentrichtlinie
einreichen. Wir werden zur Klärung all dieser Fragen ge-
meinsam eine Anhörung durchführen und sicherlich noch
intensive Diskussionen führen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417626200
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich das Wort dem Kollegen Professor Edzard
Schmidt-Jortzig.


Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1417626300
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der gigantischen
Zeit von 3,5 Minuten, die mir ganz streng zugeteilt wurde,
will ich mit einer eindeutigen Feststellung beginnen. Im
Nachhinein werde ich diesbezüglich aber auch einige Vor-
behalte äußern.

Die F.D.P. ist nach wie vor der Ansicht, dass die Um-
setzung der EU-Biopatentrichtlinie eine wünschenswerte
Modernisierung und Präzisierung des Schutzes geistigen
Eigentums auf dem Gebiet der Gentechnologie bedeuten
kann. Dies setzt allerdings die Bereitschaft voraus – ich
habe das immer wieder betont –, mit dem betreffenden
deutschen Gesetz die vorhandenen Gestaltungsspiel-
räume offensiv zu nutzen. Das bezieht sich – wegen der
Kürze der Zeit muss, wie gesagt, alles sehr global blei-
ben – auf zweierlei. Beide Dinge sind auch schon zur
Sprache gekommen.

Zum einen geht es um die Schärfung und Revitalisie-
rung des patentrechtlichen Grundgedankens, das heißt,
es muss wieder klarer herausgearbeitet werden, dass wirk-
lich nur geistige Innovationen, also Erfindungen,


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


nicht aber bloße Neufeststellungen oder clevere Ge-
schäftsideen, also im weiteren Sinne Entdeckungen mit
Ausschließungsanspruch und Vergütungsvorbehalt unter
Schutz gestellt werden.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist bekanntlich in der Entwicklung der Patentierungs-
praxis ein wenig aus dem Blick geraten.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Aber?)





Ulrike Höfken
17354


(C)



(D)



(A)



(B)


Zum anderen muss durch das Gesetz den spezifischen
Gefahren Rechnung getragen werden, die sich bei geneti-
schen Patentierungen auftun können, sei es, dass ethi-
sche Grenzen überschritten werden, sei es, dass medizi-
nisch-wissenschaftlicher bzw. therapeutischer Fortschritt
blockiert würde, der möglichst im vollen Umfang allen
Menschen zugute kommen soll. Hier bietet die EU-Bio-
patentrichtlinie bzw. der vorgelegte Umsetzungsentwurf
gute Ansätze, die jedoch noch ausgebaut werden sollten.
Wir haben darauf im Minderheitenvotum des Teilberichts
der Enquête-Kommission in der bekannten Drucksache
schon hingewiesen.

Wegen der nur noch 1,47 Minuten, die mir zur Verfü-
gung stehen, will ich nur noch auf zwei einzelne Aspekte
eingehen. Den ersten kann ich relativ pauschal abhandeln:
Ich halte es für wenig zielführend, dass die Bundesregie-
rung in keiner Weise auf die Parlamentsdebatte am
10. Mai dieses Jahres zu reagieren bereit zu sein scheint.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zur heutigen ersten Lesung steht jedenfalls unverändert
der Gesetzentwurf in der Fassung vom 23. März zur Dis-
kussion. Ich hoffe, das ist nur der Geschäftsordnung ge-
schuldet und stellt noch keine inhaltliche Positionierung
dar. Ansonsten könnte sich das als fahrlässig erweisen.

Zweitens. Einen eklatanten Widerspruch – Herr Kol-
lege Hauser hat schon darauf hingewiesen – bietet der
neue § 1 a des Entwurfs des Patentgesetzes. In Abs. 1
heißt es – ich wiederhole das –:

Der menschliche Körper … sowie die bloße Ent-
deckung eines seiner Bestandteile … können keine
patentierbaren Erfindungen sein.

In Abs. 2 heißt es dann:
Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers
… kann eine patentierbare Erfindung sein, ...

Was soll denn nun gelten?

(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Ohne Einschränkung und Begrenzung!)

– Die Einschränkung in Abs. 3, so haben Sie gesagt, sei
nur für einen ganz kleinen Ausschnitt gedacht. – Ist mög-
licherweise der hier geäußerte Verdacht doch begründet,
dass der Widerspruch gewollt ist, damit dann umso besser
im Trüben gefischt werden kann? Ich hoffe es nicht.

Ich hoffe aber sehr, dass wir im Laufe der Beratungen
noch Verbesserungen am Gesetz vornehmen können;
sonst sehe ich wirklich schwarz für diesen an sich guten
Ansatz, der da geboten wird.

Danke sehr.

(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417626400
Für die PDS erteile
ich das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417626500
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einge-
rahmt von so viel geballtem juristischen Sachverstand soll
ich jetzt mit meinem schlichten Gemüt in dieser Debatte
eine Meinung äußern. Dabei fällt mir zunächst einmal auf,
dass die Regierung offensichtlich gemerkt hat, dass sie
auf einem falschen Wege ist. Sie sagt nämlich: Nachdem
wir dieses Gesetz verabschiedet haben, werden wir uns in
Brüssel darum kümmern, dass es geändert wird. Aber
wenn ich einen Weg als falsch erkannt habe, würde ich
doch erst den Fehler beseitigen und dann versuchen, eine
Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Dann könnte
man vielleicht all die Widersprüche, die die Kollegen
Hauser und Schmidt-Jortzig dankenswerterweise aufge-
dröselt haben, von vornherein auflösen.

Weiterhin stelle ich mit meinem schlichten Gemüt fest,
dass sich die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag
sozusagen wie ein Übersetzungsbüro verhält. Es wird
nämlich die von der EU-Kommission erfundene Richtli-
nie genommen, ins Deutsche übersetzt und dann gesagt:
Das ist jetzt deutsches Recht. Ich finde, das deutsche Par-
lament hätte anderes verdient, als bloße Übersetzungen
vorgelegt zu bekommen. Wir haben als gesetzgeberisches
Organ dieses Staates den Anspruch auf Gestaltung. Wir
sollten diesen Einfluss auch geltend machen und nicht so
tun, als ob wir bloß Vollzugsorgan von irgendjemand an-
ders wären.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Außerdem stelle ich mit meinem schlichten Gemüt

fest, dass sich die Pharmakonzerne einen Dreck um ir-
gendwelche ethischen oder patentrechtlichen Dinge küm-
mern. Die machen das einfach. Gerade geht wieder durch
die Presse, dass ein Brustkrebsgen patentiert worden ist.
Nun erkläre mir bitte einmal jemand, welchen Fortschritt
das für die Menschheit bringt, dass jemand jetzt die
Rechte hat, alles kommerziell zu verwerten, was mit die-
sem Brustkrebsgen zusammenhängt! Gewiss keinen für
die Frauen, die Angst um ihre Brüste haben.

