Protokoll:
14173

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 173

  • date_rangeDatum: 31. Mai 2001

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:30 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 16883 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 15 und 28 i . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16884 C Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 16884 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 16884 D Tagesordnungspunkt 4: Vereinbarte Debatte: Zu Recht und Ethik der modernen Medizin und Bio- technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16885 A Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16885 B Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16887 A Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16888 C Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . . . . . . . 16890 D Roland Claus PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16892 A Gerhard Schröder SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16892 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 16894 D Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16896 B Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. . . . . . . . . . . . . 16897 C Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16899 B Dr. Peter Struck SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16900 A Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16901 B Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16903 A Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16903 D Angela Marquardt PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 16904 D Dr. Wolfgang Wodarg SPD . . . . . . . . . . . . . . 16905 D Maria Eichhorn CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 16908 A Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16909 B Detlef Parr F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16910 C Dr. Ilja Seifert PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16911 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . . 16912 D Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 16914 B Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16915 B Christel Riemann-Hanewinckel SPD . . . . . . . 16916 A Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 16916 D Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16917 D Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . . 16919 A Hubert Hüppe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 16919 D Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16921 A René Röspel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16922 A Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 16922 D Karin Kortmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16923 D Katherina Reiche CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 16924 C Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16925 C Norbert Geis CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 16926 C Hanna Wolf (München) SPD . . . . . . . . . . . . . 16927 C Dr. Hermann Kues CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16928 B Dr. Margrit Wetzel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 16929 C Thomas Rachel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 16930 B Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16931 D Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16932 C Dr. Hermann Scheer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16933 D Plenarprotokoll 14/173 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 173. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Behand- lung von Petitionen und über die Auf- gaben und Befugnisse des Petitions- ausschusses des Deutschen Bundes- tages – Petitionsgesetz (Drucksache 14/5762) . . . . . . . . . . . . . 16935 A b) Erste Beratung des von den Abgeordne- ten Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Ent- wurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 45 c) (Drucksache 14/5763) . . . . . . . . . . . . . 16935 A Heidemarie Lüth PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16935 B Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16937 B Hubert Deittert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 16939 A Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16940 C Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . . . . . . . 16942 B Bernd Reuter SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16943 B Volker Kauder CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 16945 C Tagesordnungspunkt 28: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund- gesetzes (Art. 108) (Drucksache 14/6144) . . . . . . . . . . . . . 16947 C b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanz- verwaltungsgesetzes und andererGe- setze (Drucksache 14/6140) . . . . . . . . . . . . . 16947 D c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europä- ischen Gemeinschaften (Drucksache 14/6142) . . . . . . . . . . . . . 16947 D d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Gesetzen und Verordnungen im Zuständig- keitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf Euro (Neuntes Euro-Einführungsgesetz) (Drucksache 14/5937) . . . . . . . . . . . . . 16947 D e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung von Verbrauchsteu- ergesetzen und des Finanzverwaltungs- gesetzes sowie zur Umrechnung zoll- und verbrauchsteuerrechtlicher Euro- Beträge (Zwölftes Euro-Einführungs- gesetz) (Drucksache 14/6143) . . . . . . . . . . . . . 16948 A f) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen zwi- schen der Europäischen Gemein- schaft und ihren Mitgliedstaaten ei- nerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (Drucksache 14/6100) . . . . . . . . . . . . . 16948 A g) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und derTschechischen Republik vom 2. Februar 2000 zurweiteren Erleich- terung des Rechtshilfeverkehrs (Drucksache 14/6101) . . . . . . . . . . . . . 16948 A h) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes (Drucksache 14/5927) . . . . . . . . . . . . . 16948 B j) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäfts- ordnung: Technikfolgenabschätzung; hier: TA-Projekt „Klonen von Tieren“ (Drucksache 14/3968) . . . . . . . . . . . . . 16948 B k) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung: Technikfolgenabschätzung; hier: Monitoring „Stand und Perspektiven der genetischen Diagnostik“ (Drucksache 14/4656) . . . . . . . . . . . . . 16948 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Weitere Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Vorschrif- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001II ten des Dienst-, allgemeinen Verwal- tungs-, Sicherheits-, Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts auf Euro (Sechstes Euro-Einführungsgesetz) (Drucksache 14/6096) . . . . . . . . . . . . 16948 C b) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März 2000 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Repu- blik Korea über soziale Sicherheit (Drucksache 14/6110) . . . . . . . . . . . . . 16948 C c) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Annette Faße, Reinhard Weis (Stendal), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- ordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Deutschen Binnen- schifffahrtsfonds (Binnenschifffahrts- fondsgesetz) (Drucksache 14/6159) . . . . . . . . . . . . 16948 D d) Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Tierschutz auf nationaler und EU- Ebene fortentwickeln (Drucksache 14/6047) . . . . . . . . . . . . 16948 D e) Antrag der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Für ein Bundesrahmengesetz zurWeiterbildung (Drucksache 14/6170) . . . . . . . . . . . . 16949 A Tagesordnungspunkt 29: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament; European Community Investment Partners (ECIP); Bericht über die Durchführung 1998 (Drucksachen 14/3428 Nr. 2.28, 14/4944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16949 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluss des Europä- ischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftsrahmen für die Zusammenarbeit auf dem Ge- biet der nachhaltigen Stadtentwick- lung (Drucksachen 14/3859 Nr. 2.2, 14/4976) 16949 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verord- nung der Bundesregierung: Erste Ver- ordnung zur Änderung der Batterie- verordnung (Drucksachen 14/5931, 14/6019 Nr. 2.1, 14/6136) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16949 C d) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 8 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht (Drucksache 14/6013) . . . . . . . . . . . . 16949 D e) – h) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 270, 271, 272, 273 zu Petitionen (Drucksachen 14/6075, 14/6076, 14/6077, 14/6078) . . . . . . . . . . . . . . . 16950 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemein- schaftsrechtlicher Vorschriften über die Zustellung gerichtlicher und außergericht- licher Schriftstücke in Zivil- oder Handels- sachen in den Mitgliedstaaten (EG-Zustel- lungsdurchführungsgesetz) (Drucksachen 14/5910, 14/6114, 14/6175) 16950 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- desregierung zu möglichen Auswirkun- gen der Berliner Finanzkrise auf den Bundeshaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16950 C Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16950 C Karl Diller, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . 16951 C Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . . . . . . . 16952 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16953 D Dr. Günter Rexrodt F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . 16955 B Hans Georg Wagner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 16956 C Peter Kurth, Senator (Berlin) . . . . . . . . . . . . . 16957 D Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16959 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 III Dr. Christa Luft PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16959 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . . . . . . 16961 A Volker Kröning SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16961 D Josef Hollerith CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 16963 A Jörg-Otto Spiller SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16964 A Tagesordnungspunkt 6: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- nung zu dem Antrag des Abgeordneten Werner Lensing und weiterer Abgeord- neter der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta Titze-Stecher und weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligötz und weiterer Abgeordneter der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten Hildebrecht Braun (Augsburg) und weiterer Abge- ordneter der Fraktion der F.D.P.: Für ei- nen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz (Drucksachen 14/3231, 14/5325) . . . . 16965 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Verbot der Werbung für den Tabakkonsum (Drucksachen 14/3318, 14/6174) . . . . 16965 B Uta Titze-Stecher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16965 B Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 16968 A Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 16969 D Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 16971 B Werner Lensing CDU/CSU . . . . . . . . . . . 16971 D Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . 16972 B Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16973 A Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . 16973 C Doris Barnett SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16974 B Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . 16974 D Dr. Sabine Bergmann-Pohl CDU/CSU . . . . . 16975 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 16977 A Tagesordnungspunkt 7: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski (Recklinghausen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Familienzusammen- führung sachgerecht regeln – EU- Richtlinienvorschlag ablehnen (Drucksachen 14/4529, 14/5808) . . . . 16978 A b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Sechster Familienbericht; Fa- milien ausländischer Herkunft in Deutschland; Leistungen – Belastun- gen – Herausforderungen und Stel- lungnahme der Bundesregierung (Drucksache 14/4357) . . . . . . . . . . . . . 16978 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes (Drucksache 14/5266) . . . . . . . . . . . . . . . 16978 C Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16978 C Thomas Dörflinger CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 16980 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16983 B Ina Lenke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16984 C Petra Pau PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16986 B Christel Riemann-Hanewinckel SPD . . . . . . . 16987 C Thomas Strobl (Heilbronn) CDU/CSU . . . . . 16989 C Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16990 C Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregie- rung für Ausländerfragen . . . . . . . . . . . . . . . . 16992 A Christa Lörcher SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16993 B Rüdiger Veit SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16994 B Tagesordnungspunkt 8: Unterrichtung durch den Wehrbeauftrag- ten: Jahresbericht 2000 (Drucksache 14/5400) . . . . . . . . . . . . . . . 16995 D Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . 16995 D Werner Siemann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 16998 B Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär BMVg 17000 A Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . . . . . . 17001 D Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17003 A Heidi Lippmann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17004 B Gerhard Neumann (Gotha) SPD . . . . . . . . . . 17005 B Hans Raidel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 17006 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001IV Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stif- tungszivilrechts (Stiftungsrechtsreform- gesetz) (Drucksache 14/5811) . . . . . . . . . . . . . . . 17008 A Tagesordnungspunkt 10: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Lebenslagen in Deutschland – Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (Drucksache 14/5990) . . . . . . . . . . . . . . . 17008 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen (Drucksache 14/6171) . . . . . . . . . . . . . . . 17008 C Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin BMA 17008 D Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 17010 C Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin BMA 17011 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . . . . . . . 17011 A Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17012 C Pia Maier PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17014 A Rolf Stöckel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17015 A Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 17016 B Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff, Karl Lamers, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Die deutsch-französischen Bezie- hungen neu begründen (Drucksache 14/5959) . . . . . . . . . . . . . . . 17018 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Die deutsch-französischen Beziehungen mit Leben erfüllen (Drucksache 14/6167) . . . . . . . . . . . . . . . 17018 B Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes (Drucksache 14/6141) . . . . . . . . . . . . . . . 17018 C Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: FairerWettbewerb bei Basel II (Drucksache 14/6049) . . . . . . . . . . . . . . . 17018 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Rainer Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Basel II – Belange des Mittelstands wahren (Drucksache 14/6172) . . . . . . . . . . . . . . . 17018 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS: Fairer Wettbewerb bei Basel II – Neufassung der Basler Eigenkapitalvereinbarung und Überarbeitung der Eigenkapital- vorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (Drucksache 14/6196) . . . . . . . . . . . . . . . 17018 D Tagesordnungspunkt 14: a) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäfts- ordnung: Technikfolgenabschätzung; hier: Monitoring „Risikoabschät- zung und Nachzulassungs-Monito- ring transgener Pflanzen“ (Drucksache 14/5492) . . . . . . . . . . . . 17019 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung gemäß § 56 a der Geschäfts- ordnung: Technikfolgenabschätzung; hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ – Einsatz nachwachsen- der Rohstoffe im Baubereich (Drucksachen 14/2949, 14/5574) . . . . 17019 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 V Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- zes zurÄnderung des Gesetzes zurNeure- gelung des Energiewirtschaftsrechts (Drucksache 14/5969) . . . . . . . . . . . . . . . 17019 D Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Errich- tung eines Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR (Drucksache 14/5674) . . . . . . . . . . . . . . . 17020 A Klaus Riegert CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 17020 A Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg) SPD 17021 C Dr. Klaus Kinkel F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 17023 C Winfried Hermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17024 B Friedhelm Julius Beucher SPD . . . . . . . . . 17025 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17025 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 17027 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stiftungszivilrechts (Stiftungsrechtsreformge- setz) (Tagesordnungspunkt 9) . . . . . . . . . . . . . 17027 C Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17027 C Alfred Hartenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17028 D Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 17029 D Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17031 A Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17032 A Dr. Heinrich Fink PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17032 C Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 17033 B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Unterrichtung: Lebenslagen in Deutsch- land; Der erste Armuts- und Reichtums- bericht der Bundesregierung – Antrag: Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17034 B Dr. Heinrich L. Kolb F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . 17034 B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Die deutsch-französischen Beziehungen neu begründen – Die deutsch-französischen Beziehungen mit Leben erfüllen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesord- nungspunkt 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17035 C Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17035 C Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17036 D Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 17038 A Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU . . . . . . 17038 D Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . 17040 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17041 B Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 17041 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mi- neralölsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 12) 17043 C Lydia Westrich SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17043 C Heidemarie Wright SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 17044 B Norbert Schindler CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17045 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17046 C Marita Sehn F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17047 B Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17047 D Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge – Fairer Wettbewerb bei Basel II – Basel II – Belange des Mittelstandes wahren – Fairer Wettbewerb bei Basel II – Neufas- sung der Basler Eigenkapitalvereinbarung und Überarbeitung der Eigenkapitalvor- schriften für Kreditinstitute und Wert- papierfirmen (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord- nungspunkte 10 und 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . 17048 B Klaus Lennartz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17048 B Leo Dautzenberg CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 17049 C Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17051 A Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17051 D Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17052 C Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17053 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001VI Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Berichte zur Technikfolgenabschätzung: – hier: Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen – hier: Monitoring „Nachwachsende Roh- stoffe“ – Einsatz nachwachsender Roh- stoffe im Baubereich (Tagesordnungspunkt 14 a und b) . . . . . . . . . . 17054 B René Röspel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17054 B Heino Wiese (Hannover) SPD . . . . . . . . . . . . 17054 D Peter Bleser CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 17055 D Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17056 C Ulrike Flach F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17057 C Kersten Naumann PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 17057 D Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes zur Neuregelung des Ener- giewirtschaftsrechts (Tagesordnungspunkt 16) 17058 D Volker Jung (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . . . . . 17058 D Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 17060 B Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17062 A Walter Hirche F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17062 D Eva Bulling-Schröter PDS . . . . . . . . . . . . . . . 17063 C Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 17064 B Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Errichtung eines Fonds zur Unter- stützung der Doping-Opfer der DDR (Tages- ordnungspunkt 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17065 A Gustav-Adolf Schur PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 17065 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 VII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 Winfried Hermann 17025 (C) (D) (A) (B) 1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17027 (C) (D) (A) (B) Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 31.05.2001 Behrendt, Wolfgang SPD 31.05.2001* Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 31.05.2001** Bläss, Petra PDS 31.05.2001 Dr. Blank, CDU/CSU 31.05.2001** Joseph-Theodor Burchardt, Ursula SPD 31.05.2001 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 31.05.2001 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 31.05.2001 Dr. Friedrich SPD 31.05.2001 (Altenburg), Peter Göllner, Uwe SPD 31.05.2001 Hempelmann, Rolf SPD 31.05.2001 Heubaum, Monika SPD 31.05.2001** Ibrügger, Lothar SPD 31.05.2001** Irmer, Ulrich F.D.P. 31.05.2001** Kahrs, Johannes SPD 31.05.2001 Kasparick, Ulrich SPD 31.05.2001 Klappert, Marianne SPD 31.05.2001 Kutzmutz, Rolf PDS 31.05.2001 Lambrecht, Christine SPD 31.05.2001 Lintner, Eduard CDU/CSU 31.05.2001* Meckel, Markus SPD 31.05.2001** Ostertag, Adolf SPD 31.05.2001 Dr. Paziorek, Peter CDU/CSU 31.05.2001 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 31.05.2001 Hans Peter Schöler, Walter SPD 31.05.2001 Schultz (Everswinkel), SPD 31.05.2001 Reinhard Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 31.05.2001 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 31.05.2001 Welt, Jochen SPD 31.05.2001 Wohlleben, Verena SPD 31.05.2001** Zapf, Uta SPD 31.05.2001** Zöller, Wolfgang CDU/CSU 31.05.2001 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stiftungszivilrechts (Stiftungs- rechtsreformgesetz) (Tagesordnungspunkt 9) Jörg Tauss (SPD): Vor knapp einem Jahr haben wir hier im Deutschen Bundestag die Reform des Stiftungs- steuerrechts beschlossen. Nach jahrelangem Nichtstun auf diesem gesellschaftspolitisch so wichtigen Gebiet des Stiftungsrechtes, nach jahrelangen Diskussionen und Ankündigungen als Regierungspartei, scheint die FDP- Fraktion vor stiftungsrechtlichem Eifer nur so zu sprühen und legt nun im Abstand von wenigen Monaten den 3. Ent- wurf für eine Novellierung des Stiftungsrechts vor. Schon allein die Haltbarkeitsdauer der jeweiligen Entwürfe ist Beleg für die Qualität der jeweiligen Entwürfe. In der Begründung des Gesetzes heißt es: „Nach jahre- langen Diskussionen innerhalb und außerhalb des Parla- ments wurde am 14. Juli 2000 die Reform des Stiftungs- steuerrechts beschlossen. Diese Reform steht bis heute aus.“ Nun, so selbstkritisch hätte man dies seitens der F.D.P.-Fraktion gar nicht erwartet, denn als Koalitions- partner der vorherigen Regierung ist sie für den aufgelau- fenen Reformstau mit verantwortlich, den sie hier an den Pranger stellt. Die rot-grüne Bundesregierung hat bei der Verabschie- dung des Stiftungsrechtsreformgesetzes im vergangenen- Jahr weitere Schritte angekündigt. In meiner Rede bei der Verabschiedung habe ich den Gesetzentwurf der Bundes- regierung als Grundstein einer weitaus umfassenderen Reform bezeichnet. Natürlich muss insbesondere über die zivilrechtlichen Rahmenbedingungen zur Errichtung ei- ner Stiftung nachgedacht werden. Dies erfolgt auch ge- genwärtig in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wir wer- den seitens der Koalitionsfraktionen darauf aufbauend Vorschläge hierzu unterbreiten. Aber – und hier unterscheiden wir uns –, lieber Herr Kollege Otto, anders als Ihre Fraktion werden weder die rot-grüne Bundesregierung noch die Koalitionsfraktionen entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht im Abstand von weniger als zwei Jahren drei sich einan- der nahezu ausschließende Gesetzesentwürfe vorlegen, wobei der erste überhaupt nicht als Diskussionsgrundlage angesehen werden kann und die Unausgereiftheit des zweiten nur noch von der Unausgereiftheit des heute zu diskutierenden damit dritten Gesetzentwurfes übertroffen werden konnte. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, also eine große deutsche Tageszeitung, die vermutlich nicht unbedingt in dem Verdacht steht, besonders regierungsnah zu sein, hat sich mit diesem stiftungsrechtlichen Findungsprozess der F.D.P. sehr ausführlich befasst. Ohne in den Verdacht par- teipolitischer Vorfestlegung zu kommen, kann ich die „FAZ“ als Kronzeugen für den stiftungsrechtlichen Wirr- warr anrufen, den Sie hier – nun in der Version 3.0 – heute vorlegen. Überschrieben ist der Artikel mit den Worten: „Langer Weg, kurzes Adieu – Die F.D.P. verirrt sich im Stiftungsrecht“. Einen schöneren und zutreffenderen Titel hätte man kaum finden können. Im Januar 1999 hat die F.D.P. einen Entwurf vorgelegt, der zwar laut Pressemitteilung das Stiftungsrecht nicht nur reformieren, sondern revolutionieren sollte, bei den Experten aus Wirtschaft, Verbänden und Wissenschaft le- diglich beißende Kritik erntete. Losgelöst von jeder Rechtstradition sollten Stiftungen ohne jede Genehmi- gung oder Registereintragung durch einfache notarielle Beurkundung entstehen können, eine Vorstellung, die selbst den Notaren unheimlich war. Bewertung der „FAZ“: „Konzeptionslosigkeit und mangelnde Durch- dringung der Stiftungsrechtdogmatik wurde dem Entwurf vorgehalten. Man hatte halt danebengeschossen, aber was sollte es: Hauptsache, das Thema stimmte.“ Im März 2000 legte die F.D.P. einen neuen Entwurf vor. Nunmehr sollten Stiftungen nicht im Wege freier Körperschaftsbildung, sondern durch Eintragung in ein Stiftungsregister entstehen – immerhin ein Fortschritt. Dumm nur, dass die Frage, nach welchen Maßstäben und mit welcher Publizitätswirkung denn ein solches Register geführt werden sollte, aufgeworfen wurde. Vermutlich waren diese Regelungen zu kompliziert. So ließ man diese in der Vorlage des Gesetzentwurfes einfach weg. Dafür kamen andere und vor allem alles andere als li- berale Vorschläge: Ohne Begründung hieß es plötzlich, dass auf Stiftungen, die nicht rechtsfähig sind, die Vor- schriften für rechtsfähige Stiftungen entsprechend An- wendung finden. Vermutlich war es wohl wieder zu kom- pliziert oder aber die Zeit für die Wiedervorlage eines Gesetzentwurfes reichte nicht aus, eine bewährte Diffe- renzierung auch in den rechtlichen Regelungswerken fortzuschreiben. Dieser „FAZ“-Artikel fasst den Unsinn des ach-so-liberalen 2. Stiftungsrecht-Entwurfes wie folgt zusammen: „Das hatte mit Deregulierung des Stiftungs- rechts wenig zu tun. De facto kam es vielmehr einer Ab- schaffung dieser Stiftungen gleich. Immerhin waren sie in der Vergangenheit gerade wegen ihrer großen Gestal- tungsflexibilität und mangelnder staatlicher Gründungs- beteiligung so geschätzt. Erneut schrien die Fachleute auf. Doch Hauptsache, die Schlagzeilen stimmten: Mit der F.D.P. für ein liberales Stiftungsrecht! Was immer das auch heißen mochte.“ Mit der vollmundigen Ankündigung, dass eine Stär- kung der Stiftungen ein modernes Stiftungsrecht voraus- setze, welche die F.D.P. nun schaffen werde, hat die F.D.P. nun ihren heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf im letzten Monat mit großem Getöse der Presse vorge- stellt – sozusagen als dritten Versuch. Die F.D.P. wäre gut beraten gewesen, hätte sie auch auf ihre eigenen Experten gehört und sich doch etwas mehr Zeit genommen, um ihren dritten Anlauf vorzubereiten. Nun werden mit die- sem Gesetzentwurf Stiftungen gesetzlich definiert als „nichtmitgliederschaftlich organisierte juristische Perso- nen, die ein Zweckvermögen verwalten“. So weit, so gut und auch noch nicht wirklich neu. Solche juristischen Per- sonen sollen als „rechtsfähige oder nichtrechtsfähige Stif- tungen“ errichtet werden können. Fragen wir wie die „FAZ“: „Jeder Jurist fasst sich da an den Kopf: Nicht- rechtsfähige Stiftungen als juristische Personen? Wie soll das gehen?“ Fast scheint es so, dass hierbei die Entwürfe der F.D.P. etwas durcheinandergeraten sind. Ich möchte jedoch das Ordnen der Versionen der F.D.P. überlassen. Sehr geehrte Damen und Herren der F.D.P.-Fraktion, lieber Herr Otto: Die „FAZ“ schlussfolgert in ihrem Bericht über die stif- tungsrechtlichen Irrungen der F.D.P. wie folgt: „Um Pu- blicity geht es, nicht um die Sache.“ Dass man – wenn man sich denn einmal sachlich ori- entieren würde – auch Erfolg haben kann, belegt ein Blick in die heutige „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Dort heißt es, dass das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen vom 26. Juli 2000, das rück- wirkend zum 1. Januar 2000 in Kraft trat, die Rahmen- bedingungen für Stifter erheblich verbessert und zu einer Vielzahl von neuen Stiftungsgründungen geführt hat. Die „FAZ“ spricht gar von einem Stiftungsboom im Jahr 2001. Doch kommen wir, denn das ist ja das eigentliche Thema heute, zum stiftungsrechtlichen Wirrwarr der F.D.P.-Fraktion zurück. Die „Frankfurter Allgemeine Zei- tung“ beschließt ihren Artikel über die vergeblichen Mühen der F.D.P. im Stiftungsrecht mit der Feststellung, dass sich die F.D.P. mit ihrem dritten Entwurf zu einer Re- form des Stiftungszivilrechts aus der – ich zitiere wörtlich – „ernst zu nehmenden Diskussion endgültig verabschie- det hat. Schade.“ Dieser Feststellung braucht lediglich noch hinzugefügt werden, dass dies leider nicht nur den Bereich des Stif- tungsrechts betrifft. Schade, lieber Herr Kollege Otto. Alfred Hartenbach (SPD): Ziel des vorliegenden Ge- setzentwurfes ist die Stärkung der Stiftungskultur in Deutschland. Dieses Ziel wird von uns ganz ausdrücklich unterstützt. Im letzten Jahr wurden 500 Stiftungen ge- gründet und in diesem Jahr scheint sich diese Zahl noch zu erhöhen. Dies zu fördern und potenzielle Stifter stärker zu unterstützen ist erklärtes Ziel der SPD. Und wir haben schon eine große Anzahl von Maßnahmen zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements vorgelegt. Ich er- wähne hier nur den ersten Teil der Stiftungsrechtsreform, das neue Stiftungssteuerrecht. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117028 (C) (D) (A) (B) An die F.D.P.: Seit dem Regierungswechsel entwickeln Sie plötzlich einen Aktionismus, einen stiftungsrechtli- chen Eifer, obwohl Sie 16 Jahre lang Zeit hatten, das Stif- tungsrecht nach Ihren Vorstellungen zu reformieren. Man könnte es auch Übereifer nennen, da Sie heute Ihren drit- ten Gesetzentwurf zur Novellierung des Stiftungsrechts in dieser Legislaturperiode vorlegen, den dritten unüberleg- ten und konzeptionslosen. Ihren ersten Gesetzentwurf vom Januar 1999 warfen Ihnen die Länder, die Verbände und die Wirtschaft sofort um die Ohren. Der zweite An- lauf im März 2000 endete ebenfalls im Aus. Die Eintra- gung von Stiftungen in ein Stiftungsregister sollte die Lö- sung aller Probleme sein. Allerdings hatten Sie vergessen zu regeln, nach welchen Kriterien und mit welcher Publi- zität die Eintragung erfolgen sollte. Vergessen? Vielleicht nicht vergessen. Vielleicht war es Ihnen einfach zu schwierig und Sie haben es schlicht weggelassen. Doch das Thema war populär und die Liberalen sollten in den Schlagzeilen nicht fehlen. In der Tat ist das Thema Stiftungsrecht kein einfaches. Auch wir wollen bürgerschaftliches Engagement unter- stützen. Wir wollen, dass das Verfahren für Stifter verein- facht und verkürzt wird. Die Arbeitsabläufe müssen verbessert und die Beratung und Anerkennung Stiftungs- williger verstärkt werden. Wenn Verfahren durchschnitt- lich 190 Tage in Anspruch nehmen, ist das zu lang. Die Stiftungsbehörden könnten insbesondere einen schnellen Kontakt zu den Finanzämtern zur Erlangung der Gemein- nützigkeit herstellen. Dies würde Zeit sparen. Doch wir werden uns keine Schnellschüsse leisten, die wie der Ihre auf Publicity und Effekthascherei abzielen. Wir werden das Ergebnis der eingesetzten Bund-Länder- Arbeitsgruppe abwarten, die ihre Ergebnisse im Herbst dieses Jahres vorlegen wird. Im Oktober 2000 wurde mit Verbänden und Einrichtungen der Stiftungspraxis eine Anhörung durchgeführt. Im September dieses Jahres wird eine Anhörung von Sachverständigen insbesondere aus der Wirtschaft erfolgen. Danach wird die Arbeitsgruppe ihren Abschlussbericht vorlegen und erst dann werden wir die notwendigen Regelungen in einer sauberen Art und Weise erarbeiten. Dass Sie dazu nicht in der Lage sind, ha- ben Sie mit Ihrem dritten und hoffentlich letzten Versuch gezeigt. Sie wollen eine grundlegende Reform des Stiftungs- rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch. Obwohl Sie an ande- rer Stelle – der Schuldrechtsmodernisierung – das BGB als nicht anzurührendes Denkmal beschwören, wollen Sie hier eine völlige Neuregelung der Vorschriften. Sie neh- men nicht zur Kenntnis, dass das geltende Stiftungsrecht des BGB und die Stiftungsrechtspraxis funktioniert und auch die überwiegende Mehrheit der Verbände eine solch umfassende bundesgesetzliche Regelung des Stiftungs- rechts für nicht geboten hält. Dies hat auch die Anhörung im Oktober 2000 ergeben. Es geht also vielmehr um punk- tuelle Verbesserungen. Die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen verbessern aber das Stiftungsrecht nicht ein- mal punktuell. Nach Ihrem Entwurf werden Stiftungen gesetzlich als „nicht mitgliedschaftlich organisierte juristische Perso- nen, die ein Zweckvermögen verwalten“, definiert. Die Definition als solche ist nicht neu. Nur lassen Sie der De- finition den Satz folgen, dass eine Stiftung als nicht rechtsfähige und als rechtsfähige Stiftung errichtet wer- den kann. Was stellen Sie sich unter einer nicht rechts- fähigen Stiftung als juristische Person vor? Die Schwie- rigkeiten, die sich bei einer gesetzlichen Definition der Stiftung ergeben, wurden schon in der Oktober-Anhörung dargelegt und teilweise wurde davor gewarnt, ein eigenes Rechtsinstitut im Gesetz zu schaffen. Sie schlagen weiterhin vor, dass nicht nur eine, sondern auch mehrere Personen eine Stiftung gründen können, und möchten das gern unter dem Schlagwort „Bürgerstif- tung“ verkaufen. Wie revolutionär! Dass diese Revolution schon am 1. Januar 1900 erfolgt ist, nämlich mit der Ein- führung des BGB, scheint Ihnen entgangen zu sein. In Ihrem Problemaufriss zum Gesetzentwurf heißt es, dass „staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen ehema- lige Stiftungsmanager, denen rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit vorgeworfen wird, ge- eignet sind, den guten Ruf der Stiftungen in Deutschland zu beschädigen“. Soll das etwa heißen, dass die Tätigkeit für eine Stiftung strafbefreiend wirkt? Über diesen Satz sollten Sie noch einmal nachdenken. Aber nicht alles ist schlecht an Ihrem Entwurf. So halte ich zum Beispiel die von Ihnen vorgeschlagene Rechen- schaftspflicht für überlegenswert. Ich lade Sie deshalb ein, mit uns gemeinsam an der Verbesserung des materi- ellen Stiftungsrechts zu arbeiten und für eine Stärkung der Bürgergesellschaft einzutreten. Ihr Entwurf ist nicht der Weisheit letzter Schluss, ... ein erneuter lebender Flop. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Es ist zu begrüßen, dass mit dem Gesetzentwurf der Freien Demokraten konkrete Vorschläge für die Reform des Stiftungsrechts auf dem Tisch liegen, nachdem mehrfache Ansätze vergeblich waren. Dieser Entwurf hat eine Reihe von Anregungen der CDU/CSU aufgenommen. Durch diesen Gesetzentwurf wird auch die Bundesregierung daran erinnert, dass hier etwas geschehen soll. Besonders beeindruckend und zu begrüßen ist, dass in 10 Para- graphen des BGB knapp, übersichtlich und rechtlich fundiert das über 100 Jahre alte Stiftungsrecht den mo- dernen Bedürfnissen angepasst wird. Richtig ist, dass es kein eigenes Stiftungsgesetz gibt, sondern dass die Vorschriften dort im BGB bleiben, wo sie schon immer waren und aus rechtlicher Nähe zum Vereinsrecht auch hingehören. Wenn bei dem Entwurf die eine oder andere Frage noch geklärt werden muss, so ist das vom Grund- satz her unbeachtlich, denn dies wird in den Beratungen geschehen. Nach diesem Gesetzentwurf werden Stiftungen nichts Geheimes mehr sein, sie werden auch nicht von der Laune oder von dem Verständnis eines Beamten abhängen, der die Genehmigung erteilt oder nicht. Stiftungen sind zu genehmigen, wie wir es auch immer gefordert haben, wenn sie den Gesetzen nicht widersprechen. Das ist die Umkehrung: Was zählt, ist nicht die hoheitliche Genehmigung, sondern der Anspruch auf Eintragung. Sie haben ab einer gewissen Größe – ob bei 250 000 Euro, wie vorgeschlagen, ist noch zu diskutieren – entsprechend den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17029 (C) (D) (A) (B) handelsgesetzlichen Vorschriften zu bilanzieren. Die Stiftungen werden dadurch transparent sein und damit wird Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, wie die Be- gründung es richtig ausdrückt, steigen. In Deutschland ist das Stiftungsgeschäft noch immer mit einem Fragezeichen versehen, auch wenn die steuer- rechtlichen Voraussetzungen bereits verbessert wurden. Mancher Bürger glaubt, mit einem Stiftungsgeschäft ließen sich „Geschäfte“ machen und insbesondere Steuern sparen. Das ist nur bedingt richtig. Erst muss man Geld verdienen, damit man es stiften kann. Um ein sim- ples Beispiel zu nennen: Wenn der Stifter 10 000 DM stiften will, muss er diese erst verdient haben. Beim un- terstellten Steuersatz um 50 Prozent muss er für diese ges- tifteten 10 000 DM keine 5 000 DM Steuern zahlen. Noch simpler ausgedrückt: Wenn der Stifter die 10 000 DM nicht gestiftet hätte, dann hätte er in seiner Geldbörse nicht 10 000 DM mehr, aber immerhin 5 000 DM mehr. Dies wird oft übersehen, wenn Stiftungen durchgeführt werden, weil oft nur die 5 000 DM Steuerersparnis gese- hen werden, aber nicht das Hergeben von 5 000 DM für den Stiftungszweck. Ohne auf die steuerrechtlichen Einzelheiten einzugehen, können im Grundsatz bis zu 40 000 DM jährlich gestiftet werden. Ganz wichtig ist, dass die Stiftungen in Zukunft un- kompliziert errichtet werden können und dass dies in einem Rechtsakt geschieht. Ich erinnere an Hürden, die in anderen Gesetzen vorgesehen waren, auch an frühere ir- rige F.D.P.-Überlegungen. Dazu hat sich der Kollege Rawert vor Wochen in der „FAZ“ polemisch ausgelassen. Wer nur den ersten Absatz seiner Ausführungen gelesen hat, meint, dass entsprechend dem F.D.P-Entwurf der no- tarielle Rechtsakt für eine Stiftung immer noch notwendig sei. Wenn es auch keine Genehmigung im bisherigen Sinne geben soll, so ist durch die Eintragungsvorausset- zungen zur Entstehung einer rechtsfähigen Stiftung eine gewisse Kontrolle da, die gegebenenfalls unüberlegte Stiftungen oder auch Stiftungen, die den Gesetzen wider- sprechen, verhindern kann. Es entzieht sich derzeit noch meiner Kenntnis, warum die Freien Demokraten in ihrem Entwurf eine nicht rechtsfähige Stiftung ermöglichen wollen. Dazu besteht meines Erachtens kein Anlass und es widerspricht auch der Absicht, Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. Überflüssig, weil sein 100 Jahren möglich, aber als Hinweis nützlich ist, dass Stiftungen auch durch mehrere Personen, gegebenenfalls auch durch juristische Perso- nen, errichtet werden können. Das Schlagwort Bürger- stiftung steckt dahinter; aber es muss deutlich gemacht werden, dass es keine Stiftungsmitglieder gibt, sondern höchstens berechtigte Destinatäre und dass mehrere Bürger, die eine Stiftung errichten, keine Einzelberechti- gungen haben. Klargestellt ist im Entwurf, dass nicht nur gemein- nützige Stiftungen errichtet werden können, sondern auch Stiftungen zu jedem Zweck; die Familienstiftung ist aus- drücklich aufgeführt. Zur Klarheit müssten – das sollte auch für bestehende Stiftungen mit einer Übergangsfrist gelten – die Stiftungstitel präzisiert werden, zum Beispiel Familienstiftung, Unternehmensstiftung um sie klar von den gemeinnützigen Stiftungen zu unterscheiden. Stifter müssen dabei aber beachten, dass sie steuerrechtlich weniger oder nicht begünstig werden. So können Erben und Erbeserben auf Dauer der Zugriff auf das Vermögen verwehrt bleiben und auf die Erträge beschränkt werden. Dabei ist zu beachten, dass in solchen Stiftungen unter Umständen die erbschaftssteuerliche Erfassung alle 30 Jahre erfolgt. Der Entwurf sollte auch die Zustimmung der Länder finden können, weil klargestellt ist, dass die Länder wie bisher individuell die Stiftungshoheit haben und dass sie Behören und Gremien bestimmen können, die die Rechts- fähigkeit der Stiftung sozusagen durch Eintragung fest- stellen. Stiftungsgesetze der Länder, die in ausreichendem Umfang existieren, sollten wie bisher die BGB-Bestim- mung als Rahmen nutzen können, um eigene Vorstellun- gen zu verwirklichen, weil es gerade bei Stiftungen zwar ein rechtlich einheitliches Korsett, aber keinen Einheits- brei bei der Ausfüllung geben darf. Ich hoffe, dass damit auch die immer wieder herumgeisternden Stiftungskam- mern, die einen unnötigen bürokratischen Aufwand verur- sachen, vom Tisch sind. Wir leiden schon jetzt an den Kammersystemen, die oft als Staat im Staate auftreten und manchmal reine Selbst- befriedigungsbehörden darstellen. Ich habe bei einer Be- ratung im letzten Jahr gesagt: Ich bin nur dann für Stiftungskammern, wenn ich deren erster Präsident werde. – Scherz beiseite, wir sollten keine neuen Gremien fordern und wir sollten den Ländern ihre zum Teil her- vorragend funktionierende Praxis belassen. In Baden- Württemberg sind die Regierungspräsidien zuständig. Das hat sich bewährt, weil eine quasi staatliche Kontrolle sinnvoll ist, wenn sie schnell, zweckmäßig und an der Sache orientiert ist. Da, wo sich bei einzelnen Bundesländern Mängel bei der Verwirklichung gezeigt haben – es soll so genannte Verhinderungsbehörden bei Genehmigungen von Stiftun- gen geben –, ist es Aufgabe der Landtage, für Ordnung zu sorgen und gegebenenfalls die Kompetenzen an andere Behörden zu übertragen, um Stifter durch schikanöse Be- handlung nicht im Vorfeld abzuschrecken. Stiftungen selbst können naturgemäß nur dann funk- tionieren, wenn auch die steuerliche Begleitung, sprich: die Entlastung des Stifters, damit einhergehen. Auch da sollten klare und verständliche Vorgaben Wegbereiter für den Stiftungswillen sein, wobei die derzeitigen Grenzen nur Ansatz und Anfang sein können. Wir alle wollen, dass private Stiftungen bei Kunst, Kultur, bei sozialer Notwendigkeit der Jugendpflege, bei der Altenpflege, aber auch bei der Integration von Ausländern oder Ge- strauchelten Aufgaben wahrnehmen, die der Staat nicht mehr wahrnehmen kann oder nicht wahrnehmen soll. So werden schon jetzt Stiftungsprofessuren übernommen und Theatern, Opern – Beispiel Deutsche Oper Unter den Linden – oder Freilichttheatern wird das Überleben nur durch Stiftungen ermöglicht. Durch die Veröffentlichung entsprechend den handels- gesetzlichen Vorschriften ist in einem gewissen Umfang eine Kontrolle gegeben, damit mit den Stiftungsgeldern nicht manipuliert wird. Wenn schon die steuerrechtliche Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117030 (C) (D) (A) (B) privilegierte Stiftung sozusagen mit öffentlichen oder halböffentlichen Geldern wirtschaftet, dann sind Sinn und Zweck der Stiftung klar auszudrücken und zuweilen ist der Geldfluss zu überprüfen. So dürfen gemeinnützige Stiftungen nicht zu lukrativen Posten von abgeschobenen Vorständen oder Aufsichtsratsmitgliedern von Firmen missbraucht werden. Privaten Interessen oder Hobbys der Stifter kann nicht steuervergünstigt nachgegangen wer- den. Andererseits darf es aber auch nicht sein, dass der Stifterwille durch steuerrechtliche oder sonstige Vor- schriften so eingeschränkt wird, dass er verfälscht wird, weil ein zuständiger Beamter einen anderen Kunst- geschmack oder eine andere Vorstellung von sozialer Un- terstützung hat. Hier gilt das Primat des Stifterwillens bei weiter Auslegung der steuerlichen Kriterien. Vernünftig ist auch, dass die neuen §§ 80 bis 88 BGB mit einer Übergangsfrist für die derzeit bestehenden rechtsfähigen Stiftungen gelten, damit in kurzer Zeit ein einheitliches Stiftungsrecht besteht. Wir sollten diesen Gesetzentwurf zügig beraten, mit einigen Verbesserungen verabschieden und dann ebenso zügig den zweiten Teil, die steuerrechtlichen Begleitgesetze entsprechend den Vorschlägen der CDU/CSU, auf den Tisch legen und ebenfalls verabschieden. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Verlaub, liebe Kollegen von der F.D.P., aber über Ihren neuesten Entwurf zur Reform des Stiftungsrechts kann ich nur den Kopf schütteln! Es reicht nicht, sich in Einleitung und Begründung des Entwurfs über die man- gelnden Qualitäten des derzeitigen Stiftungsrechts und die große Gefahr des Missbrauchs von Stiftungen zu be- schweren. Ein Gesetzentwurf verlangt auch eine entspre- chend gute Lösung. Ihr Entwurf bringt keine Lösung, im Gegenteil: Er wirft neue Probleme auf. Nach Ihren Vor- stellungen würde das Stiftungsrecht nicht einfacher, nicht transparenter und ganz sicher nicht missbrauchsfester. Aber sehen wir uns die Vorschläge im Einzelnen an: Erstens. Stiftungszweck: In dem Entwurf ist jeder rechtmäßige Zweck zur Gründung einer Stiftung erlaubt. Wie soll aber ein Missbrauch verhindert werden, wenn es zum Beispiel weiterhin möglich ist, eine Stiftung allein zum Erhalt eines Unternehmens zu gründen? Diese Art von Stiftung, die einem Unternehmen verbunden ist, des- sen Einnahmen nicht zur Erfüllung des Stiftungszwecks dienen, ist doch gerade diejenige Form von Stiftung, die diese Organisationsform in Verruf bringt, wie es im Vor- wort so ernsthaft angemahnt wird. Echte Stiftungen, wie sie beispielsweise im Entwurf von Bündnis 90/Die Grü- nen von 1997 geregelt sind, zeichnen sich durch ihre Pri- vilegien in der Besteuerung aus. Warum sollten die oben genannte spezielle Form der unternehmensverbundenen Stiftung oder die Stiftung, die ausschließlich dem Unter- halt eines bestimmten Nutznießerkreises gewidmet sind, steuerlich begünstigt werden? In der Begründung heißt es, dass nun ausdrücklich auch die Stiftungen mit mehreren Stiftern – Bürgerstif- tungen also – möglich sind. Dies ist aber schon seit In- Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuches möglich. Das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stif- tungen, das letztes Jahr unter erheblicher Beteiligung der Grünen in Kraft getreten ist, hat allerdings die Bürgerstif- tung durch die Neuregelung des Sonderausgabenabzugs erst wirklich möglich gemacht. Zweitens. Der Gesetzentwurf ist in Teilen selbst für ei- nen Laien überaus unpräzise: Erst wird die Stiftung als nicht mitgliedschaftlich organisierte juristische Personen definiert; dann heißt es, solche juristischen Personen kön- nen als rechtsfähige oder nicht rechtsfähige Stiftungen er- richtet werden. Allerdings gibt es keine nicht rechtsfähi- gen juristischen Personen. Zur Entstehung einer Stiftung genügt nach diesem Entwurf die Registrierung. Dass dazu auch noch ein Stiftungsgeschäft notwendig ist, bleibt ganz unerwähnt. Drittens. Zwar spricht der Entwurf von der notwendi- gen Eintragung in ein Stiftungsregister; aber detaillierte Angaben zur Einrichtung eines solchen Registers lassen sich nicht finden. Die angekündigte Verhinderung von Missbrauch, die gerade durch eine sinnvolle Regelung im Zusammenhang mit dem Registereintrag entscheidend beeinflusst werden könnte, wird hier vollständig vernach- lässigt. Viertens. Die hemmenden bürokratischen Strukturen der derzeitigen Regelungen im Stiftungsrecht, die in der unzureichenden Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch und in der Uneinheitlichkeit der Behandlung der Stifter in den Ländern zu suchen sind, werden durch diesen Ent- wurf der F.D.P. nicht aufgelöst, sondern nur durch andere ersetzt. Auf der anderen Seite nimmt der vorliegende Entwurf viele Punkte des bündnisgrünen Entwurfs von 1997 auf, setzt sie aber nur unzureichend um. Nach unserer Vorstel- lung geht es doch bei einer zivilrechtlichen Stiftungsre- form um Folgendes: Erstens. Einfachheit: Dabei kann es sich nicht simpel um die Formel „alles sei erlaubt“ handeln, wie in dem vor- liegenden Entwurf der F.D.P. Stattdessen muss man sich der bestehenden Unübersichtlichkeit und Uneinheitlich- keit der Gepflogenheiten bei der Stiftungserrichtung an- nehmen und diese neu regeln. Zweitens. Transparenz: Es ist doch kein Fortschritt in Richtung Transparenz, noch mehr Arten von Stiftungen zu genehmigen und davon nur bestimmten die Pflicht der Rechnungslegung aufzuerlegen. Transparenz kann nur durch ein bundeseinheitliches Stiftungsregister mit ein- heitlichen Angaben und einer allgemeingültigen Rege- lung zur Rechnungslegung sein. Drittens. Verhinderung von Missbrauch: Jetzt muss einmal klar festgelegt werden, welche Organisationsform den Namen Stiftung verdient und welche nicht. Der Miss- brauch ist dort anzutreffen, wo nicht das im weitesten Sinne gemeinnützige Anliegen, sondern schnöde Steuer- ersparnis den Stiftungszweck darstellt. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab. Was gegenüber unseren Vorschlägen neu an ihm ist, ist unvollständig, in- konsequent und stellt das Stiftungsrecht – ganz anders als es im Vorwort heißt – eben nicht auf eine „neue qua- litative und quantitative Stufe“. Da haben wir schon Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17031 (C) (D) (A) (B) bedeutend bessere Vorschläge gemacht. Ich bin dafür, dass wir uns ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen, wie es die Regierungskoalition jetzt schon tut, damit wir nicht einen derart ungaren Vorschlag akzeptieren müssen, der nur dazu führt, dass wir in einem halben Jahr alles wieder neu regeln müssen. Rainer Funke (F.D.P.): Vor bald einem Jahr, am 14. Juli 2000, wurde in diesem Hause die Reform des Stif- tungssteuerrechts beschlossen. Mithilfe der B-Länder im Bundesrat ist – das gebe ich gerne zu – ein respektables Ergebnis herausgekommen, auch wenn einige steuerrecht- liche Probleme – zum Beispiel die Zulässigkeit des so ge- nannten „Endowments“ – weiter ihrer Lösung harren. Mit der Änderung des Stiftungssteuerrechts wurde aber nur die eine Hälfte der notwendigen Reform des Stif- tungsrechts umgesetzt. Seit einem Jahr warten wir nun auf den zweiten Teil der Reform. Die Diskussionen um die- sen zweiten Schritt sind in der Zwischenzeit zum Erliegen gekommen; das Thema ist von der politischen Bildfläche verschwunden und dies, obwohl bei Parteien und Verbän- den Übereinstimmung darüber herrscht, dass die Novel- lierung von Stiftungssteuerrecht und Stiftungszivilrecht zwei komplementäre Elemente eines Reformvorhabens sind und dass dem vollzogenen ersten Schritt nun der zweite folgen muss. Bereits im Dezember vergangenen Jahres haben wir die Bundesregierung ohne befriedigende Antwort nach den Gründen für die Aufschiebung der Novellierung des Stiftungszivilrechts gefragt. Was ist aus der vom BMJ ein- gesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe geworden? Wo bleiben die Ergebnisse? Die F.D.P. findet: Es ist genug Zeit verstrichen. Wir legen Ihnen deshalb heute einen Vorschlag für ein neues Stiftungszivilrecht vor, der vor allem eines will: Die Errichtung von Stiftungen vereinfachen und die Transpa- renz der Stiftungsarbeit erhöhen. Es geht aber auch noch um anderes: Die Liberalen wol- len die öffentliche Diskussion über die Reform des Stif- tungszivilrechts wieder in Gang setzen. Deutschland braucht ein Stiftungsrecht, das zum Stiften anregt und nicht durch zu viele bürokratische Hürden abstößt. Dieje- nigen, die sich bereits entschlossen haben, Stifter zu wer- den, muss eine deregulierte Stiftungsaufsicht effizienter unterstützen. Nun hat unser Entwurf in der Öffentlichkeit bereits vereinzelt negative Reaktionen ausgelöst. Ich sage hier nur so viel dazu: Wir haben auch jede Menge Zustimmung erfahren. Wenn der deutsche Kulturrat, der Bundesver- band der Deutschen Stiftungen und das Maecenata-Insti- tut unsere Initiative unterstützen, so kann die F.D.P. mit parteipolitisch instrumentalisierten Missmutsäußerungen leben. Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Dass der F.D.P.-Gesetzentwurf so nicht Gesetz wird, ist uns klar. Gesetzgebungsverfahren haben es so an sich, dass in ihrem Verlauf noch vieles geändert oder ergänzt wird. Das haben Sie, meine Damen und Herren von den Regie- rungskoalitionen, gerade mit ihrem eigenen Gesetzent- wurf zu einer weiteren Förderung des Stiftungsteuerrechts im vergangenen Jahr in eindrucksvoller Weise selbst er- lebt. Betrachten Sie unseren Vorschlag daher als Grundlage für eine fraktionsübergreifende Lösung! Lassen Sie uns über den richtigen Weg und die richtigen Mittel streiten! Denn das Thema ist viel zu wichtig, als das es in partei- politischen Grabenkämpfen ausgefochten und zerredet werden sollte. Niemand wird sich zum Stiften animiert führen, wenn er den Eindruck gewinnt, selbst die Fraktio- nen des Deutschen Bundestages können sich nicht auf ei- nen vernünftigen Entwurf einigen. Heinrich Fink (PDS): Die PDS unterstützt das Anlie- gen der F.D.P., mit ihrem Gesetzentwurf nun endlich auch bei der Reformierung der zivilrechtlichen Rahmenbedin- gungen des Stiftungswesens ein zügigeres Tempo vorzu- legen. Allerdings war mit der Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe abzusehen, dass greifbare Ergebnisse nicht so schnell auf dem Tisch liegen würden. Noch bedenklicher ist allerdings, dass für die Bundes- regierung die Notwendigkeit von Änderungen der zivil- rechtlichen Rahmenbedingungen offenbar noch keines- wegs feststeht. Denn laut einer Antwort auf eine entsprechende Anfrage der F.D.P. – Bundestagsdrucksa- che 14/5055 – will sie nur „gegebenenfalls“ in dieser Sa- che initiativ werden. Dieser Vorbehalt steht meines Er- achtens im eklatanten Widerspruch zur eindeutigen Tendenz in der bisherigen Debatte, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments. Alle Parteien, einschließ- lich die Regierungskoalition, waren sich einig, dass neue zivilrechtliche Rahmenbedingungen unerlässlich sind. Beim erreichten Stand der Debatte kann es sich also nur um die Frage handeln, welche Veränderungen am zweck- mäßigsten sind, nicht aber, ob Veränderungen überhaupt nötig sind. Die PDS erwartet also nicht „gegebenenfalls“, sondern auf jeden Fall eine Gesetzesinitiative der Bundesregie- rung zu einer Reform des Stiftungszivilrechts. Die große Mehrheit meiner Fraktion hatte den erweiterten steuerli- chen Begünstigungen für Stifter und Stiftungen nur im Vertrauen darauf zugestimmt, dass diese Vergünstigungen durch entsprechende zivilgesetzliche Regelungen eine stärkere zivilgesellschaftliche und demokratische Grund- lage erhalten. Bei diesen Regelungen muss es aus meiner Sicht da- rum gehen das Stiftungswesen von bürokratischen Hem- mnissen zu befreien und ihm wesentlich mehr Rechtssi- cherheit, Transparenz und Öffentlichkeit zu verleihen, als das jetzt der Fall ist. Die zivilrechtlichen Rahmenbedin- gungen müssen so ausgestaltet sein, dass sie neben der steuerlichen Stimulierung einen eigenständigen Motivati- onsschub für potenzielle Stifter auslösen. Schließlich will ich nicht verhehlen, dass wir von den zukünftigen Rege- lungen auch einen wirksamen Schutz vor Missbrauch des Stiftungsrechts für privatnützige oder wirtschaftliche In- teressen erwarten. Der vorliegende Gesetzentwurf der F.D.P. ist geeignet, in diese Richtung zu wirken. Dies erreicht er nicht zuletzt Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117032 (C) (D) (A) (B) dadurch, dass er im Vergleich zum Gesetzentwurf von 1999 wichtige Elemente der seitherigen Debatte aufge- griffen hat, die auch von der PDS nachdrücklich unter- stützt wurden. Dazu gehören vor allem die Eintragung in das Stif- tungsregister als Voraussetzung für die Entstehung der Rechtsfähigkeit einer Stiftung und – unter bestimmten Voraussetzungen – die Erstellung von Jahreabschlüssen. Wie ich den Umstand zu interpretieren habe, dass im Artikel zum Stiftungszweck das Recht von Stiftungen, Unternehmen zu betreiben oder sich an Unternehmen zu beteiligen, nun nicht mehr erscheint, weiß ich noch nicht so recht. Aber ich denke, hier wird mich Herr Otto in be- währter kollegialer Weise im Ausschuss aufklären. Mir je- denfalls wäre es sehr sympathisch, wenn solcherart unter- nehmensverbundene Stiftungen außen vor blieben. In einigen Punkten befriedigt der vorliegende Entwurf allerdings nicht. Auf zwei Elemente will ich kurz hinwei- sen: Nach wie vor halte ich es für eine gute Idee, den Be- griff der „Stiftung“ ausschließlich für die steuerbegüns- tigte gemeinnützige Stiftung zu reservieren und sie so von den verschiedenen Formen von Privatstiftungen abzu- grenzen. Dies würde die Akzeptanz dieser Institution in der Bevölkerung deutlich erhöhen. Meines Erachtens ist ein Jahresabschluss nach den Vor- schriften des Handelsgesetzbuches nicht ausreichend, um der Forderung nach größtmöglicher Transparenz und Öf- fentlichkeit hinreichend Rechnung zu tragen. Wichtig ist doch vor allem ein jährlicher Finanz- und Tätigkeitsbe- richt, der für die betroffene und interessierte Öffentlich- keit übersichtlich, verständlich und zugänglich ist. Ich sehe auch nicht ein, warum eine solche öffentliche Re- chenschaft erst bei Einnahmen oder Ausgaben von über 250 000 Euro beginnen soll. Schließlich will ich angesichts des vorliegenden Ge- setzentwurfes nachdrücklich daran erinnern, dass in eine umfassende Reform des Stiftungswesens auch das ge- samte Gemeinnützigkeitsrecht einbezogen werden muss. Von den vielen Aspekten, die dabei zu berücksichtigen sind, will ich nur einen hervorheben: In einen zukünftigen Katalog von gemeinnützigen Zwecken müssten auch sol- che Zwecke aufgenommen werden wie Überwindung der Arbeitslosigkeit, Gewährleistung von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern, die Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung in allen gesellschaftlichen Be- reichen sowie Aktivitäten, die darauf gerichtet sind, mi- litärische Gewalt nicht mehr als Mittel innerer und äuße- rer Politik zuzulassen. Eine solche Ausdehnung der Tätigkeitsfelder würde die Stiftungen noch stärker in der Gesellschaft verankern und ihnen zu noch größerer Wirksamkeit verhelfen. Das ist ja wohl das hauptsächliche Ziel der von uns allen an- gestrebten Reform. Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Die F.D.P. beabsichtigt, „die Stiftungskultur in Deutschland auf eine neue Stufe der Qualität und Quantität zu heben“ – so die Drucksache. Dieses Anliegen kann ich unterstützen. Die Stiftungs- kultur in Deutschland bedarf der Förderung. Aber die Um- setzung dieses Anliegens im vorliegenden Gesetzentwurf verdient keinerlei Unterstützung. Der Gesetzentwurf bie- tet nichts, um der Stiftungskultur tatsächlich Impulse zu verleihen. Zur Erinnerung: Die Mehrheit des Hauses hat die steuerlichen Voraussetzungen für die Stiftungen be- reits verbessert. Nun sind wir dabei, auf einer soliden Grundlage zu prüfen, ob auch im Bereich des materiellen Stiftungsrechts Reformbedarf besteht. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Für das Stiftungs- wesen können wir nur dann etwas bewirken, wenn die Diskussion auf eine sachliche Grundlage gestellt wird. Weder schlagwortartige Pauschalurteile noch Aktionis- mus bringen in der Sache einen Nutzen. Eher schadet es dem Stiftungswesen, wenn wir uns nicht ernsthaft mit den anstehenden rechtlichen und ordnungspolitischen Fragen auseinander setzen. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht, die seit Juni vergangenen Jahres unter Leitung des Bundes- ministeriums der Justiz alle diese Fragen rechtstatsächlich untersucht und aufbereitet und den Sachverstand von Ver- bänden und Einrichtungen der Stiftungspraxis sowie von Sachverständigen in ihre Arbeit einfließen lässt, wird bald ihren Abschlussbericht vorlegen. Damit wird eine Basis für sinnvolle gesetzgeberische Überlegungen geschaffen. Ich will einige Punkte aus dem F.D.P.-Entwurf heraus- greifen: Er sieht beispielsweise vor, dass Stiftungen künf- tig nicht durch Genehmigung, sondern durch Eintragung in ein Stiftungsregister Rechtsfähigkeit erlangen sollen. Das „umständliche Genehmigungsverfahren“ müsse ab- geschafft werden. Bei genauer Betrachtung fällt jedoch sofort auf: In einem Registrierungsverfahren müssten die gleichen Voraussetzungen für eine Stiftungserrichtung wie im Genehmigungsverfahren geprüft werden. Ich verweise auf § 82 BGB des Gesetzentwurfs. Dort werden die Anforderungen an eine Stiftungssatzung zwin- gend vorgegeben. Nur wenn diese Anforderungen erfüllt sind, ist die Stiftung durch die Behörde in das Stiftungs- register einzutragen, um mit diesem hoheitlichen Akt Rechtspersönlichkeit zu erlangen. Die in Ihrem Entwurf genannten Anforderungen an eine Stiftungssatzung sind die gleichen, die in den Landesgesetzen fast einheitlich bereits geltendes Recht für die Satzungsanforderungen und damit auch für die Genehmigung sind. Wo soll der Vorteil des Entwurfs liegen? In § 81 BGB wird vorgeschlagen, dass eine Stiftung zu jedem rechtmäßigen Zweck errichtet werden darf. Das ist bereits geltende Rechtslage. In § 84 BGB des Gesetzent- wurfs schlagen Sie vor, dass rechtsfähige Stiftungen der Rechtsaufsicht unterstehen. Auch das ist bereits beste- hende Rechtslage. Niemand beabsichtigt, daran zu rüt- teln. Für Stiftungen, deren jährliche Einnahmen oder Aus- gaben 250 000 Euro übersteigen, wird in § 86 BGB die Pflicht zur Erstellung eines Jahresabschlusses vorge- schlagen. Das ist zunächst einmal keine Vereinfachung des Stiftungsrechts, sondern belastet Stiftungen mit einer weiteren Pflicht. Ich stimme dem Anliegen des Gesetz- entwurfes aber insoweit zu, dass es durchaus sinnvoll ist, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17033 (C) (D) (A) (B) zur Rechnungslegungspublizität weitere Überlegungen anzustellen. Eine Insellösung ist jedoch abzulehnen. In einem Kommentar zum heute vorliegenden F.D.P.- Gesetzentwurf in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 24. April 2001 hat Professor Rawert, der wahrlich nicht als Verteidiger des geltenden Stiftungszivilrechts gilt, der F.D.P. bedauernd bescheinigt, dass sie sich mit diesem Entwurf „aus der ernst zu nehmenden Diskussion endgültig verschiedet“ habe. Gleichwohl lade ich Sie wie auch die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktio- nen ein, auf der Grundlage des Abschlussberichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe darüber zu sprechen, welche gesetzlichen Regelungen und Änderungen erforderlich sind, um dem Stiftungsalltag zu nutzen und dem Stif- tungswesen tatsächlich Impulse zu geben, was durch ge- eignete Verwaltungsmaßnahmen verbessert werden kann. Der vorliegende Gesetzentwurf der F.D.P. leistet jeden- falls dazu keinen geeigneten Beitrag und kann deshalb keine Zustimmung finden. Meines Erachtens muss das Ziel all unserer Überle- gungen sein, Menschen zur Errichtung von Stiftungen zu ermuntern. Das können Maßnahmen sein, die bürokrati- sche Abläufe vereinfachen. Das kann mehr Beratung be- deuten, möglicherweise auch eine entsprechende Ver- pflichtung der Behörden. Auch das Zusammenwirken der Behörden, wie zwischen Aufsichts- und Finanzverwal- tung, kann verbessert werden. Insgesamt wollen wir dahin gehend eine Klimaände- rung bewirken, dass Stiftungswillige nicht als Belästi- gung, sondern als willkommene Unterstützer des Ge- meinwohls behandelt werden. Bürgerengagement bedarf dort der Unterstützung durch die staatlichen Institutionen, wo es sich im allgemeinen Interesse entfaltet. Aus der Sicht der Bundesregierung bedarf es keiner grundsätzli- chen Umwälzung des materiellen Stiftungsrechts, mag es auch in Einzelfragen Diskussionsbedarf geben. Insgesamt muss es mehr Service geben. Die Bundesregierung ist zu einer vorurteilsfreien, konstruktiven Diskussion bereit. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Unterrichtung: Lebenslagen in Deutschland; Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundes- regierung – Antrag: Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtumsbericht ziehen (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Nun liegt er uns also vor, der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundes- regierung. Nach der ersten Lektüre habe ich spontan über- legt, ob ich nicht meine alte Rede, die ich zur Einführung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung gehalten habe, nochmals vortrage. Sie wäre immer noch aktuell. Wirklich Neues ist nicht zutage getreten. Es fängt bei der Definition der Armut an. Selbst die Autoren dieses Be- richts können sich nicht auf eine Definition einigen, was denn nun arm ist. Ist es derjenige, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient? Das wäre die wissenschaftliche Definition. Dann wären die jetzt Ar- men aber immer noch arm, selbst wenn auf einen Schlag jeder das Doppelte bekäme. Oder ist derjenige arm, der So- zialhilfe bezieht? Hier sagt der Bericht – völlig zu Recht –, dass Sozialhilfebezug fälschlicherweise mit Armut gleich- gesetzt wird. Wir wussten bereits vor dem Bericht, dass es für Fami- lien mit Kindern in unteren Einkommensregionen sehr schwer ist, mit dem Familieneinkommen zurechtzukom- men. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregie- rung zuletzt auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. Das Gleiche betrifft allein erziehende Frauen. Um dies festzustellen, brauchte es diesen Bericht nicht, der ja die Grundlage für Entscheidungen sein soll. Sie haben ledig- lich Ressourcen und Zeit verschwendet. Auch die Erkenntnis, dass ein höheres Bildungsniveau tendenziell in der Lage ist, vor Armut zu schützen, brauchte ich mir nicht erst aus dem Bericht zu erlesen. Sie liegt auf der Hand. Aber wenn dieser Bericht der Bil- dungsministerin – laut Organisationsplan der Bundesre- gierung gibt es sie, glaube ich, noch – auf die Sprünge hilft, soll es mir recht sein. Ich bin allerdings der Ansicht, dass man an die Reform unseres Bildungswesens schon lange hätte herangehen können. Wo sind denn Investitio- nen in die Bildung? Und wo ist Ihr Konzept? Meine ver- ehrte Kollegin Cornelia Pieper ist sicherlich gern behilf- lich, wenn Sie nicht weiter wissen. Die schönste Feststellung des Berichts ist aber – und da war ich richtig froh –, dass der beste Schutz gegen Armut ein Arbeitsplatz ist. Das habe ich bereits am 27. Januar des letzten Jahres gesagt. Ich bin richtig erleichtert, dass meine damalige kühne Behauptung jetzt wissenschaftlich und amtlich bestätigt ist. Ich hatte zwischenzeitlich Bedenken, dass es nicht so sei. Diese Bedenken kommen mir immer dann, wenn ich mir die Gesetzgebung der Koalition so anschaue. Sie hat gleich zu Beginn ihrer Amtszeit die beschäftigungswirk- samen Reformen der alten Bundesregierung – Stichwort: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Schwellenwerte im Kündigungsschutz – zurückgenommen. Sie hat dann folgend eine Attacke auf die Existenzgründer mit ihren Gesetzen zur so genannten Scheinselbstständigkeit gefah- ren. Dabei stellt der Bericht fest, dass es die Selbstständi- gen sind, die die Arbeitsplätze schaffen. Gleichzeitig mit der Scheinselbstständigkeit hat sie die 630-DM-Jobs vernichtet. Paradoxerweise sind das gerade die Jobs, mit denen die Familienväter in den unteren Ein- kommensgruppen durch Zeitungsaustragen das kleine Fa- milieneinkommen etwas aufgebessert haben. Das steht auch im Bericht. Sehr konsequent ist diese Vorgehens- weise nicht. Nach den 630-DM-Jobs hat die Koalition den Mittel- stand mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit überfal- len. Den Ansatz, neue Jobs durch Teilzeitarbeit schaffen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117034 (C) (D) (A) (B) zu wollen, finden ja auch wir gut. Nur wollen wir die Teil- zeit fördern und nicht verordnen. Die Koalition wird auch keine sehr guten Argumente mehr für die Teilzeit bringen können, solange sie die Teilzeitbeschäftigten nicht antei- lig ihrer Arbeitszeit für die Berechnung der Größe der Be- triebsräte heranzieht, sondern weiterhin einfach die Köpfe zählt. So wird der Mittelstand – aus gutem Grund – alles daransetzen, Teilzeitarbeit zu verhindern. Mehr Men- schen in Beschäftigung bringen und damit aus der Ar- beitslosen- oder Sozialhilfe holen wird die Koalition mit dieser Vorgehensweise nicht. Zeitgleich mit dem Teilzeitverordnungsgesetz hat sie die Möglichkeit, einen Arbeitsvertrag zu befristen, erheb- lich beschränkt. Es scheint also unterschiedliche Arten von Arbeitsplätzen zu geben: diejenigen, die vor Armut schützen, – das sind offensichtlich die unbefristeten –, und die Arbeitsplätze, die nicht vor Armut schützen, also die befristeten. Der Bericht stellt dazu sehr richtig fest, dass ein befristeter Arbeitsplatz vielfach eine Brücke zu einem festen Arbeitsverhältnis ist. Dem möchte ich mich an- schließen. Der absolute Höhepunkt in der Reihe dieser Gesetzge- bungsverfahren wird derzeit beraten: das Betriebsverfas- sungsgesetz. Ich prophezeie, dass auch diese Reform nicht dazu beitragen wird, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ich befürchte vielmehr, dass es zu einem Arbeitsplatzab- bau kommt und damit mehr Menschen einem Risiko rela- tiver Armut ausgesetzt werden. Der Mittelstand wird seine Belegschaften entsprechend den von der Koalition aufgeblähten Schwellenwerten für Betriebsratsgrößen und Freistellungen anpassen. Ich habe es schon im letzten Jahr gesagt: Die Koalition muss handeln. Sie muss den Arbeitsmarkt deregulieren und flexibilisieren. Sie muss die Wirtschaft von Steuerlas- ten und Bürokratiekosten entlasten. Damit schafft sie Arbeitsplätze. Damit wird die relative Armut verringert. Aber sie hat sich für einen anderen Weg entschieden. Dieser Weg wird „Umverteilung“ heißen. Deshalb wollte sie ja auch einen Reichtumsbericht. Dieter Schulte, Vor- sitzender einer Organisation, die so reich ist, dass sie der Koalition 8 Millionen DM für den Bundestagswahlkampf geben kann, sieht ja durch den Bericht bereits einen An- lass zur Umverteilung – und das, obwohl der Reichtum tendenziell gleichmäßiger verteilt ist. Beispiel Immobi- lien: In 1962 hatten nur 31 Prozent der Haushalte Immo- bilienbesitz. 1998 hatten 51 Prozent der Arbeitnehmer und 44 Prozent der Nichterwerbstätigen ihr eigenes Häus- chen oder ihre Wohnung. 5 Prozent der Steuerzahler zah- len bereits 40 Prozent des gesamten Aufkommens der Einkommensteuer. Da kann man nicht mehr davon spre- chen, dass noch Spielraum zur Umverteilung vorhanden ist. Sie findet doch bereits statt. Die Koalition sollte sich auf ihre Aufgaben konzen- trieren und sich endlich um die Bildung kümmern. Sie sollte sich der Familien annehmen und es mit einer Arbeitsgesetzgebung versuchen, die zumindest keine Ar- beitsplätze gefährdet. Das sind die Erkenntnisse, die die- Koalition aus diesem ersten Armuts- und Reichtumsbe- richt gewonnen haben sollte. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge – Die deutsch-französischen Beziehungen neu be- gründen – Die deutsch-französischen Beziehungen mit Leben erfüllen (Tagesordnungspunkt 11 und Zusatztagesordnungs- punkt 9) Gernot Erler (SPD): Mit ihrem Antrag unter dem Ti- tel „Die deutsch-französischen Beziehungen neu begrü- nen“ versucht die CDU/CSU-Fraktion, einen falschen Eindruck zu erwecken – nämlich den, dass es schlecht stehe um das Verhältnis zwischen Paris und Berlin und zwischen unseren beiden Gesellschaften. Das Gegenteil ist der Fall. Der politische und bürgerschaftliche Aus- tausch zwischen Deutschland und Frankreich war noch nie so intensiv wie heute. Deutsche und französische Spit- zenpolitiker sind sich noch nie in so dichter Folge begeg- net wie in diesen Zeiten. Und, verehrte Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses, es gibt keinen Grund für Ihr Naserümpfen über die Begegnungen im so genannten Blaesheim-Format. Sie haben den Sinn dieser Treffen nicht verstanden, wenn Sie dort reale Substanz vermissen oder gar Sprachlosig- keit zu bemerken glauben. Das zeigt nur, wie weit weg Sie sich von der deutsch-französischen Realität bewegt ha- ben. Diese Abende verlaufen sehr lebhaft, die Dolmet- scher werden dabei nicht arbeitslos und das Beisammen- sein schafft die Atmosphäre, die wir für eine keative deutsch-französische Zusammenarbeit brauchen. Ihre buchhalterisch-administrativen Vorschläge eignen sich da, wo sie nicht längst vollzogene oder eingeleitete Maß- nahmen anmahnen, dagegen kaum dafür, neue Impulse zu geben. Wenn Sie sich einmal mit der ganzen Lebendigkeit der deutsch-französischen Nachbarschaft und des Austau- sches zwischen unseren beiden Ländern vertraut machen wollen, dann lade ich Sie zu einem Besuch in meiner Hei- matstadt Freiburg ein. Hier haben in der Schwarzwald- hauptstadt und in der südbadischen Region im letzten Jahr 1 Million Menschen die Tour de France gefeiert, als sie nach Freiburg kam. Hier bereitet man sich jetzt mit großer Begeisterung auf den Deutsch-Französischen Gipfel am 12. Juni vor. Die Gipfelstadt ist gut gewählt – mit ihren zahlreichen deutsch-französischen Bildungseinrichtun- gen, dem Institut français, für dessen Erhalt wir in Frei- burg mit Erfolg gestritten haben, und mit dem renom- mierten Frankreich-Zentrum. Wir freuen uns in Freiburg auf den hohen Besuch. Es gab viele Anregungen für regional interessierende Themen für die Tagesordnung des Gipfels, mehr als diese aufnehmen kann. Aber gerade das ist ein Beleg für die Vi- talität des deutsch-französischen Zusammenlebens in dieser Region. Denn diese Wünsche kamen von beiden Seiten des Rheins. Die Menschen in unserer Region wol- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17035 (C) (D) (A) (B) len gemeinsame Projekte, zum Beispiel eine echte Trina- tionalität beim Euro-Airport Basel-Mulhouse-Freiburg, wollen die Eisenbahnnetze auf beiden Seiten der kaum noch wahrnehmbaren Grenze miteinander verbinden, wollen gemeinsame kulturelle Programme ausbauen. Und sie werden dies aus Anlass dieses Gipfels deutlich machen. Und natürlich rechnen wir damit, dass der Gipfel in Freiburg bei dem wichtigen Thema des gemeinsamen Kampfes gegen die Herausforderung des Rechtsradikalis- mus, das im Zentrum des Programms steht, zu guten und konkreten Ergebnissen kommen wird. Man könnte noch viele andere Beispiele und Belege dafür aufführen, dass Ihre pessimistische Bilanz des deutsch-französischen Verhältnisses realitätsfremd ist. Ich möchte hier aber eine Ihrer Forderungen aufgreifen. Sie fordern die Bundesregierung auf, die parlamentari- sche Dimension in der deutsch-französischen Zusammen- arbeit zu stärken. Ich finde es eigentlich etwas seltsam, dass Sie sich bei diesem Ziel an die Bundesregierung wenden. Der Bundestag und seine Fraktionen sind selber in der Lage, die parlamentarische Kooperation zwischen deutschen und französischen Kolleginnen und Kollegen zu intensivieren. Ich will Ihnen dafür ein Beispiel geben. Seit Anfang 1999 gibt es zwischen der SPD-Bundestagsfraktion und der Fraktion des Parti socialiste einen „Circle stratégique franco-allemand“, geleitet von unserem französischen Kollegen Guy-Michel Chauveau und mir und gefördert von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Inzwischen haben, je- weils abwechselnd in Paris und Berlin, fünf gemeiname Konferenzen stattgefunden. Sie finden ein wachsendes Interesse, nicht nur bei Abgeordneten der Asemblée Na- tionale und des Deutschen Bundestages, sondern auch bei beiden Regierungen, bei wissenschaftlichen Institutionen und bei Vertretern der Industrie. Wir haben bisher in dem „Circle“ über eine Reihe von aktuellen Sachthemen de- battiert, so über NATO und europäische Verteidigungsi- dentität, über den Kosovo-Konflikt, Perspektiven der deutsch-französischen Rüstungskooperation, über die Zukunft der Abrüstungs-Vertragspolitik, über Rüstungs- exporte und die dazugehörigen europäischen Begren- zungsregeln und zuletzt über die amerikanischen Rake- tenabwehrpläne. Aber wir haben uns auch über die Entwicklung in einigen Ländern und Regionen von bei- derseitigem Interesse ausgetauscht wie Russland, Kauka- sus, Ostasien mit China, Indien und Pakistan und bei un- serem letzten Treffen über die Afrikapolitik beider Länder. Zwar konnten wir jedes Mal Minister und andere hoch- rangige Sprecher beider Regierungen begrüßen, was un- sere Diskussionen bereichert hat. Auf die Idee ist aber noch keiner gekommen, die Regierungen in Paris und Berlin aufzufordern, den „Circle stratégique“ zu fördern. Das schaffen wir alleine – und vielleicht ist das ja eine An- regung für Sie, diesem Beispiel für eine sehr intensive parlamentarische Dimension in den deutsch-französi- schen Beziehungen nachzueifern und auf diese Weise das selber in die Hand zu nehmen, wofür Sie einen Anstoß sei- tens der Bundesregierung verlangen. Sie fordern in Ihrem Antrag auch, die Bundesregierung solle gemeinsam mit der französischen Regierung Vor- schläge und Initiativen in die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union einbringen. Ich muss Ihnen sa- gen, dass wir mit dem bisherigen Verlauf der Diskussion sehr zufrieden sind und ihn für angemessen halten. Die Zukunft Europas und seiner Verfassung kann keine gou- vernementale Veranstaltung sein. Wir haben nach der Humboldt-Rede von Außenminister Fischer und der Ant- wort von Präsident Chirac hier im Deutschen Bundestag im Juni letzten Jahres eine lebendige europäische Diskus- sion erlebt mit zahlreichen bemerkenswerten Beiträgen aus allen europäischen Ländern. Aus Deutschland sind die Beiträge des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers hinzugekommen. Und am 28. Mai haben wir mit großem Interesse gehört, wie sich der französische Ministerpräsi- dent Lionel Jospin die „Zukunft des erweiterten Europas“ vorstellt. Alle diese Konzepte sind nicht deckungsgleich. Wer könnte das auch zum jetzigen Zeitpunkt erwarten? Aber jeder dieser Beiträge hat unsere Diskussion bereichert. Persönlich habe ich Jospins leidenschaftliches Eintreten für eine prioritäre Entscheidung über die inhaltlich-politi- schen Zielvorgaben Europas, bevor wir Beschlüsse über Institutionen fällen, als überzeugend und äußerst anre- gend empfunden. Die Zeit wird kommen, wo der Post-Niz- za-Prozess – gemäß der verabredeten Zeitpläne wird das 2004 sein – zu konkreteren Ergebnissen kommen muss. Bis dahin brauchen wir keine staatlich konzertierte, son- dern eine offene Diskussion, an der sich die Bürger Euro- pas so viel wie möglich beteiligen sollten. Ich kann nur wiederholen: Im Kern beschreibt die Mehrzahl Ihrer Forderungen das, was längst real existiert; im Rest gehen Ihre Vorschläge in fragwürdige Richtun- gen. Und das deutsch-französische Verhältnis ist 100-mal lebendiger und mehr auf die Zukunft gerichtet als Ihr bürokratisch-pessimistischer Negativsaldo der deutsch- französischen Beziehungen. Monika Griefahn (SPD): Die Beziehungen zu Frank- reich müssen immer wieder neu erarbeitet werden, haben aber auch durch die Tradition nach dem Krieg ein gesun- des Fundament. Sie zählen sehr richtig die vielen Staats- männer auf deutscher und französischer Seite auf – leider fehlt Willy Brandt –, die dazu beigetragen haben. Frankreich ist der wichtigste und engste Partner Deutsch- lands in Europa. Seit 1963 gibt es den Elysée-Vertrag. Seit die neue Bundesregierung im Amt ist, hat es vielfältig neue Initia- tiven – auch insbesondere auf Parlamentsebene – gege- ben. So haben gerade gestern die auswärtigen Ausschüsse der beiden Parlamente getagt und vereinbart, diese Tref- fen fortzusetzen. Ein Treffen beider Parlamente ist bereits von den Präsidenten besprochen worden und bald statt- finden. Auf der individuellen Ebene laufen Aktivitäten der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppen, so zum Beispiel das Hospitantenprogramm von Asemblée natio- nale und Bundestag, das gerade vor zwei Wochen durch- geführt wurde. Seit Anfang diesen Jahres finden regel- mäßige informelle Treffen auf höchster Ebene statt. Ich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117036 (C) (D) (A) (B) skizziere hier nur diejenigen Aspekte der deutsch-franzö- sischen Beziehungen, die ohnehin bekannt sind. Jeden- falls ist die Intensität der Zusammenarbeit mit Frankreich ohne Beispiel in den internationalen Beziehungen und bedarf schon allein deswegen keiner Neubegründung. Ein weiterer Aspekt, der häufig in der Debatte zu kurz kommt, ist die zivilgesellschaftliche Ebene der Koopera- tion. Die Kolleginnen und Kollegen von der Union spre- chen in ihrem Antrag zwar von kulturpolitischen Maß- nahmen, die es zu verbessern gelte, lassen aber außer Acht, dass wir gerade auf diesem Gebiet unzählige und jahrelange Kontakte pflegen, die meiner Meinung nach die Grundlage zum Erfolg der deutsch-französischen Freundschaft und auch der Motoreigenschaft von Deutschland und Frankreich für die europäische Integra- tion sind. Dieser Antrag unterbewertet die Rolle der Zi- vilgesellschaft völlig. Wenn man daran denkt, dass über Jahrhunderte unsere Völker ständig im Krieg standen und heute die deutsch- französische Freundschaft so zur Normalität gehört, dass sie von den jungen Menschen so gut wie gar nicht infrage gestellt wird, dann hat der direkte Kontakt auf der Ebene der Kommunen, der Sportvereine und der Berufsgruppen eine erheblich Rolle gespielt und wird sie auch weiter spielen müssen. So haben wir bereits die Deutsch-Französische Hoch- schule (seit September 1999 ist das Abkommen in Kraft, beschlossen auf dem Gipfel von Weimar 1997); so wird das Zentrum für Deutschlandstudien in Frankreich im Herbst 2001 eröffnet; so gibt es eine Deutsch-Französi- sche Hochschulexpertenkommission. Man denke auch an die vielfältigen kulturpolitischen Beziehungen. So haben die Kulturausschüsse von Assemblée nationale und Bun- destag beschlossen gemeinsame Arbeitsgruppen mit den Themen Stiftungsrecht, Filmförderung und kulturelle Di- versität auf den Weg zu bringen. Außerdem gibt es keine Konzentration der Kulturinstitute in Paris, wie die Union meint, sondern ein vielfältiges Netz der Aktivitäten im ganzen Land: vier Generalkonsulate, 15 Honorarkonsu- late, fünf Goethe-Institute oder Nachfolgeorganisationen in Kooperation mit Städten und Universitäten, die Föde- ration der deutsch-französischen Kulturhäuser in sechs französischen Städten, eines große Zahl deutsch-französi- scher Kulturgesellschaften, davon allein 125 im größten deutschen Dachverband, circa 2 000 Städtepartnerschaf- ten, dazu eine Fülle von Direktkontakten von Schulen, Universitäten, Theatern und Kulturvereinen und, nicht zu vergessen, das deutsch-französische Jugendwerk mit circa 7 000 Begegnungen von etwa 140 000 Jugendlichen pro Jahr. Ebenso haben wir die Regionalpartnerschaften der Bundesländer mit einzelnen französischen Regionen: Nie- dersachsen/Haute Normandie, Rheinland Pfalz/Bourgo- gne, Thüringen/Picardie, Niederbayern/Oise. Das Auswärtige Amt hat einen engeren Informations- austausch zwischen GIIN und der französischen Seite bei kulturellen Planungen mit dem Ziel vermehrter gemein- samer Veranstaltungen initiiert. Geplant ist darüber hi- naus die Einrichtung gemeinsamer deutsch-französischer Kulturinstitute in Europa. Der traditionelle Dialog zwischen beiden Ländern wird immer mehr zu einem Dialog der Gesellschaften. Die Zi- vilgesellschaft hat eine wachsende Bedeutung für Koope- ration. Kontakte zwischen Multiplikatoren und Entschei- dungsträgern kommen zu den traditionellen Kontakten der Städtepartnerschaften, des Schüleraustausches und der Regierungszusammenarbeit hinzu. Das ist auch die große Chance für die Erarbeitung einer europäischen Ver- fassung und den Prozess der weiteren europäischen Inte- gration. Die Zivilgesellschaften sind dafür zwingend not- wendig – unabhängig von der Frage, wie eng die Freundschaft zwischen Jospin, Chirac und Schröder, Fischer und Védrine persönlich ist. Ich bin daher froh, dass der französische Premierminis- ter Jospin in seiner Europarede vom vergangenen Montag auch einen Konvent mit Beteiligung des Europaparla- ments und der nationalen Parlamente vorgeschlagen hat. Ich füge hinzu: Ich finde auch, die Zivilgesellschaft muss daran beteiligt werden. Die Grundkoordinationen der deutsch-französischen Zusammenarbeit haben sich seit der Wiedervereinigung und dem Regierungswechsel geändert. Die Neubelebung der „relance“ darf als gelungen gelten, insofern müssen die Beziehungen nicht neu begründet werden. Die neue Zusammenarbeit ist auch durch den Generationenwechsel gekennzeichnet. Die heutige Generation ist europäisch und nicht nur deutsch-französisch sozialisiert. Ging es früher um Versöhnung und die Bewältigung der Vergan- genheit, so steht heute die Bewältigung der Zukunft von Europa im Weltkoordinationensystem auf dem gemeinsa- men Programm. Es gibt aber immer noch Defizite; das will ich nicht verschweigen: Der Spracherwerb der jeweils anderen Sprache ist rückläufig. Dies ist eine der wichtigsten He- rausforderungen für die Zukunft. Mobilität in der Ausbil- dung und Etablierung hervorragender Ausbildungsstätten ist unverzichtbar. Die jeweiligen Kulturinstitutionen in dem jeweils anderen Land müssen noch stärker eu- ropäisch ausgerichtet werden und bei knappen Ressour- cen andere Prioritäten gesetzt werden. Man muss sich ge- meinsam in Europa verständigen auf gemeinsame Interessen in der globalisierten Welt. Denn wenn Deutschland und Frankreich sich streiten, gibt es selten eine einheitliche Position in Europa. Leider besetzen dann andere Regionen der Welt die Posten und Positio- nen – siehe IWF. Fazit: Sowohl die politische und parlamentarische als auch die kulturelle wie die zivilgesellschaftliche Zusam- menarbeit im weiteren Sinne befinden sich in einem in- tensiven Zustand, die ihresgleichen sucht in den Bezie- hungen zu einem Partnerland, sei es in Europa oder sonstwo in der Welt. Gerade die Regierung Schröder hat dies erkannt und einen besonderen Aspekt auf eben die Zi- vilgesellschaft und ihre Kommunikation untereinander gelegt. Sie unterscheidet sich damit deutlich von der Vor- gängerregierung, unterstützt und unterhält Kontakte auf allen Ebenen. Was wir brauchen, ist die intensive Kom- munikation mit den Bürgern in beiden Ländern, damit diese beteiligt sind am Projekt Europa. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17037 (C) (D) (A) (B) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Ich habe als Student und als Doktorand unter Franzosen die deutsch-französi- sche Zusammenarbeit von ihrer besten Seite kennen ge- lernt: die Neugier auf den anderen, die Herzlichkeit der französischen Familien, das Vertrauen und die rückhalt- lose Unterstützung durch die französischen Kollegen und Wissenschaftler. Diese Erfahrung, die mit mir nach dem Krieg Millionen von Deutschen und Franzosen über die Wissenschaft, über Kommunen, Kirchen, Vereine, als Schüler, Studenten, aber auch als Politiker erfahren ha- ben, ist das Fundament der deutsch-französischen Bezie- hungen. Und es ist ein solides Fundament. Nur auf diesem soliden Fundament hat sich der europäische Einigungs- prozess entwickeln können. Aber auch gute Beziehungen müssen gepflegt werden. Die allgemeine Großwetterlage zwischen Deutschen und Franzosen wird maßgeblich bestimmt durch das Verhält- nis der bilateralen Politik. Dieses Verhältnis ist zurzeit stark eingetrübt. Die politischen Beziehungen haben sich seit 1998 verschlechtert; die Behauptung des Bundes- kanzlers, das deutsch-französische Verhältnis sei so gut wie schon lange nicht mehr, ist schlichtweg falsch. Rich- tig ist vielmehr, was Jean-Pierre Froehly im „Handels- blatt“ erklärte, dass nämlich Sand im deutsch-französi- schen Getriebe sei. Anders als zu Zeiten von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing, Helmut Kohl und François Mitterrand stimmt derzeit zwischen den wichtigsten deutsch-franzö- sischen Akteuren die Chemie nicht, weder zwischen Kanzler Schröder, Staatspräsident Chirac, Premiermi- nister Jospin noch zwischen Außenminister Fischer und Außenminister Védrine. Selbst normale Arbeitskon- takte leiden unter Sticheleien; wichtige Vorstöße, wie die jüngste Rede von Premierminister Jospin, werden nicht abgestimmt. Die Beraterin des Bundeskanzlers für deutsch-französische Zusammenarbeit fristet ein Schat- tendasein. Die vereinbarten Treffen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs sind ohne Substanz und Ergebnis. Die Lähmung der deutsch-französischen Beziehungen auf politischer Ebene kommt zur Unzeit. Gerade jetzt be- findet sich der Aufbau Europas in einer entscheidenden Phase. Gleichzeitig verlangen Globalisierung und die da- mit verbundenen Chancen und Risiken entschlossenes und möglichst geschlossenes Handeln befreundeter Nach- barn: Beide Nationen müssen Wirtschaft und Gesellschaft an die Herausforderungen anpassen, müssen Strategien entwickeln, die Chancen nutzen und gleichzeitig die Risi- ken minimieren. Lassen Sie mich aus meinen Ausschüs- sen zwei Beispiele nennen: Die rot-grüne Bundesregie- rung hat mit ihrem dilettantischen Vorgehen in Sachen Atommüll gegenüber den Franzosen viel Porzellan zer- schlagen. Aber gerade in der Energiepolitik – und damit auch in der Klimapolitik – wäre eine neue konstruktive, technologische Offensive zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien, umweltschonender Antriebstech- niken im Verkehr und auch bei einer neuen Generation kerntechnischer Anlagen – Stichwort EPR – nötig und sinnvoll. Gleiches gilt für die Entwicklungspolitik als Teil einer globalen Vorsorgepolitik. Hier kommen gewaltige Pro- bleme auch auf die Industrienationen zu, weil die Pro- bleme der Entwicklungsländer immer stärker auf uns zu- wachsen. Auch hier spielt – trotz mancher Lippenbe- kenntnisse – noch jeder im eigenen Sandkasten, statt zu erkennen, dass man gemeinsam effizientere und einfluss- reichere Ansätze zum Beispiel in Afrika oder Südostasien finden könnte. Dies sind nur zwei Beispiele; aber in bei- den Fällen haben Deutschland und Frankreich spezifi- sche, oft unterschiedliche Lösungsansätze und Traditio- nen entwickelt, die man zum Wohle beider Länder gegenseitig ergänzen und verbessern könnte. Ähnliches lässt sich zum Beispiel bei der Bekämpfung der interna- tionalen Kriminalität, bei der Rentenpolitik oder in Steu- erfragen tun. Leidenschaft der politisch Verantwortlichen fürein- ander kann man nicht erzwingen; aber man kann die Be- ziehungen neu beleben durch neue Ideen der Zusammen- arbeit, durch neue, gemeinsame Initiativen. Davon bietet der Antrag der CDU/CSU eine große Fülle. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist – gerade in diesen entscheidenden Jahren – zu wichtig, als dass wir uns die derzeitige Eintrübung lange leisten könnten. Die Bundesregierung muss einen neuen Anlauf nehmen, die deutsch-französische Großwetterlage wieder freundlicher zu gestalten. Der Antrag der CDU/CSU ist dazu eine gute Aktionsgrundlage. Irritationen mit Moskau, Vertrauenskrise mit den USA und Sand im Getriebe der deutsch-französischen Bezie- hungen – eine solche Außenpolitik ist nicht im deutschen Interesse. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): „Seit mehr als einem halben Jahrhundert arbeiten wir Hand in Hand. Zwischen uns ist die Aussöhnung abgeschlossen. ... Was Deutschland und Frankreich im Laufe ihrer Geschichte erlebt und erlitten haben, ist ohnegleichen. ... Nur sie ver- mögen Europa voranzubringen, sei es bei der Verwirkli- chung seiner Ziele, bei der Ausweitung seiner Grenzen oder bei seiner Verankerung in den Herzen. ...“ Mit diesen Worten hat uns der französische Staatspräsident Jacques Chirac hier in diesem Hause am 27. Juni 2000 an die exis- tenzielle Bedeutung der deutsch-französischen Beziehun- gen für unseren gesamten Kontinent erinnert. Gute deutsch-französische Beziehungen sind die ent- scheidende Grundlage für Fortschritte im europäischen Einigungsprozess. Dies war in der Vergangenheit so, von der Montanunion und der EWG bis zum Binnenmarkt, zur Währungsunion und zur Gemeinsamen Außen- und Si- cherheitspolitik. Und so gilt es auch für die Gegenwart und Zukunft. Die deutsch-französischen Beziehungen haben jedoch seit dem Regierungswechsel 1998 an Substanz, vor allem in der Europapolitik, deutlich eingebüßt: zwischen den deutschen und französischen Regierungsmitgliedern fehlt die persönliche Beziehung. Von den EU-Gipfeln in Berlin und Nizza gab es keine deutsch-französische Abstimmung und keine gemeinsa- men Initiativen. Deshalb bleiben wesentliche Entschei- dungen, die die Handlungsfähigkeit der EU langfristig Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117038 (C) (D) (A) (B) sichern, auch nach diesen Gipfeln blockiert. Die Finan- zierung der Gemeinsamen Agrarpolitik bleibt zwischen Frankreich und Deutschland umstritten. Solange wir un- sere Differenzen nicht in einem fairen Interessenausgleich ausräumen und den EU-Partnern keinen gemeinsamen Vorschlag präsentieren, wird es in dieser für die Zukunft der EU vitalen Frage keine Lösung geben. Stattdessen be- harrt der Bundeskanzler auf einer strikten Renationalisie- rung der Agrarpolitik und erklärt vor dem Berliner Gipfel auf einer Pressekonferenz mit Präsident Chirac in Paris, er sei nicht dorthin gekommen, um sich zum französischen Bauernpräsidenten wählen zulassen. Mit dieser schnod- derigen Art wird die Atmosphäre der Regierungsge- spräche kaum gefördert. Für Frankreich bleibt die Landwirtschaft ein Kernele- ment der EU. Das hat Premierminister Jospin in dieser Woche in seiner Europarede klar bekräftigt. Ich zitiere: „Was die gemeinsame Agrarpolitik anbelangt, so muss sie in Zuständigkeit der Union verbleiben. Jeder Renationali- sierung von Politiken, die bislang auf Unionsebene fest- gelegt und umgesetzt wurden, ist eine Absage zu ertei- len.“ Im Leitantrag der SPD, den der Bundeskanzler kürz- lich vorgestellt hat, fordert er, „Aufgaben, die durch die Mitgliedstaaten sachgerechter wahrgenommen werden können, auf die nationale Ebene zurückzuverlagern, wenn dies den Binnenmarkt nicht gefährdet. Das gilt insbeson- dere für die Kompetenzen der EU in den Bereichen Agrar- und Strukturpolitik.“ In diesem Punkt haben die deutsche und die französi- sche Regierung völlig gegensätzliche Positionen. Und der Außenminister kommentiert das wie folgt: „Die Rede von Lionel Jospin zeigt eine Vielzahl von deutsch-französi- schen Gemeinsamkeiten auf.“ Der Bundeskanzler fordert den Ausbau der Kommis- sion zu einer starken europäischen Exekutive. Jospin sagt, dieses Modell einer Förderation sei für Frankreich in- akzeptabel, die derzeitigen Staaten erhielten darin den Status eines deutschen Bundeslandes. Und der Herr Außenminister sieht eine Vielzahl von deutsch-französi- schen Gemeinsamkeiten. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Was soll denn diese Beschwichtigung? Sie zeugt nicht von echtem Inte- resse und Suchen nach Gemeinsamkeiten. Die derzeitige Malaise in den deutsch-französischen Beziehungen liegt nicht an unterschiedlichen Interessen und verschiedenen Vorstellungen zur zukünftigen Verfasstheit Europas. Das Problem sind die Indifferenz, die Sprachlosigkeit, die durch förmliche Floskeln überdeckt wird. Die im elsässi- schen Blaesheim vereinbarten Treffen der Staats- und Re- gierungschefs beider Länder in sechs- bis achtwöchigem Rhythmus sind ohne reale Substanz. Europa braucht aber mehr denn je eine solide und zu- kunftorientierte Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Beide müssen ihre Standpunkte ausgleichen und annähern und gemeinsame Initiativen vorlegen, um substanzielle Integrationsfortschritte in der EU zu errei- chen. Das gilt in einer größeren Union nach der Erweite- rung umso mehr. Trotz der Gleichgültigkeit, die die Bundesregierung gegenüber dem französischen Nachbarn an den Tag legt, sind die deutsch-französischen Beziehungen im Kern sta- bil und solide verankert. Das ist nicht zuletzt dem Deutsch-Französischen Jugendwerk mit seiner erfolgrei- chen Breitenarbeit zu verdanken, den 1 800 Städtepart- nerschaften, 900 Hochschulkooperationen und Partner- schaften von französischen Regionen und deutschen Ländern. Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ruhen auf einem dichten Netz der Part- nerschaft zwischen Kommunen, Regionen, Kirchen, Vereinen und privaten Initiativen. Austauschprogramme für Schüler und Studenten haben eine beachtliche Inten- sität. Gleichwohl laufen die deutsch-französischen Bezie- hungen Gefahr, auch auf dieser Ebene zu verkrusten: der Altersdurchschnitt in den deutsch-französischen Gesell- schaften ist hoch, das Interesse an der Sprache des ande- ren Landes geht vor dem Hintergrund der Dominanz des Englischen zurück, auch die gegenseitige Faszination nimmt ab. Das gilt für die französische Bewunderung der deutschen „sozialen Marktwirtschaft“ wie für die deut- sche Bewunderung französischer Kultur und Lebensart, auch bedingt durch den Prozess der Globalisierung. Wird keine substanzielle Verbesserung der deutsch-französi- schen Kooperation auf allen Ebenen – politisch, wirt- schaftlich und gesellschaftlich – engagiert verfolgt, laufen die deutsch-französischen Beziehungen Gefahr, zum bloßen Ritual zu erstarren und langsam, aber sicher ihrer Grundlagen beraubt zu werden. Deshalb müssen auf allen Ebenen der Zusammenarbeit Initiativen gestartet werden: zur EU-Erweiterung, zur EU-Verfassungsdebatte, zur Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik. Die Zivilgesellschaft muss noch stärker einbezogen werden. Wir brauchen integrierte Strukturen in der Forschung und integrierte deutsch-fran- zösische Bildungsangebote bis zu den Hochschulen. Wir müssen viele gesellschaftspolitische Herausforderungen grenzüberschreitend diskutieren. Deutschland und Frank- reich können und müssen die Keimzelle einer europä- ischen Öffentlichkeit sein. Daher sollte die Bundesregie- rung den Vorschlag von Premierminister Jospin, einen europäischen Fernsehkanal einzurichten, konstruktiv auf- greifen. Den Lippenbekenntnissen zur Förderung des Fremd- sprachenunterrichts steht die Schließung von Goethe-Ins- tituten in Frankreich gegenüber, durch die das deutsche Kulturangebot dort ausgedünnt wird. Der Bundeshaushalt setzt hier falsche Schwerpunkte und zerstört ein Netz deutscher Kunst- und Kulturförderung in Frankreich, das später unwiederbringbar ist. Wir sind nicht pessimistisch, sondern entschlossen, un- seren Beitrag zur Pflege der guten deutsch-französischen Beziehungen zu leisten. Das Fundament dieser Beziehung ist solide: Deutsche und Franzosen kennen und schätzen sich, der Austausch von Schülern, Studenten, Vereinen funktioniert. Die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen wird parteiübergreifend anerkannt. CDU und CSU werden sich, ihrer Tradition gemäß, für die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17039 (C) (D) (A) (B) deutsch-französischen Beziehungen einsetzen und die Bundesregierung dort unterstützen, wo sie es verdient. Al- lerdings habe ich den Eindruck, diese Bundesregierung misst den deutsch-französischen Beziehungen nicht die notwendige Bedeutung bei, vernachlässigt sie und ge- fährdet sie somit. Seit dem Regierungswechsel hat es jedenfalls keine nennenswerte deutsch-französische Ini- tiative der Bundesregierung gegeben, die man hätte un- terstützen können. Herr Außenminister, hier würden wir Sie von Herzen gern einmal unterstützen. Wir wünschen der Bundesre- gierung deshalb mehr Willen und Engagement für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Ernst Burgbacher (F.D.P.): „Ein dominierendes Deutschland, ein deutsch-französisches Paar, dessen Bande sich sehr gelockert haben, ein Frankreich ohne Seele und Ideen und auf der Suche nach seiner Rolle“, so beschrieb die Wochenzeitung „Le Point“ die Lage nach dem Nizza-Gipfel. „Le Monde“ urteilte, dass „das wirk- lich bedeutsame Abkoppeln zwischen Frankreich und Deutschland nicht in der Frage der Entscheidungsmecha- nismen im Rat zu sehen ist, sondern im Verlust an wech- selseitigem Vertrauen im Kontext der Erfahrungen der Regierungskonferenz.“ Und Joachim Schild schreibt in einer Frankreich-Analyse: „Von einer gemeinsamen euro- päischen Führungsrolle waren Frankreich und Deutsch- land weit entfernt. Ihre Haltungen waren nicht nur kein Element der Lösung, sondern teilweise zentraler Bestand- teil der Verhandlungsprobleme.“ Zwei hauptsächliche Charakteristika kennzeichnen die deutsch-französischen Beziehungen vom Beginn der Nachkriegszeit bis heute: Das erste Charakteristikum ist die Unterschiedlichkeit der Interessen und Ansatz- punkte. Deutschland und Frankreich haben völlig unter- schiedliche historische, philosophische und sozialpoliti- sche Traditionen. Wenn ein Franzose Begriffe wie Staat, Nation, Heimat, ja Europa gebraucht, meint er damit et- was völlig anderes als ein Deutscher, der dieselben Wör- ter in den Mund nimmt. Daher haben Deutschland und Frankreich in der Außen- und Europapolitik auch zunächst einmal grundsätzlich unterschiedliche Interes- sen. So hat Frankreich etwa in der Europapolitik immer stark auf seine nationale Eigenständigkeit geachtet, während Deutschland sehr viel eher bereit war, seine na- tionalen Interessen durch die europäische Integration zu verwirklichen. Es ist gerade der Unterschied dieser In- teressen und Ausgangspositionen, der bis in die jüngste Vergangenheit die deutsch-französische Zusammenar- beit so fruchtbar für die europäische Integration machte. Denn es gab immer den festen politischen Willen auf beiden Seiten, gemeinsam an der Überwindung dieser Gegensätze zu arbeiten und damit zum gegenseitigen Nutzen und vor allem auch zum Nutzen Europas zu ge- meinsamen Positionen zu kommen. Am Ende stand ein Kompromiss, der gerade wegen der Gegensätzlichkeiten der Ausgangspositionen so abgerundet und ausbalan- ciert war, dass alle anderen Partner in Europa zustimmen konnten – wenn manchmal auch nur mit zusammenge- bissenen Zähnen. Wären Frankreich und Deutschland sich in der Regel von vornherein einig gewesen, wäre ein solch ausbalancierter Kompromiss nicht denkbar gewe- sen und die anderen Partner in Europa hätten dies als deutsch-französischen Direktoriumsbeschluss auch ab- gelehnt. Das zweite Charakteristikum in der deutsch-französi- schen Zusammenarbeit ist ein ständiges Auf und Ab. Es war gewiss nicht immer rosig und die Auseinanderset- zungen wurden bisweilen mit aller Schärfe geführt. Dabei wussten aber alle – übrigens in den Regierungen, in den Parlamenten und in den Bevölkerungen – emotional und rational, dass der jeweils andere der wichtigste Partner war, wie es Klaus Kinkel in seiner Zeit als Außenminister immer wieder gesagt hat. Die Qualität der Zusammenar- beit war auch unabhängig von der parteipolitischen Aus- richtung der jeweiligen Regierungen. So gut wie in den geradezu idealtypischen Paarungen von Adenauer und de Gaulle, von Schmidt und Giscard und von Kohl und Mit- terrand konnte es natürlich nicht immer gehen. So schlecht, lassen Sie mich dies aber in aller Deutlichkeit sa- gen, wie heute war es aber noch nie. Es gibt keine gemeinsamen deutsch-französischen Ini- tiativen vor den Europäischen Räten mehr, wie sie früher üblich waren. Die Europäischen Räte von Berlin und Niz- za waren von deutsch-französischen Nickeligkeiten ge- prägt und ließen gemeinsame Entwürfe vermissen. Die europapolitischen Vorstellungen von Bundeskanzler Schröder und Premierminister Jospin sind völlig unilate- ral vorgetragen worden, ja die Entwürfe sind dem anderen Partner offensichtlich noch nicht einmal vorab zur Kennt- nis gegeben worden. Seine Antwort auf Bundeskanzler Schröder fasst Premierminister Jospin in einem Satz zu- sammen: „Europa schaffen ohne Frankreich abzuschaf- fen, das ist mein politisches Credo.“ In diesem Satz wird der Tiefstand gegenseitigen Misstrauens erschreckend deutlich. Nun ist es natürlich nicht so, dass für diesen Zustand allein die Bundesregierung verantwortlich zu machen wäre. Es gibt eine Reihe von Gründen in der französi- schen Innenpolitik und im französischen Präsident- schaftswahlkampf. Mit unseren französischen Freunden sprechen wir in aller Offenheit darüber. Aber in diesem Hohen Hause ist unser Ansprechpartner nun einmal die Bundesregierung. Und bei ihr liegt nun wahrlich auch ein gerüttelt Maß an Schuld für den desolaten Zustand der deutsch-französischen Beziehungen. Bundeskanzler Schröder hat kaum eine Gelegenheit verstreichen lassen, die französischen Partner zu brüskieren. Beim ER Berlin, als es um die Agenda 2000 ging, hat er in völlig unange- messener Weise die deutsche Nettozahlerposition heraus- gestellt und ist mit dem – auch aus unserer Sicht richtigen Vorschlag zur Kofinanzierung in der Agrarpolitik so un- sensibel vorgegangen, dass es Frankreich verstören musste. Der ER Nizza wäre fast daran gescheitert, dass Schröder es auf einen minimalen Unterschied in der Stim- menneugewichtung im Rat zugunsten Deutschlands an- legte. Dazwischen hat er mit dem berühmt-berüchtigten Schröder-Blair-Papier viel Porzellan zerschlagen. Auf den Schock von Nizza folgte die Verabredung, sich in Zu- kunft regelmäßig zum Abendessen in den Weinbergen zu verabreden. Man fragt sich aber, was die Herren außer der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117040 (C) (D) (A) (B) Speisenfolge dort besprechen. Verbesserungen sind je- denfalls nicht erkennbar. Weil beide Länder seit den Veränderungen seit 1989 und ihrer veränderten Rolle in Europa und im gegenseiti- gen Verhältnis noch nicht wirklich zurande gekommen sind, wäre eine besondere Feinfühligkeit im Umgang mit- einander wichtiger denn je. Und weil die Veränderungen für Frankreich im Zweifel schwieriger zu verarbeiten sind als für Deutschland, kommt Deutschland in dieser Part- nerschaft im Moment eine besondere Verantwortung zu. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, die deutsch- französischen Beziehungen wieder neu mit Leben zu er- füllen. Der CDU/CSU-Antrag mit seiner Forderung einer Neubegründung geht am Kern des Problems vorbei. Die Basis für die deutsch-französische Zusammenarbeit ist durch den Elysêe-Vertrag und seine Fortentwicklungen gelegt, sie ist solide und tragfähig. Dazu gehören über 2 000 Städtepartnerschaften, 3 000 Schulpartnerschaften, zahlreiche Universitätspartnerschaften, vor allem auch die segensreiche Arbeit des Deutsch-Französischen Ju- gendwerks. Das Netzwerk an institutioneller Zusammen- arbeit, an Arbeitsgruppen, an Beamtenaustausch, an Kon- sultationen usw. usf. ist so eng wie in wahrscheinlich keiner anderen Partnerschaft zwischen zwei souveränen Staaten dieser Erde. Was fehlt, ist der politische Wille der Regierungen, dieses Netzwerk zu nutzen und mit Leben zu erfüllen. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, Frankreich in ihrem politischen Denken und Handeln wieder den Platz einzuräumen, der ihm zukommt. Noch ein Wort an uns selber, liebe Kolleginnen und Kollegen. Solange die Zusammenarbeit auf der Ebene der Regierungen so starke Defizite aufweist, kommt es umso mehr auf eine Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten an. Die deutsch-französischen Parla- mentariergruppen leisten dazu auf beiden Seiten hervor- ragende Arbeit. Die EU-Ausschüsse von Bundestag und Assemblêe Nationale haben eine lobenswerte Initiative entwickelt. Diese sollten wir tatkräftig unterstützen. Auf mittlere Sicht wäre auch eine gemeinsame Plenarsitzung unserer beiden Parlamente ein erstrebenswertes Ziel. Es kommt in der deutsch-französischen Zusammenarbeit auch darauf an, symbolträchtige Zeichen zu setzen. Es kommt aber insbesondere darauf an, persönliches Herzblut einzubringen. Wenn der französische Außenmi- nister Vêdrine seinen deutschen Kollegen Fischer als „Flötenspieler“ bezeichnet, zeigt dies, wie zerrüttet das Verhältnis geworden ist. Wir können dem Bundeskanzler und dem Außenminister diesen Vorwurf nicht ersparen: Sie haben den deutsch-französischen Motor abgewürgt. Wir werden alles dafür tun, diesen Motor wieder zum Laufen zu bringen. Nur dann können wir die große He- rausforderung der Erweiterung und damit der Wiederver- einigung Europas meistern. Wolfgang Gehrcke (PDS):Der Antrag der CDU „Die deutsch-französisch Beziehungen neu begründen“ gibt die Chance über diese Beziehungen im Bundestag zu dis- kutieren. Wir haben gerade vor zwei Tagen dies gemein- sam mit unseren französischen Freundinnen und Freun- den im Auswärtigen Ausschuss getan. Das ist aber fast schon alles, was ich positiv über den CDU-Antrag sagen kann. Ansonsten bewegen sich die CDU-Vorschläge im Rahmen des üblichen deutsch-französischen Alltagsge- schäfts. Der CDU-Antrag ist zeitlos wie ein „blauer Faltenrock“ – dieser soll ja zu allen Anlässen passen. Trotzdem will ich positiv wie negativ einen Vorschlag kommentieren. Positiv ist mir aufgefallen, dass die CDU vorschlägt, die Achse Deutschland-Frankreich durch ein Dreieck Deutschland-Frankreich-Polen zu ergänzen. Dies ent- spricht sowohl den geschichtlichen Anforderungen als auch den Bedingungen der Osterweiterung der Europä- ischen Union. Das unterstützt die PDS. Besonders negativ hingegen bewerte ich den Vorschlag der CDU, die deutsch-französische Rüstungszusammen- arbeit noch weiter auszubauen. Bei Rot-Grün rennt die CDU damit wohl offene Türen ein. Nicht in der Rüs- tungszusammenarbeit, im gemeinsamen Rüstungsexport liegt die Perspektive der deutsch-französischen Wirt- schaftskooperation, sondern in einer engeren sozialen Zu- sammenarbeit. Genau diese ist ein Schwerpunkt in der jüngsten Euro- parede des französischen Ministerpräsidenten Jospin. Dass die SPD die Jospin-Vorschläge nicht offensiv auf- greift, ist schon bezeichnend. Wer die Reden Schröder- Jospin vergleicht, begreift, wo die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich heute liegen. Jospin schlägt für Europa unter anderem vor, soziale Solidarität ins Zentrum zustellen, unsichere Arbeitsver- hältnisse zu bekämpfen, Sozialdumping Widerstand zu leisten und die kulturelle Vielfalt in Europa zu bekämpfen. Jospin schlägt vor, ein europäisches Sozialrecht zu schaffen, einen europäischen Sozialvertrag abzuschließen und gemeinsam an einer Reform der internationalen Fi- nanzarchitektur zu arbeiten. Davon findet sich verständli- cher Weise im Antrag der CDU kein Wort. Aber die Bundesregierung wäre gut beraten, die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht nur allge- mein als „Motor der europäischen Einigung“ zu verste- hen, sondern diese als „Motor für ein soziales Europa“ einzusetzen. Dieser Art der Zusammenarbeit steht die rot-grüne Re- gierung reserviert gegenüber. Das Schröder-Blair-Papier ist ihr doch näher als die sozialen Vorschläge Jospins. Für die PDS ist es umgekehrt: Wir sind ablehnend ge- genüber dem neoliberalen Umbau Europas und treten dafür ein, dass endlich soziale Fragen in Europa ein größeres Gewicht einnehmen. Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Frankreich ist unser engster und wichtigster Partner. Eu- ropa gründet auf der deutsch-französischen Verständi- gung, auf unserer engen Partnerschaft mit Frankreich. Diese Beziehung ist nicht austauschbar und das wird auch für die Zukunft der europäischen Integration gelten. Die europäische Integration war eine französische Idee. Die strategische Weitsicht und der politische Mut Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17041 (C) (D) (A) (B) Frankreichs, mit dem „Erbfeind“ Deutschland, der ihr Land dreimal in 70 Jahren mit Krieg überzogen hatte, im besten Sinne des Wortes „gemeinsame Sache“ in der eu- ropäischen Integration zu machen, sind in ihrer Bedeu- tung gar nicht zu überschätzen. Sie waren – zusammen mit dem Entschluss der USA, nach 1945 in Europa prä- sent zu bleiben – die Antwort auf den historischen Sprengsatz, der Europa seit dem 19. Jahrhundert unendli- ches Leid zugefügt und zwei Weltkriege ausgelöst hat, nämlich die Antwort auf die Frage: Wo liegt Deutschland? Die deutsche Frage konnte nur im Rahmen der europä- ischen Integration, deren festen Kern Deutschland und Frankreich seit Jahrzehnten bilden, definitiv beantwortet werden. Deutschland und Frankreich haben daher nicht nur ein pragmatisches, sondern ein sehr viel tiefer gehen- des, ein historisches Interesse an der Fortsetzung und Ver- tiefung ihrer Partnerschaft. Das Jahr 1989 markiert eine tektonische Verschiebung der politischen Lage auf unserem Kontinent. Gerade auch für die deutsch-französischen Beziehungen hat das ge- wachsene Gewicht Deutschlands und seine wiederer- langte Mittellage ebenso wie die Osterweiterung der Eu- ropäischen Union neue Fragen aufgeworfen. Sicher kann die alte Formel von Frankreich als politischer und Deutschland als wirtschaftlicher Führungsmacht in Eu- ropa nicht mehr taugen. Sie hat es in Wahrheit nie getan. Ebenso sicher ist aber auch, dass Deutschland und Frank- reich die Rolle des Schwungrads für die europäische In- tegration weiter ausfüllen müssen; denn niemand anders wird ihnen dies abnehmen können. Dies aber kann und wird nur gelingen, wenn die politische Balance zwischen Deutschland und Frankreich erhalten bleibt. Diese Balance ist und bleibt die Grundlage des deutsch-französischen Verhältnisses und damit auch der europäischen Integration. Die deutsch-französische Part- nerschaft unter den veränderten politischen Bedingungen weiter zu festigen und, wo nötig, neu zu justieren, immer mit Blick auf den europäischen Einigungsprozess, darin besteht eine der großen außenpolitischen Herausforde- rungen für unsere beiden Länder in der vor uns liegenden Zeit. Die Bundesregierung hat das deutsch-französische Verhältnis von Anfang an zu einer Priorität gemacht. Die Zusammenarbeit mit Frankreich ist deshalb außerordent- lich eng. Mit Außenminister Vêdrine habe ich mich im Vorfeld meiner Humboldt-Rede und auch danach über alle wichtigen europapolitischen Fragen regelmäßig eng abgestimmt. Gleiches gilt für die Kosovo- und Südosteu- ropapolitik. Treffen der Staats- und Regierungschefs und der Außenminister im Blaesheim-Format finden alle sechs bis acht, bzw. sogar alle drei Wochen statt. Fazit: Mit keinem anderen Partner gibt es eine so re- gelmäßige und enge Abstimmung wie mit Frankreich. Diese Intensität der Zusammenarbeit ist in den internatio- nalen Beziehungen wohl ohne Beispiel. Niemand kann uns also vorwerfen, die Kontakte mit Frankreich nicht so eng, wie es uns möglich ist, zu gestalten. Die Opposition wirft der Bundesregierung vor, dass die Positionen Deutschlands und Frankreichs oft nicht deckungsgleich sind und dass es zu wenige deutsch-fran- zösische Initiativen in der Europapolitik gibt. Dieser Vor- wurf greift in mehrfacher Hinsicht zu kurz: Zum einen ist es völlig natürlich – und war im Übrigen auch früher oft genug so –, dass Deutschland und Frank- reich in europapolitischen Fragen zunächst eine unter- schiedliche Haltung einnehmen und sich erst allmählich annähern. Deutschland und Frankreich sind Länder mit sehr unterschiedlichen Traditionen, Kulturen, Mentalitä- ten und nationalen Geschichten. Die Stärke der deutsch- französischen Verbindung liegt eben gerade nicht darin, dass beide Länder einander, a priori, ähnlich sind, sondern dass sie sich immer wieder als fähig zur Überbrückung von Differenzen und zum Kompromiss erwiesen haben. Dabei liegt die besondere Stärke der deutsch-französi- schen Verbindung darin, dass zwischen ihnen erzielte Kompromisse sehr häufig von den übrigen europäischen Ländern als Ausgangspunkt für eine gesamteuropäische Einigung genommen werden. Vor allem aber verkennt ein solcher Vorwurf die histo- rische Dimension der europapolitischen Herausforderun- gen, um die es heute geht. Seit den 50er-Jahren standen noch nie derart fundamentale Fragen auf der europäischen Tagesordnung: Die Wiedervereinigung Europas durch die Erweiterung, eine Verfassung für Europa, die Bestim- mung der internationalen Rolle Europas – all dies muss gleichzeitig bewältigt werden. Bei der Zukunft der euro- päischen Institutionen oder der Kompetenzaufteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten geht es um Grundfragen unserer jeweiligen nationalen Gesellschafts- kontrakte, um Fragen unserer nationalen Identität, natür- lich auch um Machtfragen. Wir sehen dies auch in der in- nerdeutschen Debatte zwischen Bund- und Ländern. Es ist bemerkenswert, dass sich inzwischen praktisch alle europäischen Länder sehr ernsthaft und substanziell mit diesem Thema auseinander setzen. Aber die Debatte über die Zukunft Europas, über 2004, über eine europä- ische Verfassung, hat erst begonnen. Es wäre deshalb mehr als töricht, bereits in diesem frühen Stadium der De- batte eine weit gehende Konvergenz zwischen den Vor- stellungen Deutschlands und Frankreichs zu verlangen. Es ist doch völlig klar, dass am Anfang dieser Debatte in jedem Land erst einmal ein Prozess der Klärung, der Selbstvergewisserung stehen muss, der auch mit einer Prononcierung einzelner Positionen einhergehen wird. Genau das ist es, was wir derzeit beobachten, und dies ist der notwendige erste Schritt. Wären Deutschland und Frankreich schon jetzt, zu Beginn der Debatte, in allen Punkten einer Meinung, so würde das dem Ziel einer lebendigen und bürgernahen Debatte eher schaden als nutzen. Aus Frankreich sind im vergangenen Jahr bedeutende Beiträge zur Zukunft Europas gekommen: Präsident Chirac hat im Deutschen Bundestag gesprochen, Premierminis- ter Jospin am vergangenen Montag in Paris. Beide haben sich dabei als überzeugte Europäer erwiesen, die sich mit Nachdruck für eine Stärkung Europas und der europä- ischen Integration einsetzen. Die Rede Jospins war voller Gehalt und konkreter An- regungen. Es war eine bedeutende Rede. Viele seiner Vor- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117042 (C) (D) (A) (B) schläge sollten wir ernst nehmen und zu gemeinsamen deutsch-französischen Initiativen machen. Jospin stimmt in vielen Punkten mit deutschen Zielvorstellungen über- ein. Die Rede zeigt deshalb durchaus, dass der Dialog mit Frankreich ganz konkret Früchte zeitigt: Sie enthält ein Bekenntnis zu einer europäischen Ver- fassung, zur Föderation der Nationalstaaten, zu einer ge- naueren Kompetenzaufteilung, zum Abbau des Demokra- tiedefizits, zu dem Ziel eines Europas der Bürger. Viele der konkreten Vorschläge sind zu begrüßen, wie die Ein- richtung einer europäischen Staatsanwaltschaft, einer in- tegrierten europäischen Polizeibehörde und Grenzschutz- polizei oder die Fusion unserer konsularischen Netze im Ausland. In anderen Fragen zeigt sich – das ist vor dem Hinter- grund der Geschichte und der nationalen Kultur Frank- reichs nicht verwunderlich – eine andere Grundeinstel- lung, als wir sie haben. Frankreich hält zum Beispiel an einer starken Stellung des Europäischen Rats in der Exe- kutive und Legislative fest. Dies entspricht der Verfas- sungstradition Frankreichs und es ist dort Mehrheitsmei- nung. Wir müssen diese Haltung respektieren, auch wenn sie der positiven deutschen Erfahrung mit einem födera- len Staatsaufbau nicht entspricht. All jene, die bei uns immer wieder laut nach mehr deutsch-französischer Gemeinsamkeit rufen, möchte ich fragen, was sie denn konkret unternehmen würden, um eine solche herzustellen. Es ist jedenfalls mehr als wider- sprüchlich, im gleichen Atemzug eine Revision der Agenda 2000, insbesondere einen Einstieg in die Kofi- nanzierung der Agrarpolitik und eine engere Abstimmung mit Frankreich zu verlangen, wo doch jeder weiß, welche Bedeutung die gemeinsame Agrarpolitik für Paris besitzt. Hier muss man behutsam vorgehen. Auch die Frage der Weiterentwicklung der europä- ischen Institutionen werden wir letztlich nur unter Einbe- ziehung des französischen Beharrens auf einer starken Exekutive beantworten können. So sehr für uns die Vor- teile eines bundesstaatlichen Modells für Europa auf der Hand liegen mögen, so sehr werden wir in der realen Welt um einen großen Kompromiss mit Frankreich in diesem Punkt nicht herumkommen. Kein Mensch kann heute vor- hersagen, wie Europa in zehn oder 15 Jahren aussehen wird. Doch lässt sich eines mit Gewissheit feststellen: Die Vollendung der europäischen Integration, die ich mir als Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft wünsche und für die sich die Bundesregierung einsetzt, kann und wird nur gelingen, wenn Frankreich und Deutschland sie zu ihrer gemeinsamen Sache machen. Hierin liegt die al- ternativlose Bedeutung des deutsch-französischen Ver- hältnisses im 21. Jahrhundert, neben der Notwendigkeit unserer guten und engen Nachbarschaft. Ohne enge europäische und transatlantische Partner- schaft ruft Deutschland allzu schnell Reserviertheit und Skepsis hervor. Dieser Partner kann bei der Vollendung der europäischen Integration für uns nur Frankreich sein. Diese Partnerschaft schloss die anderen Europäer immer ein und niemals aus. Aber unsere Geschichte verbindet uns wie keine zwei anderen Länder in Europa in gemein- samer Verantwortung für die Zukunft. Wir haben sehr un- terschiedliche Traditionen und kulturelle Prägungen und diese Unterschiedlichkeit ist zweifellos eine der Konstan- ten, die die Zeitenwende von 1989 überdauert haben. Aber die Stärken Frankreichs und Deutschlands ergänzen sich auf eine besondere, immer wieder sehr produktive Weise. Nur gemeinsam sind wir in der Lage, Europas Schwungrad auch in einer größeren Union zu sein und mit unseren anderen Freunden und Nachbarn die Integration voranzubringen. Diese Erkenntnis leitet die Politik der Bundesregierung. