Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001
        Jörg van Essen
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        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        1) Anlage 7
        2) Anlage 8
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117364
        (C)(A)
        Berichtigung
        161. Sitzung: Auf Seite 15740 C ist in der Rede der Abgeordneten
        Renate Gradistanac (SPD) nach dem Satz „Das Konzept Viabono be-
        ruht auf dem Ziel, einen Dachmarke für alle touristischen Segmente
        zu schaffen“ einzufügen:
        (Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CDSU] meldet sich
        zu einer Zwischenfrage)
        – Ach, mein Kollege aus dem Wahlkreis! Nein! Ich sage es Ihnen
        gleich.
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        Adam, Ulrich CDU/CSU 21.06.2001*
        Behrendt, Wolfgang SPD 21.06.2001*
        Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 21.06.2001
        Bodewig, Kurt SPD 21.06.2001
        Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 21.06.2001
        Dr. Bötsch, Wolfgang CDU/CSU 21.06.2001
        Brudlewsky, Monika CDU/CSU 21.06.2001
        Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 21.06.2001*
        Doss, Hansjürgen CDU/CSU 21.06.2001
        Friedrich (Altenburg), SPD 21.06.2001
        Peter
        Dr. Guttmacher, F.D.P. 21.06.2001
        Karlheinz
        Haack (Extertal), SPD 21.06.2001*
        Karl-Hermann
        Hornung, Siegfried CDU/CSU 21.06.2001*
        Hörster, Joachim CDU/CSU 21.06.2001*
        Kasparick, Ulrich SPD 21.06.2001
        Klappert, Marianne SPD 21.06.2001
        Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 21.06.2001
        Lintner, Eduard CDU/CSU 21.06.2001*
        Lotz, Erika SPD 21.06.2001
        Dr. Lucyga, Christine SPD 21.06.2001*
        Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 21.06.2001*
        Erich
        Marquardt, Angela PDS 21.06.2001
        Müller (Berlin), PDS 21.06.2001*
        Manfred
        Müller (Völklingen), SPD 21.06.2001
        Jutta
        Neuhäuser, Rosel PDS 21.06.2001
        Nietan, Dietmar SPD 21.06.2001
        Onur, Leyla SPD 21.06.2001*
        Ostrowski, Christine PDS 21.06.2001
        Dr. Pfaff, Martin SPD 21.06.2001
        Pfannenstein, Georg SPD 21.06.2001
        Röspel, René SPD 21.06.2001
        Sauer, Thomas SPD 21.06.2001
        Schlee, Dietmar CDU/CSU 21.06.2001
        Schmidt (Aachen), Ulla SPD 21.06.2001
        Schmidt (Fürth), CDU/CSU 21.06.2001
        Christian
        Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 21.06.2001*
        Hans Peter
        von Schmude, Michael CDU/CSU 21.06.2001*
        Siebert, Bernd CDU/CSU 21.06.2001*
        Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 21.06.2001
        Dr. Vollmer, Antje BÜNDNIS 90/ 21.06.2001
        DIE GRÜNEN
        Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 21.06.2001
        DIE GRÜNEN
        Volquartz, Angelika CDU/CSU 21.06.2001
        Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 21.06.2001
        Wiese (Hannover), SPD 21.06.2001
        Heino
        Wiesehügel, Klaus SPD 21.06.2001
        Zapf, Uta SPD 21.06.2001
        Zierer, Benno CDU/CSU 21.06.2001*
        Dr. Zöpel, Christoph SPD 21.06.2001
        * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd
        Neumann (Bremen), Hartmut Koschyk, Anton
        Pfeifer, Margarete Späte, Erika Steinbach, Rita
        Süssmuth und (alle CDU/CSU) und Hans-
        Joachim Otto (Frankfurt) (F.D.P.) zur Abstim-
        mung über den Entwurf eines Gesetzes zur
        entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlagen zum Stenographischen Bericht
        Errichtung einer „Stiftung Jüdisches Museum
        Berlin“ (Drucksache 14/6028)
        Die Übernahme des Jüdischen Museums Berlin in Ver-
        antwortung des Bundes, wie sie der Hauptstadtkulturver-
        trag regelt, ist im Grundsatz unstreitig. Ebenso unstreitig
        ist, dass die Errichtung einer rechtsfähigen bundesunmit-
        telbaren Stiftung öffentlichen Rechtes eine geeignete Lö-
        sung ist, die Handlungsfähigkeit des Museums zu sichern.
        Dagegen können wir dem zur Abstimmung stehenden Ge-
        setzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Geset-
        zes zur Errichtung einer Stiftung Jüdisches Museum Ber-
        lin“ (Drucksache 14/6028) nicht zustimmen.
        Erstens. Der vielfach aufgezeigte Zusammenhang mit
        der „Topographie des Terrors“ und dem Mahnmal für die
        ermordeten Juden Europas findet in der Stiftungssatzung
        keinerlei Berücksichtigung. Obwohl auch der Staatsmi-
        nister für Kultur und Medien, Nida-Rümelin, im Bundes-
        tag erklärt hat, „es steht ganz außer Zweifel, dass es zwi-
        schen Mahnmal, Jüdischem Museum und ‘Topographie
        des Terrors’ einen engen Zusammenhang gibt“ (28. März
        2001), werden alle drei Institutionen mit Veranstaltungen,
        Forschungs-, Dokumentations- und Bildungsaufgaben
        betraut, die zu unverantwortlichen Mehrfachangeboten
        und unnötigem personellen und finanziellen Aufwand
        führen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte deshalb
        im federführenden Ausschuss für Kultur und Medien be-
        antragt, in § 2 der Satzung, in dem der Zweck der Stiftung
        geregelt wird, nach Ziffer (2) folgenden Passus als neue
        Ziffer (3) hinzuzufügen: „Die Wahrnehmung der Aufga-
        ben der Stiftung erfolgt konzeptionell und personell in
        Verbindung und in enger Zusammenarbeit mit den beste-
        henden bzw. entstehenden Einrichtungen des Mahnmals
        für dis ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topo-
        graphie des Terrors.“ Diese Klarstellung wurde von der
        Koalition mit ihrer Mehrheit abgelehnt.
        Zweitens. Obwohl der Bund das Jüdische Museum
        – vor Unterzeichnung des Hauptstadtkulturvertrages und
        vor Verabschiedung des Stiftungsgesetzes – bereits seit
        Beginn des Haushaltsjahres zu 100 Prozent finanziert, soll
        der Deutsche Bundestag weder mit Sitz noch mit Stimme
        in einem der Gremien vertreten sein. Dies soll auch für
        mögliche, im Stiftungserrichtungsgesetz vorgesehene Er-
        weiterungen der Anzahl der Stiftungsratsmitglieder gel-
        ten. Anders als beim Mahnmal für die ermordeten Juden
        Europas ist die Beteiligung des Parlamentes im Gesetz-
        entwurf der Bundesregierung nicht vorgesehen und von
        der Koalitionsmehrheit offensichtlich nicht gewollt. Wir
        halten es aus diesem Grund für erforderlich, in § 6 der Sat-
        zung Ziffer (2) wie folgt zu ändern: „Die Zahl der Stif-
        tungsratsmitglieder kann durch die Satzung bis auf 13 er-
        höht werden, wobei das Benennungsrecht für diese
        weiteren Mitglieder je zur Hälfte bei der Bundesregierung
        sowie beim Deutschen Bundestag liegen muss.“
        Es bleibt uns unverständlich; dass die Koalitionsfrak-
        tionen sich diesen Klarstellungen und Anforderungen
        nicht anschließen konnten. Dies verstärkt unsere Beden-
        ken, dass die vorgesehenen rechtlichen Rahmenbedin-
        gungen die Verselbstständigung und das Nebeneinander
        der wichtigen Gedenkstätten begünstigen statt ihren un-
        verzichtbaren Zusammenhang konzeptionell und organi-
        satorisch zu sichern.
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von
        Stetten (CDU/CSU) zur Abstimmung über den
        Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
        des Heimgesetzes (Drucksache 14/5399)
        Dem Dritten Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes
        kann ich nicht zustimmen. Zwar sind die Motive ehren-
        haft, um Bewohner in Heimen zu schützen und besser zu
        pflegen; die Bestimmungen werden aber das Gegenteil er-
        reichen. Mit der Novellierung werden unnötige bürokra-
        tische Hürden aufgebaut und letztlich die Belange der
        Bewohner nur durch schriftliche Verfahren, nicht aber in
        Wirlichkeit, berücksichtigt. In Zukunft wird es so sein,
        dass die Heime die beste Qualität haben in Verbindung
        mit dem Qualitätssicherungsgesetz, die am meisten auf-
        schreiben und am meisten dokumentieren. Diese Zeit geht
        aber der persönlichen Zuwendung für die älteren und be-
        hinderten Menschen ab und ist daher kontraproduktiv.
        Die Verstärkung der Heimmitwirkung ist richtig. Es
        bestehen aber erhebliche Bedenken, ob Angehörige als
        Heimbeiräte segensvoll sind. Dies könnte auch zu Schi-
        kanen von Pflegepersonal führen, wenn ein oder zweimal
        im Monat Heimbeiräte, die Angehörige in der Pflegesta-
        tion haben, ihr „schlechtes Gewissen“ der Abschiebung
        durch besondere Kontrollen und Anweisungen beseitigen
        wollen.
        Die Abgrenzung zwischen Heimen und Formen des so
        genannten betreuten Wohnens sind verschwommen und
        dienen nicht zur Stärkung der Rechte älterer Bewohner,
        weil betreutes Wohnen mit geringsten Angeboten recht-
        lich besser gestellt wird als betreutes Wohnen mit guten
        und kompakten Angeboten.
        Dabei wird nicht übersehen, dass einzelne Verbesse-
        rungen sinnvoll und richtig sind. Das Gesetz hätte aber
        mehr auf die Praxis abgestimmt werden müssen.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Großen Anfrage: Zukunft der
        deutschen Messewirtschaft in derGlobalisierung
        (Tagesordnungspunkt 13)
        Rolf Hempelmann (SPD): Welche Bedeutung der
        Export für die deutsche Wirtschaft hat, brauche ich an die-
        ser Stelle eigentlich nicht ausdrücklich zu betonen,
        möchte aber dennoch eine Zahl nennen: Im Jahr 2000
        machten die Exporte deutscher Unternehmen in Nicht-
        EU-Länder fast 30 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus.
        Eine wichtige Möglichkeit für exportierende Firmen,
        sowohl ihr Unternehmen als auch ihre Produkte im In-,
        vor allem aber im Ausland bekannt zu machen, sind na-
        tionale und internationale Messen. Dort nutzen deutsche
        Anbieter die Chance, ihre Dienstleistungen und Waren zu
        präsentieren. Kunden können sich vor Ort ein Bild von
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        der Qualität der Produkte machen und persönlich mit dem
        Verkäufer verhandeln. Insofern stellen Messen ein wich-
        tiges Marketinginstrument für deutsche Firmen dar. Da-
        ran hat auch die zunehmende Nutzung und Bedeutung des
        Internets nichts geändert.
        Erfreulich ist vor diesem Hintergrund, dass der Messe-
        standort Deutschland im internationalen Vergleich zu den
        wichtigsten gehört. Rund zwei Drittel der weltweit
        führenden Messen finden in unserem Land statt. Sechs der
        zehn umsatzmäßig größten Messegesellschaften haben
        ihren Sitz in der Bundesrepublik. Und die Bedeutung wird
        steigen, denn sowohl die Anzahl ausländischer Messebe-
        sucher in Deutschland als auch die Anzahl der Aussteller
        sind in den letzten Jahren gewachsen und werden es laut
        Prognosen des AUMA auch weiterhin tun.
        Diese Entwicklung unterstützt die Bundesregierung im
        Rahmen ihrer Möglichkeiten: Da die direkte finanzielle
        Inlandsmesseförderung in den Zuständigkeitsbereich der
        Länder fällt, engagiert sich die Bundesregierung vor al-
        lem im Bereich der Infrastruktur. Auch wenn für den Aus-
        bau von Verkehrsanbindungen vorrangig Länder und Ge-
        meinden zuständig sind, hat die Bundesregierung
        beispielweise beschlossen, die Messen in Stuttgart und
        München an das Autobahnnetz anzuschließen und außer-
        dem einen neuen Fernbahnhalt „Messe Leipzig“ einzu-
        richten.
        Und auch was die zügige Bearbeitung von Visaanträ-
        gen ausländischer Messegäste in den deutschen Botschaf-
        ten anbelangt, hat die Bundesregierung der Bedeutung für
        die deutsche Messewirtschaft Rechnung getragen. Trotz
        der durch die unsolide Haushaltspolitik der alten Bundes-
        regierung notwendig gewordenen Einsparungen, die auch
        den Personalbereich des Auswärtigen Amtes betreffen,
        hat es keine Stellenkürzungen bei den Rechts- und Kon-
        sulardiensten gegeben. In einigen zunehmend frequen-
        tierten Botschaften – wie beispielsweise in Kiew – wurde
        die Belegschaft sogar aufgestockt.
        Sie kritisieren zwar, dass die Mittel für die „Gemein-
        schaftswerbung deutscher Messen und Ausstellungen im
        Ausland“ gekürzt wurden. Dies ist aber nur deshalb ge-
        schehen, weil dort aufgrund verschiedener Tatsachen ein
        immer geringerer Bedarf besteht. Zum einen haben die
        deutsche Wirtschaft und die Messegesellschaften ihre ei-
        genen Marketingaktivitäten beispielsweise durch die
        Gründung von Auslandsvertretungen und Niederlassun-
        gen intensiviert. Zum anderen widmen sich auch die
        Deutsche Zentrale für Tourismus, DZT, und das German
        Convention Bureau, GCB – in beiden Bereichen sind
        keine Mittelkürzungen vorgesehen –, unter anderem der
        Werbung für den Messestandort Deutschland. Dies ge-
        schieht in enger Abstimmung mit der deutschen Messe-
        wirtschaft. Sie sehen also, dass die Bundesregierung und
        die Koalitionsfraktionen die Bedeutung von internationa-
        len Messen in Deutschland anerkennen und sie auch im
        Rahmen ihrer Möglichkeiten fördern.
        Die unmittelbare finanzielle Messeförderung der Bun-
        desregierung konzentriert sich auf die Auslandsmessen.
        Und in diesem Bereich müssen wir im nächsten Jahr in der
        Tat einsparen. Das liegt aber keineswegs daran, dass wir
        die Bedeutung dieser Fördermaßnahmen verkennen wür-
        den, denn sonst wäre der Etat in den letzten beiden Jahren
        wohl kaum weitgehend konstant geblieben. Nein, der
        Grund für die Mittelkürzungen liegt einzig und allein in
        der unsoliden Haushaltspolitik während der 16 Jahre Ih-
        rer Regierungszeit, in der Sie einen enormen Schulden-
        berg verursacht und uns hinterlassen haben. Diesen
        Schuldenberg gilt es abzubauen und wir sind hier auf ei-
        nem guten Weg.
        Über diese finanzielle Förderung hinaus gibt es auch
        für Auslandsmessen infrastrukturelle Unterstützung, die
        der Bund allein oder in Zusammenarbeit mit Partnern aus
        der Wirtschaft zur Verfügung stellt. Über das neue Außen-
        wirtschafts-Internetportal des Bundesministeriums für
        Wirtschaft und Technologie, „iXPOS“ können sich Aus-
        steller im In- und Ausland sowohl über Messetermine als
        auch über Fördermöglichkeiten und juristische Fragen so-
        wie über Messekostenkalkulation informieren. Außerdem
        finden diese Unternehmen dort die Adressen von An-
        sprechpartnern für verschiedene Fragen. Damit haben be-
        sonders kleine und mittlere Unternehmen die Möglich-
        keit, sich einfach sowie Zeit und Kosten sparend zu
        informieren. Und auch die Botschaften arbeiten heute in-
        tensiv mit der deutschen Wirtschaft zusammen und ver-
        stehen ihre Aufgabe zunehmend auch als Türöffner für
        deutsche Unternehmen im Ausland. Zusätzlich gibt es die
        Außenhandelskammern, die vom Bundesministerium für
        Wirtschaft und Technologie gefördert werden. Sie sind
        beratend tätig und helfen bei der Organisation von Mes-
        seauftritten im Ausland. Dieses Know-how hilft vielen
        kleinen und mittleren Unternehmen oft weit mehr als
        Geld allein es könnte.
        Zu den Forderungen der Opposition kann ich nur sa-
        gen: Die Gründe, die wir für die Haushaltskonsolidierung
        und damit auch für die Einsparungen im Bereich des Aus-
        landsmesseetats haben, kann ich auch an dieser Stelle
        nochmals wiederholen. Die von der CDU/CSU geführte
        Regierung hat es über 16 Jahre lang nicht verstanden, mit
        den ihr zur Verfügung stehenden Geldern hauszuhalten.
        Nun ist es an uns, den Schuldenberg abzubauen und das
        führt leider zu Kürzungen in den vielen Bereichen.
        Was Ihre Forderung nach einem europäischen Messe-
        konzept und nach der Vernetzung von Messen anbelangt:
        Die Messewirtschaft innerhalb Europas befindet sich im
        Wettbewerb und kann deshalb nicht von staatlicher Seite
        reglementiert werden. Das gilt in gleichem Maße für die
        Frage nach der regionalen Verteilung von Messen inner-
        halb Deutschlands. Man kann doch nicht allen Ernstes
        fordern, dass historisch gewachsene Messestandorte
        durch staatliche Verordnung einen Teil ihres Geschäftes
        zugunsten anderer Standorte abgeben sollen. Das wäre ein
        Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Messege-
        sellschaften und der Anbieter. Ich finde es schon merk-
        würdig, dass gerade die CDU einen solchen staatlichen
        Eingriff in einen funktionierenden Markt fordert.
        Abschließend kann ich Sie auch in Ihrer in diesem Zu-
        sammenhang geäußerten Sorge um die Auslandsmesse-
        förderung von kleinen und mittleren Unternehmen beru-
        higen: Diese Firmen sind – und das scheint Ihnen bisher
        nicht klar gewesen zu sein – erfreulicherweise bereits jetzt
        die Hauptprofiteure der Auslandmesseförderung, denn
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        mit etwa 90 Prozent des Etats werden Messeauftritte die-
        ser Unternehmen gefördert.
        Sie sehen, die Zukunft der deutschen Messewirtschaft
        in der Globalisierung ist bei der Bundesregierung in guten
        Händen.
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ein al-
        ter Kaufmannsspruch aus meiner Heimatstadt Flensburg
        lautet: Handel und Wandel muss getrieben sein. – Doch
        die Bundesregierung legt Handel und Wandel Zügel an;
        bremst Initiatoren und Initiativen, die die Wirtschaft und
        den Export unseres Landes voranbringen wollen. In der
        letzten Woche wurde im Kabinett der Haushaltsentwurf
        für 2002 verabschiedet. Er erweist dem Handel in
        Deutschland einen Bärendienst. Die Förderung von Aus-
        landsmessen wird gegenüber 2001 um 20 Prozent redu-
        ziert.
        Noch vor drei Monaten hat die Bundesregierung in ih-
        rer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Bun-
        destagsfraktion Messen als Schlüsselbereich der deut-
        schen Dienstleistungswirtschaft sowie als eines der
        wichtigsten Marketinginstrumente und deren Beitrag zur
        Steigerung von Wachstum und Beschäftigung herausge-
        stellt. Statt bisher 70 Millionen DM stehen nur noch
        57,5 Millionen DM zur Verfügung. Für 2003 setzt sich der
        tiefe Fall auf 52,8 Millionen DM fort, das heißt ein Ein-
        bruch von dann 25 Prozent; jede vierte Mark weniger für
        die Messeförderung. Jahr für Jahr werden damit künftig
        fast 50 offizielle deutsche Beteiligungen an Auslands-
        messen weniger stattfinden; für den Absatz der deutschen
        Exportindustrie kann ein solch tief greifender Einschnitt
        verheerende Folgen haben.
        Für eine Exportnation wie Deutschland hat dies gra-
        vierende Rückwirkungen auf Arbeitsmarkt und Steuer-
        einnahmen. Ein aktuelles Gutachten der Uni Köln stellt
        fest: Die vom Bund eingebrachten 70 Millionen DM für
        Messebeteiligungen im Ausland haben ein Exportvolu-
        men von rund 7 Milliarden DM induziert, damit verknüpft
        sind 20 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die Folgen solcher
        Förderung: ein Mehr an Steuereinnahmen von 335 Milli-
        onen DM, davon 150 Millionen DM allein für den Bund.
        Der Einsatz von 70 Millionen DM hat sich verdoppelt.
        Umgekehrt bedeutet das: Durch die Kürzung von 12 Mil-
        lionen DM im Haushalt 2002 werden 128 Millionen DM
        weniger Steuern bewirkt; ein Verlust von 116 Milli-
        onen DM für die öffentlichen Haushalte. So sieht der frag-
        würdige Sparkurs der Bundesregierung aus.