Der entscheidende Punkt für mich ist – das will ich
auch im Namen der PDS ganz deutlich sagen –, dass wir
dann, wenn wir wirklich wollen, dass die Würde des
Menschen unantastbar ist, überhaupt nichts von ihm un-
ter das Eigentumsrecht von irgendjemand stellen kön-
nen. Ich weiß nicht, wo da die Gesetzeslücke ist. In wel-
chem bisherigen Gesetz steht, dass der Mensch Eigentum
von irgendjemand sein kann? Soweit ich mich entsinne,
ist die Sklaverei abgeschafft. Das war das letzte Mal, dass
es Eigentumsrecht auf Menschen gab. Ich finde, dass wir
es nicht nötig haben, jetzt die Sklaverei über die Gene
wieder einzuführen.

Ich hatte die Aufgabe, in noch kürzerer Zeit als der Kol-
lege Schmidt-Jortzig – ich habe nur drei Minuten, und Sie
hatten die sagenhafte Zeit von 3,5 Minuten – die Position
der PDS darzustellen. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen
ist. Ich hoffe aber, Ihnen ist klar: Wir lehnen jegliche
Eigentumsansprüche auf Menschen oder irgendwelche
Teile von ihnen ab. Das soll auch so bleiben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)





Dr. Edzard Schmidt-Jortzig

17355


(C)



(D)



(A)



(B)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417626600
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Margot von Renesse, der wir für ihren
Arm gute Besserung wünschen.


(Beifall)



Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1417626700
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wie es sich gehört, legt die
Bundesregierung als Vertragspartner der Europäischen
Union – nicht mehr ganz fristgemäß, aber in Respekt vor
dem Parlament und seinen bisherigen Debatten zur
Bioethik bzw. zum Patentrecht – ihren Gesetzentwurf zur
Umsetzung vor. Auch ich, Herr Seifert, bin der Meinung,
dass dies nicht das Ende der Fahnenstange ist. Trotzdem
finde ich es richtig – genau wie die Bundesregierung –,
dass man die EU-Patentrichtlinie umsetzt; denn sie stellt
einen Fortschritt dar, der allerdings noch nicht an sein
Ende gelangt ist.

Herr Schmidt-Jortzig hat das Minderheitenvotum der
Enquête-Kommission zitiert. Darin steht – wer Ohren hat
zu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der lese –,
dass alle Mitglieder der Enquête-Kommission der Auf-
fassung sind, dass das Patentsystem beim Biopatent an
seine Grenzen stößt. Dieses System als solches muss ver-
ändert und angepasst werden, möglicherweise auch an an-
dere Teile der Wissenschaft und Technik, nämlich der
Informatik. Das kann sein.

Das ändert aber nichts daran, dass es nur international
fortgeschrieben werden kann. Denn unser nationales Pa-
tentrecht, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist inzwischen
längst die Facette eines internationalen Geflechts, aus
dem wir uns beim besten Willen, selbst wenn wir wollten,
nicht ausklinken können. Denn – das hat uns Herr van
Raden bei der Anhörung deutlich gemacht – wenn unser
Patentrecht nicht mit der EU-Patentrichtlinie kompatibel
ist, wird der Senat des entsprechenden Patentgerichts das
beim Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen. Und
dann bekommen wir den Salat. Jetzt können wir es noch
inhaltlich verändern.


(Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.]: Sehr richtig!)


Wenn der EuGH nach der Patentrichtlinie verfährt, dann
ist es vorbei. Dann bekommen wir es per Ukas durch die
dritte Gewalt aufgebrummt. Das möchten wir vermeiden.

Wir möchten unser nationales Patentrecht innerhalb
der EU-Patentrichtlinie so anpassen, dass wir so weit wie
möglich, Frau Höfken, auf das Problem eingehen, das
meines Erachtens die Systemgrenze markiert, nämlich die
Gefahr der Überbelohnung dessen, der insbesondere auf
dem Gebiet der Naturstoffe ein Stoffpatent erhält. Das
wird vor allem an den Genen deutlich, weil sie multi-
funktional sind. Mit einer Funktion alleine das Stoffpatent
zu gewähren birgt im Ergebnis die Gefahr der Überbeloh-
nung. Deswegen sollten wir so weit wie möglich in die
von mir dargestellte Richtung gehen. Dabei hoffe ich auf
die Hilfe der Patentrechtler, dass sie uns sagen, wie wir
das Stoffpatent auf die gefundene Funktion einschränken
und nichts hinzugeben. Das wäre ein Fortschritt, denn
darin liegt ein ethisches Problem.

Es liegt jedoch kein ethisches Problem – das sage ich
mit aller Deutlichkeit – in der Patentierung von Natur-
stoffen, und zwar auch bei Genen. Es gibt zwei Gründe,
das anzunehmen. Der eine Grund ist die berühmte Formel
von Greenpeace – ich habe das Opus Dei der Naturreli-
gion genannt –: Kein Patent auf Leben. Welche Gleich-
setzung des Genoms mit Leben! Dies kann ich aus ethi-
schen Gründen nicht akzeptieren. Ich habe das bereits in
der Debatte über das Patentrecht gesagt. Was ist nicht al-
les mit Leben gleichgesetzt worden: Blut, Herz, Gehirn.
Man hat sich immer geirrt. Das Leben ist viel komplexer
als das Genom.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Es ist im Ergebnis gegen alle abendländische Kultur, das
Leben mit dem Genom gleichzusetzen. So materialis-
tisch, so biologistisch ist insbesondere menschliches Le-
ben nicht. Das hat übrigens auch die Genforschung sehr
deutlich gemacht.

Es kommt darauf an, dass wir nicht die Entdeckung
und die Vermehrung des Wissens patentieren – das ist
nämlich der Sinn dieser scheinbar so widersprüchlichen
Sätze, die hier zweimal zitiert worden sind –, sondern die
Vermehrung des Könnens. Das ist in der Tat ein Problem
beim Genom, nämlich die Differenz zu den bisherigen Pa-
tentierungsmöglichkeiten für Naturstoffe, nur weil man
sie findet und isoliert.

Insoweit ist die Patentrichtlinie Gott sei Dank tatsäch-
lich eine Einschränkung. Denn das muss mit aller Deut-
lichkeit gesagt werden: Die EU-Patentrichtlinie und, ihr
folgend, das nationale Recht, wenn wir sie umsetzen, er-
finden nicht das Patent im Biotechnologiebereich, son-
dern sie schränken es ein – möglicherweise nicht genug,
Frau Höfken. Möglicherweise müssen wir und können
wir mehr tun. Aber dass wir in Richtung von Greenpeace
einen Gewinn machen, wenn wir sie nicht umsetzen und
damit das bisherige Patentrecht in seiner viel größeren
Reichweite behalten – wonach sogar, Frau Höfken, die
Züchtung patentierbar ist, was seit längerem in Deutsch-
land üblich ist, das wird jetzt mit der Patentrichtlinie aus-
geschlossen und so gehört sich das –, wage ich zu be-
zweifeln.