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Mi-neralölsteuergesetzes (Tages- ordnungspunkt 12) Lydia Westrich (SPD): Zuerst einmal will ich mich bedanken, aber nicht wie üblich bei der Regierung oder den Ausschussmitgliedern. Natürlich freuen wir uns über dieses Gesetz und sind froh, dass unser fleißig sparendes Finanzministerium noch einmal 200 Millionen DM zur Verfügung gestellt hat, um bei der schwierigen Situation der Landwirtschaft und der Unterglasbetriebe Hilfe zu leisten. Mein Dank gilt heute vor allem dem Zentralverband Gartenbau, der uns Abgeordnete sachlich, aber reizvoll durch eine Vielzahl von ermöglichten Besichtigungen von Unterglasbaubetrieben mit seiner Notlage vertraut ge- macht hat. Nichts prägt sich dem Gedächtnis mehr ein als die hautnahe Begegnung und Erörterung der Probleme vor Ort. Diese Aktion hat den Landesverbänden sehr viel Mühe bereitet. Ich habe mit mehreren Kollegen und Kol- leginnen gesprochen, die die Einladungen wahrgenom- men haben. Die durchweg sachliche Gesprächsatmo- sphäre gepaart mit teilweise exotischen, farbenprächtigen Pflanzenwelten direkt vor der Haustüre hat bei allen Be- suchern bleibende Eindrücke hinterlassen. Das bedeutet für den Zentralverband Gartenbau und seine Mitglieder- betriebe einmal, dass ihre schwierige Wettbewerbssitua- tion im europäischen Rahmen voll erkannt wurde und wir heute nun zusätzlich zu den bereits angelaufenen Maß- nahmen der Hilfe bei Energieeinsparungen und Betriebs- mittelhilfen 60 Millionen DM zur Minderung der Ener- giekosten zur Verfügung stellen. Die Unterglasbetriebe haben übereinstimmend erklärt: „Wir wollen nicht am Subventionstropf hängen. Wir sind selbstbewusst genug, um uns durch die Qualität unserer Züchtungen und Weiterentwicklungen der Pflanzen einen guten Stand im Wettbewerb zu erobern“. Wenn aber in den Nachbarländern Betriebe auf hohe Subventionsmittel zu- greifen und gleichzeitig die Energiekosten explodieren, sind faire Wettbewerbsbedingungen nicht mehr gewähr- leistet. Dann beginnt automatisch ein ruinöser Verdrän- gungsprozess. Und dem will die Bundesregierung, dem wollen wir Abgeordnete entgegensteuern. Mit den Programmen für Energieeinsparungen und mit dem heutigen Gesetz, das rückwirkend zum 1. Januar 2001 bewirkt, dass 8 Pfennig pro Liter bei Heizöl, 3,60 DM je Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17043 (C) (D) (A) (B) Megawattstunde bei Erdgas und 50 DM pro Tonne bei Flüssiggasen erstattet werden. Natürlich erwarten wir, dass die Verhandlungen dieser Bundesregierung auf europäischer Ebene die Wettbe- werbssituation wieder ins Gleichgewicht bringt und un- sere Unterglasgartenbaubetriebe dann – wie gewünscht subventionslos – erfolgreich ihrer Arbeit nachgehen kön- nen. Gravierende Wettbewerbsverzerrungen bei den Energiekosten im Vergleich zu den europäischen Nach- barn bringen die Landwirtschaft in Deutschland in Schwierigkeiten. Das ist vor allem ein Versäumnis der früheren Bundesregierung. Natürlich ist es einfacher, in Brüssel alles abzunicken. Und die verschiedenen Höhen der Mineralölsteuer sind ja nur ein Beispiel von vielen: Abbau von Wettbewerbs- verzerrungen, Steuerharmonisierung auf möglichst enge Bandbreite – da braucht man zähe, harte Verhandlungen, die die neue Bundesregierung endlich zum Thema auf eu- ropäischer Ebene gemacht hat. Bis sie die verlorene Zeit aufgeholt hat, um die Mitgliedstaaten auf eine Linie zu bringen, entlasten wir unsere Landwirte nochmals durch eine Senkung von 7 Pfennig pro Liter Diesel. Der Steuer- satz für den in der Land- und Forstwirtschaft verwende- ten Dieselkraftstoff beläuft sich damit auf 50 Pfennige pro Liter. Die Ökosteuer greift nun in der Landwirtschaft praktisch nicht. Damit erhöhen wir die Wettbewerbs- fähigkeit der deutschen Landwirte auf dem internationa- len wie europäischen Markt und gewinnen Zeit für Ver- handlungen auf europäischer Ebene. Dazu kommt noch ein Bündel von Maßnahmen, die mittel- und langfristig ihre positiven Wirkungen in den landwirtschaftlichen Be- trieben entfalten Erzeugung und Verwendung von Bio- Diesel, Nutzung der Möglichkeiten von Biomasse und andere. Das sind Chancen, die die Betriebe selbst ergrei- fen können. Ich habe auch bemerkt – gerade bei mir in der Region –, dass der teilweise selbst entfachte ruinöse Wettbewerb der Höfe aufgehört hat, immer größere, immer stärkere Trak- toren und Maschinen anzuschaffen. Seit Jahren weisen die Maschinenringe auf die oft unwirtschaftlichen, viel zu großen Maschinenausstattungen in den Betrieben hin. Durch die hohen Energiekosten scheinen die Appelle end- lich auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Energiespa- ren ist auch in der Landwirtschaft zum großen Thema ge- worden: Ein Fortschritt für den Umweltschutz und für die Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit unserer Be- triebe. Reden wir den Standort Deutschland für die Landwirt- schaft nicht schlecht. Mit der jetzigen Änderung des Mi- neralölsteuergesetzes, das die nochmalige Senkung des Steuersatzes auf Dieselkraftstoff beinhaltet, der Biomas- severordnung und der Förderung nachwachsender Roh- stoffe geht diese Bundesregierung einen großen Schritt in die Zukunft für und mit den deutschen Landwirten. Heidemarie Wright (SPD): Das Gesetz zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes, das wir heute in erster Le- sung beraten und in der nächsten Sitzungswoche zum guten Ende bringen werden, ist keine Überraschung mehr. Das Bemühen und das Ringen um diese Lösung begann schon im letzten Jahr und die Landwirtschaft hat auf die- ses Bemühen vertraut und darauf, dass wir es schaffen. Mit diesem Agrardieselgesetz, das rückwirkend zum 1. Januar 2001 in Kraft tritt, reduzieren wir nicht nur die Mineralölsteuer für die Landwirtschaft um 7 Pfennig auf 50 Pfennig, sondern geben ihr hiermit auch einen festen Steuersatz, der sie unabhängig macht von weiteren Mine- ralölsteuererhöhungen. Natürlich ist damit die Begehrlichkeit der Wünsche nicht erfüllt, wohl aber die Marge der im Sinne der ge- samten Konsolidierungspolitik verkraftbaren Steueraus- fälle erreicht. Bis zum Jahre 2003 macht dies ein Volumen von 840 Millionen DM an Steuermindereinnahmen aus – weiß Gott kein Pappenstiel. Noch mal zu den Begehrlichkeiten: Natürlich steht die deutsche Landwirtschaft im Bereich der Kraftstoffpreise im Verhältnis zu ihren europäischen Mitkonkurrenten an oberer Stelle. Aber ich bitte gerade im Bereich der Ener- giepreissituation auch die für die Landwirtschaft positi- ven Entwicklungen nicht zu vergessen. Der Biodiesel – das Gold vom Acker – boomt und hat ein Volumen von rund 400 000 t erreicht. Die Landwirtschaft hat hier nicht nur einen wirtschaftlichen Anteil als Rohstoffproduzent, sondern soll künftig über die weitere Entwicklung in der Traktorenindustrie auch als Nutzer und Betreiber von Pflanzenölschleppern den Treibstoff aus der Landwirt- schaft in der Landwirtschaft einsetzen. Biogene Treib- und Schmierstoffe und ihr verstärkter Einsatz in der Landwirtschaft müssen einen sinnvollen ökologischen und ökonomischen Kreislauf bilden. Mit dem Agrardieselgesetz und der weiteren Innovati- onsförderung im Bereich der erneuerbaren Energien, zu- sammen mit dem EEG und der morgen zu behandelnden Biomasseverordnung bringen wir die Landwirtschaft in Deutschland ein prima Stück weiter. Wir sollten uns alle gemeinsam darüber freuen. Den Dank des Bauernverban- des – aktuell nochmals vorgestern in einem Präsidialge- spräch – haben wir schon angenommen und wir werden die frohe Botschaft auch in die landwirtschaftlichen Be- triebe im Lande tragen. In der letzten Woche hatte ich in meinem Wahlkreis eine Veranstaltung zur und mit der Landwirtschaft, die wie so oft sehr zwiespältig war: Auf der einen Seite Jam- mern und Negativaufzählung, auf der anderen Seite opti- mistische Stimmung und Positivfakten – wohl gemerkt je- weils von Landwirten. Die Verbraucher betrachteten dieses ebenso erstaunt wie fasziniert. Das Fazit war: Die Landwirtschaft ist besser als ihr Ruf, sie wird jedoch durch das gebetsmühlenartige Dauerjammern – und zwar seit Jahrzehnten – in ein negatives Licht gestellt. Ich denke, es muss mit dem Dauerjammern aufgehört werden. Die Chancen und Perspektiven sind zu ergreifen, um auch den Ruf der Landwirtschaft auf die positive und optimistische Seite zu bringen. Ich will jedoch den zweiten erfreulichen Punkt des Mi- neralölsteuergesetzes ansprechen: die Entlastung für den Gewächshausanbau. Für diesen Bereich konnte eine Re- duzierung der Mineralölsteuer auf Heizstoffe um 8 Pfen- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117044 (C) (D) (A) (B) nig bei Heizöl und 3,60 DM pro Megawattstunde bei Erd- gas erreicht werden. Ich sage Dank für die Solidarität in- nerhalb der Landwirtschaft, die beim Agrardiesel auf eine weitere geringfügige Absenkung zugunsten des Ge- wächshausanbaus verzichtet hat. In der Gesamtsumme geht es hier um 60 Millionen DM, die, wie ich aber mei- ne, notwendigerweise für den Gartenbau abzuzweigen waren. Der deutsche Gartenbau war wirklich in arger Be- drängnis durch die unmittelbaren Konkurrenten aus den Niederlanden, die seit Jahren durch ihre Energiepolitik ihrem Gartenbau enorme Wettbewerbsvorteile sichern. Dies führte dazu, dass die holländischen Gartenbaube- triebe teils nur ein Drittel der in Deutschland vergleichba- ren Energiekosten zu zahlen hatten. Aus diesem verdrängenden Wettbewerbsdruck muss- ten wir unseren Gartenbau herausnehmen und ihm durch die Absenkung der Mineralölsteuer Luft zum Weiterma- chen geben. Neben dem Investitionsprogramm zur Energieein- sparung und dem Liquiditätshilfsprogramm für 2000 und 2001 ist dies eine echte Hilfe und ein ordentliches Ge- samtpaket. Ein Gesamtpaket auf dem man sich jedoch nicht aus- ruhen kann, denn das Motto „weg vom Öl/Gas“ gilt und es gilt, es insbesondere die nächsten zwei Jahren zu nut- zen. Ich will als eine der Möglichkeiten des „weg vom Öl“ hier noch mal den Energieträger Holz in Form von Holz- hackschnitzel ansprechen. Bei einem Preisäquivalent von 30 Pfennig zum Liter Heizöl ist dies eine echte und dauerhafte Alternative für die Gartenbaubetriebe. Gerade die Landwirtschaft und die Gartenbaubetriebe haben unter der unterschiedlichen Energiebesteuerung in Europa zu leiden. Deshalb wird besonders aus dieser Branche die Forderung nach einer Verbesserung der Wett- bewerbssituation durch eine EU-weite Harmonisierung der Besteuerung von Dieselkraftstoffen erhoben und die diesbezüglichen Anstrengungen der Bundesregierung nachdrücklichst unterstützt. Wir sind doch nicht auf ei- nem Basar, wo ein „wer bietet weniger“ ein geeignetes In- strument europäischer Politik ist. Vielmehr sollten unsere gemeinsamen Anstrengungen der Umsetzung der Ge- meinschaftsstrategie und des Aktionsplanes erneuerbare Energiequellen gelten. Was nützen schöne Weißbücher der EU-Kommission, wenn dann jeder den anderen dumpt auf Teufel komm raus. Norbert Schindler (CDU/CSU): Die in diesem Ge- setzentwurf vorgesehene Herabsetzung des Steuersatzes für den in der Land- und Forstwirtschaft verwendeten Dieselkraftstoff in insbesondere landwirtschaftlich ge- nutzten Traktoren soll die Wettbewerbsfähigkeit im Ver- gleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten verbessern. So steht es in der Zielsetzung der Bundestagsdrucksache 14/6141. Wenn man weiß, wie sich in Österreich und vor allem in Frankreich, dem unmittelbaren großen Mitbe- werber in der Nachbarschaft, die Steuersätze bewegen – sie liegen zwischen 7 und 12 Pfennig pro Liter – ist dies wohl ein gut gemeinter, absolut dringend notwendiger, aber nur kleiner Schritt in die richtige Richtung. Dieser beseitigt aber nicht die großen finanziellen Vorbelastun- gen, die Deutschlands Landwirtschaft gegenüber den an- deren EU-Staaten hat! Soweit zur angeblichen Wettbewerbsentzerrung. Ich erinnere noch mal gerne an das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, das bei der deutschen Landwirtschaft eine Belastung von 1,1 Milliarden DM netto in Bezug auf die Ökosteuer festgestellt hat. Hier wird die deutsche Landwirtschaft netto voll getroffen und zwar aus dem Grund, weil kein Ausgleich über die Lohn- nebenkostenverrechnung möglich ist. Dazu muss auch angemerkt werden, dass die alte Gasölbeihilfe von über 850 Millionen DM, die uns 1999 wegen Wettbewerbsver- zerrungen doch ausbezahlt wurde und dann verfallen ist, mit der Ökosteuer ein Gesamtvolumen von knapp 2 Mil- liarden DM an Belastung ergibt. Jetzt von uns zu erwar- ten, dass wir wegen der Verringerung dieses Steuersatzes noch jemandem die Füße küssen sollen, oder uns für das großzügige Geschenk bedanken sollten, wäre wirklich des Guten zu viel verlangt. Es wird weiterhin vorgerechnet, dass damit eine Entlas- tung um 200 Millionen DM für uns herauskommen würde. Bei den 57 Pfennig hat dies haushälterisch tatsächlich diese Wirkung, wenn man das Kleingedruckte mitrechnet! Dass man dem Gewächshausanbau in der Gesamtberech- nung von 60 Millionen DM auch entgegenkommen will, ist zwar eine nette Geste, entspricht aber nicht, wie ur- sprünglich gewollt und versprochen, einem Steuersatz von 47 Pfennigen für alle. Die 60 Millionen DM Unterglasver- billigung schlagen mit 3 Pfennigen somit doch zu Buche. Der Steuersatz finanziert das Geld für den Unterglasbau gegen. Ich erkenne trotzdem mit Respekt an, dass dieses Gesetz endlich in die Gänge kommt. Aber es ist entschie- den zu wenig, vor allem aus vorgenannten Wettbewerbs- gründen innerhalb der EU. Dass in diesen Tagen und Wochen der „neue Weg der Agrarpolitik“ mit finanziellen Mittelumschichtungen die gesamte Debatte überlagert, war zu erwarten. Dies ist die nächste Belastungsebene, die man der deutschen Land- wirtschaft zumutet. Die Stichworte Modulation und „Cross Compliance“ bringen wiederum sehr viel Unruhe in die gesamte deutsche Agrarwirtschaft. Es rächten sich auch die von Frau Künast mit großen Worten angekün- digten Ziele. Jetzt muss sie, um einer mediengesteuerten Hysterie Rechnung zu tragen, ideologisch bedingte Ant- worten geben. Es kann und darf nicht sein, dass man berechtigte Aus- gleichszahlungen, die man der deutschen Landwirtschaft in den Agenda-Beschlüssen Berlin 1999 und zuvor in der Agrarreform 1992 versprochen und bisher gegeben hat, nun opfert, obwohl sie politisch auch vom Kabinett Schröder bestätigt wurden. Jetzt werden die Mittel um- verteilt, nur weil es einige so wollen. Um in aller Deutlichkeit nochmals in Erinnerung zu rufen: Diese Zahlungen werden derzeit deshalb geleistet, weil man den Weizenpreis von 42 DM auf 20 DM herun- tersetzte und politisch nur die Kraft hatte, die Hälfte dieses Abschlages auszugleichen. Somit sind wir heute Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17045 (C) (D) (A) (B) schon in der Situation, dass Getreideproduktion nur noch Geldwechseln darstellt. Die Hofnachfolgefrage in allen Bundesländern gibt ein deutliches Spiegelbild über die Perspektiven, die sich po- litisch auftun. Gehen Sie einmal in die Fach- und Berufs- schulen und fragen nach dem landwirtschaftlichen Nach- wuchs: Es gibt so gut wie keinen mehr! Ich mache mir große Sorgen um die umfassende Bewirtschaftung unse- rer landwirtschaftlichen Flächen. Aber scheinbar ist es politisch absolut gewollt, dass man versucht, den neuen agrarischen Weg ausschließlich aus dem eigenen Fleisch der Agraretats zu schneiden. Herr Bundeskanzler Schröder, Frau Ministerin Künast, wer will, dass mehr Ökobetriebe in die Lage versetzt wer- den, Nahrungsmittelangebote zu erzeugen, darf, soll und muss diese unterstützen. Dafür haben Sie auch meine per- sönliche Unterstützung. Aber es darf nicht auf Kosten der übrigen Berufskollegen durch Mittelumschichtung, wie derzeit diskutiert, geschehen. Wie dabei auch die Kofinanzierungsmittel des Bundes und der Länder bereitgestellt werden können oder dürfen, fragen wir am besten die Finanzminister aller Couleur. Man muss schon ins Kleingedruckte der EU-Agendaver- träge schauen, um zu wissen, was Sache ist und welche Möglichkeiten wir haben. Auch wehre ich mich bei dieser Diskussion gegen die Schlechterstellung und Verteufelung des bisherigen land- wirtschaftlichen Nahrungsmittelerzeugung. Deutschlands Bevölkerung wird alle fünf Jahre im Durchschnitt ein Jahr älter. Das hängt nicht nur damit zu- sammen, dass ich in meinen Geburtstagswünschen jedem ein langes Leben wünsche, sondern natürlich mit gutem Weintrinken und Essen aus deutschen Landen. Oder gibt es andere Gründe? In den zuletzt genannten Punkten werden wir in den nächsten Wochen und Monaten mit Sicherheit sehr inten- sive Debatten führen. Zur energiepolitischen Kurskorrek- tur, sprich zur Ökosteuer, ist das Gesetz zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes nur ein kleiner Schritt in die rich- tige Richtung. Die Ökosteuer im jetzigen Rechtszustand und die Verwendung der damit vereinnahmten Steuergel- der hat ja mit ordnungspolitischem Lenken im eigentli- chen Sinn überhaupt nichts zu tun. Allein deshalb war die Ökosteuer von Anfang an ein Vortäuschen falscher Tatsa- chen. Ich biete Wetten an, dass wir im Sommer und im Herbst bei Benzinpreisen von DM 2,50 und darüber auch bei den Regierungsparteien eine herrliche Diskussion über die Ökosteuer bekommen werden. Dann muss auch dieses Gesetz wieder auf den Prüfstand, weil Dieselöl ebenfalls massiv im Preis ansteigen wird. Dass ich zu so später Stunde und wegen meines gerin- gen Kontingents nicht eine Generalabrechnung machen kann, tut mir deshalb Leid. Über die beiden letzten Jahre der Agrar- und vor allem der Landwirtschaftssteuerpolitik dieser Regierung wäre einiges zu sagen, was aber leider so nicht möglich ist. In der zweiten und dritten Lesung wird das gesamte Thema von mir sicherlich nochmals aufgerollt. Bis dahin wünsche ich Ihnen – hier spreche ich vor allem die Herr- schaften der Koalition an – gute Gedanken nicht nur beim Thema Agrardiesel, sondern auch bei allen von mir noch angesprochenen agrarpolitischen Themen. Zeigen Sie Vernunft in der künftigen Agrarpolitik! Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Preisanstieg beim Diesel, verursacht durch gestiegene Rohölpreise und den starken Dollar, hat im Verlaufe des letzten Jahres die Landwirtschaft überdurchschnittlich be- lastet. Die Landwirtschaft kann im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen aufgrund der spezifischen Marktor- ganisation die Energieverteuerung nicht an den Markt weitergeben. Eine untragbare Wettbewerbsverzerrung kommt da- durch zustande, dass die EU-Nachbarländer die Energie- preise massiv heruntersubventionieren, mit der Kon- sequenz, dass der Treibstoff durch unterschiedliche Besteuerung zeitweise bis zu 1 DM pro Liter billiger als in Deutschland gehalten wird. Noch schlimmer sieht die Wettbewerbsverzerrung im Gartenbau, aus. Ergebnis: Wir haben in der EU einen gemeinsamen Agrarmarkt mit har- monisierten Erzeugerpreisen und EU-Ausgleichszahlun- gen, aber mit unterschiedlichen Kostenbelastungen. Der Bundestag hat sich zügig dieses Problems ange- nommen und trotz knapper Kassen und allgemeinen Spar- zwangs eine schnelle Unterstützung beschlossen. Seit An- fang 2001 gilt das neue Agrardieselgesetz. Heute beschließen wir weitere Verbesserungen für die Land- wirtschaft und den Gartenbau weil die anhaltende Wett- bewerbsverzerrung dies nötig macht. Die Unterstützung für eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft in diesem Be- reich summiert sich damit bis 2003 auf über 2,3 Milliar- den DM. Aber wir haben diesen Systemwechsel weg von der Gasölbeihilfe hin zu einem eigenen Agrardieselsteuersatz nicht aus der gerade beschriebenen aktuellen Situation he- raus gemacht. Wir haben den Agrardiesel eingeführt, weil wir davon überzeugt sind, dass der Ersatz der alten Gasöl- beihilfe überfällig war: weniger Bürokratie, direktere Un- terstützung statt Rückerstattung. Die Einführung eines dritten Steuersatzes für Agrardiesel, der zwischen dem für stationären Verbrauch in der Produktion und dem für Straßenverkehr liegt, ist gerechtfertigt, weil die mobilen landwirtschaftlichen Maschinen in der Regel genau dies sind: Produktionsmittel, die auch – aber nur wenig – die öffentlichen Straßen benutzen und abnutzen. Insofern passt die neue Regelung in die Logik unserer Steuersyste- matik. Die Gasölbeihilfe tat dies nicht. Sie hafte zudem den Nachteil, innovationshemmend auf die Entwicklung und den Einsatz alternativer Treibstoffe zu wirken. Das haben wir jetzt geändert. Die deutsche Agrarpolitik stellt – zu Recht – hohe An- forderungen an die landwirtschaftliche Produktion in Sa- chen Lebensmittelsicherheit und -qualität, Tierschutz, Natur- und Umweltschutz. Nicht zuletzt sind für uns die Landwirte Träger der Energiewende und künftige Öko- bauern. Dazu benötigen wir eine ökonomisch lebens- fähige Landwirtschaft, die Möglichkeiten hat, in Zu- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117046 (C) (D) (A) (B) kunftstechnologien zu investieren. Mittelfristig wollen wir weg von der Abhängigkeit vom Mineralöl. Wir haben dazu ein Förderprogramm „Biogene Treibstoffe“ aufge- legt. Bis serienreife auf Rapsölbasis betriebene landwirt- schaftliche Maschinen zur Verfügung stehen, werden aber noch zwei bis vier Jahre vergehen. Bis dahin hat der Agrardiesel die wichtige Funktion, die Wettbewerbs- fähigkeit der Landwirte zu erhalten. Wir entscheiden heute auch über bedeutende Verbesse- rungen für den Gartenbau. Mit insgesamt 60 Millionen DM pro Jahr sollen die Energiekosten für den Unterglas- anbau wettbewerbsfähiger gestaltet werden. Damit und mit den Energiesparprogrammen hat die Bundesregierung effektiv zum Erhalt des deutschen Gartenbaus beigetra- gen. Da die eigentlichen Probleme für Landwirtschaft und Gartenbau nicht die objektiv hohen Belastungen und Energiepreise sind, sondern die verzerrten Wettbewerbs- bedingungen in Vergleich zu den Nachbarländern, muss dieses Problem auch auf der EU-Ebene gelöst werden. Diese Wettbewerbsverzerrung innerhalb der EU – die im Übrigen von der alten Bundesregierung immer geduldet bzw. mitbeschlossen wurde – ist nicht weiter hinnehmbar. Um die Wettbewerbsbedingungen zu nivellieren, muss die Europäische Kommission handeln und für einheitli- che Wettbewerbsbedingungen sorgen. Hier ist in der Ver- gangenheit eine Entwicklung verschlafen worden. Die CDU/F.D.P.-Bundesregierung hat nichts getan, um in der EU vergleichbare Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Im Gegenteil, sie hat die massive Subventionierung des niederländischen Erdgases für den Gartenbau noch unter- stützt. Die rot-grüne Bundesregierung setzt sich unmiss- verständlich und vehement dafür ein, dass es endlich zu einer Harmonisierung der Energiebesteuerung in der EU kommt. Marita Sehn (F.D.P.):Wenn regional erste Wahl sein soll, dann müsste das doch eigentlich heißen, dass die re- gionale, sprich einheimische Landwirtschaft, gestärkt werden soll. Die logische Schlussfolgerung wäre eigent- lich, dass die Politik dafür sorgt, dass die deutsche Land- wirtschaft die gleichen Produktionsbedingungen hat wie ihre europäische Konkurrenz. Wenn regional wirklich erste Wahl für die Politik wäre, dann müssten die deut- schen Landwirte nicht mehr für Energie bezahlen als ihre europäischen Kollegen. Aber ist es denn auch wirklich so? Zahlt der deutsche Bauer nicht mehr für seinen Diesel als der französische und muss der deutsche Gartenbaubetrieb tatsächlich nicht mehr für sein Heizöl bezahlen als der niederländische? Ich denke, Sie alle kennen die Antwort. Regional ist erste Wahl, das ist die Theorie. Unter- schiedliche Wettbewerbsbedingungen in der Europä- ischen Union, das ist die Realität. Wer die deutsche Land- wirtschaft mit immer neuen Auflagen belastet, der macht sich zum Exportgehilfen für die europäische Konkurrenz. Vielleicht darf ich Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, daran erinnern: Versprochen hatten Sie eine Absenkung auf 47 Pfennig pro Liter. Bei dieser Regierung ist es schon eine traurige Gewohnheit gewor- den: Die meisten Versprechen bleiben Versprecher. Die F.D.P. wird diesen politischen Gedächtnisschwund nicht einfach hinnehmen und Sie immer wieder an ihre Versprechungen erinnern. Wer die ganze Hand verspro- chen hat, der kann schließlich nicht nur den kleinen Fin- ger anbieten. Aber vielleicht hat die Regierung aufgrund ihres chro- nisch schlechten Gedächtnisses es bereits vergessen: Bis Ende 1999 zahlten die Landwirte eine Steuer von 27 Pfen- nig pro Liter Diesel. Mit der Ablösung der Gasölbeihilfe durch die Agrar- dieselregelung erhöhten sich die Kosten für die Land- wirte auf 57 Pfennige pro Liter. Auch eine Agrarwende. In Anbetracht der gestiegenen Rohölpreise hatte der damalige Landwirtschaftsminister Funke den Landwirten im Oktober 2000 eine Absenkung auf 47 Pfennige pro Li- ter versprochen. Diese Forderung wurde auch von der SPD-Fraktion mitgetragen. Herr Funke und die SPD sind aber am entschiedenen Widerstand von Herrn Berninger gescheitert. Mittlerweile haben wir Mai, Herr Funke genießt sei- nen wohlverdienten Ruhestand, Herr Berninger ist Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium und erst jetzt senkt die Regierung die Steuer auf den Agrardiesel auf 50 Pfennige ab. Aber: Bei 47 Pfennigen pro Liter liegt die Meßlatte und nicht bei 50 Pfennigen. Sie sollten eines nicht vergessen: Es geht hier nicht um Geld, welches Sie der Landwirtschaft geben, sondern da- rum, ihr weniger zu nehmen. Wenn die Regierung es ernst meint mit „Regional ist erste Wahl“, dann ist es unlogisch, gerade die heimische Landwirtschaft immer stärker zu be- lasten. Bei dieser Politik zählt nicht nur die Landwirtschaft zu den Verlierern, sondern auch die Verbraucher. Statt si- chere Lebensmittel von deutschen Bauern werden durch diese Politik Lebensmittelimporte gefördert. Auch aus Ländern, wo das Künastsche Reinheitsgebot der Rind- viehhaltung unbekannt ist. „In unsere Kühe kommt nur Getreide, Gras und Was- ser!“, so weit so gut, aber was ist mit denen in Neuseeland, in Amerika, in Osteuropa oder in den anderen EU-Län- dern? Kersten Naumann (PDS): „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“, so könnte das Motto der Aktion der Bundesregierung lauten. Nachdem Mitte April der Kabinettsbeschluss des heute vorliegenden Entwurfs zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes, insbesondere die rückwirkende Senkung des Steuersatzes von 57 auf 50 Pfennig je Liter Agrardiesel, bekannt wurde, erntete die Bundesregierung keinen Beifall von den Bäuerinnen und Bauern. Das große Aufatmen der Betroffenen nach dem Motto „Nun ist es doch nicht so schlimm gekommen“ blieb aus, da sich die Landwirte veralbert fühlen mussten, als die Korrektur als Absenkung der Agrardieselsteuer vollmun- dig verkündet wurde. Die Realität ist doch, dass erstens noch immer ein Anstieg von 29 Pfennig je Liter gegen- über dem bis Anfang 1999 geltenden Nettosteuersatz von 21 Pfennig kostenseitig zu schultern ist, und dass zweitens Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17047 (C) (D) (A) (B) die 50 Pfennig je Liter einen gravierenden Wettbewerbs- nachteil in EU-Europa darstellen, wo es immerhin Mine- ralölsteuersätze von beispielsweise Null in Dänemark, 5 Pfennig in Frankreich oder 10 Pfennig in Großbritan- nien gibt. So habe ich mir – das gilt sicherlich auch für die Landwirte – die Umsetzung der Forderung nach Schritten zur europäischen Steuerharmonisierung nicht vorgestellt. Die Agrardieselregelung kann man nicht losgelöst von anderen Bedingungen beurteilen. Immerhin ist die Situa- tion für die Landwirte derzeit schwierig. Insbesondere wegen der großen BSE-bedingten Einkommensausfälle bei Rind, zu denen täglich neue Einbußen hinzu kommen. Auf der anderen Seite verhehle ich nicht eine bestimmte Genugtuung. Die PDS-Fraktion hatte als einzige in das parlamentarische Verfahren zum Agrardieselgesetz einen Änderungsantrag eingebracht. Wir wollten 47 Pfennig je Liter Agrardiesel, also 10 Pfennig weniger, was einem Entlastungsvolumen von 200 Millionen DM entsprochen hätte. Im vorliegenden Änderungsentwurf geht es ebenfalls um 200 Millionen DM. Allerdings entfallen nur 140 Mil- lionen DM auf Agrardiesel; 60 Millionen sollen dem Un- terglasgartenbau zur Verfügung stehen. Letzteres hatte ich mir als gesonderte Lösung vorgestellt. Das eigentliche Problem ist jedoch, dass am 16. November vorigen Jah- res, dem Tage der Verabschiedung des Gesetzes, bereits allen Beteiligten – Koalition wie Opposition – klar war, dass die 57 Pfennig nicht zu halten sind. Selbst der dama- lige Bundesminister Funke sagte in der Debatte unter Be- zugnahme auf meine Ausführungen – ich zitiere –: „Als wir das Agrardieselgesetz debattierten, hätten wir andere Schwerpunkte setzten müssen, wenn wir gewusst hätten, dass sich angesichts der Marktverhältnisse im Energie- sektor andere Bedingungen stellten.“ Er kündigte bereits zur Verabschiedung des Gesetzes dessen Korrektur an. Ich bin davon überzeugt, sie wäre bereits damals möglich gewesen. Wenigstens diesmal sollte bis zu Ende gedacht werden. Das wäre im Interesse der Landwirtschaft und der Politik. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge – FairerWettbewerb bei Basel II – Basel II – Belange des Mittelstandes wahren – FairerWettbewerb bei Basel II – Neufassung der Basler Eigenkapitalvereinbarung und Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatzpunkte 10 und 11) Klaus Lennartz (SPD): In den letzten Wochen und Monaten gingen im Zusammenhang mit der Baseler Ei- genkapitalvereinbarung folgende Schlagworte durch die Wirtschaftspresse: Mittelständler werden abserviert; Pis- tole auf der Brust des Mittelstandes; Kreditvergabe an den Mittelstand auf dem Prüfstand oder: Geschäftsbanken ziehen sich aus der Fläche zurück, um sich auf Großkun- den und innovative Unternehmen guter Bonität zu kon- zentrieren. In der Tat: Die Baseler Eigenkapitalvereinbarung darf nicht zu einer Benachteiligung bewährter deutscher Wirt- schaftstrukturen führen, die mittelständisch, dezentral und damit letztlich deutlich weniger krisenanfällig als an- dere sind. Die Überlegungen des Baseler Ausschusses sind grundsätzlich gut und ausdrücklich zu unterstützen: Risi- koreicher Kredit soll von den Kreditinstituten stärker mit Eigenkapital unterlegt werden als risikoarmer Kredit. Aber: Neue Wirklichkeiten schaffen, das heißt auch, die tatsächlichen Wirklichkeiten nicht zu ignorieren. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen: Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer heimischen Wirtschaft. Ihn gilt es vor übertriebenem Regulierungswahn und übersteigerter Risikovorsorge zu schützen. Über 70 Prozent aller Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also 24,5 Millionen, sind bei kleinen und mittelständischen Betrieben beschäf- tigt. In mittelständischen Betrieben und im Handwerk werden Jahr für Jahr Hunderttausende neuer Arbeitsplätze geschaffen. Kleine und mittlere Unternehmen machen über 90 Prozent der Betriebe aus. 80 Prozent aller Lehr- linge werden in kleinen und mittelständischen Unterneh- men ausgebildet. Kleine und mittelständische Betriebe sind in vielen Bereichen flexibler, innovativer und enga- gierter als Global Players. Diese Unternehmen sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Sie verdienen unsere volle Unterstützung – nicht in Sonntagsreden, sondern in der konkreten Tat. Die Schattenseite des Mittelstandes ist mit Blick auf Basel II seine vergleichsweise geringe Kapitalausstat- tung. Während die durchschnittliche Eigenkapitalquote in Deutschland zwischen 10 und 20 Prozent liegt, beträgt sie in den USA 50 Prozent, in Frankreich über 30 Prozent, in angelsächsischen Unternehmen 35 bis 40 Prozent und in Spanien über 40 Prozent. Für Investitionen aus eigener Kraft bleibt da kein Spielraum. Der Weg zur Bank ist für die meisten Betriebe bei uns lebensnotwendig. Ausdrücklich ist daher den deutschen Verhandlungs- führern zu Basel II zu danken. Es ist ihnen gelungen, zu einer Reihe von Regelungen eine Verständigung herbei- zuführen, die insbesondere für den deutschen Mittelstand erhebliche Bedeutung haben. Dies ist vor allem die Einführung eines auf bankinterne Ratings gestützten Ansatzes. Er erlaubt es der Hausbank eines mittelständischen Unternehmens, eben neben der reinen Bewertung quantitativer Faktoren, wie der Eigen- kapitalquote, auch qualitative Aspekte zu berücksich- tigen. Über das von vielen Banken und vor allem Spar- kassen gelebte Beziehungsbanking können so objektive Daten zum Unternehmer, seinen Planungen und Produk- ten in das interne Rating einfließen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117048 (C) (D) (A) (B) Ein Erfolg der Verhandlungsführer ist nicht minder die nur 50-prozentige Anrechnung des gewerblichen Real- kredites sowie Sonderregelungen für die Anrechnung von Kreditrisiken aus Geschäften mit Privatkunden. Die vorgeschlagenen Regelungen weisen allerdings im Detail noch eine Vielzahl von Fragen auf. Wichtige Sach- verhalte sind ungeklärt, die zur abschließenden Beurtei- lung der Auswirkungen der neuen Regelungen auf die Kreditinstitute und deren Kreditnehmer von Bedeutung sind. In einigen zentralen Punkten besteht sogar die Ge- fahr, dass die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 8. Juni letzten Jahres unterlaufen wird. Das darf nicht sein. Es muss unbedingt vermieden werden, die Kredit- vergabe an mittelständische Unternehmen erheblich zu verteuern und möglicherweise sogar zu gefährden. So ist zunächst sicherzustellen, dass für langfristige Kredite kein überteuerter Zinssatz eingeführt wird. Der langfristige Kredit ist ein wesentlicher Eckpfeiler der be- währten Finanzierungskultur in Deutschland. In Deutsch- land haben über 50 Prozent aller Handwerksbetriebe mit- tel- bis langfristige Kredite aufgenommen. Die Forderung von Basel, langfristige Kredite mit dem Sechsfachen an Eigenkapital zu hinterlegen, ist völlig in- akzeptabel. Welcher Mittelständler kann es sich schon leisten, für langfristige Kredite bis zu 15 Prozent an Zin- sen zu zahlen. Eine hohe Eigenkapitalunterlegung lang- fristiger Kredite nimmt den Unternehmen die günstige und stabilisierende langfristige Finanzierungsmöglich- keit. Auch bei den Gewichtungssätzen ist eine strukturelle Benachteiligung des Mittelstandes zu vermeiden. Eine dynamische Entwicklung der deutschen Wirtschaft setzt ausreichende Finanzierungsmöglichkeiten zu angemesse- nen Konditionen voraus. Hier schließe ich ganz besonders Existenzgründer mit ein. Deshalb müssen kleinere Ge- werbekunden und Existenzgründer ebenso wie die Privat- kunden behandelt werden und in separaten Portfolien, Retail, zusammengeführt werden, um von einer niedrigen Eigenkapitalanforderung und damit günstigeren Kondi- tionen zu profitieren. Die Absicht des Baseler Ausschusses, Sicherheiten stärker als bisher bei der aufsichtsrechtlichen Eigenkapi- talbestimmung zu berücksichtigen, wird von der Kredit- wirtschaft ausdrücklich begrüßt. Allerdings ist der Kreis der anrechnungsfähigen Sicherheiten sehr eng gesteckt. Die Vorschläge spiegeln das mittelständische Kreditge- schäft nur unzureichend wider. Deshalb ist zu fordern, den Kreis der anrechnungsfähigen Sicherheiten auf sämtliche banküblichen Sicherheiten, wie beispielsweise Mobiliar- sicherheiten und Grundpfandrechte, zu erweitern. Die Verhandlungen des Baseler Ausschusses für Ban- kenaufsicht scheinen bei flüchtiger Betrachtung eher für eine begrenzte Expertenrunde als für eine breite politische Diskussion geeignet zu sein. Ein trügerischer Eindruck – und ein fataler hinzu. Hinter 500 eng beschriebenen Sei- ten von Papier liegt jede Menge Sprengstoff, der insbe- sondere den deutschen Mittelstand und das Kreditwesen torpediert. Die Zündschnüre, die in Basel bei der Neufassung der Eigenkapitalvorschriften für Kreditinstitute gelegt wer- den, glimmen bereits. Es muss unsere Aufgabe sein, diese auszutreten – im Interesse von Mittelstand, Handel, Hand- werk und Gewerbe. Ich bin daher allen Fraktionen des Deutschen Bundes- tages äußerst dankbar, dass diese Entschließung gemein- sam getragen wird. Sie stellt einen weiteren Schritt zur Si- cherung unseres Wohlstandes dar und unterstützt die Regierung in der Durchsetzung legitimer deutscher Inte- ressen in den internationalen Verhandlungen. Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Mit dem gemeinsa- men Antrag vom 31. Mai 2001 – Drucksache 14/6196 – der Fraktionen im Finanzausschuss liegt unser gemeinsa- mes Beratungsergebnis zu den weiteren Beratungen im Baseler Ausschuss vor. Das Ergebnis der gemeinsamen Beratungen hat aber auch eine Vorgeschichte, die hier nicht unerwähnt bleiben darf: Nur aufgrund der Initiative der CDU/CSU-Fraktion und unseres Antrages vom 15. Mai 2001 – Drucksache 14/6049 – haben wir es er- möglicht, dass noch zeitnah vor Ende der Konsultations- frist – also noch vor dem 31. Mai 2001 – mit den Fach- leuten des Zentralen Kreditausschusses, den Vertretern der Bundesbank und Vertretern des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen wichtige Beratungsgespräche geführt wurden. In der gemeinsamen Sitzung des Finanzausschusses vom 16. Mai 2001 mit den Vertretern des Zentralen Kre- ditausschusses wäre diese Thematik sonst nicht proble- matisiert worden und die Grundlage für unser heutiges gemeinsames Verhandlungsergebnis nicht geschaffen worden. Nach der ursprünglichen Terminplanung wäre dies womöglich erst in der Sitzung am 30. Mai 2001 zur Sprache gekommen. Auch die Vorsitzende des Finanzausschusses, Frau Kollegin Scheel, wollte dieses Thema zunächst erst in der Sitzung am 30. Mai 2001 behandeln. Daher ist auch er- klärbar, warum die Frau Vorsitzende die Einbringung un- seres Antrages „Fairer Wettbewerb bei Basel II“ – Druck- sache 14/6049 vom 15. Mai 2001 – in der Sitzung des Finanzausschusses am 16. Mai 2001 zu unterlaufen suchte. In Erinnerung zu rufen ist unsere gemeinsame Entschließung vom 7. Juni 2000 – Drucksache 14/35231 –, mit der es uns gelungen ist, über die Verhandlungsführer wichtige Punkte bereits positiv umzusetzen. Als Beispiele sind hier zu nennen: die Einführung eines gleichwertigen bankinternen Ratings, welches die Ermittlung der Eigen- kapitalanforderungen für das Kreditrisiko erleichtert; die Festlegung des ermäßigten Gewichtungssatzes in Höhe von 50 Prozent für den gewerblichen Realkredit; die Festlegung eines festen Zeitpunktes für ein einheitlich weltweites In-Kraft-Treten der neuen Standards; die Berücksichtigung verminderter Kreditrisiken bei Kredit- geschäften mit Privatkunden, die die Festsetzung ange- messen niedriger Anrechnungssätze für Kredite an Hand- werksbetriebe und andere Kleinbetriebe zur Folge hat. Die deutschen Bankenaufsichtsvertreter konnten in Basel auch diese wichtigen Punkte aus der Entschließung des Bundestages vom 8. Juni 2000 in den Verhandlungen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17049 (C) (D) (A) (B) durchsetzen. Dies sind wichtige Voraussetzungen, damit die Kreditversorgung der deutschen Wirtschaft, insbeson- dere der mittelständischen Unternehmen, weiterhin gesi- chert ist. Zu Beginn des Jahres 2001 hat der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht ein zweites Konsultationspapier mit Frist zur Stellungnahme bis 31. Mai 2001 herausgegeben. In diesem mehr als fünfhundertseitigen „Umsetzungs- papier“ stellte sich heraus, dass wichtige Punkte der ge- meinsamen Entschließung teilweise unterlaufen werden; außerdem kamen zwischenzeitlich neue Problemstellun- gen hinzu. Ferner sollten laut „Umsetzungspapier“ Be- rechnungen erfolgen, für die es zurzeit noch keine kon- kreten Handlungsanweisungen gibt. Der Bankenausschuss hat wiederholt betont, dass sich die neue Eigenkapitalvereinbarung insgesamt kapitalneu- tral auswirken soll, das heißt, dass die durchschnittlichen Kapitalanforderungen nicht sinken, aber auch nicht stei- gen sollen; erwartete Einsparungen im Kreditrisikobe- reich sollen durch Kapitalunterlegung für operationelle Risiken als Ausgleich dienen. Parallel hierzu hat auch die EU-Kommission am 5. Februar 2001 ihrerseits ein zwei- tes Konsultationspapier zur Stellungnahme vorgelegt. Die Vorschläge aus dem Baseler Ausschuss vom 16. Januar 2001 verlangen in einigen Punkten unsere besondere Auf- merksamkeit. Deshalb haben wir im vorliegenden ge- meinsamen Antrag die Bundesregierung ersucht, sicher- zustellen, dass diese Forderungen in allen internationalen Verhandlungen zu den Eigenkapitalrichtlinien des Base- ler Ausschusses für die Bankenaufsicht und bei der Über- nahme dieser Richtlinien durch die EU-Kommission um- gesetzt werden. Die einseitigen Benachteiligungen und Belastungen für die mittelständischen Unternehmen müs- sen verhindert werden und die Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen den nationalen Kreditinstituten un- tereinander sowie im Verhältnis zu den international täti- gen Kreditinstituten muss aufrechterhalten werden. Um dies sicherzustellen, stellen wir folgende Forderungen im Einzelnen: Erstens. Bei der Festlegung der Risikogewichtung darf es zu keiner generellen Erhöhung der Eigenkapitalbelas- tung für die deutschen Kreditinstitute kommen, die insbe- sondere auch durch risikoinadäquate Kapitalanforderun- gen für operationelle Risiken verursacht werden. Eine Ursache für die hohen relativen Risikogewichte ist, dass bei deren Festlegung der Baseler Ausschuss für Banken- aufsicht von der Vorstellung ausgeht, mit bankaufsichtlich vorgegebenem Eigenkapital müssten nicht nur die uner- warteten, vielmehr auch die erwarteten Verluste aus Kre- diten unterlegt werden. Weiterhin hat diese Erhöhung auch zur Folge, dass mittelständische Unternehmen in Deutschland unangemessen benachteiligt würden und so- wohl im nationalen als auch im internationalen Wettbe- werb Nachteile erführen. Zweitens. Die Übergangsfristen in Bezug auf die Min- destanforderungen für die gleichberechtigte Anwendung interner Ratingverfahren sollte flexibler gefasst und so ausgestaltet werden, dass sie allen Bankengruppen eine faire und realistische Chance bieten, von den Vorteilen der neuen Regelungen zu profitieren. Allein diese flexiblere Anwendung garantiert die Chancengleichheit aller Bankengruppen bei der Schaf- fung von Risikokontrollsystemen durch den Aufbau von Datensammlungen. Das sehr komplexe Kreditvergabewe- sen in Deutschland erfordert lange Übergangsfristen für die Schaffung dieser Datenbasen. Drittens. Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht sollte von der Forderung Abstand nehmen, dass für Kre- dite mit einer längeren Laufzeit eine höhere Eigenkapital- unterlegung vonnöten sein solle als für Kredite mit kurzer Laufzeit. Wir als CDU/CSU-Fraktion konnten uns leider nicht durchsetzen, das Wort „unangemessen“ in Bezug auf den Malus zu streichen. Wir wolten verdeutlichen, dass kein Malus in Frage kommt. Zurzeit diskutiert man in Basel Eigenkapital-Unterle- gungen für diesen Bereich von 1,2- bis zum 6fachen. Dies sind für die deutschen Finanzierungsstrukturen gerade der mittelständischen Unternehmen unakzeptable Bedingun- gen. Sollte dies dennoch kommen, würden insbesondere die deutschen mittelständischen Unternehmen benachtei- ligt werden, die schon immer den langfristigen Kredit als Folge einer weitsichtigen Unternehmenspolitik bevorzugt haben. Langfristige Kredite tragen aufgrund ihrer verläss- licheren Kalkulierbarkeit wesentlich zur Stabilisierung bei. Viertens. Bei der Berechnung der Eigenkapitalunterle- gung sollten wichtige Kreditbesicherungsinstrumente des deutschen Mittelstandes risikomindernd anerkannt wer- den – so etwa die Sicherungsübereignung und die Bestel- lung eines Grundpfandrechtes bei einem Betriebsmittel- oder Investitionskredit und die Abtretung der Ansprüche aus Kapitallebensversicherungsverträgen bei Personen- unternehmen. Fünftens. Bei der Verwendung des internen Ratingver- fahrens darf der Besitz von Aktien und die Beteiligung von Banken an dritten Unternehmen nicht als ein deutlich höheres Risiko eingestuft werden als ein Kredit an dieses Unternehmen. Andernfalls würden gerade junge Mittel- standsunternehmen im Wettbewerb benachteiligt, weil gerade Existenzgründer oft ihre Finanzierung durch Be- reitstellung dieses Wagniskapitals sichern. Der Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, dass der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht nach seinem für die künftige Eigenkapi- tal-Unterlegungen wichtigen Treffen im Oktober 2001 eine weitere Konsultation durchführt, wurde leider nicht aufgenommen. In dem gemeinsamen Antrag konnten wir jedoch erreichen, dass der Deutsche Bundestag die Bun- desregierung gemeinsam mit der Deutschen Bundesbank ersucht, dass der Finanz- und der Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages, das Kreditgewerbe und die Wirtschaft vor der deutschen Zustimmung zu der beab- sichtigten Vereinbarung die Möglichkeit zur Stellung- nahme erhalten. Die Diskussion über Basel II wird bis zu deren Unter- zeichnung ein weiterer permanenter Diskussionsprozess bleiben, deshalb auch diese Forderung an die Bundesre- gierung. Mit diesem gemeinsamen Antrag sind die Forde- rungen der deutschen Seite für die Verhandlungsführer eindeutig formuliert mit der Bitte, die Umsetzung dieser Punkte bei den Verhandlungen sicherzustellen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117050 (C) (D) (A) (B) Hiermit haben die Verhandlungsführer eine gute Ver- handlungsposition, da das deutsche Parlament hinter die- sen Forderungen steht. Gleichzeitig bietet auch der Passus „mit dem Sicherstellen der Forderung“ die Möglichkeit, für die Verhandlungsführer, bei Nichterreichung unserer gemeinsamen Position vom Vetorecht Gebrauch zu ma- chen. Denn unsere Forderung ist: Fairer Wettbewerb bei Ba- sel II. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich freue mich, dass sich alle Fraktionen auf einen gemeinsa- men Antrag zum zweiten Konsultationspapier des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht zur Neuregelung der an- gemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten (kurz: Basel II) verständigt haben. Diese parlamentari- sche Einigung soll helfen, die deutschen Positionen im in- ternationalen Dialog zu stärken. Die Baseler Bank für In- ternationalen Zahlungsausgleich (BIZ) will mit diesem internationalen Konsultationsprozess die Bedingungen für das Kreditgeschäft von Banken neu regeln. Diese dann international gültigen Eigenkapitalanforderungen für Banken sollen einen Beitrag zur Stabilisierung der inter- nationalen Finanzarchitektur leisten. Die Regeln sollen im Jahr 2004 international in Kraft treten. Im Grundsatz müssen Banken höhere Risiken bei der Einräumung von Krediten für Unternehmen dann mit mehr Eigenkapital absichern. Am Konsultationsprozess haben in Deutsch- land alle relevanten Verbände der Kreditwirtschaft und der Kredit nehmenden Wirtschaft teilgenommen und wer- den auch bis zur abschließenden Beratung weiter beteiligt werden. Wir haben uns im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages wiederholt mit dem Thema auseinander ge- setzt und dabei eine gemeinsame Formulierung verein- bart. Diese ist Gegenstand der heutigen Beschlussfas- sung, die dem Bundestag vorliegt. Gewissermaßen als Fortsetzung der Stellungnahme vom Juni des letzten Jah- res werden im jetzigen Entschließungsantrag die Fort- schritte im internationalen Konsultationsprozess begrüßt. Dazu zählen die Einführung eines auf bankinterne Ra- tings gestützten einfachen Ansatzes zur Ermittlung der Ei- genkapitalanforderungen für das Kreditrisiko, die Festle- gung des ermäßigten Gewichtungssatzes in Höhe von 50 Prozent für den gewerblichen Realkredit, die Berück- sichtigung verminderter Kreditrisiken beim Kreditge- schäft mit Privatkunden im Rahmen der auf bankinterne Ratings gestützten Ansätze und damit die Schaffung einer wesentlichen Voraussetzung für die Festsetzung ange- messen niedriger Anrechnungssätze für Kredite auch an Handwerksbetriebe und Kleinbetriebe des Mittelstandes sowie eine Festlegung eines festen Zeitpunktes für ein einheitlich weltweites In-Kraft-Treten der neuen Stan- dards. Dieser Zwischenerfolg im Rahmen des Verhandlungs- prozesses ist sicherlich ein Ergebnis gemeinsamer An- strengungen im internationalen Dialog. Dabei will der Deutsche Bundestag aber nicht stehen bleiben, sondern richtet an den vor uns liegenden Teil des Konsultations- prozesses einige wichtige Anforderungen. Derzeit werden unter Beteiligung von rund 50 Privatbanken, Sparkassen und Landesbanken sowie Kreditgenossenschaften unter Betreuung der Deutschen Bundesbank Daten erhoben und zusammengestellt für die so genannten „country reports“. Im Spätsommer 2001 werden diese Ergebnisse den Mit- gliedern des Baseler Ausschusses vorgelegt. Erst auf die- ser Datengrundlage sind Abschätzungen über die verän- derten Eigenkapitalanforderungen und damit auch Kreditkosten möglich. Die bislang vorliegenden Konsul- tationspapiere enthalten noch keine endgültigen Festle- gungen für die Anrechnungsgrundsätze für die Kapitalun- terlegung des Kreditrisikos bei Anwendung der auf bankinterne Ratings gestützten Ansätze. Deshalb ist aus Perspektive des Bundestages sicherzu- stellen, dass die endgültige Struktur der Gewichtungs- sätze bei der Ermittlung der Eigenkapitalanforderungen für das Kreditrisiko im Rahmen der auf bankinterne Ra- tings gestützten Ansätze und die Anrechnungssätze für operationelle Risiken so ausgestaltet sind, dass risiko- überzeichnende Eigenkapitalanforderungen und damit eine generelle Verteuerung von Firmenkrediten vermie- den und insbesondere die kleinen und mittleren Unter- nehmen fair behandelt werden; die Übergangsfristen bezüglich der Mindestanforderungen für die gleichbe- rechtigte Anwendung interner Ratingverfahren flexibler gefasst und so ausgestaltet werden, dass sie allen Ban- kengruppen die Chance bieten, von den Vorteilen der neuen Regelungen zu profitieren; bei dem auf bankinterne Ratings gestützten Ansatz kein ungerechtfertigter Malus für mittel- und langfristige Kredite eingeführt wird; be- währte Kreditbesicherungen für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland bei der Berechnung der Eigenkapitalunterlegung wie die Begebung von grund- pfand-rechtlichen Sicherheiten, die Sicherungsübereig- nung bei einem Betriebsmittelkredit und Investitionskre- dit und die Abtretung der Ansprüche aus Kapital- lebensversicherungsverträgen bei Personenunternehmen in angemessener Weise risikomindernd anerkannt wer- den. Letzter Punkt ist angesichts der praktizierten Kredit- besicherungen für kleine und mittlere Personengesell- schaften von hoher Relevanz. Angesichts der Tatsache, dass die Auswirkungen der Neuregelung von Basel II erst im Herbst 2001 nach Aus- wertung der aufbereiteten Datenbasis und der weiteren in- ternationalen Konsultationsgespräche überschaubar sind, ist es für den deutschen Bundestag eine Selbstverständ- lichkeit, dass er vor der Zustimmung zu der geplanten in- ternationalen Vereinbarung die Möglichkeit zur erneuten Stellungnahme erhält. Dieser Anspruch gilt selbstver- ständlich auch für das Kreditgewerbe und die Kredit auf- nehmende Wirtschaft. Rainer Funke (F.D.P.): Unter dem kryptisch klingen- den Stichwort „Basel II“ werden in der Öffentlichkeit in letzter Zeit viele Ängste geschürt, wie ich meine, zum Teil zu Recht, aber auch zum Teil zu Unrecht. In der Tat haben die bisherigen Beschlüsse zu den Baseler Eigenkapital- vorschriften einen großen Einfluss auf unsere mittelstän- disch orientierte Wirtschaft und auch auf unsere mittel- ständisch ausgerichteten und häufig auch mittelständisch strukturierten Finanzinstitute. Die Folgen von „Basel II“ Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17051 (C) (D) (A) (B) werden für den Mittelstand gravierend sein, allein wenn man bedenkt, dass die Eigenkapitalquote unserer mittel- ständischen Unternehmen häufig bei 20 Prozent und dar- unter liegt, dem gemäß eine Fremdkapitalfinanzierung bis zu 80 Prozent notwendig ist. Dagegen sind die Kapital- verhältnisse in den USA genau umgekehrt: 80 Prozent werden eigenfinanziert und 20 Prozent fremdfinanziert. Die mittelständische Wirtschaft spielt in den USA eine geringere Rolle als in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen wäre es gefährlich, sich in Basel ausschließlich an den amerikanischen Vorstellungen zur Kreditfinanzie- rung zu orientieren. Der Deutschen Bundesbank und auch der Bundesre- gierung ist Dank zu sagen, dass sie auf die besonderen In- teressenslagen, die sich ja auch mit anderen europäischen Ländern decken, in Basel hingewiesen und sich in weiten Teilen auch haben durchsetzen können. Im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung steht das Rating für mittelständische Unternehmen, mit anderen Worten: Kreditbeurteilung eines jeden Unterneh- mens nach einem festgelegten Muster – man könnte auch sagen: Formular – durch die Kredit gebende Bank. Dabei ist inzwischen geklärt, dass diese Ratings sowohl durch externe Ratinggesellschaften vorgenommen werden kön- nen aber auch durch interne Ratings der Banken, die ja auf diesem Gebiet entsprechende jahrelange Erfahrungen ha- ben. In der Öffentlichkeit ist häufig der – falsche – Ein- druck entstanden, dass die Ratingsysteme völlig neu seien. Diese Systeme bestehen seit langem und sind in den letzten Jahren immer mehr verfeinert worden. Die Ratings der Kreditinstitute sind für den Mittelstand preislich güns- tiger als externe Ratings, wenn man auch ehrlicherweise sagen muss, dass Kreditinstitute keine Wohlfahrtinstitute sind und dem gemäß die Kosten für das Rating im Preis für den Kredit mit eingehen. Dieses Ratingsystem hat sich für Banken und auch für die kreditnehmende Wirtschaft durchaus positiv ausge- wirkt, weil durch dieses Verfahren Schwachstellen bei den Kreditnehmern frühzeitig aufgedeckt werden können und das Kreditrisiko bei den Banken in Grenzen gehalten werden kann. Deswegen sehe ich das Hauptproblem bei „Basel II“ nicht so sehr im Ratingsystem, sondern eher bei der Frage, in welchem Umfang die kreditgebenden Ban- ken die Kredite durch Eigenkapital unterlegen müssen. Insoweit wird sich die Bankenlandschaft in der Bundes- republik Deutschland sicherlich grundlegend verändern. Der zusätzliche Eigenkapitalbedarf wird zu einer Kon- zentration im Sparkassen-, Volksbanken- und Raiffeisen- bereich führen, aber auch bei vielen anderen mittelstän- disch orientierten Bankinstituten. Auf der anderen Seite wird dies aber auch für innovative Kreditinstitute neue Chancen eröffnen, zum Beispiel auch Verbriefung und Verhandelbarkeit von Forderungen, so wie es heute schon in den USA für ganze Körbe von Kreditportefeuilles gilt. Auf diese Weise entlasten sich die Banken auf der Aktiv- seite und damit auch hinsichtlich des Zwangs, zusätzlich Eigenkapital zu bilden. Eine Fundamentalopposition gegen „Basel II“ macht keinen Sinn. „Basel II“ kann auch ein Fundament für zu- sätzliche Produkte an internationalen Finanzmärkten sein, wenn es international voll umgesetzt wird. Und dies liegt im Interesse des deutschen Mittelstandes, der auch export- orientiert ist. Die Ratingverfahren sind eine Chance zur Früherkennung von Mängeln in der Unternehmensstruk- tur, wobei ich nicht verkenne, dass Kredite für Firmen in schwierigen Branchen oder mit schlechter Eigenkapital- ausstattung zweifellos teurer werden; dasselbe gilt leider auch für schöpferisch innovative Jungunternehmen. Deswegen wird in Basel bei einzelnen Bedingungen im Entwurf noch nachverhandelt werden müssen, wie zum Beispiel bei der Berücksichtigung von Kreditlaufzeiten und der zu finanzierenden Produkte, aber auch im Hin- blick auf die Anerkennung von Sicherheiten und deren Beurteilung. „Basel II“ bedeutet also für den deutschen Mittelstand und für die kreditgebenden Institute Risiko, Bereitschaft zur Veränderung, aber zugleich auch Chance. Dr. Barbara Höll (PDS): Zukünftig sollen internatio- nale Finanzkrisen noch wirksamer bekämpft werden. Zu diesem Zweck wird – auf internationaler Ebene – bereits seit einiger Zeit an internationalen Richtlinien zu einer Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten gearbeitet. Diese Verhandlungen sind zweifelsohne ein mühseli- ger Prozess. Schließlich agieren die Kreditinstitute der verschiedenen Staaten, die die verbindlichen Richtlinien anwenden sollen, unter völlig unterschiedlichen wirt- schaftlichen Bedingungen. Dies zeigte sich nicht zuletzt am zähen Tauziehen zwischen den amerikanischen und europäischen Verhandlungsführern. Inzwischen liegt ein mehrmals überarbeiteter Entwurf vor, der nach erneuter Revision bis Jahresende verab- schiedet und 2004 in Kraft treten soll. Grundsätzlich sind die Bedenken, die in den behan- delnden Ausschüssen geäußert wurden, umgesetzt wor- den. Es konnte verhindert werden, dass ausschließlich die amerikanischen Verhältnisse Maßstab für die Richtlinien sind. Das bankinterne Rating wurde ermöglicht, es gibt eine hinreichende Risikodifferenzierung, die grundsätz- lich auch Kredite an klein- und mittelständische Unter- nehmen zu vertretbaren Bedingungen möglich machen wird. Einige Details der Eigenkapitalunterlegung sind jedoch noch offen. So droht insbesondere bei den hierzulande üb- lichen langlaufenden Krediten noch eine überhohe Unter- legung, wird die Problematik von ExistenzgründerInnen kaum beachtet. Deshalb heute der Antrag aller Fraktionen, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, gerade diese Aspekte bei der Verhandlungsführung noch stärker einzubringen. Doch trotz der bisher erzielten Fortschritte: Die PDS wünscht sich in der kontinuierlichen Berichterstattung über die Verhandlungen Aussagen zu den praktischen wirtschaftspolitischen Konsequenzen. So erwarten wir Auskunft darüber, wie seitens der Wirtschaftsförderpolitik auf die neue Risikogewichtung im Rahmen interner Ratings reagiert werden soll. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117052 (C) (D) (A) (B) Wir wollen ferner wissen, inwieweit die neuen Wege der KfW, den „Hausbanken“ auf Wunsch KMU-Kredit- portfolios auf eigene Rechnung an den Finanzmärkten zu platzieren, kompatibel mit den Richtlinien von Basel sind. Dazu kommt, dass eine besondere Betrachtung der Un- ternehmen aus den neuen Bundesländern nicht stattfindet. Gerade für diese verstecken sich jedoch Risiken in den Richtlinien. So sind ostdeutsche Unternehmen nach 1990 im Wesentlichen fremdfinanziert worden, ist ihre Eigen- kapitalquote äußerst gering und nur ansatzweise gesi- chert, sind diese Unternehmen durch hohe Refinanzie- rungslasten belastet. Dies alles wirkt sich zweifelsohne auf ihre Risikobewertung und damit auf die Kreditver- gabe an diese Unternehmen aus. Dies sollte in der ver- bleibenden Zeit noch stärker berücksichtigt werden. Ein Hauptproblem der Verhandlungen ist für uns aber die Säule II. Diese beinhaltet die Verbesserung der auf- sichtsrechtlichen Überprüfung der institutsinternen Risi- kosteuerung und -kontrolle. Die Vorschriften dafür wur- den bisher – egal ob seitens der Verhandlungsführer, der Kreditwirtschaft oder der Bundesbank – äußerst allge- mein gehalten. Die Richtlinien sollten ausdrücklich „keine Festschreibung konkreter, zwingend zu ergreifen- der Maßnahmen“ enthalten. Dies reicht absolut nicht. Basel II soll Risiken, wie die Bankenkrisen in Fernost und Russland Ende der 90er-Jahre vermindern helfen. Nun frage ich Sie, was ausgefeilte Risikobewertungsvor- gaben an die Banken nützen, wenn deren Durchführung aufgrund fehlender Vorgaben nicht hinreichend kontrol- liert wird? Sie sind Makulatur. Hier fordert die PDS eine ausführlichere Berichterstat- tung als dies bisher geschehen ist, ein stärkeres Bemühen der Bundesregierung in diese Richtung und letztlich sub- stanzielle Verhandlungsergebnisse. Dr. Barbara Hendricks, Parlamentarische Staatsse- kretärin beim Bundesminister der Finanzen: „Fairer Wett- bewerb“ ist ein zentrales Stichwort in der Diskussion über die gegenwärtige Überarbeitung der internationalen bank- aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalstandards, die kurz un- ter dem Schlagwort „Basel II“ geführt werden. Die Aus- gestaltung fairer bankaufsichtsrechtlicher Regelungen war ein zentrales Anliegen des Deutschen Bundestages bei seiner ersten Entschließung vom 8. Juni 2000 zu Ba- sel II. Die Stärkung der Fairness steht auch im Mittelpunkt des heute zur Entschließung vorliegenden gemeinsamen Antrages der Fraktionen zu Basel II. Befürchtungen, dass Basel II zu systematischen Be- nachteiligungen oder einseitigen Belastungen bestimmter Gruppen aus dem Kreditgewerbe oder einzelner Teile der Wirtschaft führt, sind nicht gerechtfertigt. Vielmehr trifft es zu, dass die Idee gleicher Chancen für die Kreditinsti- tute und deren Kundschaft in Basel II viel stärker angelegt ist als im bestehenden Regelungswerk. Allerdings besteht in einzelnen Bereichen der zur Diskussion gestellten Re- geln zu Basel Il noch Nachbesserungsbedarf: Was bedeutet Fairness im Zusammenhang mit Basel II? Fairness bedeutet zunächst eine risikogenauere Erfassung der mit dem Kreditgeschäft der Banken verbundenen Ri- siken. Die bankaufsichtlichen Eigenkapitalanforderungen werden stärker an das betriebswirtschaftlich relevante Ri- siko angepasst und damit wird die gewandelte Bankpra- xis nachvollzogen. Durch die genauere Abbildung der Risiken werden den Bankkunden gerechtere Kreditkonditionen in Rechnung gestellt. Mit Basel II wird eine risikoadäquate Umstruk- turierung der bankaufsichtlichen Eigenkapitalanforderun- gen angestrebt, aber keine Erhöhung der Belastungen für die Institute insgesamt. Generelle Verteuerungen von Krediten in Folge von Basel II sind nicht beabsichtigt und müssen unbedingt vermieden werden. Fairness bedeutet außerdem, dass den Banken entspre- chend dem Entwicklungsstand ihrer Risikoerfassungssys- teme verschiedene Anrechnungsmethoden zur Auswahl gestellt werden. Das neue Regelungswerk ist evolutionär angelegt und ist flexibel. Sämtliche Kreditinstitute sollen eine faire Chance zur Nutzung der neuen Anrechnungs- methoden ab dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Regelung haben. Die Stärkung gleichwertiger Rahmenbedingungen für den internationalen Wettbewerb der Banken ist ein zen- trales Ziel von Basel II. Die neuen Anrechnungsregelun- gen müssen wettbewerbsneutral konzipiert sein. In Bezug auf die Methoden zur Erfassung der Schuldnerbonitäten bedeutet dies, bankinterne Ratings gleichberechtigt neben Bonitätsurteilen externer Rating-Agenturen anzuerken- nen. Anders als externe Ratings, die insbesondere im an- gloamerikanischen Raum verbreitet sind, sind interne Ra- tings den hiesigen Kreditinstituten besser vertraut. Auf deutsche Initiative hin ist es gelungen, bankinterne Ratings als gleichwertige Alternative zu den externen Ra- tings in Basel II aufzunehmen. Dies ist ein wichtiger Er- folg für die Interessen der deutschen Kreditwirtschaft. Dabei ist von deutscher Seite darauf geachtet worden, die Voraussetzungen zur Anwendung bankinterner Ratings so auszugestalten, dass auch kleinere und mittlere Kreditin- stitute eine faire Chance haben, diese neuen Verfahren zu nutzen. Es gilt, einheitliche Rahmenbedingungen für den nationalen Wettbewerb sicherzustellen. Deshalb enthält der Entschließungsantrag die Forderung, in Basel II die Anforderungen für den Einstieg in die gleichberechtigte Anwendung interner Ratingverfahren flexibel festzulegen und so auszugestalten, dass sie allen Bankengruppen die realistische Chance bieten, von den Vorteilen der neuen Regelungen zu profitieren. Eine faire bankaufsichtliche Regelung zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie positive Anreize für die Insti- tute enthält, genauere und damit risikogerechtere Metho- den zur Erfassung der Risiken anzuwenden. Der Umstieg von einer grobschlächtigen Anrechnungsmethodik zu ei- nem ausgefeilten System muss sich lohnen. Damit die richtigen Anreizstrukturen geschaffen werden, bedarf es noch einer Überarbeitung der zur Diskussion gestellten Vorschläge zu Basel II. Dies beinhaltet die Absenkung der Gewichtungssätze beim internen Rating sowie eine Neuausrichtung der Konzepte zur Anrechnung von Be- triebsrisiken. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17053 (C) (D) (A) (B) Finanz- und wirtschaftspolitisch nicht zu akzeptieren wäre, wenn die neuen Risikoanrechnungsregelungen die Kreditfinanzierung der Wirtschaft insgesamt verteuern würden. Risikoüberzeichnende Eigenkapitalanforderun- gen müssen vermieden werden. Diese zentrale Forderung des Entschließungsantrages schließt ein, dass insbeson- dere auch die Unternehmen des Mittelstandes fair behan- delt werden. Dies setzt Anrechnungssätze für die Kredit- und Betriebsrisiken in angemessener Höhe voraus. Die zur Diskussion gestellten Anrechnungssätze sind nach dem Urteil von Experten unausgewogen, weshalb drin- gender Korrekturbedarf besteht. Basel II darf nicht bewirken, dass bewährte Bestand- teile der deutschen Finanzierungskultur in Frage gestellt werden. Dazu gehören: die Vergabe mittel- und langfris- tiger Kredite – eine unangemessene Schlechterbehand- lung längerfristiger Kredite gegenüber kurzfristigen Darlehen ist unakzeptabel – und die Berücksichtigung be- währter Kreditbesicherungen insbesondere auch des Mit- telstandes. Insgesamt ist Basel II auf einem guten Weg. Den deut- schen Verhandlungsführern ist es gelungen, in Aus- führung der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 8. Juni 2000 zu Basel II wesentliche Verbesserungen gegenüber den ursprünglichen Vorschlägen durchzuset- zen. Zusätzlich soll der neue Entschließungsantrag zu Ba- sel II dazu beitragen, dass faire bankaufsichtsrechtliche Standards geschaffen werden. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Berichte zur Technikfolgenab- schätzung: – hier: Monitoring „Risikoabschätzung und Nach- zulassungs-Monitoring transgener Pflanzen“ – hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ – Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Baube- reich (Tagesordnungspunkt 14 a und b) René Röspel (SPD): Der von uns heute diskutierte Sachstandsbericht des Büros für Technikfolgenab- schätzung beim Deutschen Bundestag zum Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen“ ist erstens ein weiterer Beweis für die Fähigkeit des TAB, Fragestellungen des Parlamentes und seiner Ausschüsse wissenschaftlich hervorragend zu bear- beiten, und zweitens eine wichtige und umfassende Quelle von Informationen für die politische Diskussion der so genannten „Grünen Gentechnik“. Zielsetzung des Berichtes ist es, den jeweiligen Stand der Sicherheitsforschung und der Risikodiskussion, der Regelungen und der Handhabungen von Zulassungsver- fahren unter anderem bei der Freisetzung transgener Pflanzen in der EU und der Umsetzung der Novel-Food- Verordnung sowie daraus ableitbare Handlungsmöglich- keiten darzustellen. Dieses Ziel wird erreicht. Leider kann ich wegen der kurzen mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht detailliert auf alle Bereiche eingehen. Erlauben Sie mir deshalb, einen Punkt aus diesem Be- richt hervorzuheben: Eine der wichtigen Aussagen des Be- richtes ist sicherlich die Feststellung, dass die Datenlage, was die Begleitforschung von Freisetzungen anbelangt, „in vieler Hinsicht dürftig ist“. Lediglich 1 Prozent aller weltweit durchgeführten Freisetzungsversuche waren bis- her mit ökologischer Begleitforschung verbunden. Wenn Deutschland mit 15 Prozent dabei positiv herausragt, so ist das sicherlich nicht das Verdienst einer freiwilligen Selbst- verpflichtung der beteiligten Unternehmen, sondern einer sehr kritisch eingestellten und aufmerksamen Bevölke- rung. Geschadet hat das aus meiner Sicht übrigens nicht. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Initiative des Bundeskanzlers aus dem letzten Sommer eine neue Be- deutung. Ziel der Initiative ist eine Vereinbarung mit den betroffenen Unternehmen, für eine dreijährige Über- gangsphase keinen großflächigen kommerziellen Anbau transgener Pflanzen zuzulassen, sondern mit einem inten- siven Beobachtungsprogramm zu einem deutlichen Er- kennntnisgewinn zu kommen und Wissenslücken zu fül- len. Ich hoffe, dass die Initiative Erfolg haben wird. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass einer der Aus- löser dieser Initiative die Diskussion über das Inverkehr- bringen des genetisch veränderten Maises Bt-176/Wind- sor Ende 1999/Anfang 2000 war. Die rot-grüne Koalition hat diesen Mais nicht ausbringen lassen, weil viele Risi- ken nicht geklärt sind. Den Anhang des TAB-Berichtes kann ich der Opposition zur Lektüre empfehlen: Viele der von uns vorgebrachten Kritikpunkte finden Sie dort be- stätigt! Der Bericht gibt eine Reihe von Handlungsemp- fehlungen, die wir in unsere politische Arbeit integrieren werden. Verantwortungsvolle und nachhaltige Politik sind bei Rot-Grün in guten Händen! Heino Wiese (Hannover) (SPD): Der uns hier vorlie- gende Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung wurde im Auftrag des Ausschusses für Bildung und For- schung erarbeitet. Auf Anregung unseres Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sollte er auch den aktuellen Diskussionsstand zur Sicherheits- forschung und zur Entwicklung des Nachzulassungsmo- nitoring zusammenfassen. Was wir erhalten haben, sind ein fundierter und umfassender Überblick zum Diskussi- onsstand und gute Ansätze zum weiteren Handlungsbe- darf. Ich möchte dem TAB-Büro an dieser Stelle für diese hervorragende Arbeit danken. Was hat uns der Bericht gezeigt? Er macht vor allem deutlich, dass die Diskussion um die Sicherheit gentech- nisch veränderter Pflanzen ständig weitergeht und noch längst nicht beendet ist. Die Datenlage in Bezug auf die Freisetzungsversuche ist nach wie vor dürftig. Es gibt in Europa bis jetzt mittlerweile über 1 300 Freisetzungsver- suche, aber es wurde bislang nur wenig Wissen über mög- liche ökologische Wirkungen gesammelt. Kein Wunder also, dass die grüne Gentechnik weiter abgelehnt wird. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117054 (C) (D) (A) (B) Nun mögen beispielsweise Herr Heinrich und Frau Flach von der F.D.P. sagen, alle in Rede stehenden Risi- ken seien bloße Spekulation. Ihnen möchte ich aber erwi- dern, auch die Vermutung, es gebe keine Gefährdungen, ist reine Spekulation. Solange wir nicht mögliche Folge- schäden ausschließen können, wird meine Skepsis weiter bestehen bleiben. Natürlich ergibt sich daraus die Notwendigkeit, dass wir die transgenen Pflanzen erst einmal zulassen und er- forschen müssen, um mögliche Einflüsse auf die Umwelt festzustellen. Aber, bitte schön, nur mit einem Nachzu- lassungsmonitoring und weiterer Sicherheitsforschung, die unsere Wissenslücken schließt und Zweifel ausräumt. Langzeitfolgen und komplexe Fernwirkungen können nur in größerem Maßstab beobachtet und untersucht werden. Deswegen brauchen wir eine anbaubegleitende Dauer- beobachtung transgener Pflanzen, um Effekte zu erfassen, die auf den begrenzten Versuchsfeldern und bei Freiset- zungsversuchen nicht untersucht werden können. Ich möchte daher den Bundeskanzler ausdrücklich bitten, die Gespräche mit den Pflanzenzüchtern und der Saatgutin- dustrie wieder aufzunehmen. Wir sollten den Vorschlag, innerhalb eines Moratori- ums in Bezug auf die Vermarktung umfassende Monito- rings durchzuführen, unbedingt wieder aufgreifen. Im Fe- bruar wurde auf Weisung des Gesundheitsministeriums die Inverkehrbringungsgenehmigung der Maissorte Bt 176/Windsor ausgesetzt. Darüber haben wir lange disku- tiert und es hat sich wieder einmal gezeigt, dass die Öf- fentlichkeit bzw. der Verbraucher transgenen Pflanzen sehr kritisch gegenüber steht. Solange die Hersteller von transgenen Pflanzen uns kein Produkt präsentieren kön- nen, dass für Verbraucherinnen und Verbraucher einen konkreten Nutzen bietet, wird die negative Meinung zum Gen-Food weiter bestehen bleiben. Horrorszenarien werden durch die Unwissenheit und mangelnde Aufklärung geschürt, aber auch weil man das Gefühl hat, dass der Sicherheitsaspekt vernachlässigt wird. Dies sollte die beteiligten Firmen eigentlich veran- lassen, auch ohne Einfluss der Bundesregierung in eige- ner Selbstverpflichtung ein Sicherheitsforschungspro- gramm durchzuführen. Dass diese Sicherheitsforschung bzw. ein Nachzulas- sungsmonitoring mehr als nötig ist, hat uns der vorlie- gende Bericht gezeigt. Die Zukunft der grünen Gentech- nik ist nach wie vor schwer einschätzbar. Auch bei den Monitoring-Konzepten herrscht noch keine Einigkeit. Auf „weniger ist mehr“ dürfen wir uns hier jedoch nicht einlassen. Schon aus Verbraucherschutzgründen haben wir die Verpflichtung, eine umfassende Risikoabschät- zung vorzunehmen und die entsprechenden Firmen da- rauf zu verpflichten. Es wird auch deutlich, dass in der Öffentlichkeit und Politik nur unzureichende Kenntnisse vorhanden sind, welche Überwachungssysteme im Bereich Umwelt und Landwirtschaft bereits existieren und wie diese für ein an- baubegleitendes Monitoring genutzt werden können. Da- raus ergibt sich die Aufgabe, Zielstellungen, Kriterien und Methoden des anbaubegleitenden Monitorings mit Wis- senschaft, Wirtschaft, Öffentlichkeit und Politik zu disku- tieren. Deshalb schlägt der Bericht auch vor, dass im Rah- men des Förderschwerpunktes „Sicherheitsforschung und Monitoring“ im Programm Biotechnologie 2000 des Mi- nisteriums für Bildung und Forschung ein neuer Themen- schwerpunkt „Grundlagen, Methoden und Modelle zur Abschätzung indirekter und langfristiger Auswirkungen transgener Pflanzen“ eingerichtet wird. Diesem kann ich nur ausdrücklich zustimmen. Denn wir müssen uns immer bewusst sein: Bei der Freisetzung von gentechnisch manipulierten Pflanzen und auch Tieren werden Organismen in die Umwelt entlassen, die lebens-, vermehrungs- und anpassungsfähig sind. Eine Freiset- zung ist somit irreversibel. Wir können sie nicht einfach wieder zurückholen wie einen Stuhl, den wir in den Gar- ten stellen. Sie entwickeln sich weiter und wir könnten sie aus den Augen verlieren. Deswegen ist es so wichtig, mögliche Risiken vor der kommerziellen Freisetzung von gentechnisch veränderten Pflanzen sorgfältig zu ermitteln und zu bewerten. Der vorliegende Bericht macht dies in eindrucksvoller Weise deutlich. Zu dem TAB-Arbeitsbericht Nr. 61 über den Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Wohnungsbau möchte ich nur kurz Stellung beziehen. Ich glaube – das wird auch durch den Bericht bestätigt –, dass nachwachsenden Roh- stoffen auch für den Baubereich außerordentlich große Zukunftschancen bescheinigt werden können. Ölpflanzen wie Raps, Stärkepflanzen wie Kartoffeln, Faserpflanzen wie Schilfrohr, Flachs und Hanf sowie Färberpflanzen wie Färberwaid können im Wohnungsbau vielfach einge- setzt werden. Auch wenn es zurzeit noch nicht möglich ist, ab- schließende Aussagen über die ökologische Vorteilhaftig- keit der nachwachsenden Baustoffe zu machen, so ist dem Bericht dennoch zu entnehmen, dass es im Hinblick auf den Gesundheitsschutz sowie bezüglich der Verwertung der Bauabfälle deutliche Vorteile gibt. Ein wesentliches Kriterium für den bislang noch geringen Einsatz der nach- wachsenden Baustoffe ist der nach wie vor hohe Preis. Wenn man hier aber erkennt, dass die Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen neben den anderen Vorteilen auch für neue Beschäftigung in der Landwirtschaft sorgen wird, glaube ich, dass hier große Chancen für die gesamte Volkswirtschaft liegen. Ich werde mich – gerade nach der Lektüre des Berichtes – besonders dafür einsetzen, dass wir diese Chancen nutzen. Peter Bleser (CDU/CSU): Ich möchte in meinem fol- genden Beitrag beide Tagesordnungspunkte ansprechen, sowohl den Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Bau- bereich als auch Fragen im Zusammenhang mit dem An- bau und der Nutzung transgener Pflanzen. Die Verfasser des vorliegenden Berichtes über den Ein- satz nachwachsender Rohstoffe im Baubereich haben die augenblickliche Situation in diesem Bereich umfassend beschrieben, so auch die heutige Gefühlslage beim Bauen: Das neue Haus soll technisch hochwertig, trotz- dem billig und darüber hinaus umweltfreundlich und ge- sund sein. Die beiden letzten Punkte erfüllen die nach- wachsenden Rohstoffe hervorragend. Dämmstoffe aus Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17055 (C) (D) (A) (B) Flachs- oder Schafwolle, Span- und Faserplatten aus Holzabfällen, aber auch Folien, Bindemittel und Lacke können als nachwachsende Rohstoffe verbaut werden. Al- lerdings wird der Bauherr feststellen, dass Dämmstoffe aus Flachs oder Hanf drei- bis viermal so teuer sind wie herkömmliche. Dämmstoffe mit Schafwolle sind noch teurer. Hier stoßen also Ökonomie und Ökologie hart auf- einander. Man könnte sich jetzt hinstellen wie Ministerin Künast, die den Verbrauchern empfiehlt, für Lebensmittel doch bitteschön höhere Preise zu zahlen, aber zu einer sol- chen Naivität kann ich mich – übertragen auf den Baube- reich – nicht versteigen. Bekanntlich kann die Politik keine Preise diktieren, sondern höchstens für bestimmte Produkte die Rahmenbedingungen verbessern. Ich fordere deshalb: Erstens bestehende nicht techni- sche Einsatzhemmnisse – damit sind vor allem baurecht- liche Vorschriften gemeint – abzubauen, zweitens mit ei- ner stärkeren Förderung der Entwicklung von Baustoffen aus nachwachsenden Rohstoffen diesem Bereich einen wirksamen Anschub zu geben und drittens die Öffentlich- keit, insbesondere Bauwillige, verstärkt über die Mög- lichkeiten des Einsatzes von Material aus nachwachsen- den Rohstoffen beim Bauen zu informieren. Nur so kann man erwarten, dass aufgrund erhöhter Produktion die ein- zelnen Produkte preiswerter werden. Jetzt zu dem Thema Technikfolgenabschätzung trans- gener Pflanzen. In der Bevölkerung herrscht eine große Skepsis über mögliche Auswirkungen transgener Pflan- zen auf ihre Gesundheit und auf die Umwelt. Deshalb hat für die CDU/CSU die Risikovorsorge für die Akzeptanz dieser neuen Technologie absolute Priorität. Durch unser Gentechnikgesetz wird dieser Forderung Rechnung getra- gen. Auch wir sind für ein Monitoring, also eine beglei- tende Sicherheitsforschung bei der Freisetzung von gen- technisch veränderten Pflanzen. Konkret bedeutet dies aber auch, dass bei entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen die Freisetzungsgenehmigung erfolgen muss. Die Bundesregierung versteht dagegen unter „Monito- ring“ lediglich ein wissenschaftlich unbegründetes Verta- gen von Freisetzungsgenehmigungen. Für die CDU/CSU steht fest, dass die Entscheidung über die Nutzung trans- gener Pflanzen dem Verbraucher überlassen bleibt, das heißt, durch eine eindeutige Kennzeichnung der Lebens- mittel muss der Verbraucher jederzeit die Wahlmöglich- keit bei seiner Kaufentscheidung haben. Die Tatsache, dass zurzeit unsere Verbraucher transge- nen Pflanzen und daraus hergestellten Lebensmitteln skeptisch gegenüber stehen, rührt vor allem daher, dass die erste Generation transgener Pflanzen im Wesentlichen auf Pflanzenschutzmittelresistenz ausgerichtet ist. Wir setzen Hoffnungen auf die so genannte zweite Generation der durch Gentechnik beschleunigten Züchtungen – die so genannten funktionellen Lebensmitteln, welche auch ge- sundheitsfördernde Wirkung entfalten sollen. Ein weiteres viel versprechendes Anwendungsgebiet transgener Pflanzen ist das Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe, zum Beispiel die biologischen Verpackungen, technische Öle und Dämmstoffe, die deutliche Umwelt- vorteile in vielfältigen Bereichen bis hin zur Entsorgung aufweisen. Die Bundesregierung ist drauf und dran, aus Angst vor den Risiken einer neuen Technologie deren Potenzial im Bereich der Wirtschaft und der Umwelt zu verbauen. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, hingegen sehen an erster Stelle die großen Chancen der grünen Gentechnik, die wir im In- teresse unserer Mitbürger nutzen möchten – ohne dabei etwaige Risiken beim Verbraucher- und Umweltschutz hintanzustellen. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der TAB-Bericht zum „Sachstand zur Risikoabschätzung und zum Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen“ bietet auftragsgemäß einen guten Überblick über den Stand der biologischen Sicherheitsforschung und für das Monitoring bei Freisetzungen transgener Pflanzen. Dargestellt werden: die Sicherheitsforschung, die Risiko- abschätzung im Genehmigungsverfahren, rechtliche Re- gelungen in der EU und in Deutschland, das anbaubeglei- tende Monitoring sowie die Sicherheitsbewertung und Monitoring im Rahmen der Novel-Food-Verordnung. Risikoabschätzung und Monitoring sind zwingend ge- boten aus a) rechtlichen Gründen – ich nenne das Gen- technikgesetz, die EU-Freisetzungsrichtlinie 90/220 und die Novel-Food-Verordnung –, b) aus Gründen der ge- sundheitlichen und ökologischen Vorsorge und c) als wichtige Grundlage über den gesellschaftlichen Diskurs über Chancen und Risiken der Gentechnik. Risikoab- schätzung und Monitoring bei transgenen Pflanzen sind Bereiche der Wissenschaft, die sich erst entwickeln. Beide müssen durch eine gezielte Forschungsförderung vorangebracht werden, damit sie die rechtlichen und po- litischen Ansprüche erfüllen können und die wesentlichen Fragen in einem überschaubarem Zeitraum beantworten können. Nach Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen sind Risikoforschung und Monitoring in erster Linie Auf- gabe der Umweltvorsorge und sollten daher in die Feder- führung des UBA übertragen werden. Der TAB-Bericht gibt einen hervorragenden Überblick und klare Handlungsaufträge für die Politik: Einrichtung eines neuen Themenschwerpunktes „Grundlagen, Metho- den und Modelle zur Abschätzung indirekter und lang- fristiger Auswirkungen transgener Pflanzen, Ausstattung der zuständigen Fachbehörden mit Kompetenzen und Ar- beitsmöglichkeiten für ein Resistenzmanagement und zur Konzeptentwicklung, Verständigung über den normativen Rahmen, was nachhaltige Landwirtschaft heißt, alsbal- dige Festlegung von Zielsetzungen, Zuständigkeiten und Finanzierungen, Beteiligung der Öffentlichkeit, Berück- sichtigung von Erkenntnissen aus dem Monitoring und konkrete Verbesserungen beim Vollzug der Novel-Food- Richtlinie. Unserer Meinung nach sollte der Bericht zur Grundlage für die weiteren politischen Entscheidungen gemacht werden. Die Nachfrage der Industrie nach nachwachsenden Rohstoffen nimmt stetig zu. Im vergangenen Jahr wurden fast 700 000 Hektar Ackerland mit nachwachsenden Roh- stoffen angebaut. Für die Landwirte schaffen sie neue Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117056 (C) (D) (A) (B) Produktions- und Einkommensmöglichkeiten und sichern so Arbeitsplätze auf den Höfen und im ländlichen Raum. Nachwachsende Rohstoffe werden sowohl energetisch als auch stofflich verwertet. Bei der stofflichen Verwertung dienen sie als Grundlage für die Herstellung von biolo- gisch abbaubaren Schmierstoffen, Verpackungsmateria- lien und Waschmitteln. Darüber hinaus sind sie Aus- gangsstoffe für Arzneimittel, Textilien und Baustoffe. Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat wieder einmal sehr gute Arbeit geleistet. Da es sich nur um ein Monitoring und keine umfangreiche Studie gehandelt hat, konnte nicht auf jedes Detail eingegangen werden. Den- noch liefert dieses Papier einen guten Überblick über die Möglichkeiten und Chancen nachwachsender Rohstoffe. Das Papier zeigt, dass nachwachsende Rohstoffe in fast allen Bereichen eine mögliche Alternative zu den kon- ventionellen Produkten bieten. Allerdings sind sie zu- meist teurer. Daher müssen sich die nachwachsenden Rohstoffe über eine bessere Qualität durchsetzen. Diese bessere Qualität kann sich zum Beispiel in geringeren Schadstoffbelastungen ausdrücken. Dies scheint häufig der Fall zu sein. Umfangreiche abschließende Untersu- chungen stehen aber noch aus, die die gesamten Stoff- ströme analysieren und bewerten. Zur besseren Qualität gehören zum Beispiel das bessere Feuchteverhalten von Wolle und Chinaschilf oder die Fähigkeit von Wolle, Schadstoffe zu absorbieren und sogar in unbedenkliche Stoffe umzuwandeln. Letzteres ist im Übrigen eine neue Entdeckung, die nicht mehr in das Papier einfließen konnte. Naturfarben aus Färberwad bekämpfen den Schimmelpilz und rücken damit zunehmend in den Mit- telpunkt des Interesses. Auch bei den nachwachsenden Rohstoffen zeigt sich, dass sich der Wert eines Produktes nicht nur aus dem Preis, sondern aus dem Verhältnis von Preis und Qualität zusammensetzt. Wie beim Biolandbau und dem Öko- strom sind es noch relativ wenige, die dies in Betracht zie- hen. Aber die Zahl steigt auch hier und es wird in den nächsten Jahren damit gerechnet, dass die nachwachsen- den Rohstoffe zum Beispiel bei den Dämmstoffen in eini- gen Jahren schon einen Anteil von 10 Prozent haben könnten. Um den nachwachsenden Rohstoffen zum Durchbruch zu verhelfen, müssen die Forschungsaktivitäten, die bis- her eher sporadisch erfolgten, systematisiert und verstärkt werden, verbesserte Verwertungsstrategien entwickelt werden und vermehrte Anstrengungen zur Entwicklung und Demonstration im Rahmen von Pilotprojekten unter- nommen werden. Ich denke, dass die neue Verbraucher- schutzministerin gemeinsam mit dem Bauminister die aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten ergreifen wird. Der Staat hat im Übrigen ein großes Interesse an einer Förderung der nachwachsenden Rohstoffe im Baube- reich, da dadurch die externen Kosten des Bauens redu- ziert werden, für die bekanntlich an anderer Stelle gera- degestanden werden müsste. Darüber hinaus können nachwachsende Rohstoffe Arbeitsplätze in der Landwirt- schaft erhalten und zu einer Erweiterung der Diversität beim Anbau beitragen, was zu einer besseren Qualität der Böden beiträgt. Ulrike Flach (F.D.P.): Das Monitoring-Vorhaben „Nachwachsende Rohstoffe“ wurde auf Initiative des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung begonnen und gibt einen Überblick über den Stand und die Perspektiven des Einsatzes dieser Rohstoffe im Baubereich. Wie wir es von den Berichten des TAB kennen, liegt uns auch hier wieder eine gründliche und er- giebige Studie über wirtschaftliche, rechtliche und ökolo- gische Aspekte vor. Ich danke den Mitarbeitern des TAB für die sorgfältige Arbeit. Die Einsatzmöglichkeiten von Hanf, Flachs, Schilf, Altpapier, Öl- und Färberpflanzen sind vielfältig. Das Be- wusstsein für ökologische Zusammenhänge – Stichwort „Klimaschutz“ – und für bauliche Qualitätsansprüche – Stichworte „Asbest und Formaldehyd“ – ist gestiegen und sollte die Markteinführung von biogenen Baustoffen fördern. Dennoch gibt es objektive Hindernisse: Da sind erstens die höheren Kosten, die allerdings bei entsprechender Massenproduktion sinken würden. Da erweist sich zwei- tens das Baurecht als Blockade. Die Zulassung neuer Bau- produkte ist an ein nationales und europäisches Zulas- sungsverfahren gebunden. Dazu kommen noch die Landesbauordnungen der Bundesländer. Bürokratie gegen Biologie. Wir brauchen eine Entrümpelung der Bauord- nungen, die dem Durchbruch von biogenen Baustoffen im wahrsten Sinne des Wortes „Steine in den Weg legen“. Drittens muss eingeräumt werden, dass die Ökobilanz mancher nachwachsender Baustoffe deshalb nicht so glänzend ist, weil sie vor dem Einsatz chemisch behandelt werden müssen. Um Fäulnis zu verhindern, werden Bo- rate eingesetzt, als Feuer hemmender Stoff wird Ammo- niumphosphat verwendet. Dämmstoffe mit hohem Borat- gehalt dürfen nicht auf Bauschuttdeponien abgelagert werden. Aus Sicht der FDP müssen wir dazu kommen, den ge- samten Lebenszyklus eines Bauprodukts in die Bewer- tung einzubeziehen, also Produktion, Verwendung, Lage- rung und Entsorgung. Nur so erhalten wir vernünftige Vergleichsmaßstäbe zu konventionellen Bauprodukten. Und nur so werden wir auch zu einer verbesserten Markt- chance für biologische Baustoffe kommen. Ich komme zu Ihrem Antrag. Mich hat bei der Diskus- sion der Vorlage im Ausschuss eines erstaunt: In der Aus- schussdrucksache 14/339 steht, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, die Entwicklung und Demonstration innovativer Baustoffe und -produkte aus biogenen Roh- stoffen verstärkt und gezielt zu fördern. Am Tage der Be- ratung hat die SPD-Fraktion als Änderungsvorschlag ein- gebracht, „verstärkt und gezielt“ durch „weiterhin“ zu ersetzen; also keine Ausweitung der Förderung. Das soll- ten die Hersteller biogener Baustoffen wissen, denen Sie sonst immer erzählen, Sie setzten sich für sie ein. Das sind die Tatsachen. Wir nehmen den Bericht zu Kenntnis, lehnen aber den Antrag der Koalitionsfraktionen als nicht ausreichend ab. Kersten Naumann (PDS): Im Zuge der BSE-Krise und der Akzeptanzprobleme schien das Nachbaumonito- ring zu transgenen Pflanzen schon fast in der Versenkung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17057 (C) (D) (A) (B) verschwunden. Ich meine, das Nachbaumonitoring sollte dort auch bleiben: in der Versenkung. Denn es verdrängt den Vorsorgegedanken. Es ist ein falscher Ansatz, Risiken eines großflächigen Anbaus und einer kommerziellen Nutzung begleitend zu erforschen, dessen Folgen selbst nicht gewiss sind. Im März dieses Jahres ist nach langwierigen Verhand- lungen in der EU eine novellierte Freisetzungsrichtlinie verabschiedet worden, die Änderungen auch des deut- schen Gentechnikgesetzes nach sich ziehen wird. Sie ent- hält eine Reihe positiver Veränderungen, wie etwa den mittelfristigen Ausschluss von Antibiotika-Resistenzmar- kern und die Befristung von Freisetzungsgenehmigungen. Gefordert ist zudem eine Einzelfallprüfung und die stär- kere Beteiligung der Öffentlichkeit vor Beginn des An- baus transgener Pflanzen – womit eine Rückkehr zu früheren, strengeren Regelungen eingeleitet wird. Der Versuch von Bürokratie und verbundener Industrie ist misslungen, über die Novellierung des deutschen Gen- technikgesetzes und die Etablierung des so genannten „vereinfachten Verfahrens“ auf europäischer Ebene die kommerzielle Anwendung der Gentechnik in der Land- wirtschaft flächendeckend durchzusetzen. Gescheitert ist dieser Versuch am Widerstand der Bürgerinnen und Bür- ger der EU, der in das De-facto-Moratorium für Freiset- zungen mündete. Der TAB-Bericht zu transgenen Pflanzen macht näm- lich an mindestens zwei Punkten sehr deutlich, dass die grundlegenden Fragen ihrer Bewertung bis heute nicht beantwortet sind. Erstens werden die Bewertungsent- scheidungen, auch der Genehmigungsbehörden, ohne ein- deutige und sichere Wissensgrundlage getroffen. Zweitens – die noch entscheidendere Frage –: Vor wel- chem normativen Hintergrund werden die Auswirkungen und Risiken transgener Pflanzen betrachtet? Entscheidet man sich wirklich für eine ökologische und soziale Land- wirtschaft und führt sie nicht nur im Munde, dann haben transgene Pflanzen ganz schlechte Karten. Die wirtschaftlichen, ökologischen und sozioökonomi- schen Erfahrungen in den Hauptanbauländern USA, Ka- nada und Argentinien lassen Zweifel an grüner Gentech- nik nicht nur bei den Verbrauchern, sondern auch bei den Landwirten selbst wachsen. Nach immensen Wachstums- raten ist ein Anbaurückgang zu verzeichnen. Sozioökono- mische Folgen werden laut TAB-Bericht auch nur in Ös- terreich überhaupt in die Bewertung transgener Pflanzen einbezogen. Das De-facto-Moratorium für die Zulassung von Frei- setzungen sollte auch von der Bundesrepublik aufrechter- halten werden, alleine schon deshalb, weil die Kenn- zeichnungsregelungen im Lebensmittelbereich absolut unzureichend sind. Und die bestehenden Regelungen können kaum durchgesetzt werden, wie ja auch der TAB- Bericht hervorhebt. Ohne Kennzeichnung und Kontrolle bei Futtermitteln, Zutaten, Enzymen und Aromastoffen, ohne Abkehr von der nachweisbasierten Kennzeichnung bleiben Reden über die freie Kaufentscheidung der Ver- braucherinnen und Verbraucher völlig irreführend. Einen Präzedenzfall mit dem in der Diskussion stehen- den herbizidresistenten Mais mit der Bezeichnung „T 25“ zu schaffen, unterläuft nicht nur die Neuausrichtung der Agrarpolitik auf Nachhaltigkeit, sondern auch die Ver- braucherinteressen, die diese Produktionsweise auch für Futtermittel ablehnen. In Österreich, Italien und Großbri- tannien besteht bereits ein Anbau- bzw. Importverbot für den herbizidresistenten Mais, da keine neuen wissen- schaftlichen Erkenntnisse vorlägen, die Anlass gäben, das bisher vorgesehene Risikomanagement zu verändern. Die Wahl des normativen Rahmens bleibt doch von entscheidender Bedeutung: Eine konventionelle, ökologi- sche und soziale Landwirtschaft und Lebensmittelpro- duktion kann ganz ohne Freisetzungen und transgene Pflanzen arbeiten. Wöchentlich berichten Fachzeitschrif- ten der Agrarwissenschaften und Bauernzeitungen über züchterische und technische Potenziale zu Ertragssteige- rungen, zu Einsparungen und gezielten spezifischen Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln und Düngemit- teln – sozusagen als Alternative zur kommerziellen An- wendung von Gentechnik. Warum sollte man also Risiken und negative Auswir- kungen in Kauf nehmen? Warum also Gentechnik gegen den Willen des Verbrauchers auf den Markt drücken, was vor allem den Steuerzahler kostet? Transgene Pflanzen sind eine Gleichung mit vielen Un- bekannten. Die Unbedenklichkeitsbeteuerungen der Pro- tagonisten unterliegen jedoch nach wie vor einer hohen Irrtumswahrscheinlichkeit. Ersparen wir den Bauern das Experiment mit negativen wirtschaftlichen Folgen. Ersparen wir unserer ohnehin belasteten und ökologisch diffamierten Umwelt eine zu- sätzliche Belastung. Ersparen wir den Verbrauchern den Biss ins Ungewisse! Was wir brauchen, ist eine Landwirtschaft, die Ein- kommen erwirtschaftet, und nicht eine, an der die Phar- maindustrie verdient. Was wir brauchen, sind technische Entwicklungen, die im Einklang mit der Natur produzie- ren. Was wir brauchen, ist Transparenz für den Verbrau- cher und seine demokratische Mitbestimmung. Was wir brauchen, ist eine Landwirtschaft für den Verbraucher und nicht für die Industrie. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zurBeratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts (Tagesordnungspunkt 16) Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Energiewirtschafts- rechts berührt zwei Themenkreise: Zum einen geht es um die endgültige Umsetzung der europäischen Gasrichtlinie in deutsches Recht. Zum anderen geht es aber auch – weit über den engeren Regelungsbereich des Gasmarktes hi- naus – um grundsätzliche energie- und wettbewerbsrecht- liche Fragen, die ihren Ausgangspunkt in der Energie- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117058 (C) (D) (A) (B) wirtschaftsgesetznovelle von 1998 haben. Auf beide The- menkreise möchte ich etwas näher eingehen. Zur engeren Thematik, der Umsetzung der Gasrichtli- nie, ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Bundesre- gierung damit einer Aufforderung der Europäischen Kommission folgt, die bereits vor längerer Zeit in einem Mahnschreiben diesen Schritt eingefordert hat. Die Kom- mission ist der Auffassung, dass die mit der Energie- rechtsnovelle von 1998 erfolgte Öffnung der deutschen Märkte nicht ausreicht, um dem Wettbewerb auch auf dem Gasmarkt zum Durchbruch zu verhelfen. Nun mag man über die Berechtigung der damit verbundenen Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens streiten; dies umso mehr, als in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union die Liberalisierung viel weniger konsequent aus- gefallen ist als bei uns, was für unsere Energie-, aber auch für unsere Volkswirtschaft teilweise erhebliche Probleme aufwirft. Man kann diese konsequente Umsetzung der Li- beralisierung bei uns aber guten Gewissens vertreten, denn das schlechte Beispiel anderer Länder sollte uns nicht davon abhalten, unsere Hausaufgaben ordentlich zu machen. Wie stets, wenn es um wichtige gesetzliche Rahmen- setzungen für relevante Wirtschaftsbereiche geht, werden auch an diese Novelle des Energiewirtschaftsrechts zahl- reiche – oft widersprüchliche – Erwartungen geknüpft. Dabei wurde in einigen Veröffentlichungen der Eindruck erweckt, es stehe nun auch bei den Gaspreisen ein der Strommarktentwicklung vergleichbarer Dammbruch un- mittelbar bevor. Ich möchte diese Erwartungen nur un- gern enttäuschen, aber es erscheint mir eher unwahr- scheinlich, dass wir einen ähnlichen Preisverfall wie beim Strom erleben werden. Dem stehen die gänzlich anderen Strukturen des Gasmarktes entgegen. Hierzu gehören: langfristige Lieferverträge auf take-or-pay-Basis mit festen Preisgleitklauseln und transparenten Margen, nur sehr geringe, kurzfristig verfügbare Überkapazitäten und schließlich eine Erdgas-Importabhängigkeit von rund 80 Prozent gegenüber einer in etwa ausgeglichenen Stromhandelsbilanz. Dennoch erwarten auch wir von der neuen Verbändevereinbarung Gas und dieser Novelle eine deutliche Stärkung des Wettbewerbs und positive Preis- signale für die Kunden – und zwar auf allen Ebenen. Die Diskussion über den Wettbewerb auf dem Gas- markt hat bereits eine beachtliche Vorgeschichte. Es ist er- freulich, dass in einigen bislang kontrovers diskutierten Fragen eine grundsätzliche Klärung im Sinne einer ver- besserten Marktöffnung und Wettbewerbserleichterung erzielt werden konnte. Hierzu zählen unter anderem die Fragen des Speicherzugangs und der Offenlegung wett- bewerbsrelevanter Daten, insbesondere zu Netzkapazitä- ten und Engpässen. Wir unterstützen die Ansätze im Gesetzentwurf der Bundesregierung und ihre Gegenäuße- rung zu den teilweise sehr restriktiven Beschlüssen des Bundesrates nachdrücklich. Es wäre falsch, dem Bundes- rat hier zu folgen und hinter die von den Verbänden der Gaswirtschaft gefundenen Lösungen zurückzufallen. Al- lerdings sehe ich hinter einigen Regelungsvorschlägen auch noch Fragezeichen. Insbesondere in der Frage der Reziprozität besteht meines Erachtens Klärungsbedarf. Die neu gefasste Reziprozitätsregelung bei Gas und Strom wirft meines Erachtens europa- und verfassungsrechtli- che, aber auch wettbewerbs- und handelsrechtliche Pro- bleme auf, die genau zu prüfen sein werden. Diese Rezi- prozitätsregelung, die über die Ermächtigungsgrundlage der europäischen Richtlinien hinausgeht, muss eindeutig und belastbar sein. Es werden tiefe Eingriffe in Eigen- tumsrechte, Gewerbefreiheit und internationale Handels- abkommen geltend gemacht. Ich glaube, dass wir über die Erfordernisse und Risiken einer solchen Reziprozitätsre- gelung im bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren noch sehr intensiv nachdenken müssen. In der letzten Zeit ist der in der Europäischen Union einmalige deutsche Sonderweg des verhandelten Netzzu- gangs unter Druck geraten. Die jüngsten Vorschläge der Europäischen Kommission zur Vollendung des Energie- binnenmarktes verfolgen bekanntlich zwei Ziele: die Be- schleunigung der Marktöffnung – was wir als europä- ischer Vorreiter nur sehr nachdrücklich unterstützen können – und eine stärkere Kontrolle der Energiemärkte durch – staatliche – Regulierung, was im Ergebnis auf das Ende des bislang von der Kommission akzeptierten deut- schen Modells der Verbändevereinbarungen abzielt. Nun wird über den Begriff der Regulierung seit Jahren eine oft sehr ideologisch eingefärbte Diskussion geführt, an der ich mich heute nicht beteiligen möchte. Die Frage, welche Form der Markt- und Wettbewerbsaufsicht zu be- vorzugen ist, entscheidet sich immer an der Qualität der Praxis. Dabei ist es völlig unstrittig, dass auch der verhandelte Netzzugang auf der Grundlage von Verbän- devereinbarungen den Marktteilnehmern die gleichen Qualitäten wie Rechtsverordnungen und staatliche Kon- trolleinrichtungen bieten muss. Die maßgeblichen Kriterien und Ziele sind in abstrak- ter Form relativ klar zu benennen und bilden die Grund- lage der entsprechenden Verbändevereinbarungen: diskri- minierungsfreier und preisgünstiger Netzzugang sowie Transparenz, Überprüfbarkeit und Verlässlichkeit der Modalitäten der Netznutzung. Die Umsetzung dieser ab- strakten Vorgaben in die tägliche Praxis des Energiege- schäfts gestaltet sich – erwartungsgemäß – allerdings schwierig, wie die offenkundigen Defizite der Verbände- vereinbarungen belegen. Einiges ist sicherlich dem wohl unvermeidlichen „trial and error“ eines jeden neuen Marktprozesses zuzuschreiben. Der Aufbruch aus den Monopolstrukturen ist ja auch keine Kleinigkeit, zumal die Netze weiterhin natürliche Monopole sind und eine gewisse Neigung zur Kartellbildung existiert. So manche Kritik hat allerdings auch etwas von Kro- kodilstränen an sich, wenn beispielsweise die bundes- deutschen Vertriebsstellen von Unternehmen, die in ihren Mutterländern aus geschützten Märkten heraus operieren, nun ein arges Wehgeschrei anstimmen. Auch scheinen manche Energieversorgungsmütter mehr als nur ein Auge zuzudrücken, wenn es um das Marktgebaren ihrer Betei- ligungstöchter geht. Und dann gibt es ja auch noch dieje- nigen, die Wettbewerb und Regulierung grundsätzlich als inkompatibel ansehen. Das sind übrigens die gleichen Ak- teure, die zum Beispiel zur Förderung der erneuerbaren Energien eine Quote als marktwirtschaftliches Instrument Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17059 (C) (D) (A) (B) fordern, sie bei der Kraft-Wärme-Kopplung aber als marktfeindliches Teufelswerk verdammen. Jenseits von Polemik und Vernebelung sind unbestreit- bar Defizite in der Sache erkennbar, denen sich nicht zuletzt das Bundeskartellamt angenommen hat. Als Stich- worte nenne ich hier nur: Durchleitungsentgelte, Wechsel- gebühren, Gebühren und Kostentransparenz, Vergütung der Netzentlastung, missbräuchliche Kostenwälzungen beim Erneuerbare-Energien-Gesetz und beim Kraft- Wärme-Kopplungs-Gesetz sowie Quersubventionierung. Diese Monita bedürfen einer Klärung. Inzwischen sind auch erste Konsequenzen im Bundes- wirtschaftsministerium gezogen worden, bei dem eine Schlichtungsstelle eingerichtet wird, die dann parallel zu den in den Verbändevereinbarungen angelegten Struktu- ren wirken könnte. Wir begrüßen diesen Schritt. Es ist nicht von den Hand zu weisen: Wir werden uns anlässlich der Novellierung des Energiewirtschaftsgeset- zes auch mit weiteren Fragen auseinanderzusetzen haben: Fairer Marktzugang auch für neue Akteure, Transparenz für die Verbraucher, Rechtssicherheit für alle Beteiligten sowie die bislang völlig unzureichende Vertretung deut- scher Interessen bei Regulatorenreffen auf europäischer Ebene sowie die zügige Beseitigung der internationalen Marktverwerfungen sind und bleiben drängende energie- politische Aufgaben, die auch energierechtliche Aspekte besitzen. Mit Blick auf die Europäische Union füge ich noch zwei Aspekte hinzu: Erstens. Das offenkundige Brüsseler Junktim zwischen Beschleunigung der Marktöffnung und Verstärkung der Regulierung erfordert in absehbarer Zeit eine politische Entscheidung, welche Anliegen schwerer wiegen: eine schnellere und gleichmäßigere Marktöff- nung zur Stärkung unserer Produktionsstandorte und Wertschöpfung oder die exklusive Selbstregulierung nach dem Modell des verhandelten Netzzugangs. Zweitens. Es ist unverzichtbar, dass Deutschland als größter Stromproduzent und -konsument der Europä- ischen Union bei den Regulatorentreffen nicht länger draußen vor der Tür oder am Katzentisch platziert wird, sondern angemessen vertreten ist. Wenn wir in diesen wichtigen informellen Runden nicht „auf Augenhöhe“ mitreden können, werden wir zum bloßen Objekt der Re- gulierer aus anderen EU-Staaten. Dies kann bei uns nie- mand ernsthaft wollen. Es geht nichts daran vorbei: Die Vielzahl der offenen Fragen erfordert eine intensive Diskussion in den parla- mentarischen Gremien. Wir scheuen diese Arbeit nicht und freuen uns auf lebhafte Beratungen. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Wettbewerb ist keine Einbahnstraße. Wettbewerb ist das treibende Prin- zip der sozialen Marktwirtschaft, Motor für fairen Leis- tungsvergleich, Garant für Markttransparenz, Garantie für Verbraucherschutz und kostenorientierte Preise, treibende Kraft für Innovationen, Modernisierung und internatio- nale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Wettbewerb ist die Autobahn, mit der wir am schnellsten und am sichersten die Ziele der sozialen Marktwirtschaft erreichen werden, solange die Politik den Marktteilneh- mern klare ordnungspolitische Spielregeln vorgibt und Instrumente bereithält, um Wettbewerbsverstöße effektiv und effizient zu ahnden. Die Herausforderung der Marktöffnung in traditionell monopolistisch und oligopolistisch geprägten, stark regu- lierten Sektoren unserer Volkswirtschaft war und ist eines unserer zentralen wirtschaftspolitischen Ziele. Gegen viel und hartnäckigen Widerstand haben wir in der letzten Wahlperiode die Liberalisierung der Telekommunikation, der Post und des Strommarktes erfolgreich auf den Weg gebracht. Die Öffnung dieser Sektoren für den Wettbe- werb hat zu sinkenden Preisen und einer deutlichen Ver- besserung des Angebots für die Verbraucher geführt und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstand- ortes Deutschland gestärkt. Die positiven Erfahrungen mit den liberalisierten Branchen Strom, Post und Telekommunikation müssen nun auch auf andere Sektoren übertragen werden. Dies gilt vor allem für die Wasserwirtschaft, den öffentlichen Personennahverkehr und den Gasmarkt, über den wir heute Abend zu diskutieren haben. Der Liberalisierungs- prozess im Bereich der leitungsgebundenen Energien wurde auf europäischer Ebene mit der Binnenmarkt- Richtlinie Elektrizität eingeleitet. Die Erdgasrichtlinie ist am 10. August 1998 in Kraft getreten. Sie sollte bis zum 10. August vergangenen Jahres durch die Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Die Bundesregie- rung hat diese europäischen Vorschriften zur Öffnung des Gasmarktes nicht vollständig fristgerecht in nationales Recht übertragen. Zwar haben das Energiewirtschaftsge- setz in der Fassung von 1998 und das novellierte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit ihren Bestim- mungen zum freien Leitungsbau, zur Abschaffung der Gebietsmonopole und des allgemeinen Netzzugangsan- spruchs auf Basis des allgemeinen Kartellrechts die Richtlinie bereits teilweise umgesetzt. Um den Verpflich- tungen aus der Richtlinie jedoch vollends Rechnung zu tragen, muss das Energiewirtschaftsrecht nun abermals geändert werden. Ziel des heute vorgelegten Gesetzentwurfs der Bun- desregierung muss es sein, den bestehenden energiewirt- schaftlichen Ordnungsrahmen durch die angestrebten Änderungen des Energiewirtschaftsrechtes auf die Grundlage eines fairen und funktionierenden Wett- bewerbs zu stellen. Das Ziel muss wie im Strombe- reich darin liegen, eine möglichst schlanke gesetzliche Normierung zu finden, die durch die betroffenen Wirt- schaftsverbände mit organisatorischen und technisch- wirtschaftlichen Detailregelungen im Rahmen einer Ver- bändevereinbarung konkretisiert, ergänzt und flankiert wird. Inhaltlich geht es darum, Lösungen zu finden für ein Netzzugangsrecht im Wege des verhandelten Netzzu- gangs, Vorschriften für den Netzbetrieb und zur Veröf- fentlichung der wesentlichen geschäftlichen Bedingun- gen für den Netzzugang und zur buchhalterischen Trennung der Rechnungslegung. Wir begrüßen es grundsätzlich, dass die Bundesregie- rung wenigstens im Gassektor zur Einsicht gekommen ist, dass die erfolgreiche Marktöffnung- und Wettbewerbsför- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117060 (C) (D) (A) (B) derungspolitik der CDU/CSU der einzig gangbare Weg ist. Es ist erschreckend, in wie vielen anderes Bereichen der rot-grünen Wirtschaftspolitik zulasten der Verbrau- cher und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes gehandelt wird. Mit immer neuen Regu- lierungen und Interventionen wird fairer und gleicher Leistungswettbewerb verhindert, Strukturwandel ver- schleppt, die Verwirklichung des europäischen Binnen- marktes gebremst, Wirtschaftswachstum und Wohl- standsvermehrung blockiert. Die Liste reicht von einer staatsmonopolistischen Postpolitik, einer missbräuchli- chen Aufblähung der Daseinsvorsorge über das Zwangs- pfand und das KWK-Vorschaltgesetz, dem Technikverbot Atomenergie bis hin zur inflationstreibenden Ökosteuer ohne ökologische Lenkungswirkung. Die Umsetzung ei- ner europäischen Richtlinie im Gassektor darf von sol- chem eklatanten Versagen rot-grüner Ordnungspolitik nicht ablenken. Gerade im Energiesektor drohen die rot-grünen Eingriffe und Kostenbelastungen die mühsam errungenen Liberalisierungsvorteile von 20 bis 30 Milli- arden DM pro Jahr schon bald wieder aufzufressen. Die verspätete Umsetzung der europäischen Gasrichtlinie, zu der die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet ist, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rot-Grün und Bun- deswirtschaftsminister Müller in ihrer Energie- und Wett- bewerbspolitik bislang versagt haben. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens auf dem Gasmarkt mit dem vorliegenden Gesetzesvorhaben ein funktionie- render Wettbewerb erreicht werden kann. Gas besitzt ge- genüber der Stromversorgung einige Besonderheiten. Es herrscht ein Angebotsoligopol und eine hohe Importab- hängigkeit. Es existieren unterschiedliche Verteilerstruk- turen und geringere Überkapazitäten als beim Strom. Po- litisch vorrangiges Ziel muss sein, dass die früheren Monopolisten ihre Gaspipelines für Wettbewerber öffnen. Das Netz ist „essential facility“ – der diskriminierungs- freie Netzzugang für Dritte ist integrale Voraussetzung für mehr Wettbewerb, damit künftig nicht nur industrielle Großkunden, sondern auch das Kleingewerbe und die Haushaltskunden durch Preissenkungen und freie Anbie- terwahl von der angestrebten Liberalisierung profitieren. Dazu bedarf es mehr Transparenz bei der Durchleitung und den Durchleitungstarifen, eines eindeutigen Engpass- managements und klarer Regelung beim Zugang zu Gas- speichern. Nicht akzeptabel ist aus unserer Sicht die Vielzahl von Rechtsverordnungsermächtigungen im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Auch der Versuch, den Import von sogenanntem „schmutzigen Strom“ im Rahmen einer Verordnungsermächtigung zu verbieten, lehnen wir kate- gorisch ab. Der ehemalige Veba-Manager Dr. Werner Müller sollte eigentlich wissen, dass ein solches Vorgehen weder juristisch machbar noch technisch durchführbar ist. Die Bundesrepublik hat sich in der Vergangenheit unter unserer Regierungszeit mit der vollständigen Öffnung der Energiemärkte an die Spitze des Liberalisierungsprozes- ses begeben und wir befürworten gemeinsam die EU- Osterweiterung. Sowohl der jetzige Bundeskanzler als auch sein Außenminister haben sich in der Vergangenheit wiederholt positiv für die Öffnung der mittel- und osteu- ropäischen Märkte ausgesprochen. Ein Teilausschluss, insbesondere der mittel- und osteuropäischen Staaten, aus dem liberalisierten europäischen Strommarkt ist mit die- sen Bekenntnissen nicht vereinbar und widerspricht den Grundsätzen des freien Warenverkehrs. Mit der Absicht, den Strommarkt abzuschotten und Importstrom aus Kern- energie zu verbieten, beschneidet die Bundesregierung die Aktivitäten der deutschen Wirtschaft und belastet un- sere Geschäftsbeziehungen zu den mittel- und osteu- ropäischen Wirtschaftspartnern. Die Pläne der EU-Kommission, die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte zu beschleunigen und den europä- ischen Energiebinnenmarkt schon bis 2005 zu vollenden, verdienten unsere uneingeschränkte Unterstützung. Der von EU-Kommissarin de Palacio beabsichtigte regulierte Zugang Dritter zu den Energienetzen auf der Basis fest- gelegter oder genehmigter Tarife durch eine Regulie- rungsbehörde würde das deutsche Modell der Verhand- lungslösung auf der Grundlage von Verbändever- einbarungen unmöglich machen. Wir sind aber der Auf- fassung, dass funktionierende freiwillige Vereinbarungen und Verhandlungslösungen bei einem effektiven Kartell- recht zu effizienterem Wettbewerb führen als Regulie- rungsregime staatlicher Behörden. Natürlich setzen wir zuallererst auf freiwillige Vereinbarungen anstatt auf staatliche Regulierungsbürokratie. Es gibt jedoch Signale aus dem Markt, dass die verabredeten Verbändevereinba- rungen nicht richtig funktionieren und vor allem rechts- beratende Berufe beschäftigen. Die Beteiligten sind auf- gefordert, solche Vereinbarungen im Interesse der Verbraucher und der Marktoffenheit wirklich praktikabel zu gestalten und vor allem zu handhaben. Sollte dies nicht nachvollziehbar ausreichend funktionieren, muss über Neuvereinbarungen oder als Ultimo Ratio über schärfere gesetzliche Bedingungen nachgedacht werden. Das Prinzip der Reziprozität bei der Vollendung des EU-Energiebinnenmarktes muss sicherstellen, dass Ener- gieunternehmen beispielsweise gegenüber ausländischen Staatskonzernen nicht benachteiligt werden. Fehlt eine ausreichende Reziprozität, darf dies jedoch nicht zu einer Abkehr vom Ziel eines liberalisierten Energiebinnen- marktes führen. Versorgungssicherheit, Preisgünstigkeit, Effizienz und Umweltverträglichkeit bleiben für uns unverändert die Grundanforderungen, an denen sich Energiepolitik aus- richten muss. Um diese Ziele zu erreichen, muss die künf- tige Energiepolitik an den Maximen Nachhaltigkeit, Glo- balisierung, Zukunftsoffenheit und Marktwirtschaft ausgerichtet werden. Wir müssen global und europäisch verantwortliche rechtliche Rahmen finden, weil Energie- politik aufgrund der globalen Zusammenhänge nicht mehr nur im nationalen Rahmen gesehen werden kann. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Energieproduktionsstandort sichern und mit marktwirt- schaftlichen Methoden verbessern, weil nur das Wettbe- werbsprinzip zu den effizientesten Ergebnissen und zu niedrigen gesamtwirtschaftlichen Kosten führt. Markt- wirtschaftlich heißt zugleich auch, mittelfristig ein Level- Playing-Field für alle Marktteilnehmer herzustellen, ei- nen freien und fairen Zugang zu den Versorgungsnetzen zu ermöglichen und das Entstehen sowie den Missbrauch marktbeherrschender Stellungen zu verhindern. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17061 (C) (D) (A) (B) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird im Zuge der nun anstehenden Ausschussberatungen eine öffentliche Anhörung zum vorgelegten Regierungsentwurf beantra- gen, um mit den Betroffenen die noch strittigen Punkte des Gesetzgebungsvorhabens in aller Ausführlichkeit zu diskutieren. – Der Überweisung in die Ausschüsse stim- men wir zu. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Liberalisierung der Energiemärkte Europas schreitet immer weiter voran. Die EU hat uns aufgefordert, die EU- Gasrichtlinie in Deutschland umzusetzen. Dieser Auffor- derung kommen wir gerne nach. Nachdem vor drei Jah- ren in Deutschland der Strommarkt liberalisiert wurde, komme jetzt der Gasmarkt an die Reihe. Das begrüße ich sehr, da hier ein großes Potenzial für den zukünftigen Wettbewerb liegt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein guter Schritt in die Richtung zu einer weiteren Marktöff- nung. Wir müssen aber aufpassen, wie die Liberalisierung durchgeführt werden soll. Das nötige Wissen dazu haben wir. Nach drei Jahren der Strommarktliberalisierung hat sich gezeigt, dass Liberalisierung nicht automatisch mehr Wettbewerb bedeutet. Es gibt bei der Liberalisierung des Gasmarktes struk- turelle Unterschiede zum Strommarkt. Dies muss bei der Umsetzung berücksichtigt werden. Während Strom fast vollständig in Deutschland produziert wird, sind wir bei Erdgas zu 80 Prozent auf Importe angewiesen. Diese Im- porte kommen aus einigen wenigen Ländern, mit denen zum Teil sehr langfristige Lieferverträge abgeschlossen wurden. Das macht den Beginn von Wettbewerb in Deutschland zunächst nicht einfach. Wettbewerb auf dem Gasmarkt benötigt auch Gasmengen für konkurrierende Angebote. Diese Angebote sind vorhanden; es gibt auch eine Reihe von Firmen, die sich in diesem Bereich enga- gieren. Dies ist aber noch sehr schwierig. Wir müssen hier für einen ausreichenden Wettbewerb sorgen, damit im In- teresse der Verbraucher die Gaspreise sinken. Obwohl es um die Umsetzung der EU-Gasrichtlinie geht, dürfen wir den Strommarkt nicht aus den Augen ver- lieren. Und gerade bei Strom gibt es in der bisherigen Li- beralisierung noch große Hindernisse für einen erfolgrei- chen Wettbewerb. Deutschland ist das einzige Land in der EU, dass einen verhandelten Netzzugang gewählt hat. Da- durch haben sich viele Probleme ergeben, die die neuen Wettbewerber nun vom Markt verdrängen. Am drängends- ten ist die ungenügende Rechtssicherheit für die neuen Marktteilnehmer. Die Netzbetreiber nutzen ihre Möglich- keiten, den Wettbewerb zu behindern. Im Konfliktfall ha- ben besonders die kleinen Unternehmen gegen die großen Netzbesitzer keine Chance. Ein Prozess vor Gericht ist häufig zu teuer und dauert zu lange. Bis er gewonnen ist, ist der Kunde weg und manchmal auch das Unternehmen nicht mehr auf dem Markt. Selbst wenn das durchleitende Unternehmen also Recht hatte, nützt ihm das bei diesem zum Teil sehr schnelllebigen Markt nichts. Darüber hi- naus gibt es viele Beispiele, wie die Durchleitung von Strom erschwert wird. In vielen Bereichen sind die Netz- nutzungsentgelte überhöht. Wechselwillige Kunden müs- sen einen zusätzlichen Netznutzungsvertrag abschließen, in einigen Fällen werden dazu die Unterschrift des Ver- mieters und ein Grundbuchauszug verlangt. Für den Kunden wirkt dieser hohe bürokratische Aufwand ab- schreckend und verhindert in vielen Fällen den Anbieter- wechsel. Die Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes bietet jetzt die Möglichkeit, etwas für den Wettbewerb im Strommarkt zu tun. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen, besonders da in dieser Legislaturperiode das Energiewirt- schaftsgesetz sicher nicht noch einmal geändert wird. Nach einer intensiven Phase nach Einführung des Wett- bewerbs steigen jetzt die Preise seit Ende des letzten Jahres wieder an. Dies liegt nicht an den Kosten durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz und das Gesetz zur Kraft- Wärme-Kopplung, wie es die Energieunternehmen glaub- haft machen wollen. Eine aktuelle Studie des BETAachen zeigt deutlich, dass die Kosten für den Endverbraucher durch EEG und KWKG wesentlich geringer sind. Einige Energieversorgungsunternehmen hätten ihre Preise sogar senken müssen, weil mit dem EEG eine bundesweite Um- lage der Kosten erfolgt. Statt der vorgenommenen Strom- preiserhöhungen von bis zu 1,5 Pf/kWh wären im Schnitt nur 0,39 Pf/kWh gerechtfertigt gewesen. Vielmehr be- steht jetzt die Gefahr, dass die fusionierten Großkonzerne den Markt wieder abschotten und in einer konzertierten Aktion die Strompreise wieder anheben. Hier müssen wir genau hinschauen, sonst haben wir den ganzen Akt um- sonst gemacht. Es liegen viele verschiedene zusätzliche Vorschläge zur Änderung auf dem Tisch. Besonders die neuen Wettbe- werber auf dem Strommarkt haben genaue Vorstellungen, was noch verbessert werden muss. Wir werden diese Vor- schläge im parlamentarischen Verfahren genau prüfen. Einen wichtigen Punkt möchte ich hier dazu anspre- chen: die vermiedenen Netznutzungskosten bei dezentra- len Anlagen. Dezentrale Anlagen, die in das Stromnetz einspeisen, vermeiden Netznutzung auf höheren Span- nungsebenen. Diese vermiedene Netznutzung muss an diese dezentralen Anlagen weitergegeben werden. Dies war auch ein Bestandteil der Verbändevereinbarung, ist aber bis heute nicht umgesetzt. Die Energiewirtschaft hat mehr als genug Zeit gehabt. Wenn sie sich nicht an die freiwillige Vereinbarung hält, muss der Gesetzgeber dafür sorgen, dass diese rechtlich verbindlich ist. In diesem Zusammenhang bedauerlich ist, dass auf dem Gipfel von Stockholm der Prozess einer zügigen Li- beralisierung in der EU ins Stocken gekommen ist. Die Vorschläge der EU-Kommissarin de Palacio sind dabei sehr ambitioniert und finden meine volle Unterstützung, und zwar beide Seiten: mehr Wettbewerb in Frankreich durch zügige Liberalisierung und mehr Wettbewerb in Deutschland durch stärkere Regulierung. Ich würde mich freuen, wenn wir den Beratungsprozess nutzen, auch für den Strombereich Zwischenbilanz zu ziehen und intensiv über die Weiterentwicklung und Begleitung des Liberali- sierungsprozesses zu sprechen. Walter Hirche (F.D.P.): Hinter dem komplizierten Ti- tel des Gesetzes, das heute in der ersten Lesung beraten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117062 (C) (D) (A) (B) wird, versteckt sich eines der vordringlichsten energiepo- litischen Ziele dieser Legislaturperiode: die Öffnung der deutschen Erdgasmärkte und damit die Umsetzung der Binnenmarktrichtlinie Gas. Die F.D.P. begrüßt das Gesetz ausdrücklich. Mit dem heutigen Tag können endlich die parlamentarischen Beratungen beginnen, auf die wir viel zu lange haben warten müssen. Denn obwohl die Bun- desregierung verpflichtet war, die Binnenmarktrichtlinie Gas bis zum 8. August 2000 umzusetzen, hat sie unnötig Zeit verstreichen lassen. Sie hat ein Vertragsverletzungs- verfahren in Kauf genommen und sich nicht gescheut, die Liberalisierung und Deregulierung der Energiemärkte – wenn auch nur zeitweise – zu boykottieren. Dabei hinkt die Öffnung der deutschen Gasmärkte bereits zwei Jahre hinter der Liberalisierung der deutschen Strommärkte her. Ein Grund der Verzögerung war, dass die alte Bundes- regierung – anders als bei Strom – mit Blick auf die da- mals noch ausstehende EU-Gas-Direktive davon Abstand genommen hatte, wichtige gasspezifische Details, insbe- sondere im Hinblick auf die Gestaltung des Netzzugangs, unmittelbar in Zusammenhang mit der Energierechtsno- velle von 1998 zu regeln. Heute nun liegen die energie- rechtlichen Vorschläge der Bundesregierung mit den ein- schlägigen gasspezifischen Tatbeständen vor, die jedoch noch intensiver Beratungen bedürfen. Die F.D.P. hat maßgeblich die Liberalisierung und De- regulierung der deutschen Energiemärkte initiiert und durchgesetzt. Die positiven Effekte – und das hat uns der Strombereich gezeigt – werden auch bei der Gasliberali- sierung überwiegen: Kostensenkungspotenziale können genutzt, Synergieeffekte erschlossen werden. Neue Marktanbieter mit innovativen Produkten haben auf dem Strommarkt für mehr Wettbewerb gesorgt. Genau das er- warten wir auch auf den deutschen Gasmärkten. Damit er- wachsen dem Verbraucher Vorteile, von denen er profitie- ren kann und mit denen er ganz persönliches Plus er- wirtschaftet. In der Summe stärkt die Öffnung der Gas- märkte den Standort Deutschland. Er braucht ein politi- sches Signal, damit neues Wachstum entstehen kann. Eine zügige Liberalisierung der Gasmärkte ohne protektionis- tische Gängelungen ist ein wichtiger Schritt dazu. Die F.D.P. ist sich bewusst, dass entscheidende Unter- schiede zwischen dem Gas- und Strommarkt bestehen. Hierzu zählen insbesondere der physische Fluss des Ga- ses, die Qualitätsunterschiede, seine hohe Konzentration auf dem Wärmemarkt und der daraus – trotz gegebener Speicherbarkeit – resultierenden Saisonkomponente und last, but not least die hohe Importabhängigkeit des Gases von insbesondere Norwegen und Russland inklusive der Take-or-Pay-Verträge. Die F.D.P. will faire Chancen auf den deutschen Gas- märkten. Dazu gehört insbesondere auch, dass die Neuan- bieter einen diskrimierungsfreien Zutritt zum Markt er- halten und nicht von den alten Marktteilhabern aus- gebootet werden, wie dies vielfach noch der Fall ist. Das Modell des verhandelten Netzzugangs muss der Praxis- bewährung standhalten. Das schließt zum Beispiel Mög- lichkeiten einer zügigen Kontrolle und den Sofortvollzug bei Anforderungen des Bundeskartellamts ein. Die parlamentarischen Beratungen werden Gelegen- heit geben, die komplexe Materie zu erörtern und Ant- worten zu den noch offenen Fragen zu finden. Unser Ziel, die Entstehung eines aktiven Wettbewerbsmarktes für Gas, werden wir dabei stets im Auge behalten. Eva-Bulling-Schröter (PDS): Gestatten Sie mir ein- gangs einen Kommentar zu einem Schreibfehler im Ge- setzentwurf, der mich erheitert hat. Auf Seite 1 findet sich eingangs des vorgeschlagenen Lösungsansatzes ein Satz, dessen tiefgründiger Humor in einem unfreiwilligen Be- zug zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts und der hier vorgelegten ersten Änderung steht. Ich zitiere: Für Betreiber von Gasversorgungsnetzen bzw. Gas- versorgungsunternehmen soll künftig die Verpflich- tung gelten, Dritten diskriminierungsfreien Zugang zu ihren Gesetzen zu gewähren. Gemeint war jedoch, dass Betreiber von Erdgasnetzen künftig verpflichtet werden sollen, Dritten einen „diskri- minierungsfreien Zugang zu ihren Netzen zu gewähren“. Voilá! Uns selbst ist es bisher nicht gelungen, das Ener- giewirtschaftsgesetz der Ära Kohl in dieser Kürze und Würze zu charakterisieren. Auf Gesetze wie das Energiewirtschaftsrecht sollen sich Dritte ausdrücklich nicht berufen können. Denn im darauf folgenden Satz wird klar zum Ausdruck gebracht, dass der diskriminierungsfreie Zugang zu den Erdgasnet- zen nach geschäftlichen Bedingungen gewährleistet wer- den soll, die vonseiten der Betreiber von Gasversor- gungsnetzen aufzustellen und zu veröffentlichen sind. Ein Wettbewerb der wenigen großen Erdgasbeschaffer um die Gunst kommunaler Erdgasversorgungsunternehmen kann so nicht erwartet werden. Diese Regelung ist vielmehr eine unverholene Ermunterung, Absprachen über die Höhe von Monopolprofiten zu machen, die aus dem na- türlichen Monopol der Leitungsgebundenheit erwachsen. Nicht etwa ein Gesetz dieses Hauses, sondern die all- gemeinen veröffentlichten Geschäftsordnungen der Be- treiber der Erdgasnetze sollen dem diskriminierenden Treiben Einhalt gebieten. Wie auch bei den Stromnetzen soll der Zugang zu den Gasversorgungsnetzen nach dem System des verhandelten Netzzugangs erfolgen. Das Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschafts- rechts legt mit dem so genannten verhandelten Netzzu- gang – und das ist in Europa ein einmaliger Sonderweg – die Regulierung und Gestaltung der leitungsgebundenen Energien Strom und nun auch Erdgas in die Hand der großen Energiekonzerne. SPD und Bündnis 90/Die Grü- nen setzen diese Politik der Regierung Kohl fort. Aus der Brüsseler EU-Kommission mehren sich bereits die Stim- men, welche die Einrichtung einer Regulierungsbehörde für den Betrieb der Strom- und Gasnetze auch in Deutsch- land fordern. Vonseiten der Energiewirtschaft hören wir, dass es da- rum gehe, die deutsche Energiewirtschaft für einen euro- päischen Wettbewerb fit zu machen. Dieser Wettbewerb soll auch um die Übernahme der Energiemärkte in den neuen Beitrittsländern in Mittel- und Osteuropa geführt werden. Die wirtschaftsstarken Mitgliedsländer der EU Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17063 (C) (D) (A) (B) setzen ihre Macht ein, um die Beitrittskandidaten zur Pri- vatisierung ihrer Infrastruktur zu drängen. Die Bundesre- gierung teilt diese Ziele und gesteht den heimischen Energiemonopolisten die Akkumulation von Monopol- profiten zu. Bezahlen tun das die privaten Haushalte, während die Sonderpreise für Großkunden weiter abge- senkt werden konnten. Der politische Preis ist der Ver- zicht auf den Ausstieg aus der Atomkraft. In Deutschland bekommen insbesondere die Beschäftigten der Stadt- werke die Auswirkungen dieses ungleichen Kampfes zu spüren. Die Liberalisierung führt zur Herausbildung eines Oligopols im Bereich der leitungsgebundenen Energien. Im Rahmen der ersten Änderung des Energiewirt- schaftsrechtes hatten wir einige Korrekturen vonseiten der Bundesregierung erwartet. Die Bundesregierung hat die Gelegenheit jedoch nicht genutzt. Dabei muss auch der Verbraucherschutz dringend an die neuen Bedingun- gen angepasst werden. Die privaten Haushalte sehen sich mit intransparenten Angeboten zum Wechsel des Strom- anbieters konfrontiert. Bisher wurde der monatliche Grundbetrag in der Stromrechnung mit den Kosten zur Ablesung und Wartung von Zählern gerechtfertigt. Dieser Posten liegt etwa im Bereich von 5 bis 6 DM pro Monat und war im Zuge der Tarifaufsicht durch Vergleich mit den realen Kosten nachprüfbar. Die neuen Angebote las- sen eine Überprüfung nicht mehr zu. Dort werden bei- spielsweise Grundbeträge in Höhe von 19 DM gefordert, ohne dass klar wird, welche Dienstleistungen des Ener- gieversorgers mit diesen fiktiven Grundbeträgen bereits abgegolten sind. Die politisch-ökonomische Verantwortung des Gesetz- gebers ist es, der zunehmenden Machtkonzentration der Energiekonzerne entgegenzuwirken. Es liegt in der Natur dieses Verhältnisses, dass finanzstarke Konzerne Investi- tionen in Bereiche scheuen, die konjunkturellen Schwan- kungen und Risiken unterliegen. Die bisherige Wirt- schaftspolitik bietet ihnen durch Privatisierung von Infrastruktur und öffentlichen Aufgaben ein vergleichs- weise sicheres Geschäft. In der Tendenz werden konjunk- turelle Schwächen und Wirtschaftskrisen jedoch tiefere Spuren in der Infrastruktur hinterlassen. Auch der Sozial- bereich wird davon nicht verschont bleiben und deshalb muss auch die Riester-Rente in diesem Zusammenhang genannt werden. Wir wollen keine Infrastrukturkonzerne, die in alle Be- reich der Ver- und Entsorgung eindringen. Aufgaben der Daseinsvorsorge und natürliche Monopole gehören in die öffentliche Hand. Energiepolitisch halten wir daher an un- serer Forderung fest: Die überregionalen Transportnetze sollen in gemeinwirtschaftliches Eigentum überführt werden. Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie:Mit dem vorlie- genden Gesetzentwurf wird die EU-Gasrichtlinie voll- ständig umgesetzt. Der Gesetzentwurf stellt einen weiteren Meilenstein in der Liberalisierung des deutschen Energiemarktes dar. Die Marktöffnung im Gasbereich ist zwar schon mit der Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts im April 1998 und mit dem 1999 novellierten Gesetz gegen Wett- bewerbsbeschränkungen auf den Weg gebracht worden. Mit diesen Gesetzen wurden nämlich Demarkations- und ausschließliche Wegerechtsverträge verboten und eine spezialgesetzliche Regelung für den Netzzugang einge- führt. Der vorliegende Gesetzentwurf führt diesen Weg der Liberalisierung – wie schon für den Strombereich ge- schehen – nun auch für den Gasbereich konsequent fort. Wesentliches Ziel ist die Stärkung des Wettbewerbs auf dem Gasmarkt, um Kostensenkungspotenziale freizuset- zen und die Verhandlungsposition der Gaskunden deut- lich zu stärken. Mit diesem Gesetz sind unsere europä- ischen Verpflichtungen erfüllt. Ich möchte auf einige zentrale Punkte des Gesetzent- wurfs eingehen: Der Entwurf sieht eine „schlanke“ Richtlinienumset- zung vor. Er enthält im Wesentlichen das Netzzugangs- recht für Dritte im Verhandlungswege. Damit wird der Tat- sache Rechnung getragen, dass der Zugang zum Netz auch im Gasbereich als Schlüssel für den Prozess der Liberali- sierung anzusehen ist. Wir setzen zudem – trotz zuneh- mender Kritik von der Kommission – weiterhin auf den in der Richtlinie vorgesehenen Weg des verhandelten Netz- zugangs. Wir halten diesen Weg angesichts der pluralisti- schen, privatwirtschaftlich organisierten Marktstruktur in Deutschland für den Erfolg versprechenden. Die Markt- ergebnisse im Strombereich geben uns da Recht. Ein regulierter Netzzugang mag bei Existenz staat- licher Monopolgesellschaften angebracht sein. Deswegen gehen viele europäische Mitgliedstaaten diesen Weg. Wir hingegen setzen auf Deregulierung und die dynamischen Kräfte des Marktes. Neben weiteren, den transparenten Netzzugang regeln- den Vorschriften enthält der Gesetzentwurf eine Rezipro- zitätsklausel für Gas; außerdem wurde die bereits beste- hende Reziprozitätsklausel für Strom verschärft. Diese soll die Chancengleichheit deutscher Energieversor- gungsunternehmen während der europaweiten Marktöff- nungsphase sichern. Wettbewerbsverzerrungen zulasten deutscher Unternehmen sollen zwar in erster Linie wei- terhin durch das Recht der betroffenen Unternehmen zur Verweigerung des Netzzugangs vermieden werden; gleichwohl können Ungleichgewichte zulasten deutscher Energieversorgungsunternehmen entstehen, da derzeit noch unterschiedliche Marktöffnungsgrade in den Mit- gliedstaaten vorhanden sind. Für diesen Fall wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie er- mächtigt, im Wege einer Verordnung mit Zustimmung des Bundesrates Kriterien für die Netzzugangsverweigerung bei grenzüberschreitenden Energielieferungen näher zu bestimmen. Gleiches gilt gegenüber Drittstaaten. Diese politische Antwort auf unterschiedliche Markt- öffnungsgrade sind wir unserer Wirtschaft schuldig. Die Reziprozitätsklausel zum Schutze unserer Wirtschaft kann allerdings entfallen, sobald alle Märkte in Europa voll für den Wettbewerb geöffnet sind. Wir unterstützen daher die Kommission in ihrem Bemühen, die Integration der Märkte für Strom und Gas weiter voranzutreiben. Daneben enthält der Gesetzentwurf eine Reihe von Verordnungsermächtigungen, die eine Feinsteuerung der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 200117064 (C) (D) (A) (B) Marktöffnung ermöglichen. Diese Vorschriften werden mit Leben erfüllt werden, sofern sie sich zum Entstehen eines erfolgreichen Wettbewerbs als notwendig erweisen. Das Gesetz sieht schließlich auch die Einrichtung einer Schiedsstelle beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie vor. Wir erwarten von ihr, dass sie die Strei- tigkeiten bereits im Vorfeld gerichtlicher Verfahren er- folgreich ausräumt. Bei diesem Gesetzentwurf geht es nicht nur um die for- malrechtliche Umsetzung der EU-Gasrichtlinie. Ich er- warte mir hiervon auch wesentliche Impulse für die deut- sche Wirtschaft. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Errichtung eines Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR (Tagesordnungspunkt 17) Gustav-Adolf Schur (PDS): Die Zuständigen für die Tagesordnung haben diese Debatte für die Zeit um Mit- ternacht angesetzt. Das ist die Zeit der Berufsboxer – Showtime – und das lässt Assoziationen aufkommen: Schattenboxen mit Zwölf-Unzen-Handschuhen ist ange- sagt. Zum besseren Verständnis: Das sind die dick gepols- terten für Kinderkämpfe! Ich denke, dass in diesem Fall Fünf-Unzen-Handschuhe gefragt wären, das heißt die, mit denen sich die Profis prügeln. Ich bin gegen jedes Doping, das habe ich oft genug er- klärt. Ich bin dafür, dass Doping juristisch verfolgt wird und zwar im Leistungssport und in den Fitnesszentren. Es ist auch vonnöten, durch Doping gesundheitlich Geschä- digte gebührend zu entschädigen. Aber dieses Hohe Haus hat Entscheidungen für ganz Deutschland zu treffen und nicht – wenn es gerade wieder mal politisch passt –, für die Gegend um Schwerin oder Leipzig, Erfurt oder Dres- den. Also: wenn gegen Doping und Dopingmissbrauch kämpfen, dann deutschlandweit. In dem Antrag der Kollegen von der CDU/CSU heißt es anklagend – ich zitiere –: Sport war in der ehemaligen DDR Mittel staatlicher Repräsentation, staatlicher Propaganda; sportliche Spitzenleistungen sollten der Welt die Leistungs- fähigkeit einer Gesellschaft widerspiegeln und das Ansehen der ehemaligen DDR stärken. Zur Erweiterung Ihres Wissens auf diesem Gebiet möchte ich Ihnen ein Interview des Abgeordneten Kanther im Deutschlandfunk aus dem Jahre 1996 emp- fehlen. Auf die Frage nach dem Wert der in Atlanta von Deutschen eroberten Medaillen sagte er wörtlich: Sie sind ein nationales Anliegen. Sie sind in einem Teilaspekt Ausweis des Leistungsvermögens eines Volkes. Ich wiederhole den Namen: Kanther, damals Bun- desinnenminister. Abschließend: Doping ist in erster Linie eine medizi- nische Disziplin, in zweiter Linie eine juristische; ob man in den Ring steigen sollte, um Doping auch noch als poli- tische Disziplin vorzuführen, bezweifele ich sehr – weder mit Fünf-, noch mit Sechs-, Acht- oder Zwölf-Unzen- Handschuhen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 173. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001 17065 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417300000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS:
Feststellung ausreichender Rechtssicherheit für deutsche
Unternehmen nach § 17 Abs. 2 des Gesetzes zur Errichtung
einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
– Drucksache 14/6158 – (siehe 172. Sitzung)


2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zum drastischen Anstieg der
Inflationsrate auf 3,5 Prozent (siehe 172. Sitzung)


3. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des In-
nenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der
PDS: Sofortige Auszahlung an die Opfer der NS-Zwangsar-
beit – Drucksache 14/5788, 14/6165 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Reuter
Martin Hohmann
Volker Beck (Köln)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

(siehe 172. Sitzung)



(Ergänzung zu TOP 28)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung von Vorschriften des
Dienst-, allgemeinen Verwaltungs-, Sicherheits-, Ausländer-

(Sechstes Euro-Einführungsgesetz)

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März
2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Korea über soziale Sicherheit – Drucksache
14/6110 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette Faße,
Reinhard Weis (Stendal), Hans-Günter Bruckmann, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge-

ordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des

(Binnenschifffahrtsfondsgesetz – BinSchFondsG)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss

d)Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Tier-
schutz auf nationaler und EU-Ebene fortentwickeln
– Drucksache 14/6047 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta Böttcher,
Dr. Heinrich Fink, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Für ein Bundesrahmengesetz
zurWeiterbildung – Drucksache 14/6170 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien


(Ergänzung zu TOP 29)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung
gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die Zustellung ge-
richtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder

(EG-Zustellungsdurchführungsgesetz – ZustDG)

14/6114 –

(Erste Beratung 170. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) – Drucksache 14/6175 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach

16883


(C)



(D)



(A)



(B)


173. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 31. Mai 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Joachim Stünker
Norbert Geis
Dr. Norbert Röttgen
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung
der Bundesregierung zu möglichen Auswirkungen der Ber-
liner Finanzkrise auf den Bundeshaushalt

7. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei-
nes ... Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
– Drucksache 14/5266 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus
Grehn, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS: Konsequenzen aus dem Armuts- und Reichtums-
bericht ziehen – Drucksache 14/6171 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann,
Ernst Burgbacher, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.: Die deutsch-französischen Beziehungen
mit Leben erfüllen – Drucksache 14/6167 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (f)

Auswärtiger Ausschuss

10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,
Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.: Basel II – Belange des Mittel-
stands wahren – Drucksache 14/6172 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

11. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS:
FairerWettbewerb bei Basel II – Neufassung der Basler Ei-
genkapitalvereinbarung und Überarbeitung der Eigenka-
pitalvorschriften fürKreditinstitute und Wertpapierfirmen
– Drucksache 14/6196 –

12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gunnar Uldall,
Matthias Wissmann, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Konjunktur-
abschwung stoppen – Wachstumskräfte stärken – Drucksa-
che 14/6161 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

13. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-
nes Zweiten Gesetzes zur Familienförderung – Drucksache
14/6160 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss

14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rosel
Neuhäuser, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der PDS: Gerechte Chancen am Start – Kinderarmut
bekämpfen – Drucksache 14/6173 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Punkte 15 – Chemiepolitik – und 28 i – Abgeord-
netengesetz – sollen abgesetzt werden.