        Auch ordnungspolitisch wird der Auslandsmes-
        seförderung Unbedenklichkeit bescheinigt. Sie stützt und
        stärkt den Markt, sie gleicht Wettbewerbsnachteile für
        kleinere und mittlere Unternehmen aus. Gerade für kleine
        und mittlere Unternehmen eignen sich Auslandsmessebe-
        teiligungen als erste Schritte in neue Wachstumsmärkte.
        Rund 20 Prozent der Exporte sind direkte Folge der Be-
        teiligungen deutscher Unternehmen an Auslandsmessen.
        Die Auslandsmesseförderung ist deshalb für die Export-
        wirtschaft eine unverzichtbare Unterstützung bei der er-
        folgreichen Erschließung ausländischer Märkte. Auf den
        offiziellen deutschen Beteiligungen an Auslandsmessen
        mit Schwerpunkt Asien und Osteuropa sind jährlich mehr
        als 5 000 Unternehmen präsent.
        Die Kabinettsentscheidung 2001 hat bereits erste ne-
        gative Auswirkungen. Der Messe-Ausschuss der Deut-
        schen Wirtschaft hat die Pläne für die KONSUGERMA
        2002 in Japan auf Eis gelegt. Dabei handelt es sich um
        die große Sonderschau der deutschen Konsumgüterin-
        dustrie, ein Schaufenster Deutschlands im Erdteil mit den
        meisten Menschen. Die Messe findet alle vier Jahre ab-
        wechselnd zur TECHNOGERMA, der Sonderschau der
        deutschen Investitionsgüterindustrie statt; beide jeweils
        in der größten Wachstumsregion der Welt. Die Entschei-
        dung der Wirtschaft war notwendig, um nach der an-
        gekündigten Kürzung nicht die 239 regulären Auslands-
        messen zu gefährden. Gerade kleine und mittelständische
        Unternehmen verlieren durch den Berliner Bescheid die
        Chance, auf dem schwierigen japanischen und damit
        asiatischen Markt Fuß zu fassen. Besonders sie sollten
        bei der großen Sonderschau in Japan von dem positiven
        Imagetransfer großer bekannter deutscher Marken profi-
        tieren.
        Geben Sie der Wirtschaft Planungssicherheit, Herr
        Minister! Übernehmen Sie eine langfristige Garantie für
        KONSUGERMA und TECHNOGERMA; unabhängig
        von der regulären Auslandsmesseförderung! Setzen Sie
        sich gegenüber dem Finanzminister durch; noch ist der
        Haushalt 2002 nicht verabschiedet!
        Die Auslandsmesseförderung, die eine Hilfe zur
        Selbsthilfe darstellt, muss in den nächsten Jahren so aus-
        gebaut werden, dass sie den wachsenden Anforderungen
        an die globale Präsenz deutscher Unternehmen im Aus-
        land Rechnung trägt. Eine Reduzierung zerstört Ex-
        portchancen. Sichere Fördermittel auch für die Zukunft
        sind damit ein entscheidender Faktor eines Exporter-
        folges.
        Die deutsche Wirtschaft erfüllt durch ihre Messeprä-
        senz auf Auslandsmessen neben den genannten wirt-
        schaftlichen Funktionen auch eine wichtige öffentliche
        Funktion für die politischen und wirtschaftlichen Bezie-
        hungen der Bundesrepublik mit dem Ausland. Sie sind
        kompetente Botschafter unseres Landes.
        Deutsche Veranstalter organisieren neben Beteiligun-
        gen außerdem pro Jahr rund 180 eigene Messen in wich-
        tigen ausländischen Wachstumsregionen, insbesondere in
        Asien, Nord- und Südamerika sowie Osteuropa. Diese
        Veranstalter brauchen ergänzend zu ihrem umfangreichen
        Engagement auf deutschen Messen zunehmend auch in
        schwierigen Auslandsmärkten kompetente Partner. Die-
        ser Einsatz wird und muss in den nächsten Jahren im Rah-
        men der Globalisierung weiter wachsen. Man will an den
        zunehmenden Handelsströmen zwischen außereuropä-
        ischen Regionen teilhaben, um einen positiven Image-
        transfer und damit eine Stärkung der heimischen Leit-
        messen zu erreichen.
        Die Messewirtschaft gehört zu den führenden Dienst-
        leistungsbranchen der deutschen Wirtschaft. Sie zeichnet
        sich durch besonders hohe internationale Ausstrahlung
        und Innovationskraft aus. Rund zwei Drittel der weltweit
        führenden Messen finden in Deutschland statt.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117368
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        Wir von der CDU/CSU haben diese Entwicklung ge-
        wollt und befördert und alle Fraktionen des Deutschen
        Bundestages haben sich dieser Ausrichtung nie ver-
        schlossen. Bei dieser Gemeinsamkeit sollte es bleiben!
        Die Messen bei uns sind zentrale Handels- und Kommu-
        nikationsplätze für die Wirtschaft. Sie leisten dadurch ei-
        nen wesentlichen Beitrag zu Wachstum und Beschäfti-
        gung in Deutschland und zur Intensivierung des
        internationalen Handels. Handel und Wandel sind die
        Grundlage der deutschen Messewirtschaft, der freie Welt-
        handel ihr Motor. Die Einführung des Euro sowie die Er-
        weiterung der Europäischen Union werden ihm weiteren
        Schwung geben.
        Sechs der zehn umsatzstärksten Messegesellschaften
        der Welt haben ihren Sitz in Deutschland. Die deutschen
        Messeveranstalter setzen pro Jahr über 4,5 Milliarden DM
        um. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Messewirt-
        schaft wurde durch verschiedene Studien bestätigt.
        Aufwendungen der Aussteller und Besucher von 17 Mil-
        liarden DM pro Jahr und gesamtwirtschaftliche Produkti-
        onseffekte von über 41 Milliarden DM zeigen, dass die
        Messewirtschaft zu den wichtigsten Dienstleistungsbran-
        chen der deutschen Wirtschaft zählt. Rund 230 000 Voll-
        zeitarbeitsplätze hängen von der Durchführung von Mes-
        sen ab. Da die Aussteller- und Besucherzahlen auch in
        Zukunft weiter wachsen werden, wird die Messewirt-
        schaft auf Dauer am Standort Deutschland Arbeitsplätze
        schaffen und nicht abbauen.
        Messen gehören zu den wichtigsten Begegnungsplät-
        zen der Wirtschaft. Ein wesentlicher Grund dafür ist ihre
        Multifunktionalität: Messen dienen dazu, Innovationen
        zu präsentieren, den Bekanntheitsgrad des Unternehmens
        zu erhöhen, die Wettbewerbssituation zu analysieren,
        Kontakte zu alten und neuen Kunden herzustellen, und
        dazu, den Absatz von Produkten und Dienstleistungen
        vorzubereiten. Für die deutsche Wirtschaft haben Messe-
        beteiligungen einen besonders hohen Stellenwert im
        Kommunikationsmix. So fließen in der Investitionsgüter-
        industrie rund ein Drittel sämtlicher Ausgaben für Markt-
        kommunikation in Messebeteiligungen.
        Jährlich werden 130 bis 150 überregionale und interna-
        tionale Messen und Ausstellungen mit über 160 000 Aus-
        stellern und rund 10 Millionen Besuchern durchgeführt.
        Rund 50 Prozent der Aussteller kommen aus dem Aus-
        land, davon ein Drittel aus Ländern außerhalb Europas;
        und Devisen kommen in unser Land. Von den Besuchern
        reist knapp ein Fünftel aus dem Ausland an, davon wie-
        derum rund 20 Prozent aus Übersee. Kein anderes Messe-
        land erreicht vergleichbare Größenordnungen.
        Doch auch hier gibt es Reserven. Zahlreiche potenzi-
        elle Aussteller und Besucher aus dem Ausland, vor allem
        aus Mittel- und Osteuropa, werden durch administrative
        Schwierigkeiten von einer Messeteilnahme in Deutsch-
        land abgeschreckt. Sie fühlen sich durch stunden- und ta-
        gelanges Warten bei der Visa-Erteilung schikaniert. Hier
        muss die Bundesregierung für Abhilfe sorgen; ein spezi-
        elles „Messe-Visum“ schaffen!
        Vier der fünf größten Messegelände der Welt liegen in
        Deutschland. Für die Durchführung überregionaler Mes-
        sen und Ausstellungen stehen auf 23 deutschen Messe-
        plätzen rund 2,4 Millionen Quadratmeter Hallenfläche
        zur Verfügung. Das entspricht einer Fläche von 330 Fuß-
        ballplätzen, für jeden Messeplatz im Durchschnitt einer
        Fläche von 14 Fußballplätzen. Neun Gelände verfügen
        über mehr als 100 000 Quadratmeter Hallenkapazität, vier
        über mehr als 50 000 Quadratmeter. Hinzu kommt ein
        dichtmaschiges Netz regionaler Fach- und Verbraucher-
        ausstellungen. Allein bei diesen Vor-Ort-Initiativen tref-
        fen sich jährlich rund 60 000 Aussteller und über 10 Mil-
        lionen Besucher. Viele dieser lokalen Messen werden
        durch ehrenamtlichen Einsatz aus der Wirtschaft getra-
        gen. Diesen oft ideenreichen Initiativen ist dafür herzlich
        zu danken.
        Die Durchführung von Messen nützt nicht nur den be-
        teiligten Ausstellern und Besuchern. Auch die regionale
        Wirtschaft im Einzugsgebiet der Messestadt hat einen
        großen Nutzen. Hotellerie und Gastronomie profitieren
        davon ebenso wie Verkehrsunternehmen und Firmen, die
        Messe-Dienstleistungen für Veranstalter und Aussteller
        erbringen, wie Messebau, Logistikunternehmen, Dolmet-
        scher- und Hostessendienste. Je mehr Aussteller und Be-
        sucher aus anderen Regionen in die Messestadt kommen
        und dort übernachten, umso größer ist dieser Effekt. Die
        regionalwirtschaftlichen Effekte umfassen bei stark inter-
        national ausgerichteten Messeplätzen das 5- bis 6fache
        des Veranstalterumsatzes. Betrachtet man neben den
        reinen Messen auch die 63 Millionen Tagungs- und Kon-
        gressteilnehmer, bewirkten diese 1999 für den Touris-
        musstandort Deutschland einen Umsatz von 84 Milliar-
        den DM und 65 Millionen Übernachtungen, so das GCB
        (German Convention Bureau). Damit sicherte dieser
        Dienstleistungsbereich bundesweit etwa 850 000 Vollzeit-
        arbeitsplätze. Darüber hinaus entstehen erhebliche zu-
        sätzliche Steuereinnahmen für Städte, Länder und Bund.
        Nicht zu vergessen ist die positive Imagewirkung für die
        jeweilige Stadt im In- und Ausland.
        Doch können diesen Effekt nicht alle Regionen in der
        Bundesrepublik gleichrangig nutzen. Die Verteilung von
        Messen mit überregionaler und internationaler Bedeutung
        ist unausgewogen. Sie konzentrieren sich auf sehr leis-
        tungsfähige und stark frequentierte Messestandorte mit
        gut ausgebauter Infrastruktur wie Frankfurt, Düsseldorf
        oder Berlin. Die Förderung bestehender regionaler Mes-
        sestandorte in strukturschwachen Regionen muss daher
        die Aufgabe von Bund und Ländern sein! Durch eine op-
        timierte Anbindung an die Verkehrsinfrastruktur könnten
        diese zu Kristallisationspunkten für die Wirtschaftsent-
        wicklung einer ganzen Region werden.
        Auch in den strukturschwachen Gebieten meiner Hei-
        mat Schleswig-Holstein gibt es solche entwicklungsfähi-
        gen Messen, die das Potenzial zu überregionaler Bedeu-
        tung haben: Hierzu sind die „NORLA“ in Rendsburg, die
        „windtech Husum“ und die „RORO“ in Lübeck zu zählen,
        aber auch eine Gemeinde wie Kropp. Dort gab es
        120 Aussteller und 18 000 Besucher in 3 Tagen. Das ist
        eine beeindruckende Bilanz für Initiatoren aus Wirtschaft
        und Gewerbe, die aus Eigeninitiative ehrenamtlich
        handeln. Die Parade von 55 lebensgroßen Ochsen aus
        Plastikmaterial brachte dieser Mini-Messe bundes-
        weite Beachtung. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen! Die
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17369
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        „windtech Husum“ macht es vor: Gegenüber der Leis-
        tungsschau 1999 verdreifacht sich dieses Jahr die Aus-
        stellerzahl. 250 Aussteller aus 20 Ländern haben sich für
        die Windkraft-Leitmesse im September angemeldet.
        Einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau
        der neuen Länder und damit auch zur Stärkung der Wett-
        bewerbsfähigkeit des Mittelstandes hat seit 1990 das För-
        derprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft für
        ostdeutsche Aussteller geleistet. Inzwischen sind bei der
        Heranführung der ostdeutschen Unternehmen an die na-
        tionalen und internationalen Märkte mithilfe von Messe-
        beteiligungen wichtige Fortschritte erzielt worden. Doch
        diese gute Entwicklung wird jetzt durch den Anti-Messe-
        Beschluss der Bundesregierung gestoppt. Das darf nicht
        sein!
        Die Praxis zeigt: Trotz der Bedeutung von Messen als
        Handels- und Kommunikationsplätze nutzen neu gegrün-
        dete Unternehmen das Marketing- und Vertriebsinstru-
        ment Messen im Vergleich zu langjährig am Markt tätigen
        Unternehmen nur ungenügend. Doch gerade für junge
        Unternehmen ist die Teilnahme an Messen für ihre Eta-
        blierung am Markt besonders wichtig. Grund dafür sind
        die hohen Kosten einer Messebeteiligung. Hier gilt es,
        zielgerichtet zu fördern, kleinen und mittelständischen
        Unternehmen sowie Neugründungen unter die Arme zu
        greifen!
        Die deutsche Messewirtschaft ist seit Jahrzehnten frei
        von speziellen gesetzlichen Regelungen, etwa hinsicht-
        lich des Marktzugangs für Veranstalter oder der Gründung
        neuer Veranstaltungen. Die daraus entstandene intensive
        Wettbewerbssituation hat entscheidend zu der internatio-
        nal respektierten hohen Qualität der deutschen Messen
        beigetragen.
        Für jede Messe müssen die Interessen der Aussteller,
        Besucher und Veranstalter hinsichtlich Bezeichnung, No-
        menklatur, Standort, Termin, Dauer und Turnus von Mes-
        sen immer wieder aufs Neue zum Ausgleich gebracht
        werden. Der Ausstellungs- und Messeausschuss der deut-
        schen Wirtschaft wirkt daran als neutrale Clearingstelle
        hilfreich mit. Dadurch fördert er ein rationelles Messewe-
        sen im Sinne einer effektiven Subsidiarität, der Staat wird
        entlastet, die Wirtschaft gestärkt, die Bürger haben etwas
        von diesem Modell.
        Doch mit der Entscheidung der Bundesregierung, die
        Messeförderung drastisch einzuschränken, legt man die
        Axt an die Wurzel der Exportförderung. Unser Land muss
        Messeland Nummer eins in der Welt bleiben.
        Ernst Burgbacher (F.D.P.): Die Messewirtschaft
        stellt in Deutschland einen wichtigen Wirtschaftsfaktor
        dar. Die Zahlen sind beeindruckend: Sechs der zehn welt-
        weit umsatzstärksten Messegesellschaften befinden sich
        in Deutschland. Vier der fünf weltweit größten Messe-
        gelände befinden sich in Deutschland. Zwei Drittel der
        weltweit führenden Messen finden in Deutschland statt.
        Der Messestandort Deutschland hat eine führende Markt-
        position, wobei das Potenzial noch lange nicht ausge-
        schöpft ist.
        Für die regionale Wirtschaft haben Messen eine zen-
        trale Bedeutung. Verkehrsbetriebe und Taxiunternehmen,
        Logistik, Transport und Messebau, Einzelhandel, Kultur-
        und Freizeiteinrichtungen – es gibt kaum eine Branche,
        die nicht direkt oder indirekt an einer großen Messe mit-
        verdient. Die Umwegrendite für die regionale Wirtschaft
        im Umfeld einer großen Messe beträgt durchschnittlich
        das Fünf- oder Sechsfache. Das heißt im Klartext: Jede
        Mark, die auf der Leipziger Messe umgesetzt wird, bringt
        der Region etwa 5 bis 6 DM ein.
        Hotellerie und Gastgewerbe profitieren von den Aus-
        stellern und Besuchern. In Leipzig macht der Messe- und
        Kongresstourismus 30 Prozent der gesamten Zimmer-
        belegung aus. Wer je versucht hat, während der Buch-
        messe in Frankfurt noch ein Hotelzimmer zu bekommen,
        wird das Problem einer 100-prozentigen Zimmerbele-
        gung kennen.
        Von den jährlich 160 000 Ausstellern auf den deutschen
        überregionalen und internationalen Messen kommen
        80000 aus dem Ausland, von ihnen etwa ein Drittel aus
        Übersee. Von den 10 Millionen Besuchern kommen etwa
        2Millionen aus dem Ausland. Viele Aussteller und Messe-
        besucher nutzen die Messe auch für ein privates touris-
        tisches Besuchsprogramm. Gerade ausländische Gäste
        geben dabei überdurchschnittlich viel Geld aus.
        Deswegen ist es notwendig, dass die Einzugsgebiete
        eines Messestandortes flexibel auf die touristische Nach-
        frage reagieren können. Wie soll man etwa den Messegäs-
        ten aus Italien oder Frankreich klarmachen, dass sie nach
        einem langen Arbeitstag ab 22 Uhr bitte schön den Bier-
        garten zu räumen haben? Auf Messen werden informelle
        Kontakte geknüpft und nicht zuletzt viel gefeiert. Höchs-
        tens ein Gast aus Großbritannien würde bei unserer über-
        holten Sperrstundenregelung nicht verwundert den Kopf
        schütteln.
        Messen sind für Aussteller wie für Besucher meist
        ganztägige Veranstaltungen. Regionale Geschäfte im
        Umfeld des Messegeländes können davon kaum profitie-
        ren, da Messeschluss und Ladenschluss meist dicht bei-
        einander liegen. Messen müssen daher auch in Ihrer Be-
        deutung für die Tourismuswirtschaft ernst genommen
        werden. Ein guter Messestandort zeichnet sich vor allem
        auch dadurch aus, dass sich Gäste dort wohl fühlen. Ho-
        tellerie und Gastronomie müssen in die Lage versetzt wer-
        den, der Spitzenposition der deutschen Messewirtschaft
        auch gerecht zu werden.
        Dazu gehört erstens eine Liberalisierung der Sperrzei-
        ten, damit die Wirte auf die Bedürfnisse der Messegäste
        eingehen können.
        Dazu gehört zweitens eine Verlängerung der Öff-
        nungszeiten in der Außengastronomie. Biergärten und
        Straßencafes gehören gerade auch in den Augen der aus-
        ländischen Touristen zu den beliebtesten gastronomi-
        schen Betrieben. Biergärten stellen auch einen Teil unse-
        rer Lebensart und Kultur dar. Gerade hier sollten wir
        Toleranz und Weltoffenheit zeigen, anstatt mit Kleinka-
        riertheit unsere Gäste zu vertreiben.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117370
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        Dazu gehört drittens eine Flexibilisierung der Laden-
        schlusszeiten, damit Aussteller und Besucher auch abends
        nach Messeschluss noch in Ruhe einkaufen können.
        Dazu gehört viertens die Förderung der Dienstleis-
        tungsbereitschaft. Es muss sich lohnen, auf die Wünsche
        und Bedürfnisse der Messebesucher einzugehen. Die
        630-Mark-Regelung verhindert, dass Wirte und Hoteliers
        kurzfristig zusätzliche Arbeitskräfte einstellen können,
        um etwa in Messezeiten dem größeren Aufkommen an
        Gästen gerecht zu werden. Auch die Besteuerung von
        Trinkgeldern schadet der Dienstleistungsbereitschaft.
        Der Erfolg einer Messe hängt entscheidend davon ab,
        wie zufrieden Aussteller und Besucher mit dem Service
        sind. Auch hier gilt die Devise: Ein zufriedener Gast kehrt
        wieder.
        Ursula Lötzer (PDS): Die Große Anfrage und der
        Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion bietet die
        Möglichkeit, über Eckpunkte der wirtschaftspolitischen
        Leitbilder von Regierung und der größten Oppositions-
        partei zu debattieren.
        Im Kern geht es der CDU/CSU um eine gleichblei-
        bende Subventionierung der deutschen Exportwirtschaft
        über die Messeförderung. Daran ist erst einmal nichts Eh-
        renrühriges, obwohl sonst von Ihnen bei jeder Gelegen-
        heit der Abbau von Subventionen und der Rückzug des
        Staates gefordert wird. Die Tatsache, dass zwei Drittel der
        weltweit führenden Messen in Deutschland stattfinden
        und sich dies positiv auf den Tourismussektor und die Be-
        schäftigung auswirkt, spricht scheinbar schon für sich.