Es ist wie bisher ausgeschlossen, dass das reine Finden
eines Naturstoffes schon zu einem Patent führen kann.
Man muss nämlich wissen, was man damit machen kann.
Das ist der Sinn dieses zweiten Satzes: Patentierbar ist nur
der Naturstoff – auch der, der im Körper des Menschen vor-
zufinden ist –, mit dem ein Erfinder etwas machen kann.

Damit ich das auch noch deutlich sage: Das Patent gibt
nie ein dingliches Recht an diesem Naturstoff. Dem Pa-
tentinhaber gehört nicht, was patentiert wird. Was ihm
gehört, ist seine Idee. Ihr Genom bleibt Ihres und Sie brau-
chen keine Lizenz zu zahlen, wenn Sie mit Ihrem Genom
Kinder haben. Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.
Die interessante Geschichte für den Erfinder ist, dass er
etwas damit machen kann, was in der Natur nicht vor-
kommt. Davon lebt und damit überlebt der Mensch. Die
Natur ist dem Menschen nicht wohlgesonnen. Sie ist






(C)



(D)



(A)



(B)


gleichgültig, manchmal feindselig. In der Natur bestehen
wir nur als Wesen, die kein Fell haben, um sich zu wär-
men, keine Klauen, um Beute zu schlagen, indem wir die
Stoffe der Natur und die Kräfte der Natur erkennen und
neu montieren. Das ist unser Gestaltungsauftrag und dem
tragen wir Rechnung.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417626800
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/5642 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es
keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gunnar Uldall,
Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der
Globalisierung
– Drucksachen 14/4816, 14/5581 –

Dazu liegt ein Entschließungsantrag der CDU/CSU
vor.

Es ist zwar eine Redezeit vorgesehen, aber alle Reden
sind zu Protokoll gegeben worden.1) Deswegen eröffne
ich die Aussprache und schließe sie auch gleich wieder.

Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6340 zur fe-
derführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie und zur Mitberatung an den Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, an den Haus-
haltsausschuss, an den Auswärtigen Ausschuss und an den
Ausschuss für Tourismus zu überweisen. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Schmidbauer (Nürnberg), Gudrun Schaich-Walch,
Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Müller (Köln), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabe-
tes-Versorgung
– Drucksachen 14/4263, 14/6307 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Schmidbauer (Nürnberg)


Auch hierfür war eine Aussprache vorgesehen, aber
alle Reden sind zu Protokoll gegeben worden.2) Deswe-
gen eröffne und schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 14/6307. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/4263 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-
tungen? – Bei Gegenstimmen der CDU/CSU- und der
F.D.P.-Fraktion ist die Beschlussempfehlung an-
genommen.

Nun rufe ich die Beratung des Tagesordnungspunk-
tes 15 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (15. Ausschuss) zu dem Antrag der

(Hamburg)

neter und der Fraktion der CDU/CSU
Erlaubnis zum Führen von Schienenfahr-
zeugen
– Drucksachen 14/4933, 14/6035 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wieland Sorge

Auch dafür war eine Redezeit vorgesehen, aber die Re-
den sind zu Protokoll gegeben worden.3) Deswegen er-
öffne und schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen auf Drucksache 14/6035. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4933 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genprobe! – Enthaltungen? – Bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung
angenommen.

Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der

(Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte)

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Damit
sind Sie einverstanden.

Ich hoffe, dass Sie alle noch die letzte halbe Stunde hier
bleiben; denn diese Debatte ist ganz spannend. Ein Mit-
glied des Bundesrates hat sich zu der späten Stunde noch
zu uns gesellt.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Jus-
tizsenatorin der Freien und Hansestadt Hamburg,
Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit.




Margot von Renesse

17357


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4
2) Anlage 5
3) Anlage 6


(Hamburg)

tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stunde
ist wirklich vorgerückt. Aber es stimmt, es ist ein sehr in-
teressantes Thema. Ich danke Ihnen, wenn Sie diese Auf-
merksamkeit trotz großer und berechtigter Ermüdung
noch aufbringen.

Das Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte, wie wir
es genannt haben, ist aus unserer Sicht ein ganz wichtiger
Schritt, um endlich etwas Neues und Zusätzliches für Op-
fer, für Verletzte aus Straftaten zu schaffen. Der von uns
im Rahmen der Hamburger Initiative erarbeitete und vom
Bundesrat über ein Jahr – damit sehr gründlich – beratene
und dann beschlossene Gesetzentwurf sichert die Grund-
lage für ein neues, einheitliches Konzept. Ich freue mich
sehr, dass es gelungen ist, im Bundesrat ein einstimmiges
Votum aller 16 Länder für die Einbringung dieses Gesetz-
entwurfes in den Deutschen Bundestag zu erreichen.


(Beifall bei der SPD)

Dieses Ergebnis – das wissen wir alle – ist bei solchen

grundlegenden Reformvorhaben eher selten. Es lässt uns
alle hoffen, dass das Gesetz, dessen Inhalt ich gleich kurz
skizzieren möchte, die noch ausstehenden Hürden im
Bundestag rasch und mit Bravour meistern kann. Wir wer-
den natürlich gefragt, warum wir ein solches Gesetz brau-
chen. Wir brauchen eine grundlegende Neubestimmung
der Rolle des Verletzten im Strafprozess.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS])


Nach wie vor ist das geltenden Recht im Hinblick auf
das Opfer, auf den Verletzten oder die Verletzte aus einer
Straftat unübersichtlich und vor allen Dingen inkonsis-
tent. Handlungsbedarf besteht insbesondere im Hinblick
auf die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates
gegenüber den Verletzten. Die verfassungsmäßige Ord-
nung des Grundgesetzes verpflichtet die staatlichen Or-
gane bei einer Straftat natürlich zur Aufklärung des Sach-
verhaltes. Sie verpflichtet auch dazu, den mutmaßlichen
Täter in einem fairen Verfahren dem gesetzlichem Richter
zuzuführen. Das alles ist selbstverständlich. Niemand will
etwas daran ändern.