Außerdem ist nach der Beratung des Jahreswirtschafts-
berichts und dem Zusatzpunkt „Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Familienförderung“ folgende geänderte
Reihenfolge der Beratungen vereinbart worden: Tages-
ordnungspunkt 21 – Arbeitnehmerüberlassungsgesetz –,
Tagesordnungspunkt 20 – Landwirtschaftliche Sozialver-
sicherung –, Tagesordnungspunkt 23 – Antragsrecht für
die Kinderkommission –, Tagesordnungspunkt 22 –
Hinterbliebenenrentenrecht –, Tagesordnungspunkt 24 –
Biomasseverordnung –, Tagesordnungspunkt 26 – Zu-
kunft der Individuallizenz –, Tagesordnungspunkt 27 –
Existenzbedrohung des Handwerks – und dann Tagesord-
nungspunkt 25 – Postgesetz –.

Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen
im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 164. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen
werden.

Antrag der Abgeordneten Hartmut Schauerte,
Gunnar Uldall, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU: Innovation
und fairer Wettbewerb im Handel nach Ab-
schaffung von Rabattgesetz und Zugabever-
ordnung – Drucksache 14/5751 –
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus

Der in der 170. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen
werden.




Präsident Wolfgang Thierse
16884


(C)



(D)



(A)



(B)


Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Friedrich
Merz, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: Deutschland 2015 –
Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes
Deutschland – Drucksache 14/6038 –
überwiesen:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
zu Recht und Ethik der modernen Medizin
und Biotechnologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache vier Zeitstunden vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kolle-
gin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1417300100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben täglich, wie die
Lebenswissenschaften mit wachsender Geschwindigkeit
ihr Wissen und ihr Können sowie die Möglichkeiten er-
weitern, in die Natur und damit auch in die menschliche
Natur einzugreifen. Das ist das Problem, vor dem wir ste-
hen. Auf der einen Seite erfüllt das uns alle mit Hoffnung,
dass die Möglichkeiten des Menschen, sein eigenes
Schicksal zu bestimmen, die Ohnmacht vor dem Zufall zu
bekämpfen und ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu
führen, damit erweitert werden.

Auf der anderen Seite erfüllt uns alle die Angst, dass
damit auch die Eingriffe des Menschen in die menschli-
che Natur tiefer werden und die Möglichkeiten erweitert
werden, auch das, was den Menschen ausmacht, zu ver-
ändern, anscheinend zu verbessern oder nach dem Men-
schenbild des jeweilig Handelnden zu formen und damit
den Menschen in seiner Substanz zu verwerfen, zu be-
werten, über ihn zu verfügen und ihn zu manipulieren.
Dies ist das, was viele Menschen mit Schmerz erfüllt,
weil sie die Sorge haben, dass sie selber verworfen wer-
den können, dass insbesondere krankes, behindertes und
geschädigtes Leben auf diese Weise einem Maßstab un-
terworfen wird, der nicht mehr menschengerecht ist.
Sind die Menschenwürde und unsere wunderbare Ver-
fassung eine Grenze, mit der wir uns beruhigen können
und die uns hilft, mit den neuen Herausforderungen fer-
tig zu werden, sodass wir die segensreichen Wirkungen
der Biotechnologien in Anspruch nehmen können und

gleichzeitig das, was uns Angst macht und was uns schä-
digen könnte, mit Aussicht auf Erfolg zurückweisen
können?

Erst einmal sollten wir festhalten, in welchen Punkten
Konsens besteht. Ich denke, in diesem ganzen Hause, bei
der Regierung wie beim Parlament, bei allen Kräften des
Staates und bei allen Wissenschaftlern herrscht darüber
Einigkeit, dass die immer wieder neu gestellte Frage:
„Dürfen wir alles tun, was wir tun können?“ mit Nein be-
antwortet werden muss.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich fürchte aber, dass uns die Antwort auf diese Grund-
frage – leider – nicht viel weiterhelfen wird. Denn was
dürfen wir tun? Was müssen wir lassen?

An dieser Stelle ergibt sich Streit, der zu führen sein
wird vor dem Hintergrund unserer eigenen Wertordnun-
gen, indem wir unsere eigenen Wertordnungen erkennen
und das, was uns als Person ausmacht, von dem unter-
scheiden lernen, was wir als allgemein verbindlich für die
gesamte Gesellschaft feststellen dürfen. Wir sind das Par-
lament. Wir haben die Gesetze zu machen. Die Gesetze
kennen keine Ausnahmen. Die Gesetze sind allgemein-
verbindlich; unsere Wertordnungen sind es nicht. Es ist
ein großer Unterschied zwischen dem, was ich in meinem
eigenen Leben für richtig halte und woran ich mich halte,
und dem, was ich in Allgemeinverbindlichkeit für alle mit
der Kraft des Gesetzes gebieten und verbieten kann. Die
Ethik des Gesetzgebers verlangt von ihm Zurückhaltung
in Wertfragen. Denn wir sind ein Staat der weltanschauli-
chen Neutralität, in dem Katholiken und Protestanten,
Atheisten und Moslems, Juden und alle anderen Religio-
nen, die es auf der Welt gibt und die bei uns vorhanden
sind, in Eintracht miteinander leben können müssen. Nie-
mand darf in seinem Gewissen vergewaltigt werden. Die
Rechtsethik erwartet von uns, dass wir diese Unterschei-
dung treffen, dass wir das, was uns als Person ausmacht,
kennen lernen und unterscheiden lernen von dem, was die
Allgemeinheit von uns erwartet.

Die Menschenwürde ist ein Begriff, der sich nicht be-
nutzen lässt wie eine binomische Formel in der Mathe-
matik. Dies hat das Verfassungsgericht in ständiger
Rechtsprechung immer wieder festgestellt. Jede Form
von Verdichtung zur Ideologie hat es zurückgewiesen,
und es hat es abgelehnt, die Menschenwürde positiv zu
beurteilen und zu definieren. Menschenwürde ist immer
nur erklärbar und feststellbar anhand der Verletzungen,
bei denen es um Schwache, um Geschädigte, um Ohn-
mächtige geht, die von der Verletzung der Menschen-
würde besonders gefährdet werden. Ich meine, daran soll-
ten wir uns halten und daran sollten wir uns erinnern: dass
die Menschenwürde nicht ein Gerinnungsprodukt von
Ideologie ist und sich schon gar nicht als Knüppel eignet,
mit dem man auf den Kopf eines anderen einschlägt, son-
dern genau der Punkt ist, an dem wir uns im Konsens auf-
einander zubewegen müssen; denn Gesetze auf diesem
Gebiet entstehen nur im Konsens.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Präsident Wolfgang Thierse

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(C)



(D)



(A)



(B)


Lassen Sie mich einmal kurz rekapitulieren, was wir
als Parlamentarier auf dem Gebiet der Gesetzgebung ei-
gentlich zu entscheiden haben. Wir haben Konsens – da-
rüber wird nicht gestritten –, dass die Möglichkeiten der
nachgeburtlichen Genomanalyse insgesamt vom Ge-
setzgeber neu erörtert und neu eingegrenzt werden müs-
sen. Persönlichkeitsschutz, Datenschutz, das Recht auf
Wissen und das Recht vor allem auch auf Nichtwissen,
das Recht der Versicherungen, das Recht beim Eingehen
eines Arbeitsverhältnisses – dies alles ist unstreitig und
hätte eigentlich schon vorgestern erledigt sein können. Ich
hoffe, dass das in dieser Legislaturperiode noch klappt,
und zwar mit Zustimmung des ganzen Hauses.

Sehr viel schwieriger wird es bei der Frage – die wir
wahrscheinlich nicht zu erörtern haben, weil wir dazu
keine Anträge vorliegen haben und in dieser Legislatur-
periode wohl auch nicht bekommen –, inwieweit ein Em-
bryo, der in vitro erzeugt worden ist, als Forschungsobjekt
zur Verfügung steht. Ich halte die Entscheidung des Ge-
setzgebers von vor elf Jahren – ich nehme an, dass ich da
auch weitgehende Zustimmung bei Ihnen finde –, die In-
vitro-Fertilisation der natürlichen Zeugung und Emp-
fängnis nachzubilden, nach wie vor für richtig. Ein Em-
bryo, auch im Glas erzeugt, ist das zukünftige Kind
zukünftiger Eltern und sonst nichts.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Er steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung. Weder ist
er ein Medikament zur Behandlung irgendeiner Frucht-
barkeitsstörung noch ist der Embryo ein Werkstück, das
man unter Mangeleinreden betrachten kann, noch ist er
ein Rohstoff für andere Zwecke.


(Beifall im ganzen Hause)

Diese Grundentscheidung, die der Gesetzgeber getrof-

fen hat, sichert die Menschenwürde sowohl des Paares als
auch des Embryos. Wir werden sicherlich in dieser Legis-
laturperiode und auch in der nächsten keine Anträge zur
Veränderung des Embryonenschutzgesetzes bekommen
und das ist gut so.

Dann gibt es das große Problem der PID, der Prä-
implantationsdiagnostik.Meine Damen und Herren, ich
stehe nicht an zu sagen, Präimplantationsdiagnostik ist
nichts Gutes, genauso wenig wie der Schwangerschafts-
abbruch. Wir wünschen uns Eltern, wir wünschen uns
Paare, die Kinder annehmen, so wie sie sind, und nicht
erst prüfen, ob sie für ihre Zwecke taugen.


(Beifall im ganzen Hause)

Aber ebenso wie beim Schwangerschaftsabbruch re-

den wir hier nicht darüber, ob Präimplantationsdiagnostik
oder Schwangerschaftsabbruch etwas Gutes ist. Wir reden
über die Grenzen des Strafrechts. Das Strafrecht ist dazu
da, das ethische Minimum zu sichern; es ist die schärfste
Waffe des Staates. Hinter jedem Gesetz, hinter jedem Ur-
teil steht das Wort: Ich an deiner Stelle hätte anders ge-
handelt. – Wer mag das in jedem dieser Fälle sagen?

Wir müssen im Hinblick auf die schwer belasteten
Paare und die Hochrisikopaare – sie sind ihrerseits Ge-
schlagene – darüber nachdenken, ob wir sie mit dem

Knüppel des Strafrechts noch treffen können, ob wir mit
dem Strafrecht noch das erreichen können und sollten,
was elterliche Hingabe im Grunde genommen so wich-
tig macht. Die Frage, die sich hier stellt, ist Thema der
Bergpredigt: Richten wir hier nicht und müssen dabei in
Kauf nehmen, dass wir selbst gerichtet werden? Ich
finde, dass wir über das, was Strafrecht ist, nachdenken
müssen und nicht über die Frage, ob diese Technologie
das Selbstwertgefühl oder die Selbstbestimmung eines
Menschen erweitert; das tut sie nicht. Wir müssen hier
über die mit Konflikten und Belastungen verbundenen
Probleme diskutieren. Es geht dabei nicht um eine
flächendeckende Technik zur Erweiterung des gelingen-
den Lebens.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich möchte Sie bitten – meine Zeit geht zu Ende –, dass
wir von einem, was sich im Vorfeld dieser Debatte öfter
gezeigt hat, Abstand nehmen: Wenn wir es richtig ange-
hen, dann haben wir es nicht damit zu tun, die Guten und
die Bösen voneinander zu trennen und Autodafés zu er-
richten, auf denen die Ketzer verbrannt werden. Ich bitte
um alles in der Welt darum, dass wir davon Abstand neh-
men, weil es der Debatte nichts nützt. Wir sollten auch da-
von Abstand nehmen, Wissenschaft zu dämonisieren.
Wissenschaft dient der Gesellschaft nicht nur dadurch,
dass sie neue Möglichkeiten des Handelns, des Heilens
und des Helfens entwirft, sondern auch dadurch, dass sie
Tabus verletzt; sonst gäbe es keine Anatomie, keinen
Darwin und keinen Freud.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir müssen uns gefallen lassen, dass uns die Wissen-
schaft nicht in Ruhe lässt, wenn wir die wohltuende Binde
des Nichtwissens vor unseren Augen behalten. Nicht-wis-
sen-Wollen ist das Recht des Einzelnen, aber nicht das der
Gesellschaft.


(Beifall im ganzen Hause)

Herr Präsident, wenn Sie es mir erlauben, dann möchte

ich als Letztes Folgendes erzählen, um Ihnen deutlich zu
machen, dass auch unsere Söhne und Töchter, unsere Brü-
der und Schwestern, unsere Väter und Mütter
Wissenschaftler sein können: Als ich in Münster studierte,
gab es dort einen Anatomieprofessor, der dafür bekannt
war, dass er immer mit auf den Friedhof ging, wenn die
kümmerlichen Reste der Leichen, die für Präparierkurse
der Medizinstudenten dienten – unter den Studenten wa-
ren diese Kurse so etwas wie Initiationsriten, oft mit der-
ben Späßen begleitet –, beerdigt wurden. Das war für uns
alle und auch für mich als Jurastudentin dahin gehend stil-
bildend, wie man auch dann, wenn man das Objekt
Mensch auf dem Tisch hat, mit dem Menschen, der er ist
und der er war, menschenwürdig umgeht. Das war für
mich ein Vorbild.

Ich danke Ihnen.

(Beifall im ganzen Hause)





Margot von Renesse
16886


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417300200
Ich erteile der Kolle-
gin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1417300300
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Bio- und Gen-
technologie beschreiten wir nicht nur in der Forschung,
sondern auch in der Ethik Neuland. Erstmals ist der
Mensch in bisher ungeahnter Weise Gegenstand der For-
schung. Erstmals zeichnet es sich ab, dass der Mensch in
die Entwicklung des Menschen selbst eingreifen und sei-
nen genetischen Code verändern kann. Es stellt sich die
Frage: Inwieweit ist der Mensch noch Geschöpf? Inwie-
weit wird er zum Produkt? Diese Frage geht tief in das In-
nerste des Menschseins. Wir müssen uns diesen fundamen-
talen Fragen stellen und wir ringen um die Antworten. Ich
bin froh, dass wir das in diesem Hohen Hause heute tun.

Hoffnungen und Ängste, euphorische Begeisterung,
aber auch Ratlosigkeit treffen in diesen Diskussionen auf-
einander. Wir sind mit überwältigenden Ergebnissen in
der Grundlagenforschung konfrontiert; aber wir wissen
noch längst nicht, ob die Anwendung damit auch gelingen
kann.

Das hat sich bei der Entschlüsselung des menschlichen
Genoms in besonderer Art und Weise gezeigt. Das Buch
des Lebens liegt geöffnet vor uns. Wir können die Buch-
staben entziffern; aber wir können deshalb noch längst
nicht den Sinn begreifen. Das zeigt: Je weiter wir in diese
Geheimnisse des Lebens vordringen, desto schwieriger
wird es, sie zu entschlüsseln. Vor uns liegt eine Jahrhun-
dertaufgabe. Wir wissen nicht, ob es Wissenschaftlern je
gelingen wird, den Stein der Weisen zu finden. Deshalb
sollten wir uns auch in Diskussionen wie dieser in Be-
scheidenheit üben und – ich benutze jetzt einen Begriff
des Bundespräsidenten – das menschliche Maß sehr wohl
beachten. Wir brauchen ein entsprechendes Bewusstsein.
Wir alle wissen, dass es um die Fragen der Schöpfung und
um die Fragen geht, wer wir sind und wie wir leben wol-
len. Wenn die Schallmauer einmal durchbrochen ist, dann
sind Entscheidungen nicht mehr rückholbar.

Mir hat John Geerhart, einer der bekanntesten Stamm-
zellenforscher in den USA, eine Mahnung mit auf den
Weg gegeben. Er sagte zu mir: „Be patient!“ Er hat uns als
Politikerinnen und Politiker ins Stammbuch geschrieben,
Geduld zu haben, Geduld zu haben auch deshalb, weil
sich der letzte Stand der Forschung schon morgen mögli-
cherweise in einem ganz anderen Licht darstellt. Die
Forschungsentwicklungen sind im Falle der Bio- und
Gentechnologie rasant. Zugleich werden wir mit neuen
ethischen Dimensionen konfrontiert.

Wir müssen aber auch vonseiten der Politik die Wis-
senschaft auffordern, Geduld mit uns hinsichtlich der zu
treffenden Entscheidungen zu haben; denn wir haben ein
Recht auf Nachdenklichkeit, wenn es um solche zentralen
Fragen des Menschseins geht. Wir brauchen eine breite
Debatte in der Öffentlichkeit: über die Leitbilder von
Menschenwürde, über die universelle Gleichheit aller
Menschen, über das Verhältnis von Mensch und Natur,
von Gesundheit und Lebensstilen sowie von unerlaubten
Eingriffstiefen und gebotenen Grenzziehungen. All das
steht zur Diskussion.

Die Fragen müssen erörtert werden. Aber die Ent-
scheidungsfindung gehört in den Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der F.D.P. sowie des Abg. Roland Claus [PDS])


Die Politik darf und kann Themen von einer derartigen
Tragweite nicht einfach an Wissenschaftler und Gremien
delegieren. Die Politik und auch wir selbst müssen in die-
sen schwierigen Fragen Position beziehen. Wir müssen
uns auch die Zeit lassen, um diese Fragen – seien es die
grundsätzlichen, seien es Einzelfragen – zu beantworten.

Wir haben im Deutschen Bundestag die Enquête-
Kommission „Recht und Ethik der modernen Medi-
zin“ eingesetzt. Wir können nicht anderen Gremien die
Entscheidungen überlassen oder sie durch andere Gre-
mien möglicherweise sogar vorwegnehmen lassen. Diese
Aufgabe müssen wir als Parlamentarierinnen und Parla-
mentarier verantwortungsvoll wahrnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wer Neuland betritt, der braucht einen Kompass. Der
Kompass liegt in dem, was ethisch verantwortbar ist. Er
liegt in der Unverfügbarkeit des Menschen, im Schutz des
Lebens von Anbeginn und in der Wahrung der Men-
schenwürde. Dazu können wir uns auf entsprechende
rechtliche Grundlagen stützen.

Wann beginnt das zu schützende menschliche Leben?
Diese Frage stand in den letzten Wochen und Monaten im-
mer wieder in der Diskussion. Ich meine, es gibt eine klare
Antwort. Ich hoffe auf eine große Übereinstimmung in
dieser Frage. Es ist die Grundfrage, von der alles Weitere
ausgeht. Zu schützendes Leben beginnt mit der Ver-
schmelzung von Ei- und Samenzelle; denn von Anbeginn
ist das volle Potenzial, also das volle genetische Pro-
gramm des Menschen, vorhanden. Der Embryo ist
menschliches Leben und nichts anderes. Es gilt, dieses
menschliche Leben zu schützen und seine menschliche
Würde zu wahren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])


Wer anderes denkt, muss auch bedenken, was er auf-
gibt. Wer glaubt, dass das volle Lebensrecht erst danach
anfange und dass es hinsichtlich der Menschenwürde Ab-
stufungen gäbe, der muss überlegen, was es bedeutet,
wenn man heute den 12., morgen den 14. und übermorgen
den 16. Tag als Grenze nimmt. An diesem Beispiel wird
deutlich, welche Willkür diesen Entscheidungen anhaftet.
Solche Entscheidungen sind nicht tragfähig. Wir müssen
klar sagen, dass es sich von Anfang an, also ab der Ver-
schmelzung, um menschliches Leben handelt. Das Bun-
desverfassungsgericht hat uns aufgegeben, diesen Schutz
des Lebens von Anfang an zu gewährleisten.

Ich will noch ein Wort zu den Konsequenzen sagen, die
sich daraus ergeben. Zwei Fragen treiben uns nämlich in






(C)



(D)



(A)



(B)


ganz besonderem Maße in der aktuellen Diskussion um:
Die eine Frage berührt die Fortpflanzungsmedizin und die
andere die Embryonenforschung.

Bei der Fortpflanzungsmedizin sind viele von der
Frage bewegt: Ermöglicht es die Präimplantationsdiagnos-
tik eventuell Eltern, die sich brennend ein Kind wünschen,
ein gesundes Kind zu bekommen, auch wenn sie geneti-
sche Dispositionen haben, die dagegen sprechen? Auf der
einen Seite müssen wir diese Sorge sehr ernst nehmen. Auf
der anderen Seite liegt aber in der Waagschale das Leben
als solches. Überlegen wir uns einmal, was es konkret be-
deutet, eine Präimplantationsdiagnostik durchzuführen:
Das heißt, dass im frühesten Stadium geprüft wird, ob der
Embryo genetisch beschädigt ist. In der Konsequenz führt
das dazu, dass dieser aussortiert wird. Aussortieren heißt
selektieren, heißt, möglicherweise behindertes Leben
wegzuwerfen und zu töten. Ich glaube, an dieser Stelle ist
aus Achtung vor dem Leben und dem sich daraus erge-
benden Schutz für dieses eine solche Schlussfolgerung
nicht zulässig. Deshalb scheidet für mich die Präimplanta-
tionsdiagnostik aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ein Leserbrief, den ich gestern in der „Welt“ gesehen
habe, hat mich sehr bewegt, nicht allein wegen seines In-
haltes, sondern auch deswegen, weil ich die Schreiberin
dieses Leserbriefes seit ihrer Geburt kenne. Heute ist die-
ses Mädchen 14 Jahre alt und hat Mukoviszidose. Sie hat
in der „Welt“ geschrieben – ich weiß, wie die Eltern da-
rüber denken und wie sehr diese Frage das Mädchen in
ihren jungen Lebensjahren schon persönlich bewegt hat –:
Sie findet ihr Leben trotz aller Beschwernisse ganz und
gar nicht lebensunwert. Sie geht ins Gymnasium, sie
spielt, hat Freunde und vor allen Dingen Ziele. Sie will in
diesem Leben etwas erreichen. Zugleich sagt sie aber
auch: Sie habe die Sorge, dass sie, wenn die Diagno-
semöglichkeit PID vor Jahren zugelassen worden wäre
– über die Zulassung diskutieren wir ja jetzt –, heute nicht
in dieser Welt wäre, nicht leben könnte und nicht all das,
was an Fülle des Lebens vor ihr liege, erfahren könnte.

Die Botschaft, die uns ein behindertes Mädchen, ein
Mädchen mit einer schweren Krankheit, hier mit auf den
Weg gibt, lautet: Lasst mich leben! Zerstört nicht das Le-
ben, sondern sagt Ja dazu und ermöglicht es, dass
behindertes und von Krankheit umfangenes Leben eine
Chance hat in dieser Welt! Ich glaube, wir sind in beson-
derem Maße aufgerufen, diesen Ruf zu hören und diesem
Ruf auch nachzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker [SPD])


Ich hoffe und setze darauf, dass wir in diesem Bewusst-
sein eine Entscheidung für das Leben treffen.

Das gilt auch dann, wenn wir darüber entscheiden, ob
wir verbrauchende Embryonenforschung wollen.
Wenn wir wissen, dass es auf der einen Seite eine Illusion
wäre, wie uns Forscher sagen, zu glauben, dass die Hoff-
nungen auf Heilung von Krankheiten bald eingelöst wer-
den können, aber auf der anderen Seite feststeht, dass ein

Embryo Leben ist, dann muss an dieser Stelle klar sein,
wo wir den Schutz verstärken müssen. Es gibt viele an-
dere Möglichkeiten im Bereich der Stammzellenfor-
schung, die ethisch unproblematisch sind. Lassen Sie uns
diese Möglichkeiten ergreifen. Chancen, die sich bieten,
sollen wir nutzen, aber zugleich das Leben schützen. Es
darf nie und nimmer zur Disposition stehen!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker [SPD] und des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417300400
Ich erteile das Wort
der Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen.

Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass
wir heute diese ungewöhnliche Debatte im Bundestag
führen, hat damit zu tun – das wurde schon gesagt –, dass
unser Wissen um den Menschen durch die rasanten Fort-
schritte der biotechnischen Wissenschaften in den letzten
Jahren unglaublich gestiegen ist. Das Humange-
nomprojekt hat uns Erkenntnisse über das Innerste des
menschlichen Körpers verschafft. Damit einher gingen
Entwicklungen in der Medizin oder zumindest Aussichten
darauf.

Gentechnisch hergestellte Medikamente und Diagnos-
tika sind längst eine Selbstverständlichkeit und haben
schon sehr, sehr vielen Menschen geholfen. Es bestehen
gute Chancen, dass auf diesem Weg noch weitere segens-
reiche Neuerungen zu erwarten sind. Das gilt unter ande-
rem für den Bereich der Pharmakogenetik. Es ist offen,
welche weiteren Wege uns durch die zu erwartenden Er-
kenntnisse aus dem Humangenomprojekt und der
Proteomicsforschung noch eröffnet werden. Deswegen ist
es gut, dass hier vielfach geforscht und dies auch durch
Förderung vonseiten des Staates unterstützt wird.

Als Zuschauer, als interessierte Laien und auch als ei-
nes Tages vielleicht von diesen Fortschritten Begünstigte
stehen wir staunend und fasziniert vor diesen Entwick-
lungen und den Verheißungen, die darin liegen. Wir
bewundern den großartigen wissenschaftlichen Fort-
schritt. Wir sind neugierig auf immer neue Erkenntnisse
über unseren Körper, was ihn steuert, was ihn krank
macht. Ironischerweise lernen wir dabei gerade von den
Genforschern, dass all diese Prozesse viel komplizierter
sind, als es der boulevardeske Ausdruck von einem Intel-
ligenzgen oder der genetischen Bestimmung glauben ma-
chen könnte.

Die Besonderheit dieser neuen Forschung, dass wir die
Vorgänge in unseren Körpern besser verstehen, ist ihre
große Stärke und zugleich stellt sie uns genau dadurch vor
Herausforderungen. Wir müssen uns ihnen stellen, gerade
wenn und weil wir die positiven Potenziale der Gentech-
nik weiter erschließen und nutzen wollen.

Selbstverständlich werden wir alle anstehenden Ent-
scheidungen unter der Prämisse treffen, dass wir die




Dr. Maria Böhmer
16888


(C)



(D)



(A)



(B)


Chancen auf Heilung nutzen wollen. Niemand, der sich an
dieser Diskussion beteiligt, ist gegenüber den Hoffnungen
auf Hilfe vonseiten der Schwerkranken unempfindlich.
Deswegen sollten wir es uns auch nicht gegenseitig un-
terstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Was es aber für uns so schwierig macht, ist, dass wir
mit dem Willen zu heilen allein keinen Maßstab haben,
wenn wir unsere Entscheidungen treffen. Wenn Heilung
nämlich der alleinige Maßstab wäre, gäbe es gar keine
Grenzen, die wir aus Respekt vor dem Lebensrecht eines
anderen Menschen ziehen könnten und müssten. Hier eine
Abwägung zu finden und diese Aufgabe zu lösen be-
deutet, die Chancen von Biomedizin und Gentechnik ver-
antwortungsbewusst wahrzunehmen.

Es gibt zurzeit – davon war bereits bei den Kollegin-
nen die Rede – vor allem ein Verfahren aus der Biomedi-
zin und einen Bereich der gentechnischen Forschung, die
im Zentrum dieser Abwägungen stehen und die Frage
nach der Grenzziehung aufwerfen. In den letzten Wochen
war die Diskussion auf die Zulässigkeit von Präimplanta-
tionsdiagnostik sowie Forschung unter Verbrauch von
Embryonen konzentriert. Oft genug konnte man den Ein-
druck gewinnen, an der Haltung gegenüber diesen beiden
Fragen entscheide sich die grundlegende Haltung zur
Gentechnik und die Erschließung ihrer Chancen. Das ist
in der Sache nicht zutreffend; denn es handelt sich bei der
PID um einen sehr randständigen Bereich der Anwendung
neuer Diagnoseverfahren und bei der Forschung an em-
bryonalen Stammzellen um einen unbestreitbar sehr
wichtigen, aber eben nicht um den einzig entscheidenden
Bereich der Forschung. Wer in diesen beiden Punkten für
Grenzziehung plädiert, wird sich vielen kritischen Fragen
danach stellen müssen, ob dies berechtigt ist und ob er die
Grenze richtig zieht. Aber er wird sich nicht vorwerfen
lassen müssen, dass damit der gesamten Forschungsrich-
tung und allen neuen Heilungschancen der Weg abge-
schnitten würde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Das heißt, es geht auf der materiellen Ebene nicht um
ein Ja oder Nein zur Gentechnik. Trotzdem halte ich es für
berechtigt, dass wir genau über diese Fragen mit so viel
Energie streiten; denn hier geht es um unser Men-
schenbild, unsere Werte, die Regeln unseres Zu-
sammenlebens und vor allem auch darum, wie wir sie in
Zukunft im Angesicht der medizinischen Fortschritte ge-
stalten wollen.

In der Bündnisgrünen-Fraktion haben wir uns mit einer
großen Mehrheit für eine Grenzziehung ausgesprochen,
die sich an der Unverfügbarkeit des menschlichen Em-
bryos für die Auswahl von Kindern ebenso wie für die
fremdnützige Forschung festmacht. Selbst wenn wir in
der Fraktion eine große Mehrheit für diese Position haben,
so gibt es auch bei uns andere Meinungen und vor allem
– das ist in einer weltanschaulich nicht gebundenen Par-
tei wie jener der Bündnisgrünen selbstverständlich – un-

terschiedliche Begründungen für diese Position. Dabei
verbindet uns das verfassungsrechtliche Gebot der Wah-
rung der Menschenwürde.

Bei der Präimplantationsdiagnostik stehen wir vor
der Frage, ob wir zulassen wollen, dass menschliche Em-
bryonen sich nur dann zu Menschen entwickeln sollen,
wenn sie nicht Träger einer bestimmten genetischen
Krankheit sind. Wir, auch ich ganz persönlich, verstehen
gut die Angst der Eltern vor der Belastung für sie und das
Kind, die von dieser Erkrankung ausgeht. Trotzdem wol-
len wir dieses Verfahren nicht zulassen, weil wir nicht da-
mit beginnen wollen, Kinder nach ihren gesundheitlichen
Eigenschaften auszuwählen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Diejenigen, die für dieses Verfahren sprechen, verwei-
sen darauf, dass es heute vielfach zu Schwangerschafts-
abbrüchen kommt, wenn die künftigen Eltern im Verlauf
der Schwangerschaft die Information über die Behinde-
rung ihres Kindes erhalten; dann sei es schonender, die-
sen Schwangerschaftskonflikt von vornherein zu vermei-
den.

Ich möchte gegenfragen: Kann es sein, dass aus der im-
mer mehr um sich greifenden Praxis, ein Kind wegen sei-
ner künftigen Behinderung nicht anzunehmen, zwangs-
läufig folgt, diese Praxis auch noch zu vereinfachen? Oder
müssen wir nicht vielmehr andersherum fragen, warum
Eltern nicht den Mut fassen können, ein Kind mit einer
Behinderung anzunehmen? Wir alle stehen doch in der
Pflicht. Wir können etwas dafür tun, dass das Leben mit
einem kranken oder behinderten Kind nicht so schwer ist,
wie es den Eltern heute häufig gemacht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Obwohl es schwer ist, nehmen heute viele Eltern diese
Herausforderung an. Sie zu unterstützen und den anderen
die Chance zu geben, dass sie so leben können, darum
sollten wir mit viel Energie streiten, statt darum, wie wir
das Leben mit einer Behinderung vermeiden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Deswegen plädiere ich dafür, die Praxis der pränatalen
Diagnostik und die daraus oft folgenden Schwanger-
schaftskonflikte in den Mittelpunkt unserer Überlegungen
zu stellen.

Diese Praxis muss uns auch beeindrucken, wenn wir
darüber sprechen, ob wir dieses Verfahren nicht wenigs-
tens in engen Grenzen zulassen könnten, eine Frage, die
hier nahe liegt, wie Frau von Renesse gesagt hat. Aber mit
Blick auf diese Erfahrungen steht doch zu erwarten, dass
sich auch bei der Präimplantationsdiagnostik eine Be-
grenzung nicht einhalten lässt, dass die Nachfrage nach
diesem Verfahren steigen wird,


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Alle Erfahrungen zeigen das!)





Andrea Fischer (Berlin)


16889


(C)



(D)



(A)



(B)


sodass es immer selbstverständlicher sein wird, von künf-
tigen Eltern zu verlangen, dass sie kein krankes Kind be-
kommen oder dass sie sich vielleicht sogar, wenn sie es
doch wollen, dafür rechtfertigen. Aber ein Kind braucht
doch gerade Eltern, die es annehmen, wie es ist, die es lie-
ben, unabhängig von seiner Gestalt und seinen Fähigkei-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Diese Haltung steht nicht im Widerspruch zu unserer
Position zur Rechtslage hinsichtlich des Schwanger-
schaftsabbruchs.Hier wird bei bestehenden Schwanger-
schaftskonflikten darauf verzichtet, das Grundrecht des
Kindes gegen den Willen seiner Mutter strafrechtlich
durchzusetzen. Die Frau hat das Recht, selbstbestimmt
eine Entscheidung zu treffen. Bei der PID aber gibt es
keine Schwangerschaft, die eine Notlage begründen
könnte und in der die Lebensansprüche gegeneinander ab-
gewogen werden könnten.

Eine kritische Überprüfung der bestehenden Praxis bei
der Diagnose von behinderten Föten sollte uns alle zum
Nachdenken darüber anregen, ob das unsere Haltung zu
behinderten Menschen zum Schlechten verändert und ob
wir hier nicht zur Umkehr aufgefordert sind.

Keinesfalls aber kann es dabei um eine Gesetzesände-
rung gehen. Im Gegenteil verweise ich darauf, dass das
dem Geist des 1995 reformierten § 218 des Strafgesetz-
buches entspricht, in dem die eugenische Indikation
ausdrücklich abgeschafft worden ist. Ich bin sicher, dass
niemand etwas gewinnt, wenn er die Entscheidungen, die
in der Biopolitik anstehen, mit einer Neuauflage der Dis-
kussion um den § 218 verbindet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine ebenso schwierige Entscheidung wird von uns bei
der Forschung mit Stammzellen erwartet, die unter dem
Verbrauch von Embryonen gewonnen werden. Das wäre
nach all den Schritten, die wir schon jetzt gegangen sind,
ein Schritt, der eine andere Qualität hat. Embryonen zu
verbrauchen hieße, menschliches Leben zu einem außer-
halb seiner selbst liegenden Zweck zu benutzen. Es macht
aber doch gerade die Menschenwürde aus, dass der
Mensch für sich selbst steht, dass er keinem Zweck dien-
bar sein muss und sein darf.

Wir entkommen diesem Problem nicht, indem wir den
Status des Embryos erst graduell unter Schutz stellen.
Dies hieße, willkürlich eine Grenze zu setzen; denn die
Biologie hilft uns nicht mit einer eindeutigen Bestim-
mung, wann jenseits der Befruchtung noch einmal Ein-
schnitte in den Entwicklungsprozess des Embryos zu
rechtfertigen sind. Eine einmal unter Nutzenkriterien ge-
setzte Grenze lässt sich jederzeit wieder verschieben;
denn der entscheidende Schritt wäre damit getan.

Das ist eine schwere Entscheidung. Denn die Aussagen
der Forscher über das, was sie sich davon erwarten, sind
sehr viel versprechend. Sie wird uns jedoch dadurch er-
leichtert, dass die Fortschritte bei der Forschung an

Stammzellen von Erwachsenen in letzter Zeit gewaltig
sind. Aber ich meine, dass es auch aus der Perspektive von
kranken und behinderten Menschen wichtig ist, dass
menschliches Leben nicht verfügbar ist. Dass der Schutz
des menschlichen Lebens an keine Bedingung geknüpft
wird, weder an Fähigkeiten noch an die Entwicklungs-
stufe, ist für uns alle ein Schutz, besonders aber für dieje-
nigen Menschen, die dieses Schutzes aufgrund von
Schwächen insbesondere bedürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Diese Diskussionen, die in einer breiten Öffentlichkeit
geführt werden, stehen erst am Anfang. Die Entscheidung
des Parlaments ist noch in weiter Ferne. Es wird auf uns
alle ankommen, wie wir diese Debatte führen. Sie braucht
gegenseitigen Respekt und Ernsthaftigkeit. Wir müssen
die Wünsche und die Ängste, die in dieser Debatte auf-
tauchen, ernst nehmen. Es gibt keine falschen Wünsche.
Es kann aber gute Gründe geben, sie nicht zu erfüllen.
Keiner von uns sollte sich mit seiner eigenen Moral
hochmütig über die anderen stellen. Jeder von uns sollte
sich in dieser Diskussion immer wieder einmal durch die
Argumente des anderen verunsichern lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Die Biowissenschaften haben uns neue Freiheiten ge-
schenkt. Sie haben uns damit neue Fragen aufgegeben.
Der Mensch hat immer die Freiheit, sich für Selbstbe-
schränkung zu entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417300500
Ich erteile dem Kolle-
gen Edzard Schmidt-Jortzig, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP):
Rede ID: ID1417300600
Herr Präsi-
dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Wie gut es ist, dass sich der Bundestag einmal ganz
grundsätzlich, und zwar vor einer konkreten Befassung
mit Regelungsvorhaben oder Gesetzentwürfen, über den
Bereich der modernen Biomedizin Gedanken macht, ist
schon mehrfach unterstrichen worden. Mir erscheint da-
bei in der Tat wichtig, die Erwägungen über den engeren
Bereich der reinen Gentechnik hinaus auf das ganze Feld
neu in den Blick gekommener Grundbelange menschli-
cher Existenz zu erstrecken.

Der Fächer staatlicher Regelungsbedarfe ist ange-
sichts des medizinisch-naturwissenschaftlichen Fort-
schritts umfassend geöffnet; machen wir uns da bitte über-
haupt nichts vor. Dieser Fächer beginnt mit der Spende
von Keimzellen und deren künstlicher Verschmelzung,
den Möglichkeiten genetischer Diagnostik an embryona-
len Stammzellen und der Erforschung sowie Klonierung
dieser Bestandteile. Er umfasst pränatale Biopsien, die se-
lektive Abtreibung von Föten, die Gentherapie sowie den
Keimbahneingriff und reicht bis zum Ende des menschli-




Andrea Fischer (Berlin)

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(C)



(D)



(A)



(B)


chen Lebens, bis zu den Fragen von Sterbehilfe, Patien-
tenselbstbestimmung und den Bedingungen von Organ-
entnahmen. Es ist wichtig, diese Einzelprobleme immer
als Teil eines Gesamtbogens zu sehen, in dessen Mittel-
punkt der Mensch steht.


(Beifall bei der F.D.P.)

All unsere Gestaltungs-, all unsere Steuerungs- und

Regelungsbemühungen haben sich auf das Wohl des
Menschen hin auszurichten und nicht irgendwelche abs-
trakten Vorteile ins Auge zu nehmen:

Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der
Staat um des Staates willen.

Dies war bekanntlich der Eingangsartikel im Vorentwurf
unserer Verfassung und gilt inhaltlich heute noch immer
und genauso – und vielleicht mehr denn je.

Dafür hilft aber sicherlich eine Beschwörung guter al-
ter medizinischer Idylle wenig. Der Rubikon für die Mög-
lichkeit des Eingriffs in die menschlichen Lebenssubstan-
zen ist am Beginn des Lebens mit der Zulassung von
In-vitro-Fertilisationen und am Ende des Lebens mit der
Gestattung von Organtransplantationen längst unwider-
ruflich überschritten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Sich hier heute noch im Stand der Unschuld und in der
vollen Entscheidungshoheit über Gut und Böse oder Ja
oder Nein zu wähnen wäre reichlich realitätsfern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zu viele Einzelentscheidungen haben schon Richt-
punkte gesetzt. Dazu gehört auch, verehrte Frau Kollegin
Fischer, § 218 a Abs. 2 StGB.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Das kann man auch mit noch so hohem Argumentations-
aufwand nicht mehr ungeschehen machen. Die Zulassung
etwa der Tötung von Föten – mit welch guten Gründen
auch immer – steht natürlich im Abgleich mit der Frage
einer Zulässigkeit des Tötens von Embryonen. Die dank-
bare Hinnahme von Zellkultivierung und Implantationen
bei Läsionstherapien von Blutsubstanzen, Haut oder
Rückenmark hat natürlich Vorwirkungen auf das thera-
peutische Klonieren anderer Zellen. Es ist ein Flickentep-
pich einzelner Präjudizien entstanden, die zusammenzu-
führen nur schwer noch gelingen will. Auch um deswillen
ist eine Besinnung auf das Grundsätzliche unerlässlich.

In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit will
ich dazu nur zwei Stichworte geben:

Erstens. Es wird gewiss darum gehen, verlässlich die
Bedingungen menschlichen Lebens, das heißt, seinen für
das Recht maßgeblichen Beginn und sein Ende zu be-
stimmen, und damit die Skala seines ethischen wie recht-
lichen Schutzbedarfs festzulegen.

Gleiches gilt – wahrscheinlich noch viel grundsätzli-
cher und schwieriger – für die Menschenwürde. Lebens-
schutz und Würdeschutz sind jedenfalls deutlich ausei-

nander zu halten. Beide betreffen ganz unterschiedliche
Ebenen menschlicher Realität: der Lebensschutz die phy-
sische, der Würdeschutz die geistig-reflektorische. Leben
ist ein biologisches Faktum, Würde eine soziale Wertung.
Nichts ist in dem schwierigen Diskurs störender und ver-
nebelnder als der immer wieder zu hörende sich auf die
Verfassung stützende Vorwurf, hier werde aber nun doch
die Würde des menschlichen Lebens bedroht. So steht es
eben nicht in der Verfassung. Es geht in Art. 1 Grundge-
setz vielmehr um die Würde des Menschen und nicht des
menschlichen Lebens. Das körperliche Element von Le-
ben und Gesundheit wird dagegen in Art. 2 Grundgesetz
unter völlig anderen Bedingungen geschützt. Wer immer
dies durcheinander wirft – egal, ob bewusst oder unbe-
wusst und von welch hohem Podest auch immer – und
dazu noch – wie kürzlich geschehen – die Verfassungs-
keule schwingt, der verhindert eine angemessene, diffe-
renzierte Linienführung und Linienfindung.


(Beifall bei der F.D.P.)

Menschenwürde ist eben gegen nichts abwägbar, auch

mit noch so vielen guten Gründen nicht. Dies war – je-
denfalls in meinen Augen – auch das Missverständnis in
der Abtreibungsdebatte. Menschenwürde ist, wie die Ver-
fassung sagt, unantastbar. Der Schutz des Menschenle-
bens aber lässt sehr wohl Einschränkungen zugunsten an-
derer Rechtsgüter zu. So steht es ausdrücklich im
Grundgesetz. Dies ist auch für eine intakte, tragfähige Ge-
sellschaftsordnung unerlässlich.

Zweitens, meine sehr verehrten Damen und Herren
Kollegen, muss von Beginn an jedem gedanklichen Ab-
solutismus abgeschworen werden. Es gilt, die verschie-
densten Facetten, Rechtsbelange, Zwecke, Interessen und
Schutzbedürfnisse zu berücksichtigen und gegebenenfalls
durch wechselseitige Aufeinanderabstimmung zu harmo-
nisieren. Bei der Präimplantationsdiagnostik geht es eben
nicht nur um kompromisslosen Schutz des embryonalen
menschlichen Lebens, sondern auch um die sozialen
Chancen des künftigen Kindes, um das psychische
Zurechtkommen der Eltern mit seiner begrenzten Per-
spektive und den ärztlichen beruflichen Heilungs- und
Leidensvermeidungsauftrag.

Hüten wir uns also – das wäre mein größter Wunsch in
dieser Debatte – in diesem hochdifferenzierten sensiblen
Gelände vor Einseitigkeiten und Fundamentalismen, vor
unkritischem Fortschrittsglauben genauso wie vor bun-
kerhafter Fortschrittsverweigerung.

Aufgegeben sind uns ein mühsames, intensives Abwä-
gen zwischen den verschiedensten Aspekten und die Su-
che nach Ausgleich zwischen all dem Gegenläufigen. Die
heutige Debatte kann dafür nur ein erster, ein vager An-
fang sein.

Danke sehr.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417300700
Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.




Dr. Edzard Schmidt-Jortzig

16891


(C)



(D)



(A)



(B)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417300800
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Das Spannende und zugleich
das Verführerische in dieser Bioethikdebatte ist doch
wohl, dass Chancen und Gefahren so dicht beieinander
liegen. Ich finde es gut, hier mitzuerleben, wie wir Abge-
ordneten uns als Suchende, Hoffende, zu wenig Wissende
öffentlich darstellen, wo wir doch sonst als Politikerinnen
und Politiker gern die Wegweisenden, die Alleswissenden
geben. Zu dieser Offenbarung will ich gern beitragen und
unumwunden eingestehen, dass wir demokratischen So-
zialisten uns dabei schwer tun, weil tradierte Wertevor-
stellungen für diese Debatte nicht ausreichen. Das geht
uns wohl nicht allein so. Ich finde es auch ehrlich, dass
man uns das anmerkt.

Die PDS-Fraktion vertritt in dieser Debatte verschie-
dene Positionen und wir werden das auch kenntlich ma-
chen. Der einigende Grundsatz heißt auch für uns: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar.“

Ich will dem Herrn Bundespräsidenten nicht näher
treten, als das für ihn unschädlich ist, aber für seine Ber-
liner Rede zu diesem Thema gibt es in meiner Fraktion
sehr viel Zustimmung. Das zu sagen muss dann ja auch er-
laubt sein.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Johannes Rau hat schwierige Dinge so gesagt, dass
alle, die es denn wollen, ihn verstehen können. Ich fände
es gut, wenn diese Art des Umgangs mit dem Thema vom
Fernsehen aufgegriffen würde, ich will sagen: in einer Art
Serie und nicht Talkshow, im Sinne von Aufklärung und
nicht zum Zwecke medialer Schaukämpfe.

Ich will dem Versuch das Wort reden, uns alle hier im
Bundestag nicht hastig in verschiedene Lager einzuteilen.
Was zum Teufel treibt uns eigentlich zu einer vorschnel-
len Polarisierung? Sind es nicht die selbst geschaffenen
Zwänge, wegen vermeintlicher Klarstellung und Erkenn-
barkeit Fronten aufzumachen und uns an den Polen zu
versammeln? Ist es so sonderlich demokratisch, die Frak-
tionsgrenzen aufzuheben, um sich sofort danach in oder
hinter neuen Gräben wieder einzurichten?


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Warum in aller Welt müssen wir ganz am Anfang einer
wirklich großen Debatte zuerst über die Versetzung von
Rechtsnormen reden? Das leuchtet mir nicht ein. Warum
können nicht die Argumente in gegenseitiger Achtung erst
einmal ausgetauscht werden?

Lassen Sie uns doch zunächst über die Chancen, vor
allem über die vielen ungenutzten Chancen, reden. Die
Wendung „Es ist viel Raum diesseits des Rubikon“ hat
Johannes Rau ja sehr treffend formuliert. Diesseits des
Rubikon ist mit moderner Biotechnologie auch jede
Menge neuer Arbeit denkbar, zum Beispiel in der Anwen-
dung der Tropenmedizin, bei der Aidsbekämpfung, bei
der Abwehr wiederkehrender Seuchen wie der Tuberku-
lose, auch bei der Bekämpfung von Hungersnot. Es wäre
daher verantwortungslos, den öffentlichen Eindruck zu
verbreiten, mit Biotechnologien könnten Arbeitsplätze

nur dort entstehen, wo gerade die Goldrauschmentalität
der Gentechnik zu Hause ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ich meine, die Debatte läuft auch deshalb so, wie sie

momentan läuft, weil Politik ihrer gesellschaftlichen Ver-
antwortung heute nicht ausreichend gerecht wird. Es ist
ein Bild etwa der Art verbreitet, Hightech sei modern und
Ethik sei etwas von gestern. Ich meine, das darf so nicht
hingenommen werden. Was wir brauchen, ist eine politi-
sche Verantwortungsgemeinschaft, in der fachwissen-
schaftlicher und ethischer Vorlauf befördert werden. Das
nenne ich modern.


(Beifall bei der PDS)

Die Menschheitsgeschichte zeigt doch deutlich genug,

dass ihr nicht alles, was im Namen von Fortschritt und
Modernisierung angelegt war, auch zum Nutzen ge-
reichte. Natürlich brauchen wir Wissenschaftsfreiheit,
aber zugleich auch die gesellschaftliche Abwägung der
Folgen von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es
geht doch nicht an, nach der Logik zu verfahren: For-
schungsfreiheit jetzt, industrielle Vermarktung sofort und
die Folgenabschätzung kommt irgendwann später.


(Beifall bei der PDS)

Rechtliche Schranken machen einen Sinn, solange die

Folgen neuer Technologien nicht einigermaßen ergründet
sind; ich weiß, ganz geht das nie. Man erwirbt sich so auch
den wenig beliebten Titel eines Bedenkenträgers. Sei es
drum – das ist mir lieber, denn als Träger von Bedenken-
losigkeit zu gelten.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Stefan Heym hat im Juni 1989 – also vor zwölf Jahren,

und wenn wir uns erinnern, in einer noch anderen Welt –
in einer Debatte unter dem Titel „Über eine Ethik von
morgen“ in Frankfurt am Main vor den Folgen des Aus-
bleibens gesellschaftlicher Vernunft bei der ungezügelten
Anwendung und Vermarktung der Gentechnik gewarnt.
Er sagte:

Es stimmt nicht mehr, dass erst das Fressen kommt
und dann die Moral – nein, wenn nicht die Moral sein
wird, zuerst und allzeit von nun an, wird es nichts
mehr zu fressen geben und nichts mehr zu atmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns über
die Verantwortung von moderner Politik für Technologie-
entwicklung unvoreingenommen, aber verantwortungs-
bewusst streiten und dann entscheiden, damit nicht ein-
tritt, wovor uns Stefan Heym einst warnte.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417300900
Ich erteile dem Abge-
ordneten Gerhard Schröder, SPD-Fraktion, das Wort.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1417301000
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich denke, das Wichtigste, was in dieser
Debatte deutlich geworden ist, ist, dass wir nicht nur für






(C)



(D)



(A)



(B)


die Inhalte dessen, was gesagt wird, sondern auch für die
Form Verantwortung haben und nach dem Ablauf der De-
batte auch wahren. Deswegen war es wohltuend, dass hier
niemand dem Andersdenkenden Gewissen, Moral, auch
Ernsthaftigkeit abgesprochen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Niemand bestreitet, dass die wichtigste Grenze, die uns
gesetzt ist, Art. 1 des Grundgesetzes ist. Das ist eine
Grenze, die von der Würde des Menschen handelt. Sie ist
und sie bleibt für uns unantastbar. Ich denke, dies eint uns.
Worüber wir aber streiten und weiter streiten werden, ist,
was das denn im Einzelnen heißt, was also bezogen auf
unsere Handlungen im Einzelnen ethisch vertretbar ist
und was nicht.

Diese Fragen zu entscheiden, das setzt zunächst einmal
möglichst viel an Information voraus, und zwar an um-
fassender und vorurteilsfreier Information. Das bezieht
sich nicht nur auf diejenigen, die hier an der Debatte teil-
nehmen, sondern auf die ganze Gesellschaft. Nur eine Ge-
sellschaft, die Bescheid weiß und offen über Optionen
diskutieren kann, ist in der Lage, über eine solch schwer
wiegende Zukunftsfrage wie die der umfassenden Nut-
zung der Gentechnik zu entscheiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Entgegen manchem Missverständnis möchte ich sa-
gen, dass der von mir einberufene Nationale Ethikrat
kein Ersatzparlament sein soll. Das könnte er auch gar
nicht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Was soll er denn sein? – Da sind wir aber beruhigt!)


–Vielleicht kann man das in dieser Diskussion mal lassen.
Der Ethikrat soll kein Ersatzparlament sein; er bietet

die Möglichkeit, die Diskussion in der Gesellschaft zu er-
weitern und sachverständiger werden zu lassen und sie
immer wieder zu bereichern. Natürlich ist er auch eine
Möglichkeit, sachverständigen Rat zu geben. Ich denke,
dagegen spricht wenig.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417301100
Herr Kollege
Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1417301200
Nein, ich würde meine
Rede gerne im Zusammenhang vortragen.

Zu den umstrittensten Themen gehört sicherlich – das
ist auch hier deutlich geworden – der Embryonenschutz.
Soweit ich die Diskussion verfolgen konnte, bietet das be-
stehende Embryonenschutzgesetz einerseits ausreichen-
den Schutz und lässt andererseits genügend Spielraum für
Wissenschaft und Forschung. Ich meine deshalb, dass wir
gut beraten sind, dieses Gesetz nicht vorschnell zu ändern.
Wir können uns also auf der Basis dieses Gesetzes für eine

ausführliche, offene und gewissenhafte Diskussion Zeit
lassen. Darum geht es uns allen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich stimme Herrn Schmidt-Jortzig ausdrücklich zu,
wenn er darauf hinweist, dass uns der Rückgriff auf das
Verfassungsgericht zurzeit wenig hilft; denn sowohl Alt-
bundespräsident Roman Herzog als auch die Präsidentin
des Bundesverfassungsgerichts haben überzeugend deut-
lich gemacht, dass zu dieser Frage die Judikatur des Ge-
richts nicht vorliegt. Das Gericht ist mit dieser Frage – je-
denfalls bislang – nicht direkt beschäftigt worden. Wer
also den Gesichtspunkt der Verfassungswidrigkeit des ei-
nen oder anderen Handelns bemüht, sollte diese Stimmen
unbedingt zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Das eigentliche Potenzial der Gentechnik liegt darin,
neue Medikamente und neue Behandlungsmethoden zu
entwickeln, mit denen schwerste, bisher nicht heilbare
Krankheiten unter Umständen geheilt oder gelindert wer-
den können. Sicherlich ist die religiös motivierte Position
zu respektieren, die das Schicksal von Schwerstkranken
und Patienten, die zum Beispiel an Krebs, Alzheimer,
Parkinson, Mukoviszidose oder an einer anderen Krank-
heit leiden, als bedauerlich, am Ende aber unabänderlich
empfindet. Aber ich frage mich: Ist nicht der Wunsch, die
ärztliche Pflicht, alles nur Menschenmögliche für die Hei-
lung schwerstkranker Menschen zu unternehmen, ebenso
zu respektieren?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der F.D.P. und der PDS)


Ich denke, die Ethik des Heilens und des Helfens verdient
ebenso Respekt wie die Achtung der Schöpfung. Ich sehe
nicht, dass wir in einer Situation sind, in der sich beides
gegenseitig ausschließt.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich bin der festen Überzeugung: Man darf den For-
schern, die beispielsweise große Hoffnungen in die
Stammzellenforschung setzen, nicht pauschal dunkle, un-
ethische Motive unterstellen. Es mag auch unter Wissen-
schaftlern Aufschneider und Scharlatane geben, aber die
allermeisten forschen Tag für Tag mit dem großartigsten
Ziel überhaupt, nämlich Menschenleben zu retten. Dafür
haben sie Respekt und Anerkennung verdient.


(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS)


Wir stimmen sicherlich darin überein, dass das medizi-
nische und therapeutische Potenzial der Gentechnik nicht
allein – darin stimme ich Ihnen zu, Frau Fischer –, aber
doch auch von der Forschung an Stammzellen abhängt.
Es besteht in der Gesellschaft augenscheinlich Einigkeit
darüber, dass die Forschung mit adulten Stammzellen er-
laubt ist, ja sogar noch intensiviert werden soll. Wie aber




Gerhard Schröder

16893


(C)



(D)



(A)



(B)


verhält es sich mit den embryonalen Stammzellen? Es gibt
eine Reihe von Forschern, die embryonale Stammzellen
für wirksamer halten, wenn es um die Entwicklung neuer
Therapiestrategien zur Ersetzung abgestorbener Zellen
geht. Es gibt jene in unserem Land, die auf die Notwen-
digkeit vergleichender Forschung hinweisen. Das Em-
bryonenschutzgesetz von 1991 schließt die Herstellung
von Embryonen allein zu Forschungszwecken aus. Ich
denke, dabei sollte es bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)


Aber wie wollen wir es mit den überzähligen befruch-
teten Eizellen halten, die bei der künstlichen Befruchtung
in Deutschland anfallen? Nach Schätzungen lagern mehr
als 100 Embryonen in Deutschland. Unser Gesetz erlaubt
eine künstliche Befruchtung nur, um eine Schwan-
gerschaft herbeizuführen. Genau dafür aber werden diese
befruchteten Eizellen nicht mehr benötigt. Die Frage ist:
Was wird mit ihnen passiert? Ist es angesichts der Alter-
native, sie wegzuwerfen, nicht doch vertretbar, begrenzte
Forschung an ihnen zu ermöglichen? Diese Frage wird
uns nicht loslassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Noch eine andere Frage bewegt mich: Laufen wir nicht
Gefahr, den Streit um die PID überzubewerten? Die PID
ist ein rein diagnostisches und kein therapeutisches Ver-
fahren.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Ein selektives Verfahren!)


Bei ihr findet kein Eingriff in die Erbsubstanz statt. Mit
der PID werden somit keine genetisch veränderten Men-
schen erzeugt. Die Befürworter der PID sagen, aufgrund
einer medizinischen Indikation könne eine Schwanger-
schaft straffrei abgebrochen werden. Statt die ent-
sprechenden Tests erst im Mutterleib vorzunehmen,
plädieren sie dafür, diese Tests bei genetisch belasteten
Eltern bereits vorher zuzulassen. Ich denke, dafür gibt es
Gründe, die achtbar sind.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ist der Rubikon wirklich überschritten, wenn ein Ver-

fahren, das im Mutterleib angewendet werden darf, unter
den gleichen Bedingungen – das ist zu betonen – wie bei
der medizinischen Indikation auf Embryonen, die durch
künstliche Befruchtung entstanden sind, übertragen wer-
den soll? Ist das ein Verfahren, das man wirklich unter
allen Umständen ausschließen darf? Ich meine: nein.


(Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Ich meine, dass wir dieses Verfahren in genau den glei-
chen Grenzen verantworten können, in denen wir eine
medizinische Indikation zulassen. Ich will auf eines
hinweisen: Dies bei uns zu ermöglichen, gibt uns die
Chance, die Grenzen zu setzen, ohne zusehen zu müssen,
dass sie in anderen Ländern überschritten werden. Es geht

um schwierige Abwägungsfragen. Die heutige Debatte
wird ein wichtiger und ein für alle hilfreicher Beitrag sein;
aber eben nur ein einzelner Beitrag.

Die Diskussion muss und wird weitergehen. Das ist gut
so und hilfreich für die politische Kultur in unserer
Gesellschaft. Dabei werden wir uns immer wieder klar-
machen, dass wir in schwierigen Abwägungsfragen in
einer doppelten Hinsicht Verantwortung tragen, weil wir
nicht nur für uns selber, sondern für die gesamte
Gesellschaft und ihre Entwicklung verantwortlich sind.
Eine Verantwortung haben wir für das, was wir tun, wir
haben aber auch eine Verantwortung für das, was wir un-
terlassen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Dies – und nicht platter Ökonomismus – ist gemeint,

wenn ich darauf hingewiesen habe, dass wir auch die Fol-
gen des Unterlassens für Forschung und Entwicklung
und damit für die Richtung, die unsere Gesellschaft
nimmt, zu bedenken haben.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417301300
Ich erteile dem Kolle-
gen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1417301400
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Der Abgeordnete
Schröder hat in seiner Funktion als Bundeskanzler – ich
denke jedenfalls, so war es gemeint – auf die Funktion
und Bedeutung des von ihm eingesetzten Ethikrates
hingewiesen. Dieser Nationale Ethikrat, wie er
genannt wird, wird in der nächsten Woche zum ersten
Mal zu einer Sitzung zusammentreten.

Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, dass diese Debatte, die
wir heute führen, nicht in der zeitlichen Abfolge zwischen
Parlamentsdebatte und Sitzung des Nationalen Ethikrates
in der nächsten Woche eine reine Alibifunktion hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich sage das deshalb, weil ich mir gewünscht hätte, dass
es aus den beiden, die Regierung tragenden Fraktionen,
den Mehrheitsfraktionen, einen scharfen Protest gegen
die Einsetzung eines solchen Nationalen Ethikrates
gegeben hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dieses Gremium – so empfinde ich es jedenfalls – ist eine
Zumutung für den Deutschen Bundestag, der zu Beginn
dieser Legislaturperiode eine Enquête-Kommission
eingesetzt hat, die sich genau zu diesem Sachverhalt so
sachkundig machen soll, dass der Deutsche Bundestag
eine Entscheidungsgrundlage findet.


(Beifall bei der CDU/CSU – Margot von Renesse [SPD]: Das habt es alles schon einmal gegeben!)





Gerhard Schröder
16894


(C)



(D)



(A)



(B)


– Die Ernsthaftigkeit des Themas spricht ja nicht dagegen,
dass auch kritische Fragen angesprochen werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Kinderkommission! Wie war das damals?)


Ich beobachte insbesondere bei diesem Thema mit
großer Sorge eine voranschreitende Entparlamen-
tarisierung der Politik in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ja Quatsch!)


Deswegen hoffe ich, dass es so ist und auch so bleibt, wie
Sie es gesagt haben, dass nämlich nicht etwa in Beiräten
der Regierung, sondern hier im Parlament die notwendi-
gen Debatten geführt und Entscheidungen getroffen wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sind uns einig, dass die moderne Biotechnologie

und die Gentechnik große Chancen beinhalten. Chancen
zur Heilung von Krankheiten, gewiss auch große
wirtschaftliche Chancen. Ich will auch heute Morgen da-
rauf hinweisen, dass diese großen Chancen nicht erst von
der neuen Regierung gesehen worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


– Es mag ja sein, dass Sie darauf mit Zwischenrufen
reagieren, meine Damen und Herren,


(Jörg Tauss [SPD]: Nicht mal! – Zuruf von der SPD: Peinlich!)


aber auch der Kammerton dieser Debatte darf nun wirk-
lich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die alte Bun-
desregierung war, die gegen den erbitterten Widerstand
der damaligen Opposition von SPD und Grünen das
durchsetzen musste, was in der Bundesrepublik Deutsch-
land bis heute in Fragen der Biotechnologie und der Gen-
technik erreicht worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich füge eine weitere kritische Anmerkung hinzu: Herr

Bundeskanzler, Sie haben uns aufgefordert, die Debatte
über Fragen der Biomedizin und der Biotechnologie ohne
ideologische Scheuklappen zu führen. Dieses Wort haben
Sie heute Morgen dankenswerterweise nicht wiederholt.
Sie haben es zu einem Zeitpunkt gesagt, an dem Ihre Bun-
desregierung auf dem Höhepunkt der Krise um BSE und
Maul- und Klauenseuche aufgefordert hat, man solle
jetzt im Bereich der so genannten grünen Gentechnologie
eine Atempause einlegen und zunächst einmal auf diesem
Weg nicht weiter vorangehen.


(Zuruf von der SPD: Thema verfehlt!)

Hier geraten die Prioritäten und die Maßstäbe durch-
einander. Die ethisch und moralisch viel weniger
diskussionsbedürftige so genannte grüne Gentechno-
logie hätte gerade angesichts der Krise um BSE und
Maul- und Klauenseuche eine verstärkte Zuwendung
der Politik sowie Anstrengungen in der Forschung und
Entwicklung verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich etwas zu den Chancen und den
Risiken sagen, die sich durch die Biomedizin ergeben:
Wir stehen ganz gewiss erst am Anfang der modernen
Fortpflanzungs- und Zellbiologie. Damit werden viele
Hoffnungen verbunden. Es werden vermutlich auch viele
Hoffnungen enttäuscht werden. Ich stimme jedenfalls all
denjenigen zu – Frau von Renesse, Sie haben es heute
Morgen sehr eindrücklich gesagt –, die mit diesen neuen
Erkenntnissen und Möglichkeiten quasi religiöse
Heilsversprechen verbinden. Es wird aber auch ent-
täuschte Hoffnungen mit der Biomedizin geben.

Meine Damen und Herren, es werden uns eine Reihe
von alten Fragen neu gestellt, vor allem die Fragen: Was
ist menschliches Leben? Wann beginnt menschliches
Leben? Bleibt menschliches Leben ungeteilt und ohne
Abstufungen schützenswert?

Weitgehende Übereinstimmung besteht in Wis-
senschaft und Politik bisher wohl darüber, dass mensch-
liches Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samen-
zelle beginnt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelt es
sich – hier gibt es Hinweise in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes – nicht zum Menschen, son-
dern von dieser Verschmelzung an entwickelt es sich als
Mensch.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen müssen diejenigen, die den Zeitpunkt des

Beginns menschlichen Lebens etwa auf den Zeitpunkt,
von dem an die Fähigkeit der Selbstachtung besteht, ver-
schieben wollen, wie der Staatsminister im Bundeskanz-
leramt gesagt hat, wissen, dass damit nicht nur am Beginn
des menschlichen Lebens, sondern auch während und
am Ende des menschlichen Lebens der bisher absolute
Schutz unseres Grundgesetzes relativiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wünsche mir jedenfalls, dass es dabei bleibt, dass

die Unantastbarkeit der Würde nicht nur dem Embryo,
sondern auch dem schwer Geisteskranken, dem schwer-
behinderten Kind und dem im Alter schwer Demenz-
kranken niemals abgesprochen werden darf.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es mag andere Setzungen geben, die den Beginn des

menschlichen Lebens und damit den Beginn des
Schutzes seiner Würde zutreffend bestimmen, etwa – da-
rüber wird diskutiert – den Beginn der Schwangerschaft
zwei Wochen nach der Befruchtung mit der Nidation der
befruchteten Eizelle in der Gebärmutter. Wer aber diesen
Zeitpunkt annimmt, der muss wissen: Dann gibt es auch
keinen unbedingten Rechtsschutz für im Reagenzglas be-
fruchtete Eizellen vor ihrer Einpflanzung mehr; deren
Zeitpunkt ist bekanntlich an Fristen nicht gebunden.

Meine Damen und Herren, diese bisherige Überzeu-
gung, dass menschliches Leben mit der Befruchtung be-
ginnt, muss meiner Meinung nach beachtet werden, wenn
es um die Zulässigkeit der so genannten PID, der
Präimplantationsdiagnostik, geht. Natürlich geht es bei
der Präimplantationsdiagnostik nicht um Diagnose, son-
dern um die Konsequenzen aus der Diagnose, nämlich um




Friedrich Merz

16895


(C)



(D)



(A)



(B)


die Entscheidung über Einpflanzung oder Vernichtung der
befruchteten Eizelle.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hier lege ich Wert auf Klarheit in der Sprache. Wollen wir
uns dann wirklich anmaßen zu entscheiden, welche
genetischen Defekte der befruchteten Eizelle ihre Ver-
nichtung erlauben?


(Zuruf von der SPD: Falsch!)

Ich weiß, wir haben alle die Bilder von Kindern mit

schwersten genetisch bedingten körperlichen und geisti-
gen Defekten vor Augen. Ihre Spätabtreibung wäre nach
geltendem Recht in vielen Fällen in Deutschland erlaubt.
Aber im Reagenzglas werden genauso wie die schweren
genetischen Defekte auch positive genetische Dispositio-
nen feststellbar sein. Wo ist die Grenze? Wer trifft die
Entscheidung? Wer garantiert, dass mit PID der Selektion
nicht Tür und Tor geöffnet wird?


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wir zum Beispiel!)


Meine Damen und Herren, bei der Entscheidung dieser
schwierigen Frage werden uns – jedenfalls nach meiner
festen Überzeugung – die Regeln über die Indikation
beim Schwangerschaftsabbruch nicht weiterhelfen,
denn anders als bei der Abwägung zwischen zwei prinzi-
piell als gleichwertig angesehenen Rechtsgütern, nämlich
dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes und dem
Leben der Mutter, fehlt es bei der PID gerade an dieser
Gleichwertigkeit zweier gegeneinander abzuwägender
Rechtsgüter. Dem Schutzrecht der befruchteten Eizelle
kann kein gleichwertiger Anspruch der Eltern auf Geburt
eines Kinder oder gar auf Geburt eines gesunden Kindes
entgegengehalten werden. So hart das für die Betroffenen
klingen mag: Es gibt in unserer Rechtsordnung keinen
Anspruch auf die Geburt eines gesunden Kindes.


(Margot von Renesse [SPD]: Das hat auch niemand behauptet!)


Den Maßstab dafür bestimmt unsere Verfassung. Er
kommt in Art. 1 unseres Grundgesetzes zum Ausdruck.
Dieser Artikel ist nach Maßgabe der Präambel formuliert,
eben nicht wertneutral, sondern, so heißt es dort, in „Ver-
antwortung vor Gott und den Menschen“. Lassen Sie uns
bei allem, was noch im Detail geklärt werden muss, nie
diesen Wertmaßstab unseres Grundgesetzes aus dem
Blick verlieren. Er ist Maßstab für alle Entscheidungen,
die wir im Deutschen Bundestag zu treffen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417301500
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.


Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417301600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten!
Ich glaube, wir Abgeordnete, das gesamte Parlament, ha-
ben allen Grund, selbstbewusster als der Kollege Vorsit-
zende der CDU/CSU-Fraktion zu sein,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Selbstbewusster, weil ich mir ganz sicher bin, dass sich
dieses Parlament die Aufgabe, über das auf der heutigen
Tagesordnung stehende schwierige Thema ernsthaft zu
diskutieren und Entscheidungen zu treffen, nicht von
Kommissionen, Institutionen und zahllosen Diskutanten
aus Publizistik und Wissenschaft aus der Hand nehmen
lassen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich denke, Herr Kollege Merz, anders wird ein Schuh
daraus: Wenn wir die Ratschläge und Beiträge aus Pu-
blizistik und Wissenschaft in unserem parlamenta-
rischen Beratungsprozess selbstbewusst aufnehmen, dann
werden wir wie schon in vergleichbaren anderen schwie-
rigen Debatten – ich erinnere an die Diskussion über das
Transplantationsgesetz – substanzvolle und auch tragfä-
hige Entscheidungen treffen können. Das scheint mir der
richtigere Weg zu sein, als über irgendwelche Kommis-
sionen zu räsonieren.

In den letzten Monaten wurde zu Recht immer wieder
eine offene Debatte im Parlament eingefordert. Heute
führen wir sie. Aber diese Debatte braucht auch inhaltli-
che Standpunkte und Positionen. Eine Diskussion zwi-
schen Menschen und Gruppierungen ohne Standpunkte
ist schlechterdings nicht möglich. Ich glaube auch, dass
die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ein Anrecht
darauf haben, zu erfahren, welche Position die Parteien zu
der wichtigen Frage der Biotechnik einnehmen. Wenn ich
es richtig sehe, dann gibt es in dieser Hinsicht noch einen
gewissen Nachholbedarf. Deshalb ist es gut, dass wir uns
darauf einvernehmlich verständigt haben, uns ausrei-
chend Zeit für diese Diskussion zu lassen und Entschei-
dungen in dieser wichtigen Frage erst in der nächsten Le-
gislaturperiode zu treffen.

Durch die Entwicklung der Biotechnologie sind
Grundwerte und Grundrechte berührt, die unser Selbst-
verständnis angehen, also die Art und Weise, wie wir uns
selber als Individuen und als Gesellschaft ethisch veror-
ten. Deshalb ist es unverzichtbar – das tun wir ja heute –,
dass wir zuallererst eine ethische Debatte führen.

Aber wir wissen auch, dass die ethischen Fragen sehr
schwierig und komplex sind. Die Herausbildung eines
ethischen Standpunkts ist immer ein äußerst anstren-
gender Prozess, der ein hohes Maß an Selbstverständi-
gung und Differenzierung erfordert.

Wir haben es mit mehreren konkurrierenden Grund-
werten zu tun, die alle höchsten Verfassungsrang ge-
nießen. Es geht um den Schutz des menschlichen Lebens
in einem frühen Stadium, um den Anspruch Kranker und
Behinderter auf Heilung und um die Frage, in welcher Ge-
sellschaft wir in Zukunft leben wollen.

Ich glaube, gerade diese Frage haben wir noch zu we-
nig beleuchtet. Welche Vorstellungen von Identität legen
wir zugrunde? Und wie sind die emanzipatorischen Wur-
zeln unserer modernen Gesellschaft einzuordnen – was
wird aus den Werten Freiheit und Selbstbestimmung?

In komplexen modernen Gesellschaften wächst die
Verunsicherung und die Sehnsucht nach den einfachen
Antworten. Die einfache Antwort ist jedoch oft un-




Friedrich Merz
16896


(C)



(D)



(A)



(B)


ethisch, da sie sich eben nicht auf die unterschiedlichen
Facetten der moralischen Frage einlässt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will meine Warnung noch etwas genauer fassen. Die
Entwicklung der Gentechnik ist eine Herausforderung, die
eine deutliche ethische Antwort und klare Grenzziehungen
braucht. Ich glaube, dass eine ethische Position und eine
ethische Grenzziehung umso stärker ist, je mehr sie den
verschiedenen Aspekten von Menschenwürde gerecht
wird und insofern eine differenzierte und damit auch mo-
ralisch angemessene Antwort gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft

– das wissen wir, das geht ja auch bei uns so, das müssen
wir eingestehen – ist doch hin- und hergerissen zwischen
verschiedenen moralischen Aspekten, die mit der Gen-
technik verbunden sind. An einem Tag lesen sie von den
Heilungschancen, die sich eröffnen, und sehen die Chan-
cen dieser Technologie. Am nächsten Tag lesen sie vom
Klonen von Menschen und Embryonenverbrauch und
sind zutiefst skeptisch und ablehnend. Seien wir ehrlich:
Ein Stück weit tragen wir diese Ambivalenz doch auch
alle in uns selbst; denn hier konkurrieren nicht etwas Mo-
ralisches und etwas Unmoralisches, sondern hier konkur-
rieren zwei moralische Impulse. Das macht die Sache et-
was schwierig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich bin überzeugt davon, dass nur derjenigen Position
Glaubwürdigkeit zugebilligt wird, der es gelingt, beiden
Impulsen gerecht zu werden und sie in einem Konzept
von Menschenwürde und Schutz des menschlichen Le-
bens zu integrieren.

Meine Kollegin Fischer hat unsere Position, die in dem
Papier „Politik in der Verantwortung“ festgehalten ist
und die ja breite öffentliche Resonanz bekommen hat,
ausführlich dargelegt. Wir haben damit die massiven Ge-
fahren für Menschenwürde, Menschenleben, Selbstbe-
stimmung und Pluralität aufgezeigt. Sie sind für meine
Begriffe und aus unserer Sicht Grund genug, der Gen-
technik, insbesondere auch in den beiden konkreten Pro-
blemkreisen, die hier diskutiert werden, PID und Stamm-
zellenforschung, mit einer kritischen Grundhaltung
gegenüberzutreten. Der Schutz der Embryonen verbietet
eine verbrauchende Forschung an embryonalen Stamm-
zellen wie auch eine Auslese durch PID. Gleichzeitig neh-
men wir die Hoffnung der Kranken und die Sorgen der El-
tern sehr ernst und wollen Gentechnik deshalb dort
zulassen, wo sie den Menschen tatsächlich hilft und sie
nicht gefährdet. Bei der Herstellung von pharmazeuti-
schen Produkten in Diagnostik und Therapie beispiels-
weise eröffnete die gentechnische Forschung viele neue
Möglichkeiten, die wir weiter fördern wollen.

Wir haben damit, meine ich, einen Versuch unternom-
men, Freiheit und ethische Verantwortung zu verbinden,
da wir der festen Überzeugung sind, dass Freiheit ohne

ethische Verantwortung ein Wegbereiter der Unfreiheit
ist. In diesem Sinne wollen wir diese Diskussion weiter
begleiten und die Entscheidung mitgestalten.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417301700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1417301800
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir diskutieren komplizierte
Fragen der Menschenwürde, des menschlichen Lebens
und medizinischer Potenziale in einer offenen Gesell-
schaft. Die offene Gesellschaft hat mit der Aufklärung be-
gonnen. Die drei Fragen von Immanuel Kant „Was kann
ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ sind
die Fragen, die uns bewegen.

Diese Debatte haben schon andere Gesellschaften
– auch solche in unserer europäischen Nachbarschaft –
mit den gleichen Verfassungsbestimmungen, mit den glei-
chen Argumenten über Menschenwürde, mit der gleichen
Zivilisations- und Kulturgeschichte wie wir geführt. Sie
haben die Fragen anders, als es uns von manchen Funda-
mentalisten in der Diskussion empfohlen wird, beantwor-
tet. Wir sollten auf diese Gesellschaften nicht ethisch he-
rabblicken. Auch unsere französischen und britischen
Nachbarn haben keine leichtfertigen Entscheidungen ge-
troffen, auch wenn sie anders aussehen, als es manche
Diskussionsbeiträge hier verlangen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Die Diskussion, die uns in Zonen moralischer Ratlosig-
keit führt, muss frei von Fundamentalismen bleiben. Es
kann weder eine Überdehnung der Freiheit im Namen der
Freiheit noch eine Monopolisierung der Moral im Namen
einer ganz bestimmten Moral geben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Im Übrigen scheint es mir auch wichtig zu sein, darauf
aufmerksam zu machen, dass die Heuristik der Furcht,
wie Hans Jonas sagt, nicht ausschließlicher Ratgeber sein
kann. Sie schwingt zwar immer mit; aber sie darf eine Ge-
sellschaft nicht kopflos machen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es ist nicht so, dass es in Deutschland eine Scienti-

fic Community, also Wissenschaftsorganisationen wie
die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die
Max-Planck-Gesellschaft, und hervorragende Forscher
gibt, die nur drauf und dran sind, die Menschenwürde zu
verletzen, die sich nur in nicht mehr kontrollierbare For-
schungen hineinbegeben und die selbst nicht begriffen ha-
ben, wo die Grenzen von verantwortbarer Forschung lie-
gen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Blick auf
einen einzigen – katastrophalen – Abschnitt der deutschen




Rezzo Schlauch

16897


(C)



(D)



(A)



(B)


Geschichte darf uns das Vertrauen in die deutsche
Forschungslandschaft nicht verbauen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Auch die deutsche Forschung hat einen Anspruch darauf,
ihre Chancen verantwortbar zu suchen.

Eine offene Diskussion, wie wir sie führen wollen, fin-
det natürlich in einem anthropologischen, in einem
menschlichen Kontext statt. Wir führen diese Diskussion
nicht nur über Forschungsfreiheit, die die Verfassung si-
chert, sondern auch über den Sinn von Chancen, die die
Forschung ausloten soll. Ich glaube – das sage ich für die
Freien Demokraten –, dass diejenigen, die sich für die
Präimplantationsdiagnostik und für die Forschung an
Embryonen aussprechen, dafür gute ethische und morali-
sche Gründe in Feld führen können.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir sind nicht der Überzeugung, dass menschliches

Leid vermieden werden könnte, dass es keine Krankhei-
ten mehr geben würde und dass der Hunger in der Welt be-
seitigt werden könnte. Aber wir sind der Überzeugung,
dass es legitim, ethisch und moralisch begründbar ist, in
einem begrenzten, gesetzlich beschränkten Rahmen per
Forschung auszuloten, ob menschliches Leid gelindert
werden kann.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn eine offene Gesellschaft diese Debatte in den von
der Verfassung und von der Zivilisations- bzw. Kulturge-
schichte gebotenen Grenzen führt und sich der Zone mo-
ralischer Ratlosigkeit verantwortbar annähert, dann ist
das ein ganz legitimer, moralisch-ethisch begründeter
Prozess, der davon bestimmt wird, dass wir prüfen wol-
len, ob Menschen geholfen werden kann.

Das mag in vielen Fällen nicht möglich sein. Deshalb
entsteht am Ende vielleicht nur ein bescheidener Beitrag,
geringer als das, was sich viele Forscher heute erhoffen.
Aber für einen einzigen Menschen kann ein solch be-
scheidener Beitrag schon etwas ganz Großartiges sein. Ich
denke an einen Mukoviszidosekranken, von dem der
frühere Bundespräsident Herzog sprach. Er will ihm nicht
erklären, warum ihm nicht geholfen werden kann – auch
ich nicht! Deshalb möchte ich Sie bitten, mit uns zusam-
men in Deutschland nach langer Diskussion eine Mehr-
heit dafür zu finden, die es uns ermöglicht, diesen verant-
wortbaren Versuch zu unternehmen. Er ist vertretbar.


(Beifall bei der F.D.P.)

Argumente sollten den Zusammenhang mit der Le-

benswirklichkeit nicht ganz außer Acht lassen. Wenn man
sagt, menschliches Leben beginne mit der Befruchtung
und das sei schon ein Mensch, dann nimmt man eine
großflächige rechtsethische Bewertung vor. Diese Bewer-
tung habe ich hier gehört und ich habe sie in deutschen
Feuilletons gelesen. Diejenigen, die so vorgehen, müssen
aufpassen, dass sie nicht schon dann in gewaltige geistig-
moralische Konflikte kommen, wenn sie über Verhü-
tungsmittel diskutieren. Wir nehmen in unserer Lebens-
wirklichkeit die Spirale hin, führen aber im weiten Rah-
men ethisch aus, wo das Leben und der Mensch beginnen,

und zerbrechen uns den Kopf über die Präimplantations-
diagnostik.

Neulich schrieb ein kluger Mann einen langen Leser-
brief an eine Zeitung und führte uns die Lebenswirklich-
keit vor Augen. Er schrieb, dass Embryonen, die der Mut-
ter nicht eingepflanzt worden sind, ihr Leben in
Tiefkühlfächern in Kliniken fortsetzen – prägen Sie sich
das Bild ein: ihr Leben in Tiefkühlfächern in Kliniken
fortsetzen –, ohne jede Chance, dieses Gefängnis jemals
verlassen zu können. Dann fragt er, warum diese Dauer-
existenz im Kühlfach, woraus es kein Entrinnen gibt, mit
der Menschenwürde gesunder Embryonen vereinbar ist,
aber schwerlich mit der Menschenwürde schwerbeschä-
digter Embryonen unvereinbar sein soll? Es ist eine zuge-
spitzte Frage. Diese Frage muss aber so zugespitzt wer-
den, weil die Präimplantationsdiagnostik und das, was wir
erforschen können, uns vor solchen Zuspitzungen nicht
bewahrt. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde
wird es immer eine Abwägung geben.

Wir, die Fraktion der Freien Demokraten und ich per-
sönlich, sprechen uns deshalb dafür aus, die Präimplantati-
onsdiagnostik zuzulassen, weil wir nicht verstehen können,
warum angesichts der Lebenswirklichkeit in der Bun-
desrepublik Deutschland die Pränataldiagnostik in einem
fortgeschrittenen Stadium der individuellen menschlichen
Lebensentwicklung erst die mit hoher Tötungsgefahr für
die Leibesfrucht verbundene Konfliktsituation schafft, die
die Präimplantationsdiagnostik verhindern könnte.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir führen überzeugende Argumente ins Feld. Wir ha-
ben in unserer Fraktion eine große Mehrheit gefunden.
Aber niemand von uns denkt daran, einen Fraktionsbe-
schluss zum Maßstab für alle zu machen. Natürlich wird
jede Kollegin und jeder Kollege nach eigenem Gewissen
abstimmen. Das war übrigens auch bei dem Mehrheitsbe-
schluss der Fall. Diese Entscheidung hat sich niemand
leicht gemacht. Ein Teil der Öffentlichkeit hat kritisch
festgestellt, wir hätten zu schnell entschieden. Ich kann
nicht jeden Feuilletonchef in die Fraktion der F.D.P. ein-
laden. Wir diskutieren seit zwei Jahren. Wer unsere Dis-
kussion aufmerksam verfolgt hat, kennt unsere Position.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir haben uns diese Entscheidung vom Frühjahr wahr-

haftig nicht leicht gemacht. Die deutsche Gedanken-
schwermut, die große Metaphysik und dieses tränenreiche
Gesicht zeigen wir nicht. Wir schauen schon mit etwas
Zuversicht auf die Möglichkeiten und die Potenziale, die
unsere Forschungslandschaft bietet.

Ich möchte denen, die anders denken als ich, sagen: Ich
finde es eine Missachtung menschlichen Leids, im Übri-
gen auch eine Missachtung der Wünsche von Paaren, die
ja nicht leichtfertig einen Kinderwunsch hegen – es ist in
Deutschland nicht gerade Mode geworden, Kinder haben
zu wollen; es wäre ja schön, wenn es mehr Kinderwün-
sche gäbe –


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)





Dr. Wolfgang Gerhardt
16898


(C)



(D)



(A)



(B)


und die genetisch vorbelastet sind, wenn man das Tot-
schlagargument anführt, es gebe keinen Rechtsanspruch
auf diese Art medizinischer Hilfe. Beispielsweise verdient
der Kinderwunsch von Paaren, sofern er in einer offenen
Gesellschaft in vertretbarer Weise erfüllt werden kann,
Respekt, wenn diese Paare nicht in der Lage sind, ein ge-
sundes Kind zur Welt zu bringen, wie das in vielen Fami-
lien der Fall ist.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es ist daher falsch, davon zu sprechen, der eine habe die
Moral für sich und der andere gegen sich.

Am Ende werden sich in den Abstimmungen Überzeu-
gungen gegenüberstehen. Entscheidend ist aber, dass wir
die Diskussion mit menschlichem Maß führen und dass
jeder am Ende gemäß seinem Gewissen entscheiden kann.

Ich sage abschließend: Wir wollen die Chancen su-
chen. Wir sind der Überzeugung, dass das Kriterium der
Hilfe, die wir Menschen gegen ihr Leid geben, ein wich-
tiges Argument dafür ist, in Deutschland die Forschung in
diesem Bereich in gewissen Grenzen zuzulassen. Wir hal-
ten das für verantwortbar. Wir vertrauen auch denen in
Deutschland, die zukünftig im Rahmen einer gesetzlichen
Regelung forschen.

Es gehört – das sage ich zum Schluss – in diese Dis-
kussion: Niemand darf glauben, dass wir durch ein Gesetz
verhindern oder hemmen können, dass eine Forscherper-
sönlichkeit Missbrauch betreibt. Weder mit Gesetz noch
ohne Gesetz kann das immer und überall sichergestellt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es führt deshalb nichts daran vorbei, dass wir uns immer
wieder untereinander verständigen und aufmerksam blei-
ben müssen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417301900
Ich erteile das Wort
der Kollegin Pia Maier, PDS-Fraktion.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1417302000
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir alle kennen eineiige Zwillinge.
Sie sehen sich ähnlich, aber sie sind nicht gleich. Dabei
stammen sie aus nur einer befruchteten Eizelle, die sich in
einer Laune der Natur so geteilt hat, dass zwei Organis-
men entstanden, die zunächst genetisch identisch sind.
Dennoch entstehen nie identische Menschen. Der Mensch
ist nicht nur ein natürliches, sondern auch ein soziales We-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Ein Mensch entsteht nach meinem Verständnis nicht

nur durch den biologischen Akt der Zeugung. Die be-
fruchtete Eizelle verfügt über das Potenzial, Mensch zu
werden. Aber ohne die Einnistung der befruchteten Ei-
zelle in die Gebärmutter gibt es keine Menschwerdung.

Oder anders gesagt: Ohne die positive Entscheidung der
Frau wird aus der befruchteten Eizelle kein Mensch. Da-
her wird nach meinem Verständnis die vollständige
Gleichsetzung von Embryonen innerhalb und außerhalb
des Mutterleibes dem Phänomen der Menschwerdung
nicht gerecht, denn diese Sicht negiert die Rolle der Mut-
ter und alle sozialen und psychischen Einflüsse.

Embryonen, die außerhalb des Leibes erzeugt werden,
bergen das Potenzial zu menschlichem Leben und unter-
scheiden sich damit von x-beliebigen Dingen. Sie dürfen
keinesfalls aus egoistischen Motiven hergestellt, auf-
grund von Designwünschen verworfen oder zu Pro-
fitzwecken erzeugt werden. Die Gleichsetzung der be-
fruchteten Eizelle und des werdenden Menschen mit
vollen Schutzrechten steht meiner Meinung nach gegen
das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Diese Gleich-
setzung bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, ein völli-
ges Abtreibungsverbot und ein Verbot der Spirale als Ver-
hütungsmittel. Eine solche Sichtweise lehne ich ab, denn
ich finde: Frauen sollten weiterhin Herr über ihren Körper
bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die aus Embryonen gewinnbaren Zellen bergen offen-

sichtlich Heilungschancen, die anders nicht zu erreichen
sind. Diese gilt es zu erforschen. Hier gilt es abzuwägen,
ob die Interessen der Kranken an Heilung höher
einzuschätzen sind als die Nutzung möglichen menschli-
chen Lebens. Keinesfalls dürfen andere Methoden ver-
nachlässigt werden. Aber hier ist der Gesetzgeber gefragt.
Möglichkeiten, die Menschen helfen könnten, gar nicht
erst zu erforschen, erscheint mir ethisch nicht vertretbar.
Ob der Gefahr des Missbrauchs durch Einzelne ganze
Forschungsansätze zu verbieten, entmündigt uns selbst,
wenn wir uns nicht zutrauen, Kontrolle und Überwachung
leisten zu können.

Meine Damen und Herren, noch ein Gedanke zur Prä-
implantationsdiagnostik. Es ist mir wichtig, darauf hin-
zuweisen, dass hier ein fauler Kompromiss aus der
Abtreibungsdebatte offensichtlich wird. Solange die
Spätabtreibung über den Weg der medizinischen Indika-
tion erlaubt ist, weil ein behindertes Kind geboren werden
würde, ist das Verbot der PID für betroffene Frauen ein
tiefer Widerspruch. Wenn mit einer künstlichen Befruch-
tung ohnehin in die Natur eingegriffen wird, ist es für die
betroffene Frau besser, die befruchteten Eizellen werden
untersucht, bevor sie in ihr zu einem Menschen heran-
wachsen, statt sie später möglicherweise abzutreiben. Die
Methode der PID auf Fälle zu begrenzen, in denen diese
Form der Diagnostik wirklich hilft, das ist unsere Aufgabe
als Parlament.

Zum Schluss möchte ich noch einmal deutlich sagen:
In dieser Debatte hilft es weder, wegen der Befürchtun-
gen, was alles passieren könnte, alles zu verbieten, noch
hilft es, alles, was wissenschaftlich machbar ist, auch
ethisch für vertretbar zu halten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)





Dr. Wolfgang Gerhardt

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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417302100
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Struck, CDU/CSU-Fraktion.


(Lachen bei der CDU/CSU – Margot von Renesse [SPD]: So weit geht der Konsens nun doch nicht! – Michael Glos [CDU/CSU]: Haben Sie Gnade mit uns!)


– Ich korrigiere mich: SPD-Fraktion.


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1417302200
Das ging aber wirklich zu
weit, Herr Präsident.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die öffent-
liche Wahrnehmung vieler Debatten verläuft bei uns in
Deutschland nach einem eigenartigen Prinzip – die jetzige
über die Gentechnik ist übrigens ein Musterbeispiel
dafür –: Solange sich die Debatte im wissenschaftlichen,
forschenden, medizinischen Bereich bewegt, werden die
widerstreitenden Meinungen in den Feuilletons und in
den Wissenschaftsteilen der Medien positiv, als Ringen
um den richtigen Weg beurteilt. Sobald sich diese Suche
aber in den politischen Bereich, in die Parteien verlagert,
wird das Ringen und Suchen in den Schlagzeilen der glei-
chen Medien unversehens in Streit umgemünzt. Das ist
eine grobe und unzulässige Verkürzung.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Denn in diesen politischen Kontroversen spiegelt sich le-
diglich die Breite wider, wie sie exakt auch in der For-
schung und in der Philosophie zu finden ist. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft vertritt eine andere Meinung als
der Deutsche Ärztetag. Die evangelische Kirche setzt an-
dere Akzente als die katholische.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer
anderen Qualität von Fragen zu tun als bei all denen, die
wir in dieser Legislaturperiode beantworten und entschei-
den mussten. Ich will für mich freimütig gestehen: Ich bin
weit davon entfernt, Rat geben zu können. Ich suche Rat,
um mich entscheiden zu können. Und ich räume ein:
Meine Entscheidung fällt mir nicht leichter dadurch, dass
die Forschung im Bereich der Präimplantationsdiagnostik
eher drängt und die deutsche Ärzteschaft in ihrer Mehr-
heit eher mahnt.

Johannes Rau hat Recht, wenn er sagt, dass sich jeder
Einzelne von uns in seiner Entscheidung hinter keiner En-
quête-Kommission des Bundestages, keinem Ethikrat der
Regierung, keiner Empfehlung des Ärztetages oder keiner
Denkschrift der Kirchen verstecken darf. Aber ich glaube
ebenso, jede einzelne dieser Empfehlungen kann jedem
Einzelnen helfen, zu einer Entscheidung zu kommen.
Niemand kann dem Gesetzgeber Entscheidungen abneh-
men. Umso wichtiger ist es, dass er sich gründlich bera-
ten lässt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gehört zur Ungeduld dieser Zeit, dass die Suche
nach Lösungen gern als Zaudern, als Drücken vor Verant-

wortung interpretiert wird. Lösungen müssen da sein, be-
vor die Probleme ausgebreitet und erörtert sind. Aber
nicht das Drängen der Leitartikler darf für uns aus-
schlaggebend sein. Wir müssen vielmehr all die Bürge-
rinnen und Bürger mitnehmen, für die diese Fragen mit
Ängsten und Befürchtungen besetzt sind. Die Medien ha-
ben die Pflicht, zu drängen und die Politik zu Lösungen
zu mahnen. Aber ich muss offen sagen: Der Rigorismus,
mit dem in diesen Fragen mancherorts eine Meinung ver-
treten wird, ist unangemessen und trägt nicht weiter.


(Beifall bei der SPD)

Er hilft nicht bei der Problemlösung, sondern führt eher
zur Verhärtung der Positionen.

Im Gegensatz dazu finde ich es durchaus positiv, wie
viele Fragen die meisten Beiträge der Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses, die diese bislang zu den The-
menkomplexen veröffentlicht haben, enthalten – die sie
auch in dieser Debatte artikuliert haben –, wie sie sich
bemühen, Antworten auf diese schwierigen Fragen zu fin-
den – übrigens nicht nur hier, sondern auch in meiner
Fraktion. Ein Alleinvertretungsanspruch verbietet sich bei
diesen Fragen. Es muss Platz für kontroverse Meinungen
bleiben. Wir haben das Recht, ja die Pflicht zum Zögern,
meine Damen und Herren.

Es gehört kaum etwas dazu, seine Meinung in Talk-
shows auszubreiten. Aber es gehört sehr viel dazu, Mei-
nungen und Mehrheiten gerade in solch schwierigen Fra-
gen, wie sie die Kollegin Margot von Renesse in ihrer
Einleitung so hervorragend skizziert hat, zu organisieren,
Regelungen zu finden, die die Gesellschaft zusammen-
führen, statt sie zu spalten.

Ich lehne es ab, bei meiner Entscheidungsfindung le-
diglich die Interessen der Wissenschaftler zu berücksich-
tigen, die damit drohen: Wenn ihr nicht bald eine positive
Entscheidung über die Forschung an embryonalen
Stammzellen erlaubt, wenden wir uns ab vom Standort
Deutschland. Mir steht es nicht an, diesen Standpunkt zu
verurteilen. Aber im Gegensatz zu diesen Forschern dür-
fen wir nicht nur die Interessen der Handelnden, sondern
müssen auch den Schutz des behandelten Lebens im Auge
behalten. Und umgekehrt: Ich habe Verständnis für alle,
die zur Vorsicht raten und beispielsweise die Präimplanta-
tionsdiagnostik ablehnen.

Aber ich frage auch: Sind wir in der Lage, die Ent-
wicklung bei PID aufzuhalten? Haben wir die Chance, auf
einem globalisierten Forschungsmarkt eine Insel der Res-
triktiven zu bleiben? Oder ist es vielleicht ein Stück dop-
pelter Moral, diese Forschung bei uns zu verbieten und
darauf zu hoffen, dass die Errungenschaften der For-
schung aus dem Ausland zu uns herübergetragen werden?
Oder riskieren wir stillschweigend einen Gentourismus,
wie wir in den 60er- und 70er-Jahren einen Abtrei-
bungstourismus in Kauf genommen haben?

Ich habe mit großem Respekt das Bekenntnis von Alt-
bundespräsident Roman Herzog gelesen, der geschrie-
ben hat – es ist schon vom Kollegen Gerhardt zitiert wor-
den –:

Ich bin nicht bereit, einem muskoviszidosekranken






(C)



(D)



(A)



(B)


Kind, das, den Tod vor Augen, nach Luft ringt, die
ethischen Gründe zu erklären, die die Wissenschaft
daran hindern, seine Rettung möglich zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)

Er beschreibt treffend das Dilemma, vor dem wir stehen,
wenn wir unsere Entscheidung treffen.

Wir brauchen sie nicht heute oder morgen zu fällen.
Wir führen diese Debatte hier ja gerade deshalb, weil wir
darüber eine breite Diskussion in der ganzen Gesellschaft
wollen. Ich bin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder der
Meinung, dass wir uns bei möglichem Handlungsbedarf
nicht unter Druck setzen lassen sollten. Als Erstes wäre
dann zu klären, welche Handlungsräume das Embryo-
nenschutzgesetz erlaubt.

Ich selbst bin in vielen der sich hier stellenden Fragen
überhaupt noch nicht festgelegt. Fest steht dagegen für
mich, dass die hier zu klärenden Fragen keine Fragen von
Fraktions- oder Parteidisziplin sind. Ich werbe dafür, dass
alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus mögliche
zukünftige Entscheidungen allein nach ihrem Gewissen
fällen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Selbstverständlich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417302300
Ich erteile das Wort
Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1417302400
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Menschliches Leben beginnt
mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Das ist
für mich der Fixpunkt in der heutigen Debatte und das ist
für mich in der christlichen Verantwortung vor Gott be-
gründet.

Wenn wir heute – in einer Zeit, in der wir wissen, dass
wir am Anfang von vielen technischen Möglichkeiten ste-
hen – hier eine Debatte führen, dann ist es gut und richtig,
einen solchen Fixpunkt zu haben. Wir müssen aufpassen,
dass wir einen solchen Fixpunkt nicht deshalb verschie-
ben, weil wir gerne zu manchen Entscheidungen kommen
würden, die mit diesem Fixpunkt nicht vereinbar sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ein solcher Fixpunkt verschafft Klarheit. Er ist aber nicht
starr und gibt deshalb auf viele Fragen, die uns gestellt
werden, keine abschließenden Antworten.

Uns sind Fragen von der Ärzteschaft in Bezug auf PID
gestellt worden, uns sind Fragen von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft in Bezug auf die Frage der embryo-
nalen Stammzellenforschung gestellt worden. Wir brau-
chen deshalb neben einem solchen Fixpunkt auch
Maßstäbe für unsere Debatte.

Der erste Maßstab ist: Dürfen wir in einem internatio-
nalen Umfeld national entscheiden? Ich sage – deshalb
gefällt mir der vorschnelle Vergleich mit der Insellösung

nicht –: Wir sind als Abgeordnete in diesem nationalen
Parlament verpflichtet, Entscheidungen zu treffen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


und unsere Entscheidungen müssen unabhängig davon
gefällt werden, was andere – mit Sicherheit mit respekta-
blen Argumenten – entscheiden.

Der zweite Maßstab ist für mich, dass die Würde des
Menschen als Wert absolut ist.

Der dritte Maßstab ist: Wenn es um Güterabwägung
geht – ganz offensichtlich sind Antworten auf viele kon-
krete Fragestellungen nicht ohne Güterabwägung mög-
lich –, dann darf nur menschliches Leben gegen mensch-
liches Leben abgewogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb warne ich auch vor falschen Vergleichen. Ich

habe die Aussage von den ideologischen Scheuklappen,
Herr Bundeskanzler, im Zusammenhang mit dieser De-
batte als ausgesprochen unangemessen empfunden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Der Wirtschaftsstandort Deutschland – bei aller Wichtig-
keit, bei aller Notwendigkeit und bei aller Sehnsucht der
Menschen nach Arbeitsplätzen – wird nicht auf der glei-
chen Ebene behandelt wie die Abwägung der Güter, die
wir in den Fragen der Gentechnik vorzunehmen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Weil diese Güterabwägungen so schwierig sind, müs-
sen wir uns Zeit nehmen; Maria Böhmer hat es bereits ge-
sagt. Gründlichkeit geht hier vor Schnelligkeit. Um un-
sere Entscheidungen treffen zu können, müssen wir sie in
einen vernünftigen Prozess einmünden lassen. Deshalb
halte ich diese Debatte heute für ausgesprochen wichtig.

Nun werden die Fragen konkret. Wie ist es mit der
Präimplantationsdiagnostik? Es gibt kein Recht auf ein
gesundes Kind. Es gibt nicht einmal ein Recht auf ein
Kind. Aber es gibt doch den Wunsch nach einem gesun-
den Kind. Genauso gibt es die Hoffnung auf ein gesundes
Kind. Diese Hoffnung haben wir immer wieder durch me-
dizinische Möglichkeiten zu erfüllen versucht. Dass wir
dies getan haben, ist doch niemals ein Grund dafür gewe-
sen zu sagen: Behinderte bzw. Kranke sind in unserer Ge-
sellschaft nicht willkommen. Ich finde, das müssen wir
ganz deutlich feststellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN )


Natürlich ist die Präimplantationsdiagnostik eine neue
Methode, bei der wir uns fragen müssen: Halten wir den
Dammbruch hin zur Selektion auf? Für mich wiegen die
Bedenken derer, die diese Frage verneinen, außerordent-




Dr. Peter Struck

16901


(C)



(D)



(A)



(B)


lich schwer. Aber vielleicht war schon die Pränataldia-
gnostik ein solcher Dammbruch. Ich bin deshalb sehr
froh, dass wir uns entschieden haben zu sagen: Wir wol-
len die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnos-
tik und das schwierige Problem der Spätabtreibungen in
einem Zusammenhang besprechen, weil sich diese Dinge
nicht voneinander trennen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ich persönlich betone: Für den Fall, dass jemand ein
behindertes Kind hat, dass jemand – wie in Amerika ge-
schehen – ein Kind hat, das dem Tod geweiht ist, und ein
zweites Kind will, weil er die Hoffnung auf ein gesundes
Kind hat und dieses zweite Kind vielleicht dazu beiträgt,
das erste zu retten, fällt es mir schwer, radikal zu sagen:
Nein, in diesem Fall unterstütze ich die Präimplantations-
diagnostik auf keinen Fall.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Sicherlich müssen wir uns eines Tages entscheiden. Aber
bevor wir in dieser Frage keine Entscheidung getroffen
haben, darf es in Deutschland keine PID geben. Auch das
ist klar. Lassen Sie uns dies gut überdenken.

Viel wichtiger ist die Frage der Forschung an embryo-
nalen Stammzellen, weil dort die Dynamik der For-
schung am stärksten ist. Die Deutsche Forschungs-
gemeinschaft hat uns Empfehlungen auf den Tisch gelegt.
Dazu ist heute wenig Konkretes gesagt worden. Herr Bun-
deskanzler, ich bin genauso wie Sie der Meinung: Wir
wollen das Embryonenschutzgesetz nicht ändern. Aber
zur Ehrlichkeit gehört, zu sagen, dass im Rahmen dieses
Embryonenschutzgesetzes das Verwenden von so ge-
nannten nicht mehr gebrauchten Embryonen nicht zuläs-
sig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte das für richtig und deshalb dürfen wir uns an die-
ser Stelle nicht in die Tasche lügen.

Ich gehe weiter und sage: Der Import von pluripoten-
ten Stammzellen, die aus embryonalen Stammzellen ge-
wonnen wurden, ist mit dem Geist des Embryonen-
schutzgesetzes nicht vereinbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese konkrete Möglichkeit ist 1990 nicht erkannt wor-
den; das ist richtig. Aber die Tatsache, dass dies nicht er-
kannt wurde, ist für mich noch lange kein Grund dafür,
über diese Hintertür bzw. diese Gesetzeslücke die For-
schung an embryonalen Stammzellen zu ermöglichen, die
nach der Rechtslage in Deutschland so nicht erlaubt wäre.

Deshalb sage ich: Ich würde mir von dieser Debatte
wünschen, dass wir die Deutsche Forschungsgemein-
schaft bitten, auf den Import von Stammzellen zu ver-
zichten und ein Moratorium einzugehen, bevor wir uns in
diesem Hause darüber geeinigt haben, ob wir die For-
schung an embryonalen Stammzellen wollen oder nicht

und, wenn ja, unter welchen Bedingungen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage dies als Physikerin, als Naturwissenschaftlerin,
in dem vollen Wissen um den Drang, um den Wettbewerb
und die Wünsche der Forscher, vieles zu schaffen. Ich
sage es in der Erwartung, dass uns in Deutschland die For-
schung an adulten Stammzellen ungeahnte Möglichkeiten
brächte, an dieser Stelle wirklich führend in der For-
schung zu sein. Darum sollten wir gemeinsam ringen.

Deshalb hätte ich mir an dieser Stelle, Herr Bundes-
kanzler, zu den ganz konkreten Anliegen der Deutschen
Forschungsgemeinschaft ein klares Wort gewünscht. Die
Wissenschaftler wollen wissen, was wir in diesem Hause
zu dem, was sie uns aufgeschrieben haben, sagen. Ich
wünsche mir ein Moratorium, keine Änderung des Em-
bryonenschutzgesetzes und habe deshalb auch Schwierig-
keiten mit der Forschung an den Embryonen, die angeb-
lich nicht mehr gebraucht werden. Denn was tun wir dann,
wenn die Zahl dieser Embryonen eines Tages nicht mehr
ausreicht und wir weitergehen müssen? Ich möchte keine
verbrauchende Embryonenforschung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417302500
Kollegin Merkel, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Vollmer?


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1417302600
Nein.
Deshalb werden wir weiter debattieren und diskutieren

müssen. Unsere Entscheidungen sollten wir immer im Be-
wusstsein unserer Maßstäbe treffen. Wir sollten sie – das
sage ich für mich – im Bewusstsein unserer Fixpunkte
treffen.

Ich sage auch: An die Christlich Demokratische Union
Deutschlands werden in dieser Debatte vielleicht höhere
Maßstäbe als an andere Parteien gesetzt.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Na, na! – Weitere Zurufe von der SPD)


Ich sage dies im vollen Bewusstsein dessen, was ich lese
und höre.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Was ist das für ein Hochmut!)


An uns werden höhere Maßstäbe als an andere gesetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

Dies macht die Debatte für uns nicht einfacher, weil näm-
lich die Verpflichtung auf das christliche Menschenbild
noch keine konkrete politische Entscheidung beinhaltet.
Aber ich sage auch und besonders in diesem Hause – dies
gestatten Sie mir bitte –,


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Gottlose Gesellen!)

dass uns diese Verantwortung stolz macht, dass wir uns
dieser Verantwortung bewusst sind, dass wir uns ihr stel-
len wollen und dass wir dies in aller Ernsthaftigkeit, selbst




Dr. Angela Merkel
16902


(C)



(D)



(A)



(B)


bei unterschiedlichen Antworten, tun werden.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Detlev von Larcher [SPD]: Welch eine Selbstgerechtigkeit!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1417302700
Ich erteile der Kolle-
gin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417302800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Her-
ren und Damen! Bei dieser zweifellos hochanspruchs-
vollen Menschenrechtsfrage der Moderne bin ich außer-
ordentlich froh, über ein besonderes Privileg zu verfügen,
das wir alle gemeinsam teilen: das weltanschaulich of-
fene, in unserer Verfassung verankerte ganzheitliche Men-
schenbild im Sinne der Aufklärung, das es uns erlaubt, bei
den Grenzziehungen, zu denen wir aufgrund der Ent-
wicklungen in der Bio- und Gentechnologie aufgerufen
sind, die moralischen, ethischen Werte zu wahren.

Die Debatte heute ist so neu nicht. Sie begann, als sich
die Frage stellte: Ist der Mensch schon tot, wenn keine
Hirnfunktionen mehr zu messen sind? Die neuen Thera-
piemöglichkeiten der Biotechnik am Menschen stellen
uns vor die Frage: Müssen wir unser Verständnis vom
Menschen ändern, den Beginn und das Ende des Lebens
neu definieren, um aus der Leiblichkeit eines anderen ein
Hilfekonzept, ein Therapiekonzept für die moderne Me-
dizin zu entwickeln?

Auch wenn die Frage nach dem Ende des Lebens heute
so nicht mehr aufgeworfen wird, so hat sie doch zentrale
Bedeutung bei der Frage, welchen grundrechtlichen
Schutz der Embryo genießt.


(Beifall des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])

Der Embryo ist ins Zentrum der Betrachtung gerückt.

Mit Erstaunen muss ich feststellen, dass nicht mehr
von der Frau die Rede ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])


Wir sprechen von Pränataldiagnostik und tun so, als sei
das eine Therapieform. Wir tun so, als würden Frauen eine
Schwangerschaft auf Probe eingehen, um sich im fünften
oder sechsten Schwangerschaftsmonat über eine Diagnostik
Gewissheit darüber zu verschaffen, ob sie bereit sind,
diese Schwangerschaft bis zum Ende aufrechtzuerhalten.
Es erschreckt mich zutiefst, dass man Frauen ein solches
eugenisches Denken und Handeln unterstellt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS])


Wir müssen den ärztlichen Behandlungsauftrag ins
Zentrum rücken, denn die ärztliche Indikationsstellung ist
es, die die Pränataldiagnostik in der Schwangerschaft erst
ermöglicht, und sie ist zu einem Screening-Verfahren ge-
worden. Ich kenne keinen § 218, der eine eugenische In-
dikation kennt. Es gibt keinen ärztlichen Behand-

lungsauftrag zur Selektion.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Ich verwahre mich dagegen, dass die Fehlentwicklungen
in der Pränataldiagnostik heute zur falschen Argumentati-
onsgrundlage genommen werden, um die Präimplantati-
onsdiagnostik zu etablieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Eine wichtige Aussage möchte ich noch machen.

(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)


Ohne die künstliche Befruchtung gäbe es das Interesse
an der Verwertung des menschlichen Embryos in seinem
frühen Entwicklungsstadium nicht. Erst die Entleibli-
chung, die Entsexualisierung, die Entsinnlichung und das
Herauslösen aus dem Verantwortungskontext der Frucht-
barkeit hat uns diese neuen ethisch-moralischen Fragen
gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Der Embryo in vivo ist in seinen frühen Zuständen in
nichts unterscheidbar von dem Embryo in vitro,


(Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


außer in einem: Er ist in seinem schutzlosesten Zustand in
die Welt gekommen; die Frau trägt ihn nicht. Deshalb ist
die Gesellschaft verpflichtet gewesen und muss es blei-
ben, ihn – weil er ohne die Frau auf der Welt ist – bedin-
gungslos zu schützen, ihn nicht zum biologischen Mate-
rial werden zu lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)


Grundlegend für diese Diskussion, die zu begreifen wir
erst anfangen, möchte ich sagen: Die Menschenrechts-
frage der Moderne ist eine Frauenfrage, wie es noch keine
gab. Lassen Sie uns diese menschenrechtsdogmatische
Herausforderung annehmen und nichts und niemanden in
Dienst setzen, instrumentalisieren oder gar verdinglichen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417302900
Für die F.D.P.-Frak-
tion erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Flach.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1417303000
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Angesichts der knappen Zeit möchte ich
mich auf eines der beiden zentralen Themen beschränken,
und zwar auf die Forschung an embryonalen Stamm-
zellen in Deutschland.




Dr. Angela Merkel

16903


(C)



(D)



(A)



(B)


Roman Herzog ist hier bereits zitiert worden. Aber
seine Aussagen sind so treffend, dass ich ihn noch einmal
heranziehen möchte:

Das Recht erbkranker Menschen, durch weitere For-
schung gerettet zu werden, hat auch den Wert
menschlichen Lebens an seiner Seite.

Genau das ist der Grund der Beschlüsse der F.D.P. Es darf
nicht um ökonomische Gründe gehen – das kann in
diesem Zusammenhang nicht der entscheidende Faktor
sein – nicht um die Befriedigung reiner Neugier der For-
scher und schon gar nicht um unbedarfte oder naive For-
schungsgläubigkeit. Aber es geht um die Chance, schwer
kranken Menschen in diesem Lande in absehbarer Zeit zu
helfen. Deswegen, Frau Merkel, bin ich in dieser Frage
dezidiert gegen ein Moratorium.


(Beifall bei der F.D.P.)

Die Zahl derjenigen, die sich von der Stammzellenfor-

schung Therapiemöglichkeiten erhoffen, ist riesig:
150 000 Menschen in Deutschland leiden an Multipler
Sklerose, 700 000 an Epilepsie, 200 000 an Parkinson und
500 000 an Alzheimer.

Meine Damen und Herren, ich kann es auch ethisch
nicht verantworten, diesen Betroffenen zu erklären: Wir
haben eine – wenn auch kleine – Chance, Hilfe für euch
zu finden, aber wir nutzen sie nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Vor diesem Hintergrund müssen wir lernen, wie die Pro-
grammierung von Stammzellen in bestimmte Gewebety-
pen funktioniert, um eines Tages gezielt Nerven-, Herz-,
Leber- oder Muskelgewebe zu züchten. Ich sage bewusst
„eines Tages“, denn hier handelt es sich eben nicht um
Heilsversprechen, sondern um langfristig angelegte, un-
geheuer komplexe Forschungsvorhaben.

Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir wertvolle
Chancen ignorieren würden, wenn wir uns nur mit einem
Teil der Zellen, den erwachsenen Stammzellen, beschäf-
tigen würden. Wir können und wollen die Möglichkeiten
der embryonalen Stammzellen nicht außen vor lassen.

Meine Damen und Herren, die Diskussion hat sich in
den letzten Wochen von einem weit ausholenden Rund-
umschlag auf einen Kompromissvorschlag der deutschen
Forscher konzentriert: Wie kann sich Deutschland an ei-
ner internationalen Embryonenforschung beteiligen, ohne
dabei gezielt Embryonen für Forschungszwecke herzu-
stellen? Es geht eben nicht um fabrikmäßig hergestellte
Forschungsembryonen, sondern es geht um überzählige
embryonale Zellkörper, die bei der künstlichen Befruch-
tung entstehen und derzeit eingefroren werden.

Wir gehen nach allen Aussagen der Fachmediziner für
künstliche Befruchtung von circa 15 bis 30 derzeit in
Deutschland in Kühltruhen lagernden echt verwaisten
Embryonen aus.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417303100
Frau Kollegin, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1417303200
Nein, ich möchte gern mit mei-
ner Rede fortfahren.

Deren Entwicklung ist unterbrochen, ihr Lebensrecht
eingeschränkt, und zwar faktisch für immer. Das deutsche
Recht erlaubt keine Adoption vor der Geburt, es lässt nur
die Wahl zwischen Einpflanzung in die Mutter und ewi-
gem Eis. Um diese Abwägung handelt es sich, und nicht
um apokalyptische Schreckensbilder. Es geht um die
Frage „Ethik gegen Ethik“.

Natürlich darf dies nur mit ausdrücklicher Einwilli-
gung der Spender nach vorheriger intensiver Beratung in
ganz wenigen, eigens dafür lizenzierten Zentren und mit
völliger Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit ge-
schehen. Das wollen wir. Dafür steht die liberale Partei:
nicht nach Wildwestmanier, sondern streng kontrollierte
Forschung.


(Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.])


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßend zu einem Fazit aus unserer Sicht kommen: Viele der
heute vorgetragenen Ängste vor abschüssigen Entwick-
lungen dürften sich als unbegründet, die meisten echten
Gefahren als hinreichend kontrollierbar erweisen. Geset-
zesänderungen können befristet und dann den Erfahrun-
gen angepasst werden. Wir sollten nach langen Dis-
kussionen die engen Klammern des Embryonenschutzge-
setzes vorsichtig lockern und die in ihnen festgeschrie-
bene Verweigerung der Chancen für Hunderttausende von
Schwerstkranken beenden.

Menschliche Entwicklung ist niemals risikofrei; das
wissen wir alle. Daraus den Schluss einer Blockade jeder
noch so positiven Entwicklung zu ziehen ist aus unserer
Sicht moralisch zumindest ebenso zweifelhaft. Politisch
wie ethisch dürfte es nicht zu den kleinsten Risiken einer
modernen Gesellschaft gehören, keine Risiken mehr ein-
zugehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417303300
Jetzt hat die Kollegin
Angela Marquardt für die PDS-Fraktion das Wort.


Angela Marquardt (PDS):
Rede ID: ID1417303400
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dies ist nicht nur
eine Debatte über die Zukunft, sondern auch eine Debatte,
die die Gegenwart betrifft. Die Verkündung der so ge-
nannten Entschlüsselung des menschlichen Genoms
hatte geradezu etwas Religiöses. Man dachte, die Geneti-
ker hätten auf dem Berg Sinai neue Gesetzestafeln gefun-
den. Jahrelang galt die Entschlüsselung des Genoms als
die große Vision. Doch kaum war das Ziel erreicht, be-
stand schon wieder eine neue: Es wird nicht mehr von
großen Erkenntnissen durch das Genom gesprochen, son-
dern von der nächsten Ebene der Proteine oder der Funk-
tionsanalyse der Gene. Noch sei das Rätsel nicht gelöst,
also müssten wir selbstverständlich weiterforschen. Dann
erst wüssten wir, wie der Mensch wirklich funktioniert.




Ulrike Flach
16904


(C)



(D)



(A)



(B)


Immer wieder wird versichert, dass die Wissenschaft-
ler ganz uneigennützig für den Erkenntnisfortschritt der
Welt forschen. Aber nicht erst seitdem Professor
Rosenthal aus Jena seine aus öffentlichen Mitteln finan-
zierten Erkenntnissen aus der Genomforschung privat
kommerziell verwertet, wissen wir, dass hier auch eine
Art Goldgräberstimmung mit Blick auf einen neuen, lu-
krativen Wirtschaftszweig herrscht.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des Abg. Dr. Axel Berg [SPD])


Seit vielen Jahren wird über pränatale Diagnostik und
ihre Konsequenzen diskutiert. Heute wissen wir, dass es
dabei um die Verhinderung der Geburt behinderter Men-
schen geht. Bei entsprechender Diagnose folgt in nahezu
allen Fällen die Abtreibung. Wer dennoch ein behindertes
Kind bekommt, ist selbst schuld. Ich glaube, dass damit
behinderten Menschen in unserer Gesellschaft jegliche
Solidarität endgültig entzogen wird.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Alte Gentests, bei denen nach einem bestimmten Gen
gesucht wurde, muten fast harmlos an, wenn schon heute
mithilfe von Genchips Millionen Gene, wie in einer Art
Rasterfahndung, auf einmal überprüft werden können.
Natürlich ist der flächendeckende Einsatz dieser Array-
Technologie noch zu teuer. Aber das ist eine Frage der
Zeit.

Eine Masse an Daten wird angehäuft. Deren Aussage-
kraft für das Individuum tendiert gegen Null. Dennoch
kann dies erhebliche Diskriminierungen nach sich ziehen,
wie es das Beispiel der Hämochromatose-Screenings
zeigt. Dieser Modellversuch der Kaufmännischen Kran-
kenkasse in Hannover in Zusammenarbeit mit Humange-
netikern ist ein Einstieg zur Etablierung von Reihengen-
tests. Hier zeigt sich, wie sich die wirtschaftlichen
Interessen von Krankenkassen und die wissenschaftlichen
Interessen der Forscher decken können. Nur bei einem ge-
ringen Teil der Genträger kommt es zum Ausbruch dieser
Eisenspeicherkrankheit, und dies noch in unterschiedli-
cher Schwere und zu einem völlig ungewissen Zeitpunkt.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sehr richtig!)