        Wie aus den Antworten der Bundesregierung ersicht-
        lich, sind die regionalen Impulse also nicht zu vernach-
        lässigen. Aber ich gebe zu bedenken, dass es nicht nur um
        die Frage geht, wie der Status quo gehalten wird oder wie
        sich die deutsche Wirtschaft auf den Exportmärkten be-
        hauptet. Wichtiger ist, ob eine Politik, die primär auf den
        Export setzt, die wirtschaftlichen und vor allem sozialen
        Probleme in Deutschland auf die Dauer nachhaltig lösen
        kann. Die Antwort ist ein klares Nein.
        In den letzten Tagen und Wochen zeigte sich wieder
        das grundsätzliche Problem der strategischen Orientie-
        rung des Exportweltmeisters Deutschland: Die weltwirt-
        schaftliche Konjunktur bricht ein, die Talsohle ist im Mo-
        ment nicht absehbar und die deutsche Wirtschaft wird in
        starke Mitleidenschaft gezogen. Aus dem jahrzehntelang
        vernachlässigten Binnenmarkt gibt es nicht die notwendi-
        gen Impulse, um den Einbruch zu kompensieren. Die ver-
        sprochene Wende am Arbeitsmarkt rückt in weite Ferne.
        Das Wort Rezession macht bereits die Runde – eine Ent-
        wicklung, die wir von der PDS bereits vor Monaten hier
        im Plenum prognostiziert hatten. Damals wurden wir
        milde belächelt und als „Miesmacher“ bezeichnet. Heute
        muss sich Wirtschaftsminister Müller für die teilweise
        Anerkennung dieser Realität vor dem Kollegen Eichel
        und dem Bundeskanzler rechtfertigen.
        Mit einer stärkeren Exportsubventionierung wie im
        Falle der Messen, die das Marketing für Produkte „Made
        in Germany“ bereitstellen, wird sich das Problem man-
        gelnder Nachfrage im Inland aber nicht lösen lassen. Auf
        den Exportmärkten herrscht bereits ein großer Verdrän-
        gungswettbewerb. 90 Prozent der Warenströme kommen
        aus den wenigen OECD-Staaten und bleiben dort. Jeder
        versucht beim Nachbarn mehr abzusetzen, weil zu Hause
        die Löhne und die öffentliche Nachfrage sinken. Eine Po-
        litik der permanenten Exportüberschüsse ist dabei ebenso
        wenig dauerhaft wie kontinuierliche Defizite, wie im
        Falle der USA.
        Ganz zu schweigen von den sozialen Konsequenzen
        und Verteilungseffekten des Verdrängungswettbewerbs,
        der zulasten der Arbeitsbedingungen und der sozialen
        Standards geführt wird. Anschaulich wird dies in den Fra-
        gen der CDU/CSU-Fraktion, die längere Ladenöffnungs-
        zeiten im Zusammenhang von Messen einfordert, die vor-
        gesehenen Neuregelungen zur Teilzeitarbeit und
        befristete Arbeitsverträge ablehnt und sich für die Aufhe-
        bung arbeitsrechtlicher Bestimmungen ausspricht.
        Hier präsentieren die Kolleginnen und Kollegen von
        der CDU/CSU wieder ihre alten Vorstellungen eines libe-
        ralisierten Arbeitsmarktes, der befreit von staatlichen Re-
        geln aus sich heraus für „Vollbeschäftigung“ sorgen
        könne. Auch wenn diese Vorstellungen in den Zusam-
        menhang von „Globalisierung und Messewirtschaft“ ge-
        stellt werden, bleiben sie falsch und helfen nicht, sozial
        abgesicherte Arbeitsplätze zu schaffen.
        Die Messewirtschaft kann durchaus Impulse für dieses
        Ziel bieten, wenn sie in ein Konzept der Förderung des
        Binnenmarkts integriert wird. In ihren Antworten auf die
        Große Anfrage setzt die Bundesregierung aber leider auf
        eine weitere Liberalisierung der Märkte, ob auf dem EU-
        Binnenmarkt oder im Rahmen der Dienstleistungsver-
        handlungen in der WTO. Gefragt ist jedoch ein Strategie-
        wechsel, der nicht Protektionismus meint.
        Denn es ist kaum glaubhaft, dass alle klein- und mit-
        telständischen Unternehmen auf dem „Weltmarkt“ ihre
        Nische finden. Sie werden in der überwiegenden Zahl
        ihren Absatz auf dem Binnenmarkt und der Region be-
        halten. Und deshalb sind regionale Wirtschaftskreisläufe
        zu unterstützen, nicht nur aus ökologischer Einsicht, son-
        dern aufgrund strukturpolitischer Notwendigkeit. Eine
        Konzentration auf und Kooperation zwischen Messe-
        standorten könnte dabei helfen, die Produkte und Dienst-
        leistungen in der Region zu präsentieren und die Förder-
        mittel effizient einzusetzen.
        Eine ausreichend hohe kaufkräftige Nachfrage der
        Menschen vor Ort ist dabei aber Grundvoraussetzung,
        wobei wir beim Ausgangspunkt sind: Einseitige Export-
        orientierung verhindert genau diese hohe Massennach-
        frage und diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Un-
        sere Fraktion hat in den letzten Jahren genau hierfür
        zahlreiche Ansätze in die Debatte eingebracht.
        Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister für Wirtschaft und Technologie: Mit der Großen
        Anfrage zur „Zukunft der deutschen Messewirtschaft in
        der Globalisierung“ wird ein wichtiger Bereich der
        Dienstleistungswirtschaft angesprochen, dem die Bun-
        desregierung auch schon in der Vergangenheit ihre Auf-
        merksamkeit gewidmet hat. Messen und Ausstellungen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17371
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        im In- und Ausland haben für die exportorientierte deut-
        sche Wirtschaft eine zentrale Bedeutung. Messen und
        Ausstellungen sind Grundlage des Exportgeschäfts und
        stützen damit die inländische Produktion, Beschäftigung
        und die Steuereinnahmen des Staates. Als einem wichti-
        gen Teil des Außenwirtschaftsförderinstrumentariums
        kommt der Auslandsmesseförderung ein hoher Stellen-
        wert zu. Die staatliche Unterstützung ist Hilfe zur Selbst-
        hilfe zur Erschließung schwieriger ausländischer Märkte.
        Dabei zielt die Unterstützung insbesondere auf kleine und
        mittlere Unternehmen, die sich im Ausland keine eigenen
        Vertretungen leisten können.
        Insgesamt steht die Mittelstandsförderung im Zentrum
        der Auslandsmessepolitik. So hat die Bundesregierung im
        Jahr 1999 172 Auslandsmessen mitfinanziert, 2000 konn-
        ten 190 Auslandsmessen gefördert werden. 2001 wird
        sich die Zahl voraussichtlich auf 195 belaufen. Rund
        90 Prozent der Messeteilnehmer sind mittelständischen
        Unternehmen zuzuordnen. Nicht zuletzt deshalb sieht die
        Bundesregierung in der Auslandsmesseförderung eine
        mittel- und langfristige Aufgabe.
        Es ist das übergeordnete Ziel der Bundesregierung, den
        Bundeshaushalt wieder in geordnete Verhältnisse zurück-
        zuführen. Deshalb sind Einschnitte in vielen Bereichen
        erforderlich, von denen auch die Auslandsmesseförde-
        rung nicht ausgenommen werden kann. Allerdings ist die
        Bundesregierung bemüht, im Interesse der langfristigen
        Stabilität die Absenkung des Etats in Grenzen zu halten.
        Ob es dadurch tatsächlich zu sehr viel weniger Auslands-
        messebeteiligungen kommen wird als in diesem Jahr und
        in den Vorjahren, wird ganz wesentlich davon abhängen,
        ob die Unternehmen bereit sind, mehr Eigenmittel in die
        geförderten Auslandsmessebeteiligungen einzubringen.
        Die Bundesregierung hält ein höheres finanzielles En-
        gagement der ausstellenden Unternehmen an den direkten
        förderfähigen Messekosten für angemessen und zumut-
        bar. Derzeit tragen die Aussteller durchschnittlich ein
        Drittel dieser Kosten. Bei höherer Eigenbeteiligung
        könnte durchaus die Zahl der Auslandsmessebeteiligun-
        gen gehalten werden. Die Förderquote der direkten Mes-
        sekosten würde dann im Schnitt immer noch über 50 Pro-
        zent liegen.
        Nach jahrzehntelanger finanzieller Unterstützung der
        Maßnahmen für die Vermarktung des „Messeplatzes
        Deutschland“ im Ausland erwartet die Bundesregierung
        nun eine Konsolidierung dieser Aktivitäten sowie einen
        gezielten Einsatz der Eigenmittel der Messewirtschaft für
        diesen Zweck. Die Messegesellschaften sind mit eigenen
        Marketingmaßnahmen sehr stark im Ausland engagiert,
        sodass eine übergreifende Werbung für den Messeplatz
        Deutschland auf wichtige Kernbereiche konzentriert wer-
        den kann. Vor dem Hintergrund der positiven Entwick-
        lung des „Messeplatzes Deutschland“ kann damit auch
        ein Beitrag zu den erforderlichen Haushaltseinsparungen
        geleistet werden.
        Für die deutsche Exportwirtschaft ist der Zugang zu
        den Auslandsmärkten von lebensnotwendiger Bedeutung.
        Die Bundesregierung bemüht sich daher, im Rahmen der
        angestrebten neuen WTO-Verhandlungsrunde weitere
        Maßnahmen zur Marktöffnung und Zollsenkung durch-
        zusetzen. Dabei gilt unser besonderes Augenmerk dem
        Dienstleistungsbereich und Fortschritten auch im Touris-
        mussektor.
        Ohne den gewünschten Abbau von Handelshemmnis-
        sen kann eine gezielte Messeförderung nicht ihre ge-
        wünschte Wirkung entfalten. Für die deutsche Export-
        wirtschaft und damit auch für die Veranstaltung von
        Auslandsmessen sind noch zahlreiche weiße Flecken auf
        der Weltkarte zu erschließen. Im Zeitalter der Globalisie-
        rung und der immer stärkeren internationalen Vernetzung
        der Märkte kommen daher auf die Auslandsmesseförde-
        rung auch in Zukunft gewichtige Aufgaben zu.
        Für die deutsche Wirtschaft ist ein weiterer Ausbau des
        Auslandsmesseförderinstrumentariums als Instrument
        der Markterschließung von hoher Priorität. Durch die ver-
        stärkte Vermarktung des Ziellandes Deutschland durch
        die Deutsche Zentrale für Tourismus und das German
        Convention Bureau bemühen wir uns, auch die Zahl der
        ausländischen Messebesucher in Deutschland zu erhöhen.
        Die Aktivitäten der beiden genannten Organisationen zie-
        len insbesondere auf das Segment Geschäftsreisen ab.
        Konkret steht die Werbung für den Besuch von Messe-
        veranstaltungen in Deutschland im Mittelpunkt. Die Vi-
        saerteilungen an Messe-Aussteller und -Besucher insbe-
        sondere aus der Volksrepublik China, der Ukraine und aus
        Russland laufen nun reibungslos, nachdem Verfahren ein-
        geführt wurden, die sicherstellen, dass Visaanträge von
        Geschäftsleuten vorrangig bearbeitet werden. Dadurch
        leisten die Visastellen zusammen mit den Wirtschafts-
        diensten an den deutschen Auslandsvertretungen einen
        hervorragenden Beitrag zur Stärkung des Messestandor-
        tes Deutschland.
        Durch die Neuorientierung des Vorsteuerabzugs aus
        Reisekosten am europäischen Recht verbessert die
        Bundesregierung die Voraussetzungen für in- und aus-
        ländische Interessenten zur Teilnahme an Messen in
        Deutschland. Die Bundesregierung hält im Übrigen Aus-
        nahmeregelungen für Dienstleister im Bereich der Mes-
        sewirtschaft bei Teilzeitarbeit und der Befristung von
        Arbeitsverträgen nicht für angebracht. Diese Messe-
        Unternehmen können keine Sonderstellung beanspru-
        chen, sondern können die vorhandenen Flexibilitäten im
        Teilzeit- und Fristarbeitsrecht ausschöpfen.
        Der zunehmende Einsatz virtueller Medien im Zusam-
        menhang mit Messen wird von der Bundesregierung aus-
        drücklich begrüßt. Sie wertet dies als eine sinnvolle Er-
        gänzung für die Verbesserung der Attraktivität deutscher
        Messen, sieht allerdings auch längerfristig keine Substi-
        tution oder grundsätzliche Wandlung der Messeland-
        schaft durch dieses Medium.
        Fusionen von, Messeveranstaltern – hier gab es in jün-
        gerer Zeit einige Bewegung in der Messelandschaft –
        werden von der Bundesregierung unter rein wettbewerbs-
        rechtlichen Gesichtspunkten geprüft. Prüfungsmaßstab
        ist dabei die Frage, ob durch den Zusammenschluss eine
        marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wer-
        den könnte. Dies ist bei den bisherigen Anträgen an das
        Bundeskartellamt nicht festgestellt worden. Es bleibt ab-
        zuwarten, ob sich in dieser Entwicklung in Zukunft Än-
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        derungen in der Art ergeben, dass die Bundesregierung
        Anlass sieht, sich einzuschalten.
        Die Bundesregierung hält die „Zukunft der deutschen
        Messewirtschaft in der Globalisierung“ trotz der notwen-
        digen Haushaltskürzungen für weiterhin gesichert und
        aussichtsreich. Der Messestandort Deutschland hat seine
        internationale Bedeutung nachhaltig unter Beweis ge-
        stellt. Auch im Auslandsmessegeschäft sind und bleiben
        deutsche Dienstleister und Aussteller an der Weltspitze.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und
        des Berichtes: Ziele für die Qualitätssteigerung
        in der Diabetes-Versorgung (Tagesordnungs-
        punkt 14)
        Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Es ist
        schade, dass eine solch bedeutende Angelegenheit, die die
        Lebensfrage für 6 Millionen an Diabetes erkrankten Men-
        schen betrifft, zu solch später Stunde im Parlament zur
        Sprache kommt. Es ist schade, weil damit auch die Be-
        troffenen selbst nicht die Möglichkeit haben, wenn es um
        ihre Zukunft geht, dabei zu sein. Wenn ich an die Diabe-
        tes-Versorgung in Deutschland denke, dann trifft schwarz
        voll ins Schwarze. Mit schwarz ist Prof. Schwartz ge-
        meint, der Vorsitzende des Sachverständigenrats der Kon-
        zertierten Aktion im Gesundheitswesen, der mit seiner
        Feststellung „Das deutsche Gesundheitswesen leistet
        nicht, was es leisten könnte. Es hat zu wenig Zielorientie-
        rung, Patientenorientierung und Qualitätsorientierung.“
        voll ins Schwarze getroffen hat.
        Wir wollen in Deutschland für diabeteskranke Men-
        schen eine Regelversorgung einführen. Damit wird deut-
        lich, dass wir zwar viel Erkenntnisse über Modellprojekte
        gewonnen haben, aber ein Flickenteppich ist keine Ant-
        wort auf die Herausforderung in Deutschland für die
        sechs Millionen an Diabetes mellitus Erkrankten. Über
        90 Prozent dieser Menschen haben eine Typ 2-Diabetes.
        Diese Diabetes-Form ist meist mit Übergewicht, Blut-
        hochdruck und Stoffwechselstörungen verbunden.
        250 000 Menschen in Deutschland haben eine Typ 1-Dia-
        betes. Diese Menschen müssen immer mit Insulin behan-
        delt werden. Aber das Grausame an dieser „schleichenden
        nicht schmerzhaften Krankheit“ ist, dass 9 000 Diabetiker
        pro Jahr ein Nierenversagen erleiden. Jeder dritte Dia-
        lysepatient ist ein Diabetiker. Der Anteil der Diabetiker
        steigt. Jeder zweite Patient, der neu eine dauerhafte Dia-
        lyse-Behandlung braucht, ist ein Diabetiker.
        Über 90 Prozent der Diabetiker bekommen Netzhaut-
        veränderungen der Augen. Das Risiko bei Menschen mit
        Diabetes, zu erblinden, ist um das Zehnfache höher. Pro
        Jahr erblinden mindestens 3 000 Diabetiker. Dies ist jeder
        Dritte, der neu erblindet. Aber das ist noch nicht alles.
        25 000 Fuß- und Beinamputationen, das sind 70 Prozent
        aller Amputationen, werden jährlich bei Menschen mit
        Diabetes vorgenommen. Das Risiko bei Herzanfällen und
        Schlaganfällen ist bei diesen betroffenen Menschen stark
        erhöht. 35 000 tödliche Herzanfälle und 30 000 Schlagan-
        fälle erleiden diabeteskranke Frauen und Männer. Helfen
        Sie mit, dass in Deutschland diese Entwicklung endlich
        ein Ende findet.
        Wenn Sie jetzt immer noch keinen Handlungsdruck
        spüren, dann ist ihnen nicht mehr zu helfen. Das deutsche
        Gesundheitswesen leistet nicht, was es leisten könnte.
        Was könnte es leisten? Wir könnten 50 Prozent der Am-
        putationen vermeiden. Wir könnten ein Drittel der Neu-
        erblindungen vermeiden und ein Drittel der Betroffenen
        müssten nicht bei Nierenversagen an eine Dialyse. Also
        brauchen wir Gesundheitsziele; wir brauchen eine Ziel-
        orientierung.
        Deshalb beschließen wir heute das erste Gesundheits-
        ziel im Deutschen Bundestag. Damit schaffen wir das
        Zielbewusstsein, die Setzung von nachvollziehbaren Pri-
        oritäten, die Ableitung von konkreten Versorgungszielen
        und die Orientierung für gesundheitspolitische Pro-
        gramme wie unseren Nationalen Aktionsplan Diabetes.
        Dass unsere Gesundheitsziele keine Utopie sind, wird
        durch Studien belegt. Ich will nur eine davon herausneh-
        men – die United Kingdom Prospective Diabetes Study –
        UKPDS – von 1998. Damit wurde belegt, dass bei einer
        Verminderung des Blutzuckers um nur 1 Prozent 21 Pro-
        zent der diabetesbezogenen Komplikationen vermieden
        wurden. Um 25 Prozent erfolgte eine Verminderung der
        diabetesbezogenen Todesfälle und eine 17-prozentige
        Vermindung der Gesamtsterblichkeit, aber auch eine
        35-prozentige Verminderung des Risikos von Folgeer-
        krankungen von Augen und Nieren.
        Aber wenn Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von
        der Opposition, die menschliche und die medizinische Di-
        mension unseres Lösungsansatzes nicht überzeugen
        sollte, dann vielleicht die ökonomische: 2 300 DM kostet
        ein gut eingestellter Diabetiker. 11 000 DM kostet ein mit-
        telmäßig eingestellter Diabetiker. 23 000 DM kostet ein
        schlecht eingestellter Diabetiker und 35 000 DM kostet
        ein Diabetiker mit Folgeerkrankungen im Jahr. Der Lern-
        satz daraus heißt 1 zu 10; das heißt, ein gut eingestellter
        Diabetiker kostet ein Zehntel.
        Das bei dem Antrag mein Herzblut eine wichtige Rolle
        spielt, ist nicht verborgen geblieben. Was mein Herz al-
        lerdings schneller schlagen lässt, ist der Rückenwind, den
        wir jetzt verspüren. Nicht nur die Betroffenen, die mit ei-
        ner hohen Erwartungshaltung nach Berlin blicken, son-
        dern ein Rückenwind in vierfacher Art bringt uns voran:
        Erstens. Aus dem Gesamtkonzept „Gesundheitsziele“
        der Bundesregierung, an dem noch gearbeitet wird, haben
        wir einvernehmlich das Gesundheitsziel Diabetes vorge-
        zogen. Zweitens. Wir haben die Unterstützung aus dem
        Sachverständigenrat, der Gesundheitsförderung und Prä-
        vention ganz in den Vordergrund stellt. Drittens. Durch
        den neuen Risiko-Strukturausgleich in der Krankenversi-
        cherung wird der Wettbewerb um die bestmögliche
        Versorgung der Patientinnen und Patienten eingeführt.
        Viertens. Durch die Neuordnung der Arzneimittelver-
        ordnung wird der richtige Rahmen für Diabetiker gesetzt.