Aber diese unsere Grundrechtsordnung verpflichtet die
staatlichen Organe auch – und zwar keineswegs nachran-
gig, sondern mindestens in gleicher Weise –, sich schüt-
zend und fördernd vor die Verletzten zu stellen, ihre
Rechte zu schützen und ihnen zu ermöglichen, ihre Inte-
ressen wirksam, also justizförmig, und in angemessener
Frist durchzusetzen. Denn im Gegensatz zum Beschul-
digten haben sie, die Verletzten, nur in den seltensten
Fällen zu der Straftat und damit zur Störung des Rechts-
friedens beigetragen und verdienen schon deshalb mindes-
tens dieselbe Aufmerksamkeit und Fürsorge wie der Be-
schuldigte.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS] – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ganz klar! Das begrüßen wir sehr!)


Die notwendige sachangemessene Berücksichtigung
der Interessen der Verletzten im Strafverfahren erhöht im

Übrigen nach unserer Erfahrung die Frieden stiftende
Funktion der Strafjustiz und ermöglicht damit zugleich
eine bessere, eine effektivere Strafverfolgung. Da mehr
als 90 Prozent aller Ermittlungsverfahren durch Anzeigen
von Privatpersonen in Gang gebracht werden, hängt die
effektive Verbrechensbekämpfung langfristig von der
Bereitschaft der Verletzten, sich aktiv am Strafverfahren
zu beteiligen, ab.

Ziel unseres Gesetzentwurfes – zur Erinnerung: eines
einstimmigen Entwurfes der Länderkammer – zur Stär-
kung der Verletztenrechte ist es, ein aus vielen Elementen
bestehendes ganzheitliches Konzept umzusetzen, in dem
die Rolle der Verletzten nach einer Straftat grundsätzlich
neu definiert wird.

Ich will kurz verdeutlichen, worum es geht. Es geht
nämlich um drei Ebenen:

Erstens. Wir wollen die Persönlichkeitsrechte der Ver-
letzten besser schützen.

Zweitens. Wir wollen die Verletzten im Strafverfahren
aktiver werden lassen als bisher.

Drittens. Wir wollen den Verletzten den Weg zum
Schadensersatz erleichtern.

Zunächst einmal geht es also um die Persönlichkeits-
rechte, die wir stärken wollen. Befragungen von Opfer-
zeugen zeigen, dass mehr als die Hälfte von ihnen die
Auswirkungen eines Prozesses auf ihr Befinden im Nach-
hinein negativ bewertet. Verbrechensopfer leiden noch
Monate nach der Tat unter der Schwächung ihres Selbst-
wertgefühls. Sie nehmen sich in der Prozesssituation als
schwach und unsicher wahr. Sie haben Ängste und kön-
nen deshalb ihnen an sich zustehende Rechte oft nicht nut-
zen.

Dem wollen wir durch die Einführung einer Pflicht des
Gerichts vorbeugen, die Zeugen nicht nur über ihre
Pflichten, sondern auch über ihre Rechte zu belehren. Je-
der Mensch, der je eine Zeugenladung bekommen hat,
weiß, dass darin steht: Sie müssen kommen; wenn Sie
nicht kommen, können Sie bestraft werden. – Diese Be-
lehrung ist zwar notwendig; aber wir wollen erreichen,
dass nicht nur die Pflichten eines Zeugen in einer solchen
Ladung stehen, sondern zugleich auch Hinweise auf die
wesentlichen Rechte, die ein Zeuge hat. Wir wollen, dass
ihm mitgeteilt wird, dass er nicht über alles aussagen
muss. Wir wollen vor allen Dingen, dass ihm mitgeteilt
wird, dass er sich einen Beistand beschaffen darf, mit dem
er kommen kann. Das muss nicht, kann aber ein Rechts-
anwalt sein.

Zweitens wollen wir dieser Angstsituation des Zeu-
gen durch eine verstärkte Verpflichtung des Gerichts zur
Rücksichtnahme auf das Schamgefühl von Zeuginnen bei
körperlichen Untersuchungen vorbeugen. Dazu haben wir
im Einzelnen Vorschläge gemacht.


(Beifall bei der SPD)

Wir wollen die Videovernehmung von ängstlichen Zeu-
gen ausbauen. Sie soll nicht nur bei Kindern, sondern
auch bei Opfern sexueller Straftaten möglich sein. Darü-
ber hinaus wollen wir einem Verbot der Herausgabe von






(C)



(D)



(A)



(B)


Aufzeichnungen der Aussagen von Zeugen das Wort re-
den. Wir wollen erreichen, dass solche Aufzeichnungen
nicht ohne Weiteres herausgegeben werden dürfen.

Schließlich wollen wir – das schien uns besonders
wichtig – die Rechtsstellung des Verletzten dadurch stär-
ken, dass wir einem nicht anwaltlichen Zeugenbeistand
mehr Rechte als bisher geben. Denn viele Zeugen fürch-
ten sich und haben wegen ihrer innerlichen Verfassung gar
keine Möglichkeit, einen Anwalt bzw. eine Anwältin zu
beauftragen. Wenn sie das tun, sind sie schon geschützt.
Aber es würde ihnen schon reichen, wenn sie eine Person
ihres Vertrauens, mit entsprechenden Rechten ausgestat-
tet, mitbringen könnten.

Die zweite Ebene. Wir wollen den Verletzten bzw. die
Verletzte im Strafverfahren aktiv werden lassen. Die
Zeugnispflicht im Strafverfahren – ich habe das ausge-
führt – ist zwar ganz außerordentlich notwendig, weil im-
mer noch das Zeugnis eines Verletzten das wichtigste
Beweismittel ist. Aber diese Situation ist für den Opfer-
zeugen und für die Opferzeugin zugleich besonders belas-
tend. Viele Verletzte beklagen ihre passive Rolle als Zeu-
gen und vermissen insbesondere die Möglichkeit, ihre
Ängste, ihre Wut, ihre Verletztheit – kurz: ihre Empfin-
dungen – in das Verfahren einzubringen. Die aktive Teil-
nahme des Verletzten am Verfahren durch Wahrnehmung
eigener Rechte trägt wesentlich zum Abbau dieser Belas-
tung bei.

Wir wollen erreichen, dass der Verletzte in solchen Fäl-
len mit dem Beschuldigten auf gleicher Augenhöhe ste-
hen kann, dass ihm vom Gesetz so viel Selbstbewusstsein
ermöglicht wird, dass er sich gleichberechtigt neben dem
Schädiger wiederfindet. Zudem führt eine solche Stär-
kung des Verletzten im Verfahren zu einer besseren Ak-
zeptanz des Verfahrens, insbesondere auch aufseiten der
Geschädigten.