Was kann dieser Test also aussagen? Wie reagieren die-

jenigen, die auf das Gen positiv getestet wurden, aber
nicht erkranken? Werden sie einer Therapie unterzogen,
die sie nicht brauchen? Sorgen sie sich unnötig, daran zu
erkranken? Schon aus Datenschutzgründen hat die Ver-
braucherschutzzentrale Versicherte davor gewarnt, an die-
sen Tests teilzunehmen. Ich kann diese Position nur aus-
drücklich unterstützen.


(Beifall bei der PDS)

Was geschieht dann mit den anfallenden Ergebnissen

bezüglich anderer so genannter Gendispositionen? Wer-
den Betroffene die Ergebnisse für sich behalten dürfen?
Hinzu kommt die Frage, wo diese Ergebnisse gespeichert
werden. Denkt man daran, dass der Großteil der vorhan-
denen DNA-Banken in Instituten und Firmen ohne Zu-
stimmung der Menschen zusammengestellt wurde, von

denen die DNA stammt, dann darf man bezweifeln, dass
in Zukunft anders verfahren wird. Das Verlangen, Abfra-
gen und Anbieten von Gentests durch Arbeitgeber und
Versicherungen muss strikt verboten werden.


(Beifall bei der PDS)

Die Fraktion der Grünen arbeitet an einem Gentestge-

setz. Wir werden uns sehr gern an dieser Debatte beteili-
gen. Ich kann diesen Schritt nur ausdrücklich begrüßen.
Aber ich glaube, dass ein Verbot von Gentests für Ar-
beitgeber und Versicherungen nicht ausreichend ist. Nur
wenn die Ausweitung genetischer Tests vollständig ge-
stoppt wird, kann man das Eindringen einer genetifizier-
ten Medizin in Arbeitswelt und Versicherungswesen auf
Dauer verhindern. Auf jeden Fall sollte ein Moratorium
für die Integration genetischer Tests in die gesetzliche
Krankenversicherung verhängt werden.

Hier hat die unheilvolle Entwicklung in meinen Augen
ihren Ausgangspunkt, eine Entwicklung, die letztlich
dazu führt, dass der Mensch nicht mehr die Gesellschaft
verbessert und lebenswerter macht, sondern dass sich die
Menschen an bestehende Umstände anzupassen haben.
Wer genetisch nicht in diese Leistungsgesellschaft passt,
ist unerwünscht. Der Mensch wird dann nicht mehr nur
eine Ware sein, sondern auch ein Produkt. Spätestens dies
wird das Ende der Politik sein.


(Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417303500
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von der SPD-Fraktion.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1417303600
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben erhebli-
chen Diskussionsbedarf; das wurde heute vermehrt fest-
gestellt. Diese Diskussion findet auch statt. Sie fand bis-
her überwiegend in den Medien statt. Der Deutsche
Bundestag hat sich aber vorbereitet und die Enquête-
Kommission zu Recht und Ethik der modernen Medizin
gebildet, um sich beraten zu lassen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Nach schweren Kämpfen!)


Die Bundesregierung lässt sich ebenfalls beraten – das
ist gut so –, denn sie trägt sehr viel Verantwortung. Sie
muss Entscheidungen über die Vergabe von Forschungs-
geldern fällen. Sie muss die Wirtschaftsförderung richtig
gestalten und richtungsweisend sein. Sie muss zum Bei-
spiel auch das Patentrecht gemeinsam mit dem Deutschen
Bundestag umsetzen. Das heißt, wir stehen in gemeinsa-
mer Verantwortung. Wir müssen die richtigen Entschei-
dungen treffen und brauchen dafür Rat.

Der Bundestag hat sein Instrument. Der Bundeskanz-
ler hat bei Hofe – ich darf das so sagen, lieber Gerhard –
sein eigenes Instrument.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wollen wir hier jetzt nicht kommentieren!)


Ich sage als Abgeordneter sehr selbstbewusst: Die Bun-
desregierung muss sich beim Regieren beraten lassen. Der




Angela Marquardt

16905


(C)



(D)



(A)



(B)


Bundestag aber macht die Gesetze. Das soll auch so blei-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

[CDU/CSU]: Das ist wahr! Das können wir be-
stätigen!)

Wir müssen feststellen: Wo gibt es dringenden Ent-
scheidungsbedarf? Welche Probleme stehen an? Wenn
wir uns das in der Enquete-Kommission mit einem länge-
ren Zeithorizont anschauen, dann sehen wir sehr vieles,
was noch auf uns zukommt. Die zwei oder drei Themen,
die heute immer wieder angesprochen werden, sind nur
ein kleiner Bruchteil dessen, was sich uns in den nächsten
zehn Jahren wahrscheinlich als Problem stellen wird.

Ich will ganz kurz auf die Kernthemen eingehen. Im
Zusammenhang mit der PID hat mich besonders animiert,
was Herr Gerhardt gesagt hat. Die Präimplantations-
diagnostik, die im Rahmen der In-vitro-Fertilisation, der
künstlichen Befruchtung, im Ausland, soweit sie erlaubt
ist, angewandt wird, zu befürworten und gleichzeitig zu
sagen, wir bräuchten das auch, um die Forschung nicht zu
behindern, macht mich allerdings stutzig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei der von den Gynäkologen und Reproduktionsme-
dizinern genutzten Technik braucht man sechs bis acht
Embryonen. Im Gegensatz dazu braucht man bei dem bis-
her in Deutschland genutzten Verfahren zwei bis drei Em-
bryonen. Man braucht also mehr Embryonen, um die rich-
tigen aussuchen zu können. Wenn die Tatsache, dass es
dadurch mehr überzählige Embryonen gibt, als Argument
benutzt würde, die PID einzuführen, wären wir auf dem
Holzweg. Das Problem muss klar angesprochen werden.
So etwas geht in Deutschland nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der PDS)


Wir dürfen nicht so tun, als seien wir die ersten, die
darüber nachdenken. In den Vereinigten Staaten hat die
Regierung gesagt: Wir beschränken uns auf die For-
schungsförderung und ansonsten kann in der Reproduk-
tionsmedizin gemacht werden, was der Markt fordert,
das heißt, was die Eltern als Kunden wollen. – In den
USA gibt es Leihmütter, Eispenderinnen und Samen-
spender – das ist alles im Internet abrufbar –; man kann
alles, wie in einem Katalog, nach Rasse oder Intelli-
genzgrad aussuchen. Als wohlhabendes Ehepaar in den
USA muss man sich mit den Mühen einer Schwanger-
schaft gar nicht mehr abgeben. Man kann die Eizelle
kaufen, man kann die Samenzelle kaufen, man kann die
Leihmutter kaufen und kann sich das Kind machen
lassen, wenn man genug Geld hat. Das hat der Markt
ermöglicht. Eine solche Entwicklung wollen wir in
Deutschland nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der PDS)


Wir sollen die PID als selektive Diagnostik Reproduk-
tionszentren an die Hand geben, die schon jetzt, zum Bei-
spiel für die Pränataldiagnostik, die vorgeburtliche Dia-
gnostik, Verantwortung haben. Hier wird Missbrauch be-
trieben; wir haben das heute wiederholt gehört. Mit einer
fein auflösenden Diagnostik kann man Behinderungen
leicht erkennen und so werden Kinder abgetrieben, weil
man meint, sie seien der Mutter nicht zumutbar.

Ich habe in einer Diskussion, an der auch Kollegen die-
ses Hauses teilgenommen haben, erlebt, dass ein Bonner
Gynäkologe von Hebammen gefragt wurde: Weshalb ha-
ben Sie in Ihrem Hause wegen einer Lippenkiefergau-
menspalte der Mutter freigestellt, ihr Kind abzutreiben?
Er hat gesagt, das Kind mit der Lippenkiefergaumenspalte
wäre der Mutter nicht zumutbar gewesen, sie hätte das
nicht ausgehalten. Neben ihm am Tisch saß ein sehr
berühmter und sehr guter Pädiater, einer der besten deut-
schen Kinderärzte; man sah ihm an, dass er als Kind an ei-
ner solchen Lippenkiefergaumenspalte operiert worden
war. Da wurde für mich sehr deutlich, in welchem Maße
dieses Thema auch mit Menschenwürde zu tun hat und
worüber wir hier diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU, der F.D.P. und der PDS)


Bei dem zweiten Thema, der Nutzung embryonaler
Stammzellen, geht es darum, dass am fünften Tag nach
der Befruchtung aus der Blastozyste, dem Keimling, Zel-
len entnommen und kultiviert werden; wir alle haben da-
rüber gelesen. Diese Zellen sind beliebig reproduzierbar
und halten sich lange; sie werden standardisiert und im
Labor wird eine Zelllinie mit bestimmten Eigenschaften
herausgearbeitet, mit denen dann laboriert wird. Diese
embryonalen Stammzellen sind als Laborreagenzien
weltweit patentiert. Man muss also Lizenzgebühren be-
zahlen und es gibt Knebelverträge. Das weiß auch die
Deutsche Forschungsgemeinschaft; das heißt, wenn sie
solche Zellen kauft, muss sie zum Teil die Rechte an den
von ihren Instituten erarbeiteten Ergebnissen abtreten.
Aufgrund dieser Tatsache hat sich dieses Verfahren bisher
nicht gelohnt.

Jetzt aber gibt es auf dem Markt günstigere embryonale
Stammzellen aus Australien oder Israel und der Erwerb
dieser Zellen ist nicht mit Knebelverträgen verbunden.
Ich möchte, dass wir uns darum kümmern, dass bei der
Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht deshalb plötz-
lich eine Wende eingetreten ist, weil die Zellen billiger ge-
worden sind.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Wir haben uns in der SPD-Fraktion schon lange sehr
intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wir haben
bei der Anhörung in der Fraktion nicht nur gehört, dass
diesseits des Rubikon noch viel Platz ist, sondern auch,
dass unendlich viele Fragen noch nicht beantwortet sind.
Es wird mit embryonalen Mäusezellen gearbeitet. Dort
gibt es verschiedene Zelllinien, die man erst einmal mit-
einander vergleichen muss, um zu prüfen, ob sie über-
haupt reproduzierbar sind. An Primatenstammzellen ist




Dr. Wolfgang Wodarg
16906


(C)



(D)



(A)



(B)


kaum geforscht worden. Auf dem Gebiet der adulten
Stammzellen, die man reprogrammieren möchte, sodass
sie vielerlei Verwendung finden können, gibt es noch sehr
viel zu erforschen. Dies ist völlig unproblematisch, weil
man denjenigen, der die Zelle spendet, fragen kann, ob er
mit der Zelle das machen lassen will, was von der For-
schung geplant ist. Bei den Regelungen zur adulten
Stammzelle gibt es einen breiten Konsens. Einen Embryo
kann man dagegen nicht fragen; diesen nutzt man einfach.
Wir haben es hier also mit einer anderen Situation zu tun.
Deshalb geht es hier um die Menschenwürde.


(Beifall der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Von daher freue ich mich, dass die Bundesregierung
ganz klar gesagt hat, dass adulte Stammzellen erforscht
werden sollen. Wenn dies richtig durchgeführt werde,
sehe die Bundesregierung darin eine nachhaltige Ent-
wicklung in der Biotechnologie. Wir haben die Nachhal-
tigkeit in der Biotechnologie bisher zu wenig diskutiert;
dies ist in der Energiewirtschaft und in vielen anderen Be-
reichen ganz anders. In der Biotechnologie hat die Nach-
haltigkeit etwas damit zu tun, wie sich das, was geplant
ist, auf die Regeln auswirkt, nach denen die Menschen zu-
sammenleben, also auf die Solidargemeinschaften und
das Wertgefüge.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir in der Biotechnologie Nachhaltigkeit errei-

chen und eine Akzeptanz bei denjenigen, die später die
Medikamente kaufen, erzielen wollen, dann müssen wir
uns viel Mühe geben und versuchen, auch im internatio-
nalen Wettbewerb – so, wie wir es in der Energiewirt-
schaft machen – das zu tun, was den geringsten Schaden
anrichtet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/ CSU)


Es würde mich freuen, wenn die adulten Stammzellen
weiterhin in den Vordergrund gestellt würden. Es ist nicht
nötig, den Engländern, die das therapeutische Klonen er-
laubt haben, in der falschen Richtung nachzulaufen. Das
brauchen wir nicht. Wir haben in diesem Bereich sehr viel
zu tun und können auch in Deutschland noch sehr viele
Patente erringen, die weltweit vermarktet werden können.
Bei den von Ihnen genannten Heilsversprechungen han-
delt es sich ja nicht um konkrete Forschungsprojekte, son-
dern um die Grundlagenforschung. Bei Ihrer Aussage,
man könne für Alzheimer-Kranke sowie für Personen mit
speziellen Krankheiten etwas tun, handelt es sich um eine
reine Akzeptanzbeschaffung mit dem Versuch einer
Grenzbrechung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man tut den Menschen, denen man so etwas erzählt, Un-
recht und weckt in ihnen falsche Hoffnungen. Dies dürfen
wir nicht machen.

Margot von Renesse hat in ihrer Eingangsrede gesagt,
die Wissenschaft müsse Tabus brechen, sonst komme man
nicht weiter. Sie hat Freud und Darwin genannt. Sie hat

Recht, wir müssen Tabus brechen. Es sind aber in
Deutschland bereits Tabus gebrochen worden, aus denen
sich ganz unselige und katastrophale Entwicklungen er-
gaben. Einige Menschen wurden als lebenswert, andere
als nicht lebenswert erachtet. Bei den damals getroffenen
Entscheidungen handelte es sich auch um Tabubrüche.
Man kann es sich nicht so einfach machen, indem man
sagt, man müsse auch einmal Tabus brechen. Wir müssen
– das tun wir auch bereits – intensiv darüber diskutieren,
wie die Wissenschaft im Auge behalten werden kann,
welcher Spielraum ihr gegeben und an welcher Stelle
Stopp gesagt werden soll. Die Freiheit der Wissenschaft
ist, wie es hier auch schon angedeutet wurde, durch die
Menschenwürde begrenzt.

Frau Präsidentin, zum Abschluss möchte ich ein kurzes
Märchen vorlesen, denn ich finde, dieses passt so gut zum
Thema: Ein Bauer haderte mit Gott, weil sein Getreide
verhagelt war und die Sonne sein Gras hatte verdorren las-
sen. Da wandte sich Gott an ihn und bot ihm an, er – der
Bauer – möge doch im nächsten Jahr das Wetter selbst ge-
stalten. Der Bauer war dankbar und im nächsten Jahr ließ
er es regnen und die Sonne scheinen, worauf seine Äcker
prächtig gediehen. Als er jedoch das hoch gewachsene
Korn geerntet hatte, stellte er fest, dass die Ähren leer und
ohne Früchte waren. Erneut klagte er zu Gott. Der schalt
ihn und eröffnete dem Bauern, dass er bei seinem Versuch,
die Naturkräfte zu gestalten, leider den Wind vergessen
habe; denn der Wind sorgt dafür, dass die Befruchtung
stattfindet und sich Körner und Früchte im Getreide be-
finden.

Der Bauer konnte das schnell merken. Die Latenzzeit,
in der er seinen Fehler bemerkt hat, betrug eine Saison.
Das, was wir hier machen, wirkt sich aber erst in 20,
30 Jahren aus. Wir merken vielleicht erst dann, ob aus den
Embryonen, die nach PID aussortiert worden sind, ge-
sunde Kinder hätten aufwachsen können. Dann ist das
aber nicht wieder gutzumachen. Das heißt, wir können auf
diesem Gebiet nicht korrigierbare Fehler begehen. Das
dürfen wir auf keinen Fall tun. Von daher denke ich, dass
wir aufpassen müssen, weil die Gefahr, etwas falsch zu
machen, an etwas nicht zu denken, sehr groß ist.

Wenn wir uns die Vielzahl und den Umfang der gene-
tischen Informationen, die Vieldeutigkeit von Genen, die
wir erst erahnen – wir kennen erst Silben des Genoms, die
wahrscheinlich in vielen Sprachen unterschiedliche
Bedeutung haben –, vor Augen führen, liegt die Vermu-
tung nahe, dass die Sprache des Genoms sogar über Iro-
nie, über Doppeldeutigkeit verfügt. Insofern denke ich,
dass wir hier große Fehler machen können.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417303700
Herr Kollege, das
gehört aber jetzt nicht mehr zum Thema Märchen.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1417303800
Das war kein Mär-
chen, Frau Präsidentin. Das war zum Schluss noch einmal
ein Rückgriff auf die Wirklichkeit.

Ich freue mich auf die Debatte. Wir als Abgeordnete
haben uns zu organisieren, weil es die Fraktionen nicht
machen. Einige Abgeordnete haben heute angefangen und




Dr. Wolfgang Wodarg

16907


(C)



(D)



(A)



(B)


das Bündnis Menschenwürde wieder ins Leben gerufen.
Ich bin sicher, dass es verschiedene Initiativen aus diesem
Kreise geben wird. Wir werden uns in einer völlig unge-
wohnten Weise neu strukturieren, um diese Themen in-
tensiv zu debattieren. Dafür brauchen wir Zeit und ge-
genseitiges Verständnis.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417303900
Das Wort hat nun die
Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/CSU-Fraktion.


Maria Eichhorn (CSU):
Rede ID: ID1417304000
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der rasante biomedizinische
Fortschritt stellt uns vor völlig neue Herausforderungen.
Faszinierende Perspektiven mit weit reichenden Auswir-
kungen eröffnen sich Wissenschaft und Forschung. Aber
darf der Mensch alles, was machbar ist? Weder euphori-
sche Überschätzung noch totale Ablehnung der Gentech-
nik sind richtig. Vielmehr geht es darum, Chancen und Ri-
siken des biotechnologischen Fortschritts gegeneinander
abzuwägen. Dabei stellen sich schwerwiegende Fragen,
die an die Grundwerte unserer Gesellschaft rühren.

Meine Damen und Herren, die Menschenwürde steht
nach Art. 1 des Grundgesetzes nicht zur Disposition. Da-
her kommt dem menschlichen Leben in allen Lebenspha-
sen ein absoluter Schutz zu. Die Schlüsselfrage lautet:
Wann beginnt menschliches Leben?

Für mich ist klar: Menschliches Leben beginnt mit der
Zeugung. Von diesem Augenblick an entwickelt sich ein
eigenständiger Mensch mit allen Anlagen und Fähigkei-
ten. Damit beginnt dieser eine unverwechselbare Mensch.
Nach meiner vollen Überzeugung muss das Leben bereits
von diesem Anfang an geschützt werden. Jede andere Be-
stimmung des Zeitpunktes, ab dem ein voller Lebens-
schutz gewährt werden muss, wäre willkürlich.

Das C in unserem Namen steht für den Schutz von An-
fang an, weil wir Anfang und Ende des Lebens aus dem
christlichen Glauben heraus definieren. Der Staat ist zum
Schutz und zur Förderung allen menschlichen Lebens
verpflichtet, und zwar vom frühesten Beginn bis zu sei-
nem Ende. Vor diesem Hintergrund muss die Politik die
Rahmenbedingungen für die Entwicklung in der For-
schung und deren Anwendung setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie muss dabei die Hoffnung auf künftige Heil- und Hilfs-
möglichkeiten ebenso bedenken wie die möglichen Fol-
gen einer vorschnellen Verschiebung ethischer Grenzen.
Es geht um eine ethisch verantwortbare Nutzung der Gen-
technologie. Für uns, die CSU, ist das christliche Men-
schenbild der Maßstab dafür. Die Würde und der Schutz
des Menschen stehen höher als das Forschungs- und Wirt-
schaftsinteresse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es wäre fatal, wenn durch vorschnelle Entscheidungen
einer Entwicklung, die heute am Anfang steht und noch
keinesfalls eingeschätzt werden kann, Tür und Tor geöff-
net werden würden.

Durch den Vorschlag der Deutschen Forschungsge-
meinschaft, Embryonen, die für eine Einpflanzung nicht
mehr infrage kommen, für die Forschung zur Verfügung
zu stellen, würde nach meiner Überzeugung die Begehr-
lichkeit zur Herstellung zusätzlicher Embryos im Rea-
genzglas geweckt; denn nach dem Verbrauch so genann-
ter überzähliger Embryonen wird man entgegen der
Rechtslage ihre Herstellung für die Forschung nicht mehr
aufhalten können.


(Jörg Tauss [SPD]: Doch!)

Die Unverfügbarkeit des Lebens lässt nicht zu, dass Ei-
zellen zum Zwecke der Forschung befruchtet werden.
Zwar könnte durch die Forschung an embryonalen
Stammzellen Menschenleben gerettet werden, jedoch nur
um den Preis, dass anderes Leben vernichtet wird. Es steht
Leben gegen Leben. Wenn Leben zu Forschungszwecken
willkürlich geschaffen werden kann, wird die Grenze des
Lebens beliebig. Es kann und darf nicht gegeneinander
abgewogen werden.

Hinzu kommt, dass selbst in der Wissenschaft die Not-
wendigkeit des Einsatzes embryonaler Stammzellen um-
stritten ist. In Deutschland ist erfreulicherweise bei der
Forschung an adulten Stammzellen oder an Stammzellen
aus Nabelschnurblut ein hohes Niveau zu verzeichnen.
Daher ist für mich bei der Abwägung des Lebensschutzes
klar: Wir müssen diese Forschung verstärken.

Aus der staatlichen Pflicht, menschliches Leben zu
schützen, folgt auch die Aufgabe, die Praxis der Präna-
taldiagnostik einer kritischen Überprüfung zu unterzie-
hen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Testung immer
mehr zu einem Screening-Verfahren für Föten entwickelt.
Nicht zuletzt aufgrund des so genannten Oldenburger Ur-
teils raten viele Ärzte auch Schwangeren unter 35 Jahren
zur Pränataldiagnostik. Damit wird diese zu einer Maß-
nahme der Qualitätssicherung, die mit der Würde des
Menschen nicht mehr vereinbar ist. Auch der ungeborene
Mensch hat einen Anspruch auf menschliche Würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Als wir 1995 bei der Reform des Abtreibungsrechts die
embryopathische Indikation abschafften, hat die Frage
der Pränataldiagnostik eine wichtige Rolle gespielt. Die
Entwicklung zeigt jedoch, dass entgegen der damaligen
Annahme dieses Verfahren heute bei einer großen Zahl
von Schwangeren angewendet und so in vielen Fällen lei-
der ein Automatismus hin zur Spätabtreibung in Gang ge-
setzt wird. Es droht die Gefahr, dass auch die Methode der
Präimplantationsdiagnostik nicht auf eine eng be-
grenzte Anwendung beschränkt werden kann, wie die Er-
fahrung in den USA zeigt. Der Fortschritt in der Wissen-
schaft darf nicht zu einer gesellschaftlichen Entwicklung
hin zu einer Unterscheidung zwischen lebenswertem und
nicht lebenswertem Leben führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der PDS)





Dr. Wolfgang Wodarg
16908


(C)



(D)



(A)



(B)


Es stellt sich die Frage: Was ist eigentlich nicht le-
benswertes Leben? Wer kann entscheiden, ob zum Bei-
spiel ein Mensch mit Downsyndrom sein Leben als le-
benswert oder als lebensunwert empfindet? Wer kann sich
anmaßen, eine solche Entscheidung zu treffen? Der Hin-
weis, dass die Präimplantationsdiagnostik deswegen er-
laubt sein müsse, weil es die Pränataldiagnostik gebe, ist
für mich kein Argument. Bei der Pränataldiagnostik wird
an dem im Mutterleib heranwachsenden Embryo festge-
stellt, ob er mit einer Krankheit oder Behinderung behaf-
tet ist. Der Gesetzgeber hat klar festgelegt, dass eine Be-
hinderung kein Grund für eine Abtreibung sein kann. Es
geht um die individuelle Abwägung des Lebensrechtes
der Mutter und des Kindes. Das steht im Vordergrund.

Als Gesetzgeber muss unser Ansatzpunkt sein, Eltern
schon vor der Anwendung der Pränataldiagnostik darauf
hinzuweisen, in welche Konflikte diese sie bringen kann,
und sie nicht als selbstverständlich anzubieten. Bei der
Präimplantationsdiagnostik wird bereits der im Reagenz-
glas erzeugte Embryo auf seine erbliche Belastung hin
überprüft. Nur wenn der Embryo als erblich unbelastet ge-
testet wird, wird er in die Gebärmutter der Frau eingesetzt.
Im anderen Fall wird er vernichtet. Die PID ist damit von
vornherein auf Selektion von menschlichem Leben aus-
gerichtet. Dies ist aus ethischer und christlicher Sicht nach
meiner Überzeugung nicht akzeptabel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Es wird die Qualität von befruchteten Eizellen geprüft
und nicht mehr Leben gegen Leben abgewogen. Genau
das widerspricht unserem christlichen Menschenbild.

Ich verkenne nicht, dass mit dieser Methode Menschen
geholfen werden kann. Aber heute bereits müssen sich El-
tern von behinderten Kindern sagen lassen: Hat denn das
sein müssen? Mit der Zulassung der PID würde der Druck
auf Eltern mit behinderten Kindern bzw. mit erblichen
Krankheiten noch größer werden. Ein behindertes Kind
als Schaden für die Gesellschaft anzusehen ist inakzepta-
bel. Es ist eine Diskriminierung aller Menschen mit Be-
hinderungen.

Meine Damen und Herren, Sie alle haben den Brief des
Deutschen Behindertenrates vom 29. Mai 2001 erhalten.
Darin steht:

Menschen mit Behinderungen sind erschrocken, mit
welcher Selbstverständlichkeit für die Einführung ei-
ner Präimplantationsdiagnostik als Selektionsinstru-
ment argumentiert wird.

Gerade als Christen diskutieren wir auf einem sicheren
Fundament: der Verantwortung vor Gott und der Schöp-
fung. Dieses Fundament dürfen wir nicht verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417304100
Für Bündnis 90/Die
Grünen erteile ich das Wort der Kollegin Ulrike Höfken.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417304200
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und

Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir hier im Parlament diese
umfassende Diskussion über die Gentechnik führen; denn
die Nutzung der Gentechnik kann unsere Gesellschaft
fundamental verändern. Das gilt für den Bereich der Me-
dizin; das gilt aber genauso für die Anwendung gentech-
nischer Verfahren in der Lebensmittelerzeugung, aber
auch beim Tier.

Ich bin Agraringenieurin. Im Rahmen meiner berufli-
chen Praxis und Forschung habe ich Lebewesen selek-
tiert, Lebewesen optimiert. In Kenntnis der Machbarkeit,
teilweise aber auch der Nichtmachbarkeit dieser Technik,
möchte ich auf die Implikationen hinweisen, die die Über-
tragung eines solchen Berufsbildes auf die Humanmedi-
zin hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt Art. 3 des Grundgesetzes, der ein Diskriminie-

rungsverbot enthält, das heißt ein Verbot von Selektion.
Es wird unmöglich sein, ohne dieses Fundament unserer
Gesellschaft zu verändern, die PID anzuwenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich weise hier auch auf das Embryonenschutzgesetz hin.
Nicht zulässig ist übrigens auch die Verbindung der Dis-
kussion über § 218, der Abtreibungsdiskussion, mit der
Diskussion um die PID. Es ist einfach so, dass sich dieser
Paragraph und die Rechtsprechung dazu nur auf einen
Konflikt in Bezug auf das Kind im Mutterleib beziehen,
auf einen Mutter-Kind-Konflikt. Das können wir nicht
einfach übertragen. Das gilt übrigens auch für die An-
wendung der Spirale.

Ich möchte an alle appellieren, die nötige Trennschärfe
nicht aufzugeben. Die DFG, so habe ich in der Diskussion
in der Grünen-Fraktion gehört, möchte, unter Bezug-
nahme auf Professor Wolfrum, zwischen überzähligen
Embryonen und der Herstellung von Embryonen unter-
scheiden können, sagt aber gleichzeitig: Das Leben be-
ginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle
und der Embryo im Reagenzglas darf nicht schutzlos
sein. – Wie, bitte schön, will man trennen zwischen einem
hergestellten Embryo und einem, der überzählig ist? Es
gibt in Deutschland 15 überzählige Embryonen, die sehr
wohl als „Findelembryo“ in eine Frau eingepflanzt wer-
den könnten, die ein Kind möchte. Ich möchte also appel-
lieren, diese in der Diskussion manchmal fehlende Trenn-
schärfe zu beachten.

Es ist unser Anliegen – ich glaube, dieses Anliegen
wird geteilt –, dass Gentechnik nicht schleichend einge-
führt werden darf, wie es große Chemiekonzerne im Be-
reich der Lebensmittelerzeugung versucht haben. Ich
nenne gentechnisch verändertes Soja. Ein solcher Versuch
wird Widerstand hervorrufen und scheitern. Die Regale
sind, was die gentechnisch veränderten Lebensmittel an-
geht, leer geblieben. Wir Grünen wollen Motor einer Po-
litik des breiten und offenen gesellschaftlichen Diskurses
sein und wollen dafür sorgen, dass der Entscheidungspro-
zess demokratisch institutionalisiert wird.

Grundlage unserer Politik ist es ebenfalls, Chancen re-
alistisch zu beurteilen, bestehende Bedenken ernst zu neh-
men und die verantwortbaren Innovationspotenziale
der Gentechnik zu definieren und auch zu fördern. Mich




Maria Eichhorn

16909


(C)



(D)



(A)



(B)


erschreckt der Hinweis unseres früheren Bundespräsiden-
ten auf Mukoviszidosekranke ein bisschen. Dazu muss
man sagen: Es gibt keinen gentechnischen Ansatz zur
Heilung dieser Krankheit. Der gentechnische Ansatz,
PID, wäre, einen solchen Embryo zu verwerfen, ihn also
überhaupt nicht auf die Welt kommen zu lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein solches Verständnis von Heilung lehne ich ab. Ich bin
der Überzeugung, dass auch Herr Herzog es nicht will.

Gleichzeitig muss man im Hinblick auf die Mukovis-
zidose sagen: Es waren doch die Methoden der ganz
normalen Medizin, die es ermöglicht haben, dass jedes
Jahr enorme Fortschritte zu erzielen sind und dass
Mukoviszidosekranke inzwischen über 60 Jahre alt wer-
den können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was Arbeitsplätze, Freiheit und Markt angeht: Es wird
sich doch ein Markt zur Lösung dieses Problems bilden.
Das bedeutet auch, die vorhandenen Möglichkeiten zu
nutzen. In diesem Fall sind das ganz klar die nicht
gentechnischen Methoden.

Es gilt, ethische und grundrechtliche Grenzen zu zie-
hen. Das heißt aber nicht, dass nicht mehr geforscht wer-
den darf; vielmehr gilt – ganz im Gegenteil – das, was ich
eben gesagt habe: Bestimmte Anreize schaffen einen be-
stimmten Markt.

Das Genom des Menschen und das des Schimpansen
stimmen zu etwa 99 Prozent überein. Rein technisch ist
eine Kombination aus Embryozellen von Affen und von
Menschen – eine Chimäre; halb Mensch, halb Tier – wohl
herzustellen. Zwar bezeichnen das EPÜ, das Europäische
Patentübereinkommen, und auch die neue Richtlinie des
Europäischen Parlaments so etwas als sittenwidrig; aber
ich muss Sie einmal fragen: Wo sind denn eigentlich die
Grenzen? Wie viel Schwein darf ein Mensch sein? Wie
viel Mensch darf ein Schwein sein? Längst stehen huma-
nisierte Schweine in Englands und Deutschlands For-
schungsställen. Stehen wir an der Grenze zum modernen
Kannibalismus?

Wir müssen uns auch den tierethischen Fragen stel-
len. Dürfen wir Tiere ohne weiteres klonen? Dürfen wir
Tierarten vermischen? Ich erinnere zum Beispiel an die
Herstellung der „Schiege“, ein Wesen aus Schaf und
Ziege, und an Xenotransplantationen. Nicht vergessen
sollte man die Übertragungen bisher unbekannter Krank-
heiten, was durchaus sehr ernst zu nehmen ist. Man muss
sich fragen, ob Tiere Ersatzteillager bei der Behandlung
unheilbarer Krankheiten sein dürfen. Unabhängig von
den ungeklärten gesundheitlichen Fragen und Risiken
müssen auch beim Klonen und bei der Xenotransplanta-
tion die Anforderungen des Tierschutzes beachtet werden.
Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung wäre
eine wichtige Hilfe bei der Abwägung der verschiedenen
Gesichtspunkte.

Ich möchte zum Abschluss etwas zur Anwendung der
Biotechnologie im Lebensmittelbereich – Stichwort

„grüne Gentechnik“ – sagen. Was die Kosten-Nutzen-
Relation angeht, müssen die gentechnisch veränderten
Pflanzen eher negativ beurteilt werden. Sie werden nicht
wettbewerbsfähig sein. Insektizidresistente Pflanzen wer-
den im Prinzip nichts anderes als ein selektives Pestizid
mit all seinen Möglichkeiten, aber auch mit all seinen Pro-
blemen sein. Im Übrigen werden sie mit hohen Kosten be-
lastet sein. Die Arbeitsplätze, die in diesem Bereich mit-
hilfe der Gentechnik entstehen können, sind vor diesem
Hintergrund realistisch zu betrachten. Es gilt abzuwägen:
Gentechnik ist einerseits eine Rationalisierungstechnik,
sie ist andererseits ein Problem für den Mittelstand und
für einen Teil der Industrie. Arbeitsplätze durch Gentech-
nik sind allerdings sicherlich kein sozialethisches Argu-
ment.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417304300
Für die F.D.P. hat jetzt
der Kollege Detlef Parr das Wort.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1417304400
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die F.D.P.-Fraktion hat vor mehr als acht
Monaten einen Antrag zur Präimplantationsdiagnostik
in den Bundestag eingebracht.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das war voreilig!)


Der Bundesparteitag der F.D.P. hat vor einigen Wochen
mit großer Mehrheit einen eindeutigen Beschluss gefasst:
Ja, wir wollen denjenigen Paaren mit Kinderwunsch, aus
deren Familiengeschichte sich hohe genetische Risiken
zweifelsfrei ergeben, endlich auch bei uns zu einem ge-
sunden Kind verhelfen; wir wollen diese Paare und die
Ärzte ihres Vertrauens von erheblichen Konflikten be-
freien; wir wollen Rechtssicherheit für alle Betroffenen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir müssen versuchen, die Widersprüche – diese sind

auch heute in der Debatte deutlich geworden – zu den be-
stehenden Richtlinien und Rechtslagen der künstlichen
Befruchtung, der Pränataldiagnostik, der Spätabtreibung
und des medizinisch indizierten Schwangerschaftsab-
bruchs so weit wie möglich aufzulösen.

Auch wenn es die veröffentlichte Meinung manchmal
anders deutet: Die F.D.P.-Fraktion setzt dem einengenden
kategorischen Nein mancher Kolleginnen und Kollegen
kein bedenkenloses Ja entgegen. Zweifel und Skepsis sind
auch uns nicht fremd. Wir haben aber rechtzeitig eine of-
fene Debatte geführt. Wir sind deshalb bei unserer Ent-
scheidungsfindung und bei der Abwägung der Rechtsgü-
ter vielleicht ein bisschen weiter als andere.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich sage das, weil uns in einem Zwischenruf Voreiligkeit
vorgeworfen wurde.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Mit Recht!)





Ulrike Höfken
16910


(C)



(D)



(A)



(B)


Eines verwundert uns bei der öffentlichen Diskussion
bis heute sehr: Betroffene Eltern sind nur wenig einbezo-
gen. Ihr Lebens- und Leidensweg wird in der Öffentlich-
keit kaum wahrgenommen. Ich nenne nur das Beispiel der
Familie Graumann, das deutlich macht, was Betroffene
empfinden. Deshalb war es gut, auf dem Symposium des
BMG vor einem Jahr einem Kinderarzt mit der Fachrich-
tung Neugeborenen-Medizin genau zuzuhören. Er er-
zählte die Geschichte eines todgeweihten Mädchens und
schilderte die Verzweiflung der Eltern. Er beschrieb die
hingebungsvolle Pflege dieses Mädchens. Dann kam die
unausweichliche Frage, die sich alle Eltern nach dem Tod
ihres geliebten Kindes in dieser Situation stellen: Können
wir noch einmal aushalten, was wir mit unserem Kind ha-
ben durchleiden müssen?

Da mögen Fundamentalisten rigoros auf die nach ihrer
Meinung ethisch einzig angemessene Antwort verweisen,
nämlich: Verzichtet doch auf ein weiteres Kind! – Aber
was gibt uns das Recht, Paaren ex cathedra etwas
abzusprechen, was integraler Bestandteil unseres Lebens
ist? Dürfen wir menschliches Mitgefühl ausblenden und
in unserer Debatte das vergessen, was man Mitleid oder
was man wie Jürgen Rüttgers Barmherzigkeit nennt?


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das gilt auch für die verworfenen Embryonen!)


Sollten wir uns nicht lieber an die christliche Botschaft er-
innern, die gerade solch starre Gesetzmäßigkeiten aufge-
brochen hat und die klargemacht hat, dass der Mensch nie
in jeder Hinsicht moralisch unanfechtbar wird leben kön-
nen?

Eine Grundregel der philosophischen Ethik lautet: Der
mögliche Missbrauch verbietet nicht den rechten Ge-
brauch. – Zum rechten Gebrauch gehören Grenzen. Ich
gebe dem Bundespräsidenten Recht: Ohne Grenzen gibt
es kein Maß. Wir wollen diese Grenzen. Deshalb gehört
aus unserer Sicht zu den unabdingbaren Voraussetzungen
der Zulassung der PID eine umfassende, qualifizierte hu-
mangenetische Beratung über Chancen, Gefahren und
Belastungen. Die PID ist eben nicht, wie der hessische
Ministerpräsident Roland Koch glaubt, eine mechanische
Qualitätsprüfung ohne individuelle Abwägung durch die
Frau.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Richtig!)

Wir wollen strenge medizinische Zulassungskriterien,

eine zivilrechtliche Würdigung sowie eine strafrechtliche
Bewehrung. Wir wollen Einzelfallentscheidungen, die
von einer unabhängigen Kommission bestätigt werden
müssen. Dabei soll es aber keinen Indikationskatalog ge-
ben; denn wer weiß, ob das, was wir heute über Krank-
heiten und Therapiemöglichkeiten wissen, nicht schon
morgen überholt sein wird. Wir möchten die Durch-
führung der PID nur in lizenzierten Zentren und wir
möchten die Dokumentation, Information und Steuerung
fortpflanzungsmedizinischer Fragen über eine Zentral-
stelle ähnlich der britischen Human Fertility Embryology
Authority.

Diese Grenzen sind nötig. In anderen Punkten müssen
wir uns aber über Grenzen hinwegsetzen. Wir müssen

heraus aus dem deutschen Elfenbeinturm. Ich freue mich
sehr, dass gestern der Gesundheitsausschuss auf unseren
Antrag hin eine Anhörung beschlossen hat, die wir inter-
national anlegen wollen. Beispielsweise gab es in Frank-
reich bereits 1983 die erste Ethikkommission der Welt.
Nach zehn Jahren hatte man ein bislang in Europa einzig-
artiges legislatives „Bioethik-Paket“ mit detaillierten ge-
setzlichen Regelwerken geschnürt, die auch die Grenzen
für die PID sorgfältig ziehen.

Das Überraschendste an dieser Diskussion in Frank-
reich war, dass es in der Frage der Bewertung von Behin-
derungen in der Gesellschaft keine Polarisierung, ebenso
wenig wie in den Niederlanden, gegeben hat. Im Gegen-
teil: Bis auf die Querschnittsgelähmten haben alle franzö-
sischen Behindertenverbände es – Zitat – „als empörend
bezeichnet, den Frauen unnötiges Leid aufzubürden, das
die PID ihnen ersparen könnte“. Wir sehen: Auch in die-
sem sensiblen Bereich ist Integration möglich.

Das haben auch Patienten und Eltern der deutschen
Mukoviszidose-Vereinigung in einer Erklärung vom
24. September 2000 trotz grundsätzlicher Bedenken zum
Ausdruck gebracht:

Betroffene Eltern, die einen Schwangerschaftsab-
bruch ablehnen, haben nur mit der PID die Chance
auf ein weiteres Kind ohne diese Erkrankung. Der
Verein will diese Eltern mit ihren Sorgen nicht durch
ein Verbot der PID alleine gelassen sehen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das sind Beiträge zur gegenseitigen Verständigung. Hier
werden Brücken gebaut. Diese Brücken sollten wir bei der
weiteren Debatte gemeinsam nutzen.

Eine letzte Bemerkung: Bei allem Respekt vor den
Hinweisen auf Geduld im Entscheidungsprozess sollten
wir nicht das Wirklichkeit werden lassen, was Professor
Solter, der Direktor des Max-Planck-Institutes in Frei-
burg, formulierte:

Es werden nicht die Wissenschaftler sein, die die Po-
litiker zu Gesetzesänderungen zwingen, sondern die
Patienten.


(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417304500
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417304600
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! So
sicher ich weiß, dass es ewige Wahrheit nicht gibt, so si-
cher weiß ich, dass wir dennoch einige dringend brau-
chen. Ich erlaube mir in dieser Debatte, in der wir uns der
Wirklichkeit von verschiedenen Seiten zu nähern versu-
chen, dieses Paradoxon auf poetische Art widerzuspie-
geln:

Ein Zeitgeist
Computerspiele,
Traumhaft viele,
Bieten neue Wir-Gefühle.




Detlef Parr

16911


(C)



(D)



(A)



(B)


Manchmal hab‘ ich drei, zehn Leben,
Stirbt eins, wird‘s mir neu gegeben.
Ganz wie‘s wahre Leben eben.
Im Ausland darf man sich bald klonen.
Bei uns lässt sich‘s ganz sicher wohnen.
Mit Ethik darf man mich verschonen.
Viel länger als im Kuschelbett
Zappe(l)n wir im Internet.
Erotik wird zum Eros-Set.
Wozu noch mit den Wimpern
Klimpern?
Mausgeklicke macht uns zimpern.
Zur Not bleibt noch das Onlinebanking.
Fonds-Charts bieten uns ein Ranking.
Moneymaking ohne Denking.
Computerspiele,
Furchtbar viele,
Ersetzen uns bald die Gefühle.

Meine Damen und Herren, solch eine Horrorwelt will
keiner von uns, davon gehe ich aus. Dennoch sind wir auf
dem Wege, sie zu ermöglichen. Das menschliche Genom
wurde von Computern entschlüsselt. Wir stehen inzwi-
schen vor der Frage: Soll die Wissenschaft lieber for-
schen, wie umweltresistente Menschen entstehen, oder,
wie eine Umwelt aussehen muss, in der sich Menschen,
Tiere und Pflanzen gut entwickeln können?


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Ist das eine Alternative?)


Wir stehen inzwischen vor der Frage – das ist keine Al-
ternative, es läuft aber so –, ob die menschheitliche Viel-
falt, die eben gerade durch die Zufälligkeit der Entste-
hung Wirklichkeit wird, in Gefahr gerät, durch Aus-
sonderung dezimiert zu werden.

Zunächst einmal werden nur die so genannten Schlech-
ten ausgesondert. Es gibt jetzt schon Wissenschaftler – ob
verantwortlich oder unverantwortlich –, die sagen, dass
sie nicht nur das „Negative“ weghaben wollen, sondern
auch „positiv eingreifen“ und verändern wollen. Welcher
„Mode“ unterliegen denn bitte schön die Kinder, die dann
entstehen? Wie verhalten die sich, wenn in 20 Jahren alle
gleich aussehen, weil ihr Typ eben vor 20 Jahren in Mode
war? Was sollen wir machen, wenn dann eine andere
Mode herrscht? Sollen wir sie wegwerfen oder sollen die
sich selber wegwerfen, weil sie „unmodern“ sind? Das
wird doch wohl niemand ernsthaft wollen.

Wir stehen hier nicht nur vor der Frage: PID – ja oder
nein? Das ist zu einfach. Wir stehen vor der Frage: Wol-
len wir, dass sich das Menschenbild so verändert, dass in
Zukunft nur noch jung, schön und dynamisch als Maßstab
gilt? Diese Gefahr ist doch ohnehin in unserer Welt da.


(Beifall bei der PDS)

Wenn wir das jetzt auch noch durch die Erlaubnis von ge-
netischen Eingriffen unterstützen


(Peter Dreßen [SPD]: Tut doch keiner!)


– natürlich –, dann hat die Menschheit keine Chance.
Erwin Chargaff, einer der Entdecker der gentechnischen
Möglichkeiten, warnt heute, dass die Gentechnik gefähr-
licher ist als alle Atombomben der Welt. Er sagt das nicht,
weil die Zerstörungskraft der Gentechnik größer ist als die
der Atombomben – drei- oder fünfmal tot und die Welt
vernichtet, das ist egal; tot ist tot –, sondern er sagt das,
weil allein die Existenz dieser Möglichkeit unser Welt-
und unser Menschenbild so enorm verändert – viel stärker
noch als die Atombombe –, dass er diese Wirkung nicht
will. Er ist inzwischen ein hochbetagter Mann. Er weiß,
wovon er spricht, fachlich gesehen mehr als wir alle zu-
sammen. Ich meine, man soll die Weisheit des Alters
durchaus schätzen.

Das sind Fragen, vor denen wir heute stehen. Es geht
nicht um Einzelentscheidungen: PID – ja oder nein,
Stammzellenforschung – ja oder nein. Das sind die prak-
tischen Auswirkungen, die praktischen Ergebnisse, um
die es geht, wenn wir hierüber am Ende entscheiden. Ich
freue mich, dass die meisten der Disputanten hier gesagt
haben, sie wollten eine offene Diskussion, sie wollten
nicht heute mit Ergebnissen beginnen, sondern Fragen
stellen, und zwar so laut und so deutlich, dass die Bevöl-
kerung mitdiskutieren kann.

Zum Abschluss erlaube ich mir, ein Gedicht meines
Freundes Christian Schröder vorzutragen; vielleicht
macht es auch Sie etwas nachdenklich:

milliarden vor uns
haben sich gefragt
was kommt nach
uns
antwort
haben alle
irgendwohin
mitgenommen

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417304700
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.


Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1417304800
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Eines der interessanten Er-
gebnisse dieser Debatte ist, dass wieder deutlich wird, wie
wichtig Politik ist. Denn eines ist klar: Wir stehen hier, am
Beginn der Umsetzung der Biowissenschaft, vor der Auf-
gabe, diesen Prozess zu gestalten. Das kann man niemand
anders überlassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier ist die Politik wie nirgendwo sonst gefordert. Was
man uns höchstens vorwerfen kann, ist, dass wir nicht
früher intensiver damit begonnen haben. Denn jetzt ma-
chen wir vieles vielleicht schon unter zu großem Zeit-
druck. Aber – davon bin ich überzeugt – die öffentliche
Debatte, die Debatte im Parlament und in der Zivilgesell-




Dr. Ilja Seifert
16912


(C)



(D)



(A)



(B)


schaft, ist der beste Beitrag zur Verhinderung eines Ethik-
Dumpings.

Das Beste, was wir überhaupt tun können ist: die Pro-
zesse transparent zu machen, die Wissenschaft zu zwin-
gen, auch Alternativen aufzuzeigen, und ihr vor allem ei-
nen verantwortbaren Rahmen zu setzen.

Insofern führt diese Debatte hoffentlich dazu – ich
finde, die Beiträge weisen in diese Richtung –, dass die
Politik stark genug wird, um zu erreichen, dass es keinen
Wettlauf der Besessenen um diese Technologie gibt.

Margot von Renesse hat gesagt, abstrakte Bekennt-
nisse seien wichtig, aber trotzdem gehe es um konkrete
Konflikte. Damit hat sie völlig Recht. Es geht letztlich im-
mer darum, wie bestimmte Prozesse behandelt werden.
Aber es ist auch richtig, dass es nicht um Einzelentschei-
dungen, nicht um Teilbereiche und auch nicht um Teil-
wahrheiten geht. Die Biowissenschaft fordert uns in einer
Frage zutiefst: Welche Wirkungen haben Entscheidun-
gen? Das geht weit über die Einzelentscheidung hinaus.
Hier liegt der entscheidende Unterschied.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gert Kaiser, der Präsident des Wissenschaftszentrums
von Nordrhein-Westfalen, fordert die Politik auf, die Wis-
senschaft wieder stärker in die Gesellschaft zurückzuho-
len. Ich halte das für richtig. Wir müssen sehen, dass es
am Beginn der Wissenschaftsgesellschaft, der biotechno-
logischen Revolution mit das Wichtigste ist, die Wissen-
schaft zu zwingen, nicht nur an die jeweilige Fachdiszi-
plin zu denken, sondern auch an ihre Wirkungen auf die
Wirtschaft und die Gesellschaft in der Zukunft.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Und nicht nur für die Aktiengesellschaften!)


Vor allem müssen wir sie zwingen, auch über Alterna-
tiven nachzudenken. Das sind zwei zentrale Punkte eines
veränderten Verständnisses in der Wissensgesellschaft.
Denn es gibt keinen autonomen Technikprozess.


(Beifall der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Technik ist immer gestaltbar. Insofern geht es um die
Frage, ob die Politik den Raum für Pluralität und Vielfalt
schafft. In dieser Hinsicht sind wir heute gefordert.

Dabei stehen wir vor drei großen Herausforderungen.
Erstens. Als wir vor etwa 15 Jahren den Bericht „Chancen
und Risiken der Gentechnik“ veröffentlicht und im Parla-
ment diskutiert haben, haben wir geglaubt, wir hätten im
Wesentlichen alle Bereiche abgedeckt, die wir abdecken
mussten. Heute stellen wir fest, dass uns die Entwicklung,
vor allem in den letzten vier Jahren, überrollt hat.

Angesichts dessen, was seit Ende 1997, seit Dolly, pas-
siert ist, stellt Professor Lee Silver von Princeton völlig zu
Recht die These auf, dass diese Aktivitäten nur eine Lo-
gik haben, nämlich alle Verfahren schließlich beim Men-
schen anzuwenden. Genau das ist die Logik dessen, was
in vielen Bereichen heute passiert.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)


Der zweite Punkt, der dieses Thema so schwierig
macht, ist, dass wir mit der Globalisierung eine Auflösung
fester Normierungen erleben – der Soziologe Zygmunt
Baumann nennt das existenzielle Unbestimmtheit –, eine
formbare Weichheit, die immer weniger gegebene Gren-
zen akzeptiert, sondern alle Prozesse fließend macht.

Drittens, das vielleicht größte Problem: Lothar Haak
spricht davon, dass die Wissenschaft immer mehr zur
Vollendung von Tatsachen werde. Das heißt, dass die bis-
herige Grenze zwischen Grundlagenforschung und An-
wendung verschwimmt und der Druck auf die Wissen-
schaft zunimmt, selbst zur unmittelbaren ökonomischen
Verwertung zu werden. Dies ist eine verhängnisvolle Ent-
wicklung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Wir müssen dafür kämpfen, dass die Wissenschaft
auch die Fähigkeit zur Pluralität und zur Abwägung be-
wahrt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch die Ökonomisierung der Wissenschaft gehen
diese Grenzen verloren. Es ist einer der zentralen Punkte,
das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und
Gesellschaft so zu organisieren, dass es keinen verhäng-
nisvollen Wettlauf um die schnelle ökonomische Verfüg-
barkeit gibt.


(Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Dafür sind die Fragen, die sich uns stellen, viel zu wich-
tig und viel zu zentral.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich weise darauf hin, dass selbst „Nature“ fragt, ob der
wissenschaftlich-industrielle Komplex außer Kontrolle
gerät. Nein, Wissenschaft muss eine Distanz zu ihrem ei-
genen Metier bewahren, um überhaupt wissenschaftlich
bleiben zu können. Dafür müssen wir sorgen.

Das bedeutet Transparenz, das bedeutet Vielfalt, das
bedeutet aber vor allem, dass wir klarmachen, was wir un-
ter Menschenwürde verstehen. Die kantsche Philosophie
ist in ihrem Grundentwurf in erster Linie individuell ori-
entiert. Dennoch gibt es dort einen zentralen Punkt, an
dem wir uns orientieren müssen.

Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner
Person als auch in der Person eines jeden anderen
niemals bloß als Mittel brauchest.

Ich glaube, dies ist der wesentliche Punkt. Der Natur-
philosoph Meyer-Abich bezeichnet dies so: Die Würde
des Menschen ist im Charakter des menschlichen Mit-
seins angelegt, und zwar von Anfang an.

Die bisherige Gesellschaftsgeschichte war immer eine
Geschichte von Kontinuität und Veränderung, war immer
„gewachsen und geworden“. Der entscheidende Unter-
schied der Biowissenschaft scheint mir angesichts des




Michael Müller (Düsseldorf)


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sich auftuenden Möglichkeitsraumes darin zu liegen, dass
diese heute eine gemachte Gesellschaft werden kann. Die
entscheidende moralische Herausforderung liegt von da-
her darin, dass wir die gemachte Gesellschaft verhindern,


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


aber die wachsende aus Kontinuität und Veränderung
stärken und wir und uns für die gewachsene einsetzen.
Das ist der wesentliche Punkt. Wenn wir es zulassen, dass
eine Gesellschaft nicht mehr aus ihrer Geschichte wächst,
dass es nicht immer wieder eine Verbindung zwischen Be-
ständigkeit und Veränderung gibt, sondern nur durch das
Neue abgelöst wird, was zu Entwurzelung und Bodenlo-
sigkeit führen würde, haben wir versagt. Insofern ist der
entscheidende Punkt: Es muss Kontinuität mit Verände-
rung verbunden werden. Es muss ein gewachsener Fort-
schritt bleiben und darf kein gemachter werden.

Dies ist aus meiner Sicht entscheidend, um das, was
Kant als die Verbindung von Menschsein und Menschheit
definiert, zu bewahren, den Kern dessen, was die Men-
schenwürde und letztlich die Gesellschaft ausmacht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417304900
Nun hat für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Werner Lensing das
Wort.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1417305000
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Mit
atemberaubender Spannung verfolgen wir den aktuellen
Diskussionsprozess. Als Sprecher der Unionsfraktion in
der entsprechenden Enquête-Kommission treibt mich
nicht von ungefähr die bange Sorge um die in Theorie wie
Praxis verbreitete Doppelmoral, zumindest die Wider-
sprüchlichkeit so mancher oft wiederholter Argumente.
Das gilt selbst für die heutige mit großem Ernst geführte
Debatte. Mitunter droht sogar der ethische Diskurs in die
Defensive zu geraten. Es bleibt die berechtigte Frage, ob
Ethik und Politik mehr bedeuten als eine nachträgliche
Akzeptanzbeschaffung für das Machbare.

Zudem wird gerne vergessen, dass niemand, also wirk-
lich niemand, dem Menschen die alleinige Verantwortung
für sein eigenes Handeln abnehmen kann. Dies gilt für Po-
litiker, Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler
ebenso wie für Anwender und Nutzer. Schließlich hat Gott
den Menschen als freies, eigenverantwortliches Wesen
geschaffen. Daher dürfen wir unsere höchstpersönliche
Entscheidungskompetenz nicht kurzerhand auf ein Gut-
achtergremium – unter welcher Etikettierung dieses auch
immer firmiert – delegieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich warne davor, sich schon allein aufgrund des täg-

lich – auch heute wieder – zu vernehmenden Hinweises,
die Forschung werde durch die Wahrung der Menschen-
würde ihre natürliche Begrenzung erfahren, in irgendei-

ner Weise vordergründig beruhigen zu lassen, unabhängig
davon, dass die Würde des Menschen ohne einen per-
sönlichen Wertebezug keinen Wert hat. Leider präsentiert
sich die Menschenwürde in der Gegenwart als ein infla-
tionär gebrauchter Schlüsselbegriff der Politik und des
Rechts ebenso wie der Ethik und der Moraltheologie.

Der Hauptstreitpunkt liegt meines Erachtens in Fol-
gendem: Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich
mehrfach festgestellt, dass der Schutz des ungeborenen
Lebens von immenser Bedeutung ist, hat aber gleichzei-
tig bestimmte Ausnahmen zugelassen, mit der fatalen
Folge, dass der Schutz des Lebens bei uns in Deutschland
stark relativiert ist. Entweder fordere ich den absoluten
Schutz von Anfang an – und dies dann ohne Ausnahme –
oder ich schränke diesen ein, mit der traurigen Folge,
dass, wie derzeit in Deutschland, tagtäglich unsäglich
viele Abtreibungen erfolgen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Von daher dürfen wir uns nicht wundern, wenn inzwi-

schen ein in der Petrischale liegender Embryo geschütz-
ter zu sein scheint oder gar ist als ein Embryo, der im Mut-
terleib heranwächst. So wird die Tötung eines Embryos in
vitro mit Strafe bedroht, wohingegen unter geregelten
Voraussetzungen die eines Embryos in vivo straffrei
bleibt. Von einer Kultur des Lebens sind wir weit entfernt,
erst recht, wenn wir uns auf die Spätabtreibung besinnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Vor diesem Hintergrund erscheint es mir widersprüch-
lich, dass nach gültiger Rechtslage ein Embryo legal getö-
tet werden darf, wenn er sich in der Gebärmutter befindet
und bereits ein vergleichsweise hohes Entwicklungssta-
dium erreicht hat, eine Verwerfung in einem früheren Sta-
dium aber ausscheidet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es ist für mich schwer nachvollziehbar, weshalb ein
künstlich erzeugter Embryo der Pränataldiagnostik un-
terzogen werden und unter bestimmten Umständen sogar
abgetrieben werden darf, ohne dass dies angeblich seiner
Menschenwürde widerspricht, wohingegen die Kombina-
tion von künstlicher Befruchtung mit einem diagnosti-
schen Verfahren, nämlich der PID, zu einem Verstoß ge-
gen die Menschenwürde erklärt wird.

Auch bei der Bewertung der Stammzellenforschung
begegnen wir einer Reihe evidenter Widersprüche und
ungeklärter Fragen, die ich nur auf zwei fokussieren
möchte: Erstens. Soll es deutschen Forschern verboten
sein, auf Ergebnisse zurückzugreifen, die im Ausland auf
in Deutschland verbotene Weise erzielt wurden? Zwei-
tens. Dürfen und können wir beispielsweise rechtfertigen,
deutschen Patienten bestimmte Behandlungsmöglichkei-
ten zu verwehren, nur weil diese mithilfe von Verfahren
zustande gekommen sind, die bei uns unzulässig sind?

Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ob Sie anneh-
men, gerade auch aufgrund der heutigen Debatte, dass wir
eine Einigung erzielen können. Denn – davon bin ich zu-
tiefst überzeugt – die Positionen zwischen den Befürwor-




Michael Müller (Düsseldorf)

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tern eines uneingeschränkten Lebensschutzes ab der Ver-
schmelzung von Ei und Samenzelle und denen eines ab-
gestuften, wachsenden Schutzes der Embryonen liegen so
weit auseinander, dass eine Vermittlung bedauerlicher-
weise nicht möglich ist.

Gestatten Sie mir für unsere Arbeit in der Enquête-
Kommission und auch hier im Plenum zum Schluss vier
kurze, aber grundsätzliche Thesen:

Erstens. Bei unserem unendlich schwierigen Bemühen
um eine Konsensbildung sollten wir uns stets vor Augen
halten, dass wir Deutschen den anderen Europäern mora-
lisch nichts voraus haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Zweitens. Mit bloßen Diffamierungen oder einer ein-
seitigen Verweigerungshaltung geraten wir schnell ins
Abseits und verlieren so auch jede Chance, mit unseren
Beiträgen – gleich welcher Art – überhaupt noch wahrge-
nommen zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Drittens. Es ist wichtig, unsere Forschung im Bereich
der Bio- und Gentechnik nicht mehr als unbedingt erfor-
derlich und verantwortlich einzuschränken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Viertens. Für mich steht unzweifelhaft fest: Die bio-

technische Forschung hat keinerlei Auftrag zu einem ach-
ten Schöpfungstag.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417305100
Für das Bündnis 90/
Die Grünen hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell das
Wort.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417305200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Die Gentechnik bietet ohne Zweifel Chancen für die
Heilung von Krankheiten. Immer mehr wird sie daher zu
einem Schwerpunkt der Forschungsförderung von Bun-
desregierung und Europäischer Union. Auch deshalb ver-
läuft die Entwicklung der Gentechnik ungeheuer rasant.
Neue Forschungsergebnisse werden mit hoher Geschwin-
digkeit veröffentlicht, sodass ethische Bewertungen oder
gar das Schaffen rechtlicher Rahmenbedingungen nicht
mehr Schritt halten können. Ethische, ökologische, recht-
liche oder soziale Folgen der Gentechnik können kaum
noch rechtzeitig erkannt und diskutiert werden. Nicht zu-
letzt deshalb haben wir in den letzten beiden Jahren in
Deutschland einen wesentlich höheren Mittelanteil als in-
ternational üblich für die Technikfolgenabschätzung und
die ethische Betrachtung bereitgestellt.

Die Chancen der medizinischen Gentechnik bergen
aber auch die Gefahr, dass die Gesundheitsforschung zu
sehr auf den gentechnischen Ansatz verengt wird. Viele
Krankheiten sind nicht oder nur teilweise genetisch be-

dingt. Auch Umweltfaktoren spielen eine größere Rolle.
So stehen etwa Pestizide im Verdacht, Parkinson zu ver-
ursachen.

Auch mit Blick auf die Präimplantations- und Präna-
taldiagnostik nenne ich nur einige Beispiele dafür, wo die
Forschung über den gentechnischen Ansatz hinaus wich-
tige Beiträge zur Verbesserung der Lebensqualität lie-
fern kann: die Gesundheitsvorsorgeforschung, die Pflege,
die Schmerzlinderung, die gesellschaftliche Integration
von Behinderten und Hilfen für deren Angehörige. Dafür
Forschungsschwerpunkte zu schaffen ist mindestens ge-
nauso wichtig wie für die gentechnische Medizin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Potenziell kranke bzw. behinderte embryonale Men-

schen auszusortieren, wozu die PID letztendlich dient,
darf nicht unser Ziel sein. Die PID wird nicht kranken,
schwachen Menschen helfen; nein, sie wird zu deren Aus-
sortierung führen. Das lehnen wir ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Die Deutsche Forschungsgemeinschaft setzt sich für
die Forschung mit embryonalen Stammzellen ein, die
überschüssig sind und deren Ableben damit besiegelt sei.
Tatsächlich, darauf wurde schon hingewiesen, gibt es in
Deutschland aber nur sehr wenige dieser verwaisten Em-
bryonen. Für diese würden sich sicher unfruchtbare
Frauen bzw. Paare finden, die für eine Embryospende sehr
dankbar wären. Der Argumentation der DFG fehlt daher
die Grundlage, denn todgeweihte Embryonen muss es
nicht geben. Selbst wenn das Überleben der Embryos
nicht möglich wäre: Aus meiner Sicht ist die Tötung von
embryonalem Menschenleben zu Forschungszwecken
ethisch nicht vertretbar.

Aus bündnisgrüner Sicht sind adulte Stammzellen eine
ethisch und wissenschaftlich vertretbare Alternative zu
embryonalen Stammzellen. Hierauf sollten wir unsere
Forschungsanstrengungen konzentrieren.

Meine Damen und Herren, Gentechnik ist nicht nur
Humangenetik. Auch Tier- und Pflanzengenetikmüssen
wir kritisch diskutieren. Niemand kann heute schon wis-
sen, welche gesundheitlichen und ökologischen Risiken
sich hinter der Freisetzung und dem Genuss von genetisch
veränderten Pflanzen verbergen. Genfood findet daher
verständlicherweise fast keine Käufer. Welthungerpro-
bleme brauchen andere Ansätze. Gentechnisch stimulierte
Höchsterträge können keine wirkliche Lösung bieten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Lassen Sie uns gemeinsam aus der BSE-Krise lernen
und pflanzliche Gentechnik erst dann anwenden, wenn
alle Sicherheitsbedenken mit großer Wahrscheinlichkeit
ausgeräumt sind. Ansonsten werden wir wie Goethes Zau-
berlehrling die gentechnisch veränderten Pflanzengeister
vielleicht nie mehr los.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)





Werner Lensing

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Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417305300
Für die SPD-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Christel Riemann-
Hanewinckel.


Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1417305400
Sehr ver-
ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Wir debattieren nun schon einige Stunden über die
Würde des Menschen, und zwar vom Beginn bis zum
Ende des Lebens, von der ersten Zellteilung bis zum letz-
ten Atemzug.

Wie soll menschliches Leben aussehen? Gibt es unter-
schiedlich wertvolles Leben? Welche Andersartigkeit,
welche Abweichung von der Norm akzeptiert die Gesell-
schaft? Was an Eingriffen ist erlaubt? Ist es vertretbar,
Krankes, Belastendes, Abweichendes am Leben zu lassen
oder dieses Leben zu beenden? Wie viele Prozente müs-
sen erreicht werden, wenn ich als gesund gelten will? Und
wer entscheidet all diese Fragen – die Medizin, die For-
schung, der internationale Wettbewerbszwang, die Kas-
sen, die Allgemeinheit, die werdenden Eltern, die Politik?

Der Fragenkatalog ist noch sehr viel umfangreicher.
Das hat die heutige Debatte schon gezeigt. Er macht mir
deutlich, dass die Debatte überall geführt werden muss,
nicht nur hier im Deutschen Bundestag, nicht nur in der
Forschung, sondern in allen Bereichen des gesellschaftli-
chen Lebens, das heißt überall da, wo Menschen zusam-
menleben. Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag
heute ein deutliches Signal für die Notwendigkeit dieser
allgemeinen Debatte sendet.

Meine Damen und Herren, ich möchte mich in meiner
Rede auf einen Punkt konzentrieren. Aber zuvor muss ich
etwas zu der Bemerkung von Frau Merkel sagen, die sie
vorhin gemacht hat: Was ich hier zu sagen habe, sage ich
ganz bewusst als Christin – als Christin, die der sozialde-
mokratischen Partei angehört. Es gibt keine Partei – nicht
in Deutschland und auch nicht anderswo auf der Welt –,
die das Christsein allein in Anspruch nehmen könnte, die
für sich in Anspruch nehmen könnte, nur sie habe ein
christliches Gewissen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das hat sie auch nicht gesagt! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ohren waschen!)


Ich rede hier als Christin, als Pfarrerin und – ich sage es
noch einmal – als Sozialdemokratin.

Meine Damen und Herren, der eine Punkt, auf den ich
mich konzentrieren möchte, beschreibt die Situation, in
die werdende Eltern schon heute in Deutschland kom-
men: Eine Schwangerschaft ist heute weniger eine Nor-
malität als Risiko bis Krankheit. Schwangere haben sich
zig pränatalen diagnostischen Untersuchungen zu unter-
ziehen, über die sie oft genug nicht aufgeklärt werden, ge-
schweige denn, dass ihr Einverständnis vorliegen würde.
Schwangere haben kaum eine Chance, sich der pränata-
len Diagnostik zu entziehen, weil sie inklusive im Be-
handlungsvertrag mit den meisten Ärztinnen und Ärzten
festgeschrieben ist. Dazu gehören Untersuchungen – das
ist meiner Ansicht nach das Wichtigste –, die in der Mehr-

zahl nicht der Heilung oder Behandlung der werdenden
Mutter oder des werdenden Kindes dienen, sondern dem
Erkennen von Schäden beim Embryo mit der Konsequenz
seiner möglichen Abtreibung wie etwa die Untersuchung
zum Erkennen des Down-Syndroms.

Werdende Mütter bzw. Eltern haben oft keine Chance,
sich mit dem zu erwartenden Krankheitsbild auseinander
zu setzen, weil in der Regel vor der Beratung bzw. Über-
weisung an eine Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe
das Terminangebot für eine Abtreibung steht. Damit wird
indirekt aus medizinischer Sicht deutlich gemacht: „Nicht
solch ein Kind in dieser Gesellschaft!“

Die Präimplantationsdiagnostik reduziert dies noch
auf die Frage, ob die Qualität des Embryos zum Ein-
pflanzen reicht oder nicht. Die potenziellen Eltern haben
diesen Konflikt ohne das Erleben von Schwangerschaft
zu entscheiden. Damit wird aus meiner Sicht die Ent-
scheidung entpersonalisiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Nicht das Kind steht im Vordergrund, sondern der – zum
Teil auch verständliche –Wille der Eltern nach einem ge-
sunden Kind.

Der Ärztinnenbund, der Behindertenrat und auch andere
Organisationen haben sich gegen die Präimplantationsdia-
gnostik ausgesprochen. Ich tue das auch, denn Behinde-
rung und Krankheit mindern nicht den Wert des menschli-
chen Lebens. 1994 haben wir in Art. 3 des Grundgesetzes
verankert: Niemand darf wegen seiner Behinderung be-
nachteiligt werden. – Das gilt meiner Meinung nach für den
Embryo im Reagenzglas genauso wie im Bauch der wer-
denden Mutter.

Die Präimplantationsdiagnostik ist mit der Würde des
Menschen meiner Ansicht nach nicht vereinbar. Das
menschliche Leben ist nicht in einer bestimmten und ge-
wünschten Art und Weise zu haben. Es ist immer unter-
schiedlich in seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und
Schönheiten. Es ist auch immer unterscheidbar von ande-
ren Werten. Menschenwürde ist deshalb nicht an eine be-
stimmte Art von Gesundheit oder Krankheit gebunden.
Sie ist meines Erachtens auch nicht mit der Freiheit der
Forschung verrechenbar und auch nicht aufrechenbar ge-
gen das Bruttosozialprodukt, Arbeitsplätze oder Gewinne
in anderen Bereichen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417305500
Das Wort hat nun der
Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1417305600
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn
ein kleines Missverständnis ausräumen, das offensicht-
lich bei der Kollegin Hanewinckel aufgetreten ist. Frau
Merkel hat in ihrem Beitrag deutlich gemacht, wie sehr
wir gerade aufgrund unserer Entscheidung, uns Christ-






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lich-Demokratische Union zu nennen, mit dieser Frage
ringen.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir haben gehört, was sie gesagt hat, Herr Hintze! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war eine Anmaßung!)


Selbstverständlich ist sie genauso wie ich der Auffassung,
dass es engagierte Christen in allen politischen Parteien
und Richtungen gibt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das klang nicht so!)


Ich wollte das zu Beginn meiner Rede gerne klarstellen.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist in Ordnung!)

Im Zentrum unseres Denkens und Handelns steht die

Würde des Menschen. Wir als Gesetzgeber haben die Ver-
antwortung, menschliches Leben zu schützen. Für mich
ist es ein Gebot des Lebensschutzes, die medizinische
Forschung nach Kräften zu unterstützen. Ich möchte deut-
lich sagen: Wer die Forschung unter Generalverdacht
stellt, der beschädigt ein wichtiges Gut.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch niemand getan!)


Unsere Forscher stehen an der Seite der Schwachen
und die Forschung dient schwachen und kranken Men-
schen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Erfahrung mit der Stammzellenforschung zeigt, dass
sie schon heute vielen Menschen hilft. Denken Sie bei-
spielsweise an die Therapie leukämiekranker Kinder. Wir
verbinden mit ihr die Hoffnung, auch andere schwere
Krankheiten heilen zu können. Lange haben wir darauf
gesetzt, dass die Forschung mit adulten Stammzellen alle
Fragen zu beantworten in der Lage ist. Drei Jahre nach
den beiden entscheidenden Veröffentlichungen in „Na-
ture“ und „Science“ über die embryonalen Stammzellen
wissen wir durch die sorgfältige Stellungnahme der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft, wie wichtig die verglei-
chende Forschung mit embryonalen Stammzellen gerade
auch für das Verständnis der adulten Stammzellen und die
Entwicklung wirksamer Therapien ist.

Ich will mit allem Ernst sagen: Keiner weiß heute, ob die
schlimme Rinderkrankheit BSE in Form der Creutzfeldt-
Jakob-Krankheit einmal massiv auf den Menschen
überspringt. Die Folgen wären fürchterlich. Wir alle wün-
schen uns, dass dies nie eintritt. Aber wir als Gesetzgeber
haben die Verantwortung, schon heute alles Menschen-
mögliche zu unternehmen, um solche Entwicklungen ab-
wenden zu können. Schwerwiegende Fehler geschehen
nicht nur durch falsches Handeln. Schwerwiegende Feh-
ler entstehen auch dann, wenn man das Richtige unter-
lässt.

Ich erinnere mich noch genau an den Kampf in den
70er-Jahren gegen gentechnisch hergestelltes Insulin. Er
ist mit aller Erbitterung geführt worden. 1986 haben wir
es in Deutschland zugelassen. Heute ist es für die vielen
zuckerkranken Menschen eine wichtige Überlebenshilfe.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erinnere mich, dass
schon damals der Rubikon beschworen wurde, den man
nicht überschreiten dürfe. Heute hören wir von höchster
Stelle genau das Gleiche. Übrigens: Cäsar hat den Rubi-
kon überschritten. Er hat Rom gewonnen und die Ge-
schichte hat ihm Recht gegeben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


In dieser Debatte ist die Frage nach dem Beginn des
menschlichen Lebens aufgeworfen worden. Unbestritten
ist, dass es mit der Verschmelzung von Ei- und Samen-
zelle beginnt. Aber ist dieses beginnende menschliche Le-
ben schon der Mensch? Kann man eine befruchtete Ei-
zelle mit einem Menschen gleichsetzen? Dies wäre aus
meiner Sicht ein gravierender naturalistischer Fehl-
schluss, vor dem namhafte Wissenschaftler warnen. Ich
nenne hier nur Horst Dreier, Reinhard Merkel und Volker
Gerhardt. Ich verweise auch auf das interessante Inter-
view mit Wolfgang Schäuble, das heute im „Tagesspie-
gel“ erschienen ist. Ich halte eine deutliche Unterschei-
dung zwischen einer winzigen Zelle im Reagenzglas und
einem heranwachsenden Kind im Mutterleib unter jedem
denkbaren Aspekt für richtig.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich bin der Auffassung, dass die Rechtsprechung des

Bundesverfassungsgerichts von den Gegnern der disku-
tierten gentechnischen Methoden in unzulässiger Weise in
Anspruch genommen wird. Ich teile nachdrücklich die
Auffassung von Jutta Limbach, der Präsidentin unseres
Bundesverfassungsgerichtes, und von Roman Herzog,
unserem früheren Bundespräsidenten.

Menschen mit Behinderungen gehören zu unserem
Leben. Ohne sie wären wir ärmer. Diese Menschen kön-
nen zu Recht von uns erwarten, dass wir alles in unserer
Macht Stehende tun, um Leiden zu lindern. Ich bin Roman
Herzog daher für die Frage, die er aufgeworfen hat, dank-
bar: Habt ihr alles getan, um diesen Menschen zu helfen?
Darum wollen wir ringen.

Ich setze mich für eine Ethik des Heilens ein. Als Chris-
ten sollen wir nach Prinzipien fragen. Das finde ich rich-
tig. Aber ich finde es noch richtiger zu fragen: Wo sind wir
gefordert, Entscheidungen zu treffen, die Menschenleben
retten können? Als Christen sollten wir Menschen retten,
nicht Prinzipien.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417305700
Als Nächster redet der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417305800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gen-
technologischen und biotechnologischen Forschungen er-
möglichen riesige Chancen in der Entwicklung, aber sie
verlangen unsere Gestaltung. Wir haben bereits heute me-
dizinische Entwicklungen, die ohne die Erkenntnisse die-
ser neuen Technologien nicht denkbar sind.




Peter Hintze

16917


(C)



(D)



(A)



(B)


Aber es sind in diesem Zusammenhang, neben der Be-
tonung der Chancen und der Förderung der Möglichkei-
ten, wichtige Fragen zu stellen: Wem gehören die geneti-
schen Programme von Mensch, Flora und Fauna? Welche
Risiken dürfen wir bei der Änderung genetischer Pro-
gramme in Lebewesen eingehen? Darf und will man die
biologische Arten- und Sortenvielfalt durch genetisch
veränderte Lebewesen gefährden?

All diese Fragen müssen wir als Parlament diskutieren.
Aber all diese Fragen treten in der heutigen Debatte in den
Hintergrund. Die embryonale Stammzellenforschung
und PID treiben fast alle Rednerinnen und Redner um. So
ist es auch draußen in der Gesellschaft. Alle Menschen
spüren: Hier geht es um mehr als nur eine Diagnose-
methode oder eine neue Forschungslinie. Es geht um
große Hoffnungen, Heilsversprechungen der Medizin und
der Forschungen, die erst noch bestätigt werden müssen.
Aber es geht auch darum, wo wir menschliches Leben als
menschliches Leben anerkennen und mit welchen recht-
fertigenden Gründen wir eine Einschränkung des unbe-
dingten Schutzes des Lebens zulassen wollen.

Wer verfügt über das Leben anderer? Auch wenn wir
im Parlament und in unserem Land keinen Konsens darü-
ber haben, ob es einen Schöpfer gibt, müssen wir doch fra-
gen: Wollen wir uns als Menschen, als Politiker, zu
Schöpfern aufschwingen und zu Richtern über Leben
oder Tod machen?

Das Bundesverfassungsgericht – es wurde hier mehr-
fach angesprochen – hat sich in der Vergangenheit nie zu
den Fragen geäußert, über die wir heute diskutieren und
die wir irgendwann beantworten müssen. Es hat aber in
früheren Entscheidungen bedeutende Worte gesagt und
Figuren entwickelt, die wir meines Erachtens dieser De-
batte zugrunde legen sollten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies betrifft die Frage: Wann beginnt menschliches Le-
ben? Das Bundesverfassungsgericht hat dazu gesagt,
menschliches Leben beginne, sobald es individuelles, in
seiner genetischen Identität festgelegtes Leben gebe. – Es
ist sinnvoll, das auf den Zeitpunkt festzulegen, an dem Ei-
und Samenzelle miteinander verschmolzen sind. Es gibt
kein anderes objektives Kriterium, um den Beginn des
menschlichen Lebens festzulegen. Wenn wir bejahen,
dass es ab dann menschliches Leben gibt, dann dürfen wir
dieses Lebensrecht nicht ohne erheblich rechtfertigenden
Aufwand infrage stellen.

Wir kennen in unserer Rechtsordnung nur zwei Fälle,
bei denen wir den absoluten Lebensschutz relativieren
– es handelt sich dabei immer um Situationen, wo das Le-
ben eines anderen Menschen in Gefahr ist –: beim Not-
wehrrecht und in der Abtreibungsfrage. Bei der Abtrei-
bung rechtfertigen wir übrigens nicht die pränatal
indizierte Abtreibung, sondern die Beschränkung der see-
lischen und körperlichen Gesundheit der Frau und die
Einwirkung auf sie und zwar als einzigen rechtfertigen-
den Grund für einen legalen Schwangerschaftsabbruch
nach der Fristenlösung. Diese Tatsache verschwimmt lei-
der etwas in der Diskussion.

Ich meine, wir müssen uns bei der Diskussion um die
Stammzellenforschung und die PID fragen: Wollen wir
andere Grundrechte, die einen geringeren Rang haben als
der Schutz des Lebens, als rechtfertigenden Grund dafür
zulassen, um den Schutz menschlichen Lebens in unserer
verfassungsrechtlichen Ordnung zu beschränken? Die
Beantwortung dieser Frage – wir können keine Einzel-
fallethik durchführen oder das Verfassungsrecht speziell
für diese Fälle auslegen, ohne dass das zu Weiterungen in
der Zukunft führt – wird den Schutz des menschlichen
Lebens eines jeden Einzelnen in der Gesellschaft betref-
fen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir uns im Zusammenhang mit der PID überle-

gen, was wir im Embryonenschutzgesetz geregelt ha-
ben, müssen wir sehen, dass wir bei der Fortpflanzungs-
medizin sehr enge Möglichkeiten geschaffen haben,
Paaren, die auf natürlichem Wege nicht zu Kindern kom-
men können, den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. Es
handelt sich hier aber nicht um die positive Ausgestaltung
des Grundrechts auf persönliche Entfaltung, indem man
Kinder bekommt, sondern wir wollten Menschen dadurch
helfen und haben dies auch eingeschränkt getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir die Praxis der Bundesärztekammer betrach-

ten, können wir feststellen, dass diese die Fortpflan-
zungsmedizin – ohne dass das bisher rechtlich beanstan-
det wurde – nur für verheiratete Paare zulässt. Eine allein
stehende Frau oder eine Frau, die in einer nicht ehelichen
Lebensgemeinschaft lebt, kann auf legale Weise auf die-
sem Wege in Deutschland nicht zu einem Kind kommen.
Wenn im Rahmen der Diskussion über PID gefordert
wird, man müsste diese Grundrechtsverwirklichung für
die Eltern durchsetzen, halte ich das nicht für einen
rechtfertigenden Grund, um die PID zuzulassen; die Zu-
lassung hätte zur Folge, dass ein Embryo nach dem an-
deren, eine ganze Generation von Embryos, verworfen
werden könnte, weil sie als nicht lebenswert betrachtet
würden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Satz zum Schluss als Appell an die Medien: Ich
habe mehrere Fernsehsendungen gesehen, die sich mit
diesem Thema beschäftigten. In diesen Sendungen wer-
den immer wieder Kinder gezeigt, die schwere Krankhei-
ten haben. Es wird gesagt, Kinder mit solchen Erkran-
kungen wären durch die PID angeblich vermeidbar
gewesen. Überlegen Sie einmal, was Sie den Menschen,
die Sie in den Filmen zeigen, letztlich sagen. Sie sagen ih-
nen: Hätte es die PID gegeben, hättest du nicht leben müs-
sen.

Haben Sie einmal diese Kinder und Erwachsenen ge-
fragt, ob sie nicht leben wollen, ob sie trotz mancher Be-
einträchtigungen und mancher persönlicher Leiden nicht
gerne leben und das Gefühl haben, dass ihr Leben lebens-
wert ist, obwohl es auch Tage gibt, an denen sie ihre
Krankheit und ihr Leiden verfluchen? Wer als Außenste-
hender hat das Recht zu sagen, dieses Leben hätte nicht
gelebt werden dürfen? Wir müssen uns sehr genau fragen,




Volker Beck (Köln)

16918


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(D)



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(B)


welche gesellschaftlichen Implikationen die Diskussion
hat, die wir hier heute führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417305900
Ich erteile das Wort
der Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1417306000
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Begegnung und
Auseinandersetzung mit biomedizinischer Forschung gibt
es einige Fragen, die mich in besonderer Weise beschäfti-
gen – die PID, zwar kein zentraler, aber doch ein wichtiger
Punkt in der Debatte, bündelt sie –: Muss der Gesetzgeber
die Nutzung eines neuen biotechnischen Verfahrens er-
möglichen? Oder besser: Darf er es verhindern? Wen müs-
sen wir schützen? Welche gesellschaftlichen Prozesse ver-
stärken wir? Wie werden die Interessen der Frauen
vertreten? Wie ist bei Zulassung der PID die Signalwirkung
auf gesellschaftliche Prozesse? Werden hier nicht doch aus-
grenzende, stigmatisierende Tendenzen verstärkt? Wird das
von einer definierten Abweichung unbelastete Kind nicht
doch zur Norm? Verurteilen Menschen mit Behinderung
oder chronischer Krankheit nicht zu Recht die mit der PID
verbundenen Angriffe gegen behindertes Leben?

Auf das Nichtdiskriminierungsgebot wurde schon
hingewiesen. Menschen mit Behinderungen wird schwer
zu vermitteln sein, dass die Möglichkeit, die mit PID eröff-
net wird, nämlich die Auswahl von Embryonen mit un-
erwünschten Merkmalen, nicht mit einer Klassifizierung
verbunden ist. Wächst nicht der Erwartungsdruck auf die
Frauen, doch ein gesundes Kind zur Welt zu bringen?

Wer wie ich für die freie Wahl weiblicher Lebensent-
würfe eintritt, muss den von der biomedizinischen For-
schung vorgegebenen Weg noch lange nicht kritiklos gut-
heißen. Es stimmt: Das Verbot der PID schränkt die
Wahlfreiheit und die Selbstbestimmung der Frau ein. Es
sei aber auch daran erinnert, dass die Wahl weiblicher Le-
bensentwürfe nach wie vor und in erster Linie durch pa-
triarchalisch dominierte gesellschaftliche Bedingungen
begrenzt wird, an deren Veränderung wir arbeiten.

Die Wahlfreiheit für alle Fortpflanzungsentscheidun-
gen hat einen hohen Preis: Bewertung von Leben bis hin
zur Verwerfung, Diskriminierung von Behinderungen so-
wie möglicher Einstieg in die verbrauchende Embryonen-
forschung. Eine Begrenzung der PID wird rechtlich nicht
haltbar sein.

Die vorgeburtliche Diagnostik bietet dazu eine Paral-
lele. Diese wurde ursprünglich für eine kleine Gruppe von
Menschen geschaffen. Heute kommt sie in der Mehrzahl
der Schwangerschaften zur Anwendung. Die Tatsache,
dass 70 bis 80 Prozent der Schwangerschaften nicht mehr
den Zustand guter Hoffnung und freudiger Erwartung,
sondern ein Risikoereignis darstellen, sollte nicht nur un-
ter dem ökonomischen, sondern auch unter dem Aspekt
des Wertewandels diskutiert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Werden hier, unter Inkaufnahme erheblicher psychischer
und physischer Belastungen für die betroffenen Frauen
– selten genug von adäquaten Beratungen flankiert –,
nicht technische Lösungsansätze für in erster Linie so-
ziale Probleme gesucht?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Debatte um PID wird häufig das Argument
geäußert, wer die Selektion von Embryonen ablehne,
müsse auch den Schwangerschaftsabbruch infrage stel-
len. Ich bin mit denen einig, die Bedenken gegen die PID
formulieren, und grenze mich deutlich von jenen ab, die
die PID-Debatte mit einer Neubelebung der Diskussion
über § 218 verbinden wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Der Unterschied ist offensichtlich: In der Schwanger-
schaft sind Mutter und Kind in ganz besonderer Weise
körperlich miteinander verbunden. Diese Verbindung
kann nicht gegen den Willen der Frau aufrechterhalten
werden. Aus diesem Grund öffnet der Schwangerschafts-
abbruch einen Korridor für eine selbst bestimmte Ent-
scheidung. Diese ist zwar rechtswidrig, kann aber straffrei
getroffen werden.

Die Konfliktsituation, die den Anlass zur PID gibt, ist
nicht vorhanden; sie wird antizipiert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Ort des Konfliktes ist nicht der Körper, sondern das
Labor. Nicht zuletzt wird die Entscheidung gegen ein be-
hindertes Kind in fremde Hände gelegt.

Bei der PID fallen überzählige Embryonen an; es fin-
det Selektion statt. Vor diesem Hintergrund kann sie dann
eben doch eine Türöffnerfunktion haben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417306100
Ich erteile dem Kolle-
gen Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1417306200
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir führen heute eine der vielleicht
wichtigsten Debatten, die je im Deutschen Bundestag ge-
führt worden sind. Wir stehen nämlich vor der Frage, ob
die Unantastbarkeit der Menschenwürde noch für alle gilt.
Wir stehen vor der Frage ob wir es zulassen, dass Men-
schen selektiert, vernutzt oder als Forschungsobjekt ge-
nutzt werden. Ja, es wird sogar diskutiert, ob man
menschliches Leben in Form von Embryonen produzie-
ren darf, um diese hinterher zu verwerten.

Bisher galt: Jeder hat Lebensrecht und Menschen-
würde, einfach nur deswegen, weil er Mensch ist, ohne
dass man Qualitätsmaßstäbe anlegt. Bisher galt auch




Volker Beck (Köln)


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(C)



(D)



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(B)


eindeutig: Der Mensch beginnt mit der Verschmelzung
von Ei- und Samenzelle. Wie anders kann man es auch er-
klären, dass vor zehn Jahren das Embryonenschutzgesetz
fast einstimmig verabschiedet worden ist?


(Margot von Renesse [SPD]: Das ist falsch!)

Angesichts der neuen Techniken und Heilungsverspre-

chen scheint das alles nicht mehr zu gelten. Plötzlich un-
terscheidet man zwischen Mensch und Person; von infla-
tionärem Gebrauch der Menschenwürde ist die Rede, ja
von abgestufter Menschenwürde. Die Deutsche For-
schungsgemeinschaft geht ausdrücklich so weit zu sa-
gen: Das Grundrecht auf Forschungsfreiheit kann höher
stehen als das Recht auf Leben. Das ist ein Satz, den ich
nach 1945 auch vor dem Hintergrund der Geschichte der
DFG nie mehr für möglich gehalten hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Meine Damen und Herren, ich muss auch dies sagen:
Herr Nida-Rümelin glaubt Menschenwürde nur bei dem
zu erkennen, bei dem die Selbstachtung verletzt werden
kann. Wenn wir diese Diskussion führen, dann werden wir
sie bald nicht nur über Embryonen, sondern auch über
Säuglinge, vor allen Dingen behinderte Säuglinge, über
Komapatienten und Menschen mit geistigen Behinderun-
gen führen.


(Jörg Tauss [SPD]: Absolut!)

Die Menschenwürde ist unantastbar. Dies ist ein

grundsätzliches Gebot, in der Tat ein Dogma. Da immer
von Fundamentalismus gesprochen wird, bekenne ich:
Ich bin in dieser Frage ein Fundamentalist.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!)

Unsere Verfassung enthält diesen Artikel vor dem Hinter-
grund unserer Geschichte. Wir können ihn mit keiner
Mehrheit ändern. Dabei soll es auch bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der PDS)


Verfolgt man die Debatten der letzten Monate und auch
die heutige Debatte, so scheint es überhaupt kein wichti-
geres Problem als die PID zu geben. Angeblich soll sie ja
nur bei 100 Paaren in Deutschland angewendet werden.
Die Forschungsministerin ist dafür, der Präsident der
Deutschen Forschungsgemeinschaft natürlich auch, die
Gesundheitsministerin ist zumindest nicht dagegen.
Kerngesunde Kinder wurden und werden auch heute ge-
netisch belasteten Eltern auf diesem Wege versprochen.

Ich spreche nicht nur von anderen, sondern auch aus Er-
fahrungen in meinem familiären Bereich. Ich kenne
Behinderungsformen von Hunderten und Tausenden
Betroffenen, die dankbar wären, wenn sie so viel Aufmerk-
samkeit von Bioethikräten, Kommissionen, Ärztekam-
mern, Forschungsorganisationen, Parteien und Regierun-
gen erhalten würden. Wir sollten uns um diese Menschen
kümmern,


(Zuruf von der SPD: Das tun wir doch auch!)

aber nicht mit Heilungsversprechungen für irgendwann,
in 50 Jahren, sondern für heute.

Vielen, die hier mit Barmherzigkeit und Mitleid argu-
mentieren, scheint es aber um etwas anderes zu gehen.
Denn wie ist es sonst zu erklären, dass die tatsächlichen
Fallzahlen der PID nicht zur Kenntnis genommen werden?

Ich will die größte Datenerhebung zu PID nennen. Sie
umfasste 886 Paare, die die PID in den letzten acht Jahren
in Anspruch nahmen. Trotz teilweise mehrfacher Versuche
haben von diesen 886 Paaren überhaupt nur 123 Paare ein
Kind bekommen. Also konnte nur jede siebte Frau ein Kind
austragen. Was machen wir aber mit der großen Zahl der
Frauen, den anderen sechs von sieben Frauen, die kein Kind
bekommen? Wenn man bedenkt, dass für diese 123 Gebur-
ten 6 465 Embryonen produziert worden sind, dann ist das
ein Menschenverbrauch, den ich nicht akzeptieren kann.

Auch das Argument, es gebe danach keine Abtreibun-
gen mehr, ist falsch. Die Statistik belegt, dass 4 Prozent
der Föten, also innerhalb des Mutterleibes, nach Pränatal-
diagnostik abgetrieben und 5 Prozent durch so genannte
Mehrlingsreduktionen, also durch das Abspritzen im Mut-
terleib, getötet wurden. Wer diesen Menschenverbrauch
leugnet, der macht sich nicht nur am menschlichen Leben
schuldig, sondern auch an den Eltern, die den Verspre-
chungen der PID-Befürworter glauben.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!)

Ich habe den Verdacht, es geht nicht um die angeführ-

ten 100 Paare, sondern darum, endlich Embryonen zu be-
kommen, um sie der Forschung zuzuführen.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Genau so ist es!)

Es geht auch darum, den Embryonenschutz zu knacken,
und darum, dass man statt mit Ratten- und Mäuseem-
bryonen endlich mit menschlichen Embryonen experi-
mentieren darf. Welche Embryonen eignen sich besser als
die – schon das ist ein schlimmer Begriff – überzähligen
der PID für die Keimbahntherapie? Denn wer diagnos-
tiziert, wird irgendwann auch therapieren.

Meine Redezeit ist leider zu Ende. Ich hätte noch vie-
les zu sagen, weil das Thema für mich sehr wichtig ist. Ich
möchte Sie zum Abschluss nur bitten – das ist ein Appell
an alle Kolleginnen und Kollegen –: Lassen Sie uns diese
Tür nicht aufmachen! Fördern wir die Genforschung, die
dem Menschen dient, und nicht diejenige, bei der der
Mensch der Forschung dient! Wir schaffen – auch das ist
meine feste Überzeugung – das Leid nicht aus unserer Ge-
sellschaft, indem wir die Leidenden aus unserer Gesell-
schaft entfernen. Eine Ethik des Heilens durch Töten darf
es nicht geben!

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417306300
Die meisten Kolle-
ginnen und Kollegen überziehen ihre Redezeit sehr weit.
Ich bitte, meine Milde zu beachten, die ich heute an den
Tag lege. Das liegt an dem Thema.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und der PDS)





Hubert Hüppe
16920


(C)



(D)



(A)



(B)


Nun hat das Wort die Kollegin Rita Grießhaber, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417306400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den
Schutz des Lebens, den wir alle wollen, und darüber, wie
er am besten zu erreichen ist, gibt es zwar in einer mo-
dernen, pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche
Auffassungen. Aber gerade in dem sensiblen Bereich der
Gentechnik sind Vorsicht und Umsicht dringend gebo-
ten. Auffallend ist, dass in den Feuilletons die Debatte
über dieses Thema meistens nur in höheren Sphären
schwebt: Es geht um Ethik, Medizin und deren Grenzen.
Es geht sehr selten um die Hauptakteure des Kinderkrie-
gens, die Frauen. Es geht auch selten darum, unter wel-
chen Umständen sie Kinder bekommen, und noch selte-
ner darum, unter welchen Bedingungen sie mit ihren
Kindern leben.

Die neuen Techniken schaffen einerseits neue Mög-
lichkeiten und andererseits neue Zwänge. Wie die vorge-
burtliche Untersuchung findet auch die Präimplantations-
diagnostik nicht in einem wertfreien Raum statt. Viele
befürchten, dass mit ihrer Einführung ein Dammbruch
eintritt, der zu unkontrollierter Selektion von krankem
oder behindertem Leben führt. Diese Befürchtung ist ver-
ständlich. Aber wer weiß, dass es weniger erblich be-
dingte Krankheiten als Schäden aufgrund von ärztlichen
Kunstfehlern bei der Geburt gibt – von Unfällen im spä-
teren Leben ganz abgesehen –, der hat verstanden, dass
der Traum vom gesunden Leben ohne Schmerzen eben
nur ein Traum ist.

Die PID ist ein rein diagnostisches Verfahren. Sie ist
keine Erbgutmanipulation. Sie verändert den Embryo
nicht.


(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist eine Selektion!)


Es erschließt sich mir nicht, warum eine Untersuchung in
der Petrischale, die später ohne weiteres im Mutterleib
gemacht werden kann, ohne Wenn und Aber kategorisch
verboten sein soll.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Warum soll die PID erst verboten werden, um später even-
tuell eine Abtreibung zu ermöglichen?

Um eines klarzustellen: Ich bin nicht für eine völlige
Freigabe der PID. Aber in begrenzten Ausnahmefällen
sollte sie möglich sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wer glaubt, mit einem rigorosen Verbotsdamm ließe sich
alles aufhalten, der irrt. Gesetze müssen lebbar sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ein Test, der ohne Probleme im Nachbarland gemacht
werden kann, wird von denen, die ihn unbedingt wollen,
auch gemacht. Statt genereller Verbote scheint mir ein

sorgsames Abwägen im Sinne der Betroffenen lebens-
näher zu sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Genauso wenig, wie ein Gentest erzwungen werden kann,
darf meiner Meinung nach der Gesetzgeber ihn unter al-
len Umständen verbieten.

Wer sich in den Wartezimmern der Frauenärzte und
-ärztinnen umschaut und die Statistiken kennt, der weiß,
dass Frauen ihren Kinderwunsch immer weiter hinaus-
schieben. Je älter sie und ihre Partner werden, desto be-
unruhigter stellen sie die Frage nach der Gesundheit des
Kindes und desto häufiger benötigen sie medizinische
Hilfe, um sich ihren Kinderwunsch überhaupt zu erfüllen.
Sie ahnen nicht einmal, auf was sie sich da einlassen, was
sie sich zumuten.

Die wenigsten Frauen kalkulieren späte Schwanger-
schaften. Es sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die
zu diesem Ergebnis führen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Wer diesen Umstand ausblendet, wird nie verstehen,
warum die Reproduktionsmedizin so boomt.

Gesetze sollten möglichst auch konsistent sein. Wer
schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle den
absoluten Schutz der Menschenwürde festlegt, muss fra-
gen, ob dann nicht auch Verhütungsmittel,wie zum Bei-
spiel die Spirale, verboten werden müssten.


(Zuruf von der F.D.P.: So ist es!)

Makaber wird es schließlich, wenn zur Rettung über-

zähliger künstlich hergestellter Embryonen zur Adoption
aufgerufen wird und Leihmütter für so genannte verwais-
te Embryonen als Gebärmaschinen gesucht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wer Gesetze in einer pluralistischen Gesellschaft macht,
muss sich auch fragen, ob in einer so bedeutenden Wert-
frage mittels Strafrecht alles rigoros verboten werden kann,
was weltanschaulich höchst verschieden gesehen wird. Un-
ser deutsches Trauma besteht doch darin, dass sich der NS-
Staat in fataler Weise anmaßte, mit seiner Eugenik über
„wertes“ bzw. „unwertes“ Leben zu entscheiden.

Ich ziehe daraus die Konsequenz, dass staatliche Ein-
griffe eingedämmt und individuelle Freiheitsrechte ge-
schützt werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Es gibt Wege, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ba-

lance herzustellen. Letztlich hat doch die Regelung des
§ 218 einerseits das Strafrecht begrenzt. Andererseits hat
die Praxis das Bewusstsein über den Schutz des Lebens in
dieser Gesellschaft grundlegend zum Guten verändert.
Ich finde, in dieser Richtung sollten wir weitergehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)





Vizepräsidentin Anke Fuchs

16921


(C)



(D)



(A)



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Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417306500
Jetzt hat das Wort der
Kollege René Röspel, SPD-Fraktion.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1417306600
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Bevor ich 1998 in den Bun-
destag gewählt wurde, habe ich mich fast fünf Jahre lang
am Uni-Klinikum in Essen wissenschaftlich und for-
schend mit der Frage befasst: Wie schafft es eigentlich ein
Embryo, sich in der Gebärmutter einzunisten? Je länger
ich mich mit dieser Frage befasste, wie dieser menschli-
che Zellhaufen in dem für ihn eigentlich unfreundlichen
Milieu des Uterus existieren kann, desto mehr wurde ich
gefangen von dem faszinierenden Geschehen der em-
bryonalen Entwicklung, das seit Jahrtausenden unbeob-
achtet und ungestört im Körper der Frau ablief.

Der Nobelpreisträger und Entdecker – nicht Erfinder! –
der Genregulation, der Genetiker François Jacob, hat
diese Faszination wie folgt ausgedrückt:

Das Unglaubliche besteht darin, dass nach der Be-
fruchtung der ersten Zelle das befruchtete Ei sich zu
teilen beginnt. Was zwei Zellen ergibt. Dann vier.
Dann acht. Dann eine kleine Traube von Zellen. Und
dass diese Traube sich dann an die Gebärmutterwand
hängt, länger wird, wächst und einige Monate später
einen Säugling bildet, der in mehr als 95 Prozent der
Fälle mit allem versehen ist, was er braucht, um zu
leben, die Welt zu durchstreifen und sogar um zu
denken. Dies ist das Wunder. Das ist das erstaunlichs-
te Phänomen, das sich auf dieser Welt abspielt. Der-
art erstaunlich, dass es für alle Menschen Gegenstand
einer tiefen Verwunderung sein müsste und sie nach
den Mechanismen fragen müssten, die einem solchen
Wunder zugrunde liegen.

Je mehr ich mich mit diesem Wunder auseinander
setzte, desto stärker wuchs in mir der Respekt vor dem
menschlichen Leben auch in seiner frühesten Form. Ich
bin heute noch sehr froh darüber, noch nie mit echten Em-
bryonen gearbeitet zu haben. Denn wir haben unsere Ar-
beit mit Krebszellen durchgeführt, die wir sozusagen als
Modell benutzt haben. Wir haben nicht mit echten em-
bryonalen Zellen gearbeitet, weil es in Deutschland ver-
boten ist, aber auch, weil wir es als ethisch nicht vertret-
bar hielten.

In anderen Ländern ist die Forschung an Embryonen
erlaubt. In den USA, in Israel, in Großbritannien sind bis
zum heutigen Tage etwa 50 000 Embryonen zu For-
schungszwecken verbraucht worden. Einen dieser Em-
bryonen habe ich im Januar dieses Jahres auf einem Sym-
posium in Essen „kennen gelernt“. Ein britischer Forscher
zeigte uns wie selbstverständlich das Dia einer Blastozys-
te, also eines menschlichen Embryostadiums, auf dem be-
stimmte Oberflächenmoleküle markiert waren. Es han-
delte sich übrigens um reine Grundlagenforschung, ohne
irgendeine Anwendung im Bereich der Gesundheit.

Das war zwar wissenschaftlich ohne Zweifel interes-
sant; aber es ging vielen deutschen Kollegen wie mir, als
sie sich fragten: Darf es so weit kommen, dass menschli-
che Embryonen wie selbstverständlich verarbeitet wer-
den? Dürfen wir die 150 – vielleicht sind es nur 15; die

Zahl ist noch offen – „überzähligen“ Embryonen aus
künstlichen Befruchtungen in Deutschland zu For-
schungszwecken benutzen? Wird die Begehrlichkeit nach
mehr begrenzt werden können? Wie realistisch sind die
Versprechungen, Krankheiten zu heilen oder zumindest
zu lindern?

Trotz der Faszination, die ich für das von mir geschil-
derte Wunder empfinde, sind für mich persönlich die Ar-
gumente, die Forschung an menschlichen embryonalen
Stammzellen zuzulassen, noch nicht gut genug, die
Versprechungen noch zu unrealistisch und der Preis noch
zu hoch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben noch längst nicht alle Möglichkeiten ausge-
schöpft, die uns zur Verfügung stehen. Wir müssen uns ei-
nes klarmachen: Es wird nie eine leidfreie oder auch nur
leidarme Gesellschaft geben können.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sehr richtig!)

In den zwei Jahren meiner Mitgliedschaft im Deut-

schen Bundestag habe ich gesehen, dass Abgeordnete
keine unverletzlichen Wesen oder besonders geschützte
Menschen sind, für die uns einige halten. Viele Kollegin-
nen und Kollegen haben in dieser kurzen Zeit wie die
Menschen, die wir vertreten, Leid erfahren müssen. Wenn
in nächster Zeit vielleicht wichtige Entscheidungen ge-
troffen werden müssen, dann dürfen sie nicht in den La-
bors getroffen werden, dann dürfen sie schon gar nicht an
der Börse getroffen werden, dann müssen sie in diesem
Hohen Hause getroffen werden. Es ist ein guter Ort dafür
und es ist der richtige Ort dafür.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417306700
Ich erteile dem Kolle-
gen Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1417306800
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Rote Gentech-
nik, Entscheidungen direkt für, gegen, am Leben – da for-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417306900
Scheuklappen ablegen, Leinen
los, Vorrang dem wirtschaftlichen Fortschritt!


(Jörg Tauss [SPD]: Hat er heute nicht gesagt!)

Der grünen Gentechnik – für sie spreche ich; denn ich
meine, dass sie zur Debatte des heutigen Tages gehört –
zieht er dagegen die Zwangsjacke an und hängt ihr den
Maulkorb um, obwohl er noch vor einem Jahr deren Per-
spektive als „Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts“
herausgestellt hat. So wird vielen Entwicklungen deutscher
Unternehmen, der Kompetenzzentren, der Forschungs-
einrichtungen die Praxisanwendung verweigert. Das
Dreijahresprogramm zum großflächigen Anbau gentech-
nisch fortentwickelter Pflanzen wurde vom Kanzleramt
– fertig ausgehandelt – zwei Tage vor Unterzeichnung ge-
kippt, und dies mit völlig unsachlicher Begründung.


(Jörg Tauss [SPD]: Welche Debatte führen wir hier eigentlich?)







(C)



(D)



(A)



(B)


Die noch zuvor herausgestellten Entwicklungschan-
cen, Herr Kollege, sind jetzt blockiert. Dabei gibt es in
Deutschland viele gute Ansätze: Kunststofffolien aus
Kartoffelstärke, Spinnenseide aus Tabakpflanzen, weni-
ger Chemie im Gemüseanbau, Einsparungen von Insekti-
ziden bei Maispflanzen, Einsparungen von Herbiziden
beim Zuckerrübenanbau, bessere Ausnutzung von nach-
wachsenden Rohstoffen, Einsparungen von Energie und
Kosten in der Verarbeitung. Dies alles sind Entwicklun-
gen, die bei uns vor Ort stattfinden.

Wenn ich dies vortrage, dann wird auch den Fachleu-
ten erkennbar: Die CDU ist, was grüne Gentechnik an-
geht, nicht der Werbetrommler der internationalen Kon-
zerne, auch wenn dies einer der ebenso beliebten wie
falschen Vorwürfe der Gentechnikgegner ist. Andererseits
hat der Anbau internationaler Produktlinien – jährlich ge-
schieht dies weltweit auf einer Fläche von über 40 Milli-
onen Hektar – dazu beigetragen, den Bedenkenträgern die
Argumente zu nehmen; denn die Prognosen sind nicht
Realität geworden. Im Gegenteil: Es gab wesentliche Vor-
teile, wie die Reduzierung von Erosionsproblemen oder
die Verminderung des Chemieeinsatzes. Auch deshalb ist
es längst überfällig, in Deutschland endlich eigene Erfah-
rungen im großflächigen Anbau zu machen – unter Be-
obachtung der Wissenschaft, mit Auswertung durch die
Züchter und die Experten sowie unter den Augen von Öf-
fentlichkeit und Journalisten.

Der Abgeordnete Schröder hat heute Morgen gesagt
– das ist das wichtigste Element –, dass wir eine Gesell-
schaft brauchen, die Bescheid weiß. Ich füge hinzu: Wir
brauchen dann auch die Kommunikation mit den Ver-
brauchern: Denn welcher Verbraucher weiß wirklich et-
was über Chancen, Potenziale, Bedingungen der Bio- und
Gentechnik in Ernährung und Umwelt?

Wie sehr sich die Bundesregierung hier drückt, zeigt
das Argument, der Verbraucher wolle keine Produkte der
Gentechnik. Das ist aber doch nichts anderes als das Ein-
geständnis: Wir haben die Bürger nicht informiert. Oder:
Wir wollen sie nicht informieren.


(Monika Ganseforth [SPD]: Was ist das für eine Logik?)


Dazu passt auch die gegenwärtige Linie Ihrer zuständigen
Ministerin Künast. Sie verfolgt offenbar das Ziel, grüne
Gentechnik gänzlich totzuschweigen und das bisher zarte
Pflänzchen verdorren zu lassen.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Dagegen hat die CDU/CSU bereits 1990 mit dem Gen-
technikgesetz Maßstäbe gesetzt, die sich bis heute be-
währt haben. Seitdem gilt in Deutschland für die Gen-
technik: Sicherheit von Anfang an, Sicherheit Schritt für
Schritt, eine an jede einzelne Entwicklung angepasste Si-
cherheitsforschung und Sicherheitsrabatt an keiner Stelle.
Das muss man den Bürgern deutlich sagen. Ebenso ein-
deutig waren und sind wir für die Kennzeichnung gen-
technischer Produkte. Das heißt aber auch Festlegung von
standardisierten Testverfahren und Grenzwerten sowie
eine europäische Vereinheitlichung.

Wir sind in dieser Technologie für Offenheit und
Transparenz gegenüber unseren Bürgern. Warum sollten
wir verheimlichen, dass seit Jahren Tausende von Schiffs-
ladungen von gentechnisch verbessertem Soja oder Mais
in Deutschland verfüttert und verarbeitet werden, und
zwar ohne jede negative Erkenntnis? Immerhin werden in
unserem Land in diesem Jahr 1 000 Hektar als Versuchs-
fläche ausgewiesen, was mit Vorteilen und nicht mit Pro-
blemen verbunden ist.

Warum – so frage ich – schaffen wir nicht auch in die-
sem Bereich ein Zehn-Jahres-Zukunftsprogramm für die
Entwicklung der biotechnischen Potenziale in Ernährung,
natürlicher Rohstoffversorgung, Energieeinsparung und
Umweltentlastung analog zur roten Gentechnik? Warum
fördern wir nicht die Einbindung gentechnischer Grund-
methoden in den Biologieunterricht unserer Schulen?

Deutschland muss heraus aus seiner Verweigerungs-
ecke, was diese Technologie betrifft. Es muss auch bei der
grünen Gentechnik heißen: Fortschritt in Verantwortung
statt weiterer Erhöhung rot-grüner Ideologiebarrieren.
Die Forschung, die wissenschaftlichen Einrichtungen, die
Kompetenzzentren und die Unternehmen brauchen auch
in Deutschland die Chance, zu beweisen, dass grüne Gen-
technik genauso voller Fortschritt für den Menschen ist
wie die Humangenetik.

Lassen Sie mich mit einer Bemerkung schließen. Vor
zehn Jahren noch wurde der Einbau eines menschlichen
Gens in ein Bakterium als Horrorvision dargestellt. Heute
lehnt keiner mehr Insulin aus gentechnischer Produktion
ab. Deshalb ist es heute unsere Verpflichtung, solche
Chancen auch in der grünen Gentechnik für die nächste
Generation zu eröffnen. Gehen Sie auf diesem Weg mit,
statt ihn weiter zu blockieren!

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417307000
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Karin Kortmann.


Karin Kortmann (SPD):
Rede ID: ID1417307100
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Sorge um die Chancen und
Risiken, um den notwendigen Fortschritt und die gebo-
tene Grenzziehung treibt mich ebenso wie viele andere in
unserer Gesellschaft und auch in diesem Parlament um.
Liegt doch die größte Verantwortung für uns in der Ab-
wägung in dem nicht zu leugnenden Konflikt zwischen
den lebens-, den überlebensnotwendigen Forschungen in
der Medizin und der Beachtung und Einhaltung ethischer
Grundlagen.

Als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Ka-
tholiken trete ich seit der Beschlusslage im Mai wie viele
andere in diesem Hause für die Erarbeitung eines umfas-
senden Fortpflanzungsmedizingesetzes ein, welches den
neuen biomedizinischen Entwicklungen Rechnung trägt,
das aber auch nicht hinter den Schutzrahmen des gelten-
den Embryonenschutzgesetzes von 1990 zurückgehen
darf.




Helmut Heiderich

16923


(C)



(D)



(A)



(B)


Präimplantationsdiagnostik, Forschung an embryona-
len Stammzellen und therapeutisches Klonen erscheinen
für viele kranke Menschen oder auch für Paare, die sich
sehnlichst und auch mit Recht ein gesundes Kind wün-
schen, als der letzte Rettungsanker. Wer will diesen Men-
schen die notwendige Hilfe verwehren und vor allem mit
welchem Recht?

Wir haben die Chance, die Entstehung von Krankhei-
ten und ihren Ablauf besser zu durchschauen. Chancen
gibt es sowohl auf der diagnostischen als auch auf der the-
rapeutischen Ebene. Wir müssen uns darin einig sein, dass
wir auf das Genwissen nicht verzichten können. Aber ver-
heißen uns manche Forscher nicht auch Aussicht auf Hilfe
und Linderung, die sie zum jetzigen Forschungsstand lei-
der niemandem garantieren können und dürfen? Diese
menschliche Hoffnung auf den medizinisch-technischen
Fortschritt darf aber doch niemals dazu führen, die Be-
dingungen für die Forschung und die Menschenwürde auf
ein und dieselbe Stufe der Abwägung zu stellen. Vielmehr
sind doch die Forscher ebenso wie wir alle an ethische
Maßstäbe gebunden.

An der Menschenwürde findet die Forschungsfreiheit
ihre Grenzen, damit diese nicht zu unmenschlichen Kon-
sequenzen führt.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS])

Darauf haben in den vergangenen Wochen viele Verbände
und Organisationen in Schreiben an uns hingewiesen. Ich
danke den Kirchen für ihre wertvollen Beiträge. Die Deut-
sche Bischofskonferenz warnt beispielsweise mit Recht
davor, zu glauben, die Fragen der Gentechnik mithilfe von
Mehrheitsentscheidungen klären zu können, und appel-
liert an die Forscher, dass sie die menschendienliche Pers-
pektive nicht aus den Augen verlieren.


(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD])

Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist

Aufgabe aller staatlichen Gewalt; dazu verpflichten uns
das Grundgesetz und die grauen- und leidvollen Erfah-
rungen der nationalsozialistischen Zeit. Deshalb geht es
bei der Gentechnik nicht allein um einzelne individuell zu
beantwortende Problembereiche, sondern in dieser De-
batte geht es vor allem um die zukünftige ethische und
moralische Verfassung unserer Gesellschaft. Wie viel
wollen wir bestimmen, was wollen wir festlegen, was ist
für uns wertvoll, was ist für uns wertlos, was ist schüt-
zenswert und was ist aufgebbar?

Die so genannte Menschheitsformel des kategori-
schen Imperativs von Kant bietet hier Orientierung. Der
Kollege Michael Müller hat darauf hingewiesen, ich zi-
tiere sie gerne noch einmal, weil wir sie als Handlungs-
rahmen nicht außer Acht lassen dürfen. Kant sagte:

Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner
Person als in der Person eines jeden anderen, jeder-
zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brau-
chest.

Setzen wir uns gemeinsam, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, dafür ein, die Gentechnik für einen Fortschritt und
für ein Leben nach menschlichem Maß zu nutzen, wie es

der Bundespräsident in der vergangenen Woche ange-
mahnt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417307200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1417307300
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Klon-Schaf Dolly,
die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und Be-
richte über angebliche Designerbabys entfachen einen
Streit im Spannungsfeld zwischen Menschenwürde und
Forschungsfreiheit. Wir erleben eine Spannbreite der Dis-
kussion von der Voraussage der Apokalypse einerseits
und Heilsversprechen der Wissenschaft andererseits.
Viele Fragen müssen geklärt werden. Die Antworten auf
diese Fragen wird uns jedoch kein Rat, auch kein Natio-
naler Ethikrat, geben können. Am Ende der Debatte steht
eine Entscheidung hier im Deutschen Bundestag.

Ich persönlich führe meine Überlegungen in dem be-
sonderen Spannungsfeld als Mutter, Christin und Natur-
wissenschaftlerin. Die Sorge um meine Tochter begleitet
mich seit dem Moment, in dem ich erfuhr, dass ich ein
Kind erwarte. Meine ersten Fragen bei den Vorsorgeun-
tersuchungen beim Arzt lauteten jeweils, ob alles in Ord-
nung sei und das Baby gesund sei. Sind solche Fragen
diskriminierend? Die Frage: „Was wäre, wenn ...?“ be-
schäftigt uns noch immer. Ich denke an meine amerikani-
schen Gasteltern, die drei von sieben Söhnen verloren.
Alle starben zwischen dem zwölften und sechzehnten Le-
bensjahr an einer tödlichen Erbkrankheit, der Duchenne-
Muskeldystrophie. Mir fährt es kalt den Rücken herunter,
wenn ich lese, dass in Paris ein PID-Kind zur Welt kam,
dessen Eltern zuvor zwei Kinder begraben haben, weil sie
einem tödlichen Leberleiden erlagen. Es ist mir unmög-
lich, Ihnen unmoralisches Handeln zu unterstellen.

In Deutschland ist die PID unzulässig. In zehn Ländern
Europas ist die PID erlaubt. Ich erlaube mir den Hinweis,
dass nationale Sonderwege ethische Probleme ganz eige-
ner Art nach sich ziehen. Ich sehe die PID als Erweiterung
des Spektrums der vorgeburtlichen Diagnostik. Interes-
siert beobachte ich die Haltung einiger Teile der jetzigen
Koalition und Regierung, in der ich gewisse Wider-
sprüche ausmache. Der Philosoph Robert Spaemann
sagte:

Konsequenz im Denken und im Handeln ist nur dort
eine Tugend, wo man den richtigen Anfang gemacht
hat.

Nun weiß ich im Kontext der heutigen Debatte nicht, ob
Mitte der 90er-Jahre einige Teile der jetzigen Koalition
bei der Reform des § 218 StGB den richtigen Anfang ge-
macht haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zurück zur PID. Das Töten des Embryos in vitro ist

strafbewehrt, die eines Embryos in utero jedoch straffrei.
Gespräche mit Seelsorgern und betroffenen Paaren über-




Karin Kortmann
16924


(C)



(D)



(A)



(B)


zeugten mich: Wer sich der Tortur – und ich sage bewusst
„Tortur“ – einer PID unterzieht, will unbedingt ein Kind,
kein perfektes, sondern eines, mit dem die Eltern gemein-
sam alt werden können.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Die Praxis spricht aber eine andere Sprache!)


Impliziert ein dezidiertes Nein zur PID nicht auch ein
tiefes Misstrauen gegenüber Eltern, Ärzten und Human-
genetikern, eine Diagnose nicht rechtgemäß anzuwen-
den? Wenn die PID auf wenige Fälle begrenzt wird, wenn
die Beratungspflicht hinzutritt und wenn die endgültige
Entscheidung über jeden Einzelfall einem unabhän-
gigen Gremium übertragen wird, dann sehe ich die
Voraussetzungen für die Zulassung der PID in Deutsch-
land gegeben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Ich habe mir diese Position nicht leicht gemacht, vor
allem nicht als Christin. Als Naturwissenschaftlerin weiß
ich, dass wir am Beginn und am Ende des Lebens eben
nicht allein objektives Wissen zur Grundlage unserer An-
schauungen machen können. Dort endet Wissen, dort be-
ginnt der Glaube. Ich glaube, dass wir aufgrund unserer
Ebenbildlichkeit zu Gott verantwortlich mit der Schöp-
fung umgehen müssen. Und doch sage ich gerade als
Christin, dass die Pflicht zur Hilfe durch Heilung und
Leidminderung nicht gering zu schätzen ist. Wer fühlt
sich nicht hilflos gegenüber dem Leid von Kranken,
gegenüber dem Leid der Angehörigen? Die Spreche-
rin der Deutschen Krebshilfe sagt heute in der „Frank-
furter Allgemeinen Zeitung“: „Da ist viel Verzweiflung
im Spiel ...“

Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer
oder Parkinson wird in Zukunft die Stammzellenfor-
schung helfen. Stammzellen haben ihr Potenzial ferner
bei der Behandlung von Rheuma, von Herzkreislauf-
erkrankungen oder von Querschnittslähmung unter Be-
weis gestellt. Adulte Stammzellen haben sich als Alterna-
tiven etabliert. Was aber, wenn die Forschung an adulten
Stammzellen nicht zum Ziel führt oder man die Mecha-
nismen der Zellentwicklung nur an embryonalen Zellen
erforschen kann, um als Ziel die adulten Stammzellen für
die Heilung von Krankheiten nutzbar machen zu können?

Die Forschungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz
ist durch andere Verfassungsgüter eingeschränkt. Bei der
Beurteilung der Forschung an Stammzellen sind die Art und
Weise der Gewinnung, die angewandten Methoden und die
verfolgten Ziele zu unterscheiden. Können wir es rechtfer-
tigen, deutschen Patienten Behandlungsmöglichkeiten zu
verwehren, weil diese mithilfe von in Deutschland nicht zu-
gelassenen Verfahren zustande gekommen sind? Oder im-
portieren wir am Ende Therapien, deren Erforschung wir
mit von hoher Moral getragenem Haupt ablehnen, deren Er-
gebnisse wir aber annehmen, um Gutes zu tun?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir können uns bei der Beantwortung solch schwieri-
ger Fragen Zeit lassen. Da es nie allein um die Frage geht,

ob wir das, was wir tun können, auch tun dürfen, sondern
auch um die Frage, ob wir es unterlassen dürfen, müssen
wir das Ganze sehr genau prüfen. Der Mensch ist ein Ver-
nunftwesen mit Moral, was ihn zum Handeln mit Augen-
maß befähigt. Die Intention des Heilens ist eine zutiefst
christliche. Die Moral des Augenmaßes muss sich auch
bei der Bewältigung des Wissenszuwachses in der Bio-
medizin bewähren und es ermöglichen, dieser Intention
gerecht zu werden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417307400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.


Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1417307500
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Eine Gleichsetzung des Embryos mit dem geborenen
Menschen ist nicht angemessen.

Und:
Forschung am Embryo ist vertretbar, wenn der Em-
bryo überzählig ist und ohnehin sterben wird.

Dies sind Zitate aus der Benda-Kommission, eingesetzt
vom früheren Bundeskanzler, übrigens zu einem Zeit-
punkt – der Kollege Merz ist nicht mehr da –, als der Bun-
destag ebenfalls eine Enquête-Kommission eingerichtet
hatte. Wir sollten uns also hier nicht mit Dingen beschäf-
tigen, die schon in der Vergangenheit ganz anders waren.

Dass wir heute über Bio- und Gentechnologie als
Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts diskutieren,
zeigt, dass wir mit Ambivalenzen zu tun haben. Auf der
einen Seite haben wir mit enormen Ängsten zu tun, die
auch heute zum Ausdruck gebracht worden sind. Auf der
anderen Seite haben wir mit Hoffnungen zu tun, von de-
nen ich meine, dass sie zum Teil, zumindest nach dem
heutigen Stand, übersteigert sind. Wir sollten bei vielen
Kranken nicht übersteigerte Hoffnungen wecken. Über
vieles, was wir heute diskutiert haben, wird erst in den
nächsten Jahren, möglicherweise Jahrzehnten, als Ergeb-
nis berichtet werden können.

Die Debatte ist, glaube ich, deswegen so engagiert,
weil sie eng mit unserer komplexen Gesellschaft ver-
flochten ist, die nicht nur komplex ist, weil sie in vielen
Punkten kompliziert wird, sondern auch deshalb, weil sie
keinen Ort mehr kennt, an dem allgemeingültige und uni-
verselle Antworten und Wahrheiten begründet werden
können. Sie ist auch deshalb komplex, weil weder öko-
nomische Nutzenkalküle noch wissenschaftliche Rationa-
lität, aber auch nicht allein die Religion oder einzelne Ju-
risten für die Gesellschaft als Ganzes sprechen können.

Vieles von dem, was irgendwann einmal als undenk-
bar, unsittlich oder unmoralisch erschien, wird heute ganz
anders bewertet. Das gilt für den legalen Abbruch von
Schwangerschaften, das galt im Mittelalter für das Öffnen
von Leichen zum Zwecke der Wissenschaft oder das gilt
für das Austragen des Kindes einer unfallverletzten Frau,




Katherina Reiche

16925


(C)



(D)



(A)



(B)


bei der der Hirntod festgestellt wurde. Über diese Tabu-
brüche reden wir. Ich denke, wir reden nicht über Ver-
brechen der Vergangenheit. Ich würde mich als For-
schungspolitiker dagegen wehren, dass die Arbeit der
Deutschen Forschungsgemeinschaft und von vielen Bio-
technikern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern in diesem Lande mit jenen Verbrechen gleichgesetzt
wird. Das hat nichts miteinander zu tun. Diese Grenze
sollten wir auch heute deutlich ziehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)


Dass gerade die Philosophie und natürlich auch die
Theologie diese Fragestellung verstärkt aufgreifen müs-
sen, wie wir gerade hier gehört haben, ist gerechtfertigt.
Ich bedaure, dass die Geisteswissenschaften, die im-
merhin fast 20 Prozent des Etats der DFG bekommen,
sich bei dieser Debatte mit Beiträgen noch immer bemer-
kenswert zurückhalten. Ich würde mir wünschen, dass es
auch aus diesem Bereich mehr Beiträge gäbe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt keine kategorischen Antworten. Ich zitiere das

Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das gesagt hat,
die Forschung könne das Gesamt der Forschung nicht
überblicken. Das ist wahr. Im Umkehrschluss heißt dies
aber auch, dass eine Amtskirche das Gesamt der Gesell-
schaft nicht überblicken kann, genauso wenig wie der Flü-
gel einer Partei dies könnte. Deshalb will ich ein paar
Punkte benennen, bei denen aus forschungspolitischer
Sicht meiner Auffassung nach die Grenzen liegen.

Zunächst will ich keinen Schutz weniger Zellen im
Reagenzglas, der stärker wäre als beispielsweise der
Schutz der Embryonen im Mutterleib. Das ist nicht mein
Verständnis von Menschenwürde. Es kann und darf keine
„Züchtung“ von Menschen geben. Kürzlich hat jemand
gesagt: Wenn Eltern viel Geld für Privatschulen für ihre
Kinder ausgeben, was man ihnen nicht übel nimmt, dann
würden sie auch intelligente Kinder gezüchtet haben wol-
len. – Ich halte dies für eine Überschätzung der gentech-
nischen Möglichkeiten. Kinder, Menschen sind mehr als
nur Zellen, sie sind mehr als nur möglicherweise im Rea-
genzglas erzeugte Gebilde, die beliebig manipulierbar
sind. Wir könnten im Grunde genommen auch die Bil-
dungspolitik einstellen, wenn wir davon ausgingen, dass
man alles im Reagenzglas züchten könnte. Aber eine sol-
che Züchtung darf es nicht geben und bei PID geht es auch
nicht darum.

Es darf keine Eingriffe in die Keimbahn geben. Der ge-
netische Neuentwurf des Menschen ist nicht das Thema,
über das wir hier diskutieren; er ist auch nicht angestrebt.

Die Erzeugung von Embryonen für Forschungszwecke
lehne ich ebenso ab. Im Gegensatz zu manch pessimisti-
scher Aussage, die wir heute gehört haben, sage ich deut-
lich: Das könnten wir als Gesetzgeber verhindern; wir
wären dazu in der Lage.

Aus diesem Grunde will ich mit einem Zitat von Robert
Leicht aus der heutigen „Zeit“ schließen. – Ich hoffe, wir
sind davor bewahrt, eine ideologisierte Debatte zu führen,

die möglicherweise nur zu Schärfen führt, die schwer
zurückholbar sind. – Robert Leicht hat gesagt: „Ethischer
Maximalismus im Gewand staatlicher Gesetze – das wäre
... der Schritt vom Fundament zum Fundamentalismus.“
Allen, die der Auffassung sind, dass wir diesen Schritt
zum Fundamentalismus gehen sollten, sage ich: Ich
würde nicht mitgehen, selbst dann nicht, wenn er unter
dem Deckmantel der Menschenwürde daherkäme.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417307600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1417307700
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte hat
viele Aspekte, ganz gewiss auch rechtspolitische Aspekte.
Es geht angesichts der ungeheuren Möglichkeiten, die die
Humangenetik uns heute bietet, natürlich auch um die
Frage der Grundprinzipien unserer verfassungsmäßigen
Ordnung.

Die Unionsfraktion hat aufgrund ihres Selbstverständ-
nisses schon immer Wert darauf gelegt, dass wir von die-
ser Grundordnung nicht durch falsche Weichenstellungen
weggeführt werden. Wir haben deshalb schon im Jahre
1990 das Embryonenschutzgesetz vorgelegt, das hier
von allen gelobt worden ist.

Unsere Verfassung hat sich für eine wertgebundene
Grundordnung entschieden, an deren Anfang der klassi-
sche Satz „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott
und den Menschen ...“ steht und in deren Mittelpunkt der
Mensch, sein Recht auf Freiheit, sein Recht auf Leben und
sein Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde stehen.
Diese Grundrechte überragen unsere gesamte Rechts-
ordnung. Sie finden sich nicht in gleichem Maße, in die-
ser herausragenden Stellung, in anderen Verfassungen.
Das hat nichts mit einer Abwertung anderer Verfassungen,
sondern mit unserer Geschichte und den leidvollen Erfah-
rungen zu tun, die anderen Völkern erspart worden sind.
Darauf hat das Verfassungsgericht immer wieder hinge-
wiesen, in einer sehr markanten Weise in einem Urteil
vom 25. Februar 1975 zur Fristenregelung.

Die entscheidende Frage, die uns hier bewegt, ist, ob
dem Embryo im Reagenzglas das gleiche Recht auf Le-
ben und die gleiche Würde zustehen wie dem geborenen
Menschen oder dem noch nicht geborenen Menschen. Wir
wissen, dass von Anfang an menschliches Leben besteht;
das wird hier von niemandem bestritten. Aber gibt es ei-
nen graduellen Unterschied in der Schutzpflicht des Staa-
tes im Hinblick auf das Recht auf Leben und auf das Recht
auf die Unantastbarkeit der Würde? Auch hierzu gibt es
Entscheidungen des Verfassungsgerichtes, die im Zusam-
menhang mit dem Recht des Embryos in vivo, das heißt
im Mutterleib, stehen. Ich erinnere an die Entscheidungen
von 1975 und von 1993. Hier hat das Verfassungsgericht
nach meiner Auffassung ganz klar festgestellt – das ergibt
sich aus der Logik dieser Entscheidungen –, dass der
Mensch von Anfang an Mensch ist, dass ihm von Anfang
an das Recht auf Leben zusteht und dass er von Anfang an
auch das Recht auf die Unantastbarkeit seiner Würde hat.




Jörg Tauss
16926


(C)



(D)



(A)



(B)


Nun ist die Frage, ob einem Embryo im Reagenzglas
– trotz der Technizität seiner Zeugung aufgrund der Tat-
sache, dass er am Anfang nicht in vivo, sondern in vitro
lebt nicht in gleichem Maße zuzuerkennen sind, wie dies
für den Embryo im Mutterleib gilt. Ich glaube, dies trifft
zu. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Rechte nicht
schon bei einem Embryo im Reagenzglas anzuerkennen.
Alles andere stünde im Widerspruch zur Logik unserer
Rechtsordnung.