        Zum zweiten Rückenwind zurückkehrend: Der Sach-
        verständigenrat hat festgestellt, dass wir durch einen ent-
        sprechenden Umbau des Gesundheitswesens in Richtung
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        Prävention rund 25 bis 30 Prozent der heutigen Gesund-
        heitsausgaben langfristig vermeiden können. Zum dritten
        Rückenwind zurückgekehrt, werden wir mit dem Risiko-
        Strukturausgleich schon ab dem 1. Januar 2002 Disease-
        Management-Programme für chronische Erkrankungen,
        allen voran Diabetes, einführen. Damit wird der Wettbe-
        werb der Krankenkassen weggeführt, um die so genann-
        ten guten Risiken und hingeführt zu einem Wettbewerb
        um die bestmöglichste Versorgung von chronisch kranken
        Menschen. Nur die Krankenversicherung, die entspre-
        chend geprüfte Versorgungskonzepte anbietet und die ihre
        Mitglieder überzeugt, dass sie daran teilnehmen, was sie
        durch eine Unterschrift bestätigen müssen, bekommt in
        Zukunft eine entsprechende Ausgleichszahlung. Damit
        wird ein ganz entscheidender Schritt zu einem überzeu-
        genden Versorgungskonzept gemacht, mit dem wir dieses
        Gesundheitsziel nun rascher erreichen können, als wir
        dies noch vor einem halben Jahr gedacht haben.
        Zurück zum Rückenwind Nummer vier: Vielfach
        wurde unser Nationaler Aktionsplan Diabetes kritisiert,
        weil man die Auffassung vertrag, er wäre mit der Verord-
        nungspraxis von Arzneimitteln nicht kompatibel. Nun
        geht die Regierung und die Gesundheitsministerin Ulla
        Schmidt einen neuen Weg. Die Ärzteschaft und die Kran-
        kenkassen können Vereinbarungen treffen, die neben ei-
        nem Ausgabenvolumen für Arzneimittel auch konkrete
        Ziele und die Schritte zur Umsetzung benennen. Qualita-
        tive Versorgungskriterien sollen stärker berücksichtigt
        werden. Auch für Richtgrößen sollen die Krankheitsarten
        künftig mit einbezogen werden.
        Zusammengefasst eine maßgeschneiderte Lösung für
        die Versorgung von chronisch kranken Diabetikerinnen
        und Diabetikern in Deutschland: Lassen Sie sich von un-
        serem Rückenwind mit antreiben und stimmen Sie unse-
        rem Antrag zu! Die betroffenen Menschen werden es Ih-
        nen danken. Denn Sie wollen nicht noch einmal zehn
        Jahre warten, bis eine Regierung nach eingegangenen
        Verpflichtungen handelt. Die Betroffenen haben nicht
        vergessen, dass die alte Bundesregierung die St.-Vincent-
        Erklärung von 1989 unterschrieben hatte, aber keine Ta-
        ten folgen ließ.
        Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Der Diabetes mellitus,
        die Zuckerkrankheit, und die damit in Zusammenhang
        stehenden Folgeerkrankungen stellen angesichts ihrer
        Häufigkeit eine Volkskrankheit dar, die zu einer empfind-
        lichen Reduzierung von Leistungsfähigkeit, Lebensqua-
        lität und Lebenserwartung der Betroffenen führen kann.
        Nicht selten sind Herzinfarkte, Nierenversagen, Amputa-
        tionen oder Erblindung die dramatischen Folgen dieser
        Erkrankung. In Deutschland geht man von geschätzten
        5 Millionen Menschen mit Diabetes aus.
        Bereits im Jahre 1989 wurden deshalb von Ärzten,
        Wissenschaftlern, Politikern und Menschen mit Diabetes
        durch die St.-Vincent-Deklaration Zielvorgaben für eine
        Verbesserung der Betreuung von Menschen mit Diabetes
        festgelegt. Der Antrag der Koalition, über den wir heute
        beraten, stellt also vom Grundsatz her nichts Neues dar.
        Auch wir – wer wollte das nicht? – setzen uns für eine bes-
        sere medizinische Versorgung von Diabetikern ein, leh-
        nen diesen Antrag jedoch ab, da der aufgezeigte Weg dort-
        hin falsch ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse und damit
        das fachliche Instrumentarium für eine Verbesserung der
        ambulanten Betreuung von Diabetikern sind ausreichend
        vorhanden und bedürfen nicht zusätzlicher staatlicher In-
        tervention. Wenn Sie der alten Bundesregierung Untätig-
        keit vorwerfen, geht der Vorwurf ins Leere. Wahr ist viel-
        mehr, dass bereits unter der alten Bundesregierung
        zahlreiche Modellvorhaben zur integrierten Versorgung
        von Diabetikern in mehreren Bundesländern begonnen
        und mitfinanziert wurden.
        Ein besonders positives Beispiel ist hierfür das Modell-
        vorhaben in Thüringen, von dem sich Kollege
        Schmidbauer bei einem Besuch der AOK Thüringen
        selbst überzeugen konnte. Hier wurden bereits 1995 auf-
        bauend auf den epidemiologischen Erkenntnissen der
        früher in der ehemaligen DDR praktizierten Dispensaire-
        betreuung von Diabetikern neue Wege der Behandlung
        eingeschlagen. Im April 1998 wurde letztlich ein Ver-
        tragswerk der AOK und der Kassenärztlichen Vereini-
        gung Thüringens unter finanzieller Beteiligung der alten
        Bundesregierung als Modellvorhaben abgeschlossen.
        Charakteristisch sind dabei Behandlungskorridore zwi-
        schen 200 beteiligten Hausärzten und 35 diabetologi-
        schen Schwerpunktpraxen, die nach Qualitätskriterien re-
        geln, wann ein Patient vom Hausarzt an die
        Schwerpunktpraxis und von da aus wieder zurück an den
        Hausarzt überwiesen wird. Als Grundlage für eine wis-
        senschaftlich fundierte Dokumentation über den Umfang
        der Behandlung dient hierzu der Diabetes-Pass der Deut-
        schen Diabetesgesellschaft. Wesentliche Elemente des
        Modellvorhabens sind Qualitätsmanagement und eine
        Ziel-Anreizvergütung. Dabei ist eine Zusatzvergütung der
        am System beteiligten Leistungserbringer an Erfüllung
        von Versorgungs- und Schulungsaufträgen sowie an die
        Vollständigkeit der entsprechenden Dokumentation ge-
        bunden. Somit wird eine Vergütungsgerechtigkeit erzielt,
        die sich nicht an der Menge, sondern an der Qualität der
        erbrachten Leistung orientiert: Ein entscheidender Qua-
        litätssprung konnte auch bei den Schulungsleistungen er-
        zielt werden. Prävention und Aufklärung spielen hierbei
        eine entscheidende Rolle. Landesweit sind allein 40 re-
        gionale Selbsthilfegruppen tätig und sowohl 1999 als
        auch im Jahre 2000 konnten mit dem Infomobil „Diabe-
        tes und Hochdruck“ in insgesamt 90 Orten wichtige In-
        formationen zum gesundheitsbewussten Verhalten und
        über die Risikofaktoren Übergewicht und Bewegungsar-
        mut vermittelt werden.
        Wenn im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
        behauptet wird, die Ärzteschaft habe den Auftrag der St.-
        Vincent-Deklaration nicht angenommen, so ist dies
        schlichtweg eine böswillige Unterstellung, mit der sie die
        zahlreichen Modellvorhaben und Strukturverträge der
        Selbstverwaltung diskreditieren. Tatsache ist, dass bun-
        desweit mit 19 von 23 Kassen und kassenärztlichen Ver-
        einigungen Verträge abgeschlossen wurden. Allerdings
        – dies war die einhellige Meinung auch der Sachverstän-
        digen zur Anhörung – ist diese Art der integrierten Ver-
        sorgung nicht zum Nulltarif zu haben. Wenn die positiven
        Erfahrungen der Modellvorhaben bisher nicht generell
        auf die gesamte Betreuung von Diabetikern übertragen
        werden konnten, so ist dies vorrangig der Budgetierung
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117374
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        geschuldet. Mittlerweile haben auch Sie von der Koalition
        das anerkannt, denn nicht umsonst planen Sie bei der Än-
        derung des RSA, den Kassen mehr Geld zu geben, die Di-
        sease-Management betreiben.
        In Ihrem Antrag hingegen kommen die Worte „Finan-
        zierung“ oder „Kosten“ nicht an einer einzigen Stelle vor.
        Nach Angaben der KV Südwürttemberg erfordert die Be-
        treuung eines Typ-II-Diabetikers innerhalb eines Struk-
        turvertrages unter Einbeziehung von Diabetologen in
        Schwerpunktpraxen, Nephrologen und Augenärzten ei-
        nen zusätzlichen Finanzbedarf von 800 DM pro Patient
        und Jahr. Hochgerechnet auf 5 Millionen Diabetiker in
        Deutschland würden sich daraus Mehrkosten von 4 Milli-
        arden DM ergeben. Es ist geradezu abenteuerlich, dass
        dieses unter der geltenden Budgetierung auch nur ansatz-
        weise zu leisten ist. Dabei ist die von Ihnen, uns und allen
        Fachleuten geteilte Auffassung, die medizinische Fuß-
        pflege in die ambulante Betreuung von Diabetikern ein-
        zubeziehen, finanziell nicht einmal berücksichtigt.
        Und nun wird es grotesk: Mit der rot-grünen Mehrheit
        soll heute ein Antrag verabschiedet werden, mit der die
        Bundesregierung aufgefordert wird, bis Ende 2001 eine
        Fachkommission zur Durchsetzung einer verbesserten Be-
        treuung von Diabetikern einzusetzen, die dann bis Mitte
        diesen Jahres einen entsprechenden Bericht vorlegen soll.
        Deshalb stellt sich die Frage, wenn es stimmt, dass Sie ja
        alles besser machen wollten als die alte Bundesregierung,
        weshalb Sie nach der Bundestagswahl 1998 zwei Jahre
        gebraucht haben, um diesen Antrag einzubringen, und
        weshalb sie die parlamentarische Beratung des Antrages
        nicht beschleunigt haben, um die Termine zu halten.
        Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei Ihrem Antrag
        vom 11. Oktober 2000 um einen populistischen Schnell-
        schuss handelte angesichts des damals bevorstehenden
        Weltdiabetestages im November. Auch Ihre Forderungen
        nach einem nationalen Aktionsplan und nach einem wei-
        teren Kompetenzzentrum beim medizinischen Dienst der
        Spitzenverbände der Krankenkassen sind aus unserer
        Sicht ein Schritt zu mehr Dirigismus. Wir meinen, nicht
        das ständige Drehen an der Spirale staatlicher Interven-
        tionen, sondern vielmehr Vertrauen in die Selbstverwal-
        tung, mehr Freiräume für sie, mehr Freiräume für bürger-
        nahe Lösungen und mehr Wettbewerb unter den Kassen
        sind der Weg zur Verbesserung der Betreuungssituation
        von Diabetikern und vor allem: Es müssen die notwendi-
        gen finanziellen Voraussetzungen hierfür vorhanden sein.
        Sie selbst sprechen in Ihrem Antrag von einem Paradig-
        menwechsel im Gesundheitswesen, wenn Sie einen
        Rechtsanspruch von Diabetikern auf eine integrierte Ver-
        sorgung fordern. Abgesehen davon; dass einer Umset-
        zung des Antrages Ihre Budgetierung entgegensteht, stellt
        sich die Frage: Wer gibt Ihnen eigentlich das Recht, ein-
        seitig einen Rechtsanspruch für Diabetiker auf eine inte-
        grierte Versorgung einzufordern? Und was sagen Sie ei-
        gentlich anderen chronisch Kranken, wie zum Beispiel
        Patientinnen und Patienten mit Osteoporose, Asthma und
        Rheuma? Was erzählen Sie diesen kranken Menschen,
        wenn sie gleiche Rechte für sich einfordern?
        Nein, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie
        können sich das unter den gegenwärtigen Bedingungen
        der Budgetierung nicht leisten. Das Ergebnis spüren chro-
        nisch Kranke: Sie sind medizinisch zunehmend unterver-
        sorgt und damit zu Patienten zweiter Klasse abgestempelt.
        Nun beraten wir ja morgen in erster Lesung den Gesetz-
        entwurf der Koalition zur Ablösung der Arzneimittel- und
        Heilmittelbudgets. Das zeigt zumindest, dass sie partiell
        lernfähig sind und zu Erkenntnissen gekommen sind, die
        wir schon vor Jahren hatten. Offensichtlich mussten auch
        Sie zur Kenntnis nehmen, dass trotz oder wegen der Bud-
        getierung die Defizite der GKV von 1,7 Milliarden DM
        im ersten Quartal 2000 auf 2,2 Milliarden DM im zweiten
        Quartal 2001 angestiegen sind. Ihre Gesundheitsministe-
        rin Frau Schmidt führt gegenwärtig Konsensgespräche
        und initiiert runde Tische mit keinem anderen Ziel als
        dem, bis zur Bundestagswahl 2002 für Ruhe an der Ge-
        sundheitsfront zu sorgen.
        Ihre Gesundheitsreform 2000 – als Jahrhundertwerk
        gefeiert – ist bereits ein Jahr später gescheitert. Der große
        Wurf bleibt aus Angst vor den Wählerinnen und Wählern
        und der eigenen Fraktion aus.
        Mit Blick auf die Koalition kann ich nur sagen: Stamp-
        fen Sie Ihren Antrag ein. Er ist kein Beitrag zu einer Ver-
        besserung der Situation von Menschen mit Diabetes in
        Deutschland und hören Sie auf, den Diabetikern vorzu-
        gaukeln, sie hätten Anspruch auf eine bessere Versorgung,
        die obendrein nicht mehr kostet. Die Anhörung hat Ihrem
        Antrag ein vernichtendes Urteil beschert und auch unsere
        Fraktion wird ihn heute ablehnen.
        Katrin Göring-Eckhardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Ich freue mich, dass der Antrag zur Qualitätsstei-
        gerung in der Diabetesversorgung heute zur Beschluss-
        fassung ansteht.
        Trotz medizinischer Behandlungsmöglichkeiten be-
        deutet die Erkrankung an Diabetes eine erhebliche Ein-
        schränkung der Lebensqualität. Obwohl die Leistungsfä-
        higkeit eines Diabetikers gleich der eines Gesunden ist,
        erfordert ein Leben mit Diabetes viel Disziplin und eine
        gute und richtige medizinische Behandlung.
        Diabetes ist bis heute nicht heilbar. Ärzte können den
        Menschen mit medizinischen Mitteln eine höhere Le-
        bensqualität geben und Spätfolgen oder zu befürchtende
        Komplikationen lindern.
        Optimal werden die mehr als 4 Millionen Diabetiker
        hierzulande nicht behandelt. Eine bundesweite Untersu-
        chung hat gezeigt, dass bei circa 40 Prozent der über
        50-jährigen Diabetiker die Stoffwechseleinstellung nicht
        akzeptabel ist. Dies ist ein Grund dafür, warum es zu Dia-
        betes-Folgeerkrankungen wie Erblindungen, Nierenver-
        sagen und Amputationen kommt. Nach wie vor betreffen
        seit 1990 zwei Drittel aller in Deutschland durchgeführ-
        ten Amputationen Diabetiker, jeder zweite neu dialysierte
        Patient und jeder dritte neu Erblindete ist ein Diabetiker.
        Nur durch eine rechtzeitige und intensive Betreuung
        der Patienten kann dieser Missstand behoben werden. Die
        Versorgung der heute rund 4 Millionen an Diabetes er-
        krankten Menschen in der Bundesrepublik hat sich unter
        der alten Bundesregierung nicht verbessert, sondern im
        Gegenteil verschlechtert.
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        Die Diskrepanz zwischen den neuen medizinisch-wis-
        senschaftlichen Kenntnissen und deren Umsetzung in der
        Praxis ist weiter gewachsen. In den Niederlanden sind
        aufgrund einer besseren Diabetesbehandlung nur 13 Pro-
        zent der Dialysepatienten Diabetiker. Auch die bisher
        größte Studie zum Diabetes, die Ende 1998 veröffent-
        lichte United Kingdom Prospective Diabetes Study
        (UKPDS) bietet den Beleg, dass Diabetes-Folgeerkran-
        kungen verhindert werden können, je intensiver Diabeti-
        ker behandelt werden. Sie gibt die absolute Gewissheit,
        dass eine strenge Blutzucker- und Blutdruckkontrolle das
        Risiko diabetischer Folgeerkrankungen vermindert. Briti-
        sche Wissenschaftler haben rund 20 Jahre lang mehrere
        tausend Diabetiker mit verschiedenen Therapieformen
        behandelt und den unterschiedlichen Erfolg dokumen-
        tiert. Dies weist darauf hin, dass die Diabetestherapie in
        der Bundesrepublik Deutschland dem aktuellen medizini-
        schen Wissen hinterherhinkt und eine ausreichende sach-
        gerechte Versorgung nicht gewährleistet ist.
        Das ist nicht nur verantwortungslos gegenüber den
        Kranken, sondern auch schlicht unsinnig im Hinblick auf
        die unnötig hohen Ausgaben für die Krankenkassen. Eine
        mangelhafte Versorgung führt zu höheren Kosten, die
        – wie eine bereits im Jahr 1979 in Schweden vorgelegte
        Studie zeigt – bei früh erkannten und gut eingestellten
        Diabetikern nur einen Bruchteil betragen würden.
        Obwohl die schon lange bekannt ist, hat die alte Bun-
        desregierung nicht gehandelt. Sie trägt damit die Verant-
        wortung für eine nicht ausreichende Versorgung von Dia-
        betespatienten. Vielleicht hätten einige
        Folgeerkrankungen verhindert werden können. Ich
        möchte eigentlich nicht mit den unnötig verursachten
        Kosten argumentieren, die ein unzureichend oder schlecht
        behandelter Patient verursacht. Denn es geht hier um
        Menschen, die mit der geeigneten medizinischen Versor-
        gung schlicht besser und unter Umständen auch länger le-
        ben können.
        Aber lassen sie mich an einem Beispiel verdeutlichen,
        wie sinnvoll es ist, in einer frühen Phase der Erkrankung
        in eine intensive Behandlung zu investieren. Die Kosten
        für einen gut eingestellten Typ II-Diabetiker betragen
        1 000 bis 1 200 DM, während die Kosten für einen
        schlecht eingestellten Diabetiker vom Typ II 11 000 bis
        13 500 DM betragen. Von den Kosten für Folgeerkran-
        kungen sei hier noch abgesehen. An diesem Beispiel wird
        sichtbar: Steigerungen der Qualität gehen oft mit lang-
        fristigen Kostensenkungen einher. Deshalb beschreiten
        wir diesen Weg schon seit der Gesundheitsreform 2000.
        Wir haben bereits mit der Gesundheitsreform 2000 we-
        sentliche Schritte unternommen, um die Versorgung von
        chronisch Kranken wie Diabetespatienten zu verbessern:
        mit der Aufnahme der Patientenschulung als ergänzende
        Leistung zur Rehabilitation, mit Regelungen für eine in-
        tegrierte Versorgung und der Einführung von Qualitätssi-
        cherungsmaßnahmen.
        Wir fordern in unserem Antrag, dass die Verbesserung
        der Diabetesversorgung von der Bundesregierung als vor-
        rangiges Gesundheitsziel erklärt wird und konkrete Ver-
        sorgungsziele gemäß der St. Vincent-Deklaration von 1989
        definiert werden, die bis 2005 umgesetzt werden sollen.
        Die Ziele orientieren sich an der Vermeidung der Folge-
        erkrankungen. Zur Umsetzung dieser Ziele soll daher bis
        Ende 2001 eine Kommission eingesetzt werden, die einen
        konkreten Maßnahmenkatalog als Basis zum „Nationalen
        Aktionsplan Diabetes“ bis Ende 2002 erarbeiten soll. Wir
        werden an der Kommission medizinisches Fachpersonal
        aus dem Bereich der Diabetesbehandlung, Vertreter der
        Kostenträger, der Selbsthilfegruppen und der Patienten-
        verbände beteiligen. Die neu zu schaffende Kommission
        fordern wir auf, bis spätestens 2001 einen Bericht über
        den anzustrebenden Versorgungszustand vorzulegen.
        Wir haben bereits im Rahmen der Gesundheitsreform
        2000 mit dem Paragraphen § 43 Abs. 3 SGB V einen
        erweiterten rechtlichen Rahmen für die Krankenkassen
        geschaffen, Patientenschulungsmaßnahmen bedarfsge-
        recht anzubieten. Wir wollen daher auf die Krankenkas-
        sen einwirken, diese Schulungen auch tatsächlich anzu-
        bieten. Diese Schulungsangebote, die den Umgang mit
        der Krankheit und das Wissen darüber vermitteln, tragen
        wesentlich zu einer besseren Bewältigung der Krankheit
        und damit zu einer höheren Lebensqualität des Kranken
        bei.
        Wir wollen ferner, dass auf die Selbstverwaltung von
        Ärzten und Krankenkassen eingewirkt wird, damit die
        Fußpflege für Diabetiker in den Leistungskatalog der ge-
        setzlichen Krankenkassen aufgenommen wird.