Die aktivere Teilnahme soll durch Stärkung der Rechte
der Verletzten erreicht werden, insbesondere durch eine
Pflicht des Gerichts zur Mitteilung des Termins gegen-
über solchen Verletzten, die nebenklageberechtigt sind.
Das Gesetz sagt genau, wann jemand nebenklageberech-
tigt ist; es gibt einen Katalog von Taten. Aber es gibt keine
Pflicht des Gerichtes, einem nebenklageberechtigten Ver-
letzten, der sich noch nicht erklärt hat, mitzuteilen, wann
die Hauptverhandlung ist. Diese Pflicht setzt erst ein,
wenn die Nebenklage erklärt ist. Wir meinen: Das muss
viel früher einsetzen, damit der Verletzte sich überlegen
kann, ob er zur Hauptverhandlung geht und ob er viel-
leicht einem länger währenden Verfahren beitritt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen deswegen auch erreichen, dass der neben-
klageberechtigte Verletzte, auch wenn er die Nebenklage
nicht oder noch nicht erklärt hat, im Verfahren anwesend
sein darf. Wenn das Verfahren für die allgemeine Öffent-
lichkeit zugänglich ist, darf er das sowieso. Aber er soll
auch dann anwesend sein dürfen, wenn die Öffentlichkeit
nicht anwesend sein darf. Schließlich wollen wir errei-
chen, dass die Nebenklage auch im Sicherungsverfahren
zulässig sein soll.

Die dritte Ebene unseres Vorschlages betrifft die bes-
sere und schnellere Erreichung des Schadensersatzes.
Kriminologische Untersuchungen zeigen, dass für die
Opfer von Straftaten ein rascher und unkomplizierter Aus-
gleich ihrer materiellen Schäden besonders wichtig ist. Es
ist deshalb nötig, die gerichtliche Möglichkeit zum Scha-
densersatz zu verbessern. Für viele Verletzte ist die Tren-
nung – auf der einen Seite die Durchsetzung des staat-
lichen Strafanspruchs und auf der anderen Seite das
Zivilverfahren, in dem sie sich selbst um ihren Schadens-
ersatz bemühen müssen – weder nachvollziehbar noch
aushaltbar.

Die Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte,
vermögensrechtliche Ansprüche bereits im Strafverfahren
geltend zu machen, stärkt den Verletzten im Kernbereich
seiner legitimen Interessen. Außerdem werden natürlich
auf diese Weise Ressourcen des Gerichtes geschont, wenn
diese Fragen in einem Verfahren geklärt werden.

Wir haben deshalb – so steht es in unserem Gesetzent-
wurf – die Einführung eines sofort vollstreckbaren straf-
rechtlichen Wiedergutmachungsvergleichs vorgeschla-
gen, der direkt im Strafverfahren geschlossen wird. Auch
haben wir ein Anerkenntnisurteil im Strafverfahren vor-
geschlagen. Das kann auch ein Grundurteil sein. Es geht
ja oft darum, dass die Entschädigung noch nicht bis auf
den letzten Pfennig ausgerechnet ist. Aber es ist wichtig
klarzumachen: Hier wird Schadensersatz geschuldet.

Schließlich schlagen wir die Einschränkung der bishe-
rigen Befugnis des Strafrichters im Adhäsionsverfahren
– so heißt dieses Verknüpfungsverfahren – vor. Heute
kann nach geltendem Recht ein Strafrichter sagen: Ich
führe kein Adhäsionsverfahren durch; ich behandle den
zivilrechtlichen Teil der Angelegenheit nicht, weil das den
Abschluss des Strafverfahrens verlängern kann. – Diese
Erklärung kann sehr schnell abgegeben werden, sodass es
auf diese Weise kaum zu einem Adhäsionsverfahren
kommt. Wir schlagen vor: Ein Richter, der dieses Adhäsi-
onsverfahren nicht durchführen möchte, muss begründen,
warum er es nicht tut. Wir sind sicher, dass es auf diese
Weise sehr viel häufiger zu einem Adhäsionsverfahren
kommen wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich werbe für dieses Länderkammergesetz, weil die
Verbesserung des Verletztenschutzes eine so wichtige und
bisher oft vernachlässigte Aufgabe in unserem Rechts-
staat ist. Ich freue mich, dass diese bedeutsame rechts-
politische Initiative aus meiner Heimatstadt Hamburg nun
auf gutem Wege ist.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Die unsicherste Stadt Deutschlands!)


Gerade weil so oft beklagt wird, im Strafverfahren küm-
mere man sich nur oder vorwiegend um den Angeklagten,
war es nötig, die Weichen eindeutig neu, nämlich in Rich-
tung auf den Geschädigten und auf den Verletzten oder die
Verletzte, zu stellen. Ihm oder ihr gebührt Aufmerksam-
keit und Fürsorge. Von ihm – ich sagte es bereits –, der zu
der Straftat fast nie beigetragen hat, muss ein Rechtsstaat
so gut wie möglich weiteren Schaden abwenden.




Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hamburg)


17359


(C)



(D)



(A)



(B)


Auch die Bundesregierung plant eine Reform des
Strafprozesses und geht ähnliche Wege wie der Bundes-
rat. In den an die Landesjustizverwaltungen übersandten
Eckpunkten für eine Reform der Strafprozessordnung
finden sich einzelne Ansätze dieses Entwurfs wieder, wie
etwa der Wiedergutmachungsvergleich. Wir meinen, dass
es einer grundlegenden Neubestimmung der Rolle des
Verletzten im Strafverfahren bedarf. Für diese umfas-
sende und abgestimmte Reform bildet unser Entwurf, so
glaube ich, eine sehr gute Grundlage.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417626900
Nun hat der Kollege
Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1417627000
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beschäftigt
uns ein Thema, das vielen Opfern von Verbrechen schon
lange auf den Nägeln brennt. Es geht um den strafrechtli-
chen Opferschutz im Rahmen eines neuen Gesetzes zur
Stärkung der Verletztenrechte.

Der vom Bundesrat einstimmig eingebrachte Gesetz-
entwurf zur Änderung der Strafprozessordnung, der über
ein Jahr lang beraten wurde, ist ein weiterer wichtiger
Schritt auf dem Weg, den deutschen Strafprozess in seiner
Funktion grundlegend zu erweitern. Die Länder gehen in
die richtige Richtung und reihen sich in die gute Tradi-
tion der Rechtspolitik von CDU und CSU ein.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Auch die F.D.P. hat mitgemacht!)


Die Bestrebungen der Länder finden in dieser Sache
deshalb grundsätzlich unsere Unterstützung, bauen sie
doch gerade auf dem Opferschutzgesetz von 1986 und
dem Zeugenschutzgesetz von 1998 auf –


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Eines liberalen Justizministers!)


– in einer bürgerlichen Koalition, verehrter Herr Kollege
van Essen –, den maßgeblichen Gesetzen zum Opfer-
schutz, die von der Union und der F.D.P. auf den Weg ge-
bracht und verwirklicht worden sind.