Das hat Folgerungen für die Präimplantation und
natürlich auch für die Forschung an Embryonen. Denn
wenn dem Embryo das Recht auf Leben ungeteilt zusteht
und wenn er ein ungeteiltes Recht auf die Unantastbarkeit
seiner Würde hat, dann ist die Forschung an Embryonen
nicht möglich. Dies gilt dann ganz gewiss für die Herstel-
lung von Embryonen zu Forschungszwecken, die ja auf-
grund unseres Embryonenschutzgesetzes nicht möglich
ist. Aber das gilt auch für die „überzähligen“ Embryonen,
wobei ich bitte, das Wort „überzählig“ immer in An-
führungszeichen zu setzen. Denn es erinnert allzu sehr an
Vorgänge, an denen wir noch heute schwer zu tragen ha-
ben. Man soll in diesen Fragen mit der Semantik vorsich-
tig umgehen.

Ich glaube, dass für „überzählige“ Embryonen das
gleiche Recht gelten muss wie für Embryonen, die zu For-
schungszwecken hergestellt werden. Das heißt, eine For-
schung an solchen Embryonen darf nicht möglich sein.
Unsere Verfassung verweist unsere Forschung auf andere
Wege und diese Wege führen vielleicht eher zum Ziel,
weil sie, wie ich meine, das Humanum mehr achten und
weil sie, wie ich meine, mehr im Einklang mit unserer
Schöpfung stehen.

Das gilt aber auch für die Präimplantationsdiagnostik;
denn hier geschieht keine reine Diagnose. Sie wird viel-
mehr angewandt, um zu selektieren. Nur gesunde Em-
bryonen sollen übertragen werden. Hier meine ich, dass
der Vergleich zwischen Präimplantationsdiagnostik und
Pränataldiagnostik, das heißt der Vergleich zwischen ei-
nem Embryo im Reagenzglas, also außerhalb des Mutter-
leibes, und einem Embryo im Mutterleib durchaus ange-
zeigt erscheint. Ich sehe im Grunde keinen Unterschied
zwischen der Tötung des Embryos im Reagenzglas und
einer Abtreibung. Es wird immer eingewandt, bei der
Abtreibung komme die Konfliktsituation der Frau mit ins
Spiel. Das mag richtig sein, aber genau dieselbe Kon-
fliktsituation kann bei einer bewussten Übertragung eines
im Reagenzglas befindlichen kranken Embryos in den
Mutterleib gegeben sein. Hier besteht also im Grunde ge-
nommen kein Unterschied.

Das kann aber wiederum nicht heißen, dass wir es
dann, wenn wir es hier erlauben, auch dort erlauben. Wir
müssen uns vielmehr die Frage stellen, ob diese Gesetzes-
praxis, die in unserem Land insbesondere für die Spätab-
treibung gilt, noch verfassungskonform ist, das heißt, im
Einklang mit unserem Grundgesetz steht. Diese Frage
darf hier nicht tabuisiert werden; denn es geht auch um ei-
nen Vergleich mit der Spätabtreibung.

Da der Embryo im Reagenzglas einer fast unkontrol-
lierbaren Gefährdung ausgesetzt ist, stellt sich noch eine
weitere Frage, der man nicht ausweichen kann, nämlich,

ob die Zeugung im Labor richtig sein kann. Wenn man
diese Frage bejaht, muss aber die Gesellschaft Regelun-
gen treffen, um diese Gefährdung zu reduzieren. Ich
meine, das sollten wir bei künftiger Gesetzgebung mit
berücksichtigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Würde
des Menschen und sein Recht auf Leben sind keine heh-
ren Ziele unserer Verfassung, sondern sie sind das Mini-
mum, das der Staat seinen Menschen zu gewähren hat.
Dieses Minimum steht auch dem Embryo im Reagenzglas
zu.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417307800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Hanna Wolf.


Hanna Wolf (SPD):
Rede ID: ID1417307900
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
mich in meinem Beitrag mit den Versprechungen und Ri-
siken der Präimplantationsdiagnostik – kurz PID – für
Frauen auseinander setzen. Die Frauen kommen in der
derzeitigen Diskussion kaum mehr vor.


(Beifall der Abg. Ilse Janz [SPD] und der Abg. Angelika Volquartz [CDU/CSU])


Heute haben Gott sei Dank einige Kollegen darauf abge-
hoben. Ich will die Frauen wieder ins Zentrum rücken und
ich werde begründen, warum ich die PID ablehne.

Zur Vorgeschichte: Ohne künstliche Befruchtung im
Reagenzglas fände heute keine Debatte über PID statt.
Diese künstliche Befruchtung wird unfruchtbaren Frauen
angeboten. Sie ist keine Heilung im ärztlich-ethischen
Sinn, sondern eine Art Dienstleistung. Sie geht von der
falschen Vorstellung aus, es gäbe ein Recht auf ein gene-
tisch eigenes Kind. Die künstliche Befruchtung in vitro
verlangt zunächst eine hormonelle Überstimulation und
eine operative Eizellenentnahme. Sie ist nur in maximal
20 Prozent der Fälle erfolgreich. Die physischen und psy-
chischen Folgen dieser so genannten Behandlung sind
bisher nicht in Langzeitstudien erforscht. Bei dieser
künstlichen Befruchtung entstehen mehrere Embryonen.
Deshalb ist dies für mich bereits der Dammbruch hin zur
Embryonenproduktion.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Unfruchtbare Frauen stehen unter Druck. Das vermeintli-
che Recht auf ein genetisch eigenes Kind kann zum psy-
chischen Zwang werden.

Nun zur PID. Sie bezieht sich im Prinzip nicht auf un-
fruchtbare, sondern auf fruchtbare Frauen. Sie könnten je-
derzeit ein Kind bekommen, allerdings mit dem Risiko ei-
ner Erbkrankheit. Auch diese fruchtbaren Frauen werden
einer hormonellen Überstimulation und einer operativen
Eizellenentnahme unterworfen. Hierfür werden noch
mehr Embryonen als für die In-vitro-Fertilisation be-
nötigt.




Norbert Geis

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(C)



(D)



(A)



(B)


Die Entscheidung, welche Embryonen eingepflanzt
werden, fällen Spezialisten im Labor – nicht die Frau. Ob
das Kind wirklich ein Risiko trägt, kann aber endgültig
erst während der Schwangerschaft festgestellt werden,
wenn überhaupt. Dann allerdings entscheidet die Frau, ob
sie sich im Konflikt sieht und wie sie sich zu dieser Tat-
sache verhalten will. Der Konfliktfall gemäß § 218 StGB
bezieht sich nur auf die Einheit in der Zweiheit zwischen
Frau und Fötus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Fötus kann nur mit der Frau geschützt werden. Um
dieser Schutzmöglichkeit willen gibt es den Kompromiss
der Straffreiheit bei Abtreibung.

Was ist aber durch PID geschehen? Aus dem ver-
meintlichen Recht auf das genetisch eigene Kind ist ein
vermeintliches Recht auf ein genetisch eigenes gesundes
Kind geworden. Für die Frau entsteht weiter Druck. Ein
nicht gesundes Kind kann ihr zum Vorwurf gemacht wer-
den, vom Partner, von der Familie, von der Gesellschaft.
Eine perfekte Mutter muss also ein perfektes Kind zur
Welt bringen.

Die PID löst auch Begehrlichkeiten auf überzählige
Embryonen aus, für embryonale Stammzellenforschung,
für das therapeutische Klonen, für die so genannte Spende
von Eizellen für unfruchtbare Frauen.

Die Gewinnung von Eizellen für diese Zwecke würde
über kurz oder lang folgen, der Bedarf würde ansteigen.
Eizellen werden aber nicht gespendet wie Blut. Ihre Ge-
winnung ist mit erheblichen gesundheitlichen Risiken
für die Frauen verbunden. Ein Handel übelster Art könnte
beginnen. Die Worte „Zweck“ und „Gewinnung“ von
Embryonen ist nach meiner Meinung mit Art. 1 des
Grundgesetzes unvereinbar: „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“ – nicht nur die Würde werdenden Lebens,
sondern auch die Menschenwürde der Frauen.

Ich lehne also die PID aus moralischen, physischen,
psychischen und sozialen Gründen ab. In dieser Ableh-
nung weiß ich mich einig unter anderem mit dem Deut-
schen Ärztinnenbund.

Huxley hat schon 1932 in seinem utopischen Roman
„Schöne neue Welt“ mögliche Entwicklungen der Biome-
dizin, nämlich die Ablösung der menschlichen Geburt
vom mütterlichen Körper und die Selektion der Embryo-
nen, nicht als Heilsbotschaft für Frauen, sondern als War-
nung verstanden. Wir dürfen seine Warnung auch im
neuen Jahrtausend nicht überhören.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417308000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Kues.


Dr. Hermann Kues (CDU):
Rede ID: ID1417308100
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den Fragen, die wir

heute diskutieren, kann niemand die Verantwortung an je-
mand anders delegieren, sondern jeder muss sich infor-
mieren, wir müssen Argumente austauschen und wir müs-
sen uns schließlich ein Urteil bilden. Das gilt für Forscher,
das gilt für Anwender, das gilt für Nutzer und das gilt für
Politiker gleichermaßen.

Ich sage ausdrücklich: Moral ist keine Frage von Ex-
perten oder Fachgremien. Es genügt auch nicht, zu sa-
gen, ich bin Forschungspolitiker, Rechtspolitiker. Die Un-
terscheidung zwischen Richtig und Falsch in der
zentralen Frage und die Unterscheidung zwischen Gut
und Böse ist jedem Menschen zuzumuten. Ich bin dafür,
dass wir diese Debatte in Klarheit und Ernsthaftigkeit
führen, ohne dass wir anderen Fortschrittsfeindlichkeit
oder Ideologiebehaftetheit vorwerfen. Dazu passt auch
nicht – das muss ich hier ebenfalls sagen –, dass der Bun-
deskanzler bereits in einer sehr frühen Phase die Kirchen
und damit auch die Christen in die Nähe der Position mit
„ideologischen Scheuklappen“ gerückt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es reicht auch nicht aus, die Christen und die Kirchen

– es ist ja heute vielfach davon die Rede gewesen – in un-
serem Land zu respektieren und sie sich sozusagen wie in
einem zoologischen Park für ethisches Sondergut zu hal-
ten. Nein, ich glaube, sie gehören mit ihren Überzeugun-
gen und ihren Argumenten in die Gesellschaft und in die
gesellschaftlichen Debatten hinein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube nur, dass wir auch bereit sein müssen, uns von
ihnen, wenn sie sich sehr detailliert und konkret äußern,
ins Gewissen reden zu lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das gilt ganz besonders für die heute hier angespro-

chene Fragestellung. Es ist völlig legitim, verschiedene
Güter und verschiedene Übel miteinander in Konkurrenz
treten zu lassen. Es gibt natürlich eine ethische Verant-
wortung für Wirtschaft und Arbeitsplätze. Es gibt auch
eine ethische Verpflichtung zum Heilen, insbesondere zur
Vermeidung von schier unerträglichem Leid, zur Be-
kämpfung von bislang als unheilbar geltenden Krankhei-
ten. Es gibt auch das hohe Gut der Forschungsfreiheit.
Aber es gibt auch nicht zuletzt den Respekt vor der Würde
eines jeden Menschen.

Ich sage ausdrücklich, man kann diese Güter und In-
teressen gegeneinander abwägen, aber die ethische Ab-
wägung fängt eigentlich jetzt erst an, wenn man sie for-
muliert hat. Denn jetzt müssen wir Wertentscheidungen
treffen, nach welchen Maßstäben, nach welchen Kriterien
und nach welchen Rangordnungen wir die zu entschei-
denden Güter abwägen.

Die christlichen Kirchen in Deutschland – es haben
sich ja heute viele als Christen erklärt – haben uns in den
letzten Wochen unmissverständliche Fixpunkte als Halte-
griffe an die Hand gegeben. Das passiert nicht immer, und
es gilt für den Rat der EKD, für die Vereinigung der Evan-
gelischen Kirchen, für die katholische Deutsche Bi-
schofskonferenz und auch für das Zentralkomitee der




Hanna Wolf (München)

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(C)



(D)



(A)



(B)


deutschen Katholiken. Nicht nur als Mitglied des Zentral-
komitees, sondern auch als Christ und Staatsbürger bin
ich froh, dass sich die aus dem christlichen Menschen-
verständnis und dem Grundgesetz ergebenden Rangord-
nungen sehr ähnlich sind. Dort heißt es – das sagen auch
die aktuellen kirchlichen Stellungnahmen –: Die Würde
des Menschen – unabhängig von seinen Entwicklungs-
stufen und seinen Fähigkeiten – ist unantastbar; sie nimmt
in der Rangordnung der abzuwägenden Güter die erste
Stelle ein.

Konkret heißt das: Die Würde des Menschen wird dort
verletzt, wo der Mensch als Träger der Menschenwürde
vom Staat oder von anderen Menschen zum bloßen Ob-
jekt gemacht und ausschließlich für Zwecke anderer ge-
nutzt wird, sei es für den Zweck der freien Forschung oder
den Zweck, später Kranke heilen zu können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich meine, auch ein noch so guter Zweck heiligt nicht

das Mittel, die Würde eines einzelnen Menschen anzutas-
ten. Das – und nur das – ist für mich der Maßstab.

Es geht auch nicht um eine christliche oder kirchliche
Sondermoral. Aber ich glaube, dass den Kirchen ein Er-
fahrungsschatz zur Verfügung steht, auf den eine plurale
Gesellschaft aufbauen kann. Ein guter Teil dieses Schat-
zes ist auch in das Grundgesetz eingegangen. Nicht von
ungefähr steht in der Präambel die Verpflichtung zu han-
deln vor „Gott und den Menschen“.

Ich setze in den kommenden Wochen auf die Kraft der
Argumente und darauf, dass diese klärende Wirkung ha-
ben. So haben sich die Positionen als falsch, weil einer ra-
tionalen Begründung nicht standhaltend, erwiesen, die
Menschenwürde sei an die Fähigkeit der Selbstachtung
oder des Selbstbewusstseins geknüpft oder der Mensch
werde erst durch die Geburt zum Menschen.

Ebenso ist für mich klar geworden, dass der vielfach
ins Gespräch gebrachte Vorschlag, die im Falle eines
Schwangerschaftskonflikts aus guten Gründen einge-
führte Rechtskonstruktion „rechtswidrig, aber straffrei“
auf die bedingte Zulassung der PID zu übertragen, unlo-
gisch wäre. Wir brauchen die Diskussion auch, um Zu-
sammenhänge zu erkennen. So ist mir im Zusammenhang
mit der Diskussion über die bedingte Zulassung der PID
viel stärker bewusst geworden, dass wir die PID nicht un-
geachtet des skandalösen Zustands der so genannten
Spätabtreibungen diskutieren können. Dass in Deutsch-
land solche Spätabtreibungen, das heißt Schwanger-
schaftsabbrüche bei zu erwartender Krankheit oder Be-
hinderung des Kindes bis unmittelbar vor dem Zeitpunkt
der Geburt erfolgen, ist ein Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich mit einer grundsätzlichen Bemerkung

schließen, die mir wichtig ist. Weder aus dem christlichen
Menschenverständnis noch aus der Bibel ergeben sich
konkrete unmittelbare Handlungsoptionen für ethisches
und politisches Handeln. Wohl aber ergeben sich daraus
Kriterien und Rangordnungen für die anstehende Urteils-
bildung. Sie bilden einen Kompass, ein ethisches Koordi-
natensystem, das mir die Möglichkeit gibt, mich mit mei-

nen Überlegungen an der Urteilsbildung zu beteiligen,
und sie geben mir die Gewissheit, dass Ethik eben nicht
– auch nicht an einen Nationalen Ethikrat – delegierbar
ist. Hierbei sind wir schon selbst gefordert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417308200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1417308300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Immanuel Kant gründet die Würde
des Menschen nicht nur in seinem Zweck-an-sich-selbst-
Sein, sondern entwickelt auch die regulative Idee der
Menschheit in der Person als eine uns aufgegebene
Pflicht.

Völlig im Einklang damit sagt das Bundesverfas-
sungsgericht: „Die von Anfang an im menschlichen Sein
angelegten Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde
zu begründen.“ Die Würde des Menschseins liege auch im
ungeborenen Leben im Dasein um seiner selbst willen,
daher verbiete sich jegliche Differenzierung der Schutz-
verpflichtung mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand
dieses Lebens.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deutlich auch die Ablehnung der Erzeugung menschli-
chen Lebens, „um es alsbald wieder zu vernichten“.

Es gibt also gute Gründe, an der Substanz des
Embryonenschutzgesetzes ohne Wenn und Aber festzu-
halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für etwa 50 Paare jährlich in Deutschland wird ihr Kin-
derwunsch zu einem Problem, weil sie aufgrund gene-
tischer Belastungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erb-
kranke Kinder bekämen. Es gibt verschiedene Konfliktlö-
sungen. Einige dieser Paare verzichten auf die Zeugung
und damit ganz auf eigene Kinder. Andere entscheiden
sich für den Verzicht auf die biologische Vaterschaft und
nehmen eine Samenspende an. Andere nehmen ein frem-
des Kind an oder – die vielleicht schwerste aller Ent-
scheidungen – sie nehmen ihr Schicksal in Gestalt eines
erbkranken Kindes bewusst an.

Wer sich in dieser Situation für die Präimplantations-
diagnostik entscheidet, steht damit nicht in einem Kon-
flikt, sondern setzt bewusst den Wunsch nach einem eige-
nen, genetisch unbelasteten Kind um. Er erteilt einen
ärztlichen Dienstleistungsauftrag zur Erzeugung einer
ausreichend hohen Anzahl von Embryonen durch künstli-
che Befruchtung und zur Gendiagnose. PID ist ein von
gentechnischen Kriterien geleitetes Handeln in der Petri-
schale: nicht Konflikt, sondern Kalkül.

Zweck der Diagnose ist die Aussonderung erbkranker
Embryonen, ihre Verwerfung. Es ist die Selektion mit der




Dr. Hermann Kues

16929


(C)



(D)



(A)



(B)


Hoffnung, mindestens einen ungeschädigten Embryo für
eine Schwangerschaft zu erzeugen. Wer hier eine Paral-
lele – rechtswidrig, aber straffrei – zur unabwendbaren
Notlage beim Schwangerschaftsabbruch konstruiert, ver-
wechselt den Kinderwunsch, der einen Lebensentwurf
ohne ein eigenes und gesundes Kind scheinbar nicht
zulässt, mit dem ungewünschten Kind, dessen Austra-
gung gegen den Willen der Mutter nicht erzwungen wer-
den kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sehen wir uns die Erfolgsrate der PID an, die eine ent-
setzlich hohe Belastung für die betroffenen Frauen be-
deutet. Die ESHRE-Studie weist für den Zeitraum von
1993 bis 2000 die Behandlungen von 886 Frauen weltweit
aus, die zu 123Geburten und 162Kindern führten. Durch-
schnittlich wurden dabei pro Geburt 74 Eizellen befruch-
tet und elf Embryonen transferiert. Ich frage mich, was
sich diese Frauen damit antun. Bezogen auf die circa
50 betroffenen Paare, abzüglich derer, die andere Alterna-
tiven wählen, kämen damit bestenfalls zwei bis drei PID-
Kinder jährlich in Deutschland zur Welt. Sollen wir dafür
den Embryonenschutz aufgeben?


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Nein!)

Einen Indikationenkatalog will aus gutem Grund nie-

mand aufstellen. Eine Begrenzung auf bestimmte Krank-
heiten wird niemals haltbar sein. Zu verlockend ist die im-
mer wieder in die Debatte gebrachte Qualitätssicherung
der IVF. Schnell sind wir bei der Altersindikation, der Ei-
zellspende und der verbrauchenden Embryonenfor-
schung. Ist der Kinderwunsch erbkranker Eltern, der un-
ser Verständnis und unser Mitleid weckt, nicht in
Wahrheit ein trojanisches Pferd für den Wunsch einiger
Forscher, den Einstieg in die verbrauchende Embryonen-
forschung zu legalisieren und scheinbar moralisch zu le-
gitimieren?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden noch viele Debatten führen müssen, noch
viele Argumente austauschen, unseren ganzen Verstand,
unsere ganze Urteilskraft und unsere ganze Vernunft ein-
setzen müssen, und zwar jeder Einzelne von uns, der auf
der Grundlage seines Wissens und seines Gewissens in
diesen Fragen an Entscheidungen mitwirken wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417308400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1417308500
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als For-
schungspolitiker und Christ in der Politik treiben mich die
neuen Möglichkeiten, Chancen und Risiken um, die sich
aus der Verknüpfung von Biotechnologie und Fortpflan-
zungsmedizin ergeben. Es ist das erste Mal in meiner sie-
benjährigen Tätigkeit im Deutschen Bundestag, dass ich

das Gefühl nicht loswerde, mein Streben als Forschungs-
politiker könnte in Widerstreit zu manchen Wertgrundla-
gen geraten, die ich als Christ und Landessynodaler der
evangelischen Kirche habe.

Was ist es, was diese besondere Schwierigkeit aus-
macht, vor der wir stehen? Die sich abzeichnenden Mög-
lichkeiten in Biotechnologie und Medizin haben eine völ-
lig neue Qualität; denn erstmals scheint die Menschheit
fähig zu sein, den Menschen selbst zu verändern. Damit
stehen wir als Gesellschaft vor der Frage: Dürfen wir al-
les zulassen, was wir technologisch können? Aber ich er-
gänze: Dürfen wir etwas unterlassen, wozu wir technolo-
gisch in der Lage wären?

Manche erzeugen in der öffentlichen Diskussion den
Eindruck, als ob es den Wissenschaftlern um Men-
schenzüchtung gehe. Diese Beschreibung hat mit den
Wissenschaftlern in Deutschland nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ehrlicherweise muss man sogar einräumen, dass sich die
Forschung in einem Dilemma befindet. Die differenzierte
und ausführliche Stellungnahme der DFG zeigt dies.

Forschung und Wissenschaft können nicht Selbst-
zweck sein oder ausschließlich einem nicht mehr zu hin-
terfragenden, abstrakten Forschungsinteresse dienen.
Auch die Wissenschaft muss gegenüber der Gesellschaft
Rechenschaft ablegen und am Wohl der Menschen Maß
nehmen. Aber es ist doch gerade der Urauftrag der Wis-
senschaft, sich im Bereich der Biomedizin für ein neues
Verständnis von Krankheitsprozessen und neue Arznei-
mittel einzusetzen, um Krankheiten wie Parkinson oder
Krebs zu beseitigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Deshalb bin ich gegen eine Dämonisierung der Wis-
senschaft, wie sie von manchen versucht wird. Übrigens
nimmt auch die evangelische Theologie die Hoffnung auf
neue Heilungsmethoden auf gentechnologischer Grund-
lage sehr ernst. Denn aus dem Gebot der Nächstenliebe er-
gibt sich geradezu die Pflicht, Möglichkeiten wahrzuneh-
men, um Menschen in Not zu helfen. Aber – hier kommen
wir zur notwendigen ethischen Grenzziehung – dieses
Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel. Auch Therapiever-
sprechungen rechtfertigen nicht jede Art von Forschung.

Welches kann nun der Maßstab für die Beurteilung der
neuen technologischen Möglichkeiten der Lebenswissen-
schaften sein? Für uns Christdemokraten ist es das christ-
liche Menschenbild. Wir wollen größtmöglichen Frei-
raum für Bio- und Gentechnologie; diese Freiheit findet
aber ihre Grenzen am absoluten Wert des Menschen und
der Menschenwürde. Über den Menschen kann nicht ver-
fügt werden, ganz gleich, auf welcher Entwicklungsstufe
er steht, darf er nie zum bloßen Objekt von Forschungs-
und Wirtschaftsinteressen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In voller Übereinstimmung mit den beiden großen Kir-

chen stellen wir Christdemokraten fest, dass mit der Ver-
schmelzung von Ei- und Samenzelle menschliches Leben




Dr. Margrit Wetzel
16930


(C)



(D)



(A)



(B)


entsteht. Ab dem ersten Tag ist die genetische Vorbe-
stimmtheit und Individualität des Menschen gegeben. Da-
mit genießt der Embryo bereits in den ersten Tagen seines
Entstehens eine klare Schutzwürdigkeit. Aus diesem
Grunde lehnt die CDU Deutschlands die Erzeugung
menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken und die
verbrauchende Embryonenforschung ab. Es muss auch
andere Wege als die Vernichtung menschlichen Lebens
geben. Ein solcher Weg liegt in der Erforschung adulter
Stammzellen und der Stammzellen aus dem Blut derNa-
belschnur. Lassen wir doch Deutschland zum Vorreiter
gerade dieses Forschungszweiges, der ethisch nicht be-
lastet ist, werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich räume ein, dass ich anfangs die so genannte Prä-
implantationsdiagnostik, PID, vollkommen abgelehnt
habe. Je mehr ich mich aber mit dem Sachverhalt befasst
habe, desto mehr bin ich ins Nachdenken gekommen. Die
Frage ist letztlich: Kann man PID grundsätzlich verbie-
ten? In zehn europäischen Nachbarländern wird die Me-
thode der PID bereits erlaubt und praktiziert. Für mich
käme eine Zulassung der PID nur für solche Paare infrage,
die von einer schwersten genetischen Vorbelastung, für
die es keine Behandlungsmöglichkeiten gibt, betroffen
sind.

Bei der PID handelt es sich in meinen Augen im Prin-
zip um eine vorgezogene Pränataldiagnostik. Bereits
heute befindet sich unsere Gesellschaft in einem morali-
schen Dilemma: Wer diese Diagnostikmethode ablehnt,
muss bei geltender Rechtslage in Kauf nehmen, dass ein
Fötus mit genetischen Schäden erst nach dem dritten Mo-
nat oder zu einem späteren Zeitpunkt abgetrieben wird,
während bei Anwendung der PID keine Einnistung der Ei-
zelle stattgefunden hätte. Die PID könnte somit helfen, ei-
ner Frau in Konfliktsituation einen späteren Schwanger-
schaftsabbruch zu ersparen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dass man die PID nicht in hundert Prozent aller Fälle
verbieten kann, hat mir ein Fall aus Amerika gezeigt:
Eine Familie hatte eine schwerst kranke Tochter, die
voraussichtlich mit sieben Jahren sterben würde. Die El-
tern wollten ein weiteres Kind und haben sich gefragt, was
sie tun können, um ihrem kranken Kind zu helfen. Sie ha-
ben sich für den Weg entschieden, Stammzellen aus der
Nabelschnur eines Neugeborenen zu gewinnen, um damit
der kranken Tochter eine Heilungschance zu geben. Sie
wählten nach künstlicher Befruchtung und PID den Em-
bryo aus, der nicht die gleiche Erbkrankheit, wie sie bei
der Tochter aufgetreten war, hervorbringen würde. Und in
der Tat: Mit den Stammzellen, die sie der Nabelschnur des
neugeborenen Jungen entnommen haben, konnte die
kranke Schwester geheilt werden.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Ja!)

War dieser Weg ethisch und moralisch verwerflich?

Mithilfe von PID konnte Leben gerettet werden. Wer
wollte hier den ersten Stein werfen? Der Vorgang zeigt,

dass man wahrscheinlich nicht in hundert Prozent aller
Fälle PID ausschließen kann. Die Indikation für die An-
wendung von PID müsste in meinen Augen auf Fälle
schwerster genetischer Vorbelastung begrenzt und mit
umfassender Pflichtberatung verbunden sein.

Lassen Sie mich abschließend fragen: Was tun wir ei-
gentlich mit den Daten, die wir mithilfe der neuen gen-
diagnostischen Verfahren bekommen? Jeder soll das
Recht auf Wissen seiner eigenen Daten haben. Es darf
aber keiner gezwungen werden, der Erhebung dieser In-
formationen zuzustimmen. Wir müssen es ausschließen,
dass künftig Kranken- und Lebensversicherungen vor Ab-
schluss eines Vertrages die Vorlage eines Gentests ver-
langen dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Anderenfalls würde dies das Ende der Solidargemein-
schaft sowie das Ende der solidarischen Sozialversiche-
rung, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland ha-
ben, bedeuten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Struck [SPD])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417308600
Herr Kollege,
denken Sie daran, dass Sie jetzt schon zwei Minuten über-
zogen haben.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1417308700
Liebe Frau Präsiden-
tin, nachdem Sie mich darauf hingewiesen haben, möchte
ich zum Schluss kommen.

Meine Damen und Herren, wir Parlamentarier haben
eine große Verantwortung: Wir haben die Verantwortung,
politisch alles zu tun – ich habe ein Beispiel genannt –, um
eine Spaltung der Gesellschaft in Bürger mit guten und
solche mit schlechten Genen zu verhindern. Wir wollen
die Chancen der Gentechnik nutzen, aber keine Menschen
ins Abseits stellen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417308800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Carola Reimann.


Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1417308900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Debatte um die PID und die em-
bryonalen Stammzellen ist untrennbar mit den Fragen der
Menschenwürde, mit dem Beginn und mit dem Schutz des
Lebens verbunden. Das haben wir heute des Öfteren
gehört. Ich glaube, es gibt in diesem Hause niemanden,
der den Beginn des menschlichen Lebens nicht durch die
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle definiert, und
auch niemanden, der solch einer befruchteten Eizelle ab-
spricht, dass es sich um menschliches Leben handelt und
Menschenwürde besitzt.

Im Zusammenhang mit der PID stellt sich für mich eine
zentrale Frage: Wie ist der Status des Embryos in vitro?
Kann und soll man einen Embryo in vitro anders schützen




Thomas Rachel

16931


(C)



(D)



(A)



(B)


als einen Embryo in vivo? Ich halte es für fragwürdig,
befruchtete Eizellen außerhalb des Körpers unter einen
höheren Schutz zu stellen als Embryonen im Mutterleib.
Vor der Nidation, also vor der Einnistung der Eizelle in
der Gebärmutter, besteht für natürlich entstandene Em-
bryonen kein Schutz. Gängige Verhütungsmethoden wie
die Spirale verhindern die Einnistung des entstandenen
Embryos im Körper der Frau und sind gesellschaftlich
breit akzeptiert. Bei einer natürlichen Schwangerschaft
beginnt der Schutz des Embryos erst mit dem Zeitpunkt
der Nidation. Betrachtet man nun Embryonen in vivo und
in vitro unabhängig vom Zeitpunkt dieser Nidation, so
kann man § 218 meiner Ansicht nach nicht außer Acht las-
sen. Es stellt sich die zusätzliche Frage, ob wir Embryo-
nen zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich unmittelbar nach
der Befruchtung und noch vor der Einnistung in der Ge-
bärmutter, bei Androhung von Strafe stärker schützen
sollten als solche Embryonen, die schon einige Wochen
alt sind und deren Abtreibung zwar nicht erlaubt ist, aber
unter den Voraussetzungen des § 218 straffrei bleibt. Im
täglichen Leben nehmen wir ein differenziertes Lebens-
schutzkonzept hin. Ich warne davor, eine Ethik zu for-
dern, die von niemandem gelebt wird und auch von nie-
mandem gelebt werden will. Das führt geradewegs zu
einer Doppelmoral.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Lassen Sie mich einen Aspekt nennen, der auch mir in
der Diskussion immer wieder zu kurz kommt, nämlich die
Position der Frau.Die Rolle der Frau reduziert sich häu-
fig auf ein diffuses Schwangerschaftsumfeld. Man kon-
zentriert sich stark auf das Potenzial der befruchteten Ei-
zelle, ohne ausreichend zu berücksichtigen, dass die
Realisierung dieses Potenzials von einer Frau abhängig
ist. Meiner Ansicht nach kommt der Frau deshalb eine
Schlüsselposition zu. Die Rechte des Embryos müssen
deshalb gegen die Rechte der Frau abgewogen werden,
ähnlich wie wir das bei § 218 bereits tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was bedeutet es,
wenn die PID gänzlich verboten bleibt? Eine Frau, die
trotz problematischer Familienanamnese einen Kinder-
wunsch hat, erhält keine Möglichkeit zur PID. Bei einer
natürlich entstandenen Schwangerschaft wird aber sehr
wohl getestet, ob genetische Veränderungen vorliegen.
Die Frau wird zu einem späten Zeitpunkt der Schwanger-
schaft vor die Entscheidung einer möglichen Abtreibung
gestellt. Das bedeutet: Frauen, die trotz bekannter Er-
krankungen in der Familie nicht auf Kinder verzichten
wollen, müssen sich als Gebärmutter auf Probe benutzen
lassen. Das halte ich für frauenverachtend.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das wird den Frauen und auch den Paaren mit problema-
tischer Familienanamnese nicht gerecht.

Das Gleiche gilt für den Vorwurf der Leichtfertigkeit,
der in der Diskussion immer wieder mitschwingt. Ich
glaube, dass gerade Paare, die sich aufgrund ihrer fami-
liären Vorgeschichte einer genetischen Beratung unterzie-
hen, das aus einem Gefühl der Verantwortung heraus tun
und ihre Situation sehr wohl reflektieren.

Ich plädiere deshalb für eine Zulassung der PID in en-
gen Grenzen, die berücksichtigen, dass viele in unserem
Land Angst vor der Zeugung von Menschen nach Maß
haben. Ich glaube aber, wir brauchen eine klare gesetzli-
che und keine standesrechtliche Regelung, in der die Be-
dingungen, unter denen wir die Präimplantationsdiagnos-
tik zulassen wollen, sehr genau definiert werden. Zu
diesen Bedingungen gehören für mich eine professionelle
psychosoziale Beratung und natürlich eine Begrenzung
auf Erkrankungen.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417309000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.


Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1417309100
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Keuner fragt in einer Geschichte von
Bert Brecht: „Wäre es nicht besser, die richtigen Fragen
zu stellen, als so zu tun, als hätten wir immer schon die
richtigen Antworten?“


(Beifall des Abgeordneten Wolfgang Gehrcke [PDS])


Es geht mir wahrscheinlich wie den meisten, die diese so
wichtige Debatte bis jetzt verfolgt haben und keine Fach-
leute sind: Ich habe noch viele Fragen. Ich meine wie auch
Kollege Kues, dass wir alle, als Abgeordnete, aber vor al-
lem als mündige Bürgerinnen und Bürger, die Antworten
und Entscheidungen nicht allein den Spezialisten und erst
recht nicht den Vertreterinnen und Vertretern allein selig
machender endgültiger Wahrheiten überlassen dürfen.

Ich weiß auch nicht wirklich, was zum Beispiel die
Menschen in meinem Wahlkreis über Gentechnik wis-
sen, denken und was sie sich von ihr erhoffen, wie sie
zukünftig leben wollen und vor allen Dingen, wovor sie
der Staat schützen soll. Was ist für sie Menschenwürde
und menschliches Leben? Ich meine aber zu wissen, dass
sich die Mehrheit von ihnen das im 21. Jahrhundert nicht
mehr von Kirchenvorständen, Zentralkomitees oder von
wem auch immer vorschreiben lassen will.

Ich bin eher zuversichtlich, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, dass es in Deutschland zwischen den Menschen
verschiedener Religionen, Lebenssichten und auch der
Wissenschaft viel mehr ethische Gemeinsamkeiten gibt,
als die bisherige Debatte glauben macht, und zwar sowohl
bei der Achtung der Menschenwürde, bei der Haltung ge-
gen Ökonomismus, gegen Diskriminierung und Rassis-
mus wie auch bei Eingriffen in die persönliche informelle
Selbstbestimmung durch Zwangsgentests.

Ich bin deshalb Roman Herzog – er ist schon zitiert
worden – für seinen Beitrag dankbar. Er hat als Katholik,
ehemaliger Bundespräsident und als renommierter Ver-
fassungsrechtler nicht nur gesagt, dass das Recht der
Erbkranken, durch weitere Forschung gerettet zu wer-
den, auch den Wert menschlichen Lebens auf seiner Seite
hat, sondern will bei der „totalen Absolutstellung des un-
geborenen Lebens in einer Gesellschaft, die beim ,ferti-




Dr. Carola Reimann
16932


(C)



(D)



(A)



(B)


gen’Leben – und zwar aus einsichtigen Gründen – durch-
aus zu unterscheiden weiß, nicht mitmachen“.

Diesen Dialog so öffentlich und verständlich zu führen
und die Bürgerinnen und Bürger daran tatsächlich zu be-
teiligen sind Wissenschaftler aller Fachrichtungen, Kir-
chen, Verbände und wir Politiker verpflichtet. Ich teile
deswegen die Frage des Kollegen Tauss: Wo sind eigent-
lich die Geistes- und Erziehungswissenschaftler, die
laut sagen, dass die individuelle Menschwerdung mit al-
len menschlichen Eigenschaften ohne soziale Wechselbe-
ziehungen, ohne Interaktionen im Mutterleib, in der Fa-
milie und in der Gesellschaft gar nicht möglich ist? Was
spricht eigentlich dagegen, dass nicht auch in Zukunft wie
heute fast alle Kinder durch natürliche Zeugung zur Welt
kommen? Macht das in Zeiten der Gentechnik keinen
Spaß mehr? Die Machbarkeitsphantasien bezüglich der
Genforschung und -technik, die von erbitterten Gegnern
wie euphorischen Interessenten suggeriert und von Mas-
senmedien angeheizt werden, müssen meiner Meinung
nach auf den Boden realistischer Tatsachen gestellt wer-
den. Die Debatte sollte gerade in Deutschland nicht über-
wiegend angstbesetzt geführt werden.

In Deutschland werden wichtige Zukunfts- und Werte-
debatten oft mit dem Hinweis auf die besondere deutsche
Geschichte für beendet erklärt. Ich meine, das Wissen
über die Geschichte, besonders die Lehren aus den Ver-
brechen des Nationalsozialismus, ist eine substanzielle
Basis für unseren Rechtsstaat und die Demokratie, die
hoffentlich bald auch eine europäische sein wird. Ich
frage mich aber gerade auch als jüngerer Kollege und für
Jüngere, wie wenig Zutrauen diejenigen in die Zukunft
unseres Verfassungsstaates und seiner Gewaltenteilung
sowie Vertrauen den mündigen Bürgerinnen und Bürgern
als Souverän gegenüber haben, die die Forschung an vor-
handenen, nicht eingepflanzten Embryonen und PID, ge-
gen Missbrauch klar definiert, begrenzt und kontrolliert,
als Dammbruch an die Wand malen und damit die Tür zur
sozialen und ökonomischen Selektion weit offen sehen.

Sollten wir nicht deutlicher machen, dass nur rechts-
staatliche und demokratische Strukturen einen zivilisier-
ten, verantwortlichen, die Menschenwürde achtenden
Umgang mit neuem Wissen und neuen Technologien, die
weltweit verfügbar sein werden, ermöglichen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Können wir die Chancen und Risiken neuer Techniken
überhaupt ohne ethisch vertretbare Forschung beurteilen?
Ich meine: Nein. Wie werden das zukünftige Generatio-
nen beurteilen, wenn wir darauf verzichten? Sind andere
zivilisierte Gesellschaften, die Embryonenforschung und
PID ermöglichen und die eine längere demokratische Tra-
dition als Deutschland haben und auch einen langen ethi-
schen Diskurs führen, moralisch wirklich schlechter? Ist
es nicht so wie in Brechts Kinderhymne: „Wir wollen
nicht unter und nicht über andren Völkern sein“?

Ich komme zum Schluss. Wir wissen, dass höchstens
10 Prozent aller Behinderungen erbkrankheitsbedingt
sind. Nur ein Bruchteil der behindert Geborenen ist durch
künstliche Befruchtung gezeugt worden. Wie kann es
angesichts dieser Tatsache durch PID einen Dammbruch

geben, der sich letztlich gegen Behinderte wendet?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Müssen wir Leiden und Behinderung kultivieren oder als
sinnstiftend erklären, um Behinderte als gleichwertige
Menschen in unsere Mitte zu nehmen, oder reicht es viel-
leicht aus, dass wir alle durch Unfall oder von nach der
Geburt auftretenden Krankheiten potenziell betroffen
sind? Lenkt die bisherige Debatte über die Menschen-
würde der Behinderten im Zusammenhang mit PID nicht
eher von den realen Defiziten bei der Integration und
Gleichbehandlung Behinderter ab, etwa vergleichbar mit
der Debatte über aktive Sterbehilfe auf der einen Seite und
der Realität der Sterbebegleitung, der Schmerztherapie
und der Palliativmedizin in Deutschland auf der anderen
Seite?

Das alles sind schwierige, aber wichtige Fragen. Wir
kommen nicht darum herum, sie zu klären und letztlich
politische Entscheidungen zu treffen, die wir in jedem
Fall vor den zukünftigen Generationen zu verantworten
haben werden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417309200
Als Letzter in
der Debatte erhält jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann
Scheer das Wort.


Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1417309300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte im Zusammenhang mit
der Debatte zu bioethischen Problemen über einen Punkt
sprechen, der weder in den letzten Wochen noch heute im
Zentrum der Debatte stand, der aber nach meiner Mei-
nung – zwar nicht in erster Linie unter humanethischen,
aber unter wirtschaftsethischen und sozialethischen Ge-
sichtspunkten – von größter Bedeutung für die weitere
Entwicklung ist, nicht zuletzt in Bezug auf die Rolle der
Entwicklungsländer. Es geht um die Frage der Patentie-
rung von Stoffen.

Die Debatte darüber, ob es erlaubt werden soll, nicht
nur Erfindungen, sondern auch schlichte Entdeckungen
zu patentieren – Letzteres ist mehr als zweifelhaft –, ist
bekannt. Sie wird häufig so geführt, als ob es sich nur um
einen formalen Konflikt handelt. Darüber, dass dies die
Sprengung des bisherigen Patentrechts bedeutet, dass dies
unglaubliche soziale Auswirkungen haben und dass sich
hier entscheiden wird, ob die Biowissenschaft eine unge-
rechtfertigte neue Cashquelle in der Hand weniger oder
eine große Chance für die gesamte Menschheit ist, wird
meistens nicht debattiert.

Die Patentierung von Genen bedeutet die Enteignung
des evolutionären Erbguts sowie des Wissens und der
Praktiken der Menschen, insbesondere in den landwirt-
schaftlichen Regionen der Welt, und zwar nicht durch
Staaten oder Regierungen, sondern durch wenige private,
überwiegend transnational tätige Unternehmen. Dies ist




Rolf Stöckel

16933


(C)



(D)



(A)



(B)


ein Schlüsselproblem, das entschieden mehr beachtet
werden müsste. Wenn dem Tür und Tor geöffnet würde,
wäre das der größte Enteignungsvorgang in der Zivilisa-
tionsgeschichte, der nicht zuletzt in vielen Publikationen,
vor allem aus der Dritten Welt, als Biopiraterie bezeichnet
wird. Ein meines Erachtens treffender Begriff.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Im Jahre 1948 hat der Supreme Court, das oberste Ge-
richt der Vereinigten Staaten, die Patentierung von Genen,
damit auch von biologischen Stoffen, verboten. Er hat ge-
sagt, verwertbare Eigenschaften der Natur seien nicht pa-
tentierungsfähig. Der Schlüsselsatz in seinem Urteil lau-
tete, diese Eigenschaften der Natur seien „part of the
storehouse of all men. They are manifestations of laws of
nature, free to all men and reserved exclusively to none.“
Für niemanden exklusiv reservierbar durch Patentierung!

Nun wird häufig darauf verwiesen, dass diese Frage
doch eigentlich nicht viel anderes sei als eine Fortent-
wicklung dessen, was man etwa im Sortenschutz schon
kenne, wo es um Züchtungen geht. Es gibt dabei aber drei
wesentliche Unterschiede. Der eine Unterschied ist die
Geschwindigkeit. Der zweite, noch größere, Unterschied
ist die Menge. Und der dritte Unterschied ist, dass hier
keine mühsame Züchterarbeit dahinter steht, sondern
schlicht und einfach die Entdeckung der Verwertbarkeit
einer Pflanze, eines Tieres oder natürlich auch von Genen
von Menschen.

Für diese Patentierung wird mit der Behauptung ge-
worben, es gehe hier um eine neue Chance zur Überwin-
dung des Welthungers. Aber die Welthungerproblematik
hängt zusammen mit der Organisation der Agrarstruktu-
ren, mit der Erodierung von Böden durch falschen Ge-
brauch von Düngemitteln und mit anderem mehr. Sie re-
sultiert nicht aus mangelnder Leistungsfähigkeit von
Pflanzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Dritte Welt wird als Argument mobilisiert. Dabei
wird übersehen, dass fast alle internationalen Entwick-
lungsorganisationen, angefangen von der UNDP bis hin
sogar zur Weltbank, eindringlich vor den entwicklungs-
politischen Konsequenzen warnen. In einem Land wie
Madagaskar, in dem schon seit Jahren Biopatente erlaubt
sind – so ein Bericht der Weltbank – haben ausländische
Firmen 15 000 Patente an dem natürlichen Erbgut, von
Pflanzen, die es auf Madagaskar gibt, einheimische For-
scher dagegen nur 21. Damit droht eine völlige Verdre-
hung, eine völlige Neugewichtung in der internationalen
Wirtschaftsordnung, weit über die gegenwärtigen Nord-
Süd-Verhältnisse hinaus. Länder der Dritten Welt wie In-
dien, wo 80 Prozent der Aussaat noch aus eigener Ernte
kommt, könnten künftig in die Situation kommen, zu Li-
zenznehmern von wenigen multinationalen Konzernen zu
werden mit der Folge, dass sie Lizenzgebühren zahlen
müssen. Sie werden sich das nicht gefallen lassen. Es wird
riesige Revolten geben. Es wird aus sozialer Notwehr in
vielfacher Weise eine Durchbrechung internationaler

Rechtsordnungen geben.
Das gilt nicht nur für die Dritte Welt, das ist längst

schon in der Ersten erreicht. Kürzlich stand in der „Süd-
deutschen Zeitung“, dass ein kanadischer Landwirt, der
biogen veränderte, also genmanipulierte Ölsaaten be-
wusst nicht anbaut – das ist also sozusagen seine Marke–,
aufgrund des Patentrechts gerichtlich zu 80 000 Dollar Li-
zenzgebühr verdonnert worden ist, weil solche Saatgüter
auf seine Felder geweht sind und seine Saat damit nicht
mehr natürlich war – und das, obwohl das für ihn sogar
noch eine Geschäftsschädigung war; denn sein Produkt
entsprach nicht mehr dem, was er haben und anbieten
wollte.

Die UNDP – das möchte ich abschließend zitieren –
sagt zu dieser Frage:

Neue Patentgesetze kümmern sich kaum um die
Kenntnisse der indigenen Bevölkerung, die damit
den Ansprüchen von außen schutzlos ausgesetzt ist.
Diese Gesetze ignorieren die kulturelle Vielfalt bei
der Schaffung von Innovationen und die Teilhabe da-
ran. Ebenso wenig berücksichtigen sie die vielfälti-
gen Ansichten darüber, was Gegenstand von Eigen-
tumsansprüchen sein kann und darf – von
Pflanzensorten bis zum menschlichen Leben. Das
Ergebnis ist ein stillschweigender Diebstahl von über
Jahrhunderte erworbenem Wissen, der von den ent-
wickelten Ländern an den Entwicklungsländern be-
gangen wird.

Wir dürfen diese Entwicklung nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Sie stellt unsere gesamten entwicklungspolitischen An-
sprüche auf den Kopf. Entwicklungshilfe wird die verur-
sachten sozialen Zerstörungen, Verwerfungen und Verän-
derungen von Eigentumsverhältnissen in der Dritten Welt
in keiner Weise mehr kompensieren können.

Wir erleben gegenwärtig eine Debatte über Aidsmedi-
kamente in Südafrika. Auch unsere Entwicklungshilfemi-
nisterin hat sich in dieser Frage engagiert. Diese Arznei-
mittel sind nicht entdeckt, sondern tatsächlich erfunden
worden. Geschähe etwas Ähnliches bei Saatgütern, so
hätte das sogar einschnürenden Einfluss auf Dinge, die
aus den Traditionskulturen dieser Länder selbst kommen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417309400
Herr Kollege,
kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Hermann Scheer (SPD):
Rede ID: ID1417309500
Wir müssen bei der ge-
samten Biopatentierung höchst wachsam sein und verhin-
dern, dass sich solche Entwicklungen ihre sozial verhee-
rende Bahn brechen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Dr. Hermann Scheer
16934


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417309600
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, wir sind damit am Ende dieser
sehr langen und sehr intensiven Debatte. Sie war auch
für dieses Haus ungewöhnlich. Wir können allen Betei-
ligten nur danken. Es war gut, dass wir diese Debatte ge-
führt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten

Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, Monika
Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Behandlung von Petitionen und über die Auf-
gaben und Befugnisse des Petitionsausschusses
des Deutschen Bundestages
– Petitionsgesetz – (PetG)

– Drucksache 14/5762 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
nung (f)

Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Heidemarie Lüth, Heidemarie Ehlert, Monika
Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 45 c)

– Drucksache 14/5763 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn
Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Das Wort hat die Abgeordnete Heidemarie Lüth.


Heidemarie Lüth (PDS):
Rede ID: ID1417309700
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vorgestern habe ich dem Prä-
sidenten den Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr
2000 übergeben. Heute begründe ich den Entwurf der
Fraktion der PDS für ein Petitionsgesetz. Das hat auch
insofern miteinander zu tun, als immer wieder Petitionen
eingereicht werden, in denen der Bundestag aufgefordert
wird, das Petitionsrecht zu verbessern, es übersichtlicher
zu gestalten und wirksamer zu machen, den Bürgerinnen
und Bürgern mehr Einsicht in die Abläufe zu geben und
für sie stärkere Rechtspositionen zu begründen. Das ist
ernst zu nehmen. Die Fraktion der PDS hat das getan.


(Beifall bei der PDS)


In der Debatte über den Bericht des Petitionsausschus-
ses im vergangenen Jahr habe ich an dieser Stelle be-
merkt:

Lassen Sie uns über mögliche Verbesserungen nach-
denken und konkrete Vorschläge zur Weiterentwick-
lung des Petitionsrechts erarbeiten! Lassen Sie uns in
einem offenen Diskussionsprozess miteinander und
mit den vielen interessierten Bürgerinnen und Bür-
gern Ideen und Argumente austauschen!

Das haben wir getan. Die PDS im Bundestag hat sofort
begonnen, einen Entwurf für ein neues Petitionsgesetz zu
erarbeiten. Diesen Vorschlag haben wir dann aber nicht
sofort in das parlamentarische Verfahren eingebracht;
vielmehr haben wir ihn auf den Prüfstand einer öffentli-
chen Anhörung gestellt. Wir haben ihn durch Vertreterin-
nen und Vertreter der politischen Praxis und der Wissen-
schaft, auch durch engagierte und petitionserfahrene
Bürgerinnen und Bürger einem Brauchbarkeitstest unter-
worfen. An dieser Anhörung haben neben anderen aktiv
mitgewirkt Frau Dr. Hamm-Brücher von der F.D.P., Herr
Peter von der SPD, Herr Dr. Pfennig von der CDU und
Herr Dr. Ullmann von den Grünen – alle langjährig im
Bundestag oder im Europäischen Parlament im Petitions-
ausschuss aktiv. Zuvor waren fundierte Analysen von den
drei Bremer – nein, nicht Stadtmusikanten; das waren ja
auch vier – Petitionsexperten Bockhofer, Professor Röper
und Professor Schefold. Ihnen allen danke ich ganz herz-
lich.


(Beifall bei der PDS)

Die Anhörung hatte Konsequenzen: Wir haben viele

der sachkundigen Kritiken, Anregungen und Verbesse-
rungsvorschläge berücksichtigt. Sie sind in den Ihnen vor-
liegenden Gesetzentwurf eingegangen. Im Bereich der
Petitionsinformationsrechte haben wir übereinstimmende
Bedenken von Herrn Peter und von Herrn Dr. Pfennig
berücksichtigt.

Wir haben unsere Absicht aufgegeben – sie war noch
in unserem Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperi-
ode und auch in der Vorlage der Grünen enthalten –, die
Behandlung von Bitten und Beschwerden gleichzusetzen.
Wir haben uns davon überzeugt, dass es gravierende Un-
terschiede zwischen beiden Bereichen gibt. Wir haben
aber wesentliche Verbesserungen für Petitionen im Allge-
meinen und damit für die Bitten und insbesondere für die
Beschwerden vorgeschlagen. Für letztere haben wir ge-
nerell die Möglichkeit vorgesehen, Beweiserhebungen
durchzuführen mit der Verpflichtung für geladene Zeu-
gen, zu erscheinen und wahrheitsgemäß auszusagen.

Das mag manche schrecken, sehen sie im Petitionsaus-
schuss doch schon das täglich tagende Tribunal. Es fehlen
eigentlich nur noch die Roben. Aber das ist nicht gewollt.
Alle Erfahrungen der Petitionsausschüsse, die das Beweis-
erhebungsrecht kennen, zeigen ja, dass nur äußerst sel-
ten davon Gebrauch gemacht wird, nur selten Gebrauch
gemacht werden muss, weil allein die Existenz dieses
Rechts einen außerordentlichen Anreiz zu prompter, um-
fassender und wahrheitsgemäßer Auskunftserteilung dar-
stellt. Allerdings gehört zur Wirksamkeit dieses Beweis-
erhebungsrechts auch, dass auf Antrag einer Minderheit






(C)



(D)



(A)



(B)


im Petitionsausschuss davon Gebrauch gemacht werden
muss.

Mit der Verbesserung der Petitionsinformationsrechte
stärken wir die Position des Ausschusses, des Parlaments
insgesamt gegenüber der Exekutive. Das ist so beabsich-
tigt; das reicht aber noch nicht aus. In diesem Zusammen-
hang möchte ich drei weitere Punkte ansprechen.

Erstens. Wir wollen in das Gesetz ausdrücklich hinein-
schreiben, dass es dem öffentlichen Interesse nicht ent-
spricht, wenn eine Behörde entgegen der Aufforderung
des Petitionsausschusses einen Verwaltungsakt vollzieht
und damit das verfassungsmäßige Petitionsrecht praktisch
leer laufen lässt. Durch eine solche Gesetzesbestimmung
erreichen wir unter Wahrung der Gewaltenteilung eine be-
grenzte, aber immerhin dringend erforderliche aufschie-
bende Wirkung des Petitionsverfahrens.

Zweitens. Leider erleben wir es immer wieder, dass
unsere stärksten Voten, die Überweisungen zur Berück-
sichtigung und zur Erwägung, von der Bundesregie-
rung nicht beachtet werden. Nicht selten wird uns das mit
einem ebenso kurzen wie unbefriedigenden Schreiben
mitgeteilt. In einem solchen Fall sehen wir vor, dass die
Regierung zukünftig verpflichtet ist, ihre Haltung dem
Parlament zu erläutern und sich der parlamentarischen
Debatte zu stellen.


(Beifall bei der PDS)

Drittens. Weil den genannten Voten ein so hohes Ge-

wicht zukommen soll, haben wir einen anderen Rat der
Expertinnen und Experten ebenfalls berücksichtigt. Wir
schlagen ja für den Regelfall vor, über Petitionen nur noch
im Petitionsausschuss zu entscheiden. Überweisungen
zur Berücksichtigung und zur Erwägung sollen aber stets
vom Plenum des Bundestages beschlossen werden. Da
das nicht für viele Fälle zutrifft, werden wir auch bei Pe-
titionen zukünftig genau wissen, worüber wir denn ei-
gentlich konkret abstimmen.


(Beifall bei der PDS)

Der PDS geht es darum, das Grundrecht einer jeden Pe-

tentin und eines jeden Petenten aufzuwerten, ein Grund-
recht, das für den demokratischen Sozialstaat des Grund-
gesetzes von konstitutiver Bedeutung ist. Bei uns in der
Bundesrepublik beruht Sozialstaatlichkeit ja nicht auf
Mildtätigkeit oder Güte einer Obrigkeit, sondern auf de-
mokratischen Prozessen, Verfahren und Institutionen, die
von der Verfassung vorgegeben sind. Zur Stärkung des
Petitionsgrundrechtes einige Hinweise:

Erstens. Interessierte Bürgerinnen und Bürger sollen
nicht mehr die Rechtsvorschriften für verschiedene Be-
reiche zusammenklauben und zusammenfügen müssen.
All diese Vorschriften sollen künftig in einem Gesetz ent-
halten sein. Auch das ist eine Frage von Demokratie und
eine Frage der Erleichterung beim Mitmachen im demo-
kratischen Prozess.


(Beifall bei der PDS)

Zweitens. Petitionsverfahren sollen so gestaltet sein,

dass für Petentinnen und Petenten klar erkennbar ist, was
geschieht, womit gerechnet werden kann und womit ge-

rechnet werden muss. Es darf, wie es Horst Peter in der
Anhörung formuliert hat, eines nicht geben: ein Ver-
schwinden hinter einem Vorhang, wenn niemand erfährt,
was in der Zeit passiert, wo er wartet.

Drittens. Unser Gesetzentwurf soll auch der Tendenz
Rechnung tragen, dass die Anzahl der Bitten, insbeson-
dere der Anregungen zu gesetzgeberischen Maßnahmen,
im Verhältnis zu den Beschwerden zunimmt. Damit wer-
den wir als Gesetzgebungsorgan stärker auf unsere Auf-
gabe der Selbstkontrolle der eigenen Tätigkeit verwiesen;
der Petitionsausschuss wird insbesondere auf die Geset-
zesfolgenkontrolle und wir alle auf die vorausschauende
Gesetzesfolgenabschätzung verwiesen.

In diesem Zusammenhang ist die Transparenz des par-
lamentarischen Handelns von besonderer Bedeutung. Das
wollen wir durch den Grundsatz der Öffentlichkeit der Pe-
titionstätigkeit bei Wahrung des Grundrechts auf infor-
mationelle Selbstbestimmung erreichen.

Viertens. Besondere Bedeutung gewinnen die Mas-
senpetitionen, bei denen sich eine Vielzahl von Men-
schen aktiv und gemeinschaftlich einbringt. Hier ergän-
zen wir die repräsentativen Willensbildungs- und
Entscheidungsstrukturen durch plebiszitäre Elemente,
ohne dass es sich schon um wirkliche Plebiszite, um un-
mittelbare Entscheidungen durch das Volk, handelt.
Durch die Schaffung von öffentlichen Dialogstrukturen
zwischen den Petentinnen und Petenten auf der einen und
dem Parlament auf der anderen Seite eröffnen wir aber
über den periodischen Wahlakt hinaus demokratische
Mitwirkungsmöglichkeiten. So schaffen wir eine Praxis
plebiszitären Handelns, ja eine plebiszitäre Kultur, die
sich positiv auswirken wird, wenn das Institut der Volks-
gesetzgebung durchgesetzt ist.


(Beifall bei der PDS)

Fünftens. Wir wollen ein modernes Petitionsrecht, das

die elektronischen Kommunikationsmedien nutzt. Des-
halb sehen wir auch die Einreichung von Petitionen auf
elektronischem Wege vor. Wir wollen in Anlehnung an die
europäische Regelung ein Petitionsregister und eine Peti-
tionsdatenbank schaffen. Diese sollen nicht nur elektro-
nisch zugänglich sein, sondern auch unmittelbares demo-
kratisches Mitwirken ermöglichen.

Vor einem Jahr hatte ich gehofft, dass auch andere
Fraktionen und nicht nur die relativ kleine der PDS Vor-
schläge zur Weiterentwicklung des Petitionsrechts macht.
Kollegin Buntenbach hat ja gestern Vorschläge angekün-
digt. Da darf man gespannt sein. Auch der Parteivorstand
der SPD hat einen Beschluss zum „Ausbau der Beteili-
gungsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf Bundes-
ebene“ gefasst und darin insbesondere zwei Bereiche the-
matisiert: zum einen die Frage des Petitionsrechts und
zum anderen die Volksgesetzgebung. Lassen Sie mich zu
Letzterem sagen: Die in diesem Beschluss angegebenen
Quoren lassen ihn eher als ein Konzept zur Verhinderung
unmittelbarer Volksgesetzgebung erscheinen.

Es sei auch kurz angemerkt, warum, wenn jetzt unmit-
telbar die parlamentarische Debatte – davon gehe ich
aus – zum Thema Volksgesetzgebung bevorsteht, dann
nicht auch der Gesetzentwurf der PDS einbezogen wer-
den soll. Aber das wird ja jetzt vielleicht anders.




Heidemarie Lüth
16936


(C)



(D)



(A)



(B)


Zu Fragen des Petitionsrechtes, zu denen der SPD-Vor-
stand auch Vorschläge erarbeitet hat, heißt es unter ande-
rem:

Bei wichtigen Massenpetitionen kann der Petitions-
ausschuss ebenfalls mit 2/3 der Mitglieder be-
schließen, die Angelegenheit dem Parlament als
Ganzem zur Beratung und Entscheidung vorzulegen.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir doch
jetzt ohnehin.


(Bernd Reuter [SPD]: Richtig! Genau!)

Wir brauchen als Fraktion nur einen Änderungsantrag zu
formulieren und schon kann über die Angelegenheit
– egal ob Massenpetition oder eine andere – hier im Ple-
num diskutiert werden.

25 Jahre, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ver-
gangen, seitdem das Petitionsrecht das letzte Mal refor-
miert wurde. Wir denken daher, dass es jetzt nicht zu ei-
nem Schnellschuss kommen darf, sondern dass über die
Rechte der Petentinnen und Petenten bei einer Reform des
Petitionsrechts in einer breiten parlamentarischen Debatte
umfänglich diskutiert werden muss. Wir sollten uns daher
auf eine Anhörung zu diesem Thema im Petitionsaus-
schuss verständigen, um diese parteiübergreifende Dis-
kussion zu ermöglichen.


(Beifall bei der PDS)

Ich weiß, dass allein durch diese Diskussion noch kein

parlamentarischer Erfolg sichergestellt ist. Aber niemand
kann mich bis zum Beweis des Gegenteils daran hindern,
an den Erfolg eines verbesserten Petitionsrechtes für Pe-
tentinnen und Petenten und damit auch für uns, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, zu glauben.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417309800
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1417309900
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Wie wir eben von der sehr verehrten Frau
Vorsitzenden des Petitionsausschusses gehört haben, hat
die PDS-Fraktion den Entwurf eines Petitionsgesetzes
– er wurde uns ja wortreich vorgestellt – vorgelegt. Wenn
man ihn näher betrachtet und genauer hineinsieht, stellt
man fest, dass das Petitionswesen letzten Endes neu- bzw.
umgestaltet werden soll. Ich werde darauf gleich noch zu
sprechen kommen.


(Roland Claus [PDS]: Es soll verbessert werden!)


– Genau, Herr Claus.
Zu fragen ist daher: Ist das notwendig, ist das sinnvoll

und fördert dieser Gesetzentwurf das Petitionswesen so,
wie es im Grundgesetz niedergelegt ist? Ich meine, im Er-
gebnis nicht. Es ist eine ganze Reihe von Ansätzen dabei,
die sicherlich diskussionswürdig sind, aber es gibt auch

einige Punkte, die zumindest aus meiner Sicht dazu
führen, dass wir dem so nicht werden zustimmen können.

Lassen Sie mich vorab noch einige Worte zu den recht-
lichen Grundlagen des geltenden Petitionsrechts sagen,
weil dies eben etwas zu kurz gekommen ist. Nach Art. 17
des Grundgesetzes hat jedermann das Recht, sich einzeln
oder in Gemeinschaft mit anderen mit Bitten oder Be-
schwerden an den Bundestag zu wenden. Der Bundestag
hat hierfür nach Art. 45 c Abs. 1 Grundgesetz den Pe-
titionsausschuss eingesetzt.

Die Befugnisse dieses Ausschusses sind heute bereits
in einem Gesetz geregelt, soweit es um die Überprüfung
von Beschwerden geht. Diese Regelungen beinhalten im
Wesentlichen die Verpflichtung der Bundesregierung, der
Bundesbehörden und anderer zur Aktenvorlage, zur Aus-
kunftserteilung sowie eine Zutrittsgestattungspflicht. Das
Gesetz räumt dem Petitionsausschuss das Recht ein, Zeu-
gen und Sachverständige anzuhören, und verpflichtet Ge-
richte und Verwaltungsbehörden zur Amtshilfe. Der Ge-
schäftsordnungsgang im Ausschuss selbst ist in der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geregelt.
Das Ganze ist in einem Heftchen zusammengefasst, das
Bernd Reuter vor sich auf dem Tisch liegen hat. Viele
Petentinnen und Petenten, viele Bürgerinnen und Bürger
in unserem Land – jedenfalls ist es in meinen Wahlkreis-
büros vor Ort so – fragen danach und können sich mithilfe
dieses Leitfadens im geltenden Petitionsrecht sehr gut zu-
rechtfinden.

Darauf, dass das geltende Recht, wie wir es seit fast
drei Jahrzehnten praktizieren, gut funktioniert, haben Sie,
Frau Lüth, eben schon hingewiesen. Ich meine, das sollte
an einem solchen Tag noch einmal betont werden. Denn
der Tätigkeitsbericht des Ausschusses macht, da mit über
20 600 Eingaben das Petitionsrecht im Jahr 2000 in
großem Umfang von den Bürgerinnen und Bürgern dieses
Landes in Anspruch genommen wurde, sehr deutlich, dass
offensichtlich keine Scheu vorhanden ist, sich mit einer
Petition an den Deutschen Bundestag zu wenden. Wenn
man diesen gut 100 Seiten starken Bericht gründlich
durchliest, kann man ihm dezidiert entnehmen, dass die
Petitionen mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumenta-
rium bemerkenswert zügig und gründlich bearbeitet wor-
den sind. Der Bericht zeigt eindrucksvoll, wie Einzelfall-
probleme von Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar
erörtert wurden und in vielen Fällen auch Abhilfe ge-
schaffen werden konnte.

Von daher stellt sich die Frage, ob es notwendig ist,
Frau Kollegin Lüth, ein Petitionsgesetz mit den Inhalten
zu verabschieden, wie Sie es vorgelegt haben. Lassen Sie
mich einige Punkte nennen, die mich dazu bringen, das zu
verneinen.

Erstens. Sie haben eine Vielzahl von Regelungen vor-
gesehen, die überflüssig sind, weil sie bereits in beste-
henden Vorschriften enthalten sind. Ein Beispiel, das her-
vorgehoben wird, ist, dass ein Brief, den eine inhaftierte
Person an den Petitionsausschuss schickt, im Vollzug
nicht geöffnet werden darf. Das ist bereits seit 1976 im
Strafvollzugsgesetz geregelt. Weitere Regelungen, die
ebenfalls überflüssig sind, finden sich in Ihrem Entwurf.




Heidemarie Lüth

16937


(C)



(D)



(A)



(B)


Zweitens. Rechtlich bedenklich erscheint mir die be-
absichtigte Regelung, dass der Petitionsausschuss nach
Ihrem Vorschlag zukünftig dem Plenum eine Petition zur
Entscheidung vorlegen kann, dazu aber nicht verpflichtet
sein soll. Das wäre eine grundlegende Abkehr vom gel-
tenden Petitionsrecht, wonach der Ausschuss dem Plenum
lediglich Beschlussempfehlungen zur Entscheidung vor-
legt. Würden wir den vorgeschlagenen Weg gehen, wäre
es eine Entwertung des Petitionsrechtes, wenn der Aus-
schuss und nicht grundsätzlich der Deutsche Bundestag
entscheidet.

Drittens. Sie haben die Einführung eines Minder-
heitenvotums vorgesehen, das künftig von einer Frak-
tion, einer Abgeordnetengruppe oder von 5 vom Hundert
der Mitglieder des Bundestages, die mit einer Sach-
entscheidung des Ausschusses nicht einverstanden sind,
abgegeben werden kann. Das würde eine unnötige Belas-
tung der Ausschussarbeit bedeuten und im Ergebnis nicht
den Interessen der Petentinnen und Petenten dienen. Die
Minderheitenrechte haben nur etwas mit der Ausschuss-
arbeit zu tun.

Die Ausschussarbeit darf – so verstehe ich die Verfas-
sung – im Ergebnis kein Ersatzinstrument für die politi-
sche Auseinandersetzung in diesem Plenum sein. Im Ent-
wurf des Petitionsgesetzes finden sich einige versteckte
Vorschriften, die in diese Richtung gehen, zum Beispiel in
§ 12 Abs. 6, in dem zukünftig eine Art Selbstbefassungs-
recht des Ausschusses konstituiert werden soll. Ich kann
mir lebhaft vorstellen, welche politischen Debatten, die
hier im Plenum keine Mehrheiten gefunden haben, dann
Gegenstand der Beratungen im Petitionsausschuss sein
werden, und zwar nicht im Interesse der Petenten, sondern
im Interesse bestimmter politischer Auseinandersetzun-
gen.

Das Gleiche gilt, wenn Sie sagen, der Ausschuss solle
zukünftig grundsätzlich öffentlich tagen. Wie ich das in
den letzten zweieinhalb Jahren erlebt habe, sind die meis-
ten Petitionen eigentlich nicht für die Öffentlichkeit ge-
eignet, weil es sehr oft um ganz persönliche, individuelle
Dinge geht, die unter Datenschutzgesichtspunkten nicht
öffentlich behandelt werden können.

Es gibt noch weitere Regelungen, auf die ich aber nicht
mehr eingehen möchte.

Einen Punkt möchte ich noch erwähnen. Für besonders
problematisch halte ich die intendierten Neuerungen zur
Beweiserhebung, wie Sie sie vorsehen, indem die Rege-
lungen der Strafprozessordnung zukünftig entsprechend
anwendbar sein sollen. Dazu sage ich Ihnen als langjäh-
riger Richter, der ich heute für diese Debatte aus der Sit-
zung des Untersuchungsausschusses komme, dem ich nun
seit über einem Jahr angehöre: Wenn wir dieses Instru-
mentarium im parlamentarischen Raum anwenden wol-
len, dann – das erleben wir seit über einem Jahr im Un-
tersuchungsausschuss – wird es im Grunde zu einem
Kampfinstrument. Das ist nicht praktikabel. Von daher
wehren wir uns gegen Zugriffsmöglichkeiten des Aus-
schusses, wie sie ein Gericht hat, zum Beispiel insofern,
als Zeugen kommen müssen. Der Ausschuss ist kein Ge-
richt. Das darf keinesfalls ins Gesetz hineingeschrieben

werden. Es handelt sich nach der Verfassung um einen Pe-
titionsausschuss, an den sich Bürgerinnen und Bürger,
auch gemeinschaftlich mit Sammelpetitionen, wenden
können, und nicht um einen Ausschuss mit hoheitlichen
Befugnissen. Von daher können wir diesen Bestimmun-
gen nicht zustimmen.

Sie haben aber dankenswerterweise schon darauf hin-
gewiesen, dass in anderen Fraktionen, auch in meiner,
ebenfalls darüber nachgedacht wird, wie wir die Bürger-
rechte und die Rechte des Petitionsausschusses stärken
können. Ich kann mir sicherlich einige Regelungen vor-
stellen, die wir zur Verbesserung des Petitionsrechtes
gerne mit Ihnen gemeinsam diskutieren wollen. So könnte
man zur Stärkung der Rechte des Petitionsausschusses das
Recht des Ausschusses postulieren, im begründeten Aus-
nahmefall den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme – Sie
haben das angesprochen – aufzuschieben. Der Ausschuss
müsste dann mit qualifizierter Mehrheit Entsprechendes
beschließen. Ebenfalls könnte man das Recht postulieren,
die Petition zur Befassung und Entscheidung mit Voten an
andere Ausschüsse des Deutschen Bundestages weiterzu-
reichen. Darüber hinaus könnte man die Akteneinsichts-
und Beiziehungsrechte erweitern.

Bei dem Problembereich der Massenpetitionen – Sie
hatten es, glaube ich, Volksgesetzgebung genannt –
könnte ich mir durchaus vorstellen, bei Petitionen in be-
stimmten Größenordnungen – wenn sich etwa 50 000
Bürgerinnen und Bürger oder mehr an den Deutschen
Bundestag wenden – den bevollmächtigten Vertreterinnen
und Vertretern dieser Petenten vor dem Ausschuss die
Möglichkeit zu geben, angehört zu werden, diese An-
hörungen grundsätzlich öffentlich durchzuführen und die
Beratungen zu diesem Themenbereich, wenn das daten-
schutzrechtlich geht, grundsätzlich weiter öffentlich er-
folgen zu lassen. Das sind sicherlich Regelungen, die hin-
sichtlich einer Weiterentwicklung des Petitionsrechtes
sinnvoll sein könnten.

Die in diese Richtung gehende Erweiterung und Stär-
kung des Petitionsrechtes steht im Zusammenhang mit
unseren Vorstellungen, mehr Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu erreichen.
Wir wollen das in dieser Legislaturperiode im Deutschen
Bundestag mit Ihnen gemeinsam – nur so geht das – dis-
kutieren und werden hoffentlich auch zu einem Ergebnis
kommen. Wie Sie wissen, setzen wir uns dafür ein, die
Beteiligungsrechte der Bevölkerung hinsichtlich wichti-
ger politischer Sachentscheidungen auch auf Bundes-
ebene durch eine Verfassungsänderung zu stärken. Die
Vorschläge hierzu schließen die genannten Verbesserun-
gen und Ergänzungen des Petitionsrechtes ebenso ein wie
die Einführung neuer Instrumente, zum Beispiel Volksini-
tiativen, Volksbegehren und Volksentscheid. Aber für eine
Verfassungsänderung bedarf es in diesem Hause einer
Zweidrittelmehrheit. Vielleicht können die Debatte heute,
die wir mit großer Sachlichkeit führen sollten, und auch
die vor uns liegenden Beratungen in den Fachausschüssen
sozusagen der Anfang des Weges sein, auf dem wir uns in
diesem Haus gemeinsam – es wäre schön, wenn es so
wäre – darauf verständigen könnten, genau diesem Be-
gehren nach mehr unmittelbarer Bürgerbeteiligung nach-




Joachim Stünker
16938


(C)



(D)



(A)



(B)


zukommen, danach also, mehr plebiszitäre Elemente in
unsere Verfassung einzufügen bzw. zu implementieren.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417310000
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hubert Deittert.


Hubert Deittert (CDU):
Rede ID: ID1417310100
Frau Präsidentin!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Tätigkeit des Peti-
tionsausschusses des Deutschen Bundestages beruht im
Augenblick auf unterschiedlichen Grundlagen, und zwar
zum einen auf Art. 17 des Grundgesetzes und auf einem
so genannten Befugnisgesetz nach Art. 45 c des Grundge-
setzes und zum anderen auf den „Grundsätzen über die
Behandlung von Bitten und Beschwerden“ gemäß § 110
der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Damit
haben wir ein durchaus flexibles Instrumentarium. Die
Mitglieder des Petitionsausschusses haben in den vergan-
genen Jahren durch ihre Arbeit bewiesen, dass dieses
Handlungsfeld ausreichend und zweckmäßig ist, wenn es
entsprechend ausgefüllt wird.

Der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses für
das Jahr 2000, dessen Übergabe an den Präsidenten des
Deutschen Bundestages vor drei Tagen erfolgt ist, zeigt
erneut, wie sich diese Arbeit vollzogen hat. Dieser Bericht
zeigt im Übrigen auch, dass sich der Petitionsausschuss
im Laufe der Jahre mehr und mehr von einer Beschwer-
destelle hin zu einer Stelle für Anregungen an den Ge-
setzgeber entwickelt hat. Ich denke, das ist gut so. Das
zeigt, dass die Bürger konstruktiv mitdenken.

Der Petitionsausschuss ist ein unersetzliches Bin-
deglied zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Lande, dem Parlament und der Regierung. Wir alle müs-
sen großen Wert darauf legen, diese Verbindung zu pfle-
gen. In den mehr als fünf Jahrzehnten hat die Mitglieder
dieses Ausschusses eine Vielzahl von Schicksalen in Form
einzelner Petitionen bewegt. Die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Ausschussdienstes haben Berge von Akten
bewegen müssen. Für mich ist dies ein Anlass, den Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes an
dieser Stelle einmal herzlich für ihre Zuarbeit zu danken.


(Beifall im ganzen Hause)

Nach unserem Grundgesetz hat jeder Bürger das Recht,

sich mit Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bun-
destag zu wenden. Ich habe immer wieder betont, dass die
Arbeit im Petitionsausschuss für mich ein ganz wichtiger
Bestandteil meiner parlamentarischen Arbeit ist. Denn
hier ist im Hinblick auf Gesetzesvorhaben und Gesetzes-
beschlüsse die schnellste Rückkoppelung gegeben. Als
langjähriger Kommunalpolitiker weiß ich, dass dort sehr
schnell eine Reaktion erfolgt – nach drei Tagen liegt der
Vorgang wieder auf dem Schreibtisch –, wenn es um un-
bequeme Beschlüsse geht, die den Bürger möglicher-
weise belasten. In der Bundespolitik werden diese per-
sönlichen Angelegenheiten in der Regel ein bisschen
weniger beachtet. Der Petitionsausschuss ist im Grunde

die Stelle, an der eine schnelle Rückkoppelung erfolgt. Ich
denke, das sollten wir pflegen.

Wir haben hier auch die Gelegenheit, das Vertrauen der
Bürger in die Politik zurückzugewinnen bzw. entspre-
chend zu stärken.

Die beiden Gesetzentwürfe, die von der PDS-Fraktion
heute vorgelegt werden, zielen darauf ab, das Petitions-
recht und damit auch den Petitionsausschuss insgesamt
auf neue Füße zu stellen und die unterschiedlichen Rege-
lungen zusammenzufassen. Aufgegriffen werden dabei
unterschiedliche Aktivitäten aus der 11.,12. und 13. Le-
gislaturperiode, zum Beispiel die der SPD, des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und auch der PDS in Bezug auf einen
Bürgerbeauftragten.

Sicherlich gibt es heute in dem einen oder anderen Be-
reich einen gewissen Regelungsbedarf. Darüber können
wir in den Ausschussberatungen gern sprechen. Die Per-
spektive mag unterschiedlich sein, je nachdem, ob man
zur Regierungsmehrheit oder zur Opposition, also der
parlamentarischen Minderheit, gehört, der ich im Augen-
blick angehöre. Aber das wird sich Gott sei Dank in ab-
sehbarer Zeit wieder ändern. Da bin ich ganz zuversicht-
lich.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Reuter [SPD]: Irgendwann!)


Wir werden die beiden Gesetzentwürfe in den Aus-
schussberatungen kritisch unter die Lupe nehmen. Schon
heute möchte ich auf einige Punkte hinweisen, auf die es
uns besonders ankommt: darauf, dass sich praktische Ver-
besserungen für die Bürgerinnen und Bürger erreichen
lassen, ohne die klare Trennung der Verantwortlichkeiten
sowohl zwischen Regierung und Parlament als auch zwi-
schen Gesetzgeber und Rechtsprechung zu verwischen.

Einige Vorschläge, die im Entwurf des Petitionsgeset-
zes aufgegriffen werden, geben zu großen Bedenken An-
lass. In einigen Punkten decken sich meine Auffassungen
mit denen des Kollegen Stünker. Dies betrifft die Rege-
lungen zur Aussetzung des Vollzugs – hier habe ich
große Bedenken; darüber muss man genau nachdenken –,
das Verfahren bei Massenpetitionen und die Beweis-
erhebung nach Art eines Untersuchungsausschusses
gemäß § 18 des vorliegenden Gesetzentwurfs. Ich fürchte,
hier macht sich das Parlament immer mehr selbst zum
Richter. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen bei
allem Eifer den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht aus
den Augen verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bezweifle im Übrigen sehr, dass sich die von der
PDS angestrebte generelle Öffentlichkeit derAusschuss-
sitzungen positiv auf die Arbeit auswirkt. Es gibt durch-
aus Beispiele dafür, wo das Gegenteil der Fall ist. Ich
denke hierbei an die Öffentlichkeit von Ausschusssitzun-
gen in der Kommunalpolitik, aber auch an die Erfahrun-
gen aus dem Bayerischen Landtag.


(Maritta Böttcher [PDS]: Es gibt auch viele positive Beispiele!)





Joachim Stünker

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(D)



(A)



(B)


Wir haben es bisher auch bei brisanten Petitionen immer
geschafft, über Parteigrenzen hinweg nach der besten Lö-
sung zu suchen, und haben diese in vielen Fällen auch ge-
funden. Ich fürchte, dies gerät ein Stück in Gefahr, wenn
wir eine generelle Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen
herstellen. Ich habe hier ganz große Bedenken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Über einige Vorschläge werden wir sicherlich ergebnis-
offen diskutieren können. Ich denke da zum Beispiel an
die klare Abgrenzung der Entscheidungsformen des Aus-
schusses. Auch über die Möglichkeit, künftig elektronisch
signierte Petitionen zuzulassen, ein Minderheitenvotum
einzuführen oder ein Petitionsregister und eine Petitions-
datenbank einzuführen, wird man sicher reden können.

Allerdings werden wir in einigen Punkten sehr genau
abwägen müssen, ob es sich wirklich um eine Verbesse-
rung handelt oder wir uns im Grunde selbst Probleme
schaffen. Ein Beispiel ist die geplante Möglichkeit, Peti-
tionen zur Niederschrift einreichen zu können. Dies ist
auf den ersten Blick schön, würde aber auf den zweiten
Blick zu einer Privilegierung der in der Hauptstadtregion
lebenden Bürgerinnen und Bürger führen. Die Gleichbe-
handlung wäre infrage gestellt. Für Bürger aus dem
Bayerischen Wald ist es schwieriger, eine Petition beim
Deutschen Bundestag zu Protokoll zu geben, als für Bür-
ger aus der Region um Berlin.


(Bernd Reuter [SPD]: Das leuchtet ein!)

Ein weiterer Punkt ist die Einführung der elektroni-

schen Dateien sowie deren Öffentlichkeit. Auf den ersten
Blick scheint das populäre Argument der Transparenz
ausschlaggebend zu sein. Aber bitte denken Sie daran,
dass es in diesem Hause immer starke Kräfte gegeben hat,
die allergisch reagieren, wenn es darum geht, Datenbe-
stände anzulegen und die der Öffentlichkeit möglicher-
weise auch nur teilweise zugänglich zu machen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wohl wahr!)


All das müssen wir abwägen.
Auch die vorgeschlagene Teilung der Beschlüsse in

solche des Ausschusses und solche des Plenums des Deut-
schen Bundestages halte ich für außerordentlich bedenk-
lich. Aber vielleicht soll damit die vorherzusehende Stei-
gerung der Zahl der Petitionen aufgefangen werden, die
der PDS-Entwurf zur Folge hätte und die zu erheblichen
Mehrkosten führen wird. Denn ein strenger formalisiertes
Verfahren, weitgehende Öffentlichkeit der Sitzungen und
gar erst die Häufung der so genannten Massenpetitionen
lassen sich ohne deutlich erhöhte Sachmittel und vor al-
lem ohne mehr Personal gar nicht denken. Wäre das aber
wirklich das richtige Zeichen in der Zeit des Sparens?
Liebe Frau Kollegin Lüth, an die von Ihnen angesproche-
nen Roben habe ich dabei allerdings noch nicht gedacht.

Meine Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns in den
beteiligten Ausschüssen ernsthaft darüber reden, ob und
wo es Änderungsbedarf im Petitionsrecht gibt. Dabei
scheint mir eines klar zu sein: Es gäbe bei deutlich weni-
ger Regulierungswut einen viel einfacheren Weg zum

möglichen Ziel: Eine Änderung der Grundsätze des Peti-
tionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Be-
schwerden und vielleicht noch des Befugnisgesetzes
könnte mit weit weniger Aufwand und zudem schneller
denselben Nutzen bringen. Darüber müssen wir mitei-
nander reden.

Von dem vermeintlichen Charme, ein eigenes Peti-
tionsgesetz zu schaffen, sollten sich weder die Mitglieder
des Petitionsausschusses noch die Bürgerinnen und Bür-
ger blenden lassen. Viel wichtiger ist, dass der Petitions-
ausschuss seine in der Sache wichtige Aufgabe weiter
konsequent fortsetzen kann.

Meine Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für
die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Reuter [SPD] und des Abg. Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417310200
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

gen! Die Bürger und Bürgerinnen machen ja in erfreulich
großer Zahl von dem in Art. 17 des Grundgesetzes fest-
gelegten Grundrecht Gebrauch, sich mit Bitten und Be-
schwerden an die Volksvertretung zu wenden. Die Zahl
der Eingaben an den Deutschen Bundestag ist von 1970
bis heute von 10 000 auf über 20 000 Eingaben jährlich
gestiegen. Die begrüßenswerte Zunahme von aktiver Bür-
gerbeteiligung am politischen Willensbildungsprozess
über Petitionen sollte daher durch das Parlament aufge-
griffen und unterstützt werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der vorliegende Entwurf der PDS tut das; er ist zwei-
fellos gut gemeint, aber – es tut mir Leid – keineswegs gut
gemacht. Deshalb werden wir ihm auch nicht zustimmen
können. Er weist einige grundsätzliche Mängel auf, die
weder dem Petitionsrecht noch den Bürgerinnen und Bür-
gern gut tun.

Das bedauere ich; denn die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen streitet bekannterweise seit Jahren für eine
Verbesserung des Petitionsrechts. Gemeinsam mit unse-
rem Koalitionspartner bemühen wir uns auch jetzt um
einen Ausbau dieses wichtigen Bürgerinnen- und
Bürgerrechts. Unser Fraktionsvorsitzender hat ebenso
wie Bundestagspräsident Thierse und Justizministerin
Däubler-Gmelin mehrfach erklärt, dass im Rahmen eines
grundlegenden Ausbaus der Beteiligungsrechte der Bür-
gerinnen und Bürger – die Stichworte heißen Volksent-
scheid und Volksinitiative – der Ausbau des Petitions-
rechtes einen selbstverständlichen und herausragenden
Platz einnimmt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Uns geht es darum, sowohl die Rechte und Befugnisse des
Petitionsausschusses auszubauen als auch Möglichkeiten




Hubert Deittert
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zu schaffen, die den Bürgerinnen und Bürgern einen di-
rekten Zugang zur Volksvertretung für eigene innovative
Vorschläge und Initiativen ermöglichen.

Der erste Punkt ist, dass wir das Petitionsrecht über die
Lösung individueller Anliegen hinaus zu einem echten
politischen Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und
Bürger ausgestalten wollen. Ein Mittel dafür ist die ver-
besserte Rechtsstellung bei Massenpetitionen. Wenn
mindestens 50 000 Bürgerinnen und Bürger eine Petition
einreichen, sollten deren Vertreterinnen und Vertreter auf
Wunsch vom Petitionsausschuss gehört werden. Bei Be-
darf können diese Anhörungen zusammen mit dem zu-
ständigen Fachausschuss durchgeführt werden. Sie soll-
ten grundsätzlich öffentlich erfolgen, ebenso wie die
Beratung und Entscheidung des Petitionsausschusses. Die
abschließende Beratung und Beschlussfassung sollte
grundsätzlich in öffentlicher Beratung und durch das Par-
lament als Ganzes erfolgen.

Ein zweiter Punkt ist im Zusammenhang mit den Vor-
schlägen zur Verbesserung des Petitionsrechtes für uns
sehr wichtig: Weil das grundrechtsgeschützte Petitions-
recht ein herausragendes Instrument des Parlaments zur
Kontrolle von Exekutive und Verwaltung ist, möchten wir
auch diesen Bereich stärken, zum Beispiel durch das
Recht, den Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen bis
zur Entscheidung über eine Petition aufzuschieben, durch
erweiterte Akteneinsichts- und Beiziehungsrechte so-
wie durch ein Selbstaufgriffsrecht des Petitionsaus-
schusses zur Behandlung eines offenkundigen Miss-
standes oder Problems aus eigener Initiative. Um das par-
lamentarische Kontrollrecht zu stärken, ist es sinnvoll,
wenn der Petitionsausschuss auch dann tätig werden
kann, wenn sich hinreichende Erkenntnisse ergeben, dass
Stellen, die der parlamentarischen Kontrolle unterliegen,
ihre Aufgaben eben nicht sachgerecht erledigen oder ge-
gen geltende Rechtsvorschriften verstoßen.

Von den Informationsrechten des Petitionsausschusses
soll auch auf Antrag einer Ausschussminderheit Gebrauch
gemacht werden. Ebenso sollte zur Nachvollziehbarkeit
der Ausschussentscheidung dem Petenten in der Be-
schlussbegründung sowohl die Auffassung des Ausschus-
ses als auch der Ausschussminderheit dargelegt werden.

Dritter Punkt: Durch die zunehmende Privatisierung
öffentlicher Bereiche fallen diese auch aus dem Peti-
tionsrecht heraus. Das betrifft weitreichende Bereiche der
Daseinsvorsorge, zum Beispiel Post, Telekommunikation
und Bahn. Hier muss das Petitionsrecht neu definiert und
auf eine tragfähige rechtliche Grundlage gestellt werden.

Mit dem Wunsch nach Stärkung des Petitionsrechts
rennen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der
PDS, bei uns offene Türen ein. Allerdings ist Ihr Antrag
kein guter Wegweiser für die gute Sache.

Ich möchte hier drei unserer wichtigsten Kritikpunkte
nennen:

Erstens. Sie wollen rechtliche Regelungen in einem
Gesetz zusammenfassen, die nicht in ein Gesetz gehören
und die dort nicht zusammengeführt werden können:
Grundgesetz mit Geschäftsordnung, Verfahrensgrundsätze
mit Befugnisgesetzen und Strafprozessordnung mit Peti-

tionsrecht. Das dürfte wohl nicht nur Juristen überfordern,
sondern auch die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich ver-
wirren. Der gut gemeinte Ansatz, das Verfahren zu ver-
einfachen, wird so nicht erreicht, sondern das Gegenteil
wäre der Fall.

Zweitens. Sie wollen den Petitionsausschuss mit den
Rechten eines Untersuchungsausschusses ausstatten; das
ist in dieser Debatte schon mehrfach angesprochen wor-
den. Diese Regelung im Gesetzentwurf der PDS-Fraktion
betrifft die Beweiserhebungsrechte des Petitionsaus-
schusses und ist an der Strafprozessordnung und den Be-
fugnissen eines Untersuchungsausschusses ausgerichtet.
Sie, Frau Kollegin Lüth, haben das zu Beginn bereits ent-
sprechend ausgeführt. Kann der Petitionsausschuss bisher
schon Zeugen und Sachverständige hören, so können
nach Ihrem Entwurf Zeugen mittels Ordnungsstrafen zum
Erscheinen und zur Aussage oder Eidesleistung gezwun-
gen werden. Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte
sollen entsprechend der Strafprozessordnung bestehen.
Darüber hinaus sollen die Sitzungen, die der Beweis-
erhebung dienen, öffentlich stattfinden.

Diese vorgeschlagenen Regelungen sind völlig über-
zogen. Der Petitionsausschuss ist schließlich kein Tribu-
nal. Hier wird Bürgerinnen und Bürgern geholfen, hier
soll klug und in aller Sachlichkeit verhandelt und ent-
schieden werden. Aus dem Petitionsausschuss ein Kampf-
instrument mit Polizeigewalt und Zwang zu machen ist
genau das, was wir nicht wollen. Dazu gibt es auch keine
Notwendigkeit.

In der bisherigen Praxis wird schon von den bestehen-
den und durchaus weitgehenden Untersuchungsbefugnis-
sen nur selten und behutsam Gebrauch gemacht. Die
Praxis bietet keinen Beleg für die Notwendigkeit einer
Verschärfung der Zwangsmittel. Die Einführung der
Strafprozessordnung in das Petitionsrecht ist nicht sach-
gerecht. Wie die Praxis der Untersuchungsausschüsse
zeigt, wird die Anwendung solcher Vorschriften häufig
auch noch von langwierigen Rechtsstreitigkeiten beglei-
tet, insbesondere dann, wenn Private von den Ermittlun-
gen betroffen sind. Wir können doch nicht in Kauf neh-
men, dass ein Petitionsverfahren durch Klageverfahren
oder Ähnliches lahm gelegt werden kann.

Insbesondere im Zusammenhang mit einem Selbst-
aufgriffsrecht und mit großzügigen Minderheitenrechten
sind diese ausufernden Untersuchungsbefugnisse, die Sie
vorgeschlagen haben, abzulehnen. Bei konsequenter und
selbstbewusster Anwendung sind die bestehenden Befug-
nisse des Petitionsausschusses in diesen Fragen absolut
ausreichend. Wer einen Untersuchungsausschuss zu ei-
nem Thema will, der soll einen Untersuchungsausschuss
beantragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Bernd Reuter [SPD])


Der Petitionsausschuss sollte alles vermeiden, was ihn
auch nur in die Nähe eines parteipolitischen Kampfin-
struments rücken könnte.

Drittens. Der Entwurf der PDS-Fraktion sieht vor, dass
der Petitionsausschuss in der Regel selbst über die Peti-
tionen entscheidet. Das heißt, dass die Petitionen nicht




Annelie Buntenbach

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mehr dem Plenum vorgelegt werden und nicht mehr der
Zustimmung des Bundestages selbst bedürfen. Diese
Regelung soll – so ist die Argumentation – das Gewicht
des Petitionsausschusses stärken und das Plenum entlas-
ten. Letzteres würde sicherlich erreicht, aber das Ziel, den
Ausschuss zu stärken, wird konterkariert. Die Beschlüsse
des Petitionsausschusses erhalten doch gerade dadurch
Gewicht, dass sie von der Mehrheit der Abgeordneten be-
stätigt werden und somit Beschlüsse des Deutschen
Bundestages sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Durch Ihren Vorschlag würde der Petitionsausschuss eher
abgewertet. Wir können vielleicht durch erweiterte öf-
fentliche Ausschusssitzungen im Petitionsausschuss die
abschließende Aussprache ersetzen – dies würde das Ple-
num entlasten –, aber bestimmt nicht den Beschluss durch
das Plenum. Diesem Vorschlag können wir keinesfalls zu-
stimmen.

Dies und anderes mehr macht den Entwurf insgesamt
sperrig, unhandlich und nicht solide.

Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Peti-
tionsausschuss hat sich bewährt und hat dennoch bisher
nur einen kleinen Bruchteil seines Potenzials ausge-
schöpft. Im Sinne einer transparenten und bürgerfreund-
lichen Arbeit kann und muss er reformiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417310300
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.


Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1417310400
Frau Präsiden-
tin! Meine Damen und Herren! Ich bin jetzt der dritte Ost-
westfale, der zum Petitionsrecht spricht. Wahrscheinlich
nehmen wir Ostwestfalen das Petitionsrecht besonders
ernst.


(Beifall der Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das Petitionsrecht ist für die Liberalen von ganz be-
sonderer Bedeutung. Die F.D.P. nimmt das Petitionsrecht
ernst; denn es markiert in einem Rechtsstaat den An-
spruch aller, die Rechtmäßigkeit von Hoheitsakten durch
die von ihm mitgewählten Volksvertreter überprüfen zu
lassen. Der hohe Stellenwert, der in unserem demokra-
tisch verfassten Rechtsstaat dem Petitionsrecht einge-
räumt wird, kommt dadurch zum Ausdruck, dass sich das
Petitionsrecht direkt aus dem Grundgesetz ableitet.
Art. 17 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 45 c des
Grundgesetzes sind hier schon genannt worden.

Mit der Aufnahme des Petitionsrechts in das Grundge-
setz hat der Gesetzgeber lediglich das seit Jahrhunderten
bestehende, in der Regel gewohnheitsrechtlich verankerte
Bürgerrecht geschützt, Eingaben gegenüber der jeweils
herrschenden Gewalt zu machen.

Die PDS-Fraktion legt heute einen Entwurf für ein ei-
genes Petitionsgesetz vor und will zugleich Art. 45 c des

Grundgesetzes entsprechend ändern. Dies wird von der
F.D.P.-Bundestagsfraktion grundsätzlich begrüßt.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie bei der PDS)


Nach mehreren parlamentarischen Anläufen zur Struktu-
rierung und Ausgestaltung des Petitionsrechts ist der vor-
liegende Gesetzentwurf aus Sicht der F.D.P. ein erster
Schritt.

Herr Kollege Stünker, ich bedaure, dass Sie für die
SPD schon jetzt Vorbehalte und Bedenken angemeldet
haben. Es war erstaunlich, von Ihnen zu hören, wie Sie
mit den Rechten von Minderheiten umgehen bzw. wie Sie
über diese Rechte denken. Herr Kollege Deittert, ich be-
daure, dass Sie für die CDU ähnliche Bedenken vorge-
tragen haben.

Erstaunlich ist aber auch, was die Kollegin Buntenbach
vorgetragen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die Grünen lehnen den Gesetzentwurf schon heute, in der
ersten Lesung, ab, ohne dass er überhaupt parlamenta-
risch beraten wurde. Frau Kollegin Buntenbach, die Grü-
nen haben hier wirklich ein merkwürdiges Parlaments-
verständnis.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie bei der PDS – Bernd Reuter [SPD]: Das ist populistisch!)


Ich habe den Eindruck, Sie lehnen diesen Gesetzentwurf
nur ab, weil er von der PDS kommt. Das kann nicht rich-
tig sein.

Die Vielzahl der Eingaben der Bürger an den Peti-
tionsausschuss des Deutschen Bundestages in den letzten
Jahren macht aus Sicht der F.D.P. die Verbesserung und
Straffung des Petitionsverfahrens erforderlich. Keinem
Petenten ist geholfen, wenn der Petitionsausschuss in der
Flut der Eingaben regelrecht ertrinkt, sich die Verfahren
zum Teil über Jahre hinziehen und sich der Petitionsaus-
schuss deshalb den einzelnen Beschwerdeführern kaum
mehr ausreichend widmen kann.

Dem Ausgeliefertsein und dem Gefühl der Hilflosig-
keit, das sogar verantwortungsbewusste, ja staatsbeja-
hende Bürger hin und wieder befällt, muss durch ein effi-
zientes und rechtsstaatlich einwandfreies Petitionsrecht
entgegengewirkt werden.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

In den Zeiten wie den unseren, in denen zu Recht von

mehr demokratischen Teilhaberechten gesprochen wird
– gerade die F.D.P. hat hier eine Vielzahl von Vorschlägen
gemacht –, kommt der Gesetzentwurf zur richtigen Zeit,
denn die Diskussion über Volksbegehren, Volksentscheid
und andere Mittel, mit denen mehr Bürgerbeteiligung an
politischen Entscheidungen erreicht werden soll, kann
ohne die Frage einer Neuausrichtung des Petitionsrechts
nicht geführt werden.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Anke Fuchs)

Inwieweit der vorliegende Gesetzentwurf seinem

selbst gesetzten Anspruch, für mehr Rechtsklarheit, mehr




Annelie Buntenbach
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Transparenz des Petitionsverfahrens und die Stärkung der
Petentenrechte zu sorgen, gerecht wird, und ob die vor-
geschlagenen Änderungen im Einklang mit gültigen
Rechtsvorschriften stehen, muss in den damit befassten
Ausschüssen ausführlich geprüft werden. Dabei muss die
praxisorientierte Umsetzungsmöglichkeit neuer oder geän-
derter Verfahrensvorschriften, zum Beispiel im Hinblick
auf Massenpetitionen oder die Möglichkeit zur Durch-
führung von Anhörungen, genauestens erörtert werden.
Auch der Vorschlag zur Einführung eines Petitionsregisters
und einer Petitionsdatenbank muss vor dem Hintergrund
datenschutzrechtlicher Bedenken geprüft werden.

Frau Kollegin Lüth, wir werden auch zu prüfen haben,
welche Petitionen vom gesamten Bundestag behandelt
werden müssen und bei welchen es genügt, den Petitions-
ausschuss damit zu befassen. Ich sage für die F.D.P.-Frak-
tion: Wir müssen der Gefahr entgegenwirken, dass sich
der gesamte Bundestag in der Frage des Petitionsrechts
aus der Verantwortung stiehlt.

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird sich im weiteren
parlamentarischen Verfahren konstruktiv an den Beratun-
gen dieses Gesetzentwurfs beteiligen. Dabei werden wir
besonders darauf achten, dass dieser auch unter
rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genauestens unter die
Lupe genommen wird. Der ehemalige Direktor beim
Deutschen Bundestag, Rudolf Kabel, bemerkte vor Jah-
ren in seinem Geleitwort zu Rupert Schicks grundlegen-
dem Werk über Petitionen treffend:

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in unserer
extrem repräsentativ verfassten Demokratie eine
grundrechtlich und verfahrensmäßig gesicherte
Möglichkeit der unmittelbaren Artikulation von Bür-
gerwillen geboten ist.

Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf in der parlamen-
tarischen Arbeit, das heißt in der weiteren Arbeit der Aus-
schüsse, vorurteilsfrei auf diese Möglichkeiten hin unter-
suchen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417310500
Ich erteile dem Kolle-
gen Bernd Reuter, SPD-Fraktion, das Wort.


Bernd Reuter (SPD):
Rede ID: ID1417310600
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In der jetzigen Debatte ist
von vielen Debattenrednern viel Richtiges ausgeführt
worden. Herr Kollege Nolting, Ihre Kritik an der Kollegin
Buntenbach ist etwas daneben.


(Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Nein, weil sie es heute schon ablehnt!)


Sie muss doch das Recht haben, zu sagen, dass sie aus den
Gründen, die sie genannt hat, dem Gesetzentwurf in der
vorliegenden Form nicht zustimmt.


(Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist, was ich gesagt habe! – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie hat ihn grundsätzlich abgelehnt!)


– Nein, das hat sie nicht gesagt.

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wir gehen erst in die parlamentarische Arbeit hinein!)


Ich habe von der Kollegin Buntenbach viel Nachvoll-
ziehbares gehört, was mir gefällt. Bei einigen Vorschlägen
sind noch Beratungen in der Koalition erforderlich, um
dort zusammenzukommen. Das ist vollkommen klar.

Herr Kollege Nolting, es wird Sie vielleicht verwun-
dern, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich bezüglich eini-
ger Ausführungen heute dem Kollegen Deittert näher bin.
Wenn Sie die Minderheiten in den Blick nehmen, brau-
chen Sie doch nicht mehr mitzudiskutieren; Sie kommen
auf 18 Prozent und damit ist Ihr Problem gelöst.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Umso mehr werden wir uns für Minderheiten einsetzen!)


– Da bin ich einmal gespannt.
Ich bin der Meinung, dass das Petitionsrecht jedem

Bürger und jeder Bürgerin das Recht gibt, sich an die
Volksvertretung zu wenden, und zwar mit dem Ziel, das
vorgetragene Problem der Petenten zu lösen.

Frau Lüth, ich muss Ihnen sagen: Bei dem Entwurf,
den Sie vorgelegt haben, habe ich den Eindruck, Sie woll-
ten eine gesetzliche Grundlage schaffen, mit der Sie deut-
lich machen wollen, wie die Entscheidungsfindung im
Deutschen Bundestag abläuft und wie die Mehrheit und
die Minderheit jeweils zu einem Problem stehen. Aber das
halte ich eigentlich vom Ansatz her für falsch.

Vielmehr bin ich heute noch den Müttern und Vätern
des Grundgesetzes dankbar, die mit einem einfachen Satz,
der heute schon hier zitiert wurde, festgelegt haben, dass
sich jedermann an den Deutschen Bundestag wenden
kann, wenn er Probleme hat, die in die Zuständigkeit des
Bundes fallen. Dieser einfache Satz hat dazu geführt, dass
wir 20 000 bis 25 000 Petitionen bekommen. Ich bin nicht
der Meinung, dass wir das Rad neu erfinden müssen, wie
es hier anklang. Vielmehr müssen wir auf dem aufbauen,
was wir schon mit diesem Petitionsrecht segensreich für
unsere Bürgerinnen und Bürger zu leisten imstande wa-
ren.

Aber es ist klar, dass kein Gesetz so gut sein kann, dass
es für alle Zeiten Gültigkeit hat. Auch Gesetze müssen
entsprechend den gesellschaftlichen Veränderungen wei-
terentwickelt werden.


(Zuruf von der PDS: Sehr richtig!)

Das gilt auch für das Petitionsrecht und die demokratische
Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an dem Willensbil-
dungsprozess in unserer Gesellschaft.

Ich möchte auf den Beschluss des SPD-Parteivorstan-
des vom 19. März dieses Jahres verweisen. Darin ist ver-
ankert, dass das Petitionsrecht weiterentwickelt werden
soll. Aber ich gebe zu, liebe Frau Lüth, dass Sie den Na-
gel vollkommen auf den Kopf getroffen haben, als Sie
sagten, da werde zum Beispiel gefordert, dass man eine
Petition auch dem Bundestag zur Beratung überstellen
können müsse. Das können wir doch schon jetzt.




Günther Friedrich Nolting

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich würde mir wünschen, dass man bei der Weiterent-
wicklung dieses Gesetzes etwas mehr auf diejenigen hört,
die Woche für Woche im Petitionsausschuss sitzen und
sich über diese Probleme Gedanken machen.


(Heidemarie Lüth [PDS]: Genau darum geht es!)


Ich kann Sie nur ermuntern, in einen fruchtbaren Dialog
einzutreten um die Angelegenheit dann gemeinsam vo-
ranzubringen.

Ich möchte aber darum bitten, behutsam vorzugehen.
Frau Lüth, Sie haben vorhin ausgeführt, die Petenten
müssten erst alle Rechtsvorschriften zusammenklauben,
um in der Lage zu sein, eine Petition einzureichen. Wir
sollten viel mehr mit unseren Informationsmaterialien
werben. Diese Broschüre ist doch eine wunderbare Sache:
„Stichwort Petitionen“. Darin steht sogar, dass Sie die
Vorsitzende sind. Da sind alle Mitglieder des Petitions-
ausschusses aufgeführt. Die Bürgerinnen und Bürger, die
gerne informiert sein wollen, können das anfordern und
sind dann in der Lage, eine vernünftige Petition einzurei-
chen.

Wenn die Änderung eines Gesetzes einer Zweidrittel-
mehrheit dieses Hauses bedarf, dann müssen wir uns
natürlich um Konsens bemühen. Lieber Günther Nolting,
wir werden darüber beraten, wie wir das besser machen
können. Denn auch mir fällt bei Art. 45 c etwas auf. Da
steht in Abs. 1:

Der Bundestag bestellt einen Petitionsausschuss,
dem die Behandlung der nach Artikel 17 an den Bun-
destag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt.

In Abs. 2 heißt es:
Die Befugnisse des Ausschusses zur Überprüfung
von Beschwerden regelt ein Bundesgesetz.

Plötzlich sind die Bitten weg. Das könnte 1975 ein geset-
zestechnischer Fehler gewesen sein. Ich bin schon der
Meinung, dass wir das in Ordnung bringen sollten, weil es
keinen Sinn macht, wenn in Abs. 2 die Bitten nicht dabei
sind. Deshalb müssten wir uns meiner Ansicht nach da-
rauf verständigen, nach einer vernünftigen Beratung eine
Änderung des Grundgesetzes vorzunehmen.

Ich will noch einige Dinge ansprechen, die mir bei die-
sem Entwurf Sorgen bereiten.

Es klang auch bei Frau Buntenbach an, dass man Mas-
senpetitionen eine besondere Behandlung zusichern will.
Ich habe in der langen Zeit, in der ich im Petitionsaus-
schuss sitze, festgestellt, wie bedeutsam dieses Recht für
ganz einfache, allein kämpfende Menschen ist, die sich
Hilfe suchend an das Parlament wenden. Wenn die jetzt
den Eindruck haben, dass eine Petition, wenn sie nur mit
vielen Unterschriften versehen ist, besser behandelt wird,
dann habe ich die Sorge, dass sie das Vertrauen in den Pe-
titionsausschuss verlieren und sich sagen: Dahin braucht
man sich als Einzelner gar nicht zu wenden; man muss eine
Großorganisation anschreiben oder sich dort beteiligen.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Damit sind wir wieder bei den Minderheiten!)


– Auch ich bin ein Verfechter der Rechte der Minderhei-
ten, weil die Demokratie, Herr Kollege Nolting, nur funk-
tioniert, wenn die Mehrheit in der Lage ist, die Rechte der
Minderheiten zu wahren.

Damit komme ich zu einem anderen Punkt. Ich kann
mir eigentlich nicht vorstellen, dass es im Sinne des Er-
finders einer funktionierenden Demokratie sein kann,
dass zwei von 29 Abgeordneten des Ausschusses be-
schließen können, dass dieses und jenes gemacht wird.
Das ist ein zu weit gehendes Minderheitenrecht.

Nun will ich einen weiteren Punkt aufgreifen, und zwar
die Beteiligung der Öffentlichkeit. Frau Lüth, es besteht
doch bereits jetzt die Möglichkeit, die Sitzungen des Pe-
titionsausschusses öffentlich durchzuführen. Wir müssen
von dieser Möglichkeit nur Gebrauch machen. Ich weiß,
dass wir dabei auf bürokratische Hürden stoßen, weil zum
Beispiel keine Stenographen verfügbar sind oder weil
keine passenden Räume vorhanden sind. Aber zumindest
die Situation bei den Räumlichkeiten dürfte besser wer-
den, wenn erst einmal die Gebäude um den Reichstag
herum fertig sind. Dann sollten wir von dieser Möglich-
keit auch Gebrauch machen.

Das Petitionsrecht berücksichtigt, dass mit vielen Pro-
blemen, die die Menschen an uns herantragen, so behutsam
umgegangen werden muss, dass diese gar nicht öffentlich
abgehandelt werden können. Ich denke dabei besonders an
einen Fall, bei dem wir uns darauf verständigt haben, ihn
nicht öffentlich zu diskutieren; alle Eingeweihten dürften
aber wissen, worum es sich handelt. Diesen Fall hätten wir
öffentlich nie und nimmer lösen können.

Es gibt aber natürlich auch Petitionen, bei denen es ver-
nünftig ist, wenn man öffentliche Diskussionen durch-
führt. Dadurch könnte eine breitere Öffentlichkeit daran
teilnehmen, interessierte Bürgerinnen und Bürger könn-
ten an der Diskussion mitwirken. Wir sollten wirklich da-
rüber nachdenken, wie wir diesen Punkt besser verwirkli-
chen können. Ich denke aber, dass wir ihn nicht generell
verankern können. Das würde dazu führen, dass wir das
ganze Verfahren so schwerfällig machen würden, dass wir
gar nicht in der Lage wären, die Vielzahl der Petitionen
vernünftig zu bearbeiten.

Sie haben vorgeschlagen, die Bearbeitung der Petitio-
nen nach den Regeln der Strafprozessordnung durchzu-
führen. Dazu will ich Folgendes sagen: Die Konsequenz
wäre, dass nur derjenige Vorsitzender des Petitionsaus-
schusses werden könnte, der die Befähigung zum Rich-
teramt hat. Wollen wir das? Wir wollen doch eher, dass
auch Menschen mit gesundem Menschenverstand und
nicht nur Juristen darüber befinden, wie die Probleme ge-
regelt werden sollen. Deshalb neige ich zu der Auffas-
sung, dass wir diesem Vorschlag so nicht folgen können.

Zur Transparenz möchte ich sagen: Im Petitionsrecht
gibt es Verfahrensgrundsätze, die schon heute eine öffent-
liche Diskussionen im Plenum ermöglichen. Auch die
Minderheitenrechte sind gewahrt. Wenn eine Minderheit
im Ausschuss mit einer Entscheidung des Ausschusses
nicht einverstanden ist, dann hat sie nach unseren Verfah-
rensgrundsätzen schon heute die Möglichkeit, einen An-
trag auf gesonderte Ausweisung zu stellen. Im Plenum
wird dann eine Debatte darüber geführt. Damit ist meiner




Bernd Reuter
16944


(C)



(D)



(A)



(B)


Meinung nach dem Rechnung getragen, was hier gefor-
dert wird.

Ich bin deshalb der Meinung, dass wir dem Gesetzent-
wurf der PDS nicht in Bausch und Bogen zustimmen kön-
nen. Ich bin aber schon der Meinung, dass wir ihn weiter-
hin vernünftig erörtern und beraten sollen. Wir müssen
nämlich Wege finden, wie wir die Beteiligung der Bürge-
rinnen und Bürger stärken, wie wir mit Massenpetitionen
vernünftig umgehen, ohne die Einzelpetitionen herabzu-
setzen, und wie wir Öffentlichkeit herstellen, ohne die
Einzelbeschwerde dem Kräftespiel der öffentlichen Dis-
kussion schutzlos auszusetzen. Ich finde, dass die PDS
mit ihrem Anliegen richtig liegt, die Weiterentwicklung
des Petitionsrechtes anzugehen und hier im Parlament zu
beraten und zu beschließen.

Änderungsbedarf besteht – das ist hier schon einige
Male gesagt worden – auch dahin gehend, dass wir die di-
gitale Signatur einführen müssen, damit auch elektronisch
eingereichte Petitionen vernünftig bei uns behandelt wer-
den können. Ich habe schon angeregt, Art. 45 cAbs. 2 des
Grundgesetzes so zu ändern, dass er Bitten und Be-
schwerden enthält. Darüber hinaus müssen wir uns darü-
ber Gedanken machen – Frau Buntenbach hat das schon
angesprochen –, wie wir das Recht gestalten können, um
den Menschen zu helfen, die Probleme mit Großorgani-
sationen, etwa mit Post und Bahn, haben. Ich erinnere
mich noch, dass wir, als die Post noch nicht privatisiert
war, bei Petitionen in vielen Fällen helfen konnten. Der
Postminister hat uns damals bei Petitionen, die falsche
Rechnungen betrafen, geholfen. Dadurch haben wir vie-
len Menschen in unserem Lande helfen können. Durch die
Privatisierung ist dies so nicht mehr möglich, die Pro-
bleme sind damit aber nicht verschwunden. Denn ich höre
nach wie vor, dass Menschen Probleme mit diesen Ein-
richtungen haben. Deshalb bin ich der Meinung, dass die-
ser Punkt im Gesetz berücksichtigt werden muss.

Wir dürfen uns aber keinen Schnellschuss leisten; wir
dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es exis-
tiert zu dem Thema „Mehr Bürgerbeteiligung“ ein Ge-
sprächskreis unter Leitung des stellvertretenden Vorsit-
zenden unserer Fraktion, Ludwig Stiegler. Interessierte
aus allen Fraktionen kann ich hierzu nur herzlich einla-
den, damit wir diese Gespräche in Gang bringen.

Eine Änderung des Petitionsrechtes braucht einen brei-
ten parlamentarischen Konsens. Im Sinne unserer Peten-
tinnen und Petenten sowie aller Menschen unseres Landes
hoffe ich, dass dieses Parlament die Kraft aufbringen
wird, das Petitionsrecht weiterzuentwickeln und gemein-
sam zu einem positiven Ergebnis zu kommen, nämlich zu
einem Petitionsrecht, das den veränderten Bedingungen
unserer Gesellschaft angepasst ist, und dass wir uns mit
einem entsprechenden Gesetzesvorhaben öffentlich sehen
lassen können.


(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Einverstanden!)


– Gut.
Vielen Dank für Ihre Geduld.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417310700
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1417310800
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Frak-
tion der PDS hat einen Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Art. 45 c Abs. 2 des Grundgesetzes eingebracht,
zu dem ich heute ein paar Anmerkungen machen möchte
und der auf den ersten Blick den Anschein erweckt, als ob
hier nur ein gewisses redaktionelles Versehen aus dem
Jahr 1975 korrigiert werden soll. Art. 45 c Abs. 2 soll
künftig lauten: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
Aber dieser zunächst unproblematisch erscheinende Satz,
diese von der PDS-Fraktion vorgeschlagene schlichte
Neuformulierung, würde eine gravierende Änderung der
Rechtsstellung des Petitionsausschusses bewirken.
Diese Änderung würde quasi durch die Hintertür den Ein-
stieg in eine neue Form von Untersuchungsausschüssen
und auch eine neue Form der Gesetzesinitiative begrün-
den. Es käme zu einer erheblichen, zu der Systematik des
Grundgesetzes nicht passenden Ausweitung der Kompe-
tenzen des Petitionsausschusses. Ich gehe davon aus, dass
genau dies das eigentliche Ziel des PDS-Gesetzentwurfs
ist.

Um meine Bedenken gegen die Neuformulierung zu
erläutern, möchte ich mich ganz kurz auf Art. 17 des
Grundgesetzes beziehen. Er gewährleistet das Petitions-
recht und schreibt fest, dass jeder das Recht hat, sich mit
Bitten oder Beschwerden an die zuständigen staatlichen
Stellen und an die Volksvertretung, also auch an den Deut-
schen Bundestag, zu wenden. Dieser Gedanke ist in der
Geschichte der Demokratie nicht neu. Er ist schon in der
Bill of Rights von 1689 formuliert worden. Art. 17 gehört
zum demokratischen Urgestein in unserem Land. Eine
ähnliche Regelung kannte auch schon die Weimarer Ver-
fassung. Art. 45 c ist hingegen erst 1975 in das Grundge-
setz aufgenommen worden. Er ist eine Ausführungsnorm,
die bestimmt, auf welche Weise beim Deutschen Bundes-
tag mit Petitionen umzugehen ist. Die Fragen, die die
PDS-Fraktion in ihrem Gesetzentwurf aufwirft, waren
auch schon damals, als Art. 45 c aufgenommen werden
sollte, Gegenstand der Diskussionen.

Wie die PDS-Fraktion in ihren Erläuterungen zu ihrem
Gesetzentwurf richtig ausführt, bestanden schon vor
1975, quasi als Rechtsannex zu Art. 17, Rechte des Peti-
tionsausschusses des Deutschen Bundestages. Bei der Re-
form 1975 ging es also tatsächlich nicht um die originäre
Festlegung der Befugnisse dieses Ausschusses, sondern
um die Schaffung besonderer, erweiterter Befugnisse für
einen Teil des Aufgabengebietes des Petitionsausschus-
ses. Dieser erhielt 1975 eine verfassungsrechtliche Son-
derstellung, weil seine Einsetzung und sein Aufgabenbe-
reich zwingend vorgeschrieben wurden. Hinsichtlich der
Erweiterung der Befugnisse muss genau beachtet werden,
wie differenziert die Regelung ausgefallen ist.

Im Hinblick auf die Behandlung von Bitten blieb es bei
den auch schon vorher verfassungsrechtlich vorgegebe-
nen Befugnissen, also dem Petitionsinformierungs- und
dem Petitionsüberweisungsrecht sowie dem Recht, Anhö-
rungen durchzuführen. Hinsichtlich der Beschwerden




Bernd Reuter

16945


(C)



(D)



(A)



(B)


sind die Rechte des Ausschusses sowohl gegenüber der
Exekutive als auch gegenüber den Bürgern erweitert wor-
den. Hier wird die Sonderstellung deutlich. Dies geschah
über die in Abs. 2 eingefügte einfachgesetzliche Rege-
lung. Hier wurden dem Ausschuss direkte Informations-
und Sachaufklärungsrechte gegenüber der Verwaltung
und dem Bürger zuerkannt, die dem Gesamtparlament
nicht zustehen und die auch nicht über eine Veränderung
der Geschäftsordnung zu erreichen waren. Durch den
Ausbau des Petitionsausschusses zu einem noch wirksa-
meren Kontrollorgan gegenüber der Verwaltung ist dieser
Ausschuss in bestimmten Aspekten bereits in die Nähe ei-
nes Untersuchungsausschusses gerückt.

Seine Stellung ist darüber hinaus noch dadurch ge-
stärkt worden, dass er nicht an einen Untersuchungsauf-
trag des Parlaments gebunden ist, sondern Gegenstand,
Art und Umfang seiner Untersuchungen auf der Grund-
lage eingegangener Petitionen selbst bestimmen kann.
Aber diese Erweiterung erfolgte lediglich hinsichtlich der
Beschwerdebehandlung. Das ist also eine ganz klare Dif-
ferenzierung.

Deswegen ist es wichtig, sich die Abgrenzung zwi-
schen Bitte und Beschwerde genau vor Augen zu führen.
Dabei erkennt man, dass auch die Beschwerden eine ge-
wisse Bitte umfassen müssen; denn Art. 17 hat nicht den
Zweck, Mitteilungen oder Meinungsäußerungen an das
Parlament zu schützen. Die Verfassung differenziert also
zwischen Beschwerden mit einer konkreten Bitte und
schlichten Bitten allgemeiner Art.

Eine Beschwerde liegt vor, wenn eine konkrete staatli-
che Maßnahme angegriffen wird, das heißt, ein Handeln
oder Unterlassen in einem konkreten Fall gerügt und dann
um Abhilfe gebeten wird. Bei der schlichten Bitte geht es
darum, dass ein bestimmtes staatliches Handeln ge-
wünscht wird. Es fehlt der konkrete Fallbezug oder er
dient nur als Beispiel für einen Missstand, auf den allge-
mein hingewiesen und den zu beseitigen angeregt wird.

Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt, auch an
dem Punkt, was Sie mit Ihrem Antrag begehren. 1975
wurde nämlich sachgerecht und systemkonform festge-
legt, dass die Befugnisse des Petitionsausschusses nur in
einer Richtung erweitert werden sollten, nämlich hin-
sichtlich der Beschwerden, nicht aber hinsichtlich der Bit-
ten. Genau dies steht in Abs. 2 des Art. 45 c.

Um uns zu verdeutlichen, welches der Zweck dieser
1975 getroffenen Unterscheidung war, brauchen wir nur
den Vorschlag der PDS konsequent zu Ende zu denken;
denn sie will die Differenzierung zwischen Beschwerden
und Bitten abschaffen. Eine Erstreckung der erweiterten
Befugnisse auch auf die Bearbeitung von Bitten – genau
dies sieht die Neuformulierung vor – würde die Kompe-
tenzen des Petitionsausschusses stark erweitern und die
Systematik des Grundgesetzes sprengen. Der Petitions-
ausschuss würde hinsichtlich vieler vorgetragener allge-
meiner Missstände zu einem Untersuchungsausschuss
besonderer Art, der jedem herkömmlichen Untersu-
chungsausschuss an Rechten weit überlegen und thema-
tisch nicht begrenzt wäre. Da stimme ich der Kollegin
Buntenbach ausdrücklich zu. Wer einen Untersuchungs-

ausschuss will, soll ihn beantragen. Dann kann er auch
Thema und Arbeitsweise entsprechend gestalten.

Dass genau dies das Ziel der PDS-Initiative ist, legt
auch ihr Entwurf für das Petitionsgesetz nahe, der in sei-
nen §§ 16 bis 18 eine solche Entwicklung fördern würde.
Sollten sich die Bitten auf Gesetzesinitiativen beziehen,
würde dem Petitionsausschuss der Status eines allgemei-
nen Gesetzgebungsausschusses zuwachsen. Jedes Mal,
wenn ein Bürger die Bitte zur Schaffung einer neuen ge-
setzlichen Regelung vortragen würde, wäre der Ansatz zu
einer Gesetzesinitiative gelegt. Eine einfache Mehrheit im
Bundestag könnte ein Gesetz schaffen, mit dem alle An-
regungen von außen als vollwertige Gesetzesinitiativen
zu behandeln wären.

Dies ist der konkrete Hintergrund. Wenn Sie die Rege-
lung „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ vorschlagen,
könnten Sie ohne verfassungsändernde Mehrheit zu einer
ganz neuen Gesetzesinitiative kommen. Genau dies wol-
len Sie ja, aber genau dies passt nicht in das System un-
seres Grundgesetzes.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die grundgesetzliche Regelung des Art. 76 Abs. 1,

nach der Gesetzesvorlagen auf Bundesebene nur durch
die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder
durch den Bundesrat eingebracht werden können, würde
durch die vorgeschlagene Formulierung auf einfachge-
setzlicher Ebene erweitert werden. Durch die hier ge-
plante Änderung könnte leicht eine Situation eintreten,
die ich für durchaus problematisch halte. Dies wurde auch
von Ihnen schon angesprochen. Der Bundestag müsste
sich mit allen gut gemeinten Vorschlägen verfahrenstech-
nisch aufwendig auseinander setzen. Ein großer Teil sei-
ner Arbeitszeit wäre damit gebunden und die allgemeine
legislative Arbeit würde deutlich erschwert werden. Alles
das, was heute schon über den Petitionsausschuss ge-
macht werden kann, würde automatisch ins Plenum hi-
neingetragen werden. Es wäre nicht ein Mehr an Transpa-
renz und Möglichkeiten, sondern es wäre ein Mehr an
Bürokratie.

Genau diese Konsequenzen hat man 1975 erkannt und
hat deswegen diese Regelung anders getroffen. Der Peti-
tionsausschuss sollte gerade kein Fachausschuss sein,
auch kein zweiter Weg für Gesetzesinitiativen. Er sollte
kein zusätzliches Kontrollorgan sein, mit dem der Ein-
zelne neben dem Parlament die Bundesregierung und die
Bundesverwaltung kontrollieren kann.

Der Petitionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich
den Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Ein-
zelfällen zu widmen, und da leistet er eine hervorragende
Arbeit.

Sie merken, meine Damen und Herren: Wenn Sie den
Vorstoß der PDS konsequent weiterdenken, dann kom-
men wir zu einem ganz anderen Punkt als einer schlichten
Vereinheitlichung des Petitionsrechts. Der Vorschlag der
PDS hat nicht zum Ziel, ein vermeintlich redaktionelles
Versehen aus der Welt zu schaffen, wie er vorgibt, viel-
mehr soll der Petitionsausschuss über einen einfachge-
setzlichen Regelungsvorbehalt zu einem Element der di-
rekten Demokratie umfunktioniert werden.




Volker Kauder
16946


(C)



(D)



(A)



(B)


Es geht in dieser Debatte um die politisch erhebliche
Frage, ob wir unsere politische Ordnung staatsrechtlich
plebiszitären Elementen öffnen sollen oder nicht. Ideen der
direkteren Demokratie, einer Demokratie, die stärker die
Initiativen der Staatsbürger berücksichtigt, als das in unse-
rer repräsentativen Demokratie bisher vorgesehen ist, wer-
den zurzeit diskutiert. Zumindest der Petitionsausschuss
des Deutschen Bundestages ist dazu der falsche Platz.

In nicht allzu ferner Zukunft – dies wurde heute schon
angekündigt – werden wir ohnehin Gelegenheit haben,
über dieses Thema intensiv zu diskutieren. SPD und
Grüne haben sich gemäß ihrer Koalitionsvereinbarung
vorgenommen, demokratische Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu stärken.
Dazu müsste unsere Verfassung geändert werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)

– Warten wir einmal ab, was sehr gut ist!


(Jörg Tauss [SPD]: Da macht ihr mit! Konstruktiv, Herr Kollege!)


Das Grundgesetz kennt – von der Ausnahme der Län-
derneugliederung einmal abgesehen – für die Bundes-
ebene keine plebiszitären Elemente. Es legt für Deutsch-
land eine repräsentative Demokratie fest, bei der
Instrumente wie Volksinitiativen und Volksbegehren – an-
ders als auf Länderebene – nicht bestehen. Elemente einer
direkten Demokratie zu fordern mag dem Zeitgeist ent-
sprechen. Notwendig sind sie wegen der guten Erfahrun-
gen mit dem Funktionieren unseres Staates sicherlich
nicht. Wir sind mit der repräsentativen Demokratie seit
1949 sehr gut gefahren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Das war schon immer so! Das muss so bleiben!)


Wie schwierig, Herr Kollege, und in der konkreten
Umsetzung fragwürdig Regelungen einer so genannten
direkten Demokratie sind, ergibt sich schon aus dem Be-
schluss, den der SPD-Parteivorstand vor einigen Wochen
gefasst hat. Daraus möchte ich mir eine kleine Passage
vornehmen. Einerseits erwartet man eine Stärkung der re-
präsentativen Demokratie, andererseits werden die Sor-
gen ausführlich problematisiert, dass der Staat anfälliger
für häufig wechselnde Stimmungen wird. In dem
SPD-Beschluss wird peinlich genau darauf geachtet, dass
der Wille des Volkes nur ja nicht über den parlamentari-
schen Entscheidungen angesiedelt wird. Einerseits sollen
die Beteiligungsrechte in – ich zitiere – „wichtigen politi-
schen Sachentscheidungen“ gestärkt werden, andererseits
sollen Volksinitiativen nicht auf die Wahl oder die Abwahl
von Personen, Wahlen oder Veränderungen von Finanz-
oder Steuerregelungen gerichtet sein.


(Jörg Tauss [SPD]: Ist doch okay! Guter Beschluss!)


Daran erkennt man eindeutig: Die SPD möchte auf den
Zug des Zeitgeistes aufspringen; doch die Angst vor der
eigenen Courage ist noch groß.


(Bernd Reuter [SPD]: Herr Kollege Kauder, wie hätten Sie es denn gern? – Jörg Tauss [SPD]: Der Kollege Kauder würde gern eine Monarchie einführen!)


Diese Sorgen teile ich durchaus. Deswegen bin ich der
Meinung: Das System der repräsentativen Demokratie hat
sich in unserem Lande bewährt. Es bedarf einer Verände-
rung nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417310900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/5762 und 14/5763 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/5763
soll im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung federführend beraten werden. – Dazu gibt
es keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 h, 28 j
und 28 k sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 e auf – es
handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren –:
28a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Grundgesetzes (Art. 108)

– Drucksache 14/6144 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Finanzverwaltungsgesetzes und ande-
rer Gesetze
– Drucksache 14/6140 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Be-
schluss des Rates vom 29. September 2000 über
das System der Eigenmittel der Europäischen
Gemeinschaften
– Drucksache 14/6142 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Finanzausschuss
Haushaltsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstel-
lung von Gesetzen und Verordnungen im Zu-
ständigkeitsbereich des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Technologie sowie des Bundesmi-
nisteriums für Bildung und Forschung auf Euro

(Neuntes Euro-Einführungsgesetz)

– Drucksache 14/5937 –




Volker Kauder

16947


(C)



(D)



(A)



(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
von Verbrauchsteuergesetzen und des Finanzver-
waltungsgesetzes sowie zur Umrechnung zoll- und

(Zwölftes Euro-Einführungsgesetz – 12. EuroEG)

– Drucksache 14/6143 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen zwischen der Europäischen Gemein-
schaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft ande-
rerseits über die Freizügigkeit
– Drucksache 14/6100 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Tschechischen Republik vom 2. Fe-
bruar 2000 zur weiteren Erleichterung des
Rechtshilfeverkehrs
– Drucksache 14/6101 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes
– Drucksache 14/5927 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft (f)

Rechtsausschuss

j) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt „Klonen von Tieren“
– Drucksache 14/3968 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Gesundheit

k) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Stand und Perspektiven der
genetischen Diagnostik“
– Drucksache 14/4656 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

ZP 4a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstel-
lung von Vorschriften des Dienst-, allgemeinen
Verwaltungs-, Sicherheits-, Ausländer- und Staats-

(Sechstes EuroEinführungsgesetz)

– Drucksache 14/6096 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 10. März 2000 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Korea über soziale Sicherheit
– Drucksache 14/6110 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Annette
Faße, Reinhard Weis (Stendal), Hans-Günter
Bruckmann, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD sowie den Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errich-

(Binnenschifffahrtsfondsgesetz – BinSchFondsG)

– Drucksache 14/6159 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Tierschutz auf nationaler und EU-Ebene fort-
entwickeln
– Drucksache 14/6047 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung




Vizepräsidentin Anke Fuchs
16948


(C)



(D)



(A)



(B)


e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Klaus Grehn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Für ein Bundesrahmengesetz zurWeiterbildung
– Drucksache 14/6170 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussfassung zu Vorlagen, zu de-
nen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 29 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung (20. Ausschuss) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission an den Rat und das
Europäische Parlament
European Community Investment Partners

(ECIP)

Bericht über die Durchführung 1998
KOM (00) 135 endg.; Ratsdok. 07080/00
– Drucksachen 14/3428 Nr. 2.28, 14/4944 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther (Plauen)

Carsten Hübner

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bundes-
regierung über den Bericht „European Community
Investment Partners (ECIP) – Bericht über die Durch-
führung 1998“ zu Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt die-
ser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschlie-
ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist auch diese
Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen (15. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen
Parlaments und des Rates über einen Gemein-

schaftsrahmen für die Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der nachhaltigen Stadtentwicklung
KOM (99) 557 endg.; Ratsdok. 13558/99
– Drucksachen 14/3859 Nr. 2.2, 14/4976 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Iwersen

Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrich-
tung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 29 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Batterie-
verordnung
– Drucksachen 14/5931, 14/6019 Nr. 2.1, 14/6136 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Kelber
Werner Wittlich
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva-Bulling-Schröter

Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-
sache 14/5931 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Dann ist die Be-
schlussempfehlung einstimmig angenommen.