        Der mit der Gesundheitsreform eingeschlagene Weg
        der integrierten Versorgung ist auch hier richtig. Wir wol-
        len dafür sorgen, dass innerhalb einer integrierten Versor-
        gung von Haus- und Fachärzten sowie Kliniken auch zum
        Beispiel medizinische Fußpfleger oder Ernährungsberater
        miteinander kooperieren und so eine bessere Versorgung
        von Diabeteskranken sowie eine bessere Prävention von
        Folgekrankheiten stattfinden kann.
        Der häufigen Forderung von Diabetikerverbänden,
        dass der Staat eine Diabeteskampagne startet, tragen wir
        auch mit unserem Antrag Rechnung. Sofern die dazu
        benötigten Haushaltsmittel bereitgestellt werden können,
        wollen wir eine breit angelegte Aufklärungskampagne
        starten. Eine Aufklärungskampagne macht Sinn, denn für
        die Entstehung von Diabetes mellitus Typ II, die
        so genannte Altersdiabetes, sind zum Teil vermeidbare
        Risikofaktoren ausschlaggebend. Neben der erblichen
        Vorbelastung stehen vor allem Übergewicht und Bewe-
        gungsmangel im Vordergrund. Auch auf Ärzte und Kran-
        kenkassen soll eingewirkt werden, die medizinische
        Fußpflege für Diabetiker in den Leistungskatalog der ge-
        setzlichen Krankenkasse aufzunehmen.
        Eine Verbesserung der Diabetesversorgung ist längst
        überfällig. Im Sinne der Patienten bitte ich Sie daher, die-
        sem Antrag zuzustimmen.
        Detlef Parr (F.D.P.): In Deutschland leben circa
        7,5 Millionen Diabetiker, die Kosten von circa 40 Milli-
        arden DM pro Jahr verursachen. Pro Jahr ergeben sich
        hieraus als Folgeerkrankungen 28 000 Amputationen,
        2 300 Erblindungen sowie 4 000 neue Dialysen. Nach
        Aussage von Professor Scherbaum von der Deutschen
        Diabetes-Forschungsgesellschaft sind 50 Prozent dieser
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        Folgeerkrankungen vermeidbar. Die Dimension zeigt,
        dass Handlungsbedarf sowohl im Sinne der Menschen
        als auch im Sinne einer größeren Wirtschaftlichkeit gebo-
        ten ist.
        Der Antrag der SPD beschränkt sich nicht etwa darauf,
        vernünftige Vorschläge zu machen, wie diese Situation
        verbessert werden könnte, sondern zunächst werden völ-
        lig unhaltbare Behauptungen aufgestellt. So wird unter
        anderem behauptet, die alte Bundesregierung habe die
        Selbstbindung der Erklärung von Sankt Vincent schlicht-
        weg ignoriert. Auch die Ärzteschaft habe den Auftrag
        nicht angenommen. Die Versorgung der Diabetiker in der
        Bundesrepublik Deutschland habe sich nicht verbessert,
        sondern im Gegenteil verschlechtert. Diese Aussage kann
        so nicht stehen bleiben. Professor Brech, unterstützt durch
        Dr. Hansen von der KV Nordrhein, hat in der Anhörung
        berichtet, dass es in 18 von 23 KVen strukturierte Diabe-
        tesverträge mit intensiven Schulungen der Diabetiker, In-
        teraktionen zwischen Hausarzt, diabetologisch versiertem
        Arzt, Internisten, Nekrologen und Augenarzt sowie Im-
        plementierungen einer Fußambulanz gibt. Auch in der
        Arzneimittelversorgung seien Therapieziele nach den Er-
        kenntnissen der modernen Wissenschaft definiert worden,
        die unter anderem auf den HbA1c-Werten, den Blut-
        druckwerten und dem Cholesterinspiegel beruhen. Nur:
        dafür sind circa 800 DM pro Diabetiker pro Jahr an Mehr-
        ausgaben erforderlich, die im Rahmen des Arzneimittel-
        budgets nicht zur Verfügung stehen. Daran wird sich im
        Übrigen auch durch die Neukonstruktion der Arzneimit-
        telrichtgrößen nur dann etwas ändern, wenn die von der
        Bundesregierung vorgesehene darüber gewölbte Ober-
        grenze diese Neuentwicklungen berücksichtigt.
        Herr Windisch vom Verband der Krankenversicherten
        Deutschlands hat in der Anhörung deutlich gemacht, dass
        er dort das Hauptproblem sieht: „In dem vorliegenden An-
        trag wird in keinster Art und Weise darüber – die Auswir-
        kungen des Arzneimittelbudgets – geredet. Gerade Abge-
        ordneter Horst Schmidbauer hat im Jahre 1997 über die
        Budgetierung geschrieben. Dabei hat er auch auf die Pro-
        blematik hingewiesen, wenn am Ende des Quartals die
        Zahlen abgerechnet werden. Im vorliegenden Antrag wird
        diese Problematik verschwiegen.“ Ein weiteres Zitat:
        „Professor Brech hat es eben gesagt, 18 von 23 KVen ha-
        ben Diabetesverträge abgeschlossen. Das heißt, wenn
        man sagt, die Selbstverwaltung hat hier versagt, dann geht
        das etwas zu weit. Es muss natürlich noch einiges getan
        werden, das ist ganz klar. Aber einfach zu sagen, die
        Selbstverwaltung hat hier versagt, ich glaube, da macht
        man sich die Problematik etwas zu einfach.“
        Keinesfalls vernachlässigt werden darf, dass es teil-
        weise einfach nicht gelingt, die Menschen für die Not-
        wendigkeit bestimmter Maßnahmen zu sensibilisieren.
        Nur ein Diabetiker, der mitspielt, kann auch entsprechend
        versorgt werden. Nur dann gelingt es, Folgeerkrankungen
        zu vermeiden bzw. zumindest zu verzögern. Zudem: Die
        Experten sind sich darin einig, dass man im Detail daran
        arbeiten muss, bestehende Strukturverträge zu verbes-
        sern, die Leitlinien weiterzuentwickeln, die Patienten für
        eine Mitarbeit zu gewinnen. So etwas ist nicht über bun-
        desweit allgemein verbindliche Vorgaben zu schaffen.
        Die in Ziffer 10 des Antrages aufgeführten Maßnah-
        men sind nicht ausreichend. Mit einer Kampagne allein
        wird nur eine kurzfristige Aufmerksamkeit erzielt. Eine
        gesundheitliche Aufklärung und Erziehung kann nur
        durch breiter angelegte Maßnahmen, die auch den schuli-
        schen und den Kindergartenbereich mit einschließen, er-
        folgreich sein. Gerade die Kosten verursachende chroni-
        sche Erkrankung Diabetes, die auch schon im Kindesalter
        auftritt, ist durch Unterricht und Aufklärung beeinfluss-
        bar. Professor Dr. Henrichs von der Deutschen Diabetes-
        union stellt zum Beispiel die Frage, wie eine zielorien-
        tierte Prävention konkret aussehen muss. Er sieht diese in
        einer Umkehr der Adipositas. Gewichtsreduktion bedeu-
        tet ein Senken des Blutzuckers, der Fettwerte und des
        Blutdrucks und damit der Gefahr einer Erkrankung an
        Diabetes. Er regt deshalb zum Beispiel auch Bonusrege-
        lungen an. Zitat: „Man denkt dabei an ein 13. Monatsge-
        halt – so paradox das klingen mag – für denjenigen, der
        sein Gewichtsziel am Jahresende erreicht hat. Wir müssen
        da ganz originelle Ideen entwickeln. Man könnte das ex-
        perimentell ausprobieren.“
        Fazit: Der Antrag ist gut gemeint, aber schlecht ge-
        macht. Mit seinen Beschuldigungen der alten Bundesre-
        gierung geht er in die Irre und bindet zudem Energien, die
        für die zukünftige Entwicklung genutzt werden sollten.
        Zudem springt er zu kurz. Deshalb lehnen wir ihn ab.
        Dr. Ruth Fuchs (PDS): Die medizinische Versorgung
        der Diabetiker ist ein Beispiel dafür, dass es in unserem
        Gesundheitswesen zwar oft gelingt, für viele einzelne Pa-
        tienten, aber nicht für alle flächendeckend ein gleich-
        mäßig gutes Betreuungsniveau zu gewährleisten. Dabei
        mangelt es keineswegs an der notwendigen medizi-
        nisch-technischen und personellen Infrastruktur. Noch
        immer wird die Krankheit in vielen Fällen zu spät erkannt
        und die Patienten werden nicht kontinuierlich und mit
        notwendiger Konsequenz betreut. Auf diese Weise kommt
        es zu Akutkomplikationen, aber auch zu Folgeschäden
        wie Amputationen, Erblindungen und Nierenversagen,
        die heute eigentlich zu vermeiden wären. Früherkennung
        und sorgfältige Stoffwechseleinstellung sind Schlüssel-
        probleme für, eine Verbesserung der Behandlungsresul-
        tate. Die Forderungen des vorliegenden Antrages nach
        qualifizierter, interdisziplinärer Versorgung, nach Be-
        handlungsstandards, nach qualitätsgesicherten Diabeti-
        ker-Schulungen bis hin zur fachgerechten Fußpflege sind
        unbestrittene Voraussetzungen einer zeitgemäßen Diabe-
        tes-Behandlung. Wir unterstützen deshalb den Antrag in
        seinen Grundintentionen und werden ihm zustimmen.
        Dabei ist zu hoffein, dass er auch über die Diabetes-Pro-
        blematik hinaus stimulierende Wirkung entfaltet.
        Natürlich muss auch gesagt werden, dass es künftig
        weder möglich noch sinnvoll sein kann, für alle großen
        Volkskrankheiten Regierungskommissionen, Nationale
        Aktionspläne und entsprechende Berichte an den Deut-
        schen Bundestag zu beschließen. Die Politik würde sich
        nicht nur verzetteln, sondern darüber hinaus in die Gefahr
        begeben, Themen in einer Art und Weise an sich zu zie-
        hen, für die die gemeinsame Selbstverwaltung kompetent
        und unmittelbar zuständig ist.
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        Umso mehr muss es unseres Erachtens eine politische
        Aufgabe sein, jene strukturellen und finanziellen Voraus-
        setzungen zu schaffen, welche – um ein Beispiel zu nen-
        nen – die notwendigen fachgebiets- und berufsübergrei-
        fenden Kooperationen im erforderlichen Umfang über-
        haupt erst ermöglichen. Dieser Herausforderung, meine
        Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist – im
        Gegensatz zu manchen Darstellungen von Ihrer Seite –
        auch die Gesundheitsreform 2000 keineswegs gerecht ge-
        worden. Weder ist es zur beabsichtigten Stärkung der
        hausärztlichen Tätigkeit noch zu einer wirksamen Ent-
        wicklung integrierter Versorgungsformen gekommen.
        Mehr noch: Statt einem engeren Zusammenwirken zwi-
        schen Haus- und Spezialärzten haben wir fortgesetzte
        Abschottung und teilweise sogar eine Verschärfung der
        innerärztlichen Verteilungskämpfe erlebt.
        Die dringend notwendige Verbesserung der gesund-
        heitlichen Versorgung der vielen Menschen mit Zucker-
        krankheit und chronisch Kranker generell kann dann ge-
        lingen, wenn Politik und Hauptakteure der Selbstver-
        waltung endlich den Mut zu Reformen aufbringen, die die
        Organisations- und Vergütungsstrukturen im Gesund-
        heitswesen so verändern, dass sie die Umsetzung moder-
        ner medizinischer Behandlungsformen nicht mehr behin-
        dern, sondern im Gegenteil sogar begünstigen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: Erlaubnis zum Führen von Schienen-
        fahrzeugen (Tagesordnungspunkt 15)
        Klaus Hasenfratz (SPD): „Denkt an das fünfte Ge-
        bot: Schlagt die Zeit nicht tot“ hat Erich Kästner gesagt.
        Deshalb würde ich es eigentlich gerne ganz kurz machen:
        Ihr Antrag, verehrte Kollegen von der CDU/CSU, ist
        überholt und hinfällig.
        Weil es keinen Sinn macht, in einem Antrag etwas zu
        fordern, was Schnee von gestern ist, werden wir den An-
        trag ablehnen. Sie, meine Damen und Herren von der Op-
        position, hätten Ihren Antrag auch ebenso gut zurückzie-
        hen können.
        Mit Ihrem Antrag zur Erlaubnis zum Führen von Schie-
        nenfahrzeugen wollen Sie versuchen, den Bundestag zu
        überzeugen, die Bundesregierung aufzufordern, auf die
        Europäische Union einzuwirken, eine Richtlinie zu erlas-
        sen, die dann in nationales Recht erst noch umzusetzen ist.
        Währenddessen handelt unsere Regierung und der gefor-
        derte Lokführerschein ist schon längst Realität.
        Nun will ich die Möglichkeit nutzen, Ihnen kurz dar-
        zustellen, was der aktuelle Stand beim Thema Lokführer-
        schein ist. Das will ich nicht nur tun, um Ihnen zu zeigen,
        dass wir Ihrem Antrag inzwischen voraus sind. Ich
        möchte auch allen, die heute zuhören, zeigen, welche
        Maßnahmen für den sicheren Bahnverkehr von Regie-
        rung, Europäischer Union und diesem Parlament ergriffen
        werden.
        Das Europäische Parlament hat im April dieses Jahres
        die Richtlinie 2001/16/EG „über die Interoperabilität des
        konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems“
        beschlossen. Dort steht, dass Bedingungen festgelegt
        werden sollen, die „die beruflichen Qualifikationen und
        die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen in Bezug
        auf das für seinen Betrieb eingesetzte Personal“ betreffen.
        Diese Richtlinie ist am 20. April dieses Jahres im Amts-
        blatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht
        worden.
        So werden nun, nach dieser Veröffentlichung, auf eu-
        ropäischer Ebene die Einzelheiten dieser Regelungen er-
        arbeitet. Im Zuge des Verfahrens ist beabsichtigt, eine ein-
        heitliche Regelung zur Erlaubnis zum Führen von
        Schienenfahrzeugen in Form eines Lokführerscheins zu
        erreichen.
        Es ist gut, dass hier etwas in Gang gesetzt wurde, ohne
        das die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen
        und die Liberalisierung des Schienenverkehrs nicht aus-
        kommen. Aber gut ist oft nicht gut genug. Daher wurden
        bereits in den vergangenen Monaten vom Bundesver-
        kehrsministerium und dem Bundeseisenbahnamt in enger
        Zusammenarbeit mit allen Beteiligten Regelungen für ei-
        nen solchen Lokführerschein erarbeitet. Der Verband
        Deutscher Verkehrsträger und die Deutsche Bahn AG ha-
        ben in der vergangenen Woche das Ergebnis vorgestellt.
        Voraussichtlich ab Oktober dieses Jahres werden die ers-
        ten Lokführerscheine ausgehändigt. In Deutschland wer-
        den also parallel zu den Vorgängen auf europäischer
        Ebene Maßnahmen ergriffen, um bei der Regelung der
        Fahrerlaubnis im Schienenverkehr vorwärts zu kommen.
        Das liegt auch daran, dass bei uns in Deutschland die
        berufliche Qualifikation von Lokführern stärker in der
        Diskussion ist als anderswo. Warum das so ist, dazu
        möchte ich Ihnen ein Beispiel geben, das uns alle viel be-
        schäftigt hat und auch sicher noch weiter beschäftigen
        wird. Am Sonntag, dem 6. Februar 2000, entgleiste kurz
        nach Mitternacht der D-Zug 203 der Deutschen Bahn auf
        der Fahrt von Amsterdam nach Basel beim Bahnhof Brühl
        bei Köln und verursachte so eines der schwersten Eisen-
        bahnunglücke der letzten Jahre. Bis heute dauert das not-
        wendige juristische Nachspiel an, um Schuldigkeiten zu
        klären. Das ist deshalb notwendig, weil die Klärung der
        Verantwortlichkeiten derartige Katastrophen künftig ver-
        hindern kann. Es sieht nach bisherigem Ermittlungsstand
        so aus, dass den Lokführer keine oder nur geringe Schuld
        trifft. Gerade vorgestern, am Dienstag, hat die Presse-
        agentur „ddp“ jedoch wieder gemeldet, dass der Lokfüh-
        rer zunächst zweimal bei der Bahn durch die Abschluss-
        prüfung gefallen ist und dass er den notwendigen
        Befähigungsnachweis zwischenzeitlich bei einer Privat-
        bahn gemacht habe. Das sagt gar nichts über Schuld oder
        Unschuld aus. Aber dass überhaupt über die Qualifikation
        diskutiert wird, ist nicht gut. Wenn bei jedem Autounfall
        darüber diskutiert werden würde, wo der Fahrer seinen
        Führerschein gemacht hat, dann würden wir aus dem Pro-
        zessieren gar nicht mehr herauskommen.
        Deshalb wollen wir einheitliche Regelungen zur Er-
        laubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen. Wir wollen,
        dass man immer, zu jedem Zeitpunkt, sicher sein kann,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117378
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        dass die Führer von Schienenfahrzeugen auf deutschen
        Gleisen ihre Arbeit mit höchster Befähigung ausüben,
        dass sie die bestmögliche Ausbildung genossen haben und
        dass sie jederzeit psychisch stabil genug sind, mit eventu-
        ellen Krisensituationen fertig zu werden. – Das wollen
        wir, denn die Sicherheit der Passagiere geht uns im Bahn-
        verkehr über alles. Schließlich wollen wir außerdem eine
        Regelung, die zukunftsweisend für ganz Europa ist. Sie
        soll den Anforderungen, die auf den Bahnverkehr im Zuge
        der europäischen Einigung zukommen, standhalten.
        Ich denke, der jetzt beschrittene Weg ist ein erfolgrei-
        cher Weg. Ein Lokführerschein wird sofort eingeführt,
        und zwar als verbindliche Vereinbarung zwischen Ver-
        kehrsministerium, dem Eisenbahnbundesamt und den ge-
        nannten Vertretern der Eisenbahnunternehmen. Das hat
        den Vorteil, dass die Wirklichkeit nicht auf den ordentli-
        chen Gesetzgebungsgang warten muss. Parallel wird, wie
        erläutert, auf europäischer Ebene eine Norm erarbeitet, in
        die die einzelnen Regelungen dieses schon jetzt einge-
        führten deutschen Lokführerscheins einfließen werden.
        Die Erarbeitung wird gewiss seine Zeit brauchen, denn
        den Besonderheiten in einzelnen Ländern muss Rechnung
        getragen werden. Der Bundestag wird die Schaffung der
        Vorgaben auf europäischer Ebene abwarten. Schließlich,
        wenn die Europäische Union ihre Aufgabe erledigt hat,
        werden wir die Ergebnisse in diesem Hause in bundes-
        deutsches Recht umsetzen.
        Für das wirklich Wichtige und Fundamentale an die-
        sem Vorgehen halte ich, dass wir für die Sicherheit im
        Bahnverkehr ein deutliches Zeichen setzen. Deutschland
        hat sich schon bei der Bahnreform an die Spitze der Re-
        former in Europa gesetzt. Deutschland hat als eines der
        ersten Länder Europas die in der Richtlinie 91/440/EWG
        vorgegebenen Voraussetzungen für den freien Netzzu-
        gang für Dritte auf seinem Schienennetz umgesetzt. Je
        weiter sich die Öffnung der alten staatsmonopolistischen
        Strukturen auf den Schienen Europas entwickelt, desto
        notwendiger sind Regeln, die Mindestnormen und Stan-
        dards festlegen. Wir alle kennen das Beispiel der verun-
        glückten Bahnreform in Großbritannien. Dort hat keine
        Flankierung der Liberalisierung durch Maßnahmen zum
        Schutz der Sicherheit stattgefunden. Die eklatanten Si-
        cherheitslücken im dortigen Bahnsystem sollten uns eine
        Warnung sein.
        Im Übrigen treiben wir mit der genannten Lösung auch
        die Verkehrswende in Deutschland voran – wenn auch nur
        indirekt. Die über Jahre hinweg vernachlässigte Bahn be-
        kommt von uns Rahmenbedingungen, die die Wettbe-
        werbsfähigkeit gegenüber dem Auto deutlich aufwerten.
        Zur Wettbewerbsfähigkeit gehört auch die Eigenschaft
        der Bahn als eines der sichersten Verkehrsmittel. Das soll
        so bleiben. Wenn wir es schaffen können, die Bahn noch
        sicherer zu machen, dann sollten wir das auch gemeinsam
        tun.