Bisher stellt das Strafprozessrecht vor allem ein Instru-
ment dar, mit dessen Hilfe die zuständigen staatlichen
Stellen im Falle einer Straftat die Aufklärung des Sach-
verhalts und die Verurteilung des Täters durchführen kön-
nen. Das Opfer spielt im Grunde genommen lediglich die
Rolle eines reinen Beweismittels, das sich in vielen Fäl-
len noch nicht einmal seiner Persönlichkeitsrechte sicher
sein kann. Denken Sie nur an die Herausgabe von Video-
aufzeichnungen der Aussage von Opferzeugen oder die
Untersuchungen und zum Teil entwürdigenden Befragun-
gen von Opfern sexueller Straftaten.

Das bestehende Strafprozessrecht muss um einen ent-
scheidenden Aspekt ergänzt werden, wenn wir das Ver-

trauen der Bürger in die Rechtssicherheit stärken wollen.
Es geht um den Aspekt, dass der Staat gerade gegenüber
dem Opfer einer Straftat seiner Fürsorgepflicht entspre-
chen muss. Der Grundrechteschutz darf nicht dort auf-
hören, wo das strafrechtliche Verfahren beginnt. So man-
ches Mal hat man den Eindruck, dass auf die Grundrechte
der Täter mehr geachtet wird als auf die der Opfer.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg van Essen [F.D.P.]: Leider!)


Der Entwurf des Bundesrates sieht vor, die Betroffenen
zu gleichberechtigten Prozessbeteiligten zu machen und sie
nicht mehr nur als passive Teilnehmer, denen im Grunde
nur die Nebenklage zur Verfügung steht, auf die Zu-
schauerbank zu verbannen. Hier besteht Handlungsbedarf.

Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die entsprechen-
den Weichen und setzt dazu an drei Punkten an: erstens an
der Betonung des Persönlichkeitsrechts des Opfers, zwei-
tens an der aktiven Teilnahme des Opfers am Verfahren
und an der Wahrnehmung eigener Rechte und drittens an
der Verbesserung der Möglichkeiten für Geschädigte, ver-
mögensrechtliche Ansprüche schon im Strafverfahren
geltend zu machen.

Zu Punkt eins. Bei der Verbesserung der Persönlich-
keitsrechte der Opfer ist die Einführung einer Pflicht
zur Belehrung von Zeugen vorgesehen, die nicht, wie
bisher, eine bloße Aufklärung über ihre Pflichten, son-
dern auch über ihre Rechte erhalten sollen. Neben all
den weiteren Verbesserungsvorschlägen wie die ver-
mehrte Rücksichtnahme bei körperlichen Untersuchun-
gen von Zeuginnen und die Verbesserungen im Bereich
der Videovernehmungen ist dieser Punkt besonders ge-
eignet, endlich ein Umdenken hin zu einem verstärkten
Opferschutz zu bewirken, da der Betroffene wieder
mehr in das Geschehen gerückt wird.

Die zweite Zielsetzung widmet sich der vermehrten ak-
tiven Teilnahme des Verletzten am Verfahren. Es soll er-
möglicht werden, dass auch persönliche Empfindungen
und Einschätzungen der Opfer Berücksichtigung finden.
Dann würden endlich Betroffene und Täter gleichberech-
tigt gehört. Denn für wen ist eigentlich ein solches Straf-
verfahren da? Soll das gerichtliche Strafverfahren eine
Verständnisveranstaltung für den Täter sein oder soll es
zur Durchsetzung des staatlichen Sanktionsanspruchs, zur
Herstellung des Rechtsfriedens und eben auch zum Op-
ferausgleich dienen? Niemand möchte die Schlechterstel-
lung des Straftäters im Prozess. Ich bin aber überzeugt,
dass auch ganz bestimmt niemand die gerichtliche
Schlechterbehandlung von Verbrechensopfern will.

Der letzte Punkt, die Ausweitung des so genannten
Adhäsionsverfahrens, verdient besonderes Augenmerk.
Damit wird den Verbrechensopfern die Möglichkeit gege-
ben, ihre zivilrechtlichen Ansprüche wie beispielsweise
den Schadensersatz schon im Strafverfahren geltend zu
machen. Ein schneller materieller Schadensausgleich auf
der Opferseite könnte erheblich zu einem erhöhten Ver-
trauen in die Rechtspflege führen, da die Trennung zwi-
schen zivil- und strafrechtlichem Verfahren von Nichtju-
risten oft nicht verstanden und auch nicht akzeptiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)





Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hamburg)

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(D)



(A)



(B)


Es ist an der Zeit, dass wir verhindern, dass die Opfer nach
einem Verbrechen, das sie ohnehin schon aus ihrem All-
tag herausreißt, durch die Justiz möglicherweise erneut zu
Opfern werden.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, hoffentlich be-
wirkt der Gesetzentwurf des Bundesrates noch etwas
Gutes, nämlich dass sich die Räder des Bundesjustizmi-
nisteriums endlich in die Richtung von mehr Opferschutz
bewegen. Denn was von dort bis jetzt zum Opferschutz
gekommen ist, sind nur Worte, aber leider keine Taten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg van Essen [F.D.P.]: Wie fast immer!)


Die Stellungnahme der Bundesregierung zu dem vor-
liegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, in der die Rede
davon ist, dass – ich zitiere – sich die Bundesregierung be-
sonders der Opfer annehmen will,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Tut sie ja gar nicht!)


ist ebenso vollmundig wie zweifellos öffentlichkeitswirk-
sam. Aber sie ist fern jeder Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich frage Sie: Wie und wo nimmt sich die Bundesjus-

tizministerin der Opfer an? Etwa in ihrem Referentenent-
wurf zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems?
Wenn man erklärt, dass künftig 10 Prozent der Einnahmen
aus Geldstrafen den Opfern zugute kommen sollen, dann
kommt das zwar gut an und man kann damit gut hausie-
ren gehen; es ist aber zu bedenken, dass ein solches Vor-
gehen zulasten der Länder geht, weil dadurch ausschließ-
lich deren Haushalte betroffen sind – ganz zu schweigen
von dem immensen Mehraufwand, den die Länder zu leis-
ten haben.

Soll vielleicht das Eckpunktepapier zur Reform des
Strafprozesses der große Wurf sein?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Dazu kann ich nur sagen: Dieses Papier hilft den Opfern
nicht; vielmehr macht es sie erneut zu Opfern.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn das?)


Was in diesem Papier als Beteiligungsrechte des Beschul-
digten verkauft wird, läuft in Wahrheit auf groteske Ver-
fahrensverzögerungen hinaus. So sollen in Ermittlungs-
verfahren beispielsweise ein so genanntes Rechts-
gespräch und ein Anhörungstermin im Zwischenverfah-
ren eingeführt werden. Der Sachaufklärung wären diese
Maßnahmen in keiner Weise dienlich. Im Gegenteil: Sie
würden das ohnehin schon langwierige Verfahren noch
mehr aufblähen, ganz zu schweigen von der erheblichen
Mehrbelastung aller Prozessbeteiligten.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Es wird aufgebläht! So ist es!)