(Zuruf von der SPD)

– Will irgendjemand etwas gegen Herrn Rexrodt sagen,
der nicht genau weiß, was in dieser Batterieverordnung
drinsteht?


(Heiterkeit – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Können Sie mir das einmal erläutern, Frau Präsidentin?)


– Die Batterien sind sicher, Herr Kollege.

(Heiterkeit)


Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 8
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsge-
richt
– Drucksache 14/6013 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.




Vizepräsidentin Anke Fuchs

16949


(C)



(D)



(A)



(B)


Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 270 zu Petitionen
– Drucksache 14/6075 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Sammelübersicht 270 ist bei Enthaltung
der PDS angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 271 zu Petitionen
– Drucksache 14/6076 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 271 ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 272 zu Petitionen
– Drucksache 14/6077 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-
melübersicht 272 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.

Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 273 zu Petitionen
– Drucksache 14/6078 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Sam-
melübersicht 273 ist gegen die Stimmen der PDS ange-
nommen.

Zusatzpunkt 5:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vor-
schriften über die Zustellung gerichtlicher und
außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder

(EGZustellungsdurchführungsgesetz – ZustDG)

– Drucksachen 14/5910, 14/6114 –

(Erste Beratung 170. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 14/6175 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Joachim Stünker

Norbert Geis
Dr. Norbert Röttgen
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler

Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/6175, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Da
Sie sich alle erhoben haben, brauche ich die Gegenprobe
nicht durchzuführen. Der Gesetzentwurf ist in dritter Le-
sung einstimmig angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu möglichen
Auswirkungen der Berliner Finanzkrise auf
den Bundeshaushalt

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Petra Pau für die PDS-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417311000
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Wenn ein Bundesland durch Miss-
wirtschaft und unglaubliche politische Fehler an den
Rand des Bankrotts gesteuert wird, dann ist das zwar
ungeheuerlich, aber deshalb noch nicht unbedingt ein
Thema für den Bundestag, auch dann nicht, wenn es sich
um die Hauptstadt, also um Berlin, handelt – selbst dann
nicht, wenn die Berliner Spatzen von allen Dächern
„Skandal“ und „Pleite“ pfeifen, während der Regierende
Bürgermeister Diepgen heute Morgen noch meinte:
„Der Stadt geht es gut, nur dem Haushalt geht es
schlecht.“

Ich werde heute die Bundespolitik auch nicht auf so zy-
nische Weise aufrufen, wie es der Banker und geschass-
te, zugleich zum stellvertretenden CDU-Landesvorsitzen-
den geadelte einstige CDU-Fraktionschef Landowsky
schon 1998 tat, als er dem „Berliner Kurier“ mitteilte:

Wenn erst Hunderte von Arbeitslosen auf den Trep-
pen des Reichstages sitzen, dann wird die Republik
sehen, dass die Probleme in Berlin ganz besonderer
Art sind.

Das ist zynisch, weil derselbe Landowsky an der vermut-
lich größten Bankenpleite der Neuzeit seine Aktien hat.
Obendrein bleibt noch der Parteispenden-Verdacht, also
der Verdacht, dass lange Zeit eine CDU-Hand die andere
gewaschen hat.

Kurzum: Auch wenn die Berliner Probleme von be-
sonderer Art sind, weil die Berliner Führung und der Ber-
liner Politikstil eben von besonderer Art sind, so ist es
doch das alte System „West-Berlin“, das wir hier in sei-
nen Auswirkungen erleben können: ein Mix aus Groß-




Vizepräsidentin Anke Fuchs
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(C)



(D)



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(B)


mannssucht, Realitätsverlust und wechselseitigen Gefäl-
ligkeiten.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist eine Politik mit ungedeckten Wechseln, durch die
das von Diepgen so gern zitierte Unternehmen Berlin in
die Pleite geführt wird.

Aber – deshalb sitzen wir heute zu diesem Thema
hier – ich muss auch daran erinnern, dass das DIW der
Auffassung ist, Berlin könne sich nicht mehr aus eigener
Kraft aus dem Haushaltsdesaster befreien. Dies ist eine
mehr als ernüchternde Bilanz nach mehr als elf Jahren
großer Koalition in Berlin. Große Koalition heißt nun ein-
mal: CDU und SPD.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Immer noch besser als Ihre nach 40 Jahren!)


Spätestens aber dann, wenn ein Land zur Pleite neigt,
wird es auch zum Bundesproblem. Deshalb haben wir die
Aktuelle Stunde beantragt. Nun ist der Haushaltsnotstand
noch nicht formal festgestellt und obendrein handelt es
sich wohl auch kaum um einen unverschuldeten. Insofern
kann ich schon nachvollziehen, wenn der Finanzminister
und sicherlich auch sein Vertreter heute sagen: für diesen
Pleitesenat keinen einzigen Heller zusätzlich! Ich ver-
mute, das verstehen auch die Berlinerinnen und Berliner.
Jedenfalls haben wir schon Anfang der Woche ein Volks-
begehren angeregt, bei dem die Bevölkerung – die Be-
troffenen – im Klartext sagen kann, was sie von dieser
desaströsen Berliner Haushalts- und Landespolitik hält.
Ich freue mich, Kollege Rexrodt, dass Sie und die Kolle-
gin Michalik von den Bündnisgrünen mit mir darin über-
einstimmen, dass man die Bürgerinnen und Bürger dieser
Stadt, die sich für ein solches Anliegen einsetzen wollen,
unterstützen muss.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. Peter Dreßen [SPD] und der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Schizophrenie in dieser Stadt scheint endlos. Auf
der einen Seite werden zu Beginn des Sommers die
Schwimmbäder nicht geöffnet, bleiben also geschlossen;
gleichzeitig höre ich aber auf der anderen Seite am letzten
Wochenende, dass man in Berliner und Brandenburger
Regierungsstuben über eine neue Olympiabewerbung
fantasiert. Allerdings – auch deshalb müssen wir uns
heute hier damit befassen – trägt die Fehlplanung nicht
nur Landeshandschrift. Auch der Bund muss sein Vorge-
hen korrigieren. Für die Berliner ist ja der Begriff „Kanz-
ler-U-Bahn“ ein geflügeltes Wort. Für die Nichtberliner
sei gesagt: Geplant und gebaut wird nach wie vor eine U-
Bahn-Trasse, die am Kanzleramt vorbeiführt. Diese U-
Bahn, die niemand braucht, verschlingt Milliarden an
Bundes- und Landesmitteln. Ich denke, hier sollte die
Bundesregierung umsteuern und nicht darauf bestehen,
dass weiterhin Milliarden verbuddelt werden.


(Beifall bei der PDS)

Ich komme zu einer letzten Facette der Berliner Krise,

bei denen Bundes- und Landesambitionen über Kreuz lie-
gen, anstatt sich zu ergänzen: Das prinzipiell richtige und

gute föderale System der Bundesrepublik liegt schief.
Nicht nur Berlin hat damit ein Problem; die Länder und
Kommunen – bis hin zum letzten Dorf – wissen, dass
viele Entscheidungen, die auf Bundesebene getroffen
werden, von ihnen zu bezahlen sind. Auch bei Fragen, die
die Hauptstadt betreffen, steht noch eine Klärung aus:
Was ist Bundes-, was ist Landesaufgabe? Dabei ist es
egal, ob es um die Kultur geht oder um kostspielige Poli-
zeieinsätze, mit denen Staatsaufgaben abgesichert wer-
den. Auch dies ist ein Problem.

Ich sage ganz deutlich: Das Duo Diepgen und
Landowsky war bisher ungeeignet, dieses Knäuel zu ent-
wirren. Sie sind nicht die Lösung, sondern das Problem.
Der Regierende Bürgermeister Diepgen ließ sich im letz-
ten Wahlkampf mit „Diepgen rennt“ plakatieren. Die
nächsten Plakate sollten ihm den Laufpass geben.


(Beifall bei der PDS sowie der Abg. Peter Dreßen [SPD] und Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417311100
Ich erteile das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesfi-
nanzminister, Karl Diller.

K
Karl Diller (SPD):
Rede ID: ID1417311200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren! Zu Recht debattieren in diesem Moment
die Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus über das
Thema „Auswirkungen der Bankenkrise auf den Berliner
Haushalt“. Ich sage an die Adresse der PDS-Fraktion:
Dort hin und nicht in den Deutschen Bundestag gehört
heute die Debatte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Halten wir uns an die Fakten: Im letzten Jahr hat der
Bund das Land Berlin im Umfang von mehr als 7 400Mil-
lionen DM unterstützt. Es handelte sich dabei um: Leis-
tungen für den Hochschulbau, für die Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur, für Wissenschaft und For-
schung, für den kommunalen Straßenbau und für den so-
zialen Wohnungsbau – insgesamt 1 700 Millionen DM;
Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen, Sonderbe-
darfs-Bundesergänzungszuweisungen, Erstattung der Kos-
ten für die politische Führung sowie Hilfen im Rahmen des
Solidarpaktes – zusammen 5 000 Millionen DM; Leistun-
gen an Berlin als Standort überregional bedeutsamer kul-
tureller Einrichtungen – 55 Millionen DM; Sonderleis-
tungen im Zusammenhang mit der Sonderstellung Berlins
als Hauptstadt – 664 Millionen DM.

Die Haushaltslage Berlins hat sich in den letzten Jah-
ren durch ernsthafte Konsolidierungsanstrengungen
durchaus verbessert. Die Kreditfinanzierungsquote wurde
von 13 Prozent im Jahre 1997 auf 9,9 Prozent im Jahre
2000 zurückgeführt. Der Personalbestand ist rückläufig.
Dieser Erfolg ist vor allem der damaligen Finanzsenato-
rin Fugmann-Heesing zu danken.


(Beifall bei der SPD)





Petra Pau

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(C)



(D)



(A)



(B)


Sie hatte es nicht einfach, sich mit ihren notwendigen
Sparmaßnahmen durchzusetzen.

Die aktuellen Finanzprobleme der Bankgesellschaft
Berlin bedeuten in der Tat einen herben Rückschlag. Sie
bedeuten jedoch keinen Absturz in eine Haushaltsnotlage.
Die Berliner Finanzpolitik sieht sich allein in der Lage,
die anstehenden Probleme zu bewältigen. Die Bundesre-
gierung hat keine Veranlassung, an dem Erfolg der Berli-
ner Bemühungen zu zweifeln.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Bei der Beurteilung, ob eine Haushaltsnotlage besteht,

wird im Allgemeinen das Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts aus dem Jahre 1992 herangezogen, in dem das
Gericht für die Länder Bremen und Saarland eine Haus-
haltsnotlage festgestellt hat. Dabei werden in der Diskus-
sion häufig als alleinige Voraussetzungen für das Vorlie-
gen einer Haushaltsnotlage die Kreditfinanzierungsquote
und die Zins-Steuer-Quote genannt. Übersehen wird hier-
bei, dass das Verfassungsgericht in seinem Urteil aus-
drücklich offen gelassen hat, welche Kennziffern welche
Größenordnung erreichen müssen. Ich zitiere:

Welche einzelne Quote oder welche Kombination
von Quoten ab welcher Größe eine Haushaltsnotsi-
tuation präzise definieren, kann hier offen bleiben.

Aber selbst die haushaltswirtschaftlichen Kennziffern
lassen eine Haushaltsnotlage Berlins derzeit nicht erken-
nen. Die Situation Berlins ist auch unter Berücksichtigung
zusätzlicher Belastungen deutlich günstiger als die Bre-
mens und des Saarlandes – sowohl zum jetzigen Zeit-
punkt als auch zu Beginn der Sanierungsphase in den bei-
den Ländern.

Das Verfassungsgericht hat zwei weitere Feststellun-
gen getroffen.

Erstens – ich zitiere –:
Welche der mehreren Handlungsmöglichkeiten in ei-
ner solchen Notlage zu ergreifen und in welchem
Umfang die einzelnen Instrumentarien einzusetzen
sind, obliegt der gesetzgeberischen Entscheidung.

Das bedeutet: Das Verfassungsgericht sieht keine Ver-
pflichtung des Bundes für Bundesergänzungszuweisun-
gen.

Zweitens – ich zitiere –:
Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen
Gemeinschaft – sei es der Bund, sei es ein Land – in
einer extremen Haushaltsnotlage, so erfährt das bun-
desstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der
Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen
Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel
der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der
Grundlage konzeptionell abgestimmter Maßnahmen
Hilfe zu leisten.

Das heißt: Diese verfassungsrechtliche Pflicht trifft nicht
den Bund allein, sondern auch alle anderen Länder.

Ich stelle also fest: Im Falle Berlins ist das Land selbst
gefordert, seine finanzielle Lage zu bereinigen. Ich bin
davon überzeugt, dass dies ohne Inanspruchnahme von

Hilfen der Solidargemeinschaft von Bund und Ländern
gelingen wird.


(Beifall bei der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417311300
Jetzt hat das Wort der
Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1417311400
Frau Präsiden-
tin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst Be-
friedigung darüber äußern, dass mein Vorredner der Re-
gierung des Landes Berlin ausgesprochene Komplimente
gemacht hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem Herrn Landowsky!)


Dies ist – auch vom Bund aus, wo man oft Skeptisches
hört – gerade gegenüber dem Regierenden Bürgermeister
wohltuend und berechtigt gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Ich möchte mich in einem wesentlichen Punkt unter-
scheiden, nämlich inwieweit der Bund tatsächlich aufge-
fordert ist, dieser Stadt zu helfen. Ich möchte dazu gleich
etwas sagen.

Zunächst möchte ich aber zu dem eigentlichen Anlass
kommen, weshalb wir uns mit dem Thema befassen: Das
ist die von der PDS beantragte Aktuelle Stunde. Die PDS
versucht, mit der Beantragung dieser Aktuellen Stunde
die Strategie fortzusetzen, die sie auch im Berliner Abge-
ordnetenhaus verfolgt. Ihr Fraktionsvorsitzender dort hat
das „zündeln und sticheln“ genannt. Aus der Perspektive
einer kleinen Oppositionspartei ist das verständlich – aber
weshalb werden dann keine konkreten Anträge gestellt? –,
aus der Geschichte der Partei heraus ist das jedoch über-
haupt nicht nachzuvollziehen.

Nach dem, was bis heute erkennbar ist, ist der Wertbe-
richtigungsbedarf der Berliner Bankgesellschaft – und
wohl auch einer Fülle anderer Banken, die sich in gleicher
Weise wirtschaftlich falsch engagiert haben, wenn auch
nicht in gleicher Dimension – im Wesentlichen dadurch
entstanden, die geteilte Stadt nach 40 Jahren SED-Sozia-
lismus unter dem Motto „Trümmer schaffen ohne Waf-
fen“


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und der PDS)


wieder zu einer Einheit, auch städtebaulich, zusammen-
zufügen, bauliche Ruinen zu beseitigen, Plattenbauten
menschenwürdiger zu machen und die Vision eines mo-
dernen Gemeinwesens architektonisch und bei der Er-
schließung von Gewerbegrundstücken zu entwickeln.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden!)


Dabei hat sich die Bankgesellschaft wie viele andere Ban-
ken verspekuliert.


(Widerspruch bei der PDS)





Parl. Staatssekretär Karl Diller
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(A)



(B)


– Es ist klar, dass das zu Unruhe führt, aber die Situation
ist so, wie sie ist. Sie können Ihre Geschichte – auch wenn
Sie den Namen geändert haben – nicht abstreifen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine Fehleinschätzung


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Fehleinschätzung“?)


gab es nicht nur bei der Bankgesellschaft; sie hat bei einer
Reihe von Entwicklungen eine Rolle gespielt. Es wurde
erwartet, dass die Einwohnerentwicklung infolge des
Hauptstadtbeschlusses industrielle Investitionen in stär-
kerem Maße erforderlich macht,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben alles ignoriert, was an Fachwissen da war!)


dass Dienstleistung und Gewerbeansiedlungen schneller
folgen würden, als das tatsächlich der Fall war. Diese
Fehleinschätzungen wurden seit Mitte der 90er-Jahre
deutlich; man kann sie praktisch am Immobilienteil der
Zeitung ablesen. Wenn Sie eine Zeitung vom letzten
Samstag nehmen und sie mit einer von 1994 vergleichen,
sehen Sie, wer welche Erwartung hinsichtlich der Ent-
wicklung der Stadt hatte und was daraus geworden ist.
Man kann durchaus die Frage stellen, wer alles die Er-
wartung, dabei kräftig zu helfen, nicht genügend unter-
stützt hat.

Damit bin ich bei der Bundespolitik. Wenn man die Fi-
nanzsituation Berlins beispielsweise mit der Hamburgs
vergleicht, einer Stadt, die halb so groß und in einer an-
deren wirtschaftlichen Situation ist, dann wird man fest-
stellen, dass Berlin bei doppelter Einwohnerzahl das
halbe Steueraufkommen hat. Das alleine macht deutlich,
wie die Entwicklung aussieht und wo geholfen werden
muss. Auch ein Vergleich mit dem Landeshaushalt ande-
rer Länder, zum Beispiel Hessens, einem Flächenland,
zeigt, dass die Stadt aus eigener Kraft finanziell nicht so
schnell auf die Beine kommen kann, wie wir das alle
miteinander erwartet haben.

Wir stellen fast jeden Tag fest, dass sich diese Bundes-
regierung gegenüber der Stadt Berlin ausgesprochen lieb-
los verhält.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Die Wiederherstellung des Olympiastadions zum Beispiel
wurde zu einem Verhandlungsobjekt gemacht, obwohl
selbstverständlich war, dass der Eigentümer für das Auf-
kommen dieser Reparatur verantwortlich ist. Das ist nur
ein Beispiel von vielen: Von der Museumsinsel über die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

bis zu den Leistungen, die für den zusätzlichen Polizei-
aufwand erbracht werden müssten – überall Zögern,
Zaudern, Zurückhaltung. Hier muss stärker geholfen
werden.

Nun kann man natürlich die Schuldfrage hinsichtlich
dessen, was sich in Berlin zugetragen hat, stellen. Es hat
unbestreitbar Fehler gegeben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das Geld kriegen sie noch hinterhergeschmissen!)


Man wird sie sicher analysieren müssen und wird dabei
feststellen, dass es sich nicht nur um eine einzige Person
handelt, die Ämter inne hatte und zugleich politisch tätig
war, sondern dass Bataillone von Sozialdemokraten in
Vorständen, in Aufsichtsgremien sitzen;


(Lachen bei der SPD)

selbst Kollegen dieses Bundestages sitzen im Aufsichtsrat
einer dieser Banken. Das kann man doch ganz klar nach-
vollziehen: Man kommt auf zehn Namen, ehemalige und
jetzige Senatoren, die für die Aufsicht verantwortlich
sind. Die gelobte Frau Fugmann-Heesing war bis zum
Jahre 1999 für Beteiligungen zuständig.

Ich will gar keine konkreten Vorwürfe machen.

(Marion Caspers-Merk [SPD]: Erklären Sie doch mal die Landowsky-Vorwürfe!)

Ich sage bloß: Wenn man versucht, das auf eine einzige
Person und eine einzige politische Partei zu konzentrie-
ren, dann geht die Geschichte fehl; sie wird der Verant-
wortung nicht gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wird sicher die Frage gestellt werden müssen, ob es
richtig war, diesen Konzern in dieser Konstruktion zu-
sammenzuschmieden und dann den Vergleich mit den
Verlusten anderer Banken dieser Stadt zu ziehen.

Ich betone: Es gibt die Notwendigkeit, zu handeln, im
Hinblick auf die Kompetenzen bzw. die Strukturen etwas
zu ändern und die Stadt dabei zu unterstützen, schneller
das Ziel, das wir alle anstreben, zu erreichen. Denn wir
alle miteinander tragen für diese Stadt, für unsere Haupt-
stadt, Verantwortung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer mit dem Geld des Steuerzahlers!)


Da bedarf es keiner Häme und keines Zynismus, sondern
der Unterstützung des ganzen Hauses.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417311500
Nun hat das Wort die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die
Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kollegen! Herr Kollege Austermann, die Liebe der Kohl-
Regierung zu dieser Stadt war von etwas gespaltenen Ge-
fühlen geprägt. Von daher würde ich an dieser Stelle nicht
so laute Sprüche machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)





Dietrich Austermann

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ferner ist mir folgender Punkt wichtig: Wir müssen
sehr ernsthaft zwischen den wiedervereinigungsbeding-
ten Problemen unterscheiden, die es im Haushalt dieser
Stadt tatsächlich gibt, und dem, worüber wir hier und
heute sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte mich auf die aktuelle Situation konzentrieren.
Denn schließlich steigt täglich die Zahl der Wasserstands-
meldungen über das, was offiziell Wertberichtigungen ge-
nannt wird, was aber de facto eine skandalöse Vettern-
wirtschaft, ein abenteuerliches Finanzjonglieren ist. Es
würde wirklich jedem sizilianischen Patenfilm zur Ehre
gereichen, wenn er es schaffen würde, das, was hier in die-
ser Stadt in den letzten Jahren passiert ist und täglich neu
aufgedeckt wird, darzustellen. Das Geschehene ist wirk-
lich skandalös und sprengt jede Vorstellungskraft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])


Herr Austermann, wenn Sie meinen, es gehe nur um ein
paar zarte Fehler, dann empfehle ich Ihnen, den in einer
Zeitung vom heutigen Tage erschienenen Artikel zu Aubis
zu lesen, in dem es darum geht, dass es sich dabei, wie Au-
bis von Landowsky bzw. von der Berlin Hyp schrittweise
saniert worden ist, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um
den Straftatbestand der Untreue handelt. Denn es ist bei
dieser Bank wider den Rat aller Fachleute und aller Revi-
soren systematisch und ständig zu Konditionen nachsa-
niert worden, die eigentlich unanständig sind. Von daher
sollten Sie das nicht als kleine Fehler verharmlosen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn es nur Aubis wäre! Es sind die Strohmänner-
fonds mit gefälligen Freistellungserklärungen für Gatti-
nen und Freunde. Es ist die Gründung der Groth-Holding.
Es sind die Porschgeschäfte in der Wallstraße und in
Kühlungsborn. Es sind die Hornbach-Kaufmärkte, die für
die Freundschaftsdienste von Herrn Rupf aufgekauft wor-
den sind. Es sind unbekannte Vettern auf den Cayman-In-
seln, die Scheinverkäufe der IBG, die eine Gesellschaft
gründen wollten, die es gar nicht gab. Es sind die Villen,
die den Vorständen zur Verfügung gestellt wurden.

Eine Geschichte nach der anderen – ich habe inzwi-
schen eine dicke Akte darüber – ist für sich gesehen ein
solcher Skandal, dass erstens der gesamte Vorstand der
Bankgesellschaft zurücktreten muss und dass zweitens
endlich die Aufsichtsräte haftbar gemacht werden müs-
sen.


(Beifall bei der PDS)

Wer sich im Bankenrecht auskennt, weiß, dass Aufsichts-
räte für das haften, was sie ihrer Gesellschaft genehmigen,
und dass sie in einem solchen Fall nicht entlastet werden
dürfen.

Von daher fordere ich von hier aus das Berliner Abge-
ordnetenhaus auf, dafür zu sorgen, dass die Aufsichtsräte
der Bankgesellschaft in diesem Sommer nicht entlastet
werden, sondern dass sie allesamt zusammen mit den Vor-

ständen aller „Sub-Subgesellschaften“ – insbesondere des
Herrn Rupf – für das haftbar gemacht werden, was sie hier
getan haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es geht – zwar auch, aber nicht nur – um politische Mo-
ral und es geht um den materiellen Schaden, der jedem
Bürger dieser Stadt angetan worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Dieser muss überhaupt erst einmal aufgedeckt und klar-
gestellt werden.

Von daher sage ich ganz deutlich: Herr Diepgen hat
sich auch heute in seiner so genannten Regierungser-
klärung wieder hinter den Wirtschaftsprüfern und den Las-
ten der Wiedervereinigung versteckt. Bei aller Anerken-
nung der Tatsache, dass Herr Waigel damals die
Berlinförderung zu schnell abgebaut hat, darf sich heute
keiner hinter diesen Problemen verstecken, wenn wir da-
von sprechen, welchen Schaden dieser Bankenskandal
der Stadt Berlin zugefügt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Es geht um einen doppelten Glaubwürdigkeitsverlust.
Jedem einzelnen Bürger dieser Stadt gegenüber ist die bis-
herige Politik absolut unglaubwürdig geworden. Es ist
tatsächlich so: Schwimmbäder werden geschlossen bzw.
verspätet geöffnet und die Eintrittspreise erhöht. Aber der
Berliner Senat sagt: Jetzt brauchen wir mal eben 4 Milli-
arden DM -– heute waren es schon 6 Milliarden DM – für
unsere Bankgeschäfte, für unsere Vetternwirtschaft. – Das
darf doch wirklich nicht wahr werden! Dies ist eine Ba-
nanenrepublik, wie es schlimmer wirklich nicht geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der F.D.P. und der PDS)


Erst wenn Berlin in einer glaubwürdigen Form den
Schritt hin zu Neuwahlen macht, ist überhaupt ein Neu-
anfang möglich, kann diese Stadt ihre politische Glaub-
würdigkeit wiedergewinnen, und zwar nicht nur den eige-
nen Bürgern, sondern auch dem Bund und den anderen
Ländern gegenüber.

Berlin will Hilfe vom Bund – hierbei rede ich nicht von
besonderen Bundesergänzungszuweisungen, sondern von
dem Verfahren im Rahmen des Finanzausgleichs – und ist
dabei auf die Solidarität des Bundes und aller Länder an-
gewiesen. Dass diese Stadt gerade in einer solchen Zeit
mit der eigenen Finanzsolidität und Glaubwürdigkeit so
umgeht, wie sie es tut, kann man eigentlich gar nicht fas-
sen.

Lassen Sie mich noch sagen, was jetzt Not tut und was
die Opposition in Berlin glücklicherweise eingeleitet hat:
Wir Grünen werden zusammen mit der F.D.P. und der
PDS – welch seltsames Dreierbündnis –


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist kein Bündnis!)





Franziska Eichstädt-Bohlig
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(C)



(D)



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(B)


sowie den gesellschaftlichen Kräften dieser Stadt ein
Volksbegehren einleiten, um die Beteiligten unter Druck
zu setzen. Dabei geht es nicht nur um die CDU – das muss
ich den Kollegen von der SPD sagen –, sondern auch Herr
Strieder und die gesamte Berliner SPD müssen endlich
anfangen aufzuräumen und ihr Schuldbekenntnis klar auf
den Tisch legen. Denn auch die SPD hängt in diesen Seil-
schaften.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich weiß das, denn ich habe lange genug mit den Berliner
Baugeschäften zu tun gehabt. Ich fordere Herrn Strieder
von dieser Stelle auf, dafür zu sorgen, dass von seiner Se-
natsverwaltung her kein Auftrag mehr an bestimmte Per-
sonen erteilt wird. Ich werde ihm die Namen persönlich
nennen, denn ich möchte sie hier nicht in der Öffentlich-
keit sagen. Aber nach wie vor werden an interne Seil-
schaften Aufträge vergeben: welch ein Filz! Das schreit
wirklich zum Himmel.


(Dirk Niebel [F.D.P.]: Ein Skandal!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417311600
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ein klares Konzept zur Entflechtung und Säuberung der
Bank, Neuwahlen und dann ein Kassensturz sowie ein
glaubwürdiges Sanierungskonzept. Erst wenn die Voraus-
setzungen für eine glaubwürdige Politik in dieser Stadt
geschaffen worden sind, kann man darüber diskutieren,
ob man beim Bund anklopft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der F.D.P. und der PDS – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war eine Rede für das Berliner Abgeordnetenhaus!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417311700
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Günter Rexrodt für die F.D.P.-Fraktion.


Dr. Günter Rexrodt (FDP):
Rede ID: ID1417311800
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal sagen:
Die F.D.P. hat heute Morgen vorgeschlagen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es in Berlin doch gar nicht!)


ein Gremium von parteipolitisch unabhängigen Persön-
lichkeiten einzusetzen. Dieses soll Träger eines Volksbe-
gehrens sein, das zu einem Volksentscheid über Neuwah-
len in Berlin führen soll.


(Beifall bei der F.D.P. – Franziska EichstädtBohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt macht das nicht zum F.D.P.-Solo! Das ist gemeinsam!)


Ich freue mich, dass die beiden anderen Parteien in der
Opposition hier in Berlin, die Grünen und die PDS, die-

sem unserem Vorschlag, ein Gremium unabhängiger
Leute einzusetzen, beigetreten sind.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dass wir diesen Vorschlag gemacht haben, hat gute

Gründe: Berlin steuert auf die Pleite zu. Dies ist die größte
Finanzkrise in der Geschichte dieser Stadt. Nach den zu-
grunde zu legenden Kriterien wäre der Haushaltsnotstand
eigentlich gegeben. Er ist nur nicht formal festgestellt.
Aber man muss sehr wohl zwischen den objektiven und
den hausgemachten Gründen für diese Entwicklung ab-
wägen. Die objektiven Gründe – das sage ich in Richtung
der PDS – wollen wir mal nicht vom Tisch wischen. Diese
sind vom Kollegen Austermann zu Recht angesprochen
worden. Das ist der eine Teil.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Unter Frau Fugmann-Heesing und auch unter Herrn

Kurth, der hier heute anwesend ist, ist dann eine durchaus
richtige Weichenstellung in der Finanzpolitik vorgenom-
men worden. Aber was soll denn passieren? Bei einer
großen Koalition aus SPD und einer weitgehend sozial-
demokratisierten CDU in dieser Stadt


(Lachen bei der SPD)

kann dabei doch nichts herauskommen. Das ist nicht mög-
lich.


(Beifall bei der F.D.P. – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der hat doch keine Ahnung, der Mann! Da muss er selber lachen! – Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist in jeder großen Koalition so!)


– Das ist so! Der Senat wird von der SPD und einer weit-
gehend sozialdemokratisierten CDU gebildet. Das sage
ich seit langem. Wenn Sie sich in dieser Stadt umhören,
stellen Sie fest, dass dies selbst in bürgerlichen Kreisen,
die die CDU wählen, zugegeben wird.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das ist auch der Hintergrund dafür, dass es zu einem

solchen Filz kommen konnte. An diesem Filz sind die bei-
den großen Parteien beteiligt. Da verfährt man nach dem
Reißverschlussprinzip. Der Proporz existiert seit vielen
Jahren. Da kann sich keiner rausmogeln. Hier muss es
endlich mal wieder eine andere politische Konstellation
geben, damit Klarheit und Transparenz in die Berliner Po-
litik kommt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, es hat Versäumnisse auf der

Ausgabenseite gegeben, weil die Verwaltung noch immer
überbesetzt ist. Mit einer großen Koalition kann man sie
nicht so schnell abbauen, wie das eigentlich erforderlich
ist. Auf der Einnahmenseite ist es nun nicht gelungen, die
Wirtschaftskraft so zu stärken, wie wir uns das gewünscht
haben – trotz zugegebener Bemühungen.

Aber es sind auch noch andere Fehler und Versäum-
nisse festzustellen, und zwar unglaubliche. Dabei geht
es zum einen um die Veräußerung der Landesbeteiligun-
gen. Bei der GASAG und der BEWAG hat man zwar




Franziska Eichstädt-Bohlig

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(C)



(D)



(A)



(B)


einen ersten Schritt getan; aber wenn es um die Wasser-
werke geht, wird es schon halbherzig.


(Beifall bei der F.D.P.)

In Bezug auf die Wohnungswirtschaft – im Übrigen

personell eine Pfründe der Sozialdemokraten, aber nicht
nur der Sozialdemokraten – macht man zum anderen gar
nichts oder kaum etwas, weil man in einer großen Koali-
tion Angst hat, irgendwem auf die Füße zu treten.


(Beifall bei der F.D.P.)

Eine große Koalition ist das Übel des Ganzen. Das muss
immer wieder gesagt werden. Das ist der mehr oder we-
niger objektive Teil.

Was dann hausgemacht ist und hier zum Himmel
stinkt, das ist der Skandal um die Bankgesellschaft
Berlin.


(Joachim Poß [SPD]: Hat die F.D.P. nie Spenden aus der Wohnungswirtschaft hier in Berlin gekriegt?)


Die Bankgesellschaft Berlin ist ein Homunkulus. Es war
ja richtig – in den 80er-Jahren ging das los –, die Akti-
vitäten der Landesbank, also des Sparkassenbereiches
und der Berliner Bank, zusammenzufügen. Aber wenn
man so etwas macht, muss man eine einheitliche Kultur
schaffen. Das ist versäumt worden. Da hat man den Weg
des geringsten Widerstandes gewählt; die große Koalition
hat einfach ein Dach darüber gesetzt und die beiden
Kulturen sind erhalten geblieben. Dabei sind wirtschaftli-
che Fehler gemacht und Fehlentscheidungen en masse ge-
troffen worden. Hinzu kommt das, was wir hier heute mit
allem Nachdruck kritisieren müssen, nämlich die Verfil-
zung, die Vermischung von wirtschaftlicher Macht und
politischer Verantwortung. Das muss ein Ende haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dabei kann es nicht angehen, dass in dieser Situation
der Bund oder die Länder hergehen und der Stadt zusätz-
liche Mittel zur Verfügung stellen. Jetzt nicht!


(Susanne Kastner [SPD]: Das hat die CDU im Bund vorgemacht!)


Berlin muss zeigen, dass es aus eigener Kraft wenigstens
Weichenstellungen vornehmen und Anstrengungen unter-
nehmen kann, um mit diesem Desaster fertig zu werden,
damit dieser Augiasstall, diese Verfilzung, diese große
Koalition in dieser Stadt endlich ein Ende haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dann kann man darüber nachdenken.
Die Menschen auf den Straßen aus allen Bezirken die-

ser Stadt – ich komme von hier; ich kenne viele Men-
schen, viele Gremien und Bereiche –


(Widerspruch bei der SPD)

haben es satt, von einer großen Koalition regiert zu wer-
den, in der politische und wirtschaftliche Macht mitei-
nander verwoben sind.

Deshalb haben wir dieses Volksbegehren angeleiert;
deshalb werden wir es auch durchstehen. Es ist höchste
Zeit, dass diese große Koalition selbst den Mut findet und
die Kraft hat, zurückzutreten und das Mandat an den Ber-
liner Wähler zurückzugeben, der es satt hat und der ver-
änderte Verhältnisse im politischen Bereich so schnell wie
möglich braucht.


(Beifall bei der F.D.P.)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417311900
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans Georg Wagner für die SPD-Fraktion.


(Zuruf von der F.D.P.: Mal sehen, wie der das verkauft!)



Hans Georg Wagner (SPD):
Rede ID: ID1417312000
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Angesichts der Beiträge der Berliner,
die wir hier gehört haben, muss ich sagen: Wenn das so
weitergeht, kann das ja ein heiteres Spiel hier in Berlin
werden. Sie, Herr Ex-Senator der Finanzen Rexrodt, ha-
ben 1985 bis 1989 die Grundlagen gelegt für vieles,


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das waren noch ordentliche Zeiten, mein Lieber!)


was hier in Berlin passiert ist. Sie waren vorher auch noch
fünf Jahre beim Senator für Wirtschaft tätig. Ganz un-
schuldig, Herr Rexrodt, sind Sie also nicht. Sie dürfen
sich daher auch nicht so aus dem Fenster hängen. Das
passt nicht in die Landschaft hinein.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Mit dem hat das nämlich angefangen!)


Ich hatte eigentlich geglaubt, dass zunächst einmal
Herr Senator Kurth die Gelegenheit hätte, hier zu reden;
denn er hätte dann sagen können, ob er anklopft oder
nicht. Ich bin der Überzeugung, er wird nicht anklopfen,
um zu verlangen, dass der Bund jetzt etwas bezahlen soll
– nur lassen Sie ihn ja nicht reden –,


(Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)

um zunächst etwas aufzubauen.

Man muss natürlich auch Verständnis haben für man-
che Situation hier im Berliner Haushalt – Herr Schäuble,
Sie haben eben einen entsprechenden Zwischenruf ge-
macht –: Zum Beispiel war der soziale Wohnungsbau in
Berlin teilungsbedingt ein ganz großes Problem, weil es
frei finanzierten Wohnungsbau in Berlin überhaupt nicht
gab, solange die Mauer stand. Im Berliner Haushalt sind
immer noch jedes Jahr 2,5 Milliarden DM für den sozialen
Wohnungsbau eingestellt, nämlich für die Darlehen, die
damals gegeben worden sind. Das geht, glaube ich, noch
zehn Jahre so weiter. Sie haben den Einigungsvertrag aus-
gehandelt. Warum haben Sie diese Probleme als Haupt-
stadtprobleme im Einigungsvertrag nicht aufgegriffen?


(Beifall bei der SPD)

Dann wäre manches Loch im Haushalt gar nicht entstan-
den.

Meine Damen und Herren, eine Haushaltsnotlage ist
nicht gegeben. Das hat jeder hier in Berlin festgestellt, ob




Dr. Günter Rexrodt
16956


(C)



(D)



(A)



(B)


das der Regierende Bürgermeister war, der Finanzsenator,
der Bausenator oder der SPD-Landesvorsitzende. Alle ha-
ben gesagt, es ist kein Haushaltsnotstand. Auch ich sage
das.

Es besteht in der Tat kein Haushaltsnotstand; denn in
Bayern hat auch niemand den Haushaltsnotstand ausge-
rufen, als dort die Verwicklungen des Ministerpräsidenten
Stoiber im Zusammenhang mit der Landesbank und der
Bayerischen Hypobank, bei denen diverse diffuse Immo-
biliengeschäfte gemacht worden sind, bekannt wurden.
Darüber hat sich damals auch niemand aufgeregt. Das ist
nun einmal so, wie es ist.

Es soll also Wahlkampf stattfinden. Die PDS wittert
Morgenluft und glaubt, sie könnte irgendetwas erreichen.
Die F.D.P. hofft auf die Chance, wieder einmal im Abge-
ordnetenhaus vertreten zu sein.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wir stellen den Regierenden Bürgermeister!)


Nachdem sie die Räumlichkeiten nicht mehr kennen – sie
waren ja draußen –, wollen sie offenbar wieder in das Ab-
geordnetenhaus hinein. Das ist legitim. Aber ich nehme
an, dass die Berlinerinnen und Berliner so intelligent sind
wie die Wählerinnen und Wähler in den anderen Ländern
des Bundesgebiets und die F.D.P. dort lassen, wo sie heute
ist.

Der Kollege Diller hat eigentlich bereits alle relevan-
ten Zahlen genannt, sodass wir sie nicht unbedingt wie-
derholen müssen. Wir haben in der Tat – das hat der Kol-
lege Austermann bereits ausgeführt – Berlin erhebliche
Zuwendungen gewährt. Die Bundesergänzungszuweisun-
gen betragen 3,8 Milliarden DM; außerdem erhält Berlin
aus dem Länderfinanzvergleich 5,3 Milliarden DM. Auch
in die Kultur fließen beträchtliche Bundesmittel. Wir ha-
ben – natürlich gegen den Willen der CDU/CSU – die
Kosten für die Sanierung des Olympiastadions übernom-
men, für die wir im Hauptstadtvertrag für die Jahre 1995
bis 2004 1,3Milliarden DM zur Verfügung gestellt haben,
und für viele Verkehrsmaßnahmen.

Ich möchte nun auf etwas zu sprechen kommen, was
mir in Berlin unverständlich erscheint. Es geht zum einen
um die Frage der Uneinigkeit in der Koalition hinsichtlich
des Baus der U 5. Die einen sagen: Wir bauen; die ande-
ren sagen: Wir bauen nicht. Die einen sagen: Wir müssen
abwarten, bis die Fußballweltmeisterschaft vorbei ist; die
anderen sagen: Das müssen wir nicht. Oder denken Sie
zum anderen an das Theater, das wir gerade im Zusam-
menhang mit der Museumsinsel erlebt haben. Das wäre
eine internationale Blamage geworden, wenn der Berliner
Senat nicht zum Schluss eingelenkt hätte. Wir waren in
der Diskussion sogar schon so weit zu sagen: Der Bund
hält das Geld vor, das er von 2006 bis 2010 zu zahlen hat;
damit finanzieren wir den Weiterbau der Museumsinsel.

Das sind Entscheidungen in der Kommunalpolitik, die
für uns als Nichtberliner, aber doch für längere Zeit hier
Anwesende nicht nachvollziehbar sind. Herr Senator, Sie
sollten einmal in der Kommunalpolitik in Berlin unter den
Partnern, die die Regierung bilden, für Klarheit sorgen.

Hinsichtlich des Aufsichtsrats muss ich noch auf das zu
sprechen kommen, was der Kollege Austermann gesagt

hat, nämlich dass die Sozialdemokraten an allem schuld
seien.


(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)


Der Präsident des Bundesaufsichtsamts für Kreditwesen
hat erklärt, der Aufsichtsrat sei nicht an dieser Entwick-
lung schuld. Nach den Protokollen ist feststellbar, dass die
SPD-Mitglieder, aber auch der IHK-Präsident Gegen-
bauer und der Schering-Chef Erlen kritische Fragen ge-
stellt hatten, die von denjenigen, deren Namen auch schon
genannt worden sind, nicht beantwortet wurden.

Ich meine, Diller hat Recht gehabt. Mit Annette
Fugmann-Heesing ist in Berlin ein Konsolidierungskurs
eingeleitet worden, der schmerzhaft war und ist. Ihr da-
maliger Staatssekretär und jetziger Senator Kurth setzt
das fort – zum Leidwesen von CDU und SPD, muss man
sagen. Die sind natürlich beleidigt, wenn so gespart wird,
wie es hier zu Recht der Fall ist. Man sollte sie diesen Weg
weiterverfolgen lassen und hier nicht eine Diskussion da-
rüber vom Zaun brechen, ob sie jetzt Geld wollen oder
nicht. Bis jetzt haben sie gesagt: Wir wollen kein Geld.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Wagner unterstützt Kurth! Das sind hier komische Koalitionen!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417312100
Nun erteile ich dem
Berliner Finanzsenator Peter Kurth das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417312200
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise der
Berliner Bankgesellschaft hat in der Tat längst zu einer
Diskussion über die Haushaltspolitik in Berlin und über
die Koalition geführt. Es ist derzeit auch nicht möglich,
das zu trennen, weil die gesetzlich vorgeschriebene Kapi-
talausstattung für die Bank unseren Haushalt dramatisch
belastet und weil die große Koalition in Berlin mit diesen
Belastungen fertig werden muss und nach meiner festen
Überzeugung auch fertig werden wird.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf wessen Kosten? – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Zunächst zur Bank: Das Gespräch mit dem Bundes-
aufsichtsamt für das Kreditwesen gestern Abend hat be-
stätigt, dass der Kapitalbedarf für die Bank in der Tat bei
gut 2 Milliarden Euro liegen wird. Das ist seit einigen
Tagen die Einschätzung des Berliner Senats, Frau
Eichstädt-Bohlig. Die Ursachen hierfür sind vielfältig:

Erstens. Die Situation der Bau- und Wohnungswirt-
schaft in allen neuen Ländern ist sehr schwierig. Hiervon
ist keine Bank unbelastet geblieben.

Zweitens. In erheblichem Umfang sind Fehler in der
Bearbeitung problematischer Kredite und auch Gesetzes-
verstöße festgestellt worden.


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat die zu verantworten?)





Hans Georg Wagner

16957


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Verantwortlichkeiten betreffen unterschiedliche Ebe-
nen der Bankgesellschaft. Darauf komme ich später noch
zu sprechen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Namen!)


Drittens. Es stellt sich natürlich die Frage nach verän-
derten Bewertungsmethoden und der Qualität vergange-
ner Jahresabschlüsse. Frau Eichstädt-Bohlig, es versteckt
sich keiner hinter Wirtschaftsprüfern. Aber wenn ein Kre-
dit aus dem Jahr 1995 bis zum Jahr 1999 völlig beanstan-
dungsfrei testiert wird und im Jahr 2000 bei einem sich
belebenden Immobilienmarkt auf einmal der Wertberich-
tigungsbedarf explodiert, dann darf die Qualität der Jah-
resabschlüsse angezweifelt werden.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wenn nur das die Probleme wären, wären wir alle milde gestimmt! – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zur Rolle der CDU!)


Mit der Neustrukturierung der Bankgesellschaft wurde
begonnen. Etliche Vorstände und Mitarbeiter haben den
Konzern inzwischen verlassen. Die Aufsichtsräte werden
ohne Ansehen der Person Regressansprüche prüfen und
durchsetzen. Diese Prüfung betrifft auch die bisher ge-
schlossenen Aufhebungsvereinbarungen.


(Peter Dreßen [SPD]: Was kriegt Herr Landowsky als Apanage pro Jahr? 700 000 DM?)


Die Auswirkungen auf den Haushalt sind auch deshalb
so verheerend, weil Berlin in der Tat in den letzten Jahren
erfolgreich und engagiert konsolidiert hat. Ihnen allen
dürften die Bemühungen in Berlin nicht verborgen ge-
blieben sein:


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Die Bemühungen von Frau Fugmann-Heesing! Sie dürfen den Namen ruhig nennen!)


der Abbau von mehr als einem Drittel der Stellen, die
Rückführung der Ausgaben um fast 7 Prozent seit 1995
und sehr weitgehende Privatisierungen. Herr Dr. Rexrodt,
Sie müssen den Berliner Senat nicht davon überzeugen,
dass wir uns überall dort, wo dies geboten und machbar
ist, als Unternehmer und Eigentümer zurückziehen.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Wohnungswirtschaft!)


– Damit haben wir ebenfalls begonnen.
Die Konsolidierungspolitik ist nicht gescheitert. Sie

wird nicht scheitern. Sie wird fortgesetzt.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Die Bankenkrise ist kein Anlass für den Berliner Senat,
andere Länder oder den Bund um zusätzliche Mittel zu
bitten.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!)

Wir setzen unsere eigenen Anstrengungen fort und fliehen
nicht in eine Haushaltsnotlage. Ich bin fest davon über-
zeugt, dass eine große Koalition mit diesen Belastungen

und den notwendigen Strukturentscheidungen am ehesten
fertig wird.

Die Bankgesellschaft ist kein strukturelles Problem
unseres Haushalts. Das größte Strukturproblem unseres
Haushaltes ist und bleibt die geringe Steuerkraft. Mit ei-
ner Steuerdeckungsquote von 40 Prozent ist Berlin in der
Tat das Schlusslicht aller Länder. Wir haben in den letzten
70 Jahren fast die gesamte steuerzahlende Wirtschaft ver-
loren.


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Vielleicht liegt das an der Politik des Senats!)


Dies hat kein Senat zu verantworten. Das ist das Ergebnis
der Berliner und der deutschen Geschichte.

Es stellen sich aber andere Fragen, zum Beispiel in-
wieweit Berlin in bestimmte Finanzierungssystematiken,
etwa bei nationalen Gedenkstätten und der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz, einbezogen werden kann. Ich
betone: Berlin wird sich auch künftig an jeden geschlos-
senen Vertrag halten.

Herr Wagner, die Irritation bei der Museumsinsel ist al-
lein darauf zurückzuführen, dass es mit Schreiben vom
November des letzten Jahres eine Zusage von Herrn
Nevermann aus dem Kanzleramt gegeben hat, die Vorfi-
nanzierung zu übernehmen. Der Fehler des Berliner Se-
nats war, diese Zusage ernst genommen zu haben.


(Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Schon wieder ein Fehler! – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Die Bundesregierung sollte man nicht immer ernst nehmen! Das ist wohl wahr!)


Es bedurfte eines kurzen Telefonates zwischen Herrn
Eichel und mir, um dies zu klären. Auch hierfür wird im
Nachtragshaushalt Vorsorge getroffen werden.

Wir halten uns an jeden Vertrag, den wir geschlossen
haben. Aber wir wollen nach einigen Jahren nüchtern da-
rüber sprechen können, welche Verträge einer Anpassung
bedürfen, weil sie auf einer unrealistischen Grundlage ab-
geschlossen worden sind. Dies ist dann aber nicht nur eine
finanzielle Frage und sie ist unabhängig davon, wer Re-
gierungsverantwortung trägt.

Der Berliner Senat wird sich den Herausforderungen
der Bankgesellschaft und des Berliner Haushaltes weiter-
hin entschlossen stellen. Wir bekennen uns klar zu unse-
rer eigenen Verantwortung. Grundsätzlich allerdings
bleibt Berlin auf die Unterstützung im Rahmen des Fi-
nanzausgleichs angewiesen. Wir achten diesen Beitrag
der reichen Länder und des Bundes nicht gering, sondern
wir sind für diese Unterstützung dankbar. Deswegen be-
tone ich gerade vor dem Deutschen Bundestag: Berlin
braucht die Solidarität der anderen. Wir werden sie aber
nicht missbrauchen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417312300
Jetzt hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele für das Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.




Senator Peter Kurth (Berlin)

16958


(C)



(D)



(A)



(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Unsere schöne Stadt, das Land Berlin, wird seit ei-
nigen Monaten nicht mehr regiert, sondern täglich werden
nur die Finanzlöcher kommentiert und allenfalls verwal-
tet. Immer wieder steht der Regierende Bürgermeister da-
vor und sagt: Ich habe von nichts gewusst; ich bin nicht
informiert worden. – Der Regierende Bürgermeister ist
inzwischen eher ein regierender Konkursverwalter; nur,
dass er dafür genauso wenig geeignet ist, weil er und seine
Partei viel zu sehr in den Berliner Sumpf und den Berli-
ner Filz verwickelt sind. Als Konkursverwalter müsste
man seine Funktion eigentlich unabhängig und objektiv
wahrnehmen.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])

Der Finanzskandal des Landes Berlin ist ja nicht neu.

Bereits vor vier Jahren hat die damalige Abgeordnete des
Berliner Abgeordnetenhauses Michaele Schreyer eine
Anfrage an den Senat gerichtet und genau die Fragen ge-
stellt, die man heute mühsam zu beantworten versucht.
Damals ist ihr auf die Frage, welche Zahlungsprobleme
bei der Berliner Bankgesellschaft vorhanden seien, gesagt
worden: keine Probleme. Auch vonseiten der SPD sind
1997 ganz konkrete Fragen nach den Finanzen und Zu-
schüssen der Wohnungsbaugesellschaft Aubis gestellt
worden. Auch in diesem Zusammenhang wurde gesagt:
keine Probleme vorhanden. Der Regierende Bürgermeis-
ter will uns erzählen, er habe nichts davon gewusst, was
seine Senatoren damals geantwortet haben und was seine
Mitarbeiter, Fraktionskollegen und auch die Abgeord-
neten der SPD in den Aufsichtsräten der Banken erfahren
haben.

Der Berliner Sumpf ist sprichwörtlich; er kann nicht
dadurch ausgetrocknet werden, dass von der Bundes-
ebene Geld gefordert wird. Herr Senator, der Berliner
Sumpf kann aber auch nicht dadurch ausgetrocknet wer-
den, dass man neue Kredite aufnimmt und dafür jedes Jahr
etwas mehr – 200 oder 300Millionen DM – Zinsen zahlt.
Denn wer zahlt denn diese Zinsen? Das sind die Steuer-
zahler, egal ob das Geld von Berlin oder vom Bund auf-
gebracht wird. Es betrifft in jedem Fall die Menschen in
Berlin, denen klargemacht werden muss, dass es bei den
Kindergärten erneut Einschränkungen geben wird, dass
bei den Schulen keine ausreichende Ausstattung und für
die Verkehrspolitik kein Geld vorhanden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Irgendwo müssen Sie das Geld ja hernehmen.

Es kann doch nicht wahr sein, dass Berlin Geld auf-
nimmt, um damit für Herrn Landowsky, der inzwischen
ein Fall für den Staatsanwalt geworden ist, jedes Jahr
700 000 Mark zu zahlen, die er aus seiner Stellung bei der
Bankgesellschaft Berlin bezieht.


(Beifall bei der PDS)

Es kann doch nicht wahr sein, dass für diesen Zweck das
Geld von denen genommen wird, die auf Unterstützung
angewiesen sind, weil sie für den Kindergarten- oder
Schulbesuch das Geld nicht selber aufbringen können. Sie
müssen unter dieser Politik leiden.

Vor ein paar Tagen konnte man in der „Berliner Zei-
tung“ lesen, dass 19 große Villen den Vorstandsmitglie-
dern der Bankgesellschaft zu Dumpingmieten zur Verfü-
gung gestellt werden. Verkaufen Sie diese Grundstücke
und sanieren Sie damit die Bank! Streichen Sie das Ge-
halt, das Herr Landowsky nachträglich für das Nichtstun
in den nächsten Jahren bekommen soll! Damit können Sie
wenigstens einen Anfang machen, um den Haushalt zu
sanieren und das wieder gutzumachen, was Sie angerich-
tet haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Im Bereich der Entwicklungspolitik verlangen wir von
den Regierungen anderer Staaten in Afrika, Asien, Latein-
amerika oder sonst wo auf der Welt als erste Vorausset-
zung für die Leistung von Aufbau- und Finanzhilfe, dass
sie Good Governance, das heißt eine Regierung, die eini-
germaßen vernünftig mit Geld umgeht, vorweisen, in der
es keine Bestechung, keine Verfilzung und keine Pleiten
gibt. Dieselben Anforderungen müssen wir an das Land
Berlin stellen. Wenn Berlin fragt: „Hast Du mal ’ne Mil-
liarde?“, dann können wir nur sagen: Aus der Bundes-
kasse keine Mark für diesen Senat!


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die Alternative zu diesem Senat versuchen wir jetzt in

Berlin möglich zu machen. Wir brauchen einen Neuan-
fang. Wir brauchen das Votum der Wählerinnen und
Wähler, der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, denen
das alles gehört, die aber immer wieder nur draufzahlen
sollen. Sie müssen jetzt zur Urne gerufen werden. Sie
müssen jetzt sagen, dass sie Neuwahlen in Berlin wollen,
Neuwahlen für einen anderen Senat, für eine andere Re-
gierung.

Auf diesem Wege wünschen wir unserer Stadt viel
Glück. Wir werden mithelfen, dass dieser Weg erfolgreich
gegangen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Kein Wort zum Bundeshaushalt, Herr Ströbele! Wir sind doch nicht das Berliner Abgeordnetenhaus!)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417312400
Nun hat die Kollegin
Dr. Christa Luft für die PDS das Wort.


Dr. Christa Luft (PDS):
Rede ID: ID1417312500
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Herr Senator Kurth, Sie per-
sönlich sind erst kurze Zeit dabei. Aber die Partei, der Sie
angehören, leitet seit elf Jahren in Berlin eine große Ko-
alition. Seit ebendieser Zeit ist Berlin in einer sehr
prekären Finanzsituation. Darin spiegelt sich zum einen
– das will auch ich sagen – ein objektiver Umstand, näm-
lich teilungsbedingte Sonderlasten, wider. Darin spiegelt
sich auch wider, dass es nach Übernahme der Hauptstadt-
rolle Mehraufwendungen gibt.

Kollege Austermann, es war der Bundeskanzler, da-
mals der Chef Ihrer Partei, der Mitte 1990, als sich schon






(C)



(D)



(A)



(B)


einmal eine Haushaltsnotlage in Berlin abzeichnete,
sagte: Nein, Berlin kriegt keinen Pfennig mehr.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: 1990 hat Berlin 13 Milliarden DM bekommen! Aber das ist Ihnen vielleicht entfallen, Frau Professor Luft!)


Der Bund hat, wie mir scheint, sich schon damals nicht
angemessen engagiert, als es darum ging, diesen Bedin-
gungen Rechnung zu tragen.

Aber auch die jetzige Bundesregierung hat Berlin die
Zustimmung zur rot-grünen Steuerreform für Peanuts ab-
gehandelt und ihm Steuerausfälle von 2,5 Milliarden DM
jährlich übergeholfen. Auch das darf nicht vergessen wer-
den.


(Beifall bei der PDS)

Und dennoch: In diesen Dingen, die ich genannt habe,

die Hauptursache für den Schuldenberg und für die Fi-
nanzkatastrophe in Berlin zu sehen, das wäre weit gefehlt.
Die Hauptursache liegt eindeutig in der jahrelangen
Misswirtschaft des CDU/SPD-Senats und ist insoweit
nicht unverschuldet.

Damit dürfte übrigens auch für Sie, Kollege
Austermann, die These nicht mehr haltbar sein, wonach es
gerade die Sozialisten sind, die nicht mit Geld umgehen
können. Denn die Sozialisten waren an diesem Senat nicht
beteiligt.


(Beifall bei der PDS – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Über Ihre Leistung als Wirtschaftsministerin wollen wir jetzt bitte nicht diskutieren!)


Bevor zur Löschung des Brandes nach dem Bund als
Feuerwehr gerufen wird, muss allerdings zuerst einmal
die Brandursache in Berlin beseitigt sein, muss der amtie-
rende Senat für klare Verhältnisse sorgen. Niemand kann
von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern erwarten,
dass weiter unkonditioniert Geld in einen Sumpf gewor-
fen wird.


(Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich halte es für ein Gebot politischer Hygiene, dass ein
Regierender Bürgermeister nicht gleichzeitig Justizsena-
tor sein darf.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich halte es für ein Gebot politischer Hygiene, dass Par-
tei- und Bankposten künftig auf Dauer voneinander zu
trennen sind. Strenge Regeln müssen für die Haftung von
Wirtschaftsprüfern, von Aufsichtsräten und natürlich von
Managern öffentlich-rechtlicher Institutionen ebenso wie
solcher mit privater Beteiligung gelten.

Warum soll – auch ich muss das fragen – ein
Hauptkatastrophenverursacher wie Herr Landowsky fürs
Nichtstun, fürs Spazierengehen noch auf zwei Jahre hin
eine Abfindung von je 700 000 DM bekommen und le-
benslang jährlich 350 000 DM? Ich kann das nicht fassen.

Ich habe in meinem Wahlkreis gerade mit einer Be-
schwerde einer arbeitslosen Frau zu tun.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Jetzt kommen die Elendsszenarien!)


Sie ist 58 Jahre, beim Arbeitsamt nicht mehr vermittelbar.
Sie hat innerhalb Berlins einen Umzug vollzogen, hat
– das muss man sagen – ihre Adresse nicht ordnungs-
gemäß unverzüglich dem Arbeitsamt mitgeteilt und muss
nun ihre paar Hundert Mark Arbeitslosenhilfe zurückzah-
len. Ich kann die Welt nicht mehr erklären. Das ist nicht
mehr vermittelbar.


(Beifall bei der PDS – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Auch dass immer noch Luxusvillen an Topmanager der
Bankgesellschaft zu Spottpreisen vermietet sind, was
langfristig, wie man gelesen hat, zu Verlusten von 45 Mil-
lionen DM führt, ist eine kostspielige Geschmacklosig-
keit. Keine Familie mit einem durchschnittlichen Ein-
kommen erhält eine Wohnung unter der ortsüblichen
Miete. Ich kann auch dies nicht erklären.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Übler Linkspopulismus, was Sie da vortragen!)


Sollen die Folgen dieser Finanzmisere etwa wieder nur
die tragen, die nichts dafür können, die aber schon in den
vergangenen Jahren die Hauptlasten der Haushaltskonso-
lidierung hier in Berlin zu tragen hatten? Dieser Senat
kann nicht erwarten, dass sich die Berliner Bevölkerung
eine neue Runde von „Gürtel enger schnallen“ aufbürden
lässt.


(Beifall bei der PDS)

Es wird einer neu legitimierten Mannschaft bedürfen, bis
sich Berlin nach einem ehrlichen Kassensturz und vorge-
legter eigener Konsolidierungsstrategie wegen Hilfe an
den Bund und an die Ländergemeinschaft wenden kann.

Kreditfinanzierungs- und Zins-Steuer-Quote lassen an
der Unverzichtbarkeit eines solchen Gangs nach Canossa
allerdings kaum noch Zweifel. Wenn der Kollege Diller
als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, die hier in
Berlin ja ein Koalitionspartner ist, das heute noch abwie-
gelt, dann ist das sicherlich verständlich. Ich glaube aber,
dass das noch nicht das letzte Wort gewesen ist.

Hilfe des Bundes könnte zum Beispiel durch die Über-
nahme der Wohnungsbauschulden von vor 1989 in den
Erblastentilgungsfonds erfolgen. Es wäre an der Zeit, den
Bau der für die Berliner Bevölkerung unsinnigen, aber
teuren „Kanzler-U-Bahn“ zu stoppen und stattdessen ei-
nen attraktiven Nahverkehr auszubauen. Auch wenn der
Bund das Geld, das er für den Bau vorgeschossen hat, im
Rahmen des Hauptstadtfinanzierungsvertrages von Berlin
zurückforderte, würde Berlin durch ein neues Verkehrs-
konzept dennoch Hunderte von Millionen Mark sparen.


(Beifall bei der PDS)

Auf den Prüfstand muss auch das Großflughafenpro-

jekt Berlin/Brandenburg,

(Beifall bei der PDS)


das ebenfalls zu einem Milliardengrab zu werden droht.




Dr. Christa Luft
16960


(C)



(D)



(A)



(B)


Wenn jetzt nicht ein Umsteuern eingeleitet wird, ver-
sinkt Berlin in einem Finanzchaos. Die Leidtragenden
wären einzig diejenigen, die am wenigsten auf öffentliche
Daseinsvorsorge verzichten können. Das darf nicht ge-
schehen.


(Beifall bei der PDS sowie des Abg. HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417312600
Für die CDU/CSU-
Fraktion erteile ich dem Kollegen Dr. Wolfgang Schäuble
das Wort.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1417312700
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind
nicht das Berliner Abgeordnetenhaus. Zunächst will ich
meinen Respekt für das bekunden, was der Finanzsenator
zu den aktuellen Schwierigkeiten, die uns alle beunruhi-
gen und die wir mit Sympathie und zugleich mit Sorge
verfolgen, gesagt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Er hat gesagt, dass Berlin die Probleme, die nun deutlicher
erkannt worden sind, natürlich in eigener Verantwortung
lösen muss.

Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich darauf hin-
weisen möchte, dass wir über die deutsche Hauptstadt
sprechen. Unabhängig davon, wer nun was gesagt hat,
was im Einigungsvertrag steht, was falsch und was rich-
tig gemacht worden ist usw., muss man den Menschen
nicht nur in dieser Stadt, sondern auch in Deutschland er-
klären, dass die Folgen der Teilung der eigentliche Grund
für die finanziellen Schwierigkeiten dieser Stadt sind.
Westberlin war über 40 Jahre hinweg eine Insel. Wir ha-
ben die Folgen des Wegfalls dieses Status für die Struktur
dieser Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht, was die Finanz-
kraft und deren Entwicklung anbetrifft, und darüber hi-
naus unterschätzt.

Lieber Herr Kollege Rexrodt, Sie waren bis 1989 Fi-
nanzsenator in dieser Stadt. Wir haben vieles zusammen
gemacht; dazu stehe ich auch. Wir müssten allerdings ein
wenig selbstkritischer darüber nachdenken, dass wir
möglicherweise nicht ausreichend bedacht haben, mit
welch großen Entwicklungshindernissen der westliche
Teil dieser Stadt in die Zeit nach dem Fall der Mauer ge-
gangen ist.

Über den östlichen Teil der Stadt muss ich nichts mehr
sagen; das hat der Kollege Austermann hier schon ausrei-
chend getan.

Verehrte Frau Kollegin Luft, auch Sie müssten ziem-
lich genau darüber Bescheid wissen. Das alles hat der
Stadt natürlich Spannungen und Veränderungen zugemu-
tet, die ungeheuer groß sind.

Der Finanzsenator hat von der Steuerquote in Berlin
gesprochen. Das ist das eigentliche Problem dieser Stadt.
Natürlich wird das durch die aktuellen Schwierigkeiten
nicht besser, die man nicht leicht nehmen darf und die

man nicht entschuldigen kann. Nur, Wahlkampf, durch
den Sie die Wahlergebnisse der letzten Wahl korrigieren
wollen, sollten Sie nicht machen, vor allem nicht im Deut-
schen Bundestag.

Wenn Sie, Herr Kollege Wagner, die ehemalige Finanz-
senatorin des Landes Berlin, Frau Fugmann-Heesing, so
loben, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass diese von
Ihnen so gelobte Dame aufgrund einer Entscheidung,
glaube ich, der Berliner SPD nicht mehr Finanzsenatorin
ist. Insofern besteht hier Kontinuität.

Ich werbe nicht für die Feststellung der Haushaltsnot-
lage. Der Bundesfinanzminister und der Finanzsenator
des Landes Berlin haben übereinstimmend erklärt, dass
eine solche Haushaltsnotlage nicht vorliegt. Aber es gibt
Neuverhandlungen zwischen den Ländern und zwischen
dem Bund und den Ländern über den Finanzausgleich. Ich
stimme Ihrer Auffassung, Herr Staatssekretär Diller, aus-
drücklich zu, dass die deutsche Hauptstadt nicht nur den
Bund, sondern den Bund und alle Länder etwas angeht.
Wenn wir es mit nationaler Solidarität und Verantwortung
ernst meinen und zum Beispiel als Baden-Württemberger
unsere Eigeninteressen richtig verstehen, dann dürfen wir
Berlin in seiner jetzigen schwierigen Lage nicht allein las-
sen. Wir müssen uns für die Solidarität des Bundes und
aller Länder mit Berlin einsetzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417312800
Ich erteile dem Kolle-
gen Volker Kröning, SPD-Fraktion, das Wort.


Volker Kröning (SPD):
Rede ID: ID1417312900
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In dieser Debatte, die ei-
gentlich eine Diskussion im Berliner Abgeordnetenhaus
ersetzt, die aber, wie der letzte Beitrag gezeigt hat,
bundespolitisch durchaus relevant ist und die man deshalb
ernst nehmen sollte, ist zum Stichwort „Haushaltsnot-
lage“ schon das Notwendige gesagt worden. Sie wird vom
Land Berlin nicht geltend gemacht. Sie wird auch vom
Bund verneint. Ich möchte dem, was Kollege Wagner be-
reits unterstützend in Richtung des Parlamentarischen
Staatssekretärs gesagt hat, hinzufügen: Wir sollten auf
keinen Fall Haushaltsnotlagen herbeireden. Wir sollten
durch das Gerede über Haushaltsnotlagen auch keinen
Präzedenzfall für andere Gebietskörperschaften schaffen,
die es an Anstrengungen möglicherweise fehlen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer Haushaltsnotlagen vermeiden will, tut Recht da-

ran, wie es Herr Finanzsenator Kurth erklärt hat, sich
nicht sozusagen in das Netz einer Haushaltsnotlage fallen
zu lassen. In diesem Zusammenhang müssen Sie, Herr
Rexrodt, mit dem Widerspruch fertig werden, dass Sie auf
der einen Seite die Haushaltsnotlage bejahen, aber auf der
anderen Seite Hilfe ablehnen.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Nein, das habe ich nicht gesagt!)





Dr. Christa Luft

16961


(C)



(D)



(A)



(B)


– Doch, wörtlich! Das wird im Protokoll nachzulesen
sein. – Deshalb kommt es überhaupt nicht darauf an, die
Frage, wer an einer Haushaltsnotlage schuld sei, zum par-
teipolitischen Prügel zu machen. Ich warne davor, dieses
Thema mit Wahlkampfgelüsten zu verquicken.

Ich möchte noch etwas zu den Redebeiträgen des Fi-
nanzsenators Kurth und des Kollegen Austermann sagen.
Es ist – Herr Schäuble hat das bestätigt – deutlich gewor-
den, dass es nicht in erster Linie um die Finanzkraft geht,
um einen Begriff zu verwenden, der in den Diskussionen
über den Finanzausgleich und die Haushaltsnotlagenhilfe
gebräuchlich ist. Vielmehr geht es in erster Linie um die
Wirtschafts- und Steuerkraft. Aber es ist unberechtigt, wie
Sie, Herr Austermann, zu sagen, der Bund sei lieblos. Es
ist schon aufgelistet worden, was der Bund außerhalb des
Finanzausgleichssystems für Berlin getan hat und tut. Wer
das diffamiert, trägt möglicherweise dazu bei, den Bund
etwas mehr in die Reserve zu treiben.

Das, was Berlin braucht, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe
und keine Hilfe in einer extremen Haushaltsnotlage – so
hat es das Bundesverfassungsgericht bei seiner Abgren-
zung der Fälle Saarland und Bremen von normalen Fällen
formuliert –, schließt Solidarität und gezielte Hilfe ein.
Aber dabei muss auch klar sein, dass der Bund wahr-
scheinlich nichts Entscheidendes für die Stärkung der
Wirtschafts- und Steuerkraft des Landes Berlin tun kann.
Ich darf als Vertreter – ich sage wohl besser: als Ange-
höriger – eines Landes, das zurzeit unter Führung einer
großen Koalition aus Schwarz und Rot, im Vergleich zu
Berlin allerdings mit umgekehrter Rollenverteilung, ei-
nen ähnlichen Weg zurücklegt, sagen, dass es nicht nur
darauf ankommt, die Attraktivität einer Stadt für Touristen
aus aller Welt zu steigern. Vielmehr kommt es auch auf
eine ausreichend breite und starke Wirtschaftsstruktur an.

Da muss man sich zum Beispiel nach wie vor Gedan-
ken darüber machen, warum in den letzten Jahren der in-
dustrielle Sektor noch nicht gestärkt werden konnte. Das
fällt mit in Ihre Verantwortung, lieber Herr Rexrodt.
Schon zu Zeiten der Teilung haben Sie in Wahrheit von
Subventionen gelebt. Ich denke dabei an die Lebensmit-
telindustrie, die damals von Bremen nach Berlin subven-
tioniert worden ist und nach Wegfall der Subventionen
nicht ersetzt werden konnte.

Berlin hat also nicht nur ein Problem auf der Ausga-
benseite, rufe ich dem Finanzsenator zu, sondern Berlin
hat auch ein Problem auf der Einnahmenseite, rufe ich al-
len übrigen Verantwortlichen im Senat zu, auch dem heu-
tigen Wirtschaftssenator.

In diesem Zusammenhang, Herr Ströbele, habe ich
kein Verständnis dafür, wie Sie das Thema Flughafen an-
gehen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu habe ich kein Wort gesagt!)


Denn zur Infrastruktur eines Landes, das wirtschaftlich
erstarken will, gehört vor allen Dingen – –


(Hans Georg Wagner [SPD]: Frau Luft hat das gesagt!)


– Ach so, wie konstruktiv. Dann darf ich Sie vielleicht so-
gar unabhängig von der Frage, wie gut dieser Flughafen
geplant wird, als Verbündeten in der Frage in Anspruch
nehmen, dass Berlin eine hauptstadtgemäße Verkehrsin-
frastruktur zu Wasser, in der Luft – Frau Luft! –,


(Heiterkeit)

aber eben auch zu Lande braucht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem mit dem Fahrrad!)


Frau Eichstädt-Bohlig, Sie haben zuerst das Thema Fi-
nanzausgleich angesprochen, und einige Redner sind dem
dann gefolgt. Als Vorsitzender des Sonderausschusses
Maßstäbegesetz und Finanzausgleichsgesetz, der sich
zurzeit mit dem Thema abmüht, will ich sagen: Auch die
Eigenanstrengungen Berlins, die bereits unternommen
werden und die wirklich weitgehend unabhängig von der
politischen Farbe sind, sind Voraussetzung dafür, dass
Berlin weiterhin einen fairen Platz im Finanzausgleich
behält. Das ist aber keine Lösung für hier und heute, und
das ist keine Lösung für die Zeit bis 2004 einschließlich,
sondern der neue Finanzausgleich wird 2005 in Kraft tre-
ten. Deshalb müssen wir Berlin auch auf seinem einge-
schlagenen Weg unterstützen – das schließt Kritik nicht
aus, sondern ausdrücklich ein –, um die psychologischen
Voraussetzungen dafür zu gewinnen, bei der Neuordnung
des Finanzausgleichs gut abzuschneiden.

Als Vertreter – nicht nur als Angehöriger, sondern nun
auch als Vertreter – eines Stadtstaates will ich in diesem
Zusammenhang, an die Opposition und die führende Re-
gierungspartei in Berlin gewandt, hinzufügen: Beenden
Sie bitte das Gerede um die Höhe der Einwohnerwertung.
Die Anerkennung der geltenden Einwohnerwertung für
die Stadtstaaten ist das Mindeste, mit dem Berlin auch bei
dem neuen Finanzausgleich aufsetzen muss. Es wäre sehr
schön, wenn bei der Konsensfindung, die zurzeit auf der
Schiene der Exekutive stattfindet, aber auch bei der Kon-
sensfindung in unserem Hause darüber bald Einigkeit er-
reicht werden könnte.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417313000
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.


Volker Kröning (SPD):
Rede ID: ID1417313100
Ich schließe mit den Worten:
Hilfe zur Selbsthilfe wird Berlin noch lange benötigen.
Wir hoffen, dass Berlin nicht in die Situation einer Haus-
haltsnotlage kommt und deshalb kein Thema der Haus-
haltsnotlagenvorbeugung und Haushaltsnotlagenhilfe
werden wird, die wir im künftigen Bundesrecht vorsehen
werden. Wir wünschen Berlin bis zur Neuordnung des Fi-
nanzausgleichs und darüber hinaus und in seiner Zukunft
– als Land oder als Stadt – das Glück des Tüchtigen.

Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417313200
Nun erteile ich dem
Kollegen Josef Hollerith, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.




Volker Kröning
16962


(C)



(D)



(A)



(B)



Josef Hollerith (CSU):
Rede ID: ID1417313300
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bezeich-
nend, dass gerade die PDS diese Aktuelle Stunde bean-
tragt hat,


(Petra Pau [PDS]: Ja, hättet ihr das mal gemacht!)


just jene Partei, die die Nachfolgeorganisation der Sozia-
listischen Einheitspartei Deutschlands ist,


(Lachen bei der PDS – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist wahr, das kann man nicht oft genug sagen!)


die also die Ruinen in den fünf neuen Bundesländern zu ver-
antworten hat, die einen Wertberichtigungsbedarf von 1 000
Milliarden DM hinterlassen hat. Das ist die Bilanz der
Nachfolgepartei PDS, der Sozialisten, der Kommunisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daran erkennt man auch die Absicht dieser Damen und

Herren. Die Absicht ist nicht Aufklärung, ist nicht sachli-
che Information. Die Absicht ist, zu zündeln, zu desinfor-
mieren, die Menschen hinters Licht zu führen. Das sind
die Kommunisten, wie wir sie kennen, wie wir sie in
40 Jahren Ruinierung der fünf neuen Bundesländer ken-
nen gelernt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der PDS – Zurufe von der SPD und der PDS)


Wir müssen über das Thema „Wertberichtigungsbedarf
bei der Bankgesellschaft Berlin“ sehr sachlich diskutieren.
Wie das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen festge-
stellt hat, geht es um 4 Milliarden DM. Das ist sicherlich
eine nicht unbedeutende Summe und es ist ganz bestimmt
notwendig, dass die Verantwortlichkeiten geklärt werden.
Der gesamte Vorstand und auch die Wirtschaftsprüfer, die
die Bilanzen testiert haben, müssen zur Verantwortung ge-
zogen werden. Außerdem ist es notwendig, dass der
Aufsichtsrat – er ist nicht einfarbig, sondern mehrfarbig
besetzt – zu seiner Verantwortung steht. Auch das gehört
zur sachlichen Aufklärung dieses Themas.

Darüber hinaus ist Sachlichkeit geboten.

(Lachen bei der PDS)


– Das gilt auch dann, wenn die PDS es nicht akzeptiert. –
Wir alle und insbesondere diejenigen, die in der Immobi-
lienwirtschaft fachlich zu Hause sind, wissen, dass in Ber-
lin eine Überinvestition vor allem in Gewerbeimmobilien
stattgefunden hat. Aufgrund von Erwartungen an die
Hauptstadt und an die Sonderabschreibungen sind Gelder
in Gewerbeimmobilien investiert worden, die zunächst
am Markt vorbei gebaut worden sind,


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Nährboden für die Filzokratie!)


was im Ergebnis natürlich zu Leerständen und zum Sin-
ken der Mietpreise geführt hat.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und dass es mit dem Filz weitergeht!)


Aktuell bedeutet das, dass Mietgarantien, die die Bank-
gesellschaft gegeben hat, abgerufen worden sind und dass
im Hinblick auf die von Leerständen betroffenen Immo-
bilien eine Wertberichtigung nach den Prinzipien der
Bilanzwahrheit, des Niederstwertprinzips und des Vor-
sichtsprinzips stattfinden musste.

Aber es geht nicht nur um die Augenblicksbetrachtung
des Bilanzstichtags, sondern auch um die Mittelfristbe-
trachtung der Wertentwicklung dieser Immobilien. Es
steht dabei außer Zweifel, dass Berlin ein interessanter
Standort bleibt und dass der Wert dieser Immobilien in
fünf, in sechs oder in zehn Jahren wesentlich steigen wird,
sodass sich die heute getätigten Investitionen in Höhe von
4 Milliarden DM an die Bankgesellschaft refinanzieren
werden.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es geht um die Plattenbauten in Görlitz, Cottbus und Halle und nicht um Berlin!)


Es ist gut, dass der Senat und die Anteilseigner der Bank-
gesellschaft Berlin zur Bank stehen. Es ist gut, dass es da-
her keine sparkassenfreie Zone Berlin geben wird. Die
Sparkassen und die Berliner Bank können damit weiter-
hin eine wichtige Funktion für die finanzielle Unterstüt-
zung des Mittelstandes und der kleinen Leute erfüllen.


(Lachen bei der PDS)

Ich möchte noch ein Wort zur Hauptstadtfunktion sa-

gen. Ich bekenne ganz offen: Ich war einer derjenigen, die
am 21. Juni 1991 gegen den Umzug von Regierung und
Parlament nach Berlin gestimmt haben.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Lieber nach München!)


Ich sage in aller Ehrlichkeit: Seit meiner Zugehörigkeit
zum Deutschen Bundestag habe ich einmal falsch abge-
stimmt, und zwar bei dieser Entscheidung, als es also um
den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin
ging. Es ist gut und richtig, dass der Deutsche Bundestag
und die Regierung in Berlin tagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. – Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Bonn war eine gute Hauptstadt!)


Es ist gut, dass wir in der Hauptstadt sind. Es ist gut, dass
das deutsche Volk in Berlin zeigt, dass es wieder vereinigt
ist und dass es sich als gleichberechtigtes Mitglied der Ge-
meinschaft der demokratischen Staaten der Welt zur
Souveränität bekennt.

Es ist richtig und notwendig, dass der Bund zu seinen
finanziellen Verpflichtungen im Hinblick auf die Funk-
tion Berlins als Hauptstadt steht. Ich wünsche mir sehr
– das sage ich in Richtung der Bundesregierung –, dass
der Bund diese Verpflichtung ernster als bisher nimmt. Ich
wünsche mir, dass der Bund die volle Verantwortung für
die Repräsentanz Deutschlands in der Welt durch Berlin
wahrnimmt. Der Bund sollte nicht knauserig und klein-
krämerisch auf dem Geldsack sitzen, sondern Berlins
Hauptstadtfunktion angemessen dotieren. Ich wünsche






(C)



(D)



(A)



(B)


mir, dass der Bund mehr tut, unabhängig von der aktuel-
len Situation der Bankgesellschaft Berlin, deren Probleme
vom Senat und von den Anteilseignern gelöst werden.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen und Beifall bei der PDS)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417313400
Auch Beifallsbekun-
dungen müssen der Würde des Hauses angemessen sein.

Ich gebe nun dem Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD-
Fraktion, das Wort.


Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1417313500
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Krise der Bank-
gesellschaft Berlin ist die größte Turbulenz in der deut-
schen Bankenlandschaft seit dem Zusammenbruch der
Kölner Herstatt-Bank vor 27 Jahren. Es gibt einen positi-
ven Unterschied: Heute braucht kein Kunde um seine Ein-
lagen zu bangen; die Einlagen sind gesichert. Es gibt aber
eine Reihe von Parallelen, die negativ sind, zum Beispiel
das explosive Gemisch aus Leichtsinn, Verschleierung
und Klüngel.

Auch ein weiteres Merkmal der heutigen Situation ist
leider nicht untypisch. Wer trägt die Folgen der Fehlent-
scheidungen? Es sieht bisher nicht danach aus, als müss-
ten sich diejenigen die größten Sorgen machen, die für die
Schieflage verantwortlich sind. Die ganz überwiegende
Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – bis weit
hinein in die Führungsebene – in den Filialen der Berliner
Sparkasse, der Berliner Bank und anderer Institute der
Bankgesellschaft haben nichts anderes getan, als korrekt,
kompetent und verantwortungsbewusst ihre Arbeit zu
leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist eine Binsenwahrheit!)


Viele von diesen sorgen sich heute um ihren Arbeitsplatz.
Auf der Vorstandsebene aber, also dort, wo die Ent-

scheidungen zu verantworten sind, gelten offensichtlich
andere Regeln. Einige sind gegangen – gegangen worden.
Aber Herrn Landowsky zum Beispiel wurde ein vergol-
deter Abschied bereitet: Zwei Jahre lang werden seine Be-
züge in Höhe von 700 000 DM im Jahr weiter gezahlt;
außerdem hat er eine fürstliche Apanage von jährlich
350 000 DM bis an das Ende seiner Tage zugesagt be-
kommen. Auch dies ist eine Schieflage. Diese Schieflage
ist genauso ärgerlich wie die Schieflage der Bank selbst.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Es wird zu prüfen sein, ob es jenseits der normalen Ver-
antwortung, die jeder Kaufmann zu tragen hat, Unregel-
mäßigkeiten gibt, mit denen sich die Staatsanwaltschaft
befassen muss. Der Vorwurf der Untreue steht im Raum.
Es wird aber auch zu fragen sein, ob nicht diese Bezüge,
wie eben geschildert, sozusagen aus kaufmännischer Hy-
giene gekürzt werden müssen. Denn es kann nicht sein,

dass die Stadt als Eigentümer Kredite in Höhe von 4 Mil-
liarden DM aufnehmen muss und diejenigen, die die Ver-
antwortung für die Fehlentscheidungen tragen, materiell
völlig unbehelligt herausgehen. Natürlich wird die Kür-
zung der Bezüge von Herrn Landowsky die Bank materi-
ell nicht sanieren. Ein Beitrag ist dennoch erforderlich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Das Gleiche gilt für die Wirtschaftsprüfer, die für sehr
viel Geld eine Unternehmung dieser Art prüfen. Nach
dem Handelsgesetzbuch haftet der Wirtschaftsprüfer bei
börsennotierten Unternehmen bis 8 Millionen DM im
Falle von vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung der
Pflichten bei der Prüfung. Dieses Geld muss in Anspruch
genommen werden. Auch mit diesen 8 Millionen DM
kann man die Sanierung der Bank nicht leisten. Aber es
gehört zum Prinzip der Verantwortung und der Haftung,
dass Wirtschaftsprüfer korrekt arbeiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wenn dieses Geld nicht in Anspruch genommen wird,
wird der Bundestag zu prüfen haben, ob wir die Gesetz-
gebung ändern müssen.

Der nächste Punkt betrifft die Aufsichtsräte. Natürlich
kann man deren Verantwortung nicht beiseite schieben.
Ich sage aber auch: Die Grundlage für das Handeln von
Aufsichtsräten sind die Berichte der Prüfer. Dort müssen
wir ansetzen. Ich gebe allerdings zu: Mir reicht es nicht
aus, zu lesen, der eine oder andere habe im Aufsichtsrat
Bedenken geäußert. Man muss auch die Kraft haben, das
kurze Wort „Nein“ aussprechen zu können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Welche Konsequenzen haben wir sonst im Bundestag
zu ziehen? Wir werden prüfen müssen, ob die Banken-
aufsicht ausreichend gearbeitet hat. Ich sage zwar nicht,
dass die Bundesbank und das Bundesaufsichtsamt für das
Kreditwesen gut gearbeitet hätten, sie haben aber besser
gearbeitet als alle anderen Kontrollinstanzen.

Eine letzte Bemerkung. Herr Kollege Schäuble, ich
freue mich, dass Sie neuerdings auch ein Herz für die ma-
terielle Ausstattung der Stadt haben.


(Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Sie haben eine bescheidene Rede gehalten!)


Ich weiß, dass Sie ein Freund des Hauptstadt-Beschlusses
waren. Dass Sie sich aber, Herr Kollege Schäuble, als
Bundeskanzler Kohl die Bundesregierung geführt hat,
dafür eingesetzt hätten, dass die Unterstützung Berlins
großzügiger ausfällt, als sie tatsächlich ausgefallen ist, ist
mir nicht bekannt geworden.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das habe ich Ihnen auch nicht gesagt!)


Nach meiner Erinnerung hat auch der Kollege




Josef Hollerith
16964


(C)



(D)



(A)



(B)


Austermann damals im Haushaltsausschuss nicht viel
dazu gesagt.


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417313600
Herr Kollege, Sie ha-
ben Ihre Redezeit weit überzogen.


Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1417313700
Ja. – Ich habe nur eine Bitte,
da sich die Kollegen Schäuble und Hollerith heute so
warmherzig für die materiellen Belange der Hauptstadt
eingesetzt haben: Tun Sie in Baden-Württemberg und
Bayern das, was Sie tun können, damit im Rahmen des
bundesstaatlichen Finanzausgleichs die Belange der
Stadtstaaten ausreichend gewürdigt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1417313800
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord-
nung (11. Ausschuss) zu dem Antrag des Abgeord-
neten Werner Lensing und weiterer Abgeordneter
der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta
Titze-Stecher und weiterer Abgeordneter der Frak-
tion der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und
weiterer Abgeordneter der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordne-
ten Hildebrecht Braun (Augsburg) und weiterer
Abgeordneter der Fraktion der F.D.P.
Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am
Arbeitsplatz
– Drucksachen 14/3231, 14/5325 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ekin Deligöz

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Dr. Barbara Höll, Dr. Ruth Fuchs, Petra Bläss,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Verbot derWerbung für den Tabakkonsum
– Drucksachen 14/3318, 14/6174 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubert Hüppe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Wer anderes als meine Kollegin Uta Titze-Stecher von
der SPD-Fraktion könnte anfangen. Ich erteile Ihnen das
Wort.


Uta Titze-Stecher (SPD):
Rede ID: ID1417313900
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird keine
Cohiba gezeigt, sondern meine äußerst kleine und feine

Brille.

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die Cohiba wäre mir lieber!)

– Ja, das denke ich mir, die Cohiba sei Ihnen unbenom-
men, aber nicht in diesen Räumen.

Der Anlass für die Beratung des vorliegenden Antrags
für den Nichtraucherschutz ist der heute stattfindende
Weltnichtrauchertag. Das Motto lautet: Keine dicke
Luft am Arbeitsplatz – auch Passivrauchen macht krank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, dieser Slogan passt ausgezeichnet zum heutigen
Antragsvorhaben. Wenn Sie meiner Argumentation und der
der Kolleginnen und Kollegen, die nach mir sprechen, fol-
gen – dies erhoffen und erbitten wir –, entspannt sich die Si-
tuation in Zukunft. Auch die Deutsche Krebshilfe hat sich
in Aufrufen mit einem Forderungskatalog an uns gewandt,
der den Aspekt des tabakfreien Arbeitsplatzes betont.

Gestatten Sie mir zu rekapitulieren: Wir wenden uns ja
nicht im ersten Anlauf an Sie, sondern bereits im dritten.
Seit drei Legislaturperioden bemüht sich eine interfrak-
tionelle Initiative, die mit Ausnahme der PDS aus allen
Fraktionen besteht, um eine Regelung. Die PDS stimmt
zwar immer mit, wird aber aus ganz bestimmten Gründen
von der CDU/CSU nicht als Mitunterzeichnerin akzep-
tiert; ich hoffe, dies war das letzte Mal. Am Anfang stand
ein großer Gesetzentwurf, welcher sehr viele Regelungen
treffen wollte, angefangen bei Hotels über Gaststätten bis
hin zur Situation an den Arbeitsplätzen. Mit diesem Ge-
setzentwurf sind wir auf dem Bauch gelandet: Der erste
Vorschlag, den wir Ihnen hier unterbreitet haben, kam nur
bis zur ersten Lesung nachts um halb zwei. Danach endete
die Legislaturperiode. Der zweite Versuch kam immerhin
bis zur zweiten und dritten Lesung. Es gab eine richtige
Abstimmungsschlacht. Die Tabaklobby hatte zuvor ein-
gegriffen, sich Büro für Büro vorgenommen – man muss
sagen: mit Erfolg, wie man am Ergebnis ablesen konnte.
Denn sonst ständen wir nicht hier und würden uns nicht
wieder bemühen, einen klitzekleinen Schritt in die Rich-
tung eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes in einem
Bereich zu beschließen, der für Menschen extrem wichtig
ist, nämlich der Arbeitsplatz.

Wir haben aus der jahrelangen Debatte der Vergangen-
heit gelernt. Wir haben beispielsweise durch Gespräche
mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband und
der Tourismusbranche gelernt – dieses Argument ist ei-
gentlich stichhaltig und nachvollziehbar –, dass man nicht
gezwungen ist, in einem verräucherten Lokal sein Essen
zu sich zu nehmen oder ein Hotelzimmer zu beziehen, das
vom Vorgast noch stinkt. Das heißt, hier setzen wir Ver-
trauen in die Selbstverpflichtung der Wirte des Hotel- und
Gaststättenverbandes, die zusagen, dies nach Angebot
und Nachfrage zu regeln. Also liegt es an uns, zu sagen:
„Herr Wirt, die Speisekarte würde mich ja reizen, aber
hier stinkt es mir zu sehr“, oder im Hotel konsequent nach
einem Nichtraucherzimmer zu fragen. Wenn die Nach-
frage entsprechend ist, wird sich der Hotelbesitzer darum
bemühen, dieses Angebot zu erhöhen.

So weit zu unserem heutigen Vorschlag, den die Kolle-




Jörg-Otto Spiller

16965


(C)



(D)



(A)



(B)


gin Barnett aus meiner Fraktion noch aus Sicht des Ar-
beitsschutzes im Detail erklären wird.

Ich meine, dass uns auch die Beschlusslagen der Bun-
desorgane Rückenwind verschaffen. Der Bundesrat, also
die Länderkammer, hat in der Vergangenheit mehrfach ei-
nen gesetzlich verankerten entschiedenen Nichtraucher-
schutz verlangt. Die Bundesregierung hat noch unter Ih-
rer Ägide – ich sage dies an die jetzige Opposition
gerichtet – bereits 1992 in ihrer Konzeption „Für bessere
Luftqualität in Innenräumen“ festgestellt, es seien admi-
nistrative und gesetzliche Maßnahmen zum Schutz von
Nichtrauchern in geschlossenen Räumen notwendig.


(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Nun kann man natürlich fragen: „Was macht denn ei-
gentlich an der Zigarette so krank? Ein bisschen Belästi-
gung ist doch nicht schlimm!“ Inzwischen ist klar, dass es
nicht nur um Belästigung geht, sondern um Erkrankun-
gen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Körperverletzung!)


und zwar nicht nur bei denen, die aktiv rauchen. Da
könnte man sich auf den Standpunkt stellen: Jeder ent-
scheidet selbst, womit er sich um die Ecke bringt. Abge-
sehen davon, dass die Solidargemeinschaft dann die Be-
handlung bezahlt, muss jeder, der zur Zigarette greift,
wissen: Der Tabakrauch – es geht ja auch um Pfeife und
Zigarre, nur wird da weniger inhaliert als bei der Ziga-
rette – ist verantwortlich für 80 Prozent aller Lungen-
krebserkrankungen, für 80 bis 90 Prozent aller Atem-
wegserkrankungen – Frau Bergmann-Pohl, Sie als
Lungenspezialistin werden dazu sicherlich Stellung neh-
men –, für 40 Prozent aller Herzerkrankungen und für
30 Prozent aller Krebserkrankungen, vom Kehlkopfkrebs
über Blasen-, Nieren-, Leber- bis zum Bauchspeichel-
drüsenkrebs. Letzteres erfuhr ich erst bei der erneuten
Vorbereitung auf dieses Thema; inzwischen hat die Wis-
senschaft neue Ergebnisse aufs Tapet gebracht.

Das rechtfertigt nun wirklich, dass sich der Bundesge-
setzgeber der Sache annimmt


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P)


und fragt: Wo ist denn der Mensch, vor allem der, der sich
entschieden hat, nicht zu rauchen, am längsten und am
konzentriertesten dem Rauch ausgesetzt, wenn es ihn
trifft, dass sein Arbeitskollege starker Raucher ist? Am
Arbeitsplatz. Laut Umfragen sind 75 Prozent der Deut-
schen für ein Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden, in
Verkehrsmitteln und – man höre und staune – am Arbeits-
platz.


(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Aber die Realität ist nicht danach!)


80 Prozent der Nichtraucher – das versteht sich aber von
selbst – und sogar 35 Prozent der starken Raucher wollen
ein Rauchverbot am Arbeitsplatz. Mich hat die Argumen-
tation von Herrn Gysi einmal sehr beeindruckt, der sagte,
obwohl er gern raucht: „Man muss das gesetzlich regeln.

Man muss ja die armen Nichtraucher schon vor mir schüt-
zen.“ Dem kann ich mich nur anschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/ CSU)


Nun noch einige Daten und Fakten, bevor ich auf die
allgemeine Rechtsprechung eingehe. Tabakrauch enthält
4 000 Bestandteile, davon 40 kanzerogene. Wer es noch
nicht weiß, soll erfahren, was im Tabakrauch enthalten ist.
Von Nikotin und Teer wissen inzwischen alle durch die
neue EU-Tabakprodukt-Richtlinie. Sie reduziert den Ge-
halt an Nikotin und Teer und hält die Aufschriften auf den
Schachteln etwas stringenter. Kurz und knapp und
knackig heißt es ab 2004: Rauchen tötet. Wie wahr! Rau-
chen verursacht Krebs; das wissen wir alle. Das gilt aber
nicht nur für die Aktivraucher, sondern auch für die Pas-
sivraucher. Wenn Sie sich zwei Stunden in einem stark
verräucherten Raum aufhalten, ist es so, als ob Sie eine
Zigarette rauchen. Jeder starke Raucher weiß, dass er sich
um 14 Jahre seines Lebens bringt. Aber die Raucher sa-
gen mir immer: Seid doch froh; das spart Kosten.


(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Die Rentenversicherung!)


Nur, bis es so weit ist, sind die Kosten für die Behandlung
der Folgen des Rauchens horrend.

Wenn man also weiß, dass im Tabakrauch Formaldehyd,
Dioxin, Salpetersäure, Phosphorsäure, Furane sind
– alles eklige Sachen –, wenn man weiß, dass die ameri-
kanische Umweltbehörde EPA Tabakrauch als Umwelt-
gift Nummer eins einschätzt, wenn man weiß, dass auch die
MAK-Kommission, die die Gesundheitsgefährlichkeit
von Stoffen am Arbeitsplatz analysiert, sagt, dass Tabak-
rauch in die A-Klasse der kanzerogenen Stoffe gehört, dann
ist es eigentlich überfällig, dass wir zumindest für den Ar-
beitsplatz eine Regelung treffen. Das soll heute passieren.


(Beifall bei der SPD und der PDS)

Nun kommt uns die Zigarettenindustrie, kommen uns

aber gelegentlich auch Kollegen mit dem Argument:
„Warum muss es überhaupt eine Regelung sein?“ Es ist
nur eine klitzekleine Verordnung; es ist noch nicht einmal
ein veritables Gesetz. „Wir sind doch alle zivilisiert; man
kann mit mir sprechen.“ Ich erlebe diese Woche im Aus-
wärtigen Ausschuss selbstverständlich,


(Monika Griefahn [SPD]: Da ist es besonders schlimm!)


dass der Kollege I. von der F.D.P., wenn ich sage: Uli, du
weißt doch, ich bin allergisch, oder der Kollege G. von der
PDS, wenn ich sage: Ich kann es nicht aushalten, die Zi-
garette sofort ausdrückt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Die Kollegin R. raucht auch im A+S-Ausschuss!)


Die Raucher sind ja keine Unmenschen. Nur, der gute
Wille hält keine zehn Minuten an, weil der Raucher niko-
tinabhängig ist. Er kann es nicht, obwohl er es will.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Arme irre Kranke!)





Uta Titze-Stecher
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(C)



(D)



(A)



(B)


Deswegen ist es Pustekuchen mit dem Appell an die
Rücksichtnahme oder dem Appell unter zivilisierten
Menschen. Sagen Sie das einmal im Charterflugzeug von
der ersten bis zur letzten Reihe; in der Zwischenzeit sind
Sie an Ihrem Feriendomizil vorbeigeflogen.

Also sind wir auf eine praktikable Regelung angewie-
sen, die nicht mehr auf die Position des Bittstellers, des
Nichtrauchers, und auf das Gefühl des Rauchers abstellt,
er müsse sich verteidigen: Eigentlich will ich es mir abge-
wöhnen, gut ist es auch nicht, es ist für mich und auch für
den Nichtraucher schlecht. Sie wissen, dass der Konflikt
schon in den Familien stattfindet; aber da wollen wir nicht
hineinfunken.

Wir haben als Bundesgesetzgeber ausdrücklich die
Kompetenz für die Regelung der Verhältnisse am Ar-
beitsplatz. Deswegen brauchen wir hier eine ganz klar de-
finierte Situation. Die Rechtsprechung ist inzwischen
weiter als wir, der Bundesgesetzgeber. Das Landesar-
beitsgericht Hessen hat bereits 1994 klipp und klar gesagt,
dass ein Arbeitnehmer das Recht auf einen tabakfreien Ar-
beitsplatz hat, und zwar auf Dauer, also nicht nur, solange
er eine Bronchitis hat.

Das Bundesarbeitsgericht hat bereits 1998 festgestellt,
dass es nicht unverhältnismäßig ist, wenn Betriebsrat und
Unternehmensführung ein totales Rauchverbot erlassen,
wenn damit das Ziel des Gesundheitsschutzes verfolgt
wird. C’est ça; das ist der Fall. Wir brauchen das nicht
mehr zu beweisen; langjährige Untersuchungen, wissen-
schaftliche Erkenntnisse sprechen Bände.

Mit unserer Gesetzeslage befinden wir uns am
Schwanz der Entwicklung. 14 von 16 EU-Ländern haben
bereits Regelungen, und zwar weit umfassendere. Darü-
ber, wie das manchmal in der Praxis aussieht, besonders
in Gaststätten und Cafés in Frankreich, decken wir mal
den Mantel der Nächstenliebe.

Unser Antrag bietet, glaube ich, die richtige Balance
zwischen der Lust des Rauchers auf eine Raucherpause
und dem Recht des nichtrauchenden Beschäftigten auf ta-
bakfreie Luft. Denn niemand verbietet es einem Arbeit-
geber, zur Motivation seiner Beschäftigten die Möglich-
keit eines Raucherpäuschens zu schaffen; aber in Zukunft
ist die tabakfreie Luft der Normalfall und das weiß jeder.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufs Klo!)


Im Gesetz heißt es:
Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen
zu treffen,

– eine Journalistin fragte mich heute im Rahmen eines In-
terviews: „Und wenn er das nicht will?“, worauf ich sagte:
Er hat gar keine Wahl, er muss –

damit die nichtrauchenden Beschäftigten in Arbeits-
stätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch
Tabakrauch geschützt sind.

„Wirksam“ ist klar. Wie er das macht, welche Maßnah-
men er ergreift – seien es solche lüftungstechnischer Art,
sei es die räumliche Trennung –, das ist dann seine Sache.

Denn die betriebliche Vielfalt vor Ort macht jeweils spezi-
fische Lösungen erforderlich.

Ich finde diese Regelung ausgesprochen mittelstands-
freundlich. Deswegen habe ich von der F.D.P. eigentlich
nur Zustimmung und nicht drei Minuten Zustimmung und
drei Minuten Gegenwind erwartet.

Im nächsten Absatz nehmen wir eine kleine Ein-
schränkung hinsichtlich der Arbeitsstätten mit Publi-
kumsverkehr vor, und zwar aus der Erfahrung der jahre-
langen Debatte mit Hotel- und Gaststättenvertretern. Wir
sagen, dass der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nach
Abs. 1 nur insoweit zu treffen hat, als es die Natur des Be-
triebs und die Art der Beschäftigung zulassen. Nun betrifft
dies natürlich die Beschäftigten in Gaststätten, also die
Bedienung bzw. den Kellner. Mich tröstet auch nicht das
Argument: Die wissen ja, auf was sie sich einlassen. Ich
kann nur darauf bauen, dass ein am Wohl, an der Gesund-
heit und an der Arbeitsmotivation seiner Beschäftigten in-
teressierter Arbeitgeber entschiedene Maßnahmen zum
Beispiel lüftungstechnischer Art ergreift, damit auch
diese Gruppe von Berufstätigen nicht allzu sehr vom Ta-
bakrauch geschädigt wird.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein frommer Wunsch!)


– Gott sei es geklagt; aber es ist so: Wir können und wol-
len das Rauchen dort nicht abschaffen. Denn es hat sich
eine Gaststätten- und Kneipenkultur entwickelt, in der es
Usus ist, vor, zwischen und nach der Mahlzeit ein Pfeif-
chen, eine Zigarre oder eine Zigarette zu rauchen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider auch bei der Mahlzeit!)


Mir geht es nur noch darum – das ist vielleicht eine Per-
spektive –, den Einstieg in die Raucher- und Suchtkarriere
so weit wie möglich nach hinten zu verschieben. Ich sage
Ihnen gleich von dieser Stelle aus: Die nächste Hürde, die
wir hoffentlich gemeinsam überwinden werden, wird eine
Verbesserung des Jugendschutzes in Form des Verbots
der Abgabe von Zigaretten an unter 16-Jährige sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417314000
Frau Kol-
legin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Uta Titze-Stecher (SPD):
Rede ID: ID1417314100
Ich habe schon die Lampe
blinken sehen, die auf das Ende meiner Redezeit hin-
weist. – Ach, Herr Präsident, Sie führen jetzt den Vorsitz.


(Heiterkeit)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417314200
Ja, der
Vorsitz hat gewechselt.


Uta Titze-Stecher (SPD):
Rede ID: ID1417314300
Herr Präsident, ich habe
nämlich gerade gedacht: Die Stimme ist doch männlich;
das kann doch nicht mehr Frau Fuchs sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417314400
Aber
bei mir läuft dieselbe Uhr. Insofern kann ich Ihnen nicht
helfen.




Uta Titze-Stecher

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(C)



(D)



(A)



(B)



Uta Titze-Stecher (SPD):
Rede ID: ID1417314500
Wir nehmen uns als Näch-
stes den Jugendschutz vor – das haben wir nicht verges-
sen –, und zwar in der Erkenntnis, dass die Suchtkarrieren
immer früher begonnen werden.

Ich darf zum Abschluss all denen danken, die diesen
langen Weg des Nichtraucherschutzes von 1990 bis heute
mitgegangen sind. Dank an Herrn Sauer und an Burkhard
Hirsch, die nicht mehr im Parlament vertreten sind, Dank
insbesondere an den Kollegen Lensing von der
CDU/CSU, der dieses Gebiet federführend, vorzüglich
und auf kollegialste Art und Weise hier vertreten hat, und
Dank an die Damen in unseren Büros. Unsere Bürodamen
rauchen leidenschaftlich; wir haben es ihnen bis heute
noch nicht verboten.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417314600
Das Wort
hat nun der Kollege Werner Lensing von der CDU/CSU-
Fraktion.

Werner Lensing (CDU/CSU) (vom Abg. Hildebrecht
Braun (Augsburg) (F.D.P.) mit Beifall begrüßt): Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Um
es von vornherein in der gebotenen Klarheit zu sagen: Der
interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative geht es
überhaupt nicht darum, all unseren Raucherinnen und
Rauchern auf dem Gesetzeswege den Kampf anzusagen.
Nein, wir wünschen ihnen vielmehr Gesundheit, und zwar
eine lang andauernde.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ohne Rauchen!)


Wir wollen nämlich auf keinen Fall ein eigenes
Nichtraucherschutzgesetz! Wir ändern lediglich die gül-
tige Arbeitsstättenverordnung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist schon schlimm genug!)


Damit haben wir richtige und ganz konkrete Konsequen-
zen aus den vormaligen, bekanntlich nicht von durch-
schlagendem Erfolg gekrönten Bemühungen gezogen.

Allerdings hatten wir bei unserer Arbeit zwei Pro-
bleme: Wir müssen einen Entscheidungskonflikt akzep-
tieren. Der Entscheidungskonflikt besteht darin, dass
wir einerseits gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes den
Anspruch eines jeden Einzelnen auf die freie Entfaltung
seiner Person und damit zugleich das Recht auf die freie
Entscheidung, rauchen zu dürfen, zu akzeptieren haben,
dass aber andererseits just im gleichen Art. 2 durch Abs. 2
das Recht des Einzelnen auf Leben und körperliche Un-
versehrtheit garantiert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will mein Grundrecht!)


Dieses grundgesetzlich geschützte Recht auf körperli-
che Unversehrtheit wird allerdings massiv verletzt, so-
lange Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend vor den
Folgen des Passivrauchens am Arbeitsplatz geschützt
werden. Daher wird der berechtigte Ruf nach einer ge-
setzlichen Regelung verständlicherweise immer lauter.
Doch – um dies gleich deutlich und unüberhörbar erneut
zu artikulieren – wir wollen in dieser Frage nicht mehr
Staat als eben notwendig. Daher befürworten wir ledig-
lich bereichsspezifische Präzisierungen innerhalb der be-
reits gültigen Arbeitsstättenverordnung.

Nun wird behauptet – Sie kennen das alle und ich
denke, ein jeder von Ihnen hat das erlebt –, die Frage des
geeigneten Nichtraucherschutzes sollte konkret vor Ort
auf der Basis freiwilligerVereinbarungen und im Geiste
der Toleranz einvernehmlich geklärt werden.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Schön wäre es!)

Gewiss, Toleranz kann man von den Rauchern lernen,
schließlich hat sich noch nie ein Raucher über einen Nicht-
raucher beschwert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich wäre geradezu froh und dankbar, wenn es zu diesen
willkommenen freiwilligen Absprachen tatsächlich käme
und somit eine solche Initiative von vornherein unnötig
und damit obsolet wäre. Doch leider ist diese idealisierte
Vorstellung lediglich ein schöner Traum. Bedauerlicher-
weise entspricht sie in keiner Weise der realen Arbeits-
welt. Ich könnte Beispiele dafür benennen, wenn mir am
Schluss noch Redezeit eingeräumt werden sollte.

An dieser Stelle möchte ich Folgendes sagen – Frau
Ute Titze-Stecher hat bereits in erfreulicher Klarheit da-
rauf hingewiesen –: Direkt zu Beginn der 14. Legislatur-
periode hat sich unsere interfraktionelle Nichtraucher-
schutzinitiative gebildet. Deren Konzept – das scheint mir
wichtig zu sein – unterscheidet sich grundlegend von dem
aller Nichtraucherschutzinitiativen in den vergangenen
Legislaturperioden. Unser Konzept wird von den folgen-
den Leitsätzen bestimmt:

Erstens. Wir wünschen – wie schon erläutert – kein ei-
genständiges Nichtraucherschutzgesetz, sondern ledig-
lich Veränderungen in bereits bestehenden Verordnun-
gen oder Gesetzen.

Zweitens. Wir streben keine rigide Bußgeldbewehrung
an, aber wir unterstützen aus Überzeugung geeignete
Hilfsangebote an die Raucherinnen und Raucher auf der
Basis von Prävention und einem Programm zur Raucher-
entwöhnung.

Diese von uns gewählte, im Übrigen mit dem Bundes-
ministerium für Arbeit und Sozialordnung abgestimmte
Formulierung des schon erwähnten neuen § 3 a der Ar-
beitsstättenverordnung hat vier – in dieser Frage bin ich
selbstverständlich ganz objektiv – wesentliche Vorteile:

Erstens. Sie ist eindeutig und schafft dadurch die über-
fällige Rechtsklarheit bezüglich des Nichtraucher-
schutzes am Arbeitsplatz.






(C)



(D)



(A)



(B)


Zweitens. Sie ist allgemein und lässt dadurch den Ar-
beitgebern und Betriebsräten hinsichtlich der Wahl der
konkreten betrieblichen Maßnahmen den angesichts der
Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhältnisse erforderli-
chen Regelungsspielraum.

Drittens. Sie ist moderat, da sie das Rauchen am Ar-
beitsplatz entgegen früherer Versuche nicht generell ver-
bietet, sondern lediglich Nichtraucher schützt.

Viertens. Sie ist zumutbar, weil mit dem neu zu schaf-
fenden § 3 a Abs. 2 der Arbeitsstättenverordnung – auch
schon kurz erwähnt – für Arbeitsstätten mit Publi-
kumsverkehr eine Regelung getroffen ist, die auf keinen
Fall – das wollten wir auch um jeden Preis verhindern –
mittelstandsfeindlich ist.

Nach meiner Einschätzung gibt es zu dem heute zur
Abstimmung anstehenden Antrag keine sinnvolle Alter-
native.


(Zuruf von der F.D.P.: Doch: ablehnen!)

Dessen bin ich mir sicher. Bereits 1989 hatte die EU ihre
Mitgliedstaaten aufgefordert, endlich die Voraussetzun-
gen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaf-
fen. Dies wurde mittlerweile in immerhin 14 EU-Staaten
umgesetzt. Nur Deutschland hinkt bei dem erforderlichen
Schutzstandard immer noch hinterher,


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Aber nicht mehr lange!)


obgleich hier mehr Menschen an den Folgen des Rau-
chens als durch Mord, Totschlag, Verkehrsunfälle und
Aids zusammen sterben. Daher dürfen und können wir
uns unserer Verantwortung nicht länger entziehen.

Durch unseren Antrag wird in Deutschland endlich ein
Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger vor den Ge-
sundheitsgefahren des Passivrauchens gesetzlich veran-
kert, wie er bereits in über 90 Staaten der Erde besteht.


(Walter Hirche [F.D.P.]: So ist es!)

Nachdem alle mit dem Antrag befassten Ausschüsse,

aber wirklich alle, diesem mit überwältigender Mehrheit
zugestimmt haben, bitte ich Sie heute ebenso herzlich wie
nachdrücklich, bei der nun anstehenden entscheidenden
Abstimmung mitzuhelfen, dieses fürwahr historische Pro-
jekt erfolgreich abzuschließen. Denn jede einzelne
Stimme zählt.

Diejenigen unter Ihnen, Herr Dr. Kolb, die unserer Ini-
tiative trotz unserer Bemühungen und unserer qualifizier-
ten Begründung


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Sie haben meine noch nicht gehört!)


– die kann ich schon ahnen, weil ich sie früher schon ein-
mal gehört habe, – nicht folgen möchten, verdienen mei-
nen Respekt für ihre Entscheidung. Gleichwohl sollte
aber derjenige, der nicht bereit ist, diese Initiative zu un-
terstützen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lernfähig sein!)


freimütig einräumen, dass er dann auch keinerlei Nicht-
raucherschutz wünscht, weder heute noch morgen.


(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Richtig!)


Natürlich bin ich – wie vermutlich Sie alle hier, wir
müssen ja sehen, dass wir wirklich Niveau in die Debatte
bekommen – ein großer Verehrer unseres Dichters
Johann Wolfgang von Goethe.Gleichwohl kann ich ihm
bei aller Verehrung nicht vollständig zustimmen, obgleich
ich Ihnen, auch den Raucherinnen und Rauchern, sein
Zitat nicht vorenthalten möchte, ohne allerdings hierbei
– ich bin ja Vertreter der C-Partei und damit der christli-
chen Caritas täglich verpflichtet – die Anhänger des Ni-
kotins in unzulässiger Weise verletzen zu wollen. Ich zi-
tiere kurzerhand Goethe:

Das Rauchen macht dumm; es macht unfähig zum
Denken und Dichten.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und noch zu anderem!)

Es ist auch nur für Müßiggänger, für Menschen, die
Langeweile haben ... Aber es liegt auch im Rauchen
eine arge Unhöflichkeit, eine impertinente Ungesel-
ligkeit. Die Raucher verpesten die Luft weit und breit
und ersticken

– als Schmauchlümmel –
jeden honetten Menschen, der nicht zu seiner
Verteidigung zu rauchen vermag.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich werde, soweit ich die Chance habe, Ihren Beifall an
Goethe weiterleiten. Aber ich möchte deutlich sagen: So
weit gehe ich natürlich nicht, beileibe nicht. Ich lasse
mich lieber von dem erprobten Sprichwort leiten, das da
lautet: Wer mit einer neuen Idee kommt, wird beim ersten
Mal verlacht, beim zweiten Mal vehement bekämpft und
beim dritten Mal will jeder Vater oder Mutter gerade die-
ses Gedankens gewesen sein.

In diesem Sinne bedanke ich mich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417314700
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Sylvia Voß vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417314800
Sehr ge-
ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte den Goethe heute auch zitieren:

Man muss das Wahre immer wieder sagen, weil auch
der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird.

Ein Raucher, egal, ob Mann oder Frau, gefährdet seine
Gesundheit. Das weiß er, das wissen wir. Immerhin hat
die europäische Politik schon vor Jahren dafür gesorgt,




Werner Lensing

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(C)



(D)



(A)



(B)


dass der Raucher daran vorsichtshalber auch noch erin-
nert wird. Auf jeder einzelnen Schachtel seiner Glimm-
stängel kann er lesen: Rauchen gefährdet die Gesundheit.


(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Bloß, sie glauben es nicht!)


Aber wer kümmert sich eigentlich um die Nichtrau-
cher? Die giftigen Stickoxide, Formaldehyd und die vie-
len anderen Substanzen – es sind Hunderte bekannte und
zum Teil in ihrer Wirkung auch noch völlig unbekannte –
werden von Passivrauchern genauso inhaliert wie vom
aktiven Raucher.

Wenn der Kollege während der Arbeitsbesprechung
meint, den „Duft der großen weiten Welt“ verströmen zu
müssen, dann werden drei Viertel des Qualms seiner Zi-
garette nicht von ihm inhaliert. Diese drei Viertel enthal-
ten eine gefährliche Mischung von Krebs erregenden
Stoffen, die sich dann im Raum verflüchtigen. Sein Kol-
lege Nichtraucher muss diesen so genannten Neben-
stromrauch gezwungenermaßen inhalieren. Damit – um
auf die EU zurückzukommen – gefährdet Rauchen auch
seine Gesundheit. Deshalb versuchen seit mehr als sieben
Jahren zahlreiche Bundestagsabgeordnete aller Fraktio-
nen, am Arbeitsplatz mehr Schutz für die Nichtraucher zu
erreichen. Ein Erfolg blieb bisher aus, obwohl es keine
guten Argumente dafür gibt, die rechtlose Situation der
Nichtraucher fortzuschreiben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

Aus Umfragen ist bekannt, dass über 75 Prozent – dem
„Tagesspiegel“ vom vergangenen Sonntag zufolge sogar
82 Prozent – der Nichtraucher sagen: Wir brauchen ein
gesetzliches Rauchverbot am Arbeitsplatz. Diese hohen
Zahlen zeugen meines Erachtens davon, dass ein jeweili-
ges Aushandeln eines Rauchverbots in Sitzungen oder
bei anderen Gelegenheiten am Arbeitsplatz eben oft nicht
gelingt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der PDS – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist wirklich traurig!)


Deshalb geht auch der Abgeordnete der CDU/CSU-
Fraktion Ernst Hinsken fehl mit seinem Argument, der
Staat müsse die Mündigkeit des Bürgers respektieren, das
er in der heutigen Ausgabe der „Bild“-Zeitung äußert.


(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Aber nicht, wenn das krank macht!)


Der vorliegende Antrag, um dessen Annahme ich nicht-
rauchende und rauchende Kolleginnen und Kollegen glei-
chermaßen herzlich bitte, mindert nämlich in keiner
Weise die Mündigkeit des rauchenden Mitbürgers – wie
auch unsere Debatte eigentlich keine zwischen Nichtrau-
chern und Rauchern ist.

Worum es in diesem Fall geht, ist die Anerkennung der
Mündigkeit auch des Nichtrauchers. Sein Recht auf ei-
nen gesunden Arbeitsplatz zu stärken ist Anliegen der
wenigen neuen Passagen der Arbeitsstättenverordnung.
Aufgeklärte oder auch einfach nur rücksichtsvolle Men-
schen bzw. Raucher respektieren im Wissen um die Risi-

ken des Rauchens und Passivrauchens dieses Recht auch.
Der Raucher Hans-Jörg Vehelewald schreibt heute in der
„Bild“-Zeitung: „Wer im Büro, im Auto, im Fahrstuhl
qualmt ohne Rücksicht auf andere, ist ein Flegel.“


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Ein Schmauchlümmel!)


Die Entmündigung der Nichtraucher durch diese Flegel
zumindest am Arbeitsplatz zu beenden, darum geht es
heute.

Der Staat kann dies nicht nur regeln, wie ein Blick in
viele andere Länder leicht beweist, sondern es ist auch die
vornehme Pflicht des Gesetzgebers, jene zu stärken, die
sich entschieden haben, gesund zu leben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der F.D.P. – Werner Lensing [CDU/ CSU]: Fürsorgepflicht!)


Das liegt im Übrigen auch im Interesse des Arbeitge-
bers, der in die profitable Pflicht genommen wird, seinen
nichtrauchenden Beschäftigten, die in den Betrieben
schließlich zumeist die Mehrheit bilden, eine gesündere
Arbeitsumgebung zu ermöglichen. Es entstehen ihm,
wenn überhaupt, nur sehr geringe Kosten. Dafür aber wird
er sich bald über Personal freuen können, das durch aus-
bleibende Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwin-
del, Hustenanfälle und andere Atembeschwerden, die
durch das Passivrauchen hervorgerufen werden, leis-
tungsfähiger arbeitet. Auch unserem Krankenversiche-
rungssystem ist es bestimmt nicht abträglich, wenn das
Lungenkrebsrisiko gesenkt wird. Denn bei langfristig
exponierten Passivrauchern lässt sich zum Beispiel ein
signifikanter Anstieg eines Tumorantigens, des Carci-
noembryonalen Antigens, nachweisen. Mit geringen fi-
nanziellen Mitteln der Arbeitgeber lässt sich also ein
Höchstmaß an gesellschaftlicher Wirkung erzielen.

Der Gesetzentwurf wendet sich nicht gegen die Rau-
cher. Doch wir dürfen den Nichtrauchern nicht weiterhin
zumuten, permanent um die Achtung ihres Rechtes auf
Gesundheit feilschen zu müssen. Individuelle Freiheit fin-
det ihre Grenze immer in den Freiheitsrechten anderer.
Nichtraucher haben das Recht auf Schutz ihrer Gesund-
heit und ihrer körperlichen Unversehrtheit. Heute wollen
wir dieses Grundrecht endlich am Arbeitsplatz verwirk-
licht sehen und auch gesetzlich anerkennen.

Ich möchte an dieser Stelle aus dem Schreiben eines
Bürgers zitieren, der dieses Recht mit folgender Argu-
mentation einfordert:

Was würde wohl ein alkoholabstinenter Bürger sa-
gen, wenn ihm von seinen alkoholabhängigen Mit-
bürgern, frei nach dem Motto „Von einem Schnaps
ist noch keiner gestorben“, nach jeder Arbeitsstunde
ein Schnaps in den Hals geschüttet würde?

(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Zum Wohl!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch
auf etwas anderes hinweisen. Es ist sehr schwer, heutzu-
tage als Jugendlicher der massiven Werbung, nämlich
den „test it“-Lockversuchen diverser Marken, zu wider-
stehen und diese eben nicht zu testen. Es stimmt doch sehr




Sylvia Voß
16970


(C)



(D)



(A)



(B)


nachdenklich, wenn mir zum Beispiel eine Klasse 6 b aus
Nordhausen ehrlicherweise mitteilt, dass 13 Schüler am
Wettbewerb „be smart – don‘t smoke“ teilnahmen, mit
dem Ziel, zu 90 Prozent für ein halbes Jahr nicht zu rau-
chen, und diese Jugendlichen die Aktion nach den
wöchentlichen anonymen Kontrollen inzwischen abge-
brochen haben.

Während sich in Großbritannien die Zahl der nie rau-
chenden Schüler in den letzten Jahren verdoppelt hat, ist in
Deutschland keine positive Entwicklung zu verzeichnen.
38 Prozent der 12- bis 25-Jährigen greifen mehr oder we-
niger regelmäßig zum Glimmstängel, und wir alle wissen,
dass die Konsumenten, die mit dem Rauchen beginnen,
immer jünger werden, noch Kinder sind. Wenn ein Mensch
bis zu seinem 20. Lebensjahr die Finger vom Glimmstän-
gel lässt, steht die Chance, dass er es auch weiterhin tut,
ziemlich gut. Doch der Zigarettenindustrie zu entkommen
ist auch deswegen so schwer, weil in diesem Alter das
Gruppenverhalten sehr stark prägt. Rauchen in diesen
Gruppen ist heute noch immer krass, cool und megafett.
Dies gilt zumindest bis zum völlig uncoolen Lungenkreb-
stod oder der voll krassen Amputation eines Raucherbeins.

Wir wissen doch, wie wichtig es ist, die jungen Nicht-
raucher zu motivieren, bei ihrem gesunden Lebensstil zu
bleiben.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Genau das ist der Punkt!)


Insofern wird hoffentlich von unserem heutigen Be-
schluss das sehr positive Signal an alle Nichtraucher aus-
gehen, dass der Staat sie jetzt dabei unterstützt, zumindest
während der Arbeitszeit das Risiko auszuschließen, in ei-
nen Passivraucher verwandelt zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417314900
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1417315000
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gut gemeint ist das Gegenteil
von gut.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dieser Satz ist zwar nicht von Goethe, aber trotzdem rich-
tig. Er gilt leider auch für den heute vorliegenden Grup-
penantrag zum Nichtraucherschutz.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Das ist eine Unterstellung!)


Mit der plakativen Forderung, die 17-jährige Auszu-
bildende müsse vor dem rücksichtslosen, kettenrauchen-
den Kollegen geschützt und ihr ein Anspruch auf einen
rauchfreien Arbeitsplatz per Rechtsverordnung garantiert
werden, werben die Unterzeichner für Unterstützung.

Was zunächst einleuchtend klingt,

(Werner Lensing [CDU/CSU]: Und auch ist!)


wirft die Frage nach dem Selbstverständnis der Politik
auf. Darf bzw. muss der Staat denn wirklich alles regeln,
was die Menschen subsidiär, also in eigener Verantwor-
tung, und mit den Mitteln der Vernunft ohne weiteres
selbst regeln können?


(Beifall bei der F.D.P.)

Dazu sage ich mit der überwältigenden Mehrheit meiner
Fraktion ein klares Nein.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Was sagen die anderen europäischen Staaten?)


Herr Kollege Lensing, man muss es sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen: Nach den Vorstellungen Ihres
Gruppenantrages wird das Gespräch und die Einigung der
Menschen im Betrieb durch den Bescheid einer Behörde
an die Adresse des Unternehmers ersetzt.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Das ist gar nicht wahr!)


Das wollen wir nicht. Deswegen lehnen wir diesen büro-
kratischen Ansatz ab.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417315100
Herr Kol-
lege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lensing?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1417315200
Nichts lieber als das,
Herr Kollege Lensing. Ich habe nämlich nur drei Minuten
Redezeit. Ihre Zwischenfrage ist eine gute Hilfe.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417315300
Bitte
schön, Herr Kollege Lensing.


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1417315400
Ich verstehe die Ein-
schätzung, die Sie mir als Person zukommen lassen.
Dafür bedanke ich mich. Gleichwohl ist es nicht richtig zi-
tiert. Vor diesem Hintergrund ist es mir wert, dass Sie jetzt
tatsächlich etwas mehr Redezeit bekommen.

Wir haben immer gesagt: Wir setzen auf das freiwillige
Miteinander. Wir geben überhaupt keine Regelungen
vor, wie man das machen kann. Wir sagen lediglich: Es
darf nicht sein, dass wir in Deutschland bis zu 5Millionen
Passivraucher haben, die sich deswegen dem Tabakkon-
sum der anderen aussetzen müssen, weil man sich eben
nicht einigen kann. Nur für diese Fälle möchten wir, dass
gegebenenfalls Rechtsklarheit herrscht. Aber das ist das
allerletzte Mittel, das wir einsetzen wollen. Wir setzen auf
die Freiwilligkeit. Das hatte ich deutlich gesagt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417315500
Was war
jetzt die Frage, Herr Kollege?


Werner Lensing (CDU):
Rede ID: ID1417315600
Ich wollte fragen,
wieso Sie überhaupt auf die Idee kommen, dieser meiner
sinnvollen Argumentation zu widersprechen?


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)





Sylvia Voß

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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1417315700
Herr Kollege Lensing,
ich komme auf diese Idee, weil ich mich der Mühe unter-
zogen habe, Ihren Gruppenantrag zu lesen. Wenn ich das
richtig gelesen habe, dann wollen Sie einen neuen § 3 a in
die Arbeitsstättenverordnung einfügen. Es mag sein, dass
darin noch nichts Schlimmes auftaucht, aber dann liest
man in der Begründung weiter nach. Dort steht ganz klar
und deutlich drin: Mit der Durchführung der Verordnung
werden die zuständigen Landesämter, die Gewerbeauf-
sicht, beauftragt.


(Monika Griefahn [SPD]: Das ist nun einmal bei Arbeitsstätten so!)


Man kann sich vorstellen, wie das funktioniert. Es wird
nämlich im Einzelfall, Herr Kollege Lensing, nicht aus-
nahmsweise so sein, dass sich die zitierte 17-jährige Aus-
zubildende an die Gewerbeaufsicht wendet, sondern es
wird zukünftig vorauseilend administriert werden und
Eingang in Genehmigungsverfahren finden. Deswegen
kann ich Ihnen nur empfehlen, meiner Mühe folgend,
noch einmal in Ihrem Antrag nachzuschlagen und nicht
nur den § 3 a der Arbeitsstättenverordnung, sondern auch
die Begründung zu lesen. Dann werden Sie meine Ein-
schätzung sehr gut nachvollziehen können.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417315800
Herr Kol-
lege Kolb, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der
Kollegin Griefahn?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1417315900
Natürlich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417316000
Bitte
schön, Frau Griefahn.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1417316100
Wenn ich Sie höre, Herr
Kolb, dann überlege ich, ob Sie vielleicht am Dienstag ein
paar Caipirinhas zu viel getrunken haben. Wer sonst außer
den nachgeordneten Behörden soll denn die Durch-
führung machen? Sollen wir eine zentrale nachgeordnete
Behörde des Bundes einrichten?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1417316200
Frau Kollegin
Griefahn, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Frage,
weil sie mir Gelegenheit gibt, den Unterschied in unseren
Ansätzen etwas ausführlicher deutlich zu machen. Wir
setzen auf die Vernunft, die Einsicht und die Einigungs-
fähigkeit der Menschen, Sie dagegen setzen auf einen
bürokratischen Ansatz und glauben, die Probleme mit
behördlichen Bescheiden lösen zu können.

Ich versetze mich einmal in die Rolle eines Advocatus
Diaboli. Selbst wenn man sagt, man will den Verord-
nungsweg wählen, stellt sich doch die Frage: Warum ma-
chen Sie es so, wie Sie es vorgeschlagen haben? Man hätte
doch auch einen ganz anderen Weg gehen können. Man
hätte den Unternehmer als Moderator einbinden können,
dem ermöglicht wird, den wiederholt uneinsichtigen Rau-
cher mit den Mitteln des Arbeitsrechtes in die Schranken
zu weisen


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann er doch machen!)


und deutlich zu machen, wo die Freiheit des Rauchers auf-
hört und die des Nichtrauchers anfängt. Darum geht es aus
unserer Sicht und das ist ein ganz anderer Ansatz als das,
was Sie hier vorschlagen.


(Beifall bei der F.D.P. – Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Praxis sieht doch ganz anders aus!)


Dieser Ansatz passt aber überhaupt nicht – ich sehe das
sehr wohl – zu dem Paradigma der Antragsunterzeichner.
Man sorgt sich – Herr Lensing, ich habe den Antrag wirk-
lich gelesen – um die nikotinabhängigen Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer und will ihnen mit Konzepten
für eine – wohlgemerkt – innerbetriebliche Nikotinent-
wöhnung unter die Arme greifen, anstatt ihnen mit den
Mitteln des Arbeitsrechts deutlich zu machen, wie die
Dinge zu laufen haben.


(Dr. Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]: Es geht um die Passivraucher!)


So ist – Herr Kollege Lensing, den Vorwurf muss ich
Ihnen machen – die Vorlage zum Nichtraucherschutz im
Grunde nichts anderes als die Fortsetzung rot-grüner Po-
litik mit den Mitteln des Gruppenantrages.


(Lachen bei der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ich protestiere heftig!)