        Herr Kollege Lintner, aus Ihren Forderungen spricht
        eine Sorge um die Sicherheit der bahnreisenden Bevölke-
        rung, die ich respektiere und teile. Daher haben wir Ihnen
        ja auch schon erläutert, dass wir inhaltlich voll und ganz
        mit Ihnen übereinstimmen. Ich möchte deshalb wiederho-
        len, dass wir Ihrem Antrag deshalb nicht zustimmen, weil
        wir ihm inzwischen weit voraus sind. Auch Sie müssten
        die nun in Angriff genommenen Maßnahmen in höchstem
        Maße zufrieden stellen. Ich bin jedenfalls sehr zufrieden,
        dass wir nun auch beim Thema „Lokführerschein“ Vor-
        bild für Europa sind.
        Eduard Lintner (CDU/CSU): Nicht erst seit dem
        spektakulären Unglück mit einem Fernzug der Deutschen
        Bahn in Brühl wird über die Einführung eines Lokführer-
        scheins diskutiert. Das Thema ist schon längere Zeit ak-
        tuell, spätestens seit wegen der Richtlinie 91/440/EWG
        vom 29. Juli 1991 „Zur Entwicklung der Eisenbahnunter-
        nehmen in der Gemeinschaft“ klar ist, dass es Ziel der eu-
        ropäischen Verkehrspolitik ist, den Markt für den Schie-
        nenverkehr in der Gemeinschaft zu liberalisieren. Dabei
        geht es in erster Linie um die Öffnung des Zugangs zur Ei-
        senbahninfrastruktur in den einzelnen Mitgliedstaaten für
        dritte Bahnbetreiber, das heißt in der Regel um Konkur-
        renz für die staatseigenen, nationalen Monopoleisenbahn-
        unternehmen. Damit verbunden ist zwangsläufig die Not-
        wendigkeit, zu gewährleisten, dass auch Drittbetreiber
        den heute unverzichtbar hohen Qualitäts- und Sicher-
        heitsstandard im Eisenbahnnetz uneingeschränkt gewähr-
        leisten müssen.
        Damit kommt zwangsläufig auch die verantwortungs-
        volle Tätigkeit der Führer von Schienenfahrzeugen ins
        Blickfeld. Dabei stellt man verwundert fest, dass es dafür
        nicht nur noch keine einheitliche europäischen Richtli-
        nien gibt, sondern dass auch in Deutschland selbst ein ein-
        heitlicher Lokführerschein als zwingende Voraussetzung
        für die Berechtigung zum Führen von Schienenfahrzeu-
        gen noch gar nicht verlangt wird. Deshalb hat die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Interesse der Sicher-
        heit nicht nur des europäischen grenzüberschreitenden
        Schienenverkehrs, sondern auch zur Erhöhung der Si-
        cherheit des Schienenverkehrs im eigenen Lande, einen
        Antrag eingebracht, der solche Mindestvoraussetzungen
        für die Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen
        formuliert und ihre Einhaltung sicherstellen soll.
        Eigentlich möchte man meinen, diesem Gedanken hät-
        ten sich, weil er gar nicht von der Hand zu weisen ist, so-
        fort alle Parteien dieses Hohen Hauses angeschlossen. In
        der Sache trifft dies ja auch zu, aber die Regierungsfrak-
        tionen waren nicht souverän und frei genug, den diese Ge-
        danken konkretisierenden Antrag mitzutragen. Sie haben
        ihn vielmehr abgelehnt und operieren dabei mit dem et-
        was dünnen Argument, das alles sei ja schon auf bestem
        Wege.
        Davon konnte aber zumindest bei der Einbringung des
        Antrags im Dezember letzten Jahres keine Rede sein. Erst
        jetzt war der Presse zu entnehmen, dass sich die Deutsche
        Bahn AG und der Verband Deutscher Verkehrsunterneh-
        mer in der letzten Woche in Berlin darauf geeinigt haben,
        dass Lokführer in Deutschland „künftig eine einheitliche
        Führerscheinprüfung“ ablegen müssen. Und über die eu-
        ropäische Ebene war der Zeitung am 9. Juni dieses Jahres
        zu entnehmen, dass sich die Vertreter der Europäischen
        Kommission, der Eisenbahnen und der dazu gehörenden
        Industrie in einem „Memorandum of Understanding“ un-
        ter anderem darauf geeinigt hätten, „die Ausbildung des
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17379
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        grenzüberschreitend eingesetzten Personals“ künftig ge-
        meinsam zu regeln. Über Mindeststandards – was ja auch
        unverzichtbar ist – ist dabei gar nichts gesagt.
        Es ist also nicht abwegig, davon auszugehen, das diese
        Entwicklung durch eine von allen Fraktionen unterstützte
        Initiative der CDU/CSU über das bisherige Tempo hinaus
        hätte beschleunigt und gefördert werden können.
        So weit zur Vorgeschichte dieser heutigen Debatte.
        Was bislang bekannt geworden ist über die Vorausset-
        zungen und die inhaltliche Ausgestaltung einer dann nach
        einheitlichen Kriterien durchzuführenden Lokführeraus-
        bildung klingt vielversprechend. Ob damit allerdings all
        die von uns im Antrag genannten Voraussetzungen schon
        erfüllt sind, werden wir genau zu prüfen haben. Was aber
        nicht so ohne weiteres akzeptiert werden kann, ist das,
        was der Präsident des VDV nach der Einigung für den na-
        tionalen deutschen Bereich zur europäischen Regelung
        gesagt hat. Danach soll er gemeint haben: „Wir erwarten,
        dass innerhalb der nächsten zehn Jahre eine entspre-
        chende EU-Regelung in Kraft tritt.“ Hier ist einfach fest-
        zustellen – und da hoffe ich wieder auf Gemeinsamkeiten
        unter allen Fraktionen dieses Hauses –, dass wir nicht so
        lange warten können, weil dies bedeuten würde, dass die
        in den andern europäischen Ländern ja längst überfällige
        Liberalisierung des Netzzugangs für Dritte zu den natio-
        nalen Eisenbahnnetzen praktisch weiterhin durch inkom-
        patible Vorschriften und Systembedingungen verhindert
        werden soll. Denn es ist klar, dass das schriftliche oder
        verbale Bekenntnis zur „Liberalisierung der europäischen
        Eisenbahnnetze“ dann nur eine zur Täuschung der Öf-
        fentlichkeit benutzte Vokabel ist, wenn auf der organisa-
        torischen, betrieblichen und technischen Ebene sowie bei
        den vorhandenen Rahmenvorschriften die gegenwärtige,
        meist inkompatible Vielfalt aufrechterhalten wird.
        Über diesen Dreh wird es dann den an einer Liberali-
        sierung nicht ernsthaft interessierten wichtigen EU-Mit-
        gliedstaaten – an erster Linie wäre Frankreich zu nennen –
        ein Leichtes sein, die tatsächliche Öffnung des Netzzu-
        gangs zu verhindern. Die Bundesregierung muss sich da-
        her verpflichten, unverzüglich und mit Nachdruck die Be-
        reinigung solcher kontraproduktiven künstlichen Hürden
        anzugehen. Dabei ist die Einführung eines nach einheitli-
        chen Mindestkriterien gestalteten Führerscheins in den
        einzelnen Staaten, der dann zur Erteilung auch einer
        Lizenz zum Führen von Schienenfahrzeugen in den übri-
        gen EU-Staaten führt, ein bedeutsamer, unverzichtbarer
        nächster Schritt.
        Wenn wir schon im Ausschuss – nicht wegen inhaltli-
        cher, sondern wegen der von den Regierungsfraktionen
        aus Mangel an ausreichendem Selbstbewusstsein gegen-
        über der eigenen Regierung erhobenen Bedenken – nicht
        zu einem gemeinsamen Ausschussvotum kommen konn-
        ten, so lassen Sie uns hier zumindest gemeinsam feststel-
        len, dass wir alle ein Ziel haben und dieses Ziel gemein-
        sam nachdrücklich unterstützen. Wir erwarten von der
        Bundesregierung ein dynamisches, nachhaltiges Drängen
        auf schnelle Fortschritte bei der Vereinheitlichung der
        Voraussetzungen zur Beteiligung Dritter am nationalen
        Schienenverkehr. Und dazu ist die Einführung und ein-
        heitliche Handhabung einer staatlichen Erlaubnis zum
        Führen von Schienenfahrzeugen ein wichtiger Beitrag.
        Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit dem Antrag begehrt die CDU/CSU-Fraktion,
        die Bundesregierung solle bei der Europäischen Gemein-
        schaft darauf hinwirken, eine Richtlinie zur Erteilung,
        Einschränkung und Entziehung einer Erlaubnis zum
        Führen von Schienenfahrzeugen zu erlassen, und stellt
        hierzu konkrete Eckpunkte dar.
        Faktum ist: Dieses Anliegen wurde bereits auf europä-
        ischer Ebene auf den Weg gebracht, eine entsprechende
        Richtlinie wird in Kürze veröffentlicht. Ich stimme dem
        Inhalt des Antrags zu – der Unfall in Brühl hat das gezeigt
        und der erfreulich zunehmende Wettbewerb auf der
        Schiene weist ebenfalls in diese Richtung –, dass bei ver-
        mehrtem Zugang unabhängiger Betriebe zum Bahnnetz
        der Qualitäts- und Sicherheitsstandard auf hohem Niveau
        vereinheitlicht werden muss. Die verantwortungsvolle
        Tätigkeit von Triebfahrzeugführern erfordert eine hohe
        Vorbildung und eine Qualitätslizenz.
        Ich freue mich daher, dass die CDU/CSU die Bundes-
        regierung mit ihrem Antrag unterstützen will.
        Aber: Diese Harmonisierung auf europäischer Ebene
        ist längst in Arbeit, das Europäische Parlament hat keine
        Änderungswünsche angemeldet. Die Umsetzung in natio-
        nales Recht muss nunmehr in zwei Jahren erfolgen. Die
        Behandlung des CDU/CSU-Antrags im Verfahren hat ge-
        zeigt, das inhaltlich Konsens besteht; der Umsetzung der
        EU-Richtlinie liegt daher hoffentlich keine Barriere im
        Weg.
        Also: Auf gute Zusammenarbeit, liebe Kolleginnen
        und Kollegen von der CDU/CSU!
        Bereits vergangener Woche haben sich Deutsche Bahn
        AG, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, Eisen-
        bahnbundesamt und Bundesverkehrsministerium auf ent-
        sprechende Regelungen für einen Triebfahrzeugführer-
        schein geeinigt, der in Form einer VDV-Schrift umgesetzt
        werden soll. Damit wird eine „anerkannte Regel der Tech-
        nik“ begründet, die die Verbindlichkeit der Lokführer-
        scheinregelung für alle Bahnunternehmen zur Folge hat,
        die auf deutschen Schienen fahren. Er gilt für die DB AG
        wie die rund 180 nicht bundeseigenen Bahnen. Dies ga-
        rantiert durch einheitlich hohe Anforderungen aller aktiv
        tätigen Bahnunternehmen gleiche Wettbewerbsbedingun-
        gen. Ein Ausbildungs-Dumping wird dadurch vermieden.
        So bleibt festzuhalten: Bereits jetzt kommt der nationale
        Lokführerschein, in Kürze der europäische. Der CDU/
        CSU-Antrag aber – so richtig er ist – kommt zu spät.
        Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.): Vor dem Hinter-
        grund des Eisenbahnunglücks von Brühl ist die Ausbil-
        dung der Lokomotivführer in Deutschland, aber auch in
        Europa in die Diskussion gekommen. Offensichtlich war
        der Triebfahrzeugführer der Unglückslokomotive in
        Brühl mehrfach durch die Lokomotivführerprüfung ge-
        fallen und offensichtlich auch im Nachgang nach einer be-
        standenen Prüfung nicht ausreichend auf die entspre-
        chende Situation vorbereitet worden. Dies hat im
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117380
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        Zusammenhang mit verschiedenen anderen Unterlassun-
        gen und Fehlern offensichtlich zu diesem verheerenden
        Unglück mit beigetragen.
        Vor diesem Hintergrund, aber auch vor dem des Zu-
        sammenwachsens Europas und einer hoffentlich darauf
        abgestimmten europäischen Schienenverkehrspolitik ist
        es notwendig, das Führen von Triebfahrzeugen nach ein-
        heitlichen Kriterien durchzuführen. Dies gilt insbeson-
        dere auch vor dem Hintergrund, dass durch die auch eu-
        ropaweit vorgesehene Öffnung der Schienennetze für den
        Wettbewerb gleiche Regeln und Normen zur Erhaltung
        der Sicherheitsstandards nötig sind.
        So wie im Busbereich, im LKW-Bereich – hier insbe-
        sondere im Gefahrguttransport – erscheint auch im Trieb-
        fahrzeugbereich auf der Schiene eine qualifizierte Ausbil-
        dung sinnvoll. Im Antrag der CDU/CSU ist deshalb neben
        den Zugangsvoraussetzungen insbesondere auf entspre-
        chende Zwischenschritte innerhalb des Ausbildungsab-
        schnittes eingegangen worden und ebenso eine entspre-
        chende sechsmonatige Praxis unter Aufsicht eines
        erfahrenen Triebzugführers. Der Antrag der CDU/CSU
        fordert die Bundesregierung auf, in Europa auf einheitli-
        che Regelungen hinzuweisen und diese möglichst in einer
        gemeinsamen Richtlinie zu erarbeiten. Dass diese politi-
        sche Forderung von der Mehrheit des Hauses unter Hin-
        weis darauf abgelehnt wird, dass in Europa bereits eine
        Richtlinie in Erarbeitung sei, zeugt von wenig Mut. Der
        Antrag der CDU/CSU hätte den Vorteil, dass sich die
        deutsche Regierung auf einen gemeinsamen Antrag des
        ganzen Hauses stützen könnte. Aber offensichtlich gilt
        auch hier der Grundsatz „Weil nicht sein kann, was nicht
        sein darf“ und deshalb lehnt die Mehrheit diesen sinnvol-
        len Antrag ab.
        Die FDP-Fraktion hält den Antrag der CDU/CSU Frak-
        tion für sinnvoll und stimmt ihm aus voller Überzeugung
        zu.
        Dr. Winfried Wolf (PDS): Die Fraktion von
        CDU/CSU greift mit ihrem Antrag ein reales Anliegen
        auf. Spätestens mit dem Eisenbahnunglück von Brühl von
        Anfang 2000 wird die Problematik „Lokführerschein“
        verstärkt diskutiert. Sie wurde im Vorfeld bereits seitens
        der betroffenen Gewerkschaften andiskutiert – so im Fall
        der GdED/Transnet – bzw. ein solcher Lokführerschein
        wird seit geraumer Zeit gefordert – so seitens der GDL.
        Die Koalitionsfraktionen verweisen einerseits zu
        Recht darauf, dass das Anliegen auf europäischer Ebene
        bereits „auf den Weg gebracht“ worden sei – so der Be-
        richt des MdB Sorge.
        Wenn dem so ist und wenn auch in Bälde eine entspre-
        chende Regelung unserem Parlament vorliegt, wird über
        diese neu zu diskutieren sein. Möglicherweise wird diese
        Richtlinie eine optimale Lösung im Sinne der Betroffenen
        bringen. Und möglicherweise werden gewisse Mängel
        des CDU/CSU-Antrags in dieser EU-Regelung nicht
        mehr zu finden sein. Beispielsweise müsste eine solche
        Richtlinie Anforderungen hinsichtlich von Sprachkennt-
        nissen enthalten (Einsatz in anderen EU- oder EWR-Län-
        dern; grenzüberschreitender Schienenverkehr).
        Dennoch findet der CDU/CSU-Antrag unsere Zustim-
        mung und dies aus drei Gründen:
        Erstens bedarf dieses Thema dringend einer Regelung.
        Wenn die Bundesregierung im Fall der illegalen Beschäf-
        tigung im Güterkraftverkehr einer bereits in Erarbeitung
        befindlichen EU-Richtlinie mit einem „nationalen Vor-
        griff“ zuvor kommt, um eine Beschleunigung der EU-
        weiten Gesetzgebung zu erreichen, dann ist ein solches
        Vorgehen im vorliegenden Fall mindestens ebenso sinn-
        voll. Solche nationalen Vorstöße können erfahrungs-
        gemäß die erforderlichen EU-Regelungen erheblich be-
        schleunigen.
        Zweitens enthält der CDU/CSU-Antrag eine Reihe von
        Konkretisierungen, die zielführend und essenziell sind
        und die teilweise über das hinausgehen, was derzeit in der
        Bundesrepublik Deutschland und bei der Deutschen Bahn
        AG Praxis ist. Dies gilt zum Beispiel für die – richtige –
        Forderung nach einer Mindestausbildungszeit von drei
        Jahren und für das Erfordernis einer mindestens sechs-
        monatigen Betreuung neu ausgebildeter Lokführer nach
        dem Ausbildungsabschluss durch einen „Betreuungslok-
        führer“.
        Drittens zeichneten sich gerade in den letzten Wochen
        weitere Verschlechterungen – als „Sparmaßnahmen“ ver-
        kleidet – in der Ausbildung der Lokführer durch die Deut-
        sche Bahn AG ab. So sollen nach einem Gutachten, das
        die DB Reise & Touristik in Auftrag gab, die so genann-
        ten Belehrungsfahrten um die Hälfte gekürzt werden. Bis-
        her waren sechs praktische Testfahrten auf einer neuen,
        dem Lokführer nicht bekannten Strecke vorgeschrieben;
        das Gutachten hält drei solcher Fahrten für ausreichend –
        und will sich im Übrigen auf „den Einsatz von Videos
        oder CD-ROM“ verlassen.
        Auch der Fahrgastverband „pro Bahn“ sprach in die-
        sem Zusammenhang von „unverantwortlichen Sparplä-
        nen in stark sicherheitsrelevanten Bereichen“.
        Aus den vorgenannten drei Gründen sprechen wir uns
        für den Antrag von CDU/CSU aus.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung der Strafprozessordung (Gesetz zur
        Stärkung der Verletztenrechte) (Tagesordnungs-
        punkt 16)
        Dr. Evelyn Kenzler (PDS):Wer ein wenig Einblick in
        den Verlauf eines Strafverfahrens hat, der kann durchaus
        zu der Einschätzung kommen: Die Strafgerichte küm-
        mern sich intensiv um die Täter, die Belange der Opfer in-
        teressieren sie weniger. Opfer von Gewalttaten spielen
        immer noch eine untergeordnete Rolle im Strafrecht, auch
        wenn sich vor allem durch das Opferschutzgesetz in den
        letzten Jahren manches gebessert hat. Sie drohen – wie es
        der Strafrechtler Professor H. Jung formulierte – „in der
        bipolaren Auseinandersetzung zwischen öffentlicher Ge-
        walt und Beschuldigten ... mit ihren Interessen zerrieben
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17381
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        zu werden“. Sie sind – überspitzt gesagt – Objekte pater-
        nalistischen Schutzes.
        Doch darf die staatliche Strafrechtspflege wichtiger
        sein als die individuellen Interessen der Verletzten? Und
        soll der Strafrichter wirklich weitgehend unbekümmert an
        den Interessen der Geschädigten vorbei strafen? Nein, der
        Verletzte darf im Prozess nicht noch einmal zum Opfer
        gemacht werden. Der Grundsatz des fairen Strafprozesses
        hat auch für den Verletzten zu gelten. Seine Persönlich-
        keitsrechte müssen im Strafverfahren nicht nur schlecht-
        hin unbedingt gewahrt bleiben, sondern es muss mit dem
        Verletzten angemessen und sensibel umgegangen werden.
        Das Anliegen des Gesetzentwurfs ist es, die Rolle des
        Verletzten im Strafverfahren von der eines bloßen Be-
        weismittels zu der eines gleichberechtigten Prozessbetei-
        ligten weiter zu entwickeln. Verletzte sollen in die Lage
        versetzt werden, ihre Interessen selbst und aktiv in das
        Prozessgeschehen einzubringen. Das ist angesichts der
        reformbedürftigen Rechtsstellung der Verbrechensopfer
        ein gesetzgeberischer Fortschritt. Ob die einzelnen Maß-
        nahmen, die zur Erreichung dieses Zieles vorgeschlagen
        werden, nun einen Meilenstein bilden – wie es Hamburgs
        Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit hofft –, sei
        dahingestellt. Aber unbestritten würde die Umsetzung
        dieses Gesetzentwurfs eine deutliche Verbesserung der
        Stellung der Opfer im Gerichtsverfahren bedeuten. Das
        Verbrechensopfer könnte dann stärker als Verfahrenssub-
        jekt agieren und würde auch als solches wahrgenommen.
        Der Gesetzentwurf geht richtigerweise davon aus, dass
        die Stärkung der Subjektrolle des Verletzten bei der Auf-
        klärung über seine Rechte beginnt. So ist es folgerichtig,
        dass Zeugen zukünftig mit der Ladung nicht nur auf ihre
        Pflichten, sondern auch auf verfahrensrechtliche Bestim-
        mungen hingewiesen werden sollen, die ihren Interessen
        dienen.
        Ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Opfer im Straf-
        verfahren ist zweifelsohne sowohl die Stärkung der Teil-
        haberrechte der Verletzten am Verfahren im Wege der
        Ausweitung der Nebenklage als auch die gesetzliche Ver-
        ankerung von Informations-, Akteneinsichts- und Anwe-
        senheitsrechten.
        Es ist aus der Sicht der Opfer schwer verständlich,
        warum Staatsanwälte und Richter bisher so wenig von der
        Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, den Opfern von
        Straftaten im Adhäsionsverfahren Wiedergutmachung zu
        gewähren. Deshalb finde ich es richtig, dass durch den
        Gesetzentwurf bessere Voraussetzungen dafür geschaffen
        werden, vermögensrechtliche Ansprüche im Strafverfah-
        ren geltend zu machen und gegebenenfalls im Wege eines
        Wiedergutmachungsvergleichs einen vollstreckbaren Ti-
        tel zu erlangen. Auch dies ist eine deutliche Verbesserung
        für die Opfer, ist doch das Hauptproblem für den Verletz-
        ten nicht die gerichtliche Feststellung, sondern die Voll-
        streckung seines Schadensersatzanspruches.
        Weiterhin ist positiv zu vermerken, dass Zeugen ver-
        mehrt durch den Vorsitzenden Richter per Videoüber-
        tragung vernommen werden können. Und auch die Aus-
        weitung der Möglichkeit der Inanspruchnahme eines
        Opferanwalts auf Staatskosten auf nahe Angehörige Ge-
        töteter ist ein Gewinn für Betroffene.
        Bei allem Positiven halte ich den in der Stellungnahme
        der Bundesregierung vorgebrachten Hinweis auf die Be-
        achtung der Wechselwirkung von Verletztenrechten und
        Rechten der anderen Verfahrensbeteiligten für beachtlich.
        Kurzum: Eine Einbettung der Maßnahmen dieses Gesetz-
        entwurfs in eine Reform des Strafverfahrensrechtes wäre
        wünschenswert.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrages: Gleichstellung von
        Frauen und Männern in der Privatwirtschaft
        (Tagesordnungspunkt 17)
        Christel Humme (SPD): Keine Gleichstellung beim
        Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten, keine Gleichstel-
        lung beim beruflichen Aufstieg, keine Gleichstellung bei
        der Entlohnung, keine Gleichstellung in Sachen
        Führungsfunktionen, keine Gleichstellung beim Risiko,
        entlassen zu werden, keine Gleichstellung bei Teilzeitbe-
        schäftigungen und geringfügigen Beschäftigungsverhält-
        nissen.
        Frauen ziehen auf dem Arbeitsmarkt nach wir vor den
        Kürzeren. Frauen haben größere Schwierigkeiten, einen
        Ausbildungsplatz zu finden. Frauen sind stärker von Ar-
        beitslosigkeit betroffen. Dies gilt insbesondere für die
        Frauen in den neuen Bundesländern. Frauen sind selbst
        dann häufiger arbeitslos, wenn sie sich für einen zukunfts-
        orientierten Beruf, einen so genannten Männerberuf ent-
        scheiden. Das belegt eine Studie des Instituts für Arbeits-
        markt- und Berufsforschung. Frauen haben schlechtere
        berufliche Aufstiegschancen als Männer. Frauen werden
        häufiger als Männer nicht entsprechend ihrer beruflichen
        Qualifikation beschäftigt. Frauen verdienen nach wir vor
        weniger als Männer – usw.!
        Anfang des 3. Jahrtausends gibt es im Erwerbsleben in
        Deutschland immer noch keine Chancengleichheit für
        Frauen und Männer. Stattdessen haben wir einen Arbeits-
        markt, der schlicht und einfach gespalten ist. Es gibt einen
        Arbeitsmarkt für Männer und einen anderen, schlechteren
        für Frauen.
        Die Analyse der PDS ist also vollkommen richtig. Aber
        was die Mittel zur Lösung dieses gravierenden und
        beschämenden Problems anbelangt, unterscheiden wir
        uns doch gewaltig: Sie schlagen Gleichstellungsbeauf-
        tragte für Betriebe ab 20 Beschäftigte vor, überbetrieb-
        liche Gleichstellungsbeauftragte für kleinere Betriebe.
        Daneben wollen Sie Gleichstellungspläne, Ausgleichsab-
        gaben, Quotierungsregelungen usw. Sie listen in Ihrem
        Antrag eine Vielzahl von Maßnahmen auf und schnüren
        damit ein ehernes Gleichstellungskorsett aus bürokrati-
        schen Regelungen, das allen Unternehmen gleichermaßen
        passen soll. Gerade kleine Unternehmen laufen aber
        Gefahr, von Ihrem Gleichstellungskorsett förmlich er-
        drückt zu werden.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117382
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        Das ist nicht unser Weg, das entspricht nicht unseren
        Vorstellungen. Denn Ihr Vorschlag lässt den Unternehmen
        zu wenig Spielraum für eigene kreative Lösungen. Wir
        wollen den Unternehmen nicht bis ins Detail vorschrei-
        ben, wie Gleichstellung im Betrieb auszusehen hat. Denn
        die Unternehmer und die Belegschaft wissen selbst am
        besten, wo der Schuh drückt. Und sie sind auch die Ex-
        perten in Sachen Lösungsansätze. Mit diesem Konzept
        macht die PDS Unternehmer quasi zwangsläufig zu Geg-
        nern von betrieblicher Gleichstellung. Ein solches Kon-
        zept ist zum Scheitern verurteilt. Denn Gleichstellung
        lässt sich niemals gegen den Willen der zentralen Ent-
        scheidungsträger verwirklichen.
        Wir setzen daher auf eine andere Lösung. Unser neues
        Betriebsverfassungsgesetz mit all seinen Verbesserungen
        für die Interessenvertretung für Frauen werden morgen
        debattiert. Ich will dem nicht vorgreifen. Nur so viel: Sie
        machen Ihre Forderungen zum Betriebsverfassungsgesetz
        überflüssig.
        Unser Prinzip ist: Wir wollen Unternehmer zu Partnern
        machen, zu Partnern in Sachen Gleichstellung im Er-
        werbsleben. Wir wollen, dass Unternehmen Frauen för-
        dern, weil sie erkennen, dass dies in ihrem eigenen wirt-
        schaftlichen Interesse liegt, und weil sie erkennen, welch
        hoch qualifizierte und motivierte Mitarbeiter sie in Frauen
        finden, und – last not least – weil sie erkennen, dass
        Frauen für Führungspositionen hervorragende Vorausset-
        zungen mitbringen. Frauen können zuhören, im Team ar-
        beiten und motivieren.
        Wir wollen auch, dass alle Unternehmen Frauen för-
        dern, weil sie erkennen, dass es aufgrund des demogra-
        phischen Wandels höchste Zeit wird, Frauen entsprechend
        ihrer Fähigkeiten einzusetzen.
        In einigen Regionen Deutschlands wird bereits heute
        ein eklatanter Fachkräftemangel beklagt. Hätten die Un-
        ternehmen rechtzeitig angefangen, Mädchen in technisch
        orientierten Berufen auszubilden, stünden heute genü-
        gend qualifizierte Mitarbeiterinnen zur Verfügung. In
        ganz Deutschland zerbricht man sich den Kopf über den
        offensichtlichen Mangel an IT-Spezialisten. Dieser Man-
        gel hätte nicht entstehen müssen, hätte man Mädchen nur
        rechtzeitig für die Möglichkeiten von Computern begeis-
        tert.
        Chancengleichheit ist nur gemeinsam mit den Unter-
        nehmen zu verwirklichen, niemals gegen sie. Wir setzen
        daher auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Unterneh-
        men.
        Wir fordern die Wirtschaft auf, bis zum Ende der parla-
        mentarischen Sommerpause eine verbindliche Selbst-
        verpflichtung zur betrieblichen Gleichstellung einzuge-
        hen. Diese soll folgende Punkte enthalten:
        Erstens. Die Spitzenverbände erstellen eine Analyse
        zur Situation der Chancengleichheit von Frauen und
        Männern in der Privatwirtschaft und ziehen nach drei Jah-
        ren in einem weiteren vergleichenden Bericht eine erste
        Bilanz.
        Zweitens. Im Rahmen der verbindlichen Selbstver-
        pflichtung fordern die Spitzenverbände die Unternehmen
        auf, betriebliche Ist-Analysen und auf deren Grundlage
        betriebliche Gleichstellungskonzeptionen mit geeigneten
        Instrumenten zur Förderung der Chancengleichheit zu er-
        stellen.
        Drittens. Durch aktive betriebliche Fördermaßnahmen
        sollen sowohl die beruflichen Chancen der Frauen als
        auch die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbs-
        arbeit für Mütter und Väter in jedem Unternehmen ver-
        bessert werden.
        Ziel ist eine deutliche Erhöhung des Beschäftigtenan-
        teils von Frauen in den Bereichen, in denen sie unterreprä-
        sentiert sind, insbesondere auch im Führungsbereich. Ziel
        ist auch die gezielte Förderung der Berufsausbildung von
        Frauen in zukunftssicheren Berufen. Und Ziel ist schließ-
        lich die Überwindung der Lohndifferenz zwischen Frauen
        und Männern.
        Die Maßnahmen, die Unternehmen zur Herstellung
        von Chancengleichheit ergreifen können, sind zahlreich:
        Nicht jedes Unternehmen wird alle Ziele gleichermaßen
        verfolgen können. Damit wären gerade viele kleine Un-
        ternehmen überfordert. Aber aus der Vielzahl von mögli-
        chen Gleichstellungsmaßnahmen wird jedes Unterneh-
        men etwas auswählen können, was es umsetzen kann.
        Familienfreundliche Arbeitszeiten anzubieten ist eine der
        vielen Möglichkeiten.
        Ein mittelständisches Unternehmen aus der Textilbran-
        che beispielsweise beschäftigt über 400 Arbeitnehmer, die
        große Mehrheit davon Frauen. Für die mehr als 400 Be-
        schäftigten bietet das Unternehmen mehr als 300 Arbeits-
        zeitmodelle an. Fast jede Beschäftigte praktiziert eine ei-
        gens auf sie zugeschnittene Arbeitszeitregelung: Da ist
        die Mutter, die nur vormittags im Unternehmen ist, mit-
        tags die Tochter aus dem Kindergarten abholt und nach-
        mittags zu Hause arbeitet oder die Frau, deren betagte
        Mutter mittags mit Essen versorgt werden muss. Die Frau
        arbeitet ganztags, geht aber über Mittag für zwei Stunden
        nach Hause, um ihre Mutter zu versorgen.
        „300 Arbeitszeitmodelle, wie soll das gehen?“, wird so
        mancher fragen. Es geht, das zeigt uns dieses mittelstän-
        dische Unternehmen. Es geht und davon profitieren alle:
        die Arbeitnehmerinnen, weil sie ihre Arbeit mit ihren Fa-
        milienpflichten gut vereinbaren können, und das Unter-
        nehmen, weil es hoch motivierte Beschäftigte hat.
        Die Erhöhung des Frauenanteils in allen Funktions-
        ebenen ist eine andere Möglichkeit zur Herstellung be-
        trieblicher Chancengleichheit. So will die Deutsche BP
        20 Prozent aller Führungsfunktionen mit Frauen besetzen –
        ein ehrgeiziges Ziel, doch das Unternehmen ist sicher,
        dies Ziel erreichen zu können.
        Andere Unternehmen werden ihre Entgeltstrukturen
        verändern mit dem Ziel, die geschlechtsspezifische Ent-
        geltdifferenz zu verringern. Auch hiervon werden die
        Unternehmen profitieren. Denn Ungerechtigkeit in der
        Bezahlung führt zu Demotivation und demotivierte Mit-
        arbeiterinnen leisten weniger als motivierte. Wieder an-
        dere Unternehmen werden sich für die Gewinnung von
        Mädchen für zukunftsträchtige Ausbildungsberufe ent-
        scheiden, ebenfalls im eigenen Interesse. Denn wer mor-
        gen qualifizierte Mitarbeiter beschäftigen will, muss
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17383
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        heute die fähigsten Köpfe ausbilden – und das sind nun
        einmal zu einem großen Teil Mädchen. Andere Unterneh-
        men schließlich werden Qualifizierungspläne für weibli-
        che Beschäftigte aller Funktionsebenen aufstellen.
        Wir räumen den Unternehmen im Rahmen der Selbst-
        verpflichtung also großen Spielraum ein, um ihrer wirt-
        schaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Verpflich-
        tung zur Herstellung betrieblicher Chancengleichheit
        nachzukommen. Sollte es aber zur geeigneten Selbstver-
        pflichtungen der Wirtschaft bis September dieses Jahres
        nicht kommen, werden die Fraktionen von SPD und
        Bündnis 90/Die Grünen unmittelbar ein Gesetz zur
        Gleichstellung in der Privatwirtschaft einbringen.
        Renate Diemers (CDU/CSU): An der Reihenfolge
        einer Tagesordnung lässt sich einiges ablesen. So könnte
        man den Eindruck haben, dass das Parlament am Ende ei-
        nes langen Tages einen lästigen Pflichtpunkt schnell noch
        abhaken möchte. Dies ist besonders pikant, da es den Ver-
        antwortlichen der Regierungskoalition anscheinend nicht
        nur lästig ist, sich mit dem Thema „Gleichstellung von
        Frauen in der Privatwirtschaft“ zu beschäftigen, sondern
        auf diese Art und Weise zum wiederholten Male ein ge-
        brochenes Wahlversprechen unter der Decke halten.
        Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
        auch von Bündnis 90/Die Grünen, haben den Frauen im-
        mer wieder ein Gleichstellungsgesetz versprochen und
        Sie haben das auch in der Koalitionsvereinbarung fest
        geschrieben. Sie haben – wie bei vielen anderen wichti-
        gen Themen – im Wahlkampf große Ankündigungen ge-
        macht, Sie würden vieles besser machen als wir, aber Sie
        haben leider wieder einmal versagt.
        Immerhin haben Sie ein Gleichstellungsgesetz für die
        öffentliche Verwaltung vorgelegt und wir haben Ihnen in
        der Debatte vor einigen Wochen unsere Unterstützung zu-
        gesagt – nicht zuletzt, weil es eine Fortführung unseres
        Frauenfördergesetzes ist. Natürlich hätten wir bei Ihrem
        Gesetz für die Verwaltung einige Punkte pragmatischer
        und weniger dirigistisch gewünscht, aber in der Zielset-
        zung sind wir uns hier im Großen und Ganzen einig.
        Ihre Ankündigung, dass Sie die tatsächliche Umset-
        zung der im Grundgesetz festgelegten Gleichstellung von
        Männern und Frauen auch in der Privatwirtschaft angehen
        wollten, hat vielen Frauen Hoffnung gemacht.
        Wir stimmen ja überein, dass die in vielen Gesetzen
        festgeschriebene theoretische Gleichstellung der Frauen
        auch in der Praxis endlich erreicht werden soll. Wir wol-
        len die tatsächliche Chancengleichheit für Frauen in allen
        Bereichen – somit auch in der Wirtschaft. Frauen müssen
        die gleichen Aufstiegschancen wie Männer haben und die
        damit verbundenen Führungspositionen besetzen können.
        Es gibt viele Männer und auch Frauen, die bestreiten,
        dass Frauen heute noch benachteiligt sind. Ich denke hier
        an die jüngsten Meldungen vom Bund der Deutschen In-
        dustrie, den Arbeitgeberverbänden und leider auch vom
        Verband deutscher Unternehmerinnen. Sie lehnen eine
        gesetzliche Regelung ab und argumentieren, Frauen woll-
        ten aus eigener Kraft und Qualifikation Karriere machen.
        Tatsache ist aber – und die Zahlen beweisen es – dass
        Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft immer
        noch Exoten sind. Es steht auch fest, dass Frauen weniger
        verdienen als ihre männlichen Kollegen, das heißt, auch in
        Führungspositionen. Aus diesem Grund haben viele Un-
        ternehmen Geheimhaltungsklauseln in den entsprechen-
        den Verträgen, sodass die Frauen oftmals gar nicht wissen,
        dass ihre männlichen leitenden Kollegen – wohlgemerkt in
        dergleichen Position in dem Unternehmen – ein paar zehn-
        tausend Mark mehr im Jahr verdienen. Aber dies – das
        geht quer durch unsere Gesellschaft, die Wirtschaft und die
        Parteien – wird nach wie vor als gegeben hingenommen
        und von einer Generation auf die andere weitergegeben.
        Falsch sind die Aussagen, Frauenförderung stehe im
        direkten Gegensatz zur Effizienz, zum Gewinn oder zur
        Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens. Andere war-
        nen, Frauen würden mit weiteren emanzipatorischen Re-
        gelungen aus der Arbeitswelt heraus sozialisiert. In der
        Praxis gibt es genügend positive Beispiele, die beweisen,
        dass die Unternehmen von der Arbeitskraft der Frauen
        profitieren, wenn ein partnerschaftliches, modernes und
        faires Arbeitsverhältnis besteht. Sie erhalten im Gegenzug
        für eine frauen- und familienfreundliche Arbeitswelt ein
        gutes Betriebsklima, qualifizierte Mitarbeiter (Väter und
        Mütter) und wenig Fluktuation und im Endeffekt zufrie-
        dene Kunden.
        Unser Auftrag muss es also sein, die gleichberechtigte
        Teilhabe von Frauen an allen Prozessen, auf allen Ebenen
        eines Unternehmens voran zu bringen, und mit dafür Sorge
        zu tragen, dass Art. 3 des Grundgesetzes auch im Alltag
        entsprechend umgesetzt wird. Ich bin sicher, dass dann die
        Effizienz, der Gewinn und die Wettbewerbsfähigkeit
        durch die Potenziale der Frauen gesteigert werden.
        Darüber besteht bei uns allen, so hoffe ich, Einigkeit,
        wenn wir auch sicherlich unterschiedliche Vorstellungen
        davon haben, in welch restriktiver Art und Weise die Wirt-
        schaft für dieses gesamtgesellschaftliche Ziel verpflichtet
        werden soll. Die PDS befürwortet ein überaus restriktives
        und die Freiheit beschneidendes Gesetz mit einem
        Schwerpunkt auf Sanktionen, Schadensersatz und Klage-
        recht. Dies lehnen wir ab.
        Sie von der Regierungskoalition sind leider nicht über
        Ihre Eckpunkte für ein Gesetz hinaus gekommen. Dass
        dann unmittelbar nach der Vorstellung der Eckpunkte die
        Diskussion in Ihrer Koalition ins Stocken gekommen
        ist – sogar mehr als das, das Thema wurde überhaupt nicht
        mehr erwähnt, es wurde totgeschwiegen –, liegt nicht un-
        bedingt an den Parlamentariern, sondern allein am Bun-
        deskanzler. In Ihrer Koalition bestimmen nicht die Abge-
        ordneten, was im Bundestag passiert, sondern das
        bestimmt bei Ihnen ganz allein der Bundeskanzler.
        Das nun angekündigte Ultimatum an die Wirtschaft
        von Seiten Ihrer Fraktionen wird vom Bundeskanzler
        wahrscheinlich schon wieder unterlaufen. Schließlich hat
        er der Wirtschaft zugesagt, dass kein Gesetz komme.
        Warum sollten sich die Wirtschaftsverbände also von
        Ihrem Ultimatum beeindrucken lassen?
        Ich bitte Sie von der Regierungskoalition, Ihre Interes-
        sen als Parlamentarier zu wahren und den Deutschen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 200117384
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        Bundestag nicht nur zum Abnicken der vom Bundeskanz-
        ler getroffenen Entscheidungen missbrauchen zu lassen.
        Der Kanzler hat die Richtlinienkompetenz, aber wir
        haben die Gesetzgebungskompetenz.
        Die Frauen in unserem Land erwarten viel von Ihnen
        und von uns allen. Nicht nur die erwerbstätigen Frauen,
        die selbstständigen Unternehmerinnen, die Existenzgrün-
        derinnen, auch die Familienfrauen, die Mütter, die nach
        der Familienphase wieder in den Beruf zurück wollen,
        also alle Frauen setzen Hoffnung in uns, die Chancen für
        Frauen in der Wirtschaft zu steigern. Chancen auf Be-
        schäftigung, auf gleichen Verdienst, auf Karriere.
        Die Zahl der außerhäuslich berufstätigen Frauen
        nimmt zu, auch die Zahl der erwerbstätigen Mütter. Von
        den 8,9 Millionen Müttern im erwerbsfähigen Alter mit
        mehr als einem Kind arbeiten 63 Prozent außerhäuslich,
        das sind 4 Prozent mehr als noch vor 10 Jahren. 7 Prozent
        aller Mütter mit mehr als einem Kind suchen eine Stelle.