Oder will die Koalition zu diesem Zweck das im letzten
Jahr verabschiedete Gesetz zur strafrechtlichen Veranke-

rung des Täter-Opfer-Ausgleichs als eigenen Erfolg ins
Feld führen?


(Alfred Hartenbach [SPD]: Jetzt werden Sie zu scharf!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur der Union ist
es zu verdanken, dass dieser Gesetzentwurf nicht die In-
teressen des Täters, sondern des Opfers an die erste Stelle
setzt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg van Essen [F.D.P.]: Der F.D.P. doch auch wohl!)


Wir haben – in guter Zusammenarbeit mit der F.D.P. –
durchgesetzt, dass der ursprüngliche Entwurf in entschei-
denden Punkten zugunsten des Opferschutzes verbessert
worden ist.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: So ist es! Gott sei Dank!)


Wir begrüßen die Bundesratsinitiative auch deshalb,
weil vonseiten der Bundesregierung und der Regierungs-
koalition zum Opferschutz bisher nichts Nennenswertes
gekommen ist. Der Entwurf geht in die richtige Richtung.
Über Einzelheiten werden wir im Rechtsausschuss bera-
ten. Wir werden hoffentlich große Einigkeit darüber er-
zielen, dass die Interessen der Opfer von Straftaten vor de-
nen der Täter stehen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417627100
Nun hat der Kollege
Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Ich dachte, dass wir uns endlich einmal alle einig
sind. Herr Kollege, da Sie die Koalition und die Bundes-
regierung angegangen sind – Sie machen immer wieder
dasselbe –, muss ich Ihnen einfach sagen: Wenn Ihnen das
so am Herzen liegt, dann hätten Sie das schon vor vielen
Jahren machen können.


(Jörg van Essen [F.D.P.]: Wir haben doch so viel gemacht! Das wissen Sie doch! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie werden doch im Traum nicht so viel erreichen, wie wir erreicht haben! Sie meinen, nach 16 Jahren CDU/CSU-F.D.P.-Regierung hört die Justiz auf?)


Wir haben uns mit der Bundesregierung zusammenge-
setzt und über eine ganze Reihe von Vorschlägen disku-
tiert. Nun ist ein Gesetzentwurf in der Mache, der noch in
dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Der Gesetz-
entwurf, der verabschiedet werden wird, wird wesentliche
Teile des Gesetzentwurfs des Bundesrates übernehmen.
Die Teile, die wir hinzufügen, sind ein kleines bisschen
besser. Genau darauf komme ich nun zu sprechen.

Wir sehen natürlich – gerade die Bündnisgrünen haben
das immer gesagt –, dass die Opfer von Straftaten in den
Strafverfahren sehr häufig nicht anständig behandelt wer-
den: Sie werden schikanösen Vernehmungen ausge-
setzt, sie werden über ihre Rechte und Möglichkeiten im




Dr. Wolfgang Götzer

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(C)



(D)



(A)



(B)


Strafverfahren nicht ausreichend informiert und können
sie deshalb nicht wahrnehmen. Daher finden wir es posi-
tiv und richtig – auch das gehört in das Gesetz hinein –,
dass die Opfer von Straftaten möglichst früh, möglichst
bei der ersten Anzeige, über ihre Rechte informiert wer-
den: dass sie natürlich die Möglichkeit haben, sich der
Hilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen, der zur Not vom
Staat bezahlt wird. Wir sind ebenfalls dafür, dass die Op-
fer von Straftaten zu Vernehmungen bei der Polizei oder
vor Gericht grundsätzlich Personen ihres Vertrauens mit-
nehmen können, wenn dem nicht ganz besondere Gründe
entgegenstehen. Das hilft ihnen, das stärkt sie, das macht
sie sicher. Deshalb ist es gut so.

Wir wollen natürlich auch, dass die Opfer von Strafta-
ten darüber informiert werden, dass ein Strafprozess über
das, was sie angezeigt haben, überhaupt stattfindet. Häu-
fig wissen sie das gar nicht. Jahre später – manchmal
überhaupt nicht – erfahren sie, dass inzwischen ein Straf-
verfahren stattgefunden hat. Sie wissen gar nicht, was da-
bei herausgekommen ist, weil sie daran nicht beteiligt wa-
ren. Auch das soll nicht sein. Sie sollen über die Termine
informiert werden, damit sie die Gelegenheit haben, zu er-
fahren, was eigentlich passiert.

Wir sind darüber hinaus dafür, dass Opfer von Strafta-
ten bei körperlichen Untersuchungen, vor allem bei sol-
chen, durch die in den Intimbereich eingegriffen wird,
entscheiden können, ob sie – das gilt nicht nur für Frauen,
sondern auch für Männer – von einer Ärztin oder einem
Arzt oder von einer weiblichen oder von einer männlichen
Person untersucht werden. Ich denke, es gehört zur Würde
des Menschen, dass er dieses Wahlrecht hat. Es muss ihm
also grundsätzlich eingeräumt werden.

Wir wollen auch, dass die Opfer von Straftaten nicht
erst in der Hauptverhandlung, wenn sie zum Beispiel als
Nebenkläger auftreten, sondern schon im Vorverfahren
die Unterstützung eines Rechtsanwaltes haben, dass sie
entsprechende Informationen bekommen und beteiligt
werden sowie dass sie schon im Vorverfahren Personen
ihres Vertrauens hinzuziehen dürfen.

Ein ganz großer Missstand, den ich auch aus meiner
Praxis als Strafverteidiger kenne, ist, dass die Opfer von
Straftaten nicht nur nichts über die Verfahrenseinstel-
lung erfahren – viele Verfahren werden ja nach § 153 oder
§ 153 a der Strafprozessordnung eingestellt –, sondern
auch nicht am Verfahren beteiligt werden. Sie erfahren
vielleicht erst von Nachbarn, wie das Verfahren aus-
gegangen ist; sie sind völlig überrascht – man hört oft die
Frage: Der ist so davongekommen? Es hat noch nicht
einmal ein Strafverfahren stattgefunden? – und haben
überhaupt kein Verständnis für die Verfahrenseinstellung.
Ich denke, es ist im Interesse aller, sowohl der Verletzten
als auch der Beschuldigten, wenn die Verletzten schon in
einem frühen Stadium, also vor der Hauptverhandlung,
über eine beabsichtigte Einstellung des Verfahrens infor-
miert werden, und wenn sie Gelegenheit zur Stellun-
gnahme bekommen, um dann möglicherweise Argumente
vorzubringen, warum diese Geldbuße oder jene Auflage
nicht ausreicht, um den Rechtsfrieden wieder herzustel-
len.

Das ist eine ganze Reihe von Punkten, die man beden-
ken muss und die im Gesetz berücksichtigt werden müs-
sen, damit sich die Opfer von Straftaten in Zukunft nicht
mehr als Opfer von Strafprozessen fühlen müssen. Das
wollen wir nicht. Das entsprechende Gesetz ist in Vorbe-
reitung. Wir haben in zahlreichen Diskussionen weitge-
hende Einigkeit erzielt. Die Anregungen des Bundesrates
sind uns sehr willkommen. Wir werden darüber im
Rechtsausschuss beraten. Ich bin sicher, dass wir ange-
sichts des bisherigen Tempos noch in dieser Legislaturpe-
riode einen gemeinsamen Gesetzentwurf verabschieden
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417627200
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich das Wort dem Kollegen Jörg van Essen.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1417627300
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr darüber,
dass es einen Wettbewerb gibt, wie wir den Opfern im
Strafverfahren am besten helfen können. Trotzdem gibt
es noch etwas Besseres, als die Rechte der Opfer von
Straftaten zu verbessern, nämlich dafür zu sorgen, dass
Menschen erst gar nicht zu Opfern werden. Frau Justiz-
senatorin, wenn ich mir die Kriminalitätsbelastung in
Ihrer Heimatstadt Hamburg anschaue, dann denke ich,
dass gerade der Hamburger Senat, für den Sie ge-
sprochen haben, eine Menge zu tun hat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Nicht umsonst ist in dem beginnenden Wahlkampf die in-
nere Sicherheit eines der zentralen Themen. Deshalb soll-
ten wir uns verpflichten, die Kriminalitätsbekämpfung an
allererste Stelle zu setzen.

Zur Stärkung der Rechte der Opfer ist eine Menge an
Vorschlägen gemacht worden, über die sich wirklich
nachzudenken lohnt. Wir haben zu Zeiten der christlich-
liberalen Koalition zwischen 1994 und 1998 eine Menge
an Fortschritten hinsichtlich der Stärkung der Rechte von
Verbrechensopfern erzielt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie das noch einmal, damit Herr Ströbele das endlich hört! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist viel zu wenig geschehen!)


– Nein, es ist nicht zu wenig geschehen. Aber es kann
natürlich noch mehr getan werden. Dafür sorgen wir jetzt
auch. Wir werden uns dementsprechend einbringen.

Wenn ich an die Möglichkeit der Videoaufnahmen von
Vernehmungen oder daran denke, dass nun die Opfer an
die Gewinne, die der Täter aus dem Verbrechen selbst er-
zielt hat, herankommen können, was früher nicht möglich
war, muss ich feststellen, dass wir ganz erhebliche Fort-
schritte erzielt haben.

Ich möchte außerdem auf etwas hinweisen, das mir
auch ganz wichtig ist: Auch wenn wir noch so viele ge-
setzliche Vorschriften ändern und verbessern, bleibt es
doch wichtig, wie wir mit den Opfern selbst umgehen.




Hans-Christian Ströbele
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Deshalb scheinen mir solche Pilotprojekte, wie ich sie
aus Baden-Württemberg kenne, dass beispielsweise Refe-
rendare zur Betreuung von Zeugen eingesetzt werden, die
ihnen erklären, was geschieht, sodass das Verfahren für
die Zeugen verständlicher ist, wichtig. Die Zeugen haben
auf diese Weise das Gefühl, mit ihren Sorgen ernst ge-
nommen zu werden. Die Tatsache, dass Referendare für
Beratung sorgen, ist etwas, was nach meiner Auffassung
vorbildlich ist.

Dazu gehört auch – daran müssen wir unsere richterli-
chen und staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer wie-
der erinnern –, dass man die Zeugen wirklich ernst nimmt.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich selbst als An-
gehöriger der Justiz als Zeuge in einem Meineidsprozess
geladen war; ich war für 9.30Uhr geladen, aber bis 16Uhr
tat sich nichts. Der Richter war hinterher sehr überrascht,
er hatte uns als Zeugen vor dem Gerichtssaal sitzen lassen
und komplett vergessen. Sie können sich vorstellen, dass
ich nicht der einzige war, der das Gefühl hatte, von der
Justiz nicht wirklich ernst genommen zu werden.

All das, was wir an gesetzlichen Bestimmungen ver-
bessern werden, wird nicht wirklich greifen, wenn wir
nicht insgesamt in unserer Gesellschaft zu einer Verände-
rung der Situation der Opfer kommen. Dazu gehören auch
die Medien. Wenn wir in den Medien beispielsweise im-
mer wieder von Tätern lesen, wenn wir Aufsätze lesen, in
denen sehr feinfühlig auf die Lebensgeschichte von Tä-
tern eingegangen wird, dann ist das sicherlich richtig, weil
auch sie den Anspruch darauf haben, ernst genommen zu
werden. Trotzdem würde ich mir wünschen, wenn in glei-
cher Breite und Tiefe auch über die Wirkungen von Taten
berichtet werden würde.

Wer beispielsweise einmal erlebt hat, welche Auswir-
kungen die Ermordung eines kleinen Mädchens auf deren
Familie hat – die Familie wird nie wieder ein normales
Leben führen können, die Tat wird immer wieder die Fa-
milie belasten –, weiß, in welcher Verantwortung wir ste-
hen, Opfer ernst zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)


Deshalb müssen wir uns über das hinaus, was wir heute
hier diskutieren und was ich, Frau Justizsenatorin, für ei-
nen wirklich guten Vorschlag halte, Gedanken darüber
machen, wie wir solchen Familien helfen, die Opfer einer
Straftat geworden sind. In Familien, in denen zum Bei-
spiel die Tochter Opfer eines Mordes geworden ist, gibt es
ganz erhebliche Betreuungsnotwendigkeiten. Auch diese
Probleme müssen uns beschäftigen.

Soweit die ersten Ausführungen der F.D.P.-Bundes-
tagsfraktion; wir werden uns einbringen. Ich freue mich
auf eine Diskussion, weil alle angedeutet haben, sie woll-
ten die Rechte der Opfer stärken. Auf diese Weise macht
Arbeit im Parlament Spaß.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417627400
Die Kollegin Kenzler
von der PDS hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1 Ich
schließe damit die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4661 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine
weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung von Frauen und Männern in der
Privatwirtschaft
– Drucksache 14/6032 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss

Auch hier war eine Redezeit vorgesehen. Alle Reden
zu diesem Punkt sind zu Protokoll gegeben.2) Deswegen
eröffne und schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6032 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 22. Juni, 9 Uhr, ein. Ich
wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend.

Die Sitzung ist geschlossen.