Auf der Strecke bleibt wieder einmal, wie so oft in den
letzten beiden Jahren, der mittelständische Unternehmer,


(Beifall bei der F.D.P.)

dem nach dem Anspruch auf Teilzeitarbeit und Ausdeh-
nung der Mitbestimmung – um nur zwei so genannte Re-
formen zu nennen – nun eine weitere Last auferlegt wird.
Ich sage Ihnen voraus: Sollte dieser Antrag angenommen
werden, so wird das Vorhaben einen weiteren Beitrag zur
nachhaltigen Entmutigung des Mittelstandes in unserem
Lande leisten.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Ich will zum Schluss – ich muss wegen der Kürze der
Redezeit etwas zuspitzen – Folgendes sagen. Der Unter-
nehmer, der montags die Brandschutzbegehung seines
Unternehmens durch das Kreisbauamt begleiten durfte,
dienstags den Besuch des Kontrolleurs der Berufs-
genossenschaft über sich ergehen lassen musste, dem
mittwochs eine fünfstellige Nachforderung des AOK-Prü-
fers wegen der Einführung des Anspruchsprinzips bei den
630-DM-Verträgen eröffnet wurde und der donnerstags
den amtlichen Bescheid der Gewerbeaufsicht wegen zu
schaffender rauchfreier Arbeitsplätze in den Händen hält,
wird sich freitags, wenn ihm sein Steuerberater eröffnet,
was von seinem Gewinn nach Steuern noch verbleibt, fra-
gen, ob er seiner Tochter oder seinem Sohn wirklich noch
empfehlen kann, das Unternehmen fortzuführen.


(Lachen bei der SPD)

Das könnte dazu führen – ich würde das bedauern –, dass
die eingangs zitierte 17-jährige Auszubildende in Zukunft
möglicherweise erst gar keinen Ausbildungsplatz mehr
findet. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut und des-






(C)



(D)



(A)



(B)


wegen bitte ich Sie dringend, die Vorlage zum Nichtrau-
cherschutz abzulehnen.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das war eine schlechte Rede, Herr Kolb!)


– Ich fand sie gut.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417316300
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara
Höll von der PDS-Fraktion.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417316400
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin seit drei Monaten
Nichtraucherin, und im dritten Anlauf innerhalb der letz-
ten zehn Jahre. Nach solch einer Rede würde man am liebs-
ten zum Stressabbau wieder zu einer Zigarette greifen. Ich
gebe das ehrlich zu.

Ich erkläre hier kurz und knapp: Die PDS-Fraktion
wird Ihrem Antrag in Gänze – alle Nichtraucherinnen und
Nichtraucher, alle Raucherinnen und Raucher; die Rau-
cher kommen sogar extra her, um ihre Zustimmung kund-
zutun – zustimmen.


(Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Inhalt des Antrages ist schon viel gesagt worden;
ich möchte die bisherigen Ausführungen nicht ergänzen.
Ich möchte aber auf den zweiten Punkt, über den wir
heute auch sprechen, noch eingehen; Frau Voß hat darauf
ganz kurz, aber nur indirekt, hingewiesen. Wir beraten
heute gleichzeitig einen Antrag der PDS, in dem wir die
Bundesregierung in zweifacher Hinsicht zum Handeln
auffordern. Der erste Punkt hat sich erledigt. Da fordern
wir die Bundesregierung auf, die Klage vor dem Europä-
ischen Gerichtshof gegen das Werbeverbot der EU
zurückzuziehen. Das war eine Klage der alten Regierung,
die die neue Regierung leider aufrechterhalten hat. Und
sie hat leider Recht bekommen.

Gestern hat aber der zuständige EU-Kommissar in
Brüssel neue Vorschläge vorgestellt. Damit hat der zweite
Punkt unseres Antrages sehr wohl weiterhin Gültigkeit.
Wir fordern Sie auf, tätig zu werden, um hier in der
Bundesrepublik die Werbung für Tabakwaren zu ver-
bieten. Ich möchte Ihnen das eindringlich erläutern.

Ob ich wieder anfange zu rauchen oder nicht, ist etwas
anderes, weil ich schon einmal vom Rauchen abhängig
war. Wir sind hier im Parlament 668 Abgeordnete – zur-
zeit nicht ganz so viele. Täglich sterben in Deutschland
300 Menschen an den direkten Folgen des Tabakgenus-
ses. Das heißt natürlich für die Tabakwarenindustrie: Es
müssen täglich mindestens 300 Kinder und Jugendliche
rekrutiert werden, die neu zum Glimmstängel greifen.
Wenn wir wirklich etwas für den Kinder- und Jugend-
schutz tun wollen, müssen wir uns als Parlament mit der
Werbeindustrie, mit der Tabakindustrie und natürlich
auch mit der Automatenindustrie anlegen.

In keinem anderen Land auf der Welt gibt es eine sol-
che Dichte von Zigarettenautomaten wie in Deutschland.

Gehen Sie bitte durch die Stadt! Wie sind die Zigaretten-
automaten angebracht? Ganz oft ist unten ein Automat mit
Süßwaren und darüber ein Automat mit Zigaretten. Kein
Rauchverbot – sei es für unter 16-, 18- oder 20-Jährige –
nützt etwas, wenn der Zugang zu Tabakwaren dermaßen
leicht ist.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417316500
Frau Kol-
legin Höll, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Braun?


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417316600
Ja, sicher.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417316700
Bitte
schön, Herr Braun.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1417316800
Frau Kolle-
gin Höll, ist Ihnen bekannt, dass die mittelständisch
geprägte Industrie – wie Sie sie nennen – der Automaten-
aufsteller mit den Initiatoren dieser Nichtraucherschutz-
initiative gemeinsam darüber nachgedacht und beraten
hat, wie man den Kinder- und Jugendschutz im Zusam-
menhang mit dem Rauchen verbessern kann?


(Dr. Ilja Seifert [PDS]: Und haben Sie ein Ergebnis?)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1417316900
Sehr geehrter Kollege Braun,
das ist mir bekannt. Allerdings habe ich in den letzten Jah-
ren erfahren müssen, dass es mit den Selbstverpflichtungen,
die Teile der Industrie eingegangen sind, oftmals nicht so
weit her ist. Ich erlaube mir, als Beispiel die Werbung anzu-
führen. Da gibt es eine Selbstverpflichtung der Tabakwa-
renindustrie, dass die abgebildeten Models älter als 30 Jahre
sein müssen. Sie wirken aber allesamt jünger als 30 Jahre,
wenn es nicht ausgesprochene Werbung mit „Alten“ ist.

Es geht nicht um einen Kampf gegen Automaten ins-
gesamt. Automaten zum Beispiel in Gaststätten, wo Kin-
der und Jugendliche keinen unkontrollierten Zugang ha-
ben, können sehr wohl stehen bleiben. Es geht um die
Automaten, die draußen angebracht sind, und dann auch
noch in Kombination mit Süßwaren, wie ich eben darge-
stellt habe. Ich glaube, da müssen wir aktiv werden. Nach
meinen Erfahrungen habe ich nicht die Hoffnung, dass
das mit einer Selbstverpflichtung zu regeln ist.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es gibt auch eine Selbstverpflichtung, dass keine Wer-

bung für Tabakwaren im Zusammenhang mit Sport ge-
macht wird. Michael Schumacher wirbt für „Moods“.
Was ist das anderes?

Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal im Kino waren.
Eine wunderschöne Suggestivwerbung für Tabakwaren
und hinterher eine schwarze Leinwand mit weißer Schrift:
„Die Gesundheitsministerin warnt: Der Tabakkonsum ist
schädlich für Ihre Gesundheit.“


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Spielverderberin!)





Dr. Heinrich L. Kolb

16973


(C)



(D)



(A)



(B)


Welche Chance hat diese Warnung überhaupt noch?
Ich finde es positiv, wenn die EU die Initiative ergreift

und es möglich macht, die Warnhinweise auf den Zigaret-
tenschachteln wesentlich drastischer zu gestalten, also
etwa mit einer Abbildung einer Raucherlunge und einem
Aufdruck „Rauchen tötet“; denn Rauchen tötet tatsäch-
lich.

Wir im Parlament sollten nicht erst darauf warten, dass
die EU in den nächsten zwei Jahren entscheidet und dann
noch Übergangsregelungen einräumt. Wir sollten nicht
nur das Mindestmaß verwirklichen, das die EU vor-
schreibt. Vielmehr ist es uns unbenommen, selber Schritte
zu ergreifen. Die Richtlinie wird so ausgestaltet sein, dass
die nationalen Staaten sehr wohl eine Handlungsfreiheit
haben. Wenn man die Regelungen in den anderen europä-
ischen Staaten mit denen hier in der Bundesrepublik ver-
gleicht, so stellt man fest, dass wir ganz hinten liegen und
viel tun könnten.

Was wir heute tun, kann nur ein erster kleiner Schritt
sein – den wir aber natürlich unterstützen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417317000
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Doris Barnett
von der SPD-Fraktion.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1417317100
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Als ich am Montag mit dem Zug
von Berlin nach Halle fuhr, bin ich aus Versehen in ein
Raucherabteil gegangen. Das habe ich erst nicht gemerkt,
weil die beiden Personen, die in diesem Abteil gesessen
haben, nicht geraucht haben. Als später Raucher dazu ka-
men, habe ich gedacht, irgendjemand dreht mir den Hahn
zu. Als Nichtraucher merkt man das sehr schnell. Nun, ich
konnte in ein anderes Abteil gehen, aber die Leute am Ar-
beitsplatz, Herr Kolb, die können das nicht, die müssen an
ihrem Arbeitsplatz bleiben und müssen die verpestete
Luft einatmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])


Ich bin Nichtraucherin und habe in meinem Leben
wirklich noch nie geraucht – außer passiv, wenn Sie das
gut finden; ich tue das nicht. Deshalb bin ich, was das
Rauchen angeht, wahrscheinlich toleranter als viele
Exraucher. Aber ich fühle mich als Abgeordnete all den-
jenigen gegenüber in der Pflicht, die sich am Arbeits-
platz nicht durchsetzen können gegen rücksichtslose
Kollegen – die soll es ja geben –, die auch noch damit
prahlen, nur noch eine halbe Schachtel pro Tag zu rau-
chen.

Ich könnte hier eine Analogie zum Problem prügeln-
der Männer ziehen; jahrelang wurde akzeptiert, dass die
Frau ausziehen könne. Analog könnte man argumentie-

ren, der Nichtraucher solle sich in rauchfreie Räume ver-
ziehen


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder einen anderen Arbeitsplatz suchen!)


und könne, wie die verprügelte Frau, klagen. In beiden
Fällen geht es – das wurde mehrfach gesagt – um kör-
perliche Unversehrtheit, unser wichtigstes Gut über-
haupt. Das wurde heute Morgen ja schon ausführlich und
in einer guten Debatte dargelegt.

So wenig wir die Frauen hilflos ließen, so wenig dür-
fen wir jetzt die Nichtraucher rechtlos lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, also sich
von Dritten verursachten Gefahren nicht aussetzen zu
müssen, umfasst auch das Recht auf gesundheitlich zu-
trägliche, das heißt tabakfreie Atemluft am Arbeits-
platz. Dieses Recht ist bisher nicht gesichert. Viele
Nichtraucherbestimmungen in den Betrieben haben
eine so genannte Vetoregelung. In der Praxis sieht das
dann so aus, dass der auf sein Recht pochende Nicht-
raucher zum Störenfried abgestempelt wird. Und richtet
sich das Veto des Nichtrauchers gar gegen das Rauchen
des Chefs oder des Vorgesetzten, dann macht er sich si-
cherlich nicht beliebt. Die Konsequenz ist: Allzu oft
bleiben die Nichtraucher ruhig und schlucken lieber die
verpestete Luft.

Deshalb wollen wir – ich hoffe wirklich auf die Ein-
sicht aller – den Nichtraucherschutz nicht nur in Pausen-,
Bereitschafts- und Liegeräumen des Arbeitsplatzes gesi-
chert wissen und ansonsten auf die Rücksichtnahme hof-
fen, sondern wollen den Arbeitgeber verpflichten, Vor-
kehrungen in allen seinen Arbeitsräumen zu treffen, um
die Nichtraucher zu schützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Dann geben Sie ihm doch disziplinarische Mittel an die Hand! Das ist doch die Konsequenz!)


Denn, Herr Kolb, wenn es um den Brandschutz im Betrieb
geht, dann hat der Arbeitgeber auch keine Nachsicht mit
seinen Rauchern. Bloß wenn es um den Schutz seiner
nicht rauchenden Mitarbeiter geht, dann ist ihm deren Ge-
sundheit seltsamerweise offensichtlich egal. Das kann
nicht richtig sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417317200
Sie erlau-
ben eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? – Bitte
schön, Herr Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1417317300
Frau Kollegin Barnett,
es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, in explosionsge-
fährdeten Räumen ein Rauchverbot zu verfügen. Analog
hätten Sie, wenn sie schon eingreifen wollen, dem Ar-
beitgeber die Möglichkeit schaffen müssen, in Büroräu-




Dr. Barbara Höll
16974


(C)



(D)



(A)



(B)


men, in denen Raucher und Nichtraucher zusammen sit-
zen, ein Rauchverbot zu verfügen.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Stellen Sie eine Frage, Herr Kollege!)


Das Problem ist doch folgendes – ich bitte Sie um Ihre
Einschätzung, ob Sie mir folgen können –:


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Können oder wollen?)


In mittelständischen Unternehmen kann man Raucher und
Nichtraucher nicht immer trennen, weil die entsprechende
Raumkapazität nicht vorhanden ist. An der Stelle muss man
fragen, was dann geschehen soll. Es gibt dann nur die Mög-
lichkeit, ein Rauchverbot zu erlassen und das konsequent
durchzusetzen. Diese Möglichkeit haben Sie nicht verfolgt.
Deswegen frage ich Sie, ob der von mir vorgeschlagene
Weg am Ende nicht doch der richtige und der bessere ist.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1417317400
Herr Kolb, auf Ihre Frage, ob es
nicht konsequent wäre, einen generellen Nichtraucher-
schutz einzuführen, kann ich Ihnen nur antworten: Es ist
nichts einfacher, als einen solchen Schutz in einem kleinen
Betrieb zu verwirklichen. Der Arbeitgeber muss lediglich
sagen: Bei mir im Betrieb wird nicht geraucht, Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Er hat die Möglichkeit, ein solches Verbot zu erlassen. Er
kann es nach seinen Bedürfnissen regeln.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Nein!)

– Doch, Herr Kolb. Lassen Sie die Bestimmungen doch
einmal in Ihrer Fraktion prüfen. Ihr Kollege Braun, der
hinter Ihnen sitzt, wird Ihnen sicherlich gerne bei der In-
terpretation der einschlägigen Bestimmungen behilflich
sein und Ihnen bestätigen, dass der Arbeitgeber in einem
kleineren Betrieb selbstverständlich sagen kann: Bei mir
wird nicht geraucht. Warum soll das so schwierig sein?

Lassen Sie uns doch bei diesem Thema einmal über den
Großen Teich nach Amerika schauen. Dort ist das Rauchen
zum Beispiel in allen öffentlichen Gebäuden verboten. Die
Raucher sind dort nicht ausgestorben. Aber das Herumge-
eiere nach dem Motto „Vernünftige Menschen werden sich
doch einigen können“ hat dort ein Ende gefunden. Es ist
ganz klar, was und wo erlaubt und verboten ist.

Unser Antrag dient der Rechtssicherheit und dem
Rechtsfrieden und nicht minder auch dem Betriebsfrieden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der PDS)


Durch unsere Formulierung – ich komme noch einmal da-
rauf zurück – wird auch der Vielfalt der betrieblichen In-
teressen Rechnung getragen, weil der Arbeitgeber
tatsächlich etwas regeln kann.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Kreativ regeln kann!)


Auf jeden Fall wollen wir nicht länger hinnehmen, dass
zum Beispiel eine schwangere Frau erst in einem langen
Gerichtsverfahren ihr Recht auf einen rauchfreien Ar-
beitsplatz erstreiten muss.

Noch ein kleiner Schlenker im Hinblick auf unsere
Kommunen: In Singapur ist geregelt, dass das Rauchen so-
gar auf der Straße zu diskriminieren ist. Das Wegwerfen ei-
ner Zigarettenkippe wird mit drakonischen Geldstrafen –
circa 550 DM – bestraft. Dieses Verbot wird auch durchge-
setzt. Wenn es ein solches Verbot in Deutschland geben
würde, dann würden manche Straße und mancher Platz ganz
ordentlich aussehen. Aber so weit gehen wir doch gar nicht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Noch nicht!)

Wir fangen erst einmal ganz klein an. Wir wollen ledig-
lich dafür sorgen, dass nicht rauchende Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz geschützt
werden. Deshalb hoffe ich im Sinne der betroffenen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Ihre Einsicht und
bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.

Frau Dr. Höll, zu dem Antrag Ihrer Fraktion möchte ich
sagen: Punkt a) ist ja erledigt. Über Punkt b) sollten wir
dann reden, wenn die entsprechende EU-Regelung vor-
liegt. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag jetzt ab.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417317500
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Sabine
Bergmann-Pohl von der CDU/CSU-Fraktion.


(Werner Lensing [CDU/CSU]: Jetzt kommt Niveau in die Debatte!)



Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU):
Rede ID: ID1417317600
Herr Prä-
sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
möchte wie Frau Barnett anlässlich des heutigen Welt-
nichtrauchertages einmal kurz über den Großen Teich
schauen. In den USAwird weder in den öffentlichen Ge-
bäuden noch in den Gaststätten geraucht. Auch im
Straßenbild sehen Sie kaum noch Raucher. Wissen Sie,
Herr Kolb, warum das so ist? Das ist so, weil es einen ge-
samtgesellschaftlichen Grundkonsens darüber gibt, dass
man aus Rücksichtnahme gegenüber den Nichtrauchern
in der Öffentlichkeit nicht raucht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Dann lassen Sie uns eine gesamtgesellschaftliche Diskussion führen!)


Unstreitig sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse,
dass das Rauchen gesundheitsschädigend ist. Mindestens
3,5 Millionen Menschen starben 1998 weltweit – davon
etwa 100 000 in Deutschland – an den Folgen des
Tabakkonsums.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Es hat keiner behauptet, dass Rauchen gesund ist!)





Dr. Heinrich L. Kolb

16975


(C)



(D)



(A)



(B)


Hochrechnungen der WHO gehen davon aus, dass im
Jahre 2030, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen wer-
den, weltweit circa 10 Millionen Menschen pro Jahr als
Folge des Tabakkonsums sterben werden. Es besteht in-
nerhalb unserer Gesellschaft eben leider noch immer kein
Konsens darüber, dass Rauchen und Passivrauchen schäd-
lich sind.

Das Bronchialkarzinom ist der häufigste beim Mann
auftretende bösartige Tumor und gehört zu den bei der
Frau am häufigsten vorkommenden Krebserkrankungen.
1997 starben allein in Deutschland 28 464 Männer und
8 784 Frauen an Lungenkrebs. Bei den Frauen ist seit
Jahren ein deutlicher Anstieg der Zahl der Lungen-
krebserkrankungen und der Sterberate sowohl in West-
deutschland als auch in Ostdeutschland zu beobachten,
der sich auf eine erheblichen Anstieg des Tabakkonsums
bei weiblichen Jugendlichen zurückführen lässt. Nicht
ohne Grund steht der heutige Weltnichtrauchertag unter
dem Motto: „Keine dicke Luft am Arbeitsplatz – Auch
Passivrauchen macht krank“.

Leider werden die Folgen des Passivrauchens aus Un-
kenntnis ebenfalls völlig unterschätzt und auch bagatelli-
siert. Im Tabakrauch – das haben wir schon gehört – konn-
ten bisher 40 Kanzerogene nachgewiesen werden, die
damit das Passivrauchen ebenso gefährlich machen wie
das Rauchen. Eine starke Passivrauchbelastung des
Nichtrauchers, Herr Kolb, verdoppelt annähernd sein
Risiko, an einem Bronchialkarzinom zu erkranken.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Ich habe doch nicht behauptet, dass Passivrauchen gesund ist!)


Das ist genauso gefährlich wie eine Explosionsgefähr-
dung am Arbeitsplatz.


(Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])

Die betrieblichen Kosten durch einen erhöhten Kran-

kenstand unter den Rauchern und unfreiwilligen Mitrau-
chern sowie die vorzeitige Frühinvalidität unter Rauchern
summieren sich in Deutschland auf 24 Milliarden DM
jährlich. Weltweit gibt es sogar wirtschaftliche Verluste
– das müsste Sie doch besonders interessieren – in Höhe
von rund 200 Milliarden US-Dollar.

Meine Damen und Herren, mit der Änderung der Ar-
beitsstättenverordnung ist beabsichtigt, Nichtrauche-
rinnen und Nichtraucher wirksam vor dem Passivrauchen
am Arbeitsplatz zu schützen. Immerhin 80 Prozent der
Nichtraucher wünschen sich ein Rauchverbot am Arbeits-
platz und auch 35 Prozent der Raucher könnten sich da-
mit anfreunden. Eine räumliche Trennung hätte sogar
noch eine höhere Akzeptanz. Das geltende Arbeitsschutz-
recht – § 32 der Arbeitsstättenverordnung – gilt nur für
Pausen-, Bereitschafts- und Liegeräume. Eine darüber
hinausgehende öffentlich-rechtliche Verpflichtung des
Arbeitgebers, insgesamt zum Schutz der nicht rauchenden
Beschäftigten bei der Arbeit zu sorgen, wird aus dem Ar-
beitsschutzgesetz und aus § 5 Arbeitsstättenverordnung
abgeleitet.

Diese Rechtsbestimmungen sind allerdings durch Ar-
beits- und Verwaltungsgerichte interpretierungsbedürftig,

sodass häufig langwierige und kostspielige Verfahren zu
Fragen des Nichtraucherschutzes unsere Gerichte belas-
ten. Daher soll die vorliegende Initiative zur Änderung
der Arbeitsstättenverordnung für mehr Rechtsfrieden,
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für Arbeitnehmer
und Arbeitgeber sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht eben nicht um Diskriminierung von Rauchern am
Arbeitsplatz, sondern um ein gesundheitsbewussteres
Verhalten aller Arbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber,
die dafür die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben.

Ergänzend dazu wird die Bundesregierung aufgefor-
dert, Konzepte für innerbetriebliche Maßnahmen der
Prävention und der freiwilligen Raucherentwöhnung aus-
arbeiten zu lassen, die den Betrieben dann als adäquate
Lösungen angeboten werden können.

Übrigens bleibt den Arbeitgebern hinsichtlich der Wahl
konkreter betrieblicher Maßnahmen ein Regelungsspiel-
raum. Sie werden demnach keineswegs zu kostspieligen
und zu unzumutbaren Vorkehrungen gezwungen oder ver-
pflichtet, Herr Kolb.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist allerdings zu bezweifeln, Frau Kollegin! Das kann ich mir schon gut vorstellen, wie das administriert wird!)


– Doch, es ist so. Lesen Sie sich das bitte genau durch!
Als Fachärztin für Lungenkrankheiten habe ich oft das

Leid der krebskranken oder auch der an schwerster Bron-
chitis mit erheblicher Atemnot leidenden Patienten erle-
ben müssen. Ich wünsche mir übrigens, dass wir mit die-
ser Gesetzesvorlage und unserer Debatte auch dazu
beitragen, dass gegenseitige Rücksichtnahme in der Öf-
fentlichkeit und ein wirksamer Nichtraucherschutz in al-
len Betrieben, öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen
zum Selbstverständnis in unserer Gesellschaft wird.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das wäre der Weg gewesen, aber nicht mit dem Verordnungsknüppel!)


– Das wäre der Weg. Doch davon, Herr Kolb, sind wir lei-
der Gottes sehr weit entfernt. Darum ist es ein ganz klei-
ner und erster Schritt, die Nichtraucher am Arbeitsplatz zu
schützen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Punkt!)

Ich glaube, das ist auch die Auffassung der großen Mehr-
heit dieses Hauses.

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.] und der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417317700
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das
Wort der Kollege Hildebrecht Braun.




Dr. Sabine Bergmann-Pohl
16976


(C)



(D)



(A)



(B)



Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1417317800
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute mag
es gar als mutig erscheinen, wenn unser Kollege Heinrich
Kolb in seiner Rede als Einziger deutlich gemacht hat,
dass er die Nichtraucherschutzinitiative des Deutschen
Bundestages ablehnt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Aber für unsere Fraktion, Herr Kollege!)


Aber, meine Damen und Herren, der Kollege Heinrich
Kolb wird nicht gemobbt werden,


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Dafür bedanke ich mich!)


er wird nicht beschimpft, und er muss schon gar nicht auf
eigene Kosten vor den Gerichten sein unbestrittenes
Recht einklagen, seine Meinung zu äußern.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das wäre ja noch schöner!)


Ganz anders die Situation von Tausenden von Azubis
und Hunderttausenden von Arbeitnehmern, die in den Be-
trieben mit großer Mühe und nicht ohne persönliches Ri-
siko erst ein Recht erkämpfen, dass sie längst haben müss-
ten, nämlich das Recht auf einen Arbeitsplatz in guter
Luft.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Millionen Betriebe haben keinen Betriebsrat. Dort
steht der einzelne Arbeitnehmer allein. Ob die Arbeitge-
ber Verständnis für den Wunsch nach nikotinfreier Ar-
beitsluft haben, hängt von deren persönlicher Sensibilität
und Einstellung ab. Aber auch diejenigen Arbeitnehmer
– das sage ich in aller Deutlichkeit –, die sich an einen Be-
triebsrat wenden können, wissen nicht, ob dieser sie wirk-
lich schützen wird.


(Uta Titze-Stecher [SPD]: Genau das!)

Da die Rechtslage bisher unklar ist und auch die Recht-

sprechung des Bundesarbeitsgerichts keine klare Linie er-
kennen lässt, ist politisches Handeln geboten. Wir stellen
heute klar, dass es Teil der Fürsorgepflicht des Arbeit-
gebers ist, dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeiter in guter
und gesunder Luft arbeiten können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Ich will auch deutlich sagen: Es ist kein Ruhmesblatt
für unser Land, dass hier – im Gegensatz zu 90 anderen
Ländern dieser Erde – das selbstverständliche Recht auf
reine Luft am Arbeitsplatz erst vor Gerichten erstritten
werden muss. Wie können es politisch Verantwortliche
nach wie vor hinnehmen, dass Menschen quasi im Ab-
luftkamin von anderen arbeiten müssen?

Gerade als Liberaler will ich zum Thema Freiheit ei-
nige deutliche Worte sagen. Liberale respektieren das
Recht eines jeden Menschen zur Selbstverwirklichung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Liberale setzen aber auf Eigenverantwortung!)


Wir gehen dabei sehr weit. Wenn sich jemand selbst be-
schädigen will, ja wenn er sich selbst umbringen will – sei
es in Raten durch immer wiederkehrendes Rauchen –,
dann respektieren wir das.


(Beifall des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Während die Freiheit, mit der eigenen Gesundheit, ja mit
dem eigenen Leben umzugehen, grenzenlos sein mag, fin-
det die Freiheit, findet die Selbstverwirklichung ihre
natürliche Grenze dort, wo die Rechte des anderen, des
Nachbarn, aber auch der Arbeitskollegin oder des Ar-
beitskollegen beeinträchtigt werden. Leider sehen das
viele rauchende Kollegen anders und sie appellieren statt-
dessen an die Toleranz derer, die den Rauch ertragen sol-
len.

Natürlich gibt es noch immer Menschen, die das Rau-
chen und das Mitrauchen-Müssen für gesundheitlich un-
gefährlich halten. Man kann sich wirklich die Augen ver-
binden, die Ohren verstopfen und sogar das eigene Gehirn
ausschalten. Nur, wenn man das tut, dann kann einem ent-
gehen, dass nicht nur die Deutsche Krebsgesellschaft,
sondern auch alle ernst zu nehmenden Wissenschaftler
das Rauchen und das Mitrauchen-Müssen als extrem ge-
sundheitsgefährdend ansehen. Die Schätzung der Fach-
leute gehen dahin, dass allein in Deutschland zwischen
200 000 und 400 000 Menschen pro Jahr an den Folgen
des Nikotingenusses sterben. Diese Zahl ist – das muss
man sich einmal vor Augen halten – bis zu 30-mal höher
als die der Menschen, die durch einen Verkehrsunfall ums
Leben kommen. Nach Schätzungen müssen pro Jahr
400 Menschen durch Mitrauchen-Müssen sterben. Diese
Zahl ist sehr viel höher als die derjenigen, die durch As-
best, Formaldehyd, Ozon oder andere Umweltgifte in un-
serem Land umkommen. Wir sprechen hier also nicht
über irgendein beliebiges Thema der Spaßgesellschaft,
sondern über ein Gesundheitsproblem höchster Priorität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schutz vor Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz,
aber auch der Schutz vor massiver bis hin zu unerträgli-
cher Belästigung und damit vor Beeinträchtigung der Le-
bensqualität müssen jedem Liberalen ein selbstverständli-
ches Anliegen sein. Deshalb freue ich mich sehr, dass am
heutigen Tag endlich auch im Deutschen Bundestag im
dritten Anlauf ein Schritt zur Verbesserung des Schutzes
derer, die nicht rauchen und auch nicht mitrauchen wol-
len, gelingt. Ich danke meinen Mitstreiterinnen und Mit-
streitern, die den heutigen Erfolg für Millionen diskrimi-
nierter Menschen endlich möglich gemacht haben, sehr
herzlich.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417317900
Ich
schließe die Aussprache.






(C)



(D)



(A)



(B)


Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag von
Abgeordneten der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. „Für einen
verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“, Druck-
sache 14/5325. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/3231 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist damit bei
Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion, aus der F.D.P.-
Fraktion und einer Gegenstimme aus der SPD-Fraktion so-
wie bei einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion mit großer
Mehrheit angenommen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der
PDS zum Verbot der Werbung für den Tabakkonsum,
Drucksache 14/6174. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/3318 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussemp-
fehlung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion und zwei
Enthaltungen aus der SPD-Fraktion angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Erwin Marschewski (Recklinghausen), Meinrad
Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Familienzusammenführung sachgerecht re-
geln – EU-Richtlinienvorschlag ablehnen
– Drucksachen 14/4529, 14/5808 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Erwin Marschewski (Recklinghausen)

Marieluise Beck (Bremen)

Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Sechster Familienbericht; Familien ausländi-
scher Herkunft in Deutschland
Leistungen – Belastungen – Herausforderungen
und Stellungnahme der Bundesregierung
– Drucksache 14/4357 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines
... Gesetzes zur Änderung des Ausländergeset-
zes
– Drucksache 14/5266 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu dem Famili-
enbericht der Bundesregierung vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.

Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten!
Die heutige Debatte zum Sechsten Familienbericht, den
die Bundesregierung im Oktober 2000 vorgelegt hat,
kommt zur rechten Zeit; denn dieser Bericht beschäftigt
sich mit der Situation von Familien ausländischer Her-
kunft in Deutschland. Erstmalig liegt ein solcher Bericht
vor. Er beschreibt die Situation in einer sehr differenzier-
ten Weise, die dazu beiträgt, Vorurteile abzubauen.

Angesichts der aktuellen Diskussion um Integration
und Zuwanderung sind die Ergebnisse des Sechsten Fa-
milienberichts eine wichtige Basis, um einerseits Leistun-
gen von Familien ausländischer Herkunft anzuerkennen,
um Belastungen und Herausforderungen zu benennen und
um andererseits die notwendigen Integrationsmaßnahmen
zu verstärken.

Ich denke, dass wir bereits wichtige Voraussetzungen
für die Integration geschaffen haben. Ich will daran er-
innern, dass mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht,
das wir sehr schnell auf den Weg gebracht haben und das
der Lebenswirklichkeit in Deutschland entspricht, auslän-
dische Familien und ihre Kinder neue Rechtssicherheit
und Möglichkeiten der Partizipation erhalten haben.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Da musste Sie erst die F.D.P. auf den Weg zur Vernunft bringen!)


Auch die rechtliche Situation ausländischer Ehepartner
und damit insbesondere vieler ausländischer Frauen
wurde durch eine Änderung im Ausländergesetz verbes-
sert. Das sind entscheidende Fortschritte zur rechtlichen
Integration von Ausländerinnen und Ausländern in unse-
rer Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will einige Zahlen aus dem Bericht nennen: In
Deutschland leben gegenwärtig etwa 7,35 Millionen
Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Das
entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 9 Pro-




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
16978


(C)



(D)



(A)



(B)


zent. Fast die Hälfte dieser Menschen lebt schon zehn
Jahre oder länger bei uns, rund 30 Prozent länger als
20 Jahre.

Der Sechste Familienbericht konstatiert erhebliche
integrationspolitische Fortschritte und Erfolge. Er weist
darauf hin, dass diese Leistungen sowohl vonseiten der
Migrantinnen und Migranten als auch von der
Aufnahmegesellschaft erbracht wurden.

Entgegen vielfältigen Vorurteilen und Klischees macht
die Expertenkommission, die an der Erarbeitung des
Sechsten Familienberichtes beteiligt war, unmissver-
ständlich klar: Familien ausländischer Herkunft leisten ei-
nen wichtigen Beitrag zum Wohlstand in Deutschland. Sie
sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Familien ausländischer Herkunft bestreiten ihren Lebens-
unterhalt überwiegend aus Erwerbsarbeit. Allerdings
zeigt ein Blick auf die Einkommensstatistik, dass sich das
Einkommen vieler dieser Familien eher am unteren Ende
der Skala bewegt. Die Quote der Selbstständigen ist in-
zwischen unter den Zuwanderern fast genauso hoch wie
im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Haben Sie
das gewusst? – Man erfährt eine ganze Menge neuer
Dinge aus diesem Bericht. Allein die etwa 55 000 türki-
schen Selbstständigen in Deutschland erwirtschafteten
1999 einen Jahresumsatz von rund 50 Milliarden DM und
boten rund 300 000 Personen eine Beschäftigung. Das
sind beachtliche Zahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Sechste Familienbericht weist ausdrücklich auf die
Leistungen hin, die gerade die Familien für eine erfolg-
reiche Integration ihrer Mitglieder in die Gesellschaft er-
bringen. Migration und Integration sind in mehrfacher
Hinsicht ein Familienprojekt: Der verwandtschaftliche
Zusammenhalt in den Familien ausländischer Herkunft
trägt erheblich zu ihrer Integration bei. Sie unterstützen
sich auch über die Generationen hinweg, zum Beispiel bei
der Erziehung und Betreuung der Kinder, bei der Versor-
gung kranker und alter Menschen, und pflegen die Bezie-
hungen der Generationen auch intensiv über die Länder-
grenzen hinweg. Nachbarschaftshilfe und freiwilliges
Engagement sind unter Familien ausländischer Herkunft
stark ausgeprägt. Auch darauf verweist der Sechste Fami-
lienbericht ausdrücklich. Diese Solidarität üben diese Fa-
milien nicht nur für sich, sondern bringen sie auch als
Wert in unsere Gesellschaft ein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein wichtiger Aspekt ist: Familien ausländischer Her-
kunft nehmen das Projekt Migration in die eigene Hand.
Sie sind Akteure, keinesfalls immer nur Opfer ihrer Ver-
hältnisse oder mit Defiziten behaftet, wie ja die landläu-
fige Meinung gelegentlich noch lautet. Interessant ist
auch, dass gerade Frauen diesen Eingliederungsprozess
sehr aktiv mitgestalten. Von den Frauen hängt wie immer

alles ab. Auch in diesem Falle hängt es in entscheidendem
Maße von ihnen ab, wie sich der Eingliederungsprozess
der gesamten Familie entwickelt.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Asamoah hat das Tor geschossen! Das war keine Frau!)


– Haben Sie damit Schwierigkeiten? Gut, das diskutieren
wir dann aber an anderer Stelle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Sechste Familienbericht führt uns unmissver-

ständlich vor Augen, dass die immer noch durch stereo-
type Vorstellungen geprägte Wahrnehmung ausländi-
scher Frauen in Deutschland wenig mit ihrer
tatsächlichen Lebenssituation und ihrem eigenen Rol-
lenverständnis zu tun hat. Diese Frauen sind sehr aktiv.
Viele sind erwerbstätig, auch wenn die Quote unter der
der Deutschen liegt. Das hat auch etwas mit den Bedin-
gungen zu tun, die auf dem Arbeitsmarkt herrschen. Um
darüber noch weitere Erkenntnisse zu erhalten, wurde
von meinem Haus eine Studie zur Situation ausländischer
Frauen und Mädchen sowie der Aussiedlerinnen in Auf-
trag gegeben. Ich denke, wir brauchen hier noch mehr Da-
ten – genauso wie zur Situation älterer ausländischer
Frauen; denn diese Frauen erleben diese Lebensphase in
unserer Gesellschaft in zunehmenden Maße.

Dieser veränderte Blickwinkel auf Familien ausländi-
scher Herkunft, der vor allem den erheblichen Teil an Ei-
geninitiative der Familien aufzeigt, muss ein zentraler
Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur Weiterent-
wicklung von Eigeninitiative fördernden Integrationskon-
zepten sein.

Nicht für alle Migrantinnen und Migranten gestaltet
sich der Integrationsprozess in gleichem Maße erfolg-
reich. Auch darauf weist der Bericht hin. Deshalb ist es
wichtig, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Familien
bei der Integration nachhaltig unterstützen. Das tun wir
vor allen Dingen im Bereich der schulischen und berufli-
chen Bildung, die ja eine Schlüsselvoraussetzung für eine
gleichberechtigte Teilhabe an wirtschaftlichen und sozia-
len Strukturen unserer Gesellschaft ist. Wir konnten in
den letzten Jahren erfreulicherweise einen deutlichen An-
stieg des Bildungsniveaus bei ausländischen Kindern und
Jugendlichen beobachten. Das ist eine wichtige Voraus-
setzung für erfolgreiche Integration. Dennoch sehen wir
hier noch ganz erhebliche Defizite.

Wenn wir uns die Zahlen ansehen, stellen wir fest:
17 Prozent der ausländischen Jugendlichen verlassen die
Hauptschule ohne Abschluss im Vergleich zu 9 Prozent
der deutschen Jugendlichen. Wenn heute zwei Drittel aller
deutschen Jugendlichen eine duale Berufsausbildung
absolvieren, aber der Anteil bei den jungen Ausländern
nur bei rund 39 Prozent, bei den jungen Ausländerinnen
sogar lediglich bei 33 Prozent liegt, ist klar, wo Hand-
lungsbedarf besteht. Wir haben uns auch schon auf den
Weg gemacht. Erinnern möchte ich an das JUMP-Pro-
gramm, das sich sehr nachdrücklich an junge Auslände-
rinnen und Ausländer wendet und hier sozusagen auch
eine Quotierung vorsieht. Ich möchte daran erinnern, dass
auch im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-
werbsfähigkeit die Verbesserung der Ausbildungschancen




Bundesministerin Dr. Christine Bergmann

16979


(C)



(D)



(A)



(B)


von jungen Ausländerinnen und Ausländern eine große
Rolle spielt. Ich möchte auch unser Programm „Entwick-
lung und Chancen von jungen Menschen in sozialen
Brennpunkten“ erwähnen. Darin bildet die Integration
von jungen Ausländerinnen und Ausländern einen
Schwerpunkt. Diese Modelle werden sehr stark in An-
spruch genommen, insbesondere das soziale Trainings-
jahr. Hier können wir gar nicht genug tun. Wir müssen
prüfen, ob wir dieses Programm noch aufstocken können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über Integration reden, sind wir immer auch
beim Thema Sprachkenntnisse. Denn wir wissen, dass das
Erlernen unserer Sprache eine wichtige Voraussetzung für
Integration ist. Mangelnde Sprachkenntnisse werden zu
einer Integrationsbarriere. Deshalb hat sich die Bundesre-
gierung das Ziel gesetzt, die Sprachförderung zu ver-
bessern. Wir haben ein neues Sprachkonzept erarbeitet
– es wird im nächsten Jahr in Kraft treten –, das die bis-
lang nach Rechtsstatus der Teilnehmerinnen und Teilneh-
mer aufgeteilten Kurse und Hilfen zusammenfasst, damit
Synergien nutzt und den Erfordernissen besser als bisher
gerecht wird. Das heißt, dass wir ab 1. Januar 2002 – so
ist es geplant – alle jungen Zuwanderinnen und Zuwan-
derer mit dauerhaftem Bleiberecht unabhängig von ihrem
Rechtsstatus einer bedarfsgerechten Sprachförderung zu-
führen, die an den jeweiligen Notwendigkeiten ausge-
richtet ist, und dass über den bisher geförderten Perso-
nenkreis hinaus auch nachgereiste und erwachsene
Angehörige von Spätaussiedlern sowie Personen mit dem
so genannten kleinen Asyl Sprachförderung erhalten kön-
nen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich denke, dass wir damit die bisherige Sprachförderung
deutlich verbessern und ein echtes Angebot zur Integra-
tion machen.

Ich komme auf den Familienbericht zurück. Der Fami-
lienbericht macht noch einmal ganz deutlich, wie not-
wendig es ist, dass die Integration bereits im Vorschulal-
ter beginnt, dass also Kinder ausländischer Familien
schon sehr früh in die Kitas gebracht werden. Das funk-
tioniert, wie wir wissen, nicht besonders gut. Dafür gibt es
unterschiedliche Ursachen. Zum einen liegt dies an dem
Angebot an Kita-Plätzen, aber es gilt auch kulturelle
Hemmnisse zu überwinden. Es gibt gute Beispiele, wo
wir ansetzen können. Ich möchte eines aus Berlin nennen:
Alle Eltern in Berlin kennen die Elternbriefe, auch in an-
deren Bundesländern werden die Elternbriefe kostenlos
vertrieben. Wir haben den Elternbrief in türkischer Spra-
che gezielt an türkische Eltern gerichtet, um für die Kita
zu werben und ihnen zu vermitteln: Euren Kindern geht
es dort gut. Es ist nicht nur die Großmutter, die das Kind
erziehen kann, wenn die Mutter erwerbstätig ist. Bringt
die Kinder in die Kitas! Das ist ein wichtiger Beitrag zur
Integration.

Ich wünsche mir noch sehr viel mehr solcher Aktivitä-
ten, damit wir sehr früh mit der Integration beginnen kön-
nen und es gar nicht erst zu den Barrieren kommt, die dazu

führen, dass keine vergleichbaren Schulabschlüsse er-
reicht werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, die
Ergebnisse des Sechsten Familienberichts zeigen deut-
lich, dass wir Familien ausländischer Herkunft in ihrer Ei-
geninitiative nachdrücklicher unterstützen und die Rah-
menbedingungen für die Integration weiter entwickeln
müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir derzeit die
Chance zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens ha-
ben, bei dem die positiven Wirkungen der Zuwanderung
und Integration erkannt werden. Meine Bitte ist: Lassen
Sie uns diese Chance nutzen!

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417318000
Als
nächster Redner hat nun das Wort der Kollege Thomas
Dörflinger von der CDU/CSU-Fraktion.


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1417318100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den
Sechsten Familienbericht fällt in eine Zeit der grundle-
genden Auseinandersetzung um Zuwanderung und Zu-
wanderungsbegrenzung vor dem Hintergrund von Migra-
tion und demographischem Wandel, bezüglich derer wir
ein Dauerphänomen zu konstatieren haben, das uns nicht
nur die nächsten Jahre, sondern mit Sicherheit auch die
nächsten Jahrzehnte noch beschäftigen wird.

Der vorgelegte Bericht der Bundesregierung ist auch
Anlass, einige grundlegende Gedanken zu formulieren;
denn der Bericht, der den Zeitraum bis 1999 darstellt, ver-
steht sich ja in erster Linie als eine Bestandsaufnahme und
bleibt in den politischen Konsequenzen respektive den
Handlungsempfehlungen relativ unkonkret. Ich kritisiere
das nicht, sondern nehme das auch als einen Beweis dafür,
dass die notwendigen politischen Weichenstellungen hier
im Parlament, im Deutschen Bundestag gefällt werden
müssen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Deswegen ja der Antrag!)


Der Themenkreis Zuwanderung, Zuwanderungsbe-
grenzung, Migration und Integration ist eben kein Thema
für wie auch immer geartete Konsensrunden, sondern es
ist elementare Aufgabe dieses Deutschen Bundestages
und der Bundesregierung, zu diesem Themenkreis ein
umfassendes Konzept vorzulegen. Ich stelle fest: Bislang
fehlt das noch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon mal was von der Süssmuth-Kommission gehört?)





Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
16980


(C)



(D)



(A)



(B)


Darüber hinaus sind die bislang erfolgten Äußerungen
zu diesem Bereich teilweise widersprüchlich. Da gibt es
die Forderung, wir sollten eher nach dem Motto verfah-
ren: mehr Ausbildung statt Einwanderung, vor wenigen
Tagen vom Generalsekretär der SPD erhoben. Ich erin-
nere daran, dass diese Forderung schon einmal von dieser
Stelle aus erhoben wurde; das war am 13. April 2000 von
meinem früheren Fraktionskollegen Jürgen Rüttgers. Der
seinerzeitige und noch immer im Amt befindliche Bun-
desarbeitsminister hat das mit der Bemerkung quittiert,
das sei „hinterfotzig“.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich! Was sind das für Worte, Herr Präsident?)


Es ist doch interessant, was sich innerhalb eines Jahres
hinsichtlich der Beurteilung dieser Frage getan hat.


(Rüdiger Veit [SPD]: Bei der CDU; das finde ich auch! Sehr bemerkenswert!)


– Wir haben unsere Position in keiner Weise geändert,
Herr Kollege.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das erklären Sie mal Ihrem Parteitag! Viel Vergnügen!)


Wenn Sie das Positionspapier des Kollegen Rüttgers von
damals mit dem Positionspapier der CDU/CSU von vor
wenigen Tagen vergleichen, dann finden Sie nahtlose
Übereinstimmungen in dieser und auch in allen anderen
Fragen. Der Erkenntnisgewinn durch diese Diskussion
liegt bei der Bundesregierung und den sie tragenden Frak-
tionen, dass nämlich die Frage der Zuwanderung allein
– Frau Kollegin Lörcher, wir haben das auch in der En-
quête-Kommission diskutiert – uns nicht die Herausfor-
derungen bewältigen hilft, die durch den Prozess des de-
mographischen Wandels auf uns zukommen, sondern dass
eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig ist, eben ein
Gesamtkonzept.

Allerdings frage ich: Besteht denn tatsächliche Einigkeit
unter den politischen Kräften, auch dieses Hauses, in
dieser Frage? Wie passen die aktuellen Äußerungen seitens
der SPD – auch das, was das Bundesinnenministerium,
namentlich durch Minister Otto Schily, immer wieder
verlautbaren lässt – mit dem zusammen, was wir zum Bei-
spiel an offizieller SPD-Linie in der erwähnten Enquête-
Kommisson „Demographischer Wandel“ zur Kenntnis
nehmen? Es sind zweierlei Paar Stiefel. Wie passen die
Äußerungen des Bundesinnenministers schon aus dem
Jahre 1999 mit dem zusammen, was heute im Ent-
schließungsantrag der Koalitionsfraktionen formuliert
ist? Das passt nicht zusammen.

Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass das erforderli-
che Gesamtkonzept nicht vorliegt. Ich bin, nachdem es
nach wie vor angekündigt ist, gespannt, wann es uns vor-
gelegt werden wird und was schlussendlich darin steht,
welche Linie sich in diesem Konzept bestätigt fühlen wird.


(Rüdiger Veit [SPD]: Behalten Sie diese Spannung doch einfach noch ein paar Tage!)


Die gemeinsame Auffassung, auch in dem Bericht, ist,
dass ein politisches Gesamtkonzept notwendig ist, um die

Situation ausländischer Familien in Deutschland dauer-
haft zu sichern und, wenn möglich, zu verbessern. Dabei
dürfen sowohl im Interesse derer, die zu uns kommen, als
auch im Interesse derer, die schon hier sind, unabhängig
von ihrer Nationalität, Integrationsfähigkeit und Integra-
tionsbereitschaft nicht überfordert werden dürfen.

Wie kann ein solches Konzept aussehen? CDU und
CSU – ihr habt darauf hingewiesen – haben in den letzten
Wochen ein solches Konzept vorgelegt. Es wurde – das
hat uns natürlich gefreut – von allen Seiten sehr gelobt.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das kommt selten vor!)


– Das kommt selten vor, Herr Kollege Hornhues, aber ab
und zu doch. Und es war in diesem Fall auch berech-
tigt. – Ich glaube, dass diese beiden Konzepte – auch das
gemeinsame Positionspapier der Union – eine gute
Grundlage dafür bieten, die Situation ausländischer Fa-
milien in Deutschland zu verbessern.

Diese gehen von dem Grundgedanken aus, dass sich
die Migrationspolitik an drei zentralen Punkten orientie-
ren soll, nämlich erstens daran, die Interessen des Auf-
nahmelandes zu berücksichtigen, zweitens daran, die
Interessen derer im Blick zu haben, die in der Zukunft zu-
wandern werden, und drittens daran, die Voraussetzungen
dergestalt zu schaffen, dass sich aus den Bestimmungen
einer Migrationspolitik eine Basis für eine vernünftige
und tragfähige Integrationspolitik ergibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich einige familienpolitische Aspekte be-

nennen:

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha! Jetzt kommt er zum Thema!)


Oberste Priorität haben Sprachkenntnisse; darauf hat die
Ministerin hingewiesen und da hat sie Recht. Diese die-
nen nicht nur der Verständigung untereinander, sondern
natürlich auch der Vermeidung von Parallelgesellschaf-
ten, der Integration derer, die in ein bestimmtes Gesell-
schaftssystem, nämlich in das der Bundesrepublik
Deutschland, zuwandern. Sie sind ein integraler Bestand-
teil der nach unserer Auffassung verpflichtenden Integra-
tionskurse, die nicht nur Sprachkenntnisse allein, sondern
auch Grundzüge unserer Rechtsordnung und unserer Kul-
tur sowie Hilfen dahin gehend vermitteln sollen, mit der
gesellschaftlichen und beruflichen Orientierung vor Ort
in den Städten und Gemeinden zurechtzukommen. Kurz:
Sie beinhalten all das, was auch wir für sinnvoll erachten,
wenn wir uns im Ausland bewegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Allerdings – darin unterscheide ich mich von dem, was

die Ministerin zum Thema Sprachförderung vorgetragen
hat – ist es schon interessant, was die Bundesregierung
beispielsweise bei der Neustrukturierung der Sprachför-
derung tut. Ursprünglich bin ich davon ausgegangen
– dies war die letzte Wasserstandsmeldung, die bei mir
ankam –, dass die Neuregelung der Sprachförderung zum
1. Januar 2003 in Kraft treten soll. Es war für mich




Thomas Dörflinger

16981


(C)



(D)



(A)



(B)


erstaunlich, zu hören, dass Sie nun vom 1. Januar 2002 ge-
sprochen haben. Ich nehme das so zur Kenntnis.

Wenn Sie allerdings mit denjenigen sprechen, die heute
beispielsweise für Aussiedlerinnen und Aussiedler
Sprachförderung betreiben, dann melden die insbeson-
dere zwei Kritikpunkte an, was die Neuorganisation der
Sprachförderung angeht:

Erster Punkt. Dem Sprachverband in Mainz soll die
komplette Neuorganisation dieser Angelegenheit übertra-
gen werden. Nach eigener Darstellung braucht der
Sprachverband in Mainz etwa ein Jahr, um die notwen-
dige Infrastruktur innerhalb seiner Organisation bereitzu-
stellen, damit er mit dieser Aufgabe organisatorisch über-
haupt fertig wird.

Zweiter Punkt. Bei der Neuorganisation der Sprachför-
derung für Aussiedlerinnen und Aussiedler fällt der sozial-
pädagogische Teil, nämlich die sozialpädagogische Be-
treuung derer, die die deutsche Sprache neu erlernen
sollen, fast komplett weg. Ein Fachverband hat auf Heller
und Pfennig ausgerechnet, was unterm Strich noch übrig
bleibt: neben dem eigentlichen Sprachunterricht eine so-
zialpädagogische Betreuung von neun Minuten pro
Teilnehmer und pro Woche. Wenn wir aber gewährleisten
wollen, dass derjenige oder diejenige, der oder die die
deutsche Sprache erlernen möchte, nicht nur die Sprache
per se beherrscht, sondern sich in diesem Prozess des Er-
lernens einer Sprache auch im gesellschaftlichen Umfeld
zurechtfindet, dann sind neun Minuten pro Woche und pro
Person ein bisschen sehr wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dabei gilt natürlich gene-

rell, dass man desto leichter lernt, je jünger man ist. Das
heißt, es macht sowohl im Interesse von Migrantenkin-
dern als auch im Interesse der Integrationsbereitschaft
und der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft hierzu-
lande Sinn, das Zuzugsalter von derzeit 16 Jahren ent-
weder auf zehn oder auf sechs Jahre zu senken.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Auch noch auf sechs! Die Familie steht unter dem besonderen Schutz des Staates, Herr Dörflinger, nicht nur die Deutschen!)


Auch das ist im Übrigen Bestandteil des Konzepts der
CDU/CSU, das Sie alle sehr gelobt haben. Ich frage mich,
ob bei diesem Lob immer sichergestellt war, dass Sie das
Konzept auch tatsächlich gelesen haben.

Dazu gehört auch, dass wir im Bereich der schulischen
Bildung beispielsweise die Möglichkeit sicherstellen
wollen, an deutschen Schulen islamischen Religions-
unterricht anzubieten, freilich in der Trägerschaft der
jeweiligen Schule und in deutscher Sprache. Dazu gehört
auch, dass wir die unterschiedlichen Statusformen, die
Ausländer in Deutschland haben, und zwar vom Stadium
des Asylbewerbers über das eines Ausländers mit rechts-
kräftiger Aufenthaltsgenehmigung bis hin zu dem eines
deutschen Staatsbürgers, durchlässig gestalten. Auch das
ist eine Veränderung – nach meinem Dafürhalten eine
Verbesserung – der bisherigen Rechtslage.

Ich will an dieser Stelle nichts zum Richtlinienent-
wurf der Europäischen Union sagen; das wird mein
Kollege Thomas Strobl anschließend tun. Aber auch zu
diesem Thema steht etwas im erwähnten Konzept der
Union, in jenem Konzept, das von Ihnen allen gelobt wor-
den ist. Ich gehe davon aus, dass Sie damit auch die ein-
zelnen Vorschläge gelobt haben.

Meine Damen und Herren, natürlich ist es an dieser
Stelle nicht nur recht und billig, sondern auch Pflicht, ein
Wort über Familienpolitik ganz generell zu verlieren;
denn davon ist selbstverständlich auch die Situation aus-
ländischer Familien in Deutschland betroffen. Bevor jetzt
wieder der Einwurf kommt: Ihr habt 16 Jahre nichts ge-
tan!, rufe ich Ihnen im Stile einer Vorbemerkung nur ein-
mal zu, was wir alles „nicht getan“ haben. Als wir zu re-
gieren begannen, lag das Kindergeld bei 50 DM, als wir
aufhörten, bei 220 DM.


(Zuruf von der SPD: Nach Beschluss des Bundesverfassungsgerichts! – Irmingard ScheweGerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie sieht es mit den Freibeträgen aus? Die gab es zusätzlich!)


Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub – diese Dinge,
packen Sie nun anders benannt in Ihre Reformpakete –
haben wir seinerzeit ins Werk gesetzt. Das gilt auch für die
Anrechnung der Kindererziehungszeiten bei der Rente.
Übrigens ist der Bericht, über den wir heute diskutieren
– der Sechste Familienbericht –, von der seinerzeitigen
Bundesministerin Claudia Nolte in Auftrag gegeben wor-
den. Auch das gehört zu der Palette, was die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion an familienpolitischen Dingen „nicht
getan“ hat.


(Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Der Bericht sicher nicht! Dazu ist die Bundesregierung nämlich regelmäßig verpflichtet, Herr Dörflinger!)


Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen:
Natürlich tragen wir die Erhöhung des Kindergeldes mit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber es ist ein bisschen wenig, um dies als Gesamtkonzept
zur Familienförderung in Deutschland verkaufen zu wollen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihre Sünden fallen Ihnen ziemlich spät ein! Sie haben noch nicht gesündigt, aber Ihre Fraktion!)


Ich nenne zwei Beispiele. Das erste Beispiel: Die nach-
gewiesenen Kinderbetreuungskosten sind nur noch
dann abzugsfähig, wenn beide Ehegatten oder der Allein-
erziehende erwerbstätig sind. Wahlfreiheit herrscht nicht.
Wir sind der Meinung, das ist eine Ungleichbehandlung,
die nicht statthaft ist. Entweder kommen alle in den Ge-
nuss dieser Regelung oder niemand.

Das zweite Beispiel ist die Streichung des Freibetrages
für Haushaltshilfen in Höhe von 18 000 DM; dies wurde
bei der seinerzeitigen Einführung von Ihnen als „Dienst-
mädchenprivileg“ abqualifiziert.


(Zuruf von der F.D.P.: Sie werden in die Schwarzarbeit gehen!)





Thomas Dörflinger
16982


(C)



(D)



(A)



(B)


Das Bundesfinanzministerium hat Einsparungen in Höhe
von 95 Millionen DM errechnet. Diese betriebswirt-
schaftliche Rechnung seitens des BMF mag sogar stim-
men. Aber wenn wir berücksichtigen, wie viele Beschäf-
tigungsverhältnisse, die aufgrund dieser Regelung
entstanden wären, nicht entstehen und wie viele Steuern
und Sozialversicherungsbeiträge aufgrund dessen – das
ist die volkswirtschaftliche Sicht – nicht entrichtet wer-
den, dann ist das, was Sie machen, unterm Strich besten-
falls eine Nullnummer, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christa Lörcher [SPD]: Das stimmt nicht!)


Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
zum Familienbericht der Bundesregierung machen. Ich
sagte, dies sei kein Thema für Konsensrunden. Wir sind
keine Räterepublik, wir sind eine parlamentarische De-
mokratie. Der Deutsche Bundestag ist nun gefordert, die
erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen auf den
Weg zu bringen. Das heißt, zunächst einmal sind Sie ge-
fordert, ein Konzept vorzulegen. Sie haben angekündigt,
dass dies noch in der 14. Wahlperiode passieren soll. Ich
bin gespannt, was Sie uns mit auf den Weg geben. Nach-
dem Sie unser Konzept so gelobt haben, gehe ich davon
aus, dass das Ihre Richtschnur für die künftige Politik ist.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417318200
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Irmingard Schewe-
Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Jetzt hören wir höhere Weisheiten!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bevor ich mit den höheren Weisheiten beginne, würde ich
mich gerne mit Herrn Dörflinger auseinander setzen.

Herr Dörflinger, wir beide sind in der Enquête-Kom-
mission „Demographischer Wandel“. Sie waren offen-
sichtlich in letzter Zeit seltener da. Wir haben dort eine
Studie von Professor Oberndörfer behandelt, in der er
sagt: Wir brauchen eine gute Familienpolitik, wir brau-
chen eine gute Ausbildung, wir brauchen eine höhere Er-
werbsbeteiligung der Frauen und wir brauchen Einwan-
derung, weil es ansonsten im Jahre 2050 23 Millionen
Menschen weniger in Deutschland geben wird. – Auch
der SPD-Fraktionsvorsitzende hat das nicht alternativ ge-
stellt, sondern gesagt: Es müssen mehr Frauen erwerbstä-
tig sein und wir brauchen mehr Einwanderung. Sie müs-
sen schon die ganze Wahrheit erzählen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jetzt zum Familienbericht. Zum ersten Mal beschäftigt
sich ein Familienbericht mit der Lage ausländischer Fa-
milien in Deutschland. Damit wurde der Tatsache Rech-
nung getragen, dass Menschen unterschiedlicher Religio-
nen und Kulturen in Deutschland zusammenleben. Diese

Realität wurde von Ihnen über zig Jahre hinweg kon-
sequent ignoriert. Durch diese Tabuisierung wurden
Chancen vertan – es gab keine Integrationsangebote –,
Chancen, die sich für unsere Gesellschaft als eine Zu-
wanderungsgesellschaft geboten hätten. Umso mehr
drängt jetzt die Zeit, eine umfassende Einwanderungs-
und Integrationspolitik zu gestalten.

Der Sechste Familienbericht belegt die tragende Rolle,
die Familien ausländischer Herkunft im Integrationspro-
zess zukommt. Migration ist ein Familienprojekt, das
sich über mehrere Generationen hinweg erstreckt.

Familie ist für eine erfolgreiche Integration aber auch
ein Schlüsselbegriff, denn sie bietet persönlichen Rück-
halt in der neuen Umgebung. Familie kann aber auch In-
tegration behindern, wenn innerhalb der Familien ein
Inseldasein in der neuen Umgebung gelebt wird. In die-
sem Fall ist die Gesellschaft gefragt.

Der Familienbericht zeigt die vielfältigen Unterstüt-
zungsleistungen, die Eltern für ihre Kinder aufbringen.
Wer hierbei unter dem Stichwort „Integration“ eine Leit-
kultur vorgibt, wie es vonseiten der CDU/CSU geschehen
ist, verlangt Assimilation und fordert eine Ablösung von
der Herkunftskultur. Damit wird das Gegenteil erreicht,
nämlich Ausgrenzung. Wer die Bindung von Familien
ausländischer Herkunft nicht akzeptiert, läuft Gefahr, aus-
ländische Kinder und Jugendliche zu entwurzeln. Da-
durch wird das Potenzial ausländischer Familien für das
gesellschaftliche Zusammenleben zerstört.

Wir haben – die Ministerin hat es gerade gesagt – mit
dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen längst über-
fälligen Reformschritt getan. Aber ich gebe zu bedenken
– auch in Richtung F.D.P.; Herr Hirche hatte sich gerade
echauffiert –, für in Deutschland geborene Jugendliche
ausländischer Eltern wird es sicherlich nicht unerhebliche
Probleme geben, wenn sich die jungen Menschen im Al-
ter von 23 Jahren entscheiden müssen, welchen Pass sie
denn abgeben, den deutschen Pass oder den des Her-
kunftslandes ihrer Eltern.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Da haben wir doch mitgestimmt!)


Das wird innerhalb der Familien einen mächtigen Streit
geben. Den haben wir Ihnen zu verdanken!


(Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist eine notwendige Diskussion!)


Integrationspolitik hat die Aufgabe, Teilhabe am ge-
sellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Eine wesentliche
Voraussetzung hierfür sind Bildung und Ausbildung.
Nach wie vor sind Schülerinnen und Schüler ausländi-
scher Herkunft bei höheren Bildungsabschlüssen weit
weniger vertreten. Der Grund dafür liegt häufig in den
mangelnden Sprachkenntnissen. Die Kenntnis der deut-
schen Sprache ist Voraussetzung für einen positiven Bil-
dungsprozess und für das gegenseitige Verstehen. Dass
das im Kindesalter anfängt, ist klar. Wir brauchen länger-
fristig ein ausreichendes Angebot an kostenlosen
Kinderbetreuungseinrichtungen, die die unterschiedli-
chen sprachlichen und kulturellen Kompetenzen der Kin-
der fördern.




Thomas Dörflinger

16983


(C)



(D)



(A)



(B)


Der Bericht zeigt, dass die Armutsquote von Migran-
tinnen und Migranten zwei- bis dreimal höher ist als die
der Gesamtbevölkerung. Hier ist Politik gefragt. Wir ha-
ben bereits damit begonnen: 80 DM Kindergelderhöhung,
steuerliche Entlastung von kleinen und mittleren Einkom-
men, Verbesserungen beim Wohngeld, bei der Ausbil-
dungsförderung und beim Erziehungsgeld. Das sind nur
einige Erfolgsprojekte der zweieinhalbjährigen Regie-
rungszeit, die natürlich auch den Kindern ausländischer
Eltern zugute kommen.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal etwas an die
Adresse von Faruk Sen vom Zentrum für Türkeistudien
sagen. Dieses Kindergeld steht den Kindern zu und ist
nicht etwa für den wirtschaftlichen Ausbau eines Landes,
wie zum Beispiel der Türkei, gedacht.

Familien ausländischer Herkunft zu unterstützen heißt,
Chancen und Rechte von Frauen zu stärken, denn
den Frauen kommt im Migrationsprozess eine Schlüssel-
rolle zu. Sie halten die Familie zusammen, tragen zur
Erwerbstätigkeit, zur finanziellen Absicherung der Fami-
lie bei und wir müssen unsere Aufmerksamkeit besonders
auch auf sie richten.

Schon im letzten Jahr haben wir die Rechte ausländi-
scher Ehefrauen deutlich gestärkt. Sie erhalten jetzt be-
reits nach zwei Jahren ein eigenständiges Aufenthalts-
recht. Misshandelte ausländische Frauen werden nicht
mehr ausgewiesen, sondern dürfen in Deutschland blei-
ben.

Diesen Schutz müssen wir aber auch Müttern ge-
währen, die ihr Heimatland aufgrund von geschlechtsspe-
zifischer Verfolgung verlassen, um zum Beispiel ihre
Töchter vor Genitalverstümmelung zu schützen.

Ich würde gern noch zu einem wichtigen Instrument
der Integration kommen, zur Familienzusammenführung.
In Anbetracht der Zeit bitte ich meine Kollegin Marieluise
Beck, das ausführlicher zu begründen. Aber die Politik
der Nullzuwanderung, die wir bisher innerhalb der EU-
Kommission hatten, passt einfach nicht mehr in den heu-
tigen wirtschaftlichen und demographischen Kontext. Ich
glaube, es gibt eine Menge zu tun, damit wir auf europä-
ischer Ebene auch tatsächlich die Voraussetzungen schaf-
fen, dass Kinder bis zum 18. Lebensjahr zuziehen können.
Das ist für uns eine Notwendigkeit.

Wenn ich sehe, was in dem Antrag der CDU/CSU-
Fraktion steht, nämlich den Familiennachzug einzu-
schränken, die Kinder nur noch bis zum Alter von 10 Jah-
ren nachkommen zu lassen – jetzt höre ich von Herrn
Dörflinger, dass er sogar nur noch von 6 Jahren spricht –,
dann muss ich Ihnen sagen: Damit riskieren Sie die Inte-
grationsfähigkeit der hier lebenden Ausländerinnen und
Ausländer.

Der Familienbericht macht deutlich, dass Familien
ausländischer Herkunft an einem erfolgreichen Einwan-
derungsprozess maßgeblich beteiligt sind. Wir brauchen
also eine Familienpolitik und eine Integrationspolitik, die
hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen bietet,
damit die Chancen und Potenziale weitreichend genutzt
werden können. Hieran werden wir weiter arbeiten und

uns nicht durch falsche Wege, die Sie uns hier vorschla-
gen, beirren lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417318300
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ina Lenke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1417318400
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Endlich führen wir heute die Debatte zum Sechs-
ten Familienbericht, der sich mit der Situation ausländi-
scher Familien in Deutschland befasst. Seit Oktober ver-
gangenen Jahres wurde er von der Bundesregierung unter
Verschluss gehalten.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Frau Lenke und ihr Popanz!)


Ist es vielleicht Ihre politische Absicht, die Verbesserung
für ausländische Familien auf die nächste Legislaturpe-
riode zu verschieben? Wenn ich mir Ihren Antrag ansehe,
erkenne ich darin sehr wenig Substanzielles, Frau
Schewe-Gerigk.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im rot-grünen Antrag finde ich nämlich viele Appelle und
Wünsche, aber kaum Umsetzungen bzw. konkrete Um-
setzungskonzepte.

Als Erstes möchte ich kritisieren, dass bei diesem Ta-
gesordnungspunkt der Bundesratsantrag zur Änderung
des Ausländergesetzes formal mitberaten wird und ad hoc
mit auf die Tagesordnung gesetzt wurde.

Zweitens ist mir die Einbeziehung des Antrags
der CDU/CSU-Fraktion zum EU-Richtlinienvorschlag
zur Familienzusammenführung mit viel konservativem
Sprengstoff unverständlich.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat doch was mit Familie zu tun, oder?)


In dem Antrag der Fraktionen der Grünen und der SPD
zu dem EU-Richtlinienvorschlag findet sich kein Konzept
außer einem dürftigen Satz, der lediglich kommentie-
renden Charakter hat, jedoch keine Ziele formuliert.

Alles in allem ist der gesamte Tagesordnungspunkt ein
Gemischtwarenangebot, das der Problematik und der
Vielschichtigkeit der verschiedenen Themen nicht ge-
recht wird. Deshalb werde ich mich auch nicht zu dem
Bundesratsentwurf zur Änderung des Ausländergesetzes
äußern.

Nun zum Sechsten Familienbericht, der die Lebens-
verhältnisse ausländischer Familien in Deutschland be-
schreibt, und zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
der Grünen dazu. Eines will ich für die F.D.P.-Fraktion
ganz deutlich sagen: Wir wollen eine kontrollierte
Zuwanderung. Die Bevölkerung Deutschlands wird
schrumpfen und überaltern. Schätzungen gehen von ei-
nem Bevölkerungsrückgang von etwa 22 Millionen bis
zum Jahr 2050 aus.




Irmingard Schewe-Gerigk
16984


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir werden in Deutschland auch mit einer gezielten
Zuwanderung demographische Probleme mit lösen
müssen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Denn mit ei-
nem schlüssigen Zuwanderungskonzept, wie es zum Bei-
spiel die F.D.P. 1999 vorgelegt hat, gibt es für unser Land
mehr Chancen als Risiken, die andere in dem Zuwande-
rungsgesetz sehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Deshalb lehnen wir das, was im Antrag der CDU/CSU-

Fraktion zum EU-Richtlinienvorschlag zur Familienzu-
sammenführung steht, vehement ab.

Ich verstehe Ihre Diskussion und Ihren Vorschlag über-
haupt nicht. Sie haben vor zwei Jahren ein Familienkon-
zept verabschiedet. Darin propagieren Sie die Anerken-
nung der Vielfalt von Lebensgemeinschaften. Wenn es
aber um etwas Konkretes geht, nämlich den EU-Richtli-
nienvorschlag, dann verfallen Sie in Ihre konservativen
Überzeugungen zurück.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So ist die CDU!)


Sie sollten das wirklich einmal überprüfen. Mir wäre es
lieber, Sie würden Ihren Antrag zurückziehen und bei
Ihrem Familienkonzept bleiben. Ich glaube, dann würden
wir eher zusammenkommen.

Auch die CDU/CSU hat einen Sprung nach vorne ge-
macht, weil Frau Süssmuth in der Zuwanderungskom-
mission mitarbeitet. Von daher wird es sicherlich am Ende
mehr konkrete Gemeinsamkeiten geben als sonst. Des-
halb ist die Offenlegung durch den Familienbericht – ihm
liegt eine vierjährige Untersuchung zugrunde – sehr wich-
tig, weil er die Diskussion in der Zuwanderungskommis-
sion unterstützt.

Ich betone noch einmal: Das Gesamtkonzept der Zu-
wanderung ist wichtig und sollte in dieser Legislaturperi-
ode verabschiedet werden. Das Zuwanderungsbegren-
zungsgesetz der F.D.P. beinhaltete konkrete Vorschläge
für eine Regulierung der Zuwanderung. Bedauer-
licherweise wurde das von SPD und Grünen im Bundes-
tag abgelehnt. Aber wie das Leben so spielt: Es wird ein
neues Zuwanderungskonzept geben. Herr Dzewas, ich
sage Ihnen eines: Es wird auf unser Konzept zulaufen. Es
wird marginale Änderungen geben. Sie sprechen schon
von Zuwanderungsaufteilung und einer jährlichen Über-
prüfung. All das läuft auf unser Konzept hinaus.


(Walter Hirche [F.D.P.]: So ist es!)

Von daher werden auch wir uns bemühen, dass unser

alter Antrag mit in Ihr Konzept hineinkommt, damit wir
wirklich gemeinsam und fraktionsübergreifend dieses Zu-
wanderungskonzept verabschieden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich würde mich freuen, wenn die CDU die Möglichkeit
sähe, noch vor der Bundestagswahl etwas zu machen.

Ich möchte noch etwas zu Frau Schewe-Gerigk sagen.
Sie hat die Änderung des Ausländergesetzes als Highlight
dargestellt. Ich will dazu nur bemerken, dass wir den So-
zialhilfeanspruch hinzugefügt haben; denn ohne diesen

Sozialhilfeanspruch wäre die Änderung des Ausländerge-
setzes nichts. Ich freue mich, dass wir gemeinsam mit
SPD und Grünen eine Mehrheit geschaffen haben. Von
daher werden nicht nur Sie Ihre positiven Ergebnisse im
Bundestag darstellen können, sondern auch ich werde
dies für meine Fraktion machen. Dies tut weder Ihrem An-
trag noch unserem Vorschlag von damals Abbruch.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wir sind uns sicherlich einig, dass die Situation von

Familien ausländischer Herkunft in Deutschland verbes-
sert werden muss. Ich begrüße es für die F.D.P.-Fraktion,
dass der Familienbericht mit einigen Vorurteilen auf-
räumt. Frau Bergmann hat schon einige Dinge deutlich
gesagt. Ausländische Unternehmer und Unternehmerin-
nen schaffen nicht nur für Ausländer Arbeitsplätze, son-
dern auch für Deutsche. Von daher sollten wir mit diesem
Thema sehr vorsichtig umgehen. Stammtischparolen soll-
ten wir sehr genau überprüfen und uns gegen diese
Stammtischparolen, die es manchmal auch in unserer
Umgebung gibt, verwahren.

Wichtig ist die Bildung. Die F.D.P. fordert von der
Bundesregierung, dass Bildungsangebote besser auf Mi-
grantinnen und Migranten zugeschnitten werden. Dazu
finde ich in Ihrem Antrag sehr wenig. Sie hätten mit dem
Antrag noch ein paar Wochen warten sollen und Substan-
zielles in ihn hineinschreiben sollen.

Ich komme noch auf etwas sehr Merkwürdiges zu spre-
chen. Sie sagen, die Kenntnis der deutschen Sprache sei
für die Integration maßgeblich.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unter anderem!)


Ich entgegne: Nicht nur die Kenntnis, sondern die Be-
herrschung der deutschen Sprache ist wichtig. Das geht,
wie Sie gesagt haben, ein Stück weiter.

Ganz besonders wichtig ist mir als Familienpolitikerin
– auch ich bin langjährige Kommunalpolitikerin –, dass
bereits im Kindergarten die Unterstützung für ausländi-
sche Kinder beginnt, dass sich ausländische Kinder bei
uns zurechtfinden und Freundschaft mit deutschen Kin-
dern schließen können. Diese Notwendigkeit sehen wir
sehr deutlich. Hier muss noch einiges gemacht werden.


(Beifall bei der F.D.P.)

Auch hier ist der rot-grüne Antrag zu diesem Famili-

enbericht in einer belanglosen Aussage stecken geblieben.
Es wird nichts dazu gesagt, wie die Bundesregierung die
Kommunen unterstützen will und ob es mehr Personal
oder auch Schulungen für Personal, das mit Migranten-
kindern arbeitet, geben wird. Wir alle wissen, dass dies
sehr teuer ist. Dafür werden sehr viele Steuergelder aus-
gegeben. Wenn Sie solche Forderungen aufstellen, dann
sollten Sie sie finanziell unterfüttern.

Ich muss leider meine Ausführungen zu diesem Famili-
enbericht kürzen.


(Zurufe von der SPD)

– Was sagten Sie? Bitte wiederholen. Ich würde gerne da-
rauf antworten.




Ina Lenke

16985


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir als F.D.P. sagen: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
Das gilt nicht nur für deutsche, sondern auch für auslän-
dische Kinder. Von daher möchte ich den Blick gerade auf
Kinder und Jugendliche richten, weil Kinder und Jugend-
liche die Zukunft sind. Das betrifft auch ausländische Ju-
gendliche, die schon sehr lange in der Bundesrepublik
Deutschland leben.

Ich wollte auch etwas zu dem Entschließungsantrag zu
der Richtlinie, die auch Sie problematisiert haben, und zur
Green Card sagen: Wenn wir ausländische Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben wol-
len, nutzt uns die Green Card nichts. Wir werden den
Wettbewerb mit den anderen Ländern Europas verlieren,
wenn wir nicht von dem hohen Ross der Green Card he-
runtersteigen und endlich auf der Grundlage eines Zu-
wanderungsgesetzes qualifizierte Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer nach Deutschland holen.

Abschließend will ich sagen: Im Familienbericht ha-
ben Experten Bekanntes, aber auch Neues zusammenge-
tragen. Neu ist für mich die gründliche Bestandsauf-
nahme. Wir Politikerinnen und Politiker im Bundestag
und auf Ebene der Länder und Kommunen werden auf
diesen Bericht antworten müssen. Wir jedenfalls werden
die Bundesregierung in die Pflicht nehmen, Vorschläge zu
machen.

Ich glaube, nicht nur die ausländischen Familien müs-
sen sich bewegen und auf Deutsche zugehen, sondern es
muss auch andersherum gehen: Auch wir müssen uns
Mühe geben, die kulturelle Andersartigkeit von Familien,
die bei uns leben, zu verstehen. Es ist eine ganz interes-
sante Sache. Wer Kontakte zu ausländischen Familien hat,
weiß, wie wichtig das ist und wie sie unser Leben berei-
chern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Von daher denke ich, dass dieser Familienbericht uns
ein Stück weiterhelfen wird, Vorurteile abzubauen. Dazu
will auch die F.D.P. beitragen.


(Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417318500
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Petra Pau von der PDS-
Fraktion das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1417318600
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte wird ja offensichtlich genutzt
– ich finde, das ist gut so –, um auch über grundsätzliche
Positionen zur Einwanderungsdiskussion, die endlich
auch die Gesellschaft erreicht hat, zu sprechen.

Dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist
– faktisch und nicht erst in jüngster Zeit –, hat ja offen-
sichtlich alle Parteien und zunehmend auch deren Mit-
glieder erreicht. Bislang sind aber aus dieser Erkenntnis
keine eindeutigen Konsequenzen gezogen worden. Es
gibt kein individuelles Recht auf Einwanderung, das ir-
gendwo festgeschrieben wäre, sondern es gibt variierende
Sonderregelungen.

Vor diesem Hintergrund sagt die PDS: Einwanderung
muss als Rechtsanspruch formuliert werden und Einwan-
derer müssen Rechte haben; Green oder Blue Cards oder
andere bunte Karten sind dafür kein Ersatz.


(Beifall bei der PDS)

In der allgemeinen Diskussion wird über verschiedene

Quotenregelungen debattiert. Im günstigsten Falle be-
deutet dies, ein wie auch immer legitimiertes Gremium
definiert Einwanderungshöchstzahlen. Wir fordern ein
Einwanderungsrecht ohne Quoten. Der einzelne Mensch
mit einem Anspruch muss im Mittelpunkt stehen, und
zwar nicht nur als numerische Größe. Schnell werden
sonst so genannte uns nützende und so genannte uns we-
niger nützende Einwanderer gegeneinander aufgerechnet.
Das heißt: Wer bestimmte Kriterien erfüllt, zum Beispiel
die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme oder einer Aus-
bildung, soll auch den Anspruch haben, einzuwandern
und sich niederzulassen.

Dies bedeutet nicht: offene Grenzen für alle; um auch
hier mit einer Illusion aufzuräumen.

Völlig außerhalb jeder eingrenzenden Regelung muss
der Schutz für Menschen in Not stehen. Das heißt, wer für
den Fall seiner Rückkehr mit einer Gefahr für Leib, Le-
ben oder Freiheit rechnen muss, hat einen völker-
rechtlichen Anspruch auf Schutz und Aufnahme. Ich
denke, diese völkerrechtlichen Rahmenbedingungen soll-
ten endlich auch vollständig in das deutsche Recht über-
führt werden.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich denke dabei an solche Schutzlücken wie die Verfol-
gung durch nicht staatliche Akteure oder die geschlechts-
spezifische Verfolgung. Auch die Aufnahme von Bürger-
kriegsflüchtlingen außerhalb des Asylrechts darf nicht
gegen sonstige Einwanderung aufgerechnet werden.


(Beifall bei der PDS)

Das sind unterschiedliche Bereiche, die auch unterschied-
lich zu behandeln sind. Im Mittelpunkt muss jeweils der
betroffene Mensch stehen.

Integration kann nur gelingen, wenn die Einwande-
rinnen und Einwanderer auch eindeutige Rechte haben.
Deshalb treten wir für ein effektives und umfassendes
Niederlassungsrecht ein, das den Menschen, die den An-
spruch erwerben, sich hier niederzulassen, die Rechte ein-
räumt, die den übrigen Bürgerinnen und Bürgern des Bun-
desgebietes zustehen.

Lassen Sie mich noch eine zentrale These unterstrei-
chen. Eine Einwanderungspolitik, die dem einzelnen
Menschen eine klare Rechtsposition verschafft, ist auch
ein Baustein gegen den Rechtsextremismus. Wenn Men-
schen unterschiedlicher kultureller und nationaler Her-
kunft gleichberechtigt in Deutschland leben, wird dem
Rechtsextremismus ein großer Teil seines Nährbodens
entzogen.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD)





Ina Lenke
16986


(C)



(D)



(A)



(B)


Es wird eben nicht mehr signalisiert: Dein Nachbar ist we-
niger wert, weil er weniger Rechte hat.

Damit zum Familienbericht. Er ist eine wahre Fund-
grube zu diesem Thema mit vielen hilfreichen Informa-
tionen, die auch in den demnächst hier zu beratenden Re-
gelungen berücksichtigt werden sollten.

Für die Diskussion über Integration ist beispielsweise
die Feststellung relevant, dass ein solcher Prozess keine
Einbahnstraße darstellt, sondern Anstrengungen sowohl
seitens der Einwandernden als auch seitens der Aufnah-
megesellschaft verlangt. Ich finde, die Feststellung im
Bericht ist sehr zu begrüßen, dass das Ergebnis der Inte-
gration nicht nur von der Einstellung der Migrantenfami-
lien selbst abhängt, sondern „auch von ihren
Handlungsmöglichkeiten. Diese werden maßgeblich von
ihrer politischen Gestaltung in der Aufnahmegesellschaft
beeinflusst.“ Es kommt also nicht nur darauf an, dass Mi-
granten Integration wollen. Es kommt auch darauf an, ob
die Gesellschaft es zulässt, dass sie sich integrieren.

Der Bericht sieht Migrantenfamilien nicht nur als Ob-
jekte von staatlichem oder gesellschaftlichem Handeln,
sondern als selbstbestimmt handelnde Subjekte, die wert-
volle, für das Bestehen der Gesellschaft unverzichtbare
Leistungen erbringen. Die Integration eines einzelnen Mi-
granten wäre ohne die Leistungen einer Familie kaum
denkbar:

Die Integrationsleistungen in die Aufnahmegesell-
schaft, die in diesen Verwandtschaftsbeziehungen
von Familien ausländischer Herkunft erbracht wer-
den, wären als institutionalisierte Angebote personell
und finanziell außerordentlich aufwendig und stellen
damit eine wesentliche Entlastung der Aufnahmege-
sellschaft dar.

Dieser hohe Stellenwert der Familie sollte sowohl in der
Familienpolitik selbst als auch in der Ausländerpolitik,
soweit Familienleben betroffen ist, eine angemessene
Würdigung finden.

Hervorheben möchte ich noch die „Konsequenzen und
Empfehlungen für die Politik“, die in Kapitel VIII darge-
stellt werden. Gerade angesichts der Diskussion darüber,
ob Einwanderung an den Interessen der Wirtschaft
ausgerichtet werden sollte, ist die folgende Feststellung
des Berichtes von hoher Bedeutung:

Aus familienpolitischer Sicht ist deshalb eine einsei-
tige Orientierung der Migrationspolitik an den Erfor-
dernissen und Eigengesetzlichkeiten des Arbeits-
marktes kontraproduktiv.

Wir sollten das zum Ausgangspunkt unserer Debatten in
den nächsten Wochen zum Thema Einwanderung ma-
chen.

Zum Entwurf der Richtlinie der EU-Kommission nur
so viel: Natürlich geht er uns – Sie haben gehört, wie ich
von Ansprüchen sprach – nicht weit genug. Aber wir be-
grüßen ihn sehr. Wir finden, dass die Bundesregierung
hier von der Bremse gehen und dafür sorgen sollte, dass
größere Rechtssicherheit und mehr Rechte für die Betrof-
fenen zügig ins nationale Recht überführt werden, sobald
sie von der EU beschlossen worden sind.

Ich kann nicht verstehen, dass die CDU/CSU diese
Richtlinie in Bausch und Bogen ablehnt. Dann müssten
Sie auch alle Ihre familienpolitischen Positionen zur Dis-
position stellen. Denn Sie lehnen Kernbestandteile von
tatsächlicher Familienpolitik ausgerechnet für ausländi-
sche Mitbürgerinnen und Mitbürger ab.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417318700
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel von
der SPD-Fraktion.


Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1417318800
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurzeit führen
wir eine Debatte, die von der Überlegung geprägt ist, wie
viel Zuwanderung für uns, für die Deutschen, optimal ist.
Die andere, genauso wichtige Frage lautet: Was ist opti-
mal für die Migrantinnen und Migranten, die seit Jahren
in unserem Land leben, arbeiten, lernen und hier Familien
haben?

Der Sechste Familienbericht unterstreicht die Notwen-
digkeit familienpolitischer Konsequenzen für die Fami-
lien ausländischer Herkunft. Familien ausländischer Her-
kunft sind und werden auch in Zukunft ein fester
Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Wir erwarten von
ihnen – das sagen viele –, dass sie das Grundgesetz ak-
zeptieren. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass für
diese Familien unser Grundgesetz gilt. Auch für sie hat
Art. 6 unseres Grundgesetzes Gültigkeit, egal, woher sie
kommen, wie lange sie hier sind und ob sie hier bleiben.


(Beifall bei der SPD)

Eine faire Politik für diese Familien muss immer Quer-
schnittspolitik sein, die weit in andere Politikfelder hi-
neingreift.

Der Bericht macht erstmalig deutlich, dass die Ein-
wanderung nach Deutschland fast immer ein Projekt einer
ganzen Familie und selten nur das einer einzelnen Person
ist. Mehrere Generationen sind in unterschiedlicher Weise
betroffen und sie entscheiden sich auch unterschiedlich,
entweder für das Bleiben in Deutschland, für die Weiter-
wanderung, für die Rückkehr in das Heimatland oder für
das Pendeln zwischen zwei Ländern.

Familien ausländischer Herkunft sind vom deutschen
Arbeits- und Dienstleistungsmarkt nicht mehr wegzuden-
ken. Sie leisten einen ganz erheblichen Beitrag zum
Wohlstand in Deutschland.

Jetzt zu den einzelnen Konsequenzen, die sich aus dem
Bericht ergeben: Wir müssen frühzeitig Kinderbetreu-
ung anbieten, um die Kinder von Migrantinnen und Mi-
granten besser zu integrieren. Dies ist vor allen Dingen
eine Aufgabe der und eine Anforderung an die Kommu-
nen. Nur so werden der spätere Schulbesuch und die In-
tegrationsleistung insgesamt erheblich erleichtert, und
zwar die der ausländischen und die der deutschen Kinder.




Petra Pau

16987


(C)



(D)



(A)



(B)


Letztere profitieren von frühen Kontakten zu anderen
Kulturen, erhalten erste Eindrücke einer fremden Sprache
und erweitern ihren Horizont durch andere Möglichkeiten
des Spieles, der Gesten und des Miteinander-Umgehens.
Die Zweisprachigkeit wird für beide Gruppen, für die
deutschen und die ausländischen Kinder, ein ganz wichti-
ger Punkt und eine große Kompetenz für die Zukunft dar-
stellen.

Auf das Thema Schule und Berufsausbildung will ich
nicht weiter eingehen; das wird meine Kollegin Christa
Lörcher machen. Frau Lenke, mit Blick auf das, was Sie
gesagt haben, muss ich feststellen, dass ich etwas Bildung
nachliefern muss. Der Bericht ist von der Bundesregie-
rung nicht geheim gehalten worden. Wenn Sie unsere Vor-
lagenliste lesen, dann wissen Sie, dass dieser Bericht seit
November auf unserer Vorlagenliste steht.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Frau Lenke kann nicht lesen! Erwischt!)


Die F.D.P.-Fraktion hätte schon im Dezember letzten
Jahres mit etwas Mühe zum Beispiel einen Antrag ein-
bringen können; dann wäre dieser Bericht hier vielleicht
schon eher debattiert worden.


(Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Frau Lenke, Eigentor!)


Wenn Sie in unseren Antrag schauen, werden Sie sehen,
dass auf rund eineinhalb Seiten Bildung und Ausbildung
und viele Punkte dazu angesprochen werden. Aber viel-
leicht haben Sie diese Seiten zufällig überblättert.

Mit Blick auf ausländische Firmen und insbesondere
Firmen von Migrantinnen und Migranten hier in
Deutschland muss ich sagen: Wir müssen uns bemühen,
dass sie sich an der dualen Berufsausbildung beteiligen,
und zwar nicht nur mit Ausbildungsplätzen für ausländi-
sche, sondern auch mit Ausbildungsplätzen für deutsche
Jugendliche.

Ähnliches gilt für unsere Hochschulen.Wir brauchen
dort mehr Internationalität, mehr Studiengänge und mehr
interdisziplinäre Forschungsinstitutionen, die interkultu-
relle Bildung, internationale Migration, ethnische Stu-
dien, geschlechtsspezifische Fragestellungen der Migra-
tion und Integration sowie interkulturell vergleichende
Familienwissenschaften zum Gegenstand haben. Daran
fehlt es zurzeit in Deutschland.

Deutschland hat im Vergleich zu den meisten anderen
Staaten ein sehr differenziertes System aufenthaltsrechtli-
cher Regelungen. Jeder Status wirkt sich anders auf die
Möglichkeit aus, zum Beispiel arbeiten zu dürfen oder die
Familie nachziehen zu lassen. Geduldete Familien leben
in Deutschland in einer unendlichen Unsicherheit, da ihr
Aufenthalt alle paar Monate infrage steht und ihre Auf-
enthaltsgenehmigung verlängert werden muss. Aber in
der Praxis leben diese Familien oft jahrelang in Deutsch-
land und wir sind diejenigen, die ihnen keine Lebensper-
spektive geben, weil wir keine Integrationsmöglichkeiten
bieten, weil wir ihnen keine sichere Zukunft bieten.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters)


Vor diesem Hintergrund kann ich die Erklärung des Euro-
päischen Rates von 1999 in Tampere nur begrüßen, in der
gefordert wird, eine gerechte Behandlung von Drittstaats-
angehörigen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten aufhalten, sicherzustellen.

In dem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission an
den Rat wird gefordert, die Familienzusammenführung
in Zukunft zu erleichtern und die diesbezüglichen gesetz-
lichen Regelungen zu vereinfachen. Der Vorschlag der
Kommission beinhaltet nicht, wie es von der CDU/CSU-
Fraktion immer gerne dargestellt wird, die Möglichkeit
eines unkontrollierten Zustroms nach Deutschland. Die
Voraussetzungen für den Nachzug der Familie sind im
Vorschlag der Kommission definiert: eine Aufenthalts-
dauer von einem Jahr, ausreichender Wohnraum für die
Familie, Krankenversicherung auch für die Familienmit-
glieder sowie feste und ausreichende Einkünfte.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Der Vorschlag zielt auf die Zusammenführung der so ge-
nannten Kernfamilie ab.

Nun möchte ich auf die im CDU/CSU-Antrag erho-
bene Forderung nach Erhöhung des Nachzugsalters zu
sprechen kommen, über die heute auch debattiert wird.
Ich habe große Probleme, mir vorzustellen, wie Sie das fa-
milienpolitisch bewerten wollen. Können Sie mir erklä-
ren, wie Kinder, die gerade einmal etwas älter als zehn
Jahre sind – diese müssen nach Ihren Vorstellungen im
Herkunftsland bleiben –, eigentlich ihr Leben gestalten
sollen und wie Sie das mit Art. 6 des Grundgesetzes
vereinbaren wollen? Sind Sie etwa der Meinung, dass die-
ser Grundgesetzartikel nur für so genannte deutsche Fa-
milien gilt?


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auch noch auf die Si-

tuation binationaler Familien lenken. Sie unterscheidet
sich von der deutscher Familien in vielen wichtigen Be-
reichen. Schon allgemein gelten für den ausländischen
Partner bzw. die Partnerin nicht durchgängig die gleichen
Rechte. Aber in Fällen von Trennung und Scheidung ist
die rechtliche Situation besonders prekär, da der nicht
deutsche Elternteil unter Umständen um seine Aufent-
haltserlaubnis fürchten muss. Zwar ist im neuen Kind-
schaftsrecht das Recht des Kindes auf beide Elternteile
besonders hervorgehoben worden. Wenn es aber auch für
ausländische Eltern gelten soll, dann bedarf es der Ände-
rung der Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz.
Der Begriff des Kindeswohls findet sich im Ausländerge-
setz nicht. Ich denke, das müsste eigentlich ein Punkt sein,
der alle Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker,
egal, von welcher Fraktion, zueinander bringt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus werden binationale Familien häufig
mit einem abwehrenden und diskriminierenden Verhalten
der Behörden bei der Beantragung zum Beispiel von Visa
zur Familienzusammenführung oder zum Besuchsauf-
enthalt konfrontiert. Vielleicht ist es bei Ihnen so wie bei




Christel Riemann-Hanewinckel
16988


(C)



(D)



(A)



(B)


mir: Ich erhalte relativ häufig Briefe von Menschen, die
darunter leiden, dass ihnen die Eheschließung wegen des
Verdachts der Scheinehe grundsätzlich verweigert wird,
selbst wenn Kinder da sind, oder von denen die Vorlage
von unzulässigen Erklärungen und Versicherungen ver-
langt wird. Lange Bearbeitungszeiten sind in gewisser
Weise noch ein Glücksfall; denn dann gibt es noch Mög-
lichkeiten, sich einzuschalten. Aber es kann doch nicht
normal sein, dass sich die Betroffenen erst an Bundes-
tagsabgeordnete wenden müssen, um das ihnen zuste-
hende Recht auf faire Behandlung zu bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Ein besonderes Problem sind die sich in Deutschland
illegal aufhaltenden Migrantinnen und Migranten. Illegal
darf nicht gleichbedeutend mit rechtlos sein. Auch für il-
legal Eingereiste gelten Grundrechte. Sie müssen zum
Beispiel Zugang zur gesundheitlichen Versorgung und zur
Bildung haben. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofs-
konferenz, Karl Lehmann, verweist zu Recht auf Art. 2
unseres Grundgesetzes, wonach jeder Mensch das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Ebenso
dürfen wir, wenn wir unser Grundgesetz ernst nehmen,
Kindern von illegalen Flüchtlingen den Schulbesuch
nicht verweigern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, dass wir den mutigen und hilfswilligen Ärzten,
Lehrern, Schuldirektoren und Jugendamtsmitarbeitern
nicht länger das Risiko zumuten werden, sich strafbar zu
machen, wenn sie sich für die Betroffenen einsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. Der Sechste Familienbericht
war mehr als nötig. Der Bericht zeigt, wie komplex das Ge-
biet ist, wie vielfältig die Migrationshintergründe, die Kul-
turen und vor allem die einzelnen Menschen selbst sind.

Bei der Diskussion um Zuwanderung und Integration
werden immer wieder viele Vermutungen geäußert, die
nicht auf Tatsachen, sondern auf Angst, Nichtwissen und
Vorurteilen beruhen. Damit räumt der Familienbericht
grundsätzlich und sehr konstruktiv auf. Dabei konnten die
Mitglieder der Sachverständigenkommission nur auf sehr
wenig vorhandenes Material zurückgreifen. Das zeigt,
dass wir in Deutschland in Zukunft sehr viel genauer ana-
lysieren müssen, um den Menschen, die hierher gekom-
men sind und die hier leben, zu entsprechen. Den Sach-
verständigen kann ich daher nur meine Bewunderung und
auch meinen Dank für diese sehr schwierige und wichtige
Arbeit aussprechen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417318900
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Thomas Strobl für die Fraktion
der CDU/CSU.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1417319000
Herr Präsi-
dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Bundes-
republik Deutschland leben 7,3 Millionen Ausländer. Das
entspricht einem Anteil von 9,3 Prozent an der Wohnbe-
völkerung und ist damit der höchste Ausländeranteil aller
Länder der Europäischen Union, in der der Durchschnitt
bei 4,8 Prozent liegt. Prozentual leben in der Bundesre-
publik Deutschland also doppelt so viele Ausländer wie in
den anderen Ländern der Europäischen Union. Allein
diese Zahl stellt klar: Deutschland ist ein ausländer-
freundliches Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Die Schweiz ist noch viel besser mit ihrem Anteil, viel besser!)


Das ist auch wichtig so, weil die Ausländer auch
Selbstständige sind. Sie schaffen damit Arbeitsplätze und
leisten einen Beitrag zur kulturellen Vielfalt in unserem
Land. Ich weiß aber auch, dass Ausländer zu einem über-
proportionalen Teil an der Arbeitslosigkeit beteiligt sind.
Sie sind überproportional häufig Sozialhilfeempfänger
und ihr Anteil an der Kriminalitätsstatistik beträgt ein
Vielfaches ihres Anteils an der Bevölkerung.

Daraus folgt: Wir alle können von einem gewissen, für
Integration verträglichen Maß an Zuwanderung profitie-
ren. Zuwanderer können die Wirtschaft beleben. Sie ver-
richten oft Tätigkeiten, für die wir deutsche Arbeitnehmer
nicht mehr gewinnen können. Sie sind auch als Fachar-
beiter in vielen Branchen gefragt. Zuwanderer können un-
ser Leben, die kulturelle Vielfalt bereichern. Sie können
auch einen Beitrag dazu leisten, die Sozialsysteme in un-
serem Land zu stabilisieren.

Andererseits müssen wir zur Kenntnis nehmen – die
Zahlen belegen dies eindeutig –, dass wir es in hohem
Maße mit einer Zuwanderung von solchen Ausländern zu
tun haben, die in unser Land kommen, weil ihnen der So-
zialstaat eine Versorgung in einem Maß garantiert, das sie
in ihren Herkunftsländern nicht einmal durch Arbeit er-
reichen können. Dies ist ein Faktum, das wir sehr wohl zur
Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen klar und deutlich
sagen, dass dies eine Zuwanderung darstellt, die wir uns
in diesem Ausmaß in der Zukunft nicht mehr leisten kön-
nen und nicht mehr leisten wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Also die Familien auseinander reißen!)


Wenn dem so ist, dann liegt es in unserem ureigensten
Interesse, mehr als bisher darauf zu achten, wer aus wel-
chen Gründen in unser Land kommt. Dann liegt es doch
auf der Hand, in Zukunft mehr auf fachliche Qualifika-
tion, auf Integrationsbereitschaft von Zuwanderern zu
setzen. Übrigens, Herr Kollege Veit, liegt dies nicht nur
im Interesse der Deutschen. Dies liegt auch im Interesse
der vielen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
in Deutschland, die sich seit Jahren integriert haben.

Die CDU/CSU hat jetzt ein Konzept vorgelegt, wie wir
uns eine geregelte Zuwanderung, eine verbesserte Inte-
gration vorstellen. Wir haben ein geschlossenes, ein
schlüssiges Konzept und es gibt eine große Übereinstim-
mung zwischen CDU und CSU. Wir sagen, es muss ge-
lingen, den steuerbaren Teil der Zuwanderung mehr, als




Christel Riemann-Hanewinckel

16989


(C)



(D)



(A)



(B)


dies bisher der Fall war, nach den Bedürfnissen von Wirt-
schaft und Gesellschaft, aber vor allem auch nach der In-
tegrationsfähigkeit der Gesellschaft und der Integrations-
willigkeit der Zuwanderer, die zu uns kommen wollen, zu
bestimmen.

Wir müssen in Zukunft mehr als in der Vergangenheit
eine nachhaltige Integration der hier berechtigterweise le-
benden Zuwanderer bewerkstelligen. Wir müssen von
denjenigen, die zu uns kommen, in Zukunft mehr die
Bereitschaft abverlangen, sich zu integrieren, unsere
Sprache zu erlernen und sich zu unserer Verfassung zu be-
kennen. Das ist selbstverständlich.

Die Steuerung der Zuwanderung ist auch das entschei-
dende Ziel einer zukünftigen gesetzlichen Regelung in
diesem Bereich. Nur wenn es gelingt, mehr als bisher da-
rauf Einfluss zu nehmen, wer in unser Land kommt und
zu welchem Zweck, können wir auf eine schnellere Inte-
gration der in Deutschland lebenden ausländischen Mit-
bürgerinnen und Mitbürger hoffen.

Dies ist im Übrigen keine ideologische Frage, sondern
eine mit kühlem Kopf pragmatisch zu lösende Frage, die
eine nachhaltige Wirkung auf die deutsche Bevölkerung
hinsichtlich ihrer Akzeptanz der Zuwanderung hat. Wenn
dem so ist, dann ist der Weg, den die vorliegende
EU-Richtlinie zum Familiennachzug gehen möchte,
falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Damit sollen die Voraussetzungen, die den gesetzlichen
Anspruch auf Familiennachzug begründen, durch Rechts-
ansprüche massiv erweitert werden. Das müssen wir aus
nationalem, aus deutschem Interesse ablehnen.

Wir hören in vielen Reden des Bundesinnenministers
sowie des Bundeskanzlers – auch Sie kennen diese Re-
den –, dass wir ein Zuwanderungsgesetz brauchen, das die
Zuwanderung nach Deutschland besser regelt. Das ist
richtig. Aber „regeln“ heißt auch: begrenzen, steuern und
kontrollieren. „Regeln“ heißt nicht, diejenigen Tatbe-
stände, die eine ungeregelte Zuwanderung vorsehen, be-
liebig auszuweiten. Je mehr diese Tatbestände nämlich
ausgeweitet werden – das geschieht durch die EU-Richt-
linie zweifellos –, desto weniger kann Zuwanderung
tatsächlich geregelt werden.

Was bedeutet die EU-Richtlinie konkret, wenn sie um-
gesetzt würde?

Erstens. Künftig sollen auch Personen mit einer nur be-
fristeten Aufenthaltsgenehmigung das Recht zur Famili-
enzusammenführung haben. Das heißt, dass etwa ein Stu-
dent, der eine Aufenthaltsgenehmigung für nur ein Jahr
hat, seine Familie nachreisen lassen kann.

Zweitens. Die Nachzugsberechtigung soll nicht nur für
die so genannte Kernfamilie, also für den Ehepartner und
für die Kinder bis zum 16. Lebensjahr, sondern auch für
Verwandte in aufsteigender Linie, also für Eltern, Großel-
tern und ebenfalls für volljährige Kinder, die für ihren Le-
bensunterhalt nicht selbst aufkommen können, gelten.
Wir wollen – übrigens aus Gründen der Integration – das
Nachzugsalter senken und es nicht anheben.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417319100
Herr Kol-
lege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1417319200
Bitte,
gerne.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1417319300
Herr Kollege Strobl, aufgrund
Ihrer Ausführungen gehe ich davon aus, dass Sie über eine
veraltete Fassung der Richtlinie reden; jedenfalls spre-
chen Sie nicht über die Fassung vom 21. Mai 2001.


(Ursula Lietz [CDU/CSU]: Welche Uhrzeit?)

Vielleicht würden Sie so freundlich sein, dies zur Kennt-
nis zu nehmen und den Inhalt Ihrer Ausführungen danach
auszurichten, was jetzt, also 2001, relevant ist, und nicht,
was 1999 oder 2000 relevant war.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Wo ist denn da die Frage? – Gegenruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]: Die Frage war, ob er bereit ist, das zur Kenntnis zu nehmen!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417319400
Herr Kol-
lege Strobl, Sie haben das Wort.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1417319500
Die Frage
war anders gestellt. – Ich verfüge durchaus über die aktu-
elle Fassung. Herr Kollege Veit, wenn Sie sich noch eine
Minute gedulden, dann werden Sie feststellen, dass ich zu
diesem Punkt etwas sagen werde. Wir erkennen durchaus
an, dass gegenüber dem, was ursprünglich geplant war,
Fortschritte erzielt worden sind.


(Rüdiger Veit [SPD]: Dann gedulde ich mich gern!)


– Bitte sehr.
Drittens. Es würden auch nicht eheliche Lebensge-

meinschaften aller Art eine Nachzugsberechtigung be-
gründen. Das bedeutet nicht nur, dass dem Missbrauch
mehr als bisher Tür und Tor geöffnet wird, sondern auch
eine massive Aushöhlung des Familienbegriffs gemäß
Art. 6 unserer Verfassung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist mit uns, der CDU und der CSU, nicht zu machen.

Eine Familie ist für uns nicht zwingend eine homose-
xuelle Lebensgemeinschaft. Eine Familie ist für uns nicht
zwingend das Zusammenleben von Unverheirateten. Wie
ich jüngsten Zeitungsberichten entnehmen kann – jetzt
komme ich auf das, was der Kollege Veit angesprochen
hat –, hat der Europäische Rat der Innen- und Justizminis-
ter diesen Punkt der Richtlinie konkret behandelt. Es sieht
danach aus, dass man sich in Brüssel in der Frage des Er-
halts der Kernfamilie den deutschen Interessen annähert.
Wir würden eine Einigung in diesem Sinne natürlich aus-
drücklich begrüßen. Sie wissen, dass Sie in den Verhand-
lungen auf europäischer Ebene hier auf die Unterstützung
von CDU und CSU zählen können, hoffentlich auch auf
die in Ihren eigenen Reihen.




Thomas Strobl (Heilbronn)

16990


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Frage muss schon erlaubt sein: Kann es angesichts
der demographischen Entwicklung in Deutschland ei-
gentlich irgendjemanden geben, der ernsthaft befürwor-
tet, dass auch den Eltern und Großeltern von Zuwanderern
im Rahmen des Familiennachzugs ein Rechtsanspruch
auf Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland ge-
währt wird?

Viertens. Die Richtlinie beinhaltet den sofortigen und
freien Zugang aller Nachgezogenen zum Arbeitsmarkt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Auch das ist überholt!)

Das ist angesichts der angespannten Arbeitsmarktlage in
unserem Lande, der flauer werdenden Konjunktur und der
katastrophalen Beschäftigungspolitik dieser Regierung
unverantwortlich.

Fünftens. Zukünftig soll es Ansprüche auf Familienzu-
sammenführung ohne Nachweis ausreichenden Wohn-
raums, eines Krankenversicherungsschutzes und ausrei-
chender Einkünfte geben. Das ist im Hinblick auf unser
angespanntes Sozial- und Rentensystem indiskutabel und
mit CDU und CSU nicht zu machen.

Was wird uns von Rot-Grün geboten? Sie wollen ei-
nen Zuwanderungskonsens, sind aber bis heute nicht in
der Lage, uns zu sagen, was Sie eigentlich wollen. Zur
EU-Familiennachzugsrichtlinie sagt der sozialdemokra-
tische Bundesinnenminister Schily laut „FAZ“ vom
6. Dezember 2000 – ich zitiere –:

Die Realisierung der Familienzusammenführungs-
richtlinie würde dazu führen, dass sich die Zahl der
nach Deutschland ziehenden Familienmitglieder,
derzeit jährlich 70 000 bis 100000 Personen, womög-
lich verdreifacht. Unter sochen Bedingungen bleibt
für Einwanderung aus anderen Gründen kein Raum.

Ich finde: Recht hat er. Deswegen spricht sich der Bun-
desinnenminister für kontrollierte und begrenzte Zuwan-
derung aus. Man hört immer wieder, dass er die Bereiche
der nicht regelbaren Zuwanderung so weit wie möglich
begrenzen möchte. Recht hat er.

Schön wäre allerdings, wenn der Bundesinnenminister
diese Aussagen auch im Parlament zur Diskussion stellen
würde, damit wir im Deutschen Bundestag seine Position
festhalten können.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber selbst wenn Herr Schily dies täte, würde das wenig
nützen; denn er stünde im rot-grünen Regierungslager
recht allein auf weiter Flur.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ja!)

Das ist schade. Machen wir uns doch nichts vor: Der Bun-
desinnenminister hat bei Rot-Grün schon lange keine
Mehrheit mehr.

Die Frage, die sich stellt, ist: Was haben Wählerinnen
und Wähler von Rot-Grün zu erwarten? Schon in der ers-
ten Lesung am 18. Januar hat der SPD-Kollege Veit der
Richtlinie in nahezu allen Punkten zugestimmt. Er sagte
– ich zitiere aus dem Protokoll –:

... Sie sollten sich ... langsam daran gewöhnen, dass

... der Innenminister Otto Schily mit seinen Positio-

nen einigen Länderinnenministern oder auch den
Kollegen hier aus der CDU/CSU-Fraktion größere
Freude als seinen eigenen Parteigenossen ... macht.

Dem ist nichts hinzuzufügen. Damit wird auch klar,
warum sich die SPD so schwer tut, eine Position in die-
ser Frage zu erarbeiten. Man kann sich nämlich nicht ei-
nigen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ein völlig zerstrittener Haufen ist das!)


Was sind die Aufsätze und Worte des Bundesinnenminis-
ters wert angesichts der Tatsache, dass die grüne und die
sozialistische Fraktion im Europäischen Parlament dem
EU-Richtlinienentwurf, den der Bundesinnenminister in
großen Teilen ablehnt, einstimmig, also auch mit den
Stimmen der deutschen Sozialdemokraten im Europä-
ischen Parlament, zugestimmt haben? Wie will der Bun-
desinnenminister eigentlich ohne ein eigenes Konzept der
Regierung und ohne Unterstützung der eigenen Fraktion
auf EU-Ebene wirkungsvoll verhandeln und auf eine
Veränderung des Richtlinienentwurfs hinwirken?


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Vielleicht will er das gar nicht!)


Sie müssen endlich akzeptieren, meine Damen und
Herren von Rot-Grün, dass die Bevölkerung nicht mehr
bereit ist, sich einreden zu lassen, dass Zuwanderung et-
was ist, was ungesteuert und ungebremst hingenommen
werden muss. Wer verantwortungsvoll Zuwanderungspo-
litik machen will, der darf die Rechtsansprüche, die un-
gesteuerte Zuwanderung bedeuten – wie diese EU-Richt-
linie zum Familiennachzug –, nicht weiter ausweiten,
sondern muss sie möglichst begrenzt halten, um mehr Ge-
staltungsfreiheit zu haben.

Gerade wenn wir sagen, wir wollen und brauchen ein
gewisses Maß an Zuwanderung und dass wir in Zukunft
ein höheres Maß an interessengeleiteter Zuwanderung ha-
ben wollen und müssen, dann macht es keinen Sinn, uns
durch eine derartige Ausweitung des Familiennachzuges,
wie hier vorgesehen, die Möglichkeiten einer gestalteten
Zuwanderungspolitik abzuschneiden.

CDU und CSU haben ein ausgewogenes Konzept vor-
gelegt. Sie, meine Damen und Herren von den Regie-
rungsfraktionen, haben kein Konzept. Sie sind sich offen-
sichtlich nicht einig. Sie befinden sich dadurch auf
EU-Ebene in einer schlechten Verhandlungsposition. Es
ist sicher richtig, wie es auch im Amsterdamer Vertrag ge-
fordert wird, ein europäisches Zuwanderungskonzept
zu erarbeiten. Diese isolierte Richtlinie zum Familien-
nachzug soll jedoch nur einen kleinen Teil der Zu-
wanderung regeln. Das ist Stückwerk und widerspricht
dem Bestreben, ein Gesamtkonzept zu erarbeiten, weil
wichtige Entscheidungen vorweggenommen werden.

Wir fordern insbesondere den Herrn Bundesinnenmi-
nister auf, seinen Worten Taten folgen zu lassen und sich
für seine Forderungen auch auf politischer Ebene einzu-
setzen. Wir sind für eine europäische Zuwanderungspoli-
tik, aber nicht um jeden Preis. Wir sind schon gar nicht für
eine Politik, die derart eklatant gegen die eigenen, gegen




Thomas Strobl (Heilbronn)


16991


(C)



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(B)


die deutschen Interessen verstößt. Deshalb lehnen wir die
EU-Richtlinie ab.

Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417319600
Ich erteile
das Wort der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung,
Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregierung
für Ausländerfragen: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Strobl, ich bin doch einiger-
maßen erschrocken, dass Sie, nachdem wir nun eine Vor-
lage haben und uns über die gesellschaftliche Gestaltung
von Migration auseinander setzen könnten, nichts anderes
als parteipolitisches Geplänkel präsentieren.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie schade um die Zeit, die Sie auch für Ihre Fraktion ver-
schenken, statt sie sinnvoll auszufüllen! Sie versuchen ja
seit einiger Zeit, für sich zu reklamieren, dass Sie im Be-
reich Integrationspolitik wirklich etwas machen wollen.
Offensichtlich gibt es in Ihrem Konzept noch viele Leer-
stellen, sonst hätten Sie nicht zu den Hilfsmitteln des Ge-
plänkels und Filibusterns greifen müssen.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das parteipolitische Geplänkel fand zwischen Rot und Grün statt!)


Ich bin sehr froh, dass das Familienministerium mit
diesem Sechsten Familienbericht die Möglichkeit genutzt
hat, etwas genauer in unsere Gesellschaft hineinzu-
schauen.


(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Gnädige Frau, das war wenig hilfreich!)


Es hat in seinem Bereich untersucht, was Einwanderung
– gottlob beginnt sich endlich die Erkenntnis durchzuset-
zen, dass diese bereits seit 40 Jahren eine Realität dar-
stellt – für die Menschen, die hier hergekommen sind, be-
deutet. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass, obwohl die
alte Regierung immer gesagt hat, Deutschland sei kein
Einwanderungsland, und deswegen auch keine systema-
tische Integrationspolitik betrieben hat, trotzdem in ho-
hem Maße Integration stattgefunden hat. Die Menschen
haben nämlich die Sache in die eigenen Hände genom-
men; gerade die Familien, die nach Deutschland einge-
wandert sind, haben große Leistungen vollbracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben die Schwierigkeiten und Verunsicherungen, die
sich durch die Zuwanderung und dadurch, dass man sich
neu orientieren musste, ergaben, gemeistert.

Es besteht immer die Tendenz, bei der Aufnahme von
Ausländern den Blick auf die aufnehmende Gesellschaft
und die sich dort ergebenden Schwierigkeiten und He-
rausforderungen zu richten. Es ist sehr gut, dass die Per-
spektive gewechselt worden ist und wir uns jetzt klarma-

chen, welche großen sozialen Leistungen auf der anderen
Seite vollbracht worden sind – und das, wie gesagt, ob-
wohl es keine systematischen Integrationsangebote gab
und bis zum heutigen Tag nicht gibt. Wir werden lange
brauchen, bis es systematische Integrationsangebote gibt,
weil Gemeinden, Länder und der Bund gefragt sind, wir
sehr viele Defizite haben und auch Gespräche mit den
Finanzministern nötig sind. Dies muss auf allen Ebenen
geschehen. Es darf nicht darum gehen, sich gegenseitig
den schwarzen Peter zuzuschieben, was in der Politik ja
gern gemacht wird.

Ich möchte einen Bereich herausstellen: Wir sind uns
alle einig, dass Sprache ein zentraler Baustein für die
Brücke in die Gesellschaft ist. Nach Beginn der Diskus-
sion über dieses Thema ging es sehr schnell um die Frage:
Zwang oder Freiwilligkeit? Ich möchte Ihnen noch ein-
mal sehr deutlich sagen, dass zurzeit für nur 10 Prozent
der Neuzuwanderer Sprachunterricht angeboten wird.
90 Prozent der Neuzuwanderer verweisen wir auf Warte-
listen. Rechnen wir den Bestand ein, also die Menschen,
die bereits in den vergangenen Jahren zugezogen sind,
dann kommen wir gar zu dem Ergebnis, dass wir für nur
0,3 Prozent der Ausländer Sprachunterricht anbieten. Das
ist ein ganz, ganz großes Defizit, das wir auf der Ange-
botsseite haben. Es ist Nebelwerferei, wenn man so tut, als
ob diese Ausländer nicht bereit gewesen seien, in Kurse
zu gehen und wir sie deswegen jetzt dazu zwingen müss-
ten. Damit vertuschen wir, dass viele Jahre lang auf der
Angebotsseite unglaublich große Defizite bestanden ha-
ben und immer noch bestehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Abgeordneten der SPD)


Über diese Sache müssen wir reden. Wenn es Ihnen wirk-
lich um das Schließen so großer Lücken geht, wenn Sie
eine ernsthafte Opposition sind und nicht so tun, als käme
das Geld aus der Steckdose,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wo soll das herkommen?)


werden Sie mit uns erkennen, dass wir in diesem Bereich
eine große gesellschaftliche Aufgabe vor uns haben, die
alle föderalen Ebenen betrifft. Denn wie gesagt, es kann
nicht um ein Schwarzer-Peter-Spiel gehen.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Fragen Sie doch einmal Herrn Scherf in Bremen!)


Das Zweite, was ich anmerken möchte: Wenn wir über
Integrationspolitik sprechen, müssen wir auch über recht-
liche Bedingungen sprechen. Dass im Bundesrat der Vor-
schlag des Kabinetts, die Kindereinbürgerung nach
§ 40 b des Staatsangehörigkeitsgesetztes noch einmal für
zwei Jahre zu ermöglichen, von den unionsregierten Län-
dern zurückgewiesen worden ist, ist ein Skandal. Denn
das Angebot auf Einbürgerung ist ein Angebot an die jun-
gen Menschen, sich in diese Gesellschaft zu integrieren.
Dass Sie diesem Ziel Knüppel zwischen die Beine werfen,
bedeutet, dass Sie es mit der Integrationspolitik nicht
wirklich ernst meinen.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Thomas Strobl (Heilbronn)

16992


(C)



(D)



(A)



(B)


Ein dritter Bereich, auf den ich unbedingt noch hin-
weisen möchte, betrifft ebenfalls die rechtlichen Bedin-
gungen. Chancengleichheit schaffen heißt auch, Zugang
zu Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Eine große
Zahl von Jugendlichen lebt hier im Status der Duldung,
manchmal schon über zehn oder zwölf Jahre. Ich habe vor
kurzem einen libanesischen Jugendlichen getroffen, der
jetzt den Realschulabschluss macht, danach aber keine
Ausbildung beginnen darf, weil er keinen Arbeitsmarkt-
zugang hat. Wir produzieren auf diese Art und Weise eine
verlorene Generation.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Wir haben den Antrag gestellt, den haben Sie abgelehnt!)


Wir diskutieren über die Notwendigkeit der Zuwanderung
von außen, weil wir qualifizierte Kräfte brauchen, aber
verstellen die Möglichkeit, dass sich junge Menschen, die
hier sind, qualifizieren.


(Ina Lenke [F.D.P.]: Sie beklagen das, was Sie selber im Bundestag abgelehnt haben!)


Bitte helfen Sie mit, dass wir in diesem Haus möglichst
schnell gemeinsam diesem Missstand entgegentreten, da-
mit wir jungen Menschen, die in Deutschland bleiben
werden, eine Zukunft geben können, statt sie ganz be-
wusst außerhalb der Gesellschaft zu stellen.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417319700
Nun spricht
für die SPD-Fraktion die Kollegin Christa Lörcher.


Christa Lörcher (SPD):
Rede ID: ID1417319800
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Meine Redezeit möchte ich nutzen,
um einige Gedanken zum Familienbericht zu äußern. Er
dokumentiert die Situation von Menschen, die zu uns
gekommen sind: Männer, Frauen, Kinder, ältere Men-
schen – aus verschiedenen Ländern, mit sehr unterschied-
lichen Erfahrungen, unterschiedlichen Motiven, mit
verschiedener Nationalität, Religion und Kultur. Sie leben
bei uns mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, unter-
schiedlichen Kenntnissen der deutschen Sprache und mit
sehr unterschiedlichen Perspektiven.

Vielfalt – das ist eine der Botschaften dieses Familien-
berichts – ist eine Bereicherung unserer Gesellschaft,
Vielfalt stärkt die Fähigkeit zu Innovation in Kultur und
Gesellschaft, Vielfalt eröffnet die Möglichkeit, voneinan-
der zu lernen und gesellschaftliche Gegebenheiten ge-
meinsam weiterzuentwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielfalt ist längst Realität in Deutschland und in ande-
ren Ländern Europas: Zwischen 1950 und 2000 kamen
rund 31 Millionen Menschen zu uns, etwa 22 Millionen
verließen das Land. Die Nettozuwanderung betrug rund
9 Millionen, also im Durchschnitt dieser 50 Jahre etwa
180 000 Menschen pro Jahr.

Wie gehen wir damit um? Welche Chancen haben Kin-
der und ihre Familien bei uns, wenn sie als Spätaussiedler

aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kommen, als
Flüchtlinge oder Asylsuchende aus den Krisenregionen
der Welt? Welche Chancen haben Migranten und Migran-
tinnen auf unserem Arbeitsmarkt? Welche Möglichkeiten
haben sie, ihre Familien nachziehen zu lassen? Der Fami-
lienbericht hat diese und andere Fragen untersucht. Er be-
tont: Familien brauchen Perspektiven.

Gerade Perspektiven sind für Familien ausländischer
Herkunft oft nicht oder nur ungenügend gegeben. Es feh-
len sichere rechtliche Rahmenbedingungen für das Leben
in diesem Land, es fehlen Kenntnisse der deutschen Spra-
che und im Umgang mit den Behörden, es fehlt die Mög-
lichkeit des Zugangs zu Bildungsgängen oder sozialen
Diensten, es fehlt die Chance zu gleichberechtigtem Zu-
sammenleben.

Der Bericht gibt aber auch Auskunft über die großen
Potenziale, die mit Migration und Migrationserfahrungen
verbunden sind. Ein Zuwachs an innerfamiliären Aufga-
ben bringt mehr an Entscheidungskompetenzen und Au-
tonomie, was gerade die Rolle von Frauen – darauf ist
mehrfach hingewiesen worden – entscheidend verändern
kann. Diese Ressourcen zu stärken ist nötig und sinnvoll,
sowohl für die Lebenssituation der eigenen Familie und
sozialen Umgebung wie auch für die aufnehmende Kultur
und Gesellschaft.

Wie lebt die Bevölkerung bei uns in einer sich so ver-
ändernden Gesellschaft? Ein Kindergarten oder eine
Schule mit 90 Prozent ausländischen Kindern – geht das?
Lernen die Kinder überhaupt noch etwas? Ist das unsere
Zukunft?

Es ist in manchen Gemeinden unseres Landes Gegen-
wart. Vor Jahren besuchten Mitglieder der Enquête-Kom-
mission „Demographischer Wandel“ einen Kindergarten
und eine Schule mit solch einem hohen Ausländeranteil in
Kelsterbach bei Frankfurt am Main. Welche Probleme es
gebe, wollten einige wissen. Probleme gibt es dort, wo die
Familie von Armut oder Arbeitslosigkeit betroffen ist,
wenn Alkohol oder andere Drogen die Situation beein-
trächtigen, war die Antwort. Soziale Notlagen, Armut und
Arbeitslosigkeit sind das, was Probleme macht und Ängs-
te vergrößert. Deshalb muss ein Schwerpunkt unserer Po-
litik darin liegen, soziale Gerechtigkeit zu fördern.

Kinder lernen miteinander und voneinander. Sie soll-
ten – auch das ist mehrfach gesagt worden – so früh wie
möglich die Chance dazu haben. Das ist eine der Bot-
schaften des Familienberichts. Noch immer – das wissen
wir – liegt die Quote der Bildungsabschlüsse bei Kindern
und Jugendlichen ausländischer Herkunft hinter der eines
Altersjahrgangs insgesamt. Noch immer liegt der Anteil
ausländischer Jugendlicher, die sich an einer dualen Aus-
bildung beteiligen, bei weit weniger als der Hälfte,
während von den deutschen Jugendlichen – unsere Mi-
nisterin hat es gesagt – immerhin zwei Drittel eines Jahr-
gangs eine Ausbildung aufnehmen.

Deshalb ist Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit
eine der zentralen Forderungen, nicht nur in diesem Be-
richt. Dafür brauchen wir interkulturelle Kompetenz bei
pädagogischen und sozialen Berufen, bei Polizei, öffent-
lichem Dienst oder den Berufen im Gesundheitswesen.




Beauftragte der Bundesregierung Marieluise Beck

16993


(C)



(D)



(A)



(B)


Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen und wir
werden das weiter verfolgen.

Die Demographen sagen uns, dass beides unbedingt
nötig ist: Wir brauchen Migration, Menschen, die gern zu
uns kommen und bei uns bleiben wollen, weil sie eine
Perspektive für sich und für ihre Familie sehen, und wir
brauchen eine so gute Familienpolitik, dass Frauen und
Männer Familie und Beruf besser miteinander vereinba-
ren können und gern mit Kindern leben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Schritte dazu haben wir in den letzten zwei Jahren ge-
macht, weitere folgen.

Integration wird in allen Migrationskonzepten als
Schlüsselbegriff genannt und gefordert. Ziel ist es, dass
sowohl die zuwandernden wie auch die ansässigen Men-
schen offen füreinander sind und dass sie gemeinsam und
gleichberechtigt für die kommenden Generationen an ei-
ner Zukunft arbeiten.

Es ist eine große Aufgabe, die uns der Familienbericht
stellt. Den Autoren sage ich herzlichen Dank; uns allen
wünsche ich Glück und Erfolg bei der Arbeit an den Kon-
zepten und bei der Vermittlung.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417319900
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht nun der Kollege Rüdiger
Veit für die SPD.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1417320000
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Es entbehrt nicht einer gewis-
sen Ironie, dass die CDU-Kollegen hier einerseits gewisse
Gegensätzlichkeiten innerhalb einer anderen großen
Volkspartei meinen geißeln zu müssen, sich dann aber an-
dererseits der eine hier hinstellt, von der Fortschrittlich-
keit des CDU-Zuwanderungskonzeptes spricht und uns
gleichzeitig auch noch klarmacht, das sei schon immer die
alte Denke gewesen – ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf
Ihrem Parteitag; ob das dort genauso gesehen wird, weiß
ich nicht –, und anschließend der andere, Herr Strobl,
kommt und uns mit ganz alten Schemata das alte Lied er-
zählt: „Die Mauern müssen hochgezogen werden; wir lei-
den an Überfremdung“. Und dies alles geschieht ausge-
rechnet beim Thema Familie, das Sie gerade in dieser
Woche zu einem der drei wichtigen Schwerpunktthemen
Ihrer Politik in der nächsten Zeit erklärt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn die CDU/CSU sorgfältig gearbeitet hätte – da-
rauf bezog sich der Gegenstand meiner Nachfrage, Herr
Kollege Strobl –, dann hätten Sie festgestellt, dass die
Richtlinie, über die Sie sprechen, gar nicht mehr existiert.
Die zweite und korrigierte Fassung vom Oktober 2000 ist
durch die von mir erwähnte Fassung vom 21. Mai 2001
ersetzt worden. Das ist nicht nur in der Zeitung nach-

zulesen gewesen. Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte
ich Ihnen empfohlen, diese Richtlinie noch einmal selber
nachzulesen. Sie hätten festgestellt, dass große Teile Ihrer
Angriffe völlig fehlgehen, ja zum Teil Inhalte – leider, wie
ich sagen muss – so verändert worden sind, dass sie nicht
mehr im Sinne einer sozialdemokratischen Partei sind.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Und der Bundesinnenminister?)


– Der Bundesinnenminister hat an den entsprechenden
Beratungen vom 28./29. Mai dieses Jahres mitgewirkt.
Ich bin jetzt nicht in der Lage, Ihnen genau zu sagen, was
dort im Einzelnen beraten worden ist. Aber ich empfehle
Ihnen die entsprechende Drucksache ganz besonders des-
wegen zum Studium, weil darin dokumentiert ist, welche
europäischen Staaten zu welchen Dingen noch Nein sa-
gen, zu welchen sie Ja gesagt haben und bei welchen sie
noch Vorbehalte haben.

Ich will Ihnen sagen, warum ich es sehr bedauere, dass
Sie keine Veranlassung gesehen haben, Ihren Antrag ein-
fach zurückzuziehen: Selbst die Kommission, die Herr
Schily ins Leben gerufen hat und die von Frau Süßmuth
geleitet wird, sagt in ihrem Bericht ausdrücklich – auch
wenn er noch vorläufig und nur im Internet nachzulesen
ist –, sie begrüße grundsätzlich diese Richtlinie zur Fami-
lienzusammenführung. Dann werden einige differenzie-
rende Bemerkungen gemacht, die wiederum schon in der
Neufassung berücksichtigt sind.

Ich will Ihnen sagen, warum ich es sehr bedauere, dass
in dieser Richtlinie verschiedene Änderungen vorge-
nommen worden sind: Es gab in der alten Fassung den
Rechtsanspruch der wenigen in Deutschland anerkann-
ten minderjährigen Flüchtlinge, unter Umständen auch
Geschwister und Eltern aus ihrem Heimatland hierher
kommen zu lassen. Dies bedeute also eine Familienzu-
sammenführung hier bei uns in Deutschland für ganz we-
nige anerkannte minderjährige Flüchtlinge – und dies mit
gutem Recht, wie ich finde. Diesen Rechtsanspruch für die
Fälle, in denen die familiäre Gemeinschaft für solche Kin-
der und Jugendliche nicht im Herkunftsland bzw. in ihrer
Heimat hergestellt werden kann, sondern nur in dem Land,
in dem sie Schutz und Aufnahme gefunden haben, hätte
man auch weiter ausgestalten können. Ich nenne Ihnen ein-
mal eine Größenordnung – obwohl die Zahl dabei nicht
das Entscheidende ist –: Es wäre dabei vielleicht um
200 junge Leute gegangen.

Als früherer Kommunalpolitiker sage ich noch ein Wei-
teres: Welches ist denn die Alternative? Anerkannte min-
derjährige Flüchtlinge, die keine Angehörigen haben, wer-
den hier in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht.
Das kostet die Kommunen im Monat bis zu 8 000 DM. Da
finde ich es in jeder Hinsicht, und zwar humanitär, wirt-
schaftlich und bevölkerungspolitisch, wesentlich besser,
wenn diese jungen Leute dann hier mit ihren Familien le-
ben können – und das auf Dauer. Das hätte jedenfalls ich
mir gewünscht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist eine Ermessensentscheidung!)





Christa Lörcher
16994


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich will mich einmal mit der Frage des Nachzugsalters
auseinander setzen. Es ist eigentlich schon sehr bemer-
kenswert – Sie haben das unerwähnt gelassen; Sie wissen
es vielleicht auch nicht und deshalb sage ich es hier –,
welche verschiedenen Variationen wir bereits heute in un-
serem Rechtssystem haben: Bei Ausländern im Allgemei-
nen gilt das maximale Nachzugsalter von 16 Jahren, bei
anerkannten Asylbewerbern und Flüchtlingen von 18 Jah-
ren und bei im Ausland lebenden Kindern von Deutschen
von ebenfalls 18 Jahren. Wenn aber ein EU-Staatsbürger
seine Kinder nachholen will, dann gilt nach dem Recht
seines Heimatstaates ein maximales Nachzugsalter von
21 Jahren.

Jetzt kommen Sie her und sagen: Wir wollen, dass das
Nachzugsalter auf zehn Jahre abgesenkt wird; denn das hat
ja mit Integration zu tun. – Auch diese Argumentation
übersieht völlig, dass nach dem neuen Staatsbürger-
schaftsrecht die ganze Thematik, die Ihnen da vorschwebt,
längst vom Tisch ist. Sie denken an die Jugendlichen
– vielleicht vorzugsweise türkische –, die in Deutschland
geboren wurden, von ihren Eltern dann in die angestammte
Heimat geschickt werden und erst spät zurückkommen.

Aber ich darf Ihre geschätzte Aufmerksamkeit einmal
darauf lenken, dass alle nach dem 1. Januar 2000 in
Deutschland geborenen Kinder ausländischer, sich hier
seit zehn Jahren rechtmäßig aufhaltender Eltern als Inlän-
der bzw. als Deutsche ohne Anwendung des Ausländerge-
setzes mit der größten Selbstverständlichkeit und Berech-
tigung von ihren Eltern in welches Ausland auch immer
geschickt und zu dem Zeitpunkt zurückgeholt werden
können, zu dem sie das für richtig halten.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist ja gerade der Fehler!)


– Das ist kein Fehler. Diese Selbstbestimmung müssen Sie
schon denjenigen überlassen, die als ausländische Kinder
hier geboren werden und damit die deutsche Staatsbür-
gerschaft erworben haben. Im Übrigen ist auch das ein
Gesichtspunkt, den Sie gern in dem alsbald veröffentlich-
ten Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung
nachlesen können.

Lassen Sie mich noch Folgendes sagen: Bestandteil
des Antrages von Sozialdemokraten und Grünen zum Fa-
milienbericht sind eben auch Hinweise darauf, dass wir
die Richtlinie zur Familienzusammenführung – ich sage
einmal: in ihrer Ursprungsform vom Oktober 2000 –
begrüßen. Wir sagen aber auch, dass die so genannten
Kettenduldungen, die den Menschen hier keine Per-
spektiven geben, die verhindern, dass sie Arbeit aufneh-
men können, die bewirken, dass sie weiter von Sozial-
staatsleistungen abhängig sind, ein für alle Mal
abgeschafft und durch einen vernünftigen Aufenthaltssta-
tus ersetzt werden müssen, der ihnen auch die Aufnahme
von Arbeit ermöglicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will am Schluss sagen: Am 30. September 1999 hat
der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit den Be-
schluss gefasst, die Bundesregierung möge die Vorbehalte
gegen die Kinderrechtskonvention zurücknehmen. Ich

würde mir – ich werde nicht müde zu glauben, zu hoffen
und zu wünschen – wünschen, dass die Beauftragte der
Bundesregierung für den Weltkindergipfel, Anke Fuchs,
auf diesem sagen kann: Dieser Wunsch auch von Sozial-
demokraten ist in Erfüllung gegangen. Der Vorbehalt ist
zurückgenommen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ina Lenke [F.D.P.]: Dann wird es auch Zeit!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417320100
Ich schließe
die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung
des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Familienzusammenführung
sachgerecht regeln – EU-Richtlinienvorschlag ablehnen“,
Drucksache 14/5808, Tagesordnungspunkt 7 a. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4529 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen von CDU/CSU angenommen.

Bei Tagesordnungspunkt 7 b und Zusatzpunkt 7 wird
interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/4357 und 14/5266 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das
Haus ist damit einverstanden. Die Überweisungen sind so
beschlossen.

Der Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6169 soll zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend sowie zur Mitberatung an
den Innenausschuss, an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung, an den Ausschuss
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, an den Rechts-
ausschuss und an den Haushaltsausschuss überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauf-
tragten
Jahresbericht 2000 (42. Bericht)

– Drucksache 14/5400 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss

Interfraktionell ist für die Aussprache eine Dreiviertel-
stunde vereinbart worden. – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Wehrbeauf-
tragten des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried Penner,
das Wort.

Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Auch dieser Bericht des Wehrbeauftragten ist in-
haltlich keine Zustandsbeschreibung der Bundeswehr. Er




Rüdiger Veit

16995


(C)



(D)



(A)



(B)


ist der Sache nach ein Mängelbericht, ohne dass er auf po-
sitive Akzente verzichtet.

Zu vielen Einzelheiten muss ich auf meinen schriftli-
chen Bericht verweisen, namentlich auf meine Bemer-
kungen zur Ost-West-Besoldung, aber auch zum Sa-
nitätswesens. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte
ich das Parlament insgesamt bitten, sich der folgenden
Probleme mit dem Ziel der Lösung besonders anzuneh-
men: Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf dem
Balkan steht auch die dafür gebotene Motivation der Sol-
daten in Rede. Diese kann nach meiner Überzeugung nur
gehalten werden, wenn Parlament und Regierung darauf
verweisen können, dass sich der Sinn des Einsatzes nicht
darauf beschränkt, durch militärische Präsenz Unruhen zu
unterbinden und damit eine erneute Massenflucht zu ver-
hindern.
Es geht also auch um politische Perspektiven, und die
kann das Militär nicht schaffen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Für die Soldaten sind diese nicht erkennbar, wenn Pioniere
dort den Müll der Bevölkerung beseitigen, sie deshalb von
der Bevölkerung mehr und mehr als Müllkutscher wahr-
genommen werden und überdies auf ausreichende Hygie-
nevorkehrungen bei der Verrichtung ihrer Tätigkeit ver-
zichten müssen, wie mir das ein deutscher Soldat vor
kurzem an Ort und Stelle geschildert hat.

Im Einsatz sind die großen und die kleinen Sorgen
nicht zu unterschätzen. Dafür nur einige Beispiele:

Erstens. Inakzeptabel ist die Unterbringung von
mehr als zwei Soldaten in einem Container mit einer
Wohnfläche von circa 12,7 Quadratmetern für sechs Mo-
nate.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Solche Bedingungen wären schon nach den Regeln des
Vollzugsrechtes für Strafgefangene in grauer Vorzeit un-
zulässig gewesen, umso weniger können sie für Soldaten
unter den besonderen Bedingungen eines schwierigen
und belastenden Einsatzes hingenommen werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Zweitens. Die rechtlich nicht zu tadelnde Überprüfung

des Auslandsverwendungszuschlages durch dafür zu-
ständige Beamte der Ministerialbürokratie hat insbeson-
dere auch deswegen bei Soldaten Verständnislosigkeit, ja
Fassungslosigkeit ausgelöst, weil zur gleichen Zeit hef-
tige Unruhen in Mazedonien ausbrachen. Das muss künf-
tig vermieden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. – Paul Breuer [CDU/CSU]: Sehr richtig! Genauso war es!)


Drittens. Die militärisch wohl begründete Dauer der
Einsatzkontingente von sechs Monaten wird insbeson-

dere für junge Familienväter in der letzten Phase der Ver-
wendung zu einem herben Thema.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es betrifft ja nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Fami-
lien und wirkt sich daher doppelt belastend gegen Solda-
ten aus.

Insgesamt gesehen sollte das gesamte Parlament und
nicht der Verteidigungsausschuss allein vielleicht noch
deutlicher und häufiger als bisher zu erkennen geben, dass
es den Dienst der Soldaten gerade im Einsatz schätzt. Die
Soldaten haben sich diese Anerkennung durch vorzügli-
che Leistungen und durchweg tadelsfreies Auftreten auch
verdient.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Stichwort Bundeswehrreform: Sie hat gewiss viele
Aspekte. Die Soldaten wissen, dass es dabei auch um
Geld, um viel Geld geht. Sie wissen: Ohne Geld gibt es
kein Material, gibt es keine ordentliche Instandsetzung,
gibt es auch kein Attraktivitätsprogramm. Ohne Geld, das
wissen sie, gibt es keinen Abbau des Beförderungs- und
Verwendungsstaus. Aber die Soldaten wissen auch, dass
über eine zureichende Finanzausstattung der Bundeswehr
politisch zu entscheiden ist, weil dies mit dem politischen
Auftrag verzahnt ist. Darauf müssen sie auch vertrauen
können.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Viertens. Im Übrigen wird die beste Veränderung, die
bestgemeinte Strukturreform der Bundeswehr kaum nut-
zen, wenn die davon betroffenen Menschen nicht beteiligt
werden, sondern sie diese nur über sich ergehen lassen.
Gerade im Hinblick auf die persönlichen Konsequenzen
für die Soldaten und ihre Familien ist Planungssicherheit
geboten. Sie müssen sich alsbald auf mögliche Verände-
rungen einrichten können.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das zu gewährleisten gehört auch zur fürsorgerischen
Pflicht der militärischen und politischen Führung gegen-
über Soldaten und deren Familien.


(Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Wo ist denn eigentlich der Minister?)


Die seit Jahresbeginn mögliche uneingeschränkte Ver-
wendung von Frauen in der Bundeswehr ist eine his-
torische Zäsur, übrigens nicht nur für die Bundeswehr
allein, sondern wahrscheinlich auch für die Gesamtge-
sellschaft, nachdem bisher Frauen nur im Sanitäts- und
Musikdienst Dienst leisten konnten. Ersten Eindrücken
zufolge scheint die zweimonatige Grundausbildung keine
besonderen Schwierigkeiten zu bereiten. Bei Truppen-
besuchen in Einheiten, in denen Frauen ihre Grund-
ausbildung absolvieren, wurde berichtet, dass diese in
ihren Leistungen mit denen der männlichen Kameraden
mithalten. Bei Ausbildungsabschnitten wie zum Beispiel




Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner
16996


(C)



(D)



(A)



(B)


dem Marsch mit Gepäck sind Frauen teilweise im vorde-
ren Leistungsbereich vertreten gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD])


Bei der Auswahl der Ausbilder für die Grundausbil-
dung hat sich die militärische Führung nach meiner Ein-
schätzung von besonders hohen Qualitätsansprüchen lei-
ten lassen. Dies hat sicherlich zum guten Gelingen in der
Anfangsphase beigetragen. Die eigentliche Bewährungs-
probe für die Integration der weiblichen Soldaten kommt
jedoch bei späteren Verwendungen, wenn nur noch einige
wenige gemeinsam in einer Einheit Dienst tun.

Das Nebeneinander von Mann und Frau in den Streit-
kräften wird übrigens nicht von einem zum anderen Tag
selbstverständliche Routine sein, ganz im Gegenteil wird
es auch Schwierigkeiten geben, die aber gemeistert wer-
den können. Dabei hilft Offenheit und schadet Beschöni-
gung oder gar Vertuschung. So müssen gerade Verstöße
gegen die sexuelle Selbstbestimmung rückhaltlos und
ohne Ansehen der Person aufgeklärt werden, so bittere Er-
kenntnisse damit auch verbunden sein mögen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Das immer noch anhaltende enorme öffentliche Inte-
resse – besonders des Fernsehens – wird teilweise als läs-
tig und belästigend empfunden. Dazu stelle ich fest: Die
Soldaten sind nicht Objekt der Mediengesellschaft und
dürfen es bei aller gebotenen Offenheit für Veränderungen
in der Gesellschaft auch nicht werden.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Plage
des Rechtsextremismus hat vor den Kasernentoren nicht
Halt gemacht. Mit der Art der Vorkommnisse und den Tä-
tergruppen, mit den Zahlen und Tendenzen setzt sich der
Jahresbericht 2000 detailliert auseinander. Nach den bis-
herigen Zahlen des Jahres 2001 zu urteilen, wird im Jahr
2001 eine ähnliche Lage zu verzeichnen sein wie im Vor-
jahr.

Das Militärische – das ist uns bekannt – löst beim
Rechtsextremismus bekannte Begehrlichkeiten aus. Des-
halb ist ständige Aufmerksamkeit geboten. Denn eine Ar-
mee ist nicht per se demokratisch. Die Strukturen für De-
mokratie müssen lebendig sein, namentlich die innere
Führung muss lebendig sein, damit es den Staatsbürger in
Uniform auch wirklich geben kann.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das ist und bleibt ein wirksamer Schutz für die demokra-
tische Beschaffenheit der Armee.

Aber – um nicht missverstanden zu werden – auch das
ist meine Überzeugung: Die Bundeswehr ist nicht anfäl-
lig für Rechtsextremismus und wird schon gar nicht da-
von zersetzt. Sie ist eine demokratische Armee in einem

demokratisch verfassten Staat. Abstrakte Gefährdungen
durch Rechtsextremismus sind aber unabweisbar. Nach
Lage der Dinge ist die Bundeswehr darauf eingestellt. Die
militärischen und politischen Führer sind sich ihrer be-
sonderen Verantwortung gerade bei der Meisterung dieses
Themas bewusst. Aus gegebenem Anlass muss aber fest-
gestellt werden: Ein guter und förderungsgeeigneter Sol-
dat kann nicht sein, wer sich rechtsextremistisch verhält,
auch wenn seine soldatischen Leistungen in Ordnung
sind.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Nicht nur im Zusammenhang mit der Wehrstruktur ist
immer wieder von mieser Stimmung in der Truppe zu
hören. Offen und von mir persönlich gesagt: Das klingt
mir allzu sehr nach psychologisierender Befindlichkeit.
Ich für meinen Teil möchte dies nicht zur Grundlage von
Bewertungen machen.

Was das aus meiner Sicht schon aufschlussreichere
Thema „Motivation oder deren Fehlen“ angeht, so wäre
es grundverkehrt, hierbei die alleinige Verantwortung der
Vorgesetzten einzufordern. Menschenführung und innere
Führung stoßen an Grenzen, wenn die Material- und Er-
satzteillage so mängelbehaftet, wie sie ist, fortbesteht und
wenn der Einsatz auf dem Balkan und anderswo die
Truppe im Inland zunehmend strapaziert,


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Hört, Hört!)

selbstredend auch dann, wenn die Zukunftsperspektive
für Soldaten verschwimmt und der Beförderungs- und
Verwendungsstau eine für viele belastende Tatsache
bleibt.

Allein in den letzten Monaten haben erneut zahlreiche
Soldaten in Eingaben ihre tiefe persönliche Enttäuschung
über die tatsächlichen Möglichkeiten ihres Fortkommens
geschildert. Hierzu nenne ich drei Beispiele.

Erstes Beispiel: Ein 55-jähriger Major, der seit 34 Jah-
ren Soldat ist, steht seit 16 Jahren im heutigen Dienstgrad.
Er übt seinen Dienst seit drei Jahren auf einem Oberst-
leutnantsdienstposten aus und schreibt:

Zu jedem Quartalsbeginn hoffe ich vergeblich auf
eine Beförderung, muss aber nur Bekundungen des
Mitgefühls von allen Seiten erleben. Ich fühle mich
im Stich gelassen und meine: Dies habe ich nicht ver-
dient.

Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Zweites Beispiel: Ein Oberleutnant zur See versieht

seinen Dienst seit langem auf einem höherwertigen
Dienstposten, ohne befördert worden zu sein. Das Aus-
bleiben der Beförderung ist für einen Zeitraum von eini-
gen Monaten und nicht von über drei Jahren, wie das in
diesem Fall geschehen ist, nachvollziehbar.

Drittes Beispiel: Ein Hauptfeldwebel, seit 29 Jahren
Soldat, steht seit 15 Jahren im derzeitigen Dienstgrad.
Trotz großen Engagements, belegt durch mehrere Aner-
kennungen und Bestpreise, blieb eine Beförderung aus.
Ihm wurde dann in Aussicht gestellt, noch so rechtzeitig




Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner

16997


(C)



(D)



(A)



(B)


vor seinem Ruhestand zum Stabsfeldwebel befördert zu
werden, dass sich dies auf jeden Fall auf seine Versor-
gungsbezüge auswirke. Er schrieb mir dazu:

Was für eine Aussage – das schafft Motivation!
Auch dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Um es klar zu sagen: Alle diese Fälle habe ich über-
prüft. Überall wurden die in der Bundeswehr allgemein
gültigen Verfahren zur Bewertung und Beurteilung kor-
rekt durchgeführt. Es ist jeweils mit rechten Dingen zu-
gegangen. Trotzdem: Die tief sitzende Enttäuschung die-
ser Soldaten kann ich gut verstehen. Sie sind die
Betroffenen fehlender Planstellen, knapper Kassen und
der Folgen vorangegangener, noch nicht bewältigter
Strukturreformen. Die Unwägbarkeiten in der Laufbahn
und das Gefühl des Ausgeliefertseins auf dem persönli-
chen Lebensweg verunsichern heute viele Soldaten, wenn
sie an die bevorstehenden Veränderungen der Bundes-
wehr denken.

So mancher – das habe ich selbst erfahren – stellt sich
heute die Frage, ob es richtig war, Berufssoldat zu wer-
den. Auf die Nachwuchswerbung, die junges und hoch
qualifiziertes Personal in die Truppe bringen soll, wirft
dies Schatten. Das kann man nicht einfach auf sich beru-
hen lassen. Es muss gegengesteuert werden, weil auch
davon die Qualität der Bundeswehr in der Zukunft ab-
hängt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Parla-
ment als Ganzes, nicht allein der Verteidigungsausschuss
und die Verteidigungspolitiker, wird sich der Sorgen der
Parlamentsarmee und der Sorgen der Soldaten verstärkt
annehmen müssen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Die Bundeswehr darf nicht in ein Motivationsloch fallen
und sich schon gar nicht an objektiven Schwierigkeiten
aufreiben. Es besteht Anlass, sich vertieft um die Bundes-
wehr zu kümmern.

Schönen Dank für die Geduld.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie der Abg. Heidi Lippmann [PDS])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417320200
Ich danke
dem Wehrbeauftragten. Nunmehr gebe ich dem Kollegen
Werner Siemann für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.


Werner Siemann (CDU):
Rede ID: ID1417320300
Herr Präsident! Herr
Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich mein Bedauern darüber aus-
drücken, dass der Minister der Verteidigung an dieser sehr
wichtigen Debatte heute nicht teilnimmt und sich die kla-
ren Worte des Wehrbeauftragten nicht angehört hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Der heute zu beratende Wehrbeauftragtenbericht 2000
bereichert die anhaltende öffentliche Debatte und gewährt
interessante Einblicke in den inneren Zustand der Bundes-
wehr, um die es nach Aussagen des Verteidigungsministers
gar nicht so schlecht bestellt sein sollte. Zum Amtsantritt
im Oktober 1998 äußerte er voller Stolz – ich zitiere –:

Mit so weitreichenden Zusagen ist bisher noch kein
Verteidigungsminister auf die Hardthöhe gegangen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch die Frage,
wieso in dem noch zurückhaltend geschriebenen Bericht
des Wehrbeauftragten, dem heute sehr klare Worte gefolgt
sind – ich möchte ihm bereits an dieser Stelle für seine Ar-
beit danken –, so viele eklatante Mängel aufgelistet sind,
die auf die massive Unterfinanzierung der Bundeswehr
zurückzuführen sind. Die Antwort auf diese Frage ist ba-
nal und hinlänglich bekannt. Die Zusagen wurden nicht
eingehalten, mit der Konsequenz, dass die Bundeswehr
unter rot-grüner Verantwortung ungebremst gegen die
Wand gefahren wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P)

Mit der Bundeswehrreform wollte Minister

Scharping die Bundeswehr umstrukturieren, modernisie-
ren und rationalisieren – dies alles bei fallender Finanzli-
nie und ohne Anschubfinanzierung. Nach wie vor ver-
kennt die Bundesregierung, dass Rationalisierungs- und
Modernisierungsgewinne sowie Einsparungen aufgrund
von Personalreduzierungen erst mittelfristig erwirtschaf-
tet werden können. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum
das Bundeskabinett zwar eine Streitkräftereform be-
schließt, sich aber dann verweigert, wenn es um die Fi-
nanzierung geht.

Von Tag zu Tag wird deutlicher, dass die Bundeswehr-
reform ohne eine solide Finanzierung zum Rohrkrepie-
rer wird. Eine nüchterne Analyse rot-grüner Verteidi-
gungspolitik kommt zu folgenden drei Ergebnissen:

Erstens. Noch nie wurde der Bundeswehr so viel Geld
entzogen wie unter Minister Scharping.

Zweitens. Noch nie wurden Zusagen gegenüber einem
Verteidigungsminister so ungeniert gebrochen wie unter
Finanzminister Eichel.

Drittens. Noch nie war die Einsatzfähigkeit der Bun-
deswehr so gefährdet wie unter der Regierung Schröder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ein Blick auf die Material- und Ersatzteillage der

Bundeswehr sowie deren Probleme bei der Nachwuchs-
gewinnung machen dies mehr als deutlich. Allein im lau-
fenden Haushaltsjahr fehlen der Bundeswehr für den un-
abdingbaren Materialerhaltungsbedarf nach internen
Berechnungen der Hardthöhe insgesamt 378 Milli-
onen DM. Seriöse Schätzungen gehen von einem Haus-
haltsfehlbetrag von 2 bis 3 Milliarden DM aus, und zwar
mit steigender Tendenz.

Noch in der von Bundesminister Scharping zu verant-
wortenden Stellungnahme des Ministeriums zum Wehr-
beauftragtenbericht 1998 heißt es:


(Konrad Gilges [SPD]: Wann werden Sie etwas zum Bericht sagen?)





Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner
16998


(C)



(D)



(A)



(B)


– Herr Gilges, ich weiß ja, dass Sie schreien können; ge-
hen Sie doch vor die Tür und machen Sie das nicht hier.


(Kontrad Gilges [SPD]: Das ist eine Missachtung des Wehrbeauftragten, was Sie hier veranstalten! – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal was zum Bericht des Wehrbeauftragten!)

Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für die
Materialerhaltung 1997/98 ist eine ausreichende Ver-
fügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführung ei-
ner auftragsorientierten Ausbildung erreicht. Die
Truppe wurde mit ausreichenden Haushaltsmitteln
für die Materialerhaltung ausgestattet.

Mit anderen Worten: Die jetzige katastrophale Mate-
rial- und Ersatzteillage ist einzig und allein auf die man-
gelnde Handlungsfähigkeit der rot-grünen Bundesregie-
rung zurückzuführen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Ähnlich dramatisch sieht die Situation bei der Nach-
wuchsgewinnung der Bundeswehr aus. Wie aus dem
Wehrbeauftragtenbericht ersichtlich ist, ging die Zahl der
Bewerber für die Offizierslaufbahn um 10 Prozent
zurück. Wir müssen in den nächsten Jahren damit leben,
dass uns 12 000 Berufs- und Zeitsoldaten fehlen werden.
Durch widersinnige Regelungen, insbesondere durch die
Möglichkeit einer abschnittsweisen Ableistung des Wehr-
dienstes, wird diese Tatsache noch verstärkt. Sie wissen,
dass die Möglichkeit der abschnittsweisen Ableistung des
Wehrdienstes dazu führen wird, dass sich diese Soldaten
nicht mehr als FWLDer werden verpflichten können. Ge-
rade die freiwillig Längerdienenden sind eine wesentliche
Säule des neuen Bundeswehrkonzepts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die im Wehrbeauftragtenbericht aufgeführten Beispiele

sprechen eine erschreckend deutliche Sprache, wie es um
den Zustand der Bundeswehr bestellt ist: Wenn Soldaten
der Bundeswehr aufgrund der katastrophalen Material- und
Ersatzteillage an Fotos ausgebildet werden müssen, weil
das vorhandene Gerät im Ausland ist, besteht dringender
Handlungsbedarf. Wenn durch den radikalen Finanzentzug
die Bundeswehr aufgrund mangelnder Zukunftsaussichten
und unübersehbarer Mängel bei Ausrüstung und Versor-
gung mit massiven Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat
und sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer auf er-
schreckend hohem Niveau etabliert, besteht akuter Hand-
lungsbedarf. Wenn loyale Offiziere bei offiziellen Tagun-
gen mit dem Minister harsche, aber berechtigte Kritik an
der Bundeswehrreform üben, wenn hoch angesehene ehe-
malige Generale und Admirale anmahnen, die jetzt be-
schlossene Reform sei ohne Anschubfinanzierung nicht
umzusetzen, diese aber von der Regierung verweigert wird,
besteht dringender Handlungsbedarf.

Wenn unsere amerikanischen Verbündeten in nie dage-
wesener Dringlichkeit einen höheren deutschen Verteidi-
gungsbeitrag einfordern,


(Peter Zumkley [SPD]: Wo haben sie das denn gemacht?)


damit Deutschland im Rahmen einer fairen Lastenteilung
seinen umfangreichen Verpflichtungen gegenüber den
NATO- und EU-Partnern nachkommen kann, besteht aku-
ter Handlungsbedarf. Wenn erstmals in der Geschichte der
Bundeswehr die Etatvoranmeldung für den Verteidi-
gungshaushalt nicht von der Hardthöhe, sondern vom Fi-
nanzministerium erstellt werden muss, besteht dringender
Handlungsbedarf.

Wenn dann auch noch der höchste militärische Berater
der Bundesregierung, Generalinspekteur Harald Kujat,
der Bundeswehr die Einsatzfähigkeit abspricht und selbst
der Verteidigungsminister feststellen muss, dass die
Streitkräfte weder voll europa- noch bündnisfähig sind,
und das Finanzloch allein für das nächste Jahr auf
2,7 Milliarden DM beziffert, kann die Krise der Streit-
kräfte nicht länger ignoriert oder, schlimmer noch,
schöngeredet werden, wie es seit Monaten die rot-grüne
Koalition versucht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn man nun aber hört, dass die Bundeswehr ab 2003

500 Millionen DM mehr als ursprünglich vorgesehen er-
halten soll, so muss ich sagen, dass das nicht mehr als ein
ungedeckter Scheck auf die Zukunft ist und mich fatal an
die nicht eingehaltene Zusage zum Amtsantritt des Minis-
ters erinnert.

Was muss noch passieren, damit diese Bundesregie-
rung begreift, dass sie die Bundeswehr ungebremst vor
die Wand fährt, wenn sie so weitermacht? Als stärkste In-
dustrienation und als bevölkerungsreichstes Land Euro-
pas hat Deutschland die Pflicht, einen verantwortungs-
vollen Beitrag zum Frieden und zur Stabilität der Welt zu
leisten. Die Bundesregierung muss sich endlich zu dieser
Pflicht bekennen und den groß angekündigten Worten Ta-
ten folgen lassen.

Dass die radikalen Haushaltskürzungen nicht zu ver-
antworten sind, haben wir eben schon vom Wehrbeauf-
tragten des Deutschen Bundestages gehört. Der Wehrbe-
auftragte und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
stimmen darin überein, dass das gebetsmühlenartig an-
gekündigte Attraktivitätsprogramm endlich umgesetzt
werden muss. „Wo bleiben die seit langem angekündigten
Vorlagen?“ möchte man den Minister fragen, wenn er an-
wesend wäre. Die Soldaten und ihre Familien, die Zi-
vilangestellten und ihre Familien, aber auch wir warten
darauf.

Die fortwährende Unterfinanzierung der Streitkräfte
wuchert wie ein Krebsgeschwür an lebenswichtigen Orga-
nen der Truppe. Nach und nach verspielt der Verteidi-
gungsminister durch seine wenig Vertrauen erweckende
Politik und durch die nicht eingehaltenen Ankündigungen
das größte Gut der Bundeswehr: die Motivation und Leis-
tungsbereitschaft unserer Soldaten. Die Moral der
Truppe wird erheblichen Schaden nehmen, wenn sie nicht
das dringend benötigte Medikament in Form einer hoch
dosierten Finanzspritze verabreicht bekommt.

Ein aktueller Bericht des Sozialwissenschaftlichen In-
stituts der Bundeswehr, der uns diese Woche zeitgerecht
erreichte, spricht im Übrigen Bände: Die im Auslandsein-
satz befindlichen Soldaten fühlen sich im Stich gelassen,




Werner Siemann

16999


(C)



(D)



(A)



(B)


weil ihnen nicht die größtmögliche Unterstützung ge-
währt wird. Verantwortlich dafür ist allein dieser Minis-
ter; verantwortlich dafür ist allein diese Regierung.


(Peter Zumkley [SPD]: Das trifft doch nicht zu, was Sie sagen!)


Nur durch ein solides finanzielles Fundament können
viele der im Bericht des Wehrbeauftragten aufgeführten
Mängel gemildert werden und kann die Bundeswehr ihre
volle Einsatzfähigkeit zurückgewinnen. Nur durch ein so-
lides finanzielles Fundament kann Deutschland seinen in-
ternationalen Verpflichtungen gerecht und können die
Streitkräfte wieder als Arbeitgeber für junge Menschen at-
traktiv werden.

Schaffen Sie endlich die dafür notwendigen Vorausset-
zungen! Das wollte ich Ihnen zum Abschluss sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Peter Zumkley [SPD]: Thema verfehlt! Zum Wehrbeauftragten nichts gesagt!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417320400
Ich erteile
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmi-
nister der Verteidigung, Walter Kolbow, das Wort.

W
Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1417320500
Herr Präsident! Sehr geehrter
Herr Dr. Penner! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Herr Siemann, Bundesminister Scharping ist wegen
der zeitlichen Verschiebung der Debatte in Kollision mit
unabänderlichen Terminen geraten.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Den scheint es nicht zu interessieren!)


Er hat sich beim Wehrbeauftragten dafür entschuldigt und
hat mich gebeten, dies dem Hause mitzuteilen; dem
komme ich hiermit nach.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Paul Breuer [CDU/CSU]: Liegt vor dem Finanzministerium auf den Knien!)


Der Wehrbeauftragte hat eingangs gesagt, sein Bericht
sei naturgemäß ein Mängelbericht und keine Zustandsbe-
schreibung. Er hat Recht: Dieser Bericht soll Unzuläng-
lichkeiten, individuelles Fehlverhalten und strukturelle
Defizite in der Bundeswehr aufzeigen. Sein besonderer
Wert liegt in der unabhängigen Berichterstattung an das
Parlament, aber auch darin, dass er der politischen und
militärischen Führung immer wieder Ansatzpunkte für
Verbesserungen gibt. Der Bundesminister für Verteidi-
gung und das Ministerium insgesamt nehmen diesen Be-
richt ernst. Ich denke, andere – also auch jene außerhalb
der Sach- und Fachverständigen in Regierung und Parla-
ment – sollten das ebenfalls tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im vorliegenden Bericht werden aber auch positive
Entwicklungen in den Streitkräften angesprochen. Die Er-
kenntnisse des Wehrbeauftragten in Gänze decken sich im
Wesentlichen mit denen des Bundesministeriums der
Verteidigung.

Die Bundeswehr leidet unter den Folgen jahrelanger
Unterfinanzierung und ausgebliebener Modernisie-
rungsmaßnahmen in den 90er-Jahren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine Bugwelle von aufgeschobenen Investitionen lässt
kaum Handlungsfreiheit. Größe, Struktur und Ausrüstung
der Streitkräfte sind den neuen Aufgaben nicht angemes-
sen.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Alles sollte besser werden! Und nichts ist!)


Von 1994 bis 1998 wurden – das sage ich zum wieder-
holten Mal – dem Verteidigungsetat durch globale
Minderausgaben und durch Haushaltssperren 3 Milliar-
den DM entzogen.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Diese Platte hat doch einen Sprung!)


Die Bundeswehr ist von daher noch immer durch eine
Reihe personeller, materieller und struktureller Verwer-
fungen gekennzeichnet.

Der Personalbestand ist insgesamt überaltert, die Sol-
daten leiden unter Beförderungs- und Verwendungsstaus.
Die Situation bei den als persönlich dramatisch einzu-
schätzenden Fällen, die der Wehrbeauftragte hier vorge-
tragen hat, ist nicht innerhalb der Jahre 1999 und 2000
entstanden. Wir konnten die Mängel noch nicht beseiti-
gen; das ist einzuräumen. Wir werden das aber tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch dass das Schlüsselpersonal hohe Belastungen
auszuhalten hat und dass die nicht immer leistungsge-
rechte Besoldung zu Motivationsverlusten sowie zu
Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung führt,
sind Tatsachen, die uns aber anspornen, die Missstände zu
beseitigen.

Veraltete Waffensysteme und fehlende Ersatzteile be-
schränken die Einsatzbereitschaft im Inland und führen zu
einem unvertretbar hohen Aufwand bei der Materialer-
haltung. Der hohe Betriebsaufwand verhindert Investitio-
nen in neue Ausrüstung.

Unzweckmäßige Kompetenzverteilungen, unzeit-
gemäße Führungs-, Verwaltungs- und Beschaffungsver-
fahren sowie unzureichende und nicht kompatible Infor-
mations- und Kommunikationstechniken binden knappe
Ressourcen.

Hier müssen neue Wege beschritten werden. Durch un-
sere Bemühungen, durch Verstärkung der Einnahmen-
seite, wollen wir neue Mittel für die Beseitigung dieser
Mängel freisetzen. Wir fordern Sie auf: Gehen Sie diese
Wege mit! Sorgen Sie für deren Akzeptanz!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass diejenigen,
die früher neue Wege gesucht haben – nicht immer
schlecht; ganz im Gegenteil, sie haben ihre Pflicht




Werner Siemann
17000


(C)



(D)



(A)



(B)


getan –, durch diese Veränderungen Stress befürchten
und, gelegentlich sogar im Parlament, an alten Zöpfen
festhalten wollen.

Bei Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörigen
führen diese Defizite zu Unsicherheit und Motivations-
verlust. Eine Vielzahl der im vorliegenden Bericht des
Wehrbeauftragten genannten Mängel, die Dr. Penner hier
eindrucksvoll belegt hat, findet hier ihren Ursprung.

Aufbauend auf der Bestandsaufnahme dieser Defizite
wurde die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf
eingeleitet. Ziel ist es, Auftrag, Umfang, Organisation,
Ausrüstung und Mittel wieder in Balance zu bringen.

In vielen Teilbereichen wurde die Umsetzung der Re-
form bereits eingeleitet. Wir verzeichnen überall dort
kontinuierlich Fortschritte, wo wir investieren: in die
Menschen und ihre Fähigkeiten, in die Ausrüstung und
ihre Leistungsfähigkeit sowie in die Wirtschaftlichkeit
und Effizienz von Beschaffung und Betrieb. Die eingelei-
teten Reformmaßnahmen haben bewusst den Anspruch,
den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen. So soll die At-
traktivität des Dienstes durch eine Reihe von Maßnahmen
erhöht werden. Das Sechste Besoldungsänderungsgesetz
und das Artikelgesetz über die Neuausrichtung der Bun-
deswehr sind auf den Weg gebracht, um dazu beizutragen,
dass die Motivation der aktiven Soldatinnen und Soldaten
erhalten und dauerhaft qualifizierter Nachwuchs gewon-
nen werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Keine Reform dieser Dimension – auch das weist der
Bericht des Wehrbeauftragten aus – verläuft ohne Schwie-
rigkeiten; darüber wird nicht nur in den Ausschüssen, son-
dern auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Von den
Soldatinnen und Soldaten wird viel verlangt. Es ist ihnen
auch in der Vergangenheit viel zugemutet worden. Die
Truppe wird die Reformmaßnahmen durchführen müssen
und gleichzeitig ohne Unterbrechung in internationalen
Einsätzen gefordert bleiben.

Nur motivierte Soldatinnen und Soldaten werden unter
diesen Voraussetzungen engagiert und mit neuen Ideen
den Wandel mitgestalten. Die Bundeswehr erwartet, dass
in Politik und Gesellschaft Verständnis für ihre besonde-
ren Belastungen vorhanden ist und die Maßnahmen zur
Abfederung der negativen Folgen des Strukturwandels
auch akzeptiert werden. Dieses Verständnis, Herr Wehr-
beauftragter, kommt in dem vorliegenden Jahresbericht
deutlich zum Ausdruck.

Lassen Sie mich noch einen Themenbereich des vor-
liegenden Berichtes aufgreifen, dem sich auch der Wehr-
beauftragte zugewandt hat und der in der Öffentlichkeit
besondere Beachtung gefunden hat, nämlich rechtsextre-
mistische und fremdenfeindliche Vorfälle in der Bun-
deswehr. Der Wehrbeauftragte hat zu Recht darauf hinge-
wiesen, dass die Bundeswehr eine demokratische Armee
ist. Sie ist beileibe nicht rechtsextremistisch. Aber als Teil
der Gesellschaft bleibt die Bundeswehr von problemati-
schen gesellschaftlichen Entwicklungen naturgemäß
nicht ausgenommen. Als Wehrpflichtarmee ist sie durch
ständige personelle Fluktuation geprägt. Die derzeitige

Tendenz zu extremistischen Denkweisen, zu Fremden-
feindlichkeit und Gewaltbereitschaft nimmt die Bundes-
wehr sehr ernst. Diese Bestrebungen stehen in krassem
Gegensatz zu allem, wofür die Bundeswehr eintritt.

Der Anstieg der Zahl der gemeldeten besonderen Vor-
kommnisse mit Verdacht auf einen entsprechenden Hin-
tergrund um 62 auf 196 im Vergleich zum Vorjahr kann
nicht ohne weiteres als Indikator für eine Zunahme rechts-
extremistischer oder fremdenfeindlicher Gesinnung der
Soldaten gesehen werden. Vielmehr wird an diesen Zah-
len auch die wachsende Sensibilisierung und das Bestre-
ben von Vorgesetzten und Soldaten deutlich, Auswüchsen
auch schon bei kleinsten Anzeichen offensiv zu begegnen.

Demokratische Grundwerte und Respekt vor der
Würde des Menschen sind für die überwältigende Mehr-
heit der Soldaten die Grundlage ihres Verhaltens, ob im
Einsatz oder zu Hause. Das wird an der großen Sensibi-
lität, die unsere Kontingente bei der Friedenssicherung
zeigen, und an der Vorreiterrolle deutlich, die die Bun-
deswehr durch die Wehrpflicht bei der Integration von
jungen Menschen ausländischer Herkunft spielt. Die Bun-
deswehr bietet Extremisten keinen Nährboden. Sie wird
auch in Zukunft ihrer besonderen Verantwortung für un-
sere Demokratie gerecht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Dr. Penner, ich danke Ihnen sowie Ihren Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern für den ausgewogenen, kon-
struktiven und, wo notwendig, kritischen Bericht. Wir ha-
ben vernommen, dass Sie ausgeführt haben, es bestehe An-
lass, sich verstärkt um die Bundeswehr zu kümmern. Dazu
fordert auch der Bundesminister der Verteidigung die Ge-
sellschaft, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, auf.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417320600
Ich gebe
dem Kollegen Hildebrecht Braun für die Fraktion der
F.D.P. das Wort.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1417320700
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine
Parlamentsarmee. Das deutsche Parlament diskutiert
heute über den Bericht des Beauftragten des deutschen
Parlaments für die Bundeswehr. Die SPD-Fraktion, die
die größte Fraktion des Hauses ist, schickt als Hauptred-
ner den Vertreter der Bundesregierung an das Rednerpult,
die für die Missstände verantwortlich ist, die der Wehrbe-
auftragte in seinem Bericht anprangert. Das ist ein be-
merkenswerter Vorgang.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch Quatsch! – Paul Breuer [CDU/CSU]: Die Fraktion darf fünf Minuten reden!)


Wir sind stolz auf die Institution des Wehrbeauftragten
und danken Ihnen, Herr Dr. Penner, dafür, dass Sie das




Parl. StaatssekretärWalter Kolbow

17001


(C)



(D)



(A)



(B)


Amt von Ihrer Vorgängerin vor einem Jahr problemlos
übernommen und in kurzer Zeit das Vertrauen der Sol-
daten gewonnen haben.

Wie dankbar wären viele Soldaten, aber auch viele Fa-
milien in anderen Ländern, wenn es dort einen Wehrbe-
auftragten des Parlaments gäbe, an den sich jeder Soldat
direkt mit Beschwerden wenden kann. Mir liegt ein na-
gelneuer Bericht der Soldatenmütter von Sankt Peters-
burg vor, den diese für die Vereinten Nationen, aber auch
für dieses Parlament erstellt haben. Dieser erschütternde
Bericht über Vorkommnisse im Bereich der russischen
Armee macht deutlich, was alles in einem noch immer
ziemlich autoritär regierten Land speziell mit Wehrpflich-
tigen geschehen kann, wenn es praktisch keine öffentliche
Kontrolle der Armee durch das Parlament gibt.

Ich werde den Soldatenmüttern in Sankt Petersburg in
Kürze versichern, dass wir deutschen Parlamentarier in al-
len Kontakten mit Russland darauf drängen werden, dass
auch in diesem wichtigen europäischen Nachbarland ein
Wehrbeauftragter bestellt wird, der schon durch seine Exis-
tenz, aber natürlich auch durch seine kritischen Berichte
und Stellungnahmen für die Einhaltung der grundlegenden
Menschenrechte auch in der russischen Armee sorgen wird.


(Peter Zumkley [SPD]: Was hat das mit unserem Wehrbeauftragten zu tun?)


Herr Penner, Sie haben Ihre Aufgabe als Vertreter der
Soldaten gegenüber dem Parlament sehr weit gefasst und
öffentlich sehr kritische Fragen zur Beibehaltung der
Wehrpflicht gestellt. Ich gebe zu, ich war erstaunt über
Ihre Äußerungen, wie wohl viele hier im Parlament. Ich
will mich auch gar nicht zu Sinn oder Unsinn, zu Über-
flüssigkeit oder Notwendigkeit der Wehrpflicht äußern.
Ich finde es aber richtig, dass Sie auch öffentlich auf die
Probleme hingewiesen haben, die sich nicht zuletzt durch
die anhängigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsge-
richt in diesem Zusammenhang ergeben können.


(Peter Zumkley [SPD]: Aber nicht einseitig vereinnahmen!)


Sie haben Ihr verantwortungsvolles Amt in einer Zeit
des Umbruchs übernommen. Die Bundeswehr gewöhnt
sich daran, eine Einsatzarmee zu sein. Gegenden, die
früher den meisten Deutschen überhaupt nicht bekannt
waren – Kosovo, Bosnien-Herzegowina –, kennen mitt-
lerweile mehr als 70 000 deutsche Soldaten aus längeren
Aufenthalten sehr gut. Ihre Schilderung der Situation der
Soldaten vor Ort bestätigt das, was wir als Mitglieder des
Verteidigungsausschusses dort erlebt haben. Die Bedin-
gungen der Unterbringung werden besser, die Ausrüstung
auch. Das Engagement unserer Soldaten ist beispielhaft
und als Folge davon ist auch das Verhältnis der Bevölke-
rung zu den deutschen Truppen außerordentlich gut.

In einem Punkt widerspreche ich allerdings mit Nach-
druck: Wenn Sie den Eindruck haben, die Soldaten hätten
sich mit dem sechsmonatigen Aufenthalt, der durch einen
Kurzurlaub unterbrochen wird, abgefunden, dann ent-
spricht dies in keiner Weise unseren eigenen Erfahrungen.


(Peter Zumkley [SPD]: Das ist nicht in Ordnung! Er vereinnahmt den Wehrbeauftragten dauernd mit falschen Behauptungen!)


Nachdem jetzt auch noch das Sozialwissenschaftliche
Institut der Bundeswehr deutlich gemacht hat, dass die
überwiegende Zahl derer, die dort stationiert waren, eine
längere Standzeit als vier Monate für falsch hält, halten
wir auch an dieser Einstellung fest und werden weiterhin
für eine Verkürzung auf vier Monate werben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Natürlich müssen wir auch heute wieder ein großes Är-

gernis ansprechen. Wie sollen unsere Soldaten, die in ost-
deutschen Standorten beheimatet sind, damit umgehen,
dass sie nach ihrer Rückkehr, nach der gemeinsamen Er-
füllung ihrer Aufgaben im Kosovo und in Bosnien wieder
deutlich weniger Gehalt bekommen als ihre Kollegen im
Westen? Wir wollen der Botschaft entgegentreten, dass es
automatisch ein Nachteil sein muss, in den neuen Bun-
desländern zu dienen. Deswegen treten wir für eine An-
gleichung der Besoldung ein.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie der Abg. Heidi Lippmann [PDS] – Peter Zumkley [SPD]: Aber reichlich spät! Als Sie in der Regierung waren, haben Sie nichts gemacht!)


– Sie wissen genau, dass wir das schon seit langem tun.
Ich glaube, das dürfte Ihnen nicht entgangen sein.

Ich möchte einen Einzelpunkt erörtern, der mir wich-
tig erscheint. Die geltende Umzugsregelung für Soldaten
führt zu häufigen, berechtigten Klagen. Keine Gruppe in
Deutschland muss häufiger umziehen als unsere Soldaten.
Ihre Familien, besonders die schulpflichtigen Kinder,
werden dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Sie tragen
einen erheblichen Teil der Belastung mit, die wir unseren
Soldaten abverlangen müssen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es gibt viele Probleme mit der einen Firma, die jetzt für

alle Umzüge zuständig ist. Wir werden hier aktiv werden.
Wir sind aber auch der Meinung, dass ein Tag Sonder-

urlaub für einen Umzug mit Kind und Kegel innerhalb
Deutschlands eine groteske Geschichte ist.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das bedeutet doch im Klartext, dass wir die Hauptlast des
Umzuges den Familien, den Angehörigen, den Kindern
aufbürden, wenn wir den Vätern – um die handelt es sich
regelmäßig – nur einen Tag für den Umzug frei geben.
Das geht nicht an. Deswegen wollen wir hier eine Ände-
rung.


(Beifall bei der F.D.P.)

Im letzten Jahr hat sich die Annahme verdichtet, dass

in früheren Jahren Soldaten, die mit der Wartung von Ra-
daranlagen befasst waren, einem besonderen Gesund-
heitsrisiko ausgesetzt waren. Ich habe schon im Aus-
schuss deutlich gemacht und sage das hier noch einmal:
Es geht nicht an, dass wir diesen Soldaten, die in einer er-
heblichen Zahl krebskrank geworden sind, die Beweislast
dafür aufbürden, dass ihre frühere Tätigkeit an damals
noch sehr merkwürdigen Radaranlagen kausal dafür war,
dass sie erkrankt sind. Hier muss andersherum gehandelt




Hildebrecht Braun (Augsburg)

17002


(C)



(D)



(A)



(B)


werden. Die Beweislast muss beim Arbeitgeber liegen,
nämlich bei der Bundeswehr.


(Peter Dreßen [SPD]: Die Beweislastumkehr muss für alle Arbeitnehmer gelten, nicht nur für die Soldaten! – Peter Zumkley [SPD]: Über die Bundeswehr hinaus, das wäre eine Aufgabe!)


Gestatten Sie mir noch folgenden Gedanken: Im letz-
ten Jahr ist auf unseren Antrag hin die Regelung zum Um-
gang mit homosexuellen Soldaten verbessert worden.
Obwohl sich der gesamte Bundestag dafür ausgesprochen
hat, findet sich kein Wort dazu im Bericht. Ich bin sehr er-
staunt darüber, dass Rot-Grün in der gestrigen Sitzung des
Verteidigungsausschusses gegen den Antrag, dass auch in
Zukunft jegliche Diskriminierung von homosexuellen
Soldaten zu unterlassen ist, gestimmt hat.


(Peter Zumkley [SPD]: Sie kennen doch die Begründung, Kollege Braun!)


Das wird Rot-Grün der Öffentlichkeit noch erklären müs-
sen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so wie der Abg. Heidi Lippmann [PDS])



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417320800
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Winfried Nachtwei.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417320900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine klare und
glaubwürdige Perspektive der Bundeswehrreform und der
Finanzausstattung der Bundeswehr ist zentraler Bestand-
teil der Berufszufriedenheit von Bundeswehrangehöri-
gen. Allerdings ist es völlig verkürzt, alles am Geld fest-
zumachen, fast nur darüber zu reden und den Bericht des
Wehrbeauftragten im Grunde genommen nur unter die-
sem Gesichtspunkt zu beurteilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wer macht das denn?)


Herr Siemann, Sie haben das gemacht. Leider haben Sie
– Sie können eigentlich mehr – das Thema des Jahresbe-
richts des Wehrbeauftragten – dort geht es um den inne-
ren Zustand der Bundeswehr und um innere Führung –
völlig verfehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Paul Breuer [CDU/CSU]: Auch Sie haben dem Wehrbeauftragen nicht zugehört!)


Herr Dr. Penner, auch unsere Fraktion möchte Ihnen
und Ihren Mitarbeitern für Ihren Bericht, für Ihre Arbeit
und für die Unabhängigkeit Ihres Urteils – im Bericht
wurde sie durch Ihre trockenen und sehr treffsicheren Kri-
tiken deutlich; in Ihrer Rede haben Sie dies in zugespitz-
ter Form vorgetragen – sehr herzlich danken. Sie legen
eine Unabhängigkeit an den Tag, die alle respektieren
sollten und nicht für sich vereinnahmen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben in Ihrem Bericht allerdings mit Beunruhi-
gung gelesen, Ihre Überprüfungsersuchen seien häufig
fehlerhaft oder verzögert behandelt worden. Wir hoffen
sehr, dass dies nicht Ausdruck eines mangelnden Res-
pekts vor dem Amt des Wehrbeauftragten ist.


(Heidi Lippmann [PDS]: Nein, aber Ausdruck des lahmen Apparats!)


Das Bundeskabinett beschloss vor einem Jahr noch
einmal, an der Wehrpflicht festzuhalten. Damit ist die
selbstverständliche Debatte über das Für und Wider der
Wehrpflicht keineswegs abgeschlossen. Sie, der Wehr-
beauftragte, tragen zur Versachlichung der Debatte bei,
indem Sie klare Anforderungen an diese Debatte stellen.
Es geht um die Anforderungen an die Politik, an die poli-
tische und an die militärische Führung der Bundeswehr,
den Wehrpflichtigen die Legitimation und den Sinn ihres
Dienstes plausibel zu machen. Sie nennen gleichzeitig
Zahlen: Im vorigen Jahr wurden etwa 173 000 KDV-An-
träge gestellt und es gab ungefähr 128 000 Wehrdienst-
leistende. Vor diesem Hintergrund kann man große Zwei-
fel daran haben, ob die Legitimation wirklich noch plau-
sibel ist und funktioniert.


(Peter Zumkley [SPD]: Zusammen leisten sie vieles!)


Sie haben zu den Auslandseinsätzen ausführlich Stel-
lung genommen. Das ist insofern völlig angemessen, als
das Jahr 2000 das erste Jahr war, in dem über das ganze
Jahr SFOR und KFOR einen großen Einsatz hatten.

Sie nennen Beispiele für Fehlverhalten und Defizite,
die geradezu unbegreiflich sind. Zum Beispiel gab es im
Bereich der Personalplanung einen familienfeindlichen
Bürokratismus, als in Einzelfällen bei der Zuordnung zu
Auslandseinsätzen keine Rücksicht auf eine bevorste-
hende Geburt oder auf das Vorhandensein eines schwer-
behinderten Kindes in einer Familie genommen wurde.
Zwar waren das Einzelfälle; dennoch sind diese Vorgänge
in keiner Weise nachvollziehbar.

Im Bericht des Wehrbeauftragten wird erstmalig das
Thema „Einsatz und Sexualität“ angesprochen. Im vo-
rigen Jahr gab es Meldungen, dass Bundeswehran-
gehörige angeblich minderjährige Prostituierte und
Zwangsprostituierte aufgesucht hätten. Damit konnte ein
Thema nicht länger verdrängt werden, das im Einsatz – so
sagen uns Militärseelsorger; das kann man sich aber auch
mit gesundem Menschenverstand denken – zu den großen
Problemen gehört.

Es ist in der Tat erfreulich, dass der Generalinspekteur
Ende letzten Jahres eine Führungshilfe für Vorgesetzte
„Umgang mit Sexualität“ herausgegeben hat. Der Wehr-
beauftragte bemängelt zu Recht, dass diese Führungshilfe
hinsichtlich des Komplexes „Auslandseinsatz und Sexua-
lität“ nichts hergebe. Das zeigt, dass wir daran noch er-
heblich arbeiten und dieses Thema sensibel behandeln
müssen, um aus dieser Situation der allgemeinen Ver-
drängung herauszukommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gemeinhin besteht der Eindruck, als hätten die Aus-
landseinsätze bisher ohne Opfer stattgefunden. Das ist




Hildebrecht Braun (Augsburg)


17003


(C)



(D)



(A)



(B)


aber ein nicht ganz richtiger Eindruck; denn es gibt eine
Reihe von Soldaten, bei denen posttraumatische
Belastungsstörungen aufgetreten sind. Es ist aber auch
bekannt, dass die diagnostische Abgrenzung solcher
Störungen zu anderen Erkrankungen sehr schwierig ist.
Die mögliche Anerkennung als Wehrdienstbeschädigung
ist bisher ungeklärt. Es ist ein Gebot der Fürsorgepflicht,
den betroffenen Soldaten entgegenzukommen, genauso
wie im Fall der mutmaßlich durch Radarstrahlen geschä-
digten ehemaligen Bundeswehrangehörigen. Alles andere
würde das Vertrauen der heutigen und auch der künftigen
Soldaten in den Dienstherrn erheblich beschädigen.

Nun zu dem Kapitel „Soldaten als Staatsbürger in Uni-
form“. Wichtige Beiträge zur Herausbildung des Staats-
bürgers in Uniform finden im Rahmen der politischen
Bildung statt. Wir wissen alle, dass man daran keine über-
höhten Ansprüche stellen kann. Aber die politische Bil-
dung ist dabei ein notwendiges Mittel. In diesem Zusam-
menhang nennt der Wehrbeauftragte einen wichtigen
Knackpunkt, nämlich die Überlastung der Kompanie-
chefs durch andere Aufgaben, die ihnen schlichtweg den
Spielraum und die Zeit nehmen, einen politischen Unter-
richt in vernünftiger Weise durchzuführen. Hier ist fest-
zustellen, dass es einen Entwurf für eine neue zentrale
Dienstvorschrift „Politische Bildung in der Bundeswehr“
gibt, dass aber genau der Knackpunkt der realen Bedin-
gungen ausgespart wird. Das heißt, dieses Defizit besteht
im Grunde fort.

Die Dauereinsätze im Kosovo und in Bosnien-Herze-
gowina bedeuten für die Soldaten und insbesondere auch
für ihre Angehörigen und Familien eine ganz erhebliche
Belastung, wie sie von nahezu keiner anderen Berufs-
gruppe verlangt wird. Damit steigen selbstverständlich
auch die Ansprüche der Soldaten und ihrer Familien auf
eine überzeugende Begründung ihres Einsatzes. Au-
ßerdem muss der Einsatz in ein glaubwürdiges Konzept
der Friedenskonsolidierung eingebettet sein. Insofern
setzen wir morgen die heutige Debatte fort.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417321000
Ich gebe das
Wort der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS.


Heidi Lippmann-Kasten (PDS):
Rede ID: ID1417321100
Vielen Dank, Herr Präsident!
– Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab sei mir erlaubt,
dem Wehrbeauftragten, Herrn Penner, im Namen der
PDS-Fraktion nachträglich zum 65. Geburtstag zu gratu-
lieren.


(Beifall)

Ebenso wie der Bericht seiner Vorgängerin, Frau

Marienfeld, greift sein Bericht wichtige Probleme der
Bundeswehr und auch des einzelnen Soldaten auf. Ich
möchte mich auf wenige Aspekte beschränken, so zum
Beispiel darauf, dass Soldaten durch die Diskussion über
den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran im
ehemaligen Jugoslawien und mögliche gesundheitliche

Folgen verunsichert wurden. Das Gleiche trifft für die
Auswirkungen der Radaranlagen zu, über die schon ge-
sprochen wurde.

Beide Sachverhalte zeigen einmal mehr, wie viele un-
geklärte Fragen es gerade für Soldaten im Auslandsein-
satz gibt, seien es Fragen der Legitimität, des Einsatzes
überhaupt, der gesundheitlichen Gefährdungen, die dabei
auftreten können, oder der zu späten und unzureichenden
Informationen über mögliche Gefährdungen. Ebenso wie
Herr Penner fordern wir die Überprüfung dieses Zusam-
menhangs. Wir bestehen aber auch darauf, dass sich die
Bundesregierung ganz klar und deutlich für die Ächtung
von Uranmunition einsetzt. Mit besonderer Sorge muss
uns erfüllen, dass die „Besonderen Vorkommnisse“ mit
rechtsextremistischem bzw. fremdenfeindlichem Hin-
tergrund wieder sehr stark angestiegen sind. Ich möchte
Sie bitten, Herr Kolbow, das nicht zu bagatellisieren


(Ulrike Merten [SPD]: Tut er doch gar nicht!)

und zu sagen, das sei lediglich der verstärkten Aufmerk-
samkeit von Vorgesetzten zu verdanken. Auch wenn dies
vorwiegend Propaganda- und keine Gewaltdelikte waren,
gilt: Jeder Vorfall ist ein Vorfall zu viel.


(Beifall bei der PDS)

Der Wehrbeauftragte weist zu Recht auf die jugend-

kulturelle Form des heutigen Rechtsextremismus hin, wie
zum Beispiel auf die Auswirkungen von bestimmter
Rockmusik, aber auch darauf, dass Waffen, Uniformen,
Millitärrituale und strenge Führungsstrukturen gerade auf
Jugendliche, die zum Rechtsextremismus tendieren, eine
erhebliche Anziehungskraft haben. Dies bezieht sich aber
ebenso auf interne Rituale, die Ausdruck eines besonders
männlichkeitsbetonten Korpsgeistes sind, so die vom
Wehrbeauftragten monierten Rituale zur Aufnahme in das
Unteroffizierskorps. Hier möchte ich die Bundesregie-
rung fragen, warum sie trotz immer wieder ausgespro-
chener Hinweise, solche „Aufnahmeprüfungen“ zu unter-
lassen, und trotz wiederholter Disziplinarmaßnahmen
immer wieder stattfinden. Gerade dieser Punkt sollte An-
lass sein, darüber nachzudenken, wie man eine solche Mi-
litärkultur, seien es öffentliche Waffenschauen oder
Gelöbnisse und Zapfenstreiche, weiter zurückdrängen
kann. Wir jedenfalls sind unbedingt dafür, den öffentli-
chen Raum konsequent zu entmilitarisieren.


(Zuruf von der SPD: Wenn man nicht alles durcheinander bringt!)


Der Wehrbeauftragte hat am 9. Mai vor den Mitglie-
dern des Rechtsausschusses zum Thema rechtsextremisti-
sche Vorkommnisse in der Bundeswehr vorgetragen und
dabei die Bedeutung der politischen Bildung, auch und
gerade der Vorgesetzten, hervorgehoben. Dem ist nur bei-
zupflichten. Doch Dienstvorschriften anzupassen und
weiterzuentwickeln reicht nicht aus; entscheidend ist, ob
ein lebendiger Prozess der Auseinandersetzung mit heuti-
gen Streitthemen stattfindet. Es geht also um den Alltag
der Soldaten. Hier müssen wir noch sehr viel genauer hin-
sehen.

Auch der gesamte Bereich der Traditionspflege wird
immer wieder infrage gestellt. Ich denke, dass wir im




Winfried Nachtwei
17004


(C)



(D)



(A)



(B)


Jahre 2001 den Traditionserlass endlich beiseite legen
sollten, wonach heute noch Soldaten aus dem Zweiten
Weltkrieg vom Ritterkreuz aufwärts mit militärischen Eh-
ren beerdigt werden.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist sehr richtig so! Das ist sehr gut so! Das ist die Ehre von Soldaten!)


Diese Soldaten sind für Verbrechen im Faschismus aus-
gezeichnet worden.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Nein, sind sie nicht!)


– Ich denke, Herr Kollege, es ist längst überfällig, dass wir
mit solchen Traditionen innerhalb der Bundeswehr
Schluss machen.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS] – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das müssen wir uns nicht von der PDS sagen lassen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vermissen nach
wie vor – auch das hat Herr Penner heute angesprochen –,
dass man sich auf der politischen Ebene dezidiert mit der
eingeforderten Aufarbeitung des Kosovo-Krieges und
seiner Legitimation auseinander setzt. Wir treten dafür
ein, dass sich die Bundeswehr unter keinen Umständen in
einen weiteren Angriffskrieg hineinziehen lässt.


(Zuruf von der SPD: Wieso „weiteren“?)

Auch wenn Sie es nicht gerne hören: Die Debatte über die
Berechtigung und Legitimation des Luftkrieges gegen
Jugoslawien muss weiter geführt werden. Das Prinzip
des Staatsbürgers in Uniform verlangt von den Soldaten,
nicht nur passive Befehlsempfänger zu sein, sondern sich
auch Gedanken über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu
machen. In dem Bericht wird darauf hingewiesen. Ich
denke, wir sollten mit der heutigen Debatte diesen Bericht
nicht ad acta legen, sondern ihn ganz ernst nehmen und
die einzelnen Fragen nicht nur im Verteidigungsaus-
schuss, sondern auch im Parlament immer wieder auf-
greifen.

Die Wehrpflicht ist längst obsolet – ich kann mich
dem Kollegen Braun nur anschließen. Dies gilt ebenso für
die unterschiedliche Besoldung in Ost und West. Ich
hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie sich nicht
länger dieser gesellschaftspolitischen Debatte, die drin-
gend geführt werden muss, verschließen werden.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417321200
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Gerhard Neumann.


Gerhard Neumann (SPD):
Rede ID: ID1417321300
Herr Präsident!
Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Auswertung und die Diskussion der Berichte der
Wehrbeauftragten im Bundestag besitzen eine hervorra-
gende Tradition. Die Transparenz, mit der die Probleme
unserer Soldaten stets öffentlich behandelt wurden, hat

sehr entscheidend zum Ansehen unserer Streitkräfte in der
Bevölkerung beigetragen. Die wohltuende Sachlichkeit
des neuen Wehrbeauftragten Willfried Penner hat den Be-
richt 2000 spürbar geprägt. Wir bedanken uns auch ganz
herzlich bei den Abteilungsleitern und Mitarbeitern für
diesen Bericht.


(Beifall im ganzen Hause)

Es ist ja immer eine Sisyphusarbeit.

Rechtsextremismus, Drogen, Menschenführung, Män-
gel bei der Ausrüstung oder der medizinischen Versor-
gung stehen stellvertretend für die Vielzahl der angespro-
chenen Probleme.

Die Schwerpunkte des Jahresberichts müssen in das
gesellschaftliche Umfeld eingeordnet werden. Die Bun-
deswehr ist in einer Phase einschneidender Veränderun-
gen. Ihre Aufgabe hat sich grundlegend geändert. Gestat-
ten Sie mir, einige wenige Punkte herauszugreifen.

Die Plage des Rechtsextremismus hat auch vor den
Kasernentoren nicht Halt gemacht. Das haben wir von al-
len gehört. Es ist aber keine Krisenerscheinung der Bun-
deswehr, sondern eine anhaltende, aus der Gesellschaft
kommende Gefahr. Ständige Vorsorge ist geboten. Hier-
bei ist die wertorientierte Erziehung der Soldaten ent-
scheidend. Achtung der Menschenwürde, Achtung des
anderen und Toleranz sind Grundüberzeugungen, die im-
mer wieder neu zu vermitteln sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundeswehr kann vieles, aber nicht alles. Sie kann
mithelfen, Versäumtes nachzuholen.

Meine Damen und Herren, der Bericht spiegelt in vie-
len Abschnitten die Versäumnisse der politischen
Führung im vergangenen Jahrzehnt wider. Die vielfach
beklagte Reformunfähigkeit der Regierung Kohl hat auch
bei der Bundeswehr tiefe Spuren hinterlassen.


(Beifall bei der SPD)

Europa hat sich in den letzten zehn Jahren politisch und

militärisch so rasant zum Wohle der Völker verändert wie
in keiner geschichtlichen Phase zuvor. Aber die Bundes-
wehr ist fast die alte geblieben. Aufgabe, Struktur, Aus-
rüstung, Bildung – alles war geblieben, nur die Panzer aus
dem Osten waren weg. Das erleben wir nun schon zehn
Jahre lang.

Rudolf Scharping hat als Verteidigungsminister – wie
schon im Kosovo-Konflikt – entschlossen und zügig ge-
handelt. Am 1. Juni 2000 wurde die Lagebeurteilung ab-
geschlossen. Bereits zum 9. Oktober wurde, hieraus ab-
geleitet, die neue Grobstruktur als Diskussionsgrundlage
entwickelt.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Und jetzt ist sie im Eimer!)


Am 29. Januar dieses Jahres konnte der Öffentlichkeit die
Feinplanung präsentiert werden, und das mit den Minis-
terpräsidenten abgestimmt. Die tarifrechtliche Vereinba-
rung für die Zivilbeschäftigten ist erfolgt. Das Konzept




Heidi Lippmann

17005


(C)



(D)



(A)



(B)


steht. Es ist gut und es ist bezahlbar, auch wenn es schwie-
rig wird.


(Beifall bei der SPD)

Gefragt ist der Wille zur Umsetzung, nicht das Zerre-

den.

(Beifall bei der SPD)


Im Klartext: Die Reform der Bundeswehr darf nicht zur
Standortdebatte verkommen. Nein, es geht darum, unsere
Streitkräfte den neuen politischen und technischen Anfor-
derungen anzupassen, und das fest eingebunden in die
NATO und die Krisenreaktionsstreitkräfte der EU.

Die Anforderungen an die Bundeswehr der Zukunft
sind mit einfachen Worten zu beschreiben: weniger Sol-
daten, aber viel beweglicher und den neuen Aufgaben ent-
sprechend sachgerecht ausgerüstet, gut ausgebildet und
versorgt; mehr vorbeugende Aufklärung und weniger
Hineinstolpern in Krisen sowie effizientere Zusammenar-
beit der Europäer auch bei neuen Waffensystemen. Diese
konsequente Ausrichtung auf die Zukunft schafft Klar-
heit, motiviert Soldaten und Führung, macht den oft
schweren Dienst leichter, beugt jugendlichem Unsinn vor.

Zum Schluss noch ein Satz zum erlebten Reformstau.
Wir debattieren in klimatisierten Räumen. Unsere Solda-
ten im Kosovo rufen nach Hemden mit kurzen Ärmeln
und Schuhwerk, welches den klimatischen Bedingungen
entspricht. Sie können es auf Seite 20 des Berichts
nachlesen. Dieses kleine Beispiel sollte uns zu bedenken
geben, wie schwer wir uns reformieren, vom Altherge-
brachten trennen, selbst von winterfesten Uniformen und
einer eingespielten Beschaffungsbürokratie.

Der Bericht macht sehr deutlich, dass das vom Vertei-
digungsminister in Angriff genommene Programm zur
Erhöhung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräf-
ten weiterhin höchst aktuell ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber am Geld scheitert!)


Die Auflösung des Beförderungsstaus, verbesserte beruf-
liche Perspektiven und Standortklarheit sind sowohl für
die Nachwuchsgewinnung als auch für die Motivation der
Soldaten von zentraler Bedeutung.


(Peter Zumkley [SPD]: Richtig!)

Seit dem 1. Januar dieses Jahres stehen den Frauen bei

persönlicher Eignung alle Wege bei den Streitkräften of-
fen. Die Medien haben über den Start ausführlich berich-
tet. Die Frauen hoffen nun auf mehr Normalität. Wir soll-
ten den gelungenen Start als Anerkennung für die Frauen
werten, die sich dieser schweren Aufgabe stellen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Nun zu einem anderen Aspekt.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417321400
Herr Kol-
lege Neumann, Sie müssen jetzt leider zum Schluss kom-
men. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.


Gerhard Neumann (SPD):
Rede ID: ID1417321500
Okay. – Ich
wollte zum Schluss andeuten, dass es gerade bei der Bun-
deswehr – wir haben das gehört – hinsichtlich der Bezah-
lung nach Ost/West-Tarif, aber auch hinsichtlich der
Auftragslage noch sehr viele Dinge gibt, die verbessert
werden müssen.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Avanti dilettanti!)

Meine Worte am Schluss sollen nicht den Blick für das

Ganze trüben. Der Bericht in seiner Gesamtheit zeigt: Wir
sind auf dem richtigen Weg. Einiges kann man jedoch
noch besser, zielgerichteter machen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417321600
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht der Kollege Hans Raidel
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Werner Siemann [CDU/CSU]: Jetzt kommt der bayerische Geist!)


Hans Raidel (CDU/CSU) (von Abgeordneten der
CDU/CSU mit Beifall begrüßt!): Herr Präsident! Herr
Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Sie gestatten mir, dass ich zuerst Ihnen, Herr Wehr-
beauftragter, zu Ihrem 65. Geburtstag herzlich gratuliere.


(Beifall – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Vorhin war es der 60.! – Peter Zumkley [SPD]: Das ist der gute Jahrgang 1936!)


Der Bericht des Wehrbeauftragten ist wie immer ob-
jektiv, nüchtern und professionell abgefasst und damit für
uns eine sehr gute Arbeitsgrundlage. Von allen Seiten,
auch vonseiten des BMVg, wurde festgestellt, dass dieser
Bericht ernst genommen werden sollte. Ich betrachte ihn
als eine Arbeitshilfe, quasi als einen Leitfaden in bester
Erfüllung der bewährten Grundsätze der inneren Führung.

Aber lieber Herr Staatssekretär, gerade Ihnen, der Re-
gierung, der Koalition von Rot-Grün müssten bei dem
Vortrag des Wehrbeauftragten doch die Ohren geklungen
haben. Eigentlich war es eine reine Anklage über die Ver-
säumnisse, die von Ihnen zu verantworten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Mängelbericht! – Peter Zumkley [SPD]: Sie haben uns das doch alles hinterlassen!)


Als Sie angetreten sind, haben Sie gesagt, Sie wollten
zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Was ist
in Ihrer Regierungszeit daraus geworden – Kollege
Siemann und andere haben es eindeutig und eindrücklich
geschildert –:


(Peter Zumkley [SPD]: Aber trotzdem nicht zutreffend!)


Sie sind dabei, die Bundeswehr in einen Zustand zu ver-
setzen, in dem sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann.




Gerhard Neumann (Gotha)

17006


(C)



(D)



(A)



(B)


Sie demotivieren die Angehörigen der Bundeswehr, ins-
besondere die Soldaten, die bei KFOR und bei SFOR
ihren schweren Dienst leisten müssen. Lesen Sie doch
einmal den Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts
der Bundeswehr genau. Darin steht genau alles das, was
der Herr Wehrbeauftragte gesagt hat und was wir Ihnen
vorhalten.

Der Herr Staatssekretär hat für die Regierung die
Dinge flugs umgekehrt und versucht, ins gleiche Horn zu
stoßen, quasi damit man es nicht merkt. Dabei hätten Sie
bei den Haushaltsberatungen für 2002 doch wirklich
die Gelegenheit, die Situation umzukehren, der Bundes-
wehr wieder die richtige Perspektive zu geben.


(Peter Zumkley [SPD]: Das machen wir auch!)

– Hoffentlich; wir warten darauf.


(Peter Zumkley [SPD]: Wir sprechen uns noch!)


Wir werden Sie, Herr Kollege Zumkley, bei den Haus-
haltsberatungen an dieser Aussage messen. Wir werden
wahrscheinlich wieder feststellen müssen: Außer heißer
Luft ist nicht allzu viel gekommen.


(Peter Zumkley [SPD]: Warten wir es ab!)

Wir bedauern mit Ihnen persönlich, dass die Lage so ist,
wie sie ist. Bitte strengen Sie sich mehr an, um hier eini-
ges zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun noch einmal direkt zum Bericht: Wenn der Wehr-

beauftragte unter Ziffer 1.3 eine häufig fehlerhafte und
verzögerte Bearbeitung von Überprüfungsersuchen
feststellen muss, dann ist das doch ein ernst zu nehmen-
der Vorwurf an das BMVg. Die Bearbeitung mancher Vor-
gänge dauert über ein Jahr, so steht es wörtlich im Bericht.
Ich möchte darauf hinweisen: Die Missachtung des Wehr-
beauftragten ist auch eine Missachtung des Parlaments.

Das setzt sich fort: Ich habe vor einer Stunde vom Kol-
legen Breuer die Stellungnahme des Bundesministers
der Verteidigung zum Jahresbericht des Wehrbeauftrag-
ten, datiert vom 18. Mai dieses Jahres, bekommen. Kein
Mensch konnte lesen, was die Regierung wirklich zu den
Vorwürfen des Wehrbeauftragten meint. Das ist doch
nicht die gute Zusammenarbeit, die hier ständig be-
schworen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir in unserer
gemeinsamen Arbeit brauchen.

Ich möchte nur noch ein einziges Thema ansprechen
– denn meine Redezeit ist schon fast abgelaufen –: die
Frage der Auslandsverwendung unserer Soldaten. Ich
behaupte – sicher mit Ihrem Einverständnis –, das Re-
nommee der Bundeswehr und damit auch das Deutsch-
lands hängt von diesem Auslandsdienst entscheidend mit
ab, es wird von ihm mitgeprägt. Ich meine, dass hier die
Laufbahnbetrachtungen besondere Beachtung verdienen.
Derzeit entsteht wirklich der Eindruck, als wären die Sol-
daten im Auslandseinsatz abgehängt, als wäre der Aus-

landsdienst ein Nachteil und als würde man ihn häufig als
Abschiebeposten betrachten.

Wir waren vor kurzem mit unserer Gruppe in Wash-
ington und in El Paso. Die dortigen Personalvertretungen
unserer Soldaten und Zivilangestellten haben uns schrift-
lich mitgegeben, dass wir diese Dinge anlässlich der Dis-
kussion über den Bericht des Wehrbeauftragten zur Spra-
che bringen sollen. Das tun wir hiermit. Ich bitte Sie, Herr
Wehrbeauftragter, sich all dieser Fragen anzunehmen, da-
mit es hier nicht heißt: „Aus den Augen aus dem Sinn“,
sondern damit auch hier vernünftige Rahmenbedingun-
gen geschaffen werden.

Ich möchte noch auf ein wichtiges Thema hinweisen:
Die kommunalen Mandate dürfen durch die Neufassung
des Soldatengesetzes nicht eingeschränkt werden.


(Zuruf von der SPD: Werden sie auch nicht!)

Der Herr Wehrbeauftragte hat festgestellt, er wird die
Entscheidungspraxis genau verfolgen. Dazu möchte ich
Sie herzlich ermuntern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter Zumkley [SPD]: Das läuft schon jetzt sehr positiv!)


Das Gleiche gilt für die Umsetzung des Soldatenbe-
teiligungsgesetzes. Es darf doch nicht sein, dass in dem
Bericht stehen muss, dass Vorgesetzte offensichtlich im-
mer wieder versuchen, die Stellung der Vertrauensperso-
nen zu schwächen, anstatt sie zu stärken.


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Denn diese Vertrauenspersonen sind ein Aktivposten für
die Bundeswehr. So wie das in dem Bericht zu lesen ist,
gereicht das gerade zum Nachteil.


(Peter Zumkley [SPD]: Deswegen das Betriebsverfassungsgesetz!)


Meine Damen und Herren, die Umstrukturierung der
Bundeswehr ist sicherlich eine Umbruchsituation mit vie-
len Unwägbarkeiten. Herr Wehrbeauftragter, der politi-
sche Schlagabtausch ist natürlich nicht Ihre Aufgabe. Aber
in Reformzeiten haben Sie Ihr wichtiges Amt besonders
umfassend wahrzunehmen, damit – trotz aller Notwendig-
keit im Einzelfall – die Sozialverträglichkeit aller durch-
geführten Maßnahmen nicht zu kurz kommt, der Soldat
also mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt bleibt.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417321700
Ich denke,
das war ein guter Schlusssatz, Herr Kollege Raidel.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1417321800
Herr Wehrbeauftragter, ich
bitte Sie herzlich: Mischen Sie sich ein, nehmen Sie Stel-
lung und erheben Sie mahnend Ihr Wort, vor allem dort,
wo die Politik und die Führung der Bundeswehr unfähig
erscheinen oder nicht handeln wollen! Letzteres war an
die Koalition gerichtet.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417321900
Jetzt muss
ich mahnend mein Wort erheben, Herr Kollege Raidel. Ich
muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.




Hans Raidel

17007


(C)



(D)



(A)



(B)



Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1417322000
Seien Sie hartnäckig und
unbequem! Wir unterstützen Sie.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1417322100
Ich schließe
die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5400 an den Verteidigungsausschuss vor-
geschlagen. Das Haus ist damit einverstanden? – Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Rainer Funke,
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordne-
ten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stif-
tungszivilrechts (Stiftungsrechtsreformgesetz)

– Drucksache 14/5811 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

Die vorgesehenen Rednerinnen und Redner Alfred
Hartenbach und Jörg Tauss, SPD, Dr. Wolfgang Freiherr
von Stetten, CDU/CSU, Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/
Die Grünen, Rainer Funke und Hans-Joachim Otto1),
F.D.P., Professor Dr. Heinrich Fink, PDS, sowie für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Professor Dr. Eckhart Pick vom Bundesjustizministerium
geben ihre Reden zu Protokoll2).

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/5811 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Anderweitige
Vorschläge liegen nicht vor. – Die Überweisung ist so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-
punkt 8 auf:
10. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-

gierung
Lebenslagen in Deutschland
Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung
– Drucksache 14/5990 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier,
Dr. Klaus Grehn, Monika Balt, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der PDS
Konsequenzen aus dem Armuts- und Reich-
tumsbericht ziehen
– Drucksache 14/6171 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

Für die Debatte ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen.
– Das Haus ist einverstanden.

Ich gebe zunächst für die Bundesregierung der Parla-
mentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für
Arbeit und Sozialordnung, Kollegin Ulrike Mascher, das
Wort.

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1417322200
Herr Präsident!
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Bundesregierung
hat die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
zu einem Schwerpunkt ihrer Politik gemacht. Im April die-
ses Jahres hat das Bundeskabinett den Bericht „Lebensla-
gen in Deutschland – Der erste Armuts- und Reichtums-
bericht der Bundesregierung“ verabschiedet, der dem
Deutschen Bundestag heute zur Beratung vorliegt. Die
Bundesregierung hat damit erstmals der Notwendigkeit
Rechnung getragen, dass auch ein entwickelter Industrie-
staat wie Deutschland detaillierte Kenntnisse über die so-
ziale Wirklichkeit, über Armut in einem reichen Land, als
Grundlage politischen Handelns braucht.

Die Bundesregierung hat mit der Vorlage des ersten Ar-
muts- und Reichtumsberichts den Grundstein für eine Be-
richtserstattung gelegt, die seit langem vor allem von Kir-
chen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, aber auch
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen immer wieder ge-
fordert worden ist und in einigen Bundesländern und vie-
len Kommunen schon realisiert wird.

Und damit keine Missverständnisse entstehen: Der Be-
richt ist keine politische Eintagsfliege. Er ist vielmehr der
Einstieg in einen kontinuierlichen Prozess der Bericht-
erstattung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(C)



(D)



(A)



(B)


1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor
2) Anlage 2

Dieser Prozess wird durch die Aktivitäten der Bundes-
regierung auf anderen Ebenen ergänzt, zum Beispiel den
„Nationalen Aktionsplan gegen soziale Ausgrenzung“,
der von der Bundesregierung noch im Juni dieses Jahres
der EU vorgelegt wird und der in engem Zusammenhang
mit der Armuts- und Reichtumsberichterstattung steht.

Der erste Bericht beschreibt umfassend die soziale
Lage in Deutschland von den 80er-Jahren bis zum Jahr
1998; denn bis zu diesem Zeitpunkt liegen uns auswert-
bare Daten vor. Der Bericht bietet zahlreiche wichtige Da-
ten und Fakten, die in dieser Bündelung und Zusammen-
stellung eine neue Qualität darstellen. Die in dieser Form
erstmalig in einem Bericht der Regierung dargestellten
Zusammenhänge sollen kein Zahlengrab sein, sondern ein
weiterer Ansporn, politische Maßnahmen zu ergreifen,
um die Chancen und Möglichkeiten des Einzelnen zu stär-
ken, damit er sein Leben aus eigener Kraft bewältigen
kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat sich beim ersten Bericht be-
wusst auf das Machbare beschränkt und nicht versucht,
den Eindruck zu erwecken, als könne allein ein Armuts-
und Reichtumsbericht schon die Lösung aller Probleme
bringen. Die Reaktionen auf den Bericht haben uns in die-
ser pragmatischen Vorgehensweise bestätigt.

Der Bericht akzeptiert, dass sich die Begriffe „Armut“
und „Reichtum“ wegen ihrer Vielschichtigkeit einer all-
gemein gültigen Definition entziehen. „Armut“ und
„Reichtum“ bezeichnen vielmehr die Extreme der Wohl-
standsverteilung in unserer Gesellschaft.

Daher verwendet der Bericht einen pluralistischen Ar-
mutsbegriff, der Unterversorgungslagen aus verschiede-
nen Perspektiven betrachtet. Armut wird unter einer Reihe
von Gesichtspunkten beschrieben, etwa dem der relativen
Einkommensarmut, der gesundheitlichen Einschränkun-
gen, der schwierigen Familienverhältnisse, dem Leben in
sozialen Brennpunkten in Großstädten, der Obdachlosig-
keit oder der Überschuldung – entsprechend dem in der
Armutsforschung entwickelten Lebenslagenkonzept.

Im Hinblick auf den Reichtumsbegriff fehlen, auch we-
gen des erst in Ansätzen entwickelten Forschungsstandes,
klare Definitionen und Abgrenzungen. Deshalb und we-
gen der sehr begrenzten Datenlage beschränkt sich der
Bericht hier vernünftigerweise auf eine beschreibende
Darstellung der Einkommens- und Vermögensverteilung.
Aber allen Beteiligten ist klar, dass hier erhebliche
Lücken in der Erfassung, in der Feststellung dessen, was
Reichtum in unserer Gesellschaft bedeutet, zu schließen
sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aufgrund des relativ begrenzten Zeitrahmens, der zur
Verfügung stand, unterlag der Bericht gewissen Grenzen
und Beschränkungen. Auch wir wissen um die „blinden
Flecken“, die es aufzuhellen gilt. Einen habe ich im Zu-
sammenhang mit der Reichtumsberichterstattung schon
genannt.

Jenseits der monetären Dimensionen von Armut und
Reichtum steht die Berichterstattung noch am Anfang. Für
die Zukunft sind vor allem eine Verbesserung der Daten-
lage, der Methoden der Messung von Armut und Reichtum
und eine Weiterentwicklung des Lebenslagenkonzeptes
notwendig. Hierzu wurden von der Bundesregierung be-
reits Forschungsprojekte auf den Weg gebracht. Hier ste-
hen wir, auch nach der Fertigstellung des ersten Berichtes,
weiterhin im ständigen Dialog und im Austausch mit den
Wissenschaftlern, die an diesem Bericht mitgearbeitet ha-
ben.

Der Bericht ist das Ergebnis eines intensiven Diskus-
sions- und Beratungsprozesses mit gesellschaftlichen
Gruppen und Organisationen, der bereits Anfang 1999 be-
gonnen wurde. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können,
dass sich die nationale Armutskonferenz und Herr Profes-
sor Specht ganz intensiv an dieser Arbeit beteiligt haben.
Wir haben ja hier einmal eine Diskussion darüber geführt,
ob sich Herr Professor Specht und die Armutskonferenz
aus dieser Debatte ausklinken. Das war nicht der Fall.

Der Bericht entstand unter Mitwirkung von Armuts-
und Reichtumsforschern, ohne deren Unterstützung die
Realisierung eines solch anspruchsvollen Projektes kaum
möglich gewesen wäre. Dieser Dialog und die Beratung
durch Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft waren
die Grundlage für die hohe Akzeptanz des Berichtes und
die überwiegend positive Resonanz auch in der Öffent-
lichkeit.

Wir werden diesen offenen und transparenten Bera-
tungsprozess fortführen, denn wir halten ihn für fruchtbar
und notwendig, insbesondere wenn es darum geht, die Be-
richterstattung in der Zukunft weiterzuentwickeln, die
theoretische Fundierung zu vertiefen und zu erweitern,
Datenlücken zu schließen und notwendige Forschungs-
ansätze voranzubringen.

Was sind die für die Politik zentralen Ergebnisse des
Berichtes?

Erstens. Soziale Ausgrenzung gibt es auch in einem
wohlhabenden Land wie Deutschland.

Zweitens. In fast allen Lebensbereichen hat im Zeit-
raum bis 1998 soziale Ausgrenzung zugenommen und die
Verteilungsgerechtigkeit hat abgenommen. Man sollte
sich nicht der Illusion hingeben, dass die Entwicklung des
Öffnens einer Schere kurzfristig, auch durch noch so en-
gagierte Politik, geschlossen werden kann. Wir stehen
hier erst am Anfang einer positiven Entwicklung.


(Beifall bei der SPD)

Drittens. Das wichtigste Armutsrisiko ist und bleibt

Arbeitslosigkeit und, häufig damit verbunden, Niedrig-
einkommen. Wesentliche Ursachen hierfür liegen in feh-
lenden oder unzureichenden Bildungsabschlüssen und in
mangelhafter oder fehlender Ausbildung.

Viertens. Besonders gefährdet – das ist besonders dra-
matisch, aber hier gibt es ja auch schon eine intensive Dis-
kussion; mein Kollege von der SPD-Fraktion wird dazu
auch noch etwas sagen – sind Familien mit Kindern, hier
vor allem Alleinerziehende, Paare mit drei und mehr Kin-
dern und Zuwandererfamilien. Tatsache ist: Wenn auch




Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher

17009


(C)



(D)



(A)



(B)


von den 13Millionen Haushalten mit Kindern in Deutsch-
land die meisten in sicheren materiellen Lebensverhält-
nissen leben, gibt es dennoch Faktoren, die Familien in
Armut bringen können. Dazu gehören Arbeitslosigkeit
oder auch tief greifende familiäre Einschnitte wie Tren-
nung oder Scheidung, die eine gerade noch gesicherte ma-
terielle Situation aus der Balance bringen können. Das
höchste Sozialhilferisiko trugen allein erziehende Frauen.
Für sie ist es schwer, oft unmöglich, Erwerbstätigkeit mit
existenzsicherndem Einkommen und Kindererziehung
miteinander zu vereinbaren.

Der Bericht dokumentiert, welch erheblicher Hand-
lungsbedarf gerade auch im Bereich der Familienpolitik
beim Amtsantritt der Bundesregierung 1998 bestanden
hat. Er zeigt aber auch, dass sich die Bundesregierung die-
ser sozialen Probleme in Deutschland angenommen hat.
Der Bericht stellt dar, welche Maßnahmen die Bundesre-
gierung seitdem verabschiedet bzw. auf den Weg gebracht
hat, um sozialer Ausgrenzung und mangelnder Chancen-
gleichheit in unserer Gesellschaft zu begegnen.

Natürlich sind wir nicht so blauäugig, zu meinen, damit
seien schon alle Probleme gelöst. Armut und soziale Aus-
grenzung resultieren aus einer Vielzahl von Problemlagen,
die nicht von heute auf morgen aufgelöst werden können.

Es muss Schritt für Schritt daran gearbeitet werden,
dass Armut präventiv begegnet wird. Stichworte hierzu
sind Bildung, Ausbildung, eine ausreichende Zahl von Ar-
beitsplätzen und vor allem auch die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Erwerbstätigkeit.


(V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Weiterhin ist es wichtig, dass die Abhängigkeit von So-
zialhilfe abgebaut wird. Stichworte hierzu sind eine aktive
Beschäftigungsförderung und das Ziel, dass die Men-
schen aus eigener Kraft in der Lage sind, ihr Leben zu ge-
stalten und am gesellschaftlichen Leben und am Fort-
schritt teilzuhaben.

Der erste Armuts- und Reichtumsbericht ist eine Be-
standsaufnahme der Gesellschaft im Hinblick auf soziale
Ausgrenzung, die Verteilung von Einkommen und Ver-
mögen, Chancengleichheit und die Möglichkeit der ge-
sellschaftlichen Teilhabe. Mit dem Bericht hat die Bun-
desregierung das Thema Armut und Reichtum aus der
politischen Tabuzone hinausgeführt.

Ich erlaube mir einen Rückblick auf die Diskussion,
die wir heute Morgen geführt haben und in der die Frage
des Art. 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Men-
schen schützt, eine so entscheidende Rolle gespielt hat.
Ich denke, dass Armut in der Bundesrepublik auch eine
Frage ist, die die Würde des Menschen entscheidend
berühren kann. Wenn man sich andere Artikel des Grund-
gesetzes wie Art. 14 vor Augen führt, so stellt auch die
Reichtumsberichterstattung eine verfassungsrechtliche
Frage dar.


(Pia Maier [PDS]: Wohl wahr!)

Armut und Reichtum taugen nicht für eine polemische

Neiddebatte.

(Konrad Gilges [SPD]: Richtig!)


Der Bericht stellt eine Grundlage und das Angebot für
eine sachliche Auseinandersetzung dar. Er ist eine gute
Basis für die Debatte über den besten Weg, wie einem
Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich
entgegengewirkt und der Sozialstaat weiterentwickelt
werden kann. Politik, Wissenschaft, Institutionen und
Verbände sind eingeladen, sich an dieser Debatte intensiv
zu beteiligen. Ich freue mich schon auf den zweiten Ar-
muts- und Reichtumsbericht.

Danke.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie freuen sich darauf?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417322300
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Jürgen
Koppelin das Wort.


(Rolf Stöckel [SPD]: Muss das jetzt sein?)

– Dafür hat der Kollege Heinrich Kolb seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben.1) Ich bitte um Verständnis.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1417322400
Ich mache es auch we-
sentlich kürzer, Herr Präsident.

Frau Staatssekretärin, ich möchte einen Vorgang an-
sprechen, von dem ich meine, dass Sie ihn in Ihrem Hause
einmal überprüfen sollten, besonders nachdem ich heute
einen Brief dazu aus Ihrem Hause erhalten habe.

Nachdem ich Berichten in der Presse entnommen
hatte, dass der Armutsbericht inzwischen vorliegt, habe
ich mich als Parlamentarier selbstverständlich darum
bemüht, auch diesen Bericht zu bekommen. Das war sehr
schwierig, denn Ihr Haus hat wohl 5 000 Exemplare ge-
druckt, die zwar an alle möglichen Leute verteilt wurden,
aber nicht an die Abgeordneten des Deutschen Bundes-
tages.

Ich wollte eigentlich eine Diskussion über den Ar-
mutsbericht im Haushaltsausschuss anregen, um uns be-
reits vorab damit zu beschäftigen; schließlich ist der Be-
richt sehr umfangreich. Das war aber nicht möglich, weil
keinem Mitglied des Haushaltsausschusses dieser Bericht
vorlag, wohl aber der Öffentlichkeit. Als in Ihrem Minis-
terium angerufen wurde, hieß es: Der Bericht ist vergrif-
fen, aber es findet ein Kongress hier in Berlin statt; wenn
Sie jetzt hinfahren, können Sie vielleicht noch ein Exem-
plar bekommen. – Das kann nicht angehen. Das ist nicht
der angemessene Umgang mit dem deutschen Parlament.

Ich bitte darum, künftig dafür zu sorgen, dass alle Mit-
glieder des Deutschen Bundestags ebenfalls den Bericht
erhalten, wenn Sie diesen herausgeben.

Ansonsten sage ich Ihnen: Ich freue mich nicht auf die-
sen Bericht. Wir wollen ihn sorgfältig diskutieren. Aber
Sie freuen sich anscheinend auf diesen Bericht.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
17010


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417322500
Frau
Staatssekretärin zur Erwiderung, bitte schön.

U
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1417322600
Herr Koppelin, ich
bedaure es sehr, dass ausgerechnet Ihnen als Mitglied
– und auch den anderen Mitgliedern – des Haushaltsaus-
schusses der Armuts- und Reichtumsbericht nicht recht-
zeitig zur Verfügung gestellt worden ist. Ich werde mich
gern darum kümmern, dass Sie alle ihn bekommen. Ich
glaube, dass er in der Tat auch dem Haushaltsausschuss
wichtige Hinweise geben kann.

Meine Freude auf den zweiten Armuts- und Reich-
tumsbericht hat sich nicht auf das bezogen, was in diesem
Bericht – jedenfalls was den Aspekt der Armut betrifft –
beschrieben wird, sondern darauf, dass wir hier eine wich-
tige Berichterstattung fortsetzen und dann sehen können,
welche Politikansätze, die in den Jahren seit 1998 von der
Bundesregierung verfolgt worden sind, eine positive Wir-
kung entfaltet haben. Darauf freue ich mich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417322700
Als
nächster Redner hat der Kollege Karl-Josef Laumann von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1417322800
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Wenn man den Armuts- und Reich-
tumsbericht der Bundesregierung liest, dann fragt man
sich zunächst einmal: Warum hat die Bundesregierung
diesen Bericht vorgelegt?


(Peter Dreßen [SPD]: Weil wir das wollten!)

In dem Bericht steht nichts Eigenständiges. Es wurden
keine neuen Erkenntnisse gewonnen und nicht einmal ei-
gene Zahlen verwendet. Es wurden schlicht und einfach
vorhandene Berichte und Studien abgekupfert. Auch hat
man die Begriffe nicht einheitlich definiert. Wer ist in
Deutschland arm? Wer ist reich? Die Regierung zieht
keine konkrete Schlussfolgerung und kündigt in dem Be-
richt keine Maßnahmen an.

Wenn man sich dann die Berichterstattung in den Me-
dien nach der Veröffentlichung dieses Berichtes zu
Gemüte geführt und sie mitverfolgt hat, kommt mir zu-
mindest der Verdacht, dass das BMAmit diesem heiklen
und schwierigen Thema, das für viele Menschen sehr be-
lastend ist, sehr populistisch umgegangen ist und Polemik
betreiben will. Wenn man nämlich die Zeitungen gelesen
und die Fernsehberichte gesehen hat, hätte man den Ein-
druck haben können, dass Armut in Deutschland ein drän-
gendes Problem ist und dass die Menschen in diesem
Land in den letzten Jahren zu einem großen Teil in Armut
abgedriftet sind. Dadurch sind wahrscheinlich wenige
böse Kapitalisten immer reicher geworden.


(Rolf Stöckel [SPD]: Durch Ihre Regierung, Herr Laumann!)


Diese Wertung teile ich nicht. Die Menschen in
Deutschland haben seit Kriegsende eine ständige Meh-

rung ihres Wohlstandes erlebt. Dies gilt nicht nur für ei-
nige wenige, sondern für eine breite Masse.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Nicht für alle!)


Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist allein von
1973 bis 1998 – also überwiegend in den Jahren einer CDU/
CSU-Regierung – von 23 700DM auf rund 61 800DM an-
gewachsen.


(Peter Dreßen [SPD]: Sagen Sie mal, wie die Entwicklung seit 1982 gewesen ist!)


45 Prozent der Haushalte verfügen nach Angaben des Be-
richtes über Immobilienbesitz. Dabei ist die Verteilung
dieses Immobilienbesitzes keineswegs ungleichgewich-
tig, sondern gerade in den Arbeitnehmerhaushalten stark
vorhanden. Die Hälfte der privaten Haushalte, sowohl im
Westen wie auch im Osten, hat inzwischen Aktien. Nicht
umsonst sprechen wir von der Erbengeneration.

Auch ist diesem Bericht zu entnehmen, dass das Pro-
blem der Altersarmut, die früher ein bedrückendes Problem
war, aber heute nur noch 1,3 Prozent der über 65-Jährigen
trifft, durch die Rentenversicherung und die Alterssiche-
rungssysteme weitestgehend gelöst worden ist.

Ich persönlich habe den Eindruck, dass wir einmal da-
rüber reden müssen: Wie definieren wir Armut? Die offi-
zielle Definition ist: Wer weniger als 50 bis 60 Prozent
des durchschnittlichen mittleren Einkommens hat, ist
arm. Dies wird auch in diesem Bericht zugrunde gelegt.


(Konrad Gilges [SPD]: Nein, genau das wird nicht gemacht!)


Das heißt, dass die Armutsgrenze bei 1 462 DM für einen
Alleinstehenden liegt.


(Peter Dreßen [SPD]: Er hat ihn nicht gelesen!)


– Jawohl. – Dies entspricht 50 Prozent des Mittelwertes
aller Äquivalenzeinkommen. Wenn Sie dann einmal einen
Haushalt von zwei Erwachsenen mit vier Kindern zu-
grunde legen, dann sind das immerhin 5 409 DM. Die of-
fizielle Definition des Armutsbegriffs heißt: die Hälfte des
Einkommens im mittleren Bereich der Haushalte. Man
muss einmal darüber reden, ob dies in Zukunft die Defi-
nition für Armut sein kann.


(Konrad Gilges [SPD]: Aber das tut keiner!)

Das Problem ist, dass Sie dann auch in einer sehr wohl-
habenden Gesellschaft immer einen großen Teil an Armut
behalten.

Ein zweiter Punkt, der uns sehr stark beschäftigen
muss, ist, dass wir in Deutschland – das macht der Bericht
deutlich – zwei große Armutsrisiken haben. Die eine Ri-
sikogruppe – die Frau Staatssekretärin hat sie schon an-
gesprochen – sind Alleinerziehende mit Kindern, die an-
dere Gruppe Ehepaare mit mehreren Kindern. Es ist
dringend notwendig, dass wir in unserer Gesellschaft eine
Lobby für mehr Akzeptanz der Familienpolitik in diesem
Land schaffen. Sie sehen in diesen Tagen, wie schwer es
selbst in Ihren eigenen Reihen ist, dafür eine Lobby zu
finden. Ich spreche von Ihrer Bundesregierung. Ich denke,






(C)



(D)



(A)



(B)


dass wir sehr stark darauf achten müssen, die Transfer-
zahlungen für Familien so zu gestalten, dass Kinder nicht
der Grund sind, um auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
Hier haben wir alle eine gewaltige Aufgabe vor uns.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, dass wir ein Weiteres tun müssen. Wir müs-

sen auch in der gesellschaftspolitischen Auseinanderset-
zung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter
propagieren. Für Alleinerziehende ist es die einzige Mög-
lichkeit, aus der Sozialhilfe und damit aus der Armut he-
rauszukommen.

Wir haben viel getan. In den verschiedensten Kommu-
nen hat sich die Kindergartensituation verbessert. Der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist von uns
durchgesetzt worden. In diesem Zusammenhang sind wir
auch von Kommunalpolitikern unserer eigenen Partei, die
diesen Anspruch umsetzen mussten, beschimpft worden.

Wir müssen auch darüber reden, dass über eine verläss-
liche Kindergarten- und Grundschulversorgung hinaus
für die Väter und Mütter verlässliche Arbeitszeiten er-
reicht werden müssen. Sie können ein solches Angebot
nicht organisieren, wenn Sie davon ausgehen, dass die
Menschen rund um die Uhr dem Arbeitsmarkt zur Verfü-
gung stehen müssen. In unserer Gesellschaft muss klar
werden, dass Eltern, wenn sie Familie und Beruf mitei-
nander verbinden sollen, verlässliche Arbeitszeiten brau-
chen.

Es gibt ein weiteres Problem, nämlich die Zahl der
schlecht Ausgebildeten, der Menschen, die keinen Schul-
abschluss haben. Auf diesem Feld hat Ihr JUMP-Pro-
gramm nichts genützt.


(Peter Dreßen [SPD]: Doch! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das war ein Strohfeuer!)


Es gibt Zahlenmaterial, das Auskunft darüber gibt, was
auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt worden ist. Ich
glaube, wir sollten im Rahmen der Diskussion über den
Armutsbericht, der auch an den Sozialausschuss überwie-
sen wird, ebenso über die Effizienz der Maßnahmen, die
wir für die Betroffenen anbieten, nachdenken.


(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Wir sollten einmal überlegen, ob die Grundstruktur der

Sozialhilfe – eine Geldleistung zu geben, ohne eine Ge-
genleistung einzufordern – richtig ist oder ob wir hier das
Regel-Ausnahme-Verhältnis in der Weise verändern soll-
ten, dass eine volle Leistung eine Gegenleistung zwin-
gend vorschreibt, wenn ein entsprechendes Angebot ge-
macht worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie sich einmal die Aussichten gerade jüngerer

Ausländer auf dem Arbeitsmarkt ansehen, können Sie er-
kennen, dass deren Probleme mit Sprachkenntnissen und
Schulabschlüssen zu tun haben. Wir müssen uns ganz be-
sonders bemühen, diesen Zielgruppen Hilfen anzubieten,
damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Beschäftigung
finden. Das bedeutet vor allem, Ausbildungsbemühungen
zu verstärken.

Durch die Studie des Berichtes ist mir eines deutlich
geworden: Auch in Zukunft bedeutet es für die Menschen
in Deutschland ein großes Armutsrisiko, wenn sie
schlecht ausgebildet sind. Deswegen muss alles daran-
gesetzt werden, die Teilhabe der Menschen durch gute
Ausbildung für fast alle zu ermöglichen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Zustimmung!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417322900
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die
Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417323000
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bun-
desregierung und diese Koalition haben sich eines ge-
traut. Sie haben sich getraut, Daten über Armut und
Reichtum zusammenzutragen. Sie haben es gewagt, Da-
ten ermitteln zu lassen, wovor sich die frühere Regierung
gedrückt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Franz Thönnes [SPD]: Drückeberger!)


Wir haben inzwischen einen Bericht über die Vertei-
lung des Wohlstandes und Daten über die Entwicklung in
diesem Land. Wir haben Daten, die zeigen, wie es mit der
Teilhabe und der Chancengerechtigkeit in diesem Land
aussieht. Wir haben Daten über Reichtum und Armut.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Daten gab es auch vorher schon! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie waren doch gegen die Volkszählung! Wo kommen denn die Daten her?)


Was – damit komme ich zu den Inhalten des Berichts –
sagt uns dieser Bericht? Bisher hieß es: Reich ist man, da-
rüber redet man nicht. Auch über Armut wurde sehr we-
nig geredet. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den
Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Wir alle wissen, wie
lange es gedauert hat, bis wir im Parlament die Gelegen-
heit hatten, darüber zu reden. Es gibt in diesem Land eine
Schere zwischen Armut und Reichtum. Das sind die wich-
tigsten Erkenntnisse.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ja eine ganz neue Erkenntnis!)


Armut in Deutschland hat ein junges Gesicht. Armut trifft
vor allem Kinder und Jugendliche, sie trifft Minder-
jährige.

Sie, Herr Laumann, fragen: Woran misst man Armut?
Natürlich messen wir Armut an den Einkommen in
Deutschland; natürlich geht es den Menschen in diesem
Land heute besser als noch in den 30er-, 40er- oder 50er-
Jahren.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da zieht der Jugendliche bei seinen reichen Eltern aus, macht einen eigenen Haushalt auf und ist dann arm! Oder nicht?)





Karl-Josef Laumann
17012


(C)



(D)



(A)



(B)


Natürlich geht es einem Handwerker in Deutschland bes-
ser als beispielsweise in einem Entwicklungsland; natür-
lich sind die Standards in Deutschland viel höher.

Armut hat aber auch in diesem Land viele Gesichter:
Das fängt an bei der Jeanshose, die ich mir nicht kaufen
kann, beim Kindergeburtstag, den ich nicht ausrichten
kann, und beim Urlaub mit meinen Kindern, den ich mir
nicht leisten kann. Armut fängt auch dort an, wo es um
schulische Bildung und Teilhabegerechtigkeit geht. Ar-
mut fängt also beim soziokulturellen Leben und nicht erst
bei dem Dach über dem Kopf oder dem Sattwerden an.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Da sind wir einig!)


Deshalb müssen wir Armut an den Standards messen, mit
denen wir leben und mit denen unsere Kinder aufwach-
sen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Einverstanden!)


Der Bericht – das möchte ich betonen – hat das Jahr
1998 und nicht das Jahr 2000 als Bezugsjahr. Aber wir ha-
ben schon Daten für das Jahr 2000 und diese Daten be-
stätigen uns, dass diese Regierung und diese Koalition mit
ihrer Politik auf dem richtigen Weg sind, dass sich die
Lage bereits entspannt hat und dass wir für die betroffe-
nen Familien schon einiges getan haben.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die Ökosteuer eingeführt! Die Inflation angeheizt!)


Ich möchte Ihnen eine Zahl nennen. Der Lebensstandard
von Familien mit Kindern ist um 30 Prozent niedriger als
der von Familien ohne Kinder. Deshalb haben wir gerade
für die Familien mit Kindern etwas getan. Zum Beispiel
haben wir die Debatte über die Kindergelderhöhung diese
Woche in der Presse gehabt. Damit sind wir auf dem rich-
tigen Weg: Wir werden und müssen diese Politik fortset-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu einer überzeugenden Politik gehört aber noch mehr.
Dazu gehören zum Beispiel Maßnahmen zur Vereinbar-
keit von Beruf und Familie, die Sicherung von Infrastruk-
turleistungen zur Steigerung der Erwerbschancen insbe-
sondere von Frauen – ich denke zum Beispiel an die
Kinderbetreuung –, die Modernisierung der Berufswelt,
in der flexible Instrumente wie Teilzeitarbeit, Jobrotation
oder auch Erziehungszeiten, in denen Frauen zu Hause ar-
beiten können, möglich sind, Qualifizierungsmaßnahmen
für die Frauen und Männer, die sich für eine Erziehungs-
pause entschieden haben und danach wieder in den Beruf
einsteigen wollen, die Öffnung des Arbeitsmarktes und
eine richtige Bildungspolitik. All diese Maßnahmen
gehören zur Armutsbekämpfung.

Wenn wir darüber diskutieren, dürfen wir aber eines
nicht machen, nämlich die einzelnen Instrumente gegen-
einander ausspielen. Wir dürfen also nicht zum Beispiel
nur über Infrastruktur oder nur über eine finanzielle Ent-
lastung der Familien debattieren; vielmehr brauchen wir

beides, und zwar gezielt. Nicht hingegen brauchen wir ei-
nen Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion mit utopischen
Ansätzen, die Visionen in 20 oder 30 Jahren darstellen
mögen, jetzt aber nicht umgesetzt werden können. Das
betrifft zum Beispiel Ihre 1 200 DM Familiengeld, das pro
Jahr 60 Milliarden DM kosten würde. So etwas führt in
der Debatte nicht zum Ziel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/ CSU]: Ist trotzdem die richtige Antwort!)


Wir von der grünen Fraktion haben mit der Kinder-
grundsicherung eine kurzfristig umsetzbare und ziel-
führende Maßnahme vorgeschlagen, um insbesondere die
Kinderarmut zu bekämpfen. Denn eine Erkenntnis aus
dem vorliegenden Bericht ist, dass es in diesem Land Men-
schen gibt, die voll berufstätig sind und trotzdem in der Ar-
mutsfalle stecken. Diese Menschen verdienen trotz Voll-
zeiterwerbstätigkeit nämlich so wenig, dass sie immer
noch als arm gelten müssen. Gerade für diese Menschen,
die in den Bereich „working poor“ – um dieses Wort ein-
mal zu verwenden – fallen, wollen wir gezielte Maßnah-
men ergreifen. Das ist eine wichtige Herausforderung.

In dieser Debatte gehören für mich zwei Dinge zusam-
men. Das Erste betrifft die Darstellung der Lebenslagen in
Deutschland. Der Bericht beweist uns, dass wir diese
Art der Berichterstattung auch in den kommenden
Legislaturperioden fortsetzen müssen, weil wir Daten
brauchen, um darüber ernsthaft reden zu können.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Vor allem Handeln ist dann wichtig!)


Zum Zweiten brauchen wir Menschen, die aus diesem
Bericht Erkenntnisse gewinnen, um darauf aufbauend po-
litische Maßnahmen und Prioritäten zu entwickeln. Dafür,
Herr Laumann, sind nicht die Verfasser des Berichtes zu-
ständig, sondern wir alle. Die Erkenntnisse über die not-
wendige Politik müssen hier bei uns gewonnen werden
und nicht in dem wissenschaftlichen Gremium, das damit
befasst war, diesen Bericht zu entwickeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme nun zu meinem letzten Satz, da meine Re-
dezeit abgelaufen ist. Ich möchte mich bei all den nam-
haften Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und
bei allen Vereinen, Verbänden und Organisationen bedan-
ken, die es ermöglicht haben, dass dieser Bericht in einer
rasanten Geschwindigkeit erstellt werden konnte. Ihnen
gebührt der Dank dafür, dass der Bericht überhaupt ent-
standen ist. Diese gute Zusammenarbeit sollten wir in Zu-
kunft fortsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mein allerletzter Satz richtet sich an Herrn Koppelin.
Wir sind eine moderne Regierung.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Erst jetzt?)

Sie finden diesen Bericht im Internet auf der Homepage,
und zwar nicht erst jetzt, sondern bereits seit zwei Wo-
chen. Die Presse hat ihn nämlich aus dem Internet. Dort




Ekin Deligöz

17013


(C)



(D)



(A)



(B)


können Sie auch einmal hineinschauen; denn Sie haben
einen Internetzugang in Ihrem Büro.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das, was Sie erzählen, ist völlig falsch!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417323100
Der Kol-
lege Dr. Heinrich Kolb von der F.D.P.-Fraktion hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich denke, Sie sind damit
einverstanden.

Wir kommen dann zur Rede der Kollegin Pia Maier
von der PDS-Fraktion.


Pia Maier (PDS):
Rede ID: ID1417323200
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Bei Erscheinen des Armuts- und Reichtumsbe-
richtes hat Robin Lautenbach in der ARD gesagt – ich zi-
tiere –: „Man muss nicht Kommunist sein, wenn man
angesichts der krassen Verteilung von Armut und Reich-
tum an das Grundgesetz erinnert, in dem es heißt, Eigen-
tum verpflichtet.“


(Beifall bei der PDS)

Aber nur die PDS fordert, Konsequenzen aus dem Ar-
muts- und Reichtumsbericht zu ziehen, die über Ihre po-
litischen Ansätze hinausgehen.

Wer hierzulande arm ist, der ist ausgeschlossen von der
Leitkultur des Landes, nämlich davon, Geld ausgeben zu
können. Als zentrale Ursache für Armut benennt der Ar-
muts- und Reichtumsbericht völlig richtig die Arbeitslo-
sigkeit. Sie versuchen im Augenblick, mit vielen kleinen
Maßnahmen die Situation etwas zu verbessern. Aber an
die Strukturen, die Arbeitslosigkeit entstehen lassen, und
an einen grundsätzlich großen Wurf wagen Sie sich nicht
heran.

Als Ursachen für Arbeitslosigkeit benennt der Bericht
vor allem Bildungsstatus und Familiensituation. Aber ein
Zusammenhang zwischen diesen vielen einzelnen Ele-
menten wird nicht hergestellt. Und es wird nicht nach den
Ursachen gefragt. Warum ist denn der Bildungsstatus
vieler Menschen so niedrig, dass sie keine Chancen auf
dem Arbeitsmarkt haben? Warum sind es ausgerechnet
immer diejenigen, die aus bildungsfernen Schichten und
aus armen Elternhäusern kommen und die diesen Lebens-
weg selber wieder gehen müssen? Genetisch bedingte
Dummheit käme auch in besseren Familien vor. Struktu-
ren wie schlechte Schulausstattung, Lehrermangel und
wenig Kindergartenplätze finden sich in Gegenden mit
hoher Armut. Solche Zusammenhänge werden in diesem
Bericht nicht in den Blick genommen.

Sie setzen die Politik, die bis 1998 gemacht wurde und
die sich in diesem Bericht widerspiegelt, fort und ver-
schärfen die Gegensätze in der Bevölkerung noch weiter.


(Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt nicht! Das ist objektiv falsch! Sie als Linke sind an objektive Kriterien der Ökonomie gebunden! Halten Sie sich mal daran!)


– Herr Gilges, es wird eine Fortsetzung dieses Berichtes
geben. Die Schere ist weit auseinander gegangen. Mit ei-
ner Erhöhung des Kindergeldes um 30 Mark werden Sie
diese Schere so schnell nicht wieder schließen.

Sie machen mit der Politik der Haushaltskonsolidie-
rung, die Sie in den Mittelpunkt stellen, weiter, statt mit
Investitionsprogrammen Arbeitsplätze zu schaffen. Sie
sorgen nicht dafür, dass die Kommunen wieder Geld in
ihren Kassen haben, damit sie Gebühren nicht weiter er-
höhen und Sozialtarife nicht weiter streichen müssen.
Sie verzichten auf Steuereinnahmen, die die Lage derer,
die es am nötigsten hätten, verbessern könnten. Mit der
Einführung eines privaten Anteils bei der Rente geben
Sie durch das Sonderabzugssystem höheren Einkom-
men mehr als geringen; das hätte man anders gestalten
können. Wer sich keine Privatvorsorge leisten kann,
wird noch ärmer. Rentenbeiträge für Arbeitslose wur-
den gesenkt. Durch diese Politik entstehen die Armen
von morgen, die Sie dann in Ihren Bericht aufnehmen
müssen.

Über die Zusammenhänge von Armut und Reichtum ist
in diesem Bericht nichts zu erfahren. Die Bundesregie-
rung geht gemäß Statistischem Bundesamt zwar von
27 230 Bruttoeinkommensmillionären aus. Aber hier han-
delt es sich um zu versteuernde Einkommen. Glauben Sie
wirklich, dass die jede verdiente D-Mark beim Finanzamt
angeben? Hohe Einkommen sind gestiegen. Das Realein-
kommen pro Kopf ist in den letzten Jahren nicht gestie-
gen. Solche Zusammenhänge kann man zwar dem vorlie-
genden Armuts- und Reichtumsbericht entnehmen, wenn
man sich durch 700 Seiten gelesen hat. Aber klare Zu-
sammenhänge werden nicht hergestellt.

Über den Reichtum, „das scheue Reh“, wird in dem
Bericht festgestellt, dass er „wichtige Funktionen in un-
serer Gesellschaft, im ökonomischen, sozialen und kultu-
rellen Bereich, hat. Es bedarf daher eines ausgewogenen
gesellschaftlichen Diskurses darüber, wozu der Reichtum
dient“.Wozu Reichtum dienen soll, können Ihnen Sozial-
hilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arbeits-
lose, „working poor“ und Alleinerziehende ein paar nütz-
liche Tipps geben: ihre Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben zu erhöhen, ihre Armut zu bekämpfen und das Ar-
mutsrisiko Kind auszuschließen. Deswegen muss Reich-
tum begrenzt werden.

Eine Umverteilung von oben nach unten ist die Kon-
sequenz, die man aus dem vorliegenden Bericht ziehen
muss. In unserem Antrag weisen wir auf erste Schritte in
diese Richtung hin. Ohne eine solche Umverteilung ist die
Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu schließen. Wenn
sich die Richtung der Politik nicht ändert und die Prio-
ritäten nicht anders gesetzt werden, dann wird im nächs-
ten Armuts- und Reichtumsbericht nur festgestellt werden
können: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist zwar nicht
kleiner geworden. Aber Armsein unter Rot-Grün ist er-
träglicher, weil man genauer Bescheid weiß.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)





Ekin Deligöz
17014


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 3


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417323300
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf Stöckel
von der SPD-Fraktion.


Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1417323400
Herr Präsident! Meine Kollegin-
nen und Kollegen! Die Debatte hat gezeigt, dass die
Spannweite vom Schreckensszenario bis zur Schönfärbe-
rei reicht, wenn es um die Definition von Armut geht.
Aber die Tatsache, dass Armut als Begriff auch heute noch
im Alltagsbewusstsein verankert ist, deutet darauf hin,
dass Armut eine individuelle Lebenslage ist, die immer im
Verhältnis zu anderen Bedingungen steht, nämlich zum
Zufall des Geburtsortes, des sozialen Lebensumfeldes
und zu dem, was in einer Gesellschaft unter Befriedigung
existenzieller materieller, aber auch ideeller Grundbe-
dürfnisse und was unter Chancengleichheit und Teilhabe
verstanden wird. Ich glaube, dass Sie dem zustimmen und
dass darüber Konsens besteht.

Ich erinnere an den Beitrag der ehemaligen Bundesfa-
milienministerin Nolte anlässlich des Zehnten Kinder-
und Jugendberichtes. Damals bestritt sie, dass es Kinder-
und Jugendarmut in Deutschland überhaupt gibt. Ähnli-
che Kommentare gibt es vor allen Dingen von konserva-
tiver Seite auch zu dem ersten Armuts- und Reichtumsbe-
richt, den eine Bundesregierung – dafür loben wir sie
ausdrücklich – je vorgelegt hat. Otto Schlecht, Vorsitzen-
der der Ludwig-Erhard-Stiftung, hält den Bericht für frag-
würdig und polemisiert zynisch, dass es wohl am besten
sei, wenn alle Menschen niedrige Einkommen hätten, da-
mit es keine Unterschiede gibt. Ich möchte Herrn Schlecht
antworten – er ist zwar nicht hier; aber vielleicht liest er
es nach –: „Wohlstand für alle“ war bekanntlich Ludwig
Erhards erfolgreicher Wahlschlager. Er sollte also als Vor-
sitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung zurücktreten oder
seinen Laden in Harald-Schmidt-Stiftung umbenennen.
Dann passt es wieder.


(Beifall bei der SPD)

Auf jeden Fall sollte er den Bericht einmal lesen; denn

in ihm wird faktisch nachgewiesen, warum Kinder auch
in Deutschland für Familien mit einem Durchschnittsein-
kommen tatsächlich ein Armutsrisiko darstellen. Wenn
Herr Schlecht seine Kreise einmal verlassen und sich dem
Lebensalltag der Menschen in diesem Lande zuwenden
würde, könnte er feststellen, wie viele Familien und ins-
besondere allein erziehende Frauen – darauf ist auch
schon von Herrn Laumann hingewiesen worden – der
neuen Armutsgruppe zuzurechnen sind.

Es gibt eine Infantilisierung der Armut. Ich zitiere an
dieser Stelle noch einmal aus dem Armuts- und Reich-
tumsbericht, um es ganz deutlich zu machen:

Für Kinder hat die Teilhabe an der modernen Markt-
und Konsumgesellschaft eine besondere Bedeutung.
Sie werden als Zielgruppe des Konsumgüter- und
Dienstleistungsmarketing zunehmend umworben.
Kinder erleben, dass die Einschränkung im Konsum
und die Ausgrenzung von Bildungsangeboten daraus
resultieren, dass den Eltern die Möglichkeiten feh-
len, ihre Wünsche und Interessen zu unterstützen.
Armut bedeutet dann für die Persönlichkeitsentwick-

lung von Kindern und Jugendlichen Einschränkung
und Ausgrenzung als fundamentale Erfahrung des
Aufwachsens. Die möglichen Konsequenzen für die
Kinder sind geringes Selbstwertgefühl, Depressivi-
tät, Einsamkeit, Misstrauen, Nervosität, Konzentra-
tionsschwäche und Resignation in Bezug auf beruf-
liche Chancen.

Auch das gehört zur Debatte um die Unverletzlichkeit der
Menschenwürde. Armut wird in dieser Gesellschaft
ebenso wie Reichtum vererbt, der dadurch immer mehr
kumuliert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir echte
Chancengleichheit etwa bei der Bildung wollen – das ist
ja gerade noch einmal beschworen worden –, weil es sich
diese Gesellschaft gar nicht mehr leisten kann, ein Kind
am Rande stehen zu lassen, werden wir neue Instrumente
der Generationengerechtigkeit brauchen, neue Instru-
mente zur sozial gerechten Umverteilung von Lebensres-
sourcen.

Der Bericht macht deutlich, dass die Schere gerade in
der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P. immer wei-
ter auseinander ging. Die Zahl der Einkommensmil-
lionäre ist stetig gestiegen und die der Sozialhilfeempfän-
ger und Arbeitslosen auch. Ist es Sozialneid, infrage zu
stellen, dass es Menschen gibt, die an einem Tag so viel
Einkommen haben – verdienen können sie es ja nicht –,
wie viele andere ihr ganzes Erwerbsleben lang nicht erar-
beiten können? Oder ist diese Infragestellung nicht ein
Verfassungsauftrag auf der Grundlage der Sozialpflich-
tigkeit des privaten Eigentums in Art. 14 Abs. 2 des
Grundgesetzes?

Der CDU-Sozialminister Hans Geisler in Sachsen
streitet das Vorhandensein von Armut ebenfalls ab. Wer
Sozialhilfe empfängt, sei nicht arm. Einkommensunter-
schiede würden Engagement und Leistungswillen för-
dern. Problematisch sei es nur, wenn zustehende Leistun-
gen nicht in Anspruch genommen würden. – Da stimme
ich ihm zu. – Alles andere seien zwischenmenschliche
Probleme, die sich mit Geld nicht lösen ließen. Ich rate der
CDU, das alles auf ein Wahlplakat zu schreiben


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

und dieses dann an den sozialen Brennpunkten unseres
Landes aufzustellen.

Ich habe lange in einem Sozialamt als Schuldnerbera-
ter gearbeitet und dort meine Erfahrungen gemacht.
Strukturelle Benachteiligungen und eine Bürokratie, die
es vielen schwer gemacht hat – in meinem Berufsalltag
habe ich das erlebt –, Rechtsansprüche umzusetzen, wa-
ren die Realität. Der Gesetzestext im § 9 SGB I garantiert
die persönliche Bedarfsdeckung, die Befähigung zur
Selbsthilfe, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft
und die Führung eines menschenwürdigen Lebens. Das
gelingt nur selten, auch wenn die Sozialverwaltung be-
sonders engagiert ist. Das gilt in vielen Fällen, nicht in al-
len, insbesondere für das, was davon bei den Kindern an-
kommt.

Die Wahrheit ist doch: Die meisten Kommunen wären
hoffnungslos verschuldet, mehr, als sie es jetzt sowieso






(C)



(D)



(A)



(B)


schon sind, wenn sie das tatsächlich für alle realisiert hät-
ten, die einen Anspruch darauf haben, weil in Ihrer Re-
gierungszeit so viele Arbeitslose und andere Gruppen in
die Sozialhilfe abgeschoben worden sind.

Wir begrüßen, dass die Erstellung des Armutsbe-
richts fortgesetzt wird. Ich weise darauf hin, dass wir als
SPD-Fraktion eine große Tagung in diesem Hause ge-
macht haben, bei der alle Gruppen – Wohlfahrtsver-
bände, Kirchen, Gewerkschaften und Selbsthilfegrup-
pen – nicht nur den Reichtumsbericht begrüßt haben,
sondern vor allem die dadurch entstandene Initialzün-
dung für eine Diskussion über die Armut und den Reich-
tum in unserer Gesellschaft.

Die Kollegin Deligöz hat auf das hingewiesen, was
unsere Regierung bereits vor dem Erscheinen des Be-
richtes als Gegenmaßnahmen zur Armutsbekämpfung,
vor allen Dingen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,
getan hat. – Ich nenne das Stichwort Familienförderung. –
Deswegen will ich nicht auf alle Maßnahmen zu spre-
chen kommen, zumal ich jetzt auch kaum noch Zeit
habe.

Ich will aber noch einmal unseren Wunsch deutlich
machen, dass auch zukünftig durch eine regelmäßig alle
vier Jahre vorliegende Armuts- und Reichtumsberichter-
stattung der Öffentlichkeit, der Politik, der Verwaltung
und den Fachverbänden Informationen bereitgestellt wer-
den. Diese Kontinuität soll auch dazu beitragen, Probleme
und Handlungsbedarf rechtzeitig zu erkennen. Diese Be-
richterstattung soll als Frühwarnsystem ein angemessenes
und bedarfsgerechtes Reagieren ermöglichen.

In großen Teilen der Öffentlichkeit herrscht nach wie
vor das Verdrängen und das Tabuisieren des Themas Ar-
mut vor. Es gilt, diese Haltung zu durchbrechen und die
Bereitschaft für solidarische Lösungen zu fördern.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417323500
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1417323600
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die ersten Medienberichte über den
Armuts- und Reichtumsbericht gelesen und die Reden der
Vertreter der Koalitionsfraktionen gehört hat, dann hat
man den Eindruck, dass vor allen Dingen ein negatives
Urteil über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte, was die
Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland
anbelangt, gefällt werden soll.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dass es so war, ist nicht wahr!)


Es wird schlichtweg nicht wiedergegeben – der Kol-
lege Karl-Josef Laumann hat es schon vorgetragen –, dass
die durchschnittliche Höhe der Haushaltsnettoeinkom-
men gestiegen ist und dass in den vergangenen Jahrzehn-

ten auch die Vermögensbildung breiter Schichten in her-
vorragender Weise zugenommen hat.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Selbst Konrad Gilges geht es heute besser! Fliesenleger sind zu unserer Zeit reich geworden!)


Ich denke gerade an die Vermögensbildung durch
Wohneigentum. Die CDU/CSU wollte im Rahmen der
Rentenreform die Wohneigentumsbildung als Beitrag zur
Altersvorsorge nachdrücklich verbessern. Dabei haben
Sie von Rot-Grün nicht mitgemacht.

Fr
Ulrike Mascher (SPD):
Rede ID: ID1417323700
Wäre es vor dem Hintergrund der Tatsa-
che, dass Selbstständige die Vermögensbildung zu einem
großen Anteil zum Zwecke der Altersvorsorge vorneh-
men, in einer solchen Untersuchung, die beansprucht,
vollständig zu sein, nicht gerechtfertigt gewesen, auch
das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch
ihre Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zwar
nicht als Vermögen, aber als Rechtsanspruch auf ihre Al-
tersversorgung aufbauen, entsprechend zu würdigen und
zu berücksichtigen? Das fehlt in diesem Bericht.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann sähe schon vieles anders aus!)


Sie sprechen davon, dass die Einkommensspreizung
dramatisch zugenommen habe. Das sei vor allem in der
Zeit, in der CDU/CSU und F.D.P. regiert haben, gesche-
hen. Wenn Sie genau nachgelesen hätten, dann hätten Sie
festgestellt: Die größte Einkommensspreizung gab es in
den Jahren von 1973 bis 1978.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Es gibt noch Damen und Herren, die sich daran erinnern,
wer in dieser Zeit regiert hat.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Helmut Kohl hat Politik für alle gemacht!– Lachen bei der SPD und der PDS – Rolf Stöckel [SPD]: Für alle schwarzen Kassen!)


Frau Kollegin Deligöz war so vermessen, hier zu be-
haupten, seit 1998 habe sich alles zum Besseren gewen-
det. Ich möchte daher auf den Präsidenten des Deutschen
Caritasverbandes, Hellmut Puschmann, hinweisen, der
in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“ zur
Behauptung des Arbeitsministers, seit Antritt der rot-grü-
nen Koalition im Herbst 1998 habe sich die soziale Lage
wieder gebessert, gesagt hat, er könne das so nicht unter-
schreiben und er wolle wissen, woran der Arbeitsminister
das festmache.


(Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Recht hat er!)

Auch ich möchte es gerne wissen.


(Konrad Gilges [SPD]: Er hat es aber nicht verneint!)


Der Armuts- und Reichtumsbericht stellt in der Tat
auch einige bedenkliche Tendenzen heraus. Es ist schon
dargestellt worden, dass kinderreiche Familien eher in die
Abhängigkeit von Sozialhilfe geraten. Eine weitere
bedenkliche Tendenz ist, dass eine mangelnde berufliche




Rolf Stöckel
17016


(C)



(D)



(A)



(B)


Qualifikation die Abhängigkeit von Sozialhilfe begüns-
tigt. Nur, diese Entwicklungen kennen wir weitgehend ei-
gentlich schon aus den bisherigen Untersuchungen. Der
Armuts- und Reichtumsbericht teilt uns in dieser Hinsicht
nichts Neues mit.

Frau Kollegin Deligöz, Sie haben die Familienpolitik
der Bundesregierung angesprochen. Dazu, dass es ab dem
1. Januar 2002 30 DM mehr Kindergeld geben soll, sage
ich: Gerade Ihre Fraktion – das entnehme ich Pressebe-
richten über einen Beschluss ihrer Fraktion – ist mit die-
ser Lösung – sie bleibt an der Untergrenze dessen, was das
Bundesverfassungsgericht vorschreibt – nicht zufrieden.


(Peter Dreßen [SPD]: Die CDU war drunter!)

Das heißt, aus Ihrer Sicht bleibt „nachbessern“ das Un-
wort der rot-grünen Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei der Beschlussfassung über den Auftrag zur Erstel-

lung des Armuts- und Reichtumsberichts im Bundestag
am 27. Januar 2000 habe ich schon ausgeführt, dass es ein
Thema gibt – die CDU/CSU hat eine entsprechende De-
batte beantragt –, das sich wirklich zu untersuchen lohnt.
Das ist das Phänomen der so genannten verdeckten Ar-
mut. Aber gerade zu diesem Punkt stellt dieser Bericht
nichts fest, sondern bleibt im Allgemeinen. Das Thema,
wozu wir bis heute wenig wissen und das man daher hätte
untersuchen können, kommt in diesem Bericht nur un-
genügend vor. Am Schwächsten ist der Armuts- und
Reichtumsbericht also an der Stelle, wo es eigentlich in-
teressant wird.

Frau Staatssekretärin und Herr Staatssekretär, Sie ha-
ben ausdrücklich darauf bestanden, dass kein unabhängi-
ger Expertenbericht vorgelegt wird, sondern ein Bericht
der Bundesregierung. Wir gingen also davon aus, dass uns
die Bundesregierung in diesem Bericht sagt, welche Kon-
sequenzen sie daraus ziehen will. Aber genau an dieser
Stelle bleiben Sie unverbindlich und allgemein. Zu Recht
stellt der Präsident des Diakonischen Werks, Jürgen
Gohde, fest:

Weil dieser Bericht ein Regierungsbericht und kein
neutral erstellter Bericht ist, werden unbewältigte
Aufgaben, für die die Bundesregierung Verantwor-
tung trägt, nicht oder kaum erwähnt. Dazu zähle ich
zum Beispiel die Neubestimmung der Regelsätze der
Sozialhilfe und ... die Neubestimmung des steuerli-
chen Existenzminimums sowie die vor Jahren be-
schlossene Integration der nicht krankenversicherten
Sozialhilfeempfänger in die gesetzliche Krankenver-
sicherung.

Zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie von Rot-
Grün sich in Sachen Sozialhilfe zunächst einmal eine Ver-
schnaufpause gegönnt, indem Sie die Übergangsregelung,
nach der die Sozialhilferegelsätze prozentual um den Be-
trag steigen, um den auch die gesetzliche Rente steigt, um
zwei Jahre verlängert haben.


(Konrad Gilges [SPD]: Sie hätten das während Ihrer Regierungszeit aufheben können!)


Nach diesen zwei Jahren wollten Sie uns das große neue
Reformwerk vorlegen, nämlich das neue Bedarfsbemes-
sungsschema für die Sozialhilfe.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aber es kommt