        Klassischerweise sind das Teilzeitstellen und die Zahlen
        belegen das, denn drei von fünf Müttern arbeiten in Teil-
        zeitbeschäftigungen. Und damit kommen wir zu zwei
        wichtigen Aspekten des gesamten Problems:
        Erstens. Die Schwierigkeit, Familienarbeit, das heißt
        unter anderem auch Erziehung von Kindern oder Pflege
        eines Angehörigen, und außerhäusliche Erwerbsarbeit un-
        ter einen Hut zu bekommen. Ich nenne an dieser Stelle die
        Stichworte partnerschaftliche Aufteilung der Familien-
        aufgaben, Ganztagsbetreuung, flexible Öffnungszeiten
        von Kinderbetreuungseinrichtungen und auch ein Netz
        gut ausgebildeter Tagesmütter. Direkt an die Wirtschaft
        richte ich das Stichwort: Betriebskindergärten.
        Die Unternehmen sollten sich in diesem Zusammen-
        hang umfassend informieren. Denn sowohl die Investiti-
        onskosten als auch die laufenden Betriebskosten sind in
        voller Höhe absetzbar. Es können auch zum Beispiel Ko-
        operationen zwischen mehreren Unternehmen, die räum-
        lich nah beieinander liegen, eingegangen werden. Ein
        weiteres Stichwort bzw. Hilfe für außerhäusliche erwerbs-
        tätige Frauen und Männer wäre in diesem Zusammenhang
        auch ein Angebot von personell gut ausgestatteten und
        funktionierenden Dienstleistungszentren.
        Zweitens. Klassische Halbtagsstellen sind nicht das
        Allheilmittel, um Frauen die Flexibilität zu ermöglichen.
        Wir brauchen unterschiedliche Teilzeitmodelle mit flexi-
        blen Arbeitszeiten, die sowohl den Arbeitnehmerinnen
        und Arbeitnehmern als auch den Firmenstrukturen und
        den unterschiedlichen Anforderungen der Arbeitgeber ge-
        recht werden.
        Vielfach praktiziert die Wirtschaft bereits eine ganz
        andere Art der Flexibilität, nämlich die Nutzung der
        neuen Medien. Dienst-Notebooks mit Internet-Zugang
        und Dienst-Mobiltelefone sind bei Führungskräften fast
        schon Standard und ermöglichen eine Flexibilität in
        Bezug auf den Arbeitsort. Warum nutzt die Wirtschaft das
        nicht, um auch Frauen den Zugang zu Führungspositio-
        nen zu erleichtern? Es macht qualitativ keinen Unter-
        schied, ob das Notebook – wie von vielen Managern –
        auf dem Golfplatz oder im heimischen Wohnzimmer be-
        arbeitet wird.
        In diesem Zusammenhang ist von uns allen noch sehr
        viel Phantasie und Durchsetzungswillen gefragt. Aber die
        Mitwirkung der Wirtschaft ist unverzichtbar. Eine Selbst-
        verpflichtung abzugeben wäre ein guter Weg. Es gibt er-
        freulicherweise bereits einige Unternehmen, besonders
        auch im mittelständischen Bereich, die schon viel für die
        Frauenförderung tun. Beispiele können Sie in der Juli-
        ausgabe des Unternehmermagazins „Impulse“ nachlesen.
        Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Ein paar
        Vorzeigeunternehmen und Vorzeigefrauen ersetzen nicht
        die geforderte selbstverständliche Gleichstellung.
        Mit einer Selbstverpflichtung auf höchster Ebene und
        sichtbaren Anstrengungen, um die Selbstverpflichtung
        umzusetzen, wären wir einen großen Schritt weiter. Die
        Schüchternheit der Privatwirtschaft in Bezug auf die
        Selbstverpflichtung wird von den Menschen in unserem
        Land nicht verstanden.
        Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
        Regierungskoalition, Sie sind am Zuge. Setzen Sie Ihre
        Ankündigung in die Tat um und legen Sie einen Entwurf
        für eine praxisorientierte Handhabung zur Gleichstellung
        von Frauen in der Privatwirtschaft vor! Wir werden uns
        aktiv an der Beratung beteiligen.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): „Deutschland ist ein modernes, demokrati-
        sches Land mit qualifizierten Beschäftigten und innovati-
        ven Betrieben“.
        Das ist das Bild, das wir gern über unsere Grenzen
        hinweg vermitteln möchten. Schaut frau allerdings in die
        Statistik, so ist dieses Bild ein Trugschluss. Deutschland
        ist Schlusslicht in Europa sowohl bei der Erwerbsquote
        von Frauen als auch beim Anteil von Frauen in Führungs-
        positionen. Und Deutschland ist Schlusslicht bei der
        ganztägigen Kinderbetreuung, die ja häufig eine Voraus-
        setzung für die Erwerbstätigkeit von Frauen bildet. Von
        modern und innovativ kann da wohl keine Rede sein.
        Wie aber ist es um die Demokratie bestellt, die es zu-
        lässt, dass Frauen, obwohl Sie die besseren Schulab-
        schlüsse haben und einen höheren Anteil an Studierenden
        bilden, immer noch im Durchschnitt ein Viertel weniger
        verdienen als Männer, zu knapp 4 Prozent in den oberen
        Führungsetagen sitzen und da – wo die wirklichen Ent-
        scheidungen getroffen werden, in den Vorständen der Ak-
        tiengesellschaften – bei den größten 100 gar keine Rolle
        mehr spielen. Das ist nicht nur unmodern und innova-
        tionsfeindlich, sondern zutiefst undemokratisch. Denn
        eine wirkliche Demokratie kann es nicht geben ohne eine
        Geschlechterdemokratie.
        Was ist zu tun? Da die Wirtschaft mit der Situation,
        dass Deutschland gleichstellungspolitisch ein Entwick-
        lungsland ist, offensichtlich – noch – gut leben kann – spä-
        testens 2015 wird das ganz anders aussehen, dann näm-
        lich fehlen die Fachkräfte –, muss der Staat handeln.
        Und er kann es sich gar nicht aussuchen, ob er handeln
        will oder sich mit einem Basta verweigert. Der Staat muss
        handeln. So will es das Grundgesetz. „Er fördert die
        tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung ... und
        wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17385
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        steht in der Verfassung, und nicht: Er kann die Gleichbe-
        rechtigung fördern.
        Also brauchen wir gesetzliche Regelungen, denn eine
        Selbstverpflichtung der Wirtschaft bringt gar nichts. Das
        beste Beispiel dafür ist doch das Dosenpfand. Wenn heute
        der DIHT-Präsident Braun die Unternehmen auffordert,
        sich selbst zu verpflichten, dass Frauen bei gleicher Qua-
        lifikation nicht benachteiligt werden dürfen, so muss ich
        sagen: Das dürfen Arbeitgeber schon heute nicht. Immer-
        hin gibt es einen § 611 a im BGB. Und heißt das nicht auch
        indirekt: Bis jetzt wurden Frauen benachteiligt? Die Zah-
        len sprechen doch Bände: Von circa 2,5 Millionen Betrie-
        ben haben ganze 200 Konzepte zur Chancengleichheit.
        Nein, wir müssen schnellstens ein Gesetz für die Pri-
        vatwirtschaft in die parlamentarische Beratung bringen.
        Damit bin ich beim PDS-Antrag, der dieses ja vorsieht.
        Verehrte Kollegin Bläss, mit den Zielen ihres Antrages
        stimme ich überein. Aber die vorgeschlagenen Wege
        scheinen mir in der Tat den unterschiedlichen Branchen-
        strukturen und Betriebsgrößen nicht ausreichend Rech-
        nung zu tragen. Nun weiß ich auch, dass Demokratie nicht
        kostenlos zu haben ist, aber ein Teil ihrer Vorschläge
        scheint mir für Unternehmen, die um das Überleben
        kämpfen, schlichtweg auch zu kostspielig zu sein. Wenn
        sie ihren Blick insbesondere auf viele ostdeutsche Be-
        triebe richten, werden sie mir sehr schnell recht geben.
        Das darf aber kein Grund sein, nichts zu tun.
        Darum haben sich die Bündnisgrünen – wenn auch
        schweren Herzens –zu einem anderen Weg entschieden.
        Dieser Weg heißt: Die Unternehmen werden per Gesetz
        zur Gleichstellung verpflichtet. Sie selbst entscheiden
        dann darüber, welche Maßnahmen sie für ihren Betrieb
        als die geeigneten ansehen, um die Unterrepräsentanz
        von Frauen in Führungspositionen abzubauen, ihre Lohn-
        diskriminierung zu beseitigen, die Vereinbarkeit von
        Erwerbs- und Familienarbeit für Männer und Frauen si-
        cherzustellen und die Ausbildung von Frauen in zu-
        kunftssichere Ausbildungsplätze zu gewährleisten.
        Was tun, wenn das Gesetz nicht eingehalten wird? Hier
        kommt Hilfe aus Europa. Die neue Gleichbehandlungs-
        richtlinie sieht ausdrücklich ein kollektives Klagerecht
        vor, das auch von den Mitgliedstaaten umzusetzen ist. Das
        heißt Frauenverbände oder Gewerkschaften haben das
        Recht, initiativ zu werden und zu klagen. Das ist ein star-
        kes Druckmittel, denn es hilft meist schon ohne Anwen-
        dung. Aus der Schweiz wissen wir, dass viele Verfahren
        schon im Vorfeld gütlich abgewendet wurden, um Klagen
        zu vermeiden.
        Die nächsten Monate werden kein Zuckerschlecken
        sein auf dem Wege zu einem Gleichstellungsgesetz. Die
        Haltung der Wirtschaftsverbände ist bekannt, darf aber
        nicht Maßstab für die Politik sein. Politik darf nicht ein-
        seitig sein und nur die Interessen der Wirtschaft im Auge
        haben. Sie hat ihren Grundgesetzauftrag zu erfüllen. Dass
        es dabei zu einer Abwägung verschiedener Interessen
        kommt, ist eine Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, dass wir
        mit der Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen
        zu einem guten Ergebnis kommen werden.
        Ina Lenke (F.D.P.): Frauen sind – da sind wir uns alle
        einig – auch heute immer noch nicht in allen Bereichen
        gleichgestellt. Besonders der Frauenanteil in den
        Führungspositionen der deutschen Wirtschaft liegt bei le-
        diglich 11 Prozent.
        Das ist blamabel, besonders im Vergleich mit unseren
        europäischen Nachbarn und den USA. Selbstverständlich
        wollen wir, dass sich der Anteil der Frauen in den oberen
        Etagen der Privatwirtschaft wesentlich verbessert.
        In der Privatwirtschaft, auch im öffentlichen Dienst,
        sind wir davon noch weit entfernt. Art. 3 GG postuliert an
        den Staat den Auftrag, die tatsächliche Durchsetzung der
        Gleichberechtigung zu fördern. Doch wie das zu gesche-
        hen hat, bestimmt das Grundgesetz nicht.
        Eine Gleichstellungspolitik mit dem Brecheisen – wie
        im Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft vorgese-
        hen – lehnen wir jedoch ab. Die Gründe dafür, dass Frauen
        und Männer besonders im Arbeitsleben noch nicht gleich-
        berechtigt nebeneinander stehen, sind sehr vielfältig und
        deshalb sind einfache Lösungen nicht gefragt. Die PDS
        will, ebenso wie die SPD und die Grünen, die Gleichstel-
        lung mit Gewalt in Gestalt eines Gleichstellungsgesetzes.
        Ich meine, Sie erweisen damit uns Frauen nur einen
        Bärendienst. Durch solche restriktiven Maßnahmen, wie
        sie gerade die PDS in ihrem Gesetzentwurf vorschlägt,
        vertiefen sich nur die Gräben zwischen Arbeitnehmer und
        Arbeitgeber bzw. zwischen Männern und Frauen. Durch
        Zwang ist noch nie etwas erreicht worden. Letztlich wird
        dies für uns Frauen ein Bumerang sein und uns schaden.
        Davon abgesehen, erschweren Sie damit zusätzlich die
        Handlungsspielräume für Betriebe, gerade im kleinen und
        mittelständischen Bereich.
        Wenn jetzt nun auch noch neben dem Betriebsrat
        zwingend eine weitere Person als Gleichstellungsbeauf-
        tragte tätig sein soll und diese auch noch freigestellt wird,
        wer erwirtschaftet dann noch den Gewinn, damit die
        Arbeitsplätze geschaffen bzw. erhalten werden können?
        Außerdem gehört die Förderung der Chancengleichheit
        bereits zu den Aufgaben des Betriebsrats.
        Weitere Pöstchen sind teuer und verhindern im Zu-
        sammenhang mit den übrigen dirigistischen Zwangsrege-
        lungen der rot-grünen Bundesregierung, dass Deutsch-
        land als Wirtschaftsstandort für kleine und mittlere
        Betriebe attraktiv bleibt bzw. attraktiver wird. Gerade im
        Mittelstand stecken eine Menge Arbeitsplätze, gerade für
        Frauen. Zugegebenermaßen ist ärgerlich, wenn sich die
        Wirtschaft einer Selbstverpflichtung widersetzt. Was sich
        die Bundesregierung bzw. die SPD-Fraktion aber nun hat
        einfallen lassen, gleicht einem beispiellosen Affentheater.
        Hier wird der Wirtschaft tatsächlich ein Ultimatum bis
        Ende August gesetzt, damit diese eine „freiwillige“
        Selbstverpflichtung abgibt. Das ist doch wirklich nicht Ihr
        Ernst! Mit solch einer kurzen Frist? Deutlicher können
        Sie von der SPD Ihre Hilflosigkeit in der Gleichstel-
        lungspolitik nicht machen.
        Sie sollten nicht noch mehr Zeit mit diesen sinnlosen
        Spielchen verplempern, sondern endlich mit wirksamen
        Maßnahmen beginnen und ein richtiges Konzept vorle-
        gen.
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        Dazu muss der Blick stärker auf die Rahmenbedingun-
        gen gerichtet werden, um die Berufstätigkeit und gleiche
        Karrierechancen für Frauen und Männer überhaupt erst zu
        ermöglichen. Durch die Vereinbarkeit von Kind, Karriere
        und Beruf muss Frauen und Männern gleichermaßen der
        Weg in Führungspositionen geebnet werden. Dies bedeu-
        tet, Betreuungskosten – ungedeckelt – steuerlich abzugs-
        fähig zu machen und für ein wesentlich besseres und fle-
        xibleres Angebot an Kinderbetreuungsplätzen zu sorgen.
        Mehr Ganztagsschulen müssen her. Weiter brauchen wir
        flexiblere Arbeitsformen, Teilzeit, Telearbeit usw. Die
        Ausbildung von Frauen in bislang frauenuntypischen Be-
        rufsfeldern, zum Beispiel in der Zukunftstechnologie oder
        im gewerblich-technischen Bereich allgemein, ist unbe-
        dingt zu fördern. Hier sollte bei den Schulen angesetzt
        werden und das Interesse an solchen Berufen bei den
        Mädchen geweckt werden. Wenn nur ein verschwindend
        geringer Teil der Mädchen in frauenuntypischen Studi-
        engängen und Ausbildungsgängen vertreten sind, sollte
        man sich nicht über eine geringe Quote später in entspre-
        chenden Berufen und erst recht in den höheren Etagen
        entsprechender Wirtschaftsunternehmen wundern. Wir
        sollten lieber Betriebe ergänzend unterstützen, die über
        Maßnahmen der betrieblichen Förderung einen sinnvol-
        len Beitrag zur vollständigen Integration von Frauen in
        das Erwerbsleben leisten, statt Betriebe, die dies noch
        nicht tun, zu bestrafen.
        Petra Bläss (PDS): Chancengleichheit für Frauen
        und Männer in der Privatwirtschaft – für die einen ist das
        eine Selbstverständlichkeit für moderne Industrieunter-
        nehmen, für die anderen noch immer ein Schreckgespenst
        aus der Mottenkiste. „Ich habe vor dem Gesetz keine
        Angst“ meint ein erfolgreicher Textilunternehmer aus
        Süddeutschland, dessen Betrieb schon mehrfach als
        frauen- bzw. familienfreundlich ausgezeichnet wurde.
        Kein Wunder: Wer nicht diskriminiert, hat von einer ge-
        setzlichen Regelung auch nicht zu befürchten.
        Ich habe verfolgt, wie sich Bundesfrauenministerin
        Bergmann in der Koalition für die Gleichstellung in der
        Privatwirtschaft stark gemacht hat, wie sie über Monate
        darum bemüht war, die Wirtschaft ins Boot zu holen.
        Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privat-
        wirtschaft – das wollte die Ministerin gemeinsam mit den
        Unternehmen erreichen, nicht gegen sie. Dazu hat sie eine
        ganze Reihe von Diskussionen zwischen Wirtschaft, Ge-
        werkschaften, Wissenschaft, Verbänden und Politik orga-
        nisiert.
        Wir haben dort von vielen positiven Beispielen erfah-
        ren, von Betrieben, die etwas für die Gleichberechtigung
        getan haben, durch familiengerechte Arbeitszeiten zum
        Beispiel oder durch Betreuungsmöglichkeiten für Kinder.
        Wir haben von Unternehmen gehört, denen es schlicht un-
        verständlich ist, warum andere die Qualifikation von
        Frauen brachliegen lassen. Aber wir haben auch erfahren,
        dass sie die absolute Ausnahme sind.
        In der gesamten Bundesrepublik haben nur etwa
        200 Betriebe freiwillig Maßnahmen zur Gleichstellung
        ergriffen. 200 von etwa 3 Millionen – das ist entschieden
        zu wenig.
        Was ist mit dem Rest? Die Mehrzahl der Betriebe ver-
        stößt gegen das Grundrecht von Frauen auf Gleichbe-
        rechtigung. Wir haben uns die Fakten hier schon zigmal
        gegenseitig präsentiert. Frauen sind in allen Bereichen des
        Arbeitsmarktes benachteiligt. Sie bleiben trotz gleich
        guter oder sogar besserer Abschlüsse häufig in der zwei-
        ten oder dritten Reihe stecken und kommen beruflich nur
        mühsam voran.
        Wir können – das ist meine feste Überzeugung – nicht
        länger auf freiwillige Maßnahmen der Wirtschaft warten.
        Der Umgang der Industriechefs mit den Konsensge-
        sprächen beweist mir das.
        Lassen Sie mich etwas zur Quotenregelung sagen, um
        gleich einige hartnäckige Missverständnisse auszuräu-
        men:
        Es geht darum, dass Frauen, die mindestens genauso
        gut wie ihre Mitbewerber sind, eine Chance erhalten. Wir
        fordern also keineswegs, dass Frauen mit geringerer Qua-
        lifikation bevorzugt werden. Klar ist auch: Wenn sich gar
        keine Frauen bewerben, können auch zukünftig ganz
        selbstverständlich Männer den Zuschlag erhalten. Wer ei-
        nen Kälteanlagenbauer sucht, muss keine Krankenschwes-
        ter einstellen. In Bereichen, in denen es kaum Frauen gibt,
        werden natürlich weiter Männer die Jobs bekommen.
        Wir wollen darüber hinaus die öffentlichen Aufträge an
        Chancengleichheit binden. Warum soll sich der Staat
        diese Möglichkeit entgehen lassen? Sie alle wissen im
        Übrigen, dass ein solches Verfahren durch den Europä-
        ischen Gerichtshof höchstrichterlich gedeckt ist.
        Außerdem wollen wir für einzelne Frauen sowie Ge-
        werkschaften und Frauenverbände die Möglichkeit schaf-
        fen, gegen Diskriminierung zu klagen – auch das ist eine
        Neuregelung, welche die Position von Frauen stärken
        soll.
        Für kleine und mittlere Betriebe haben wir einige Aus-
        nahmen vorgesehen, um es ihnen so leicht wie möglich zu
        machen. Die Unternehmen sollen insgesamt bei der Um-
        stellung ihrer Unternehmenspolitik unterstützt werden,
        weshalb wir einige finanzielle Erleichterungen und ein
        Umlageverfahren bei den Mutterschutzkosten vorsehen.
        Auch in unseren Vorstellungen gibt es im Übrigen viel
        Raum für eigene Ideen und Konzepte der Betriebe. Uns
        sind die Ziele wichtig. Wie genau und durch welche
        Schritte im Einzelnen sie erreicht werden, das überlassen
        wir den Betrieben.
        Mit dem Verzicht auf ein Gesetz und damit auf die Ge-
        staltungskraft des Staates stellt sich die rot-grüne Bun-
        desregierung ein Armutszeugnis aus. Die vielen Wortmel-
        dungen von Frauenverbänden, Gewerkschaften, aber
        auch von klein- und mittelständischen Unternehmen zeu-
        gen davon: Es besteht gesetzlicher Regelungsbedarf. Es
        wird Zeit und es lohnt sich, dass die Politik die Weichen
        stellt für eine andere, moderne Unternehmenspolitik. Es
        wird Zeit, dass die Chancengleichheit der Geschlechter
        als Standortfaktor begriffen wird. Es geht um nicht mehr,
        aber auch nicht weniger als um einen zivilgesellschaftli-
        chen Anspruch.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 176. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2001 17387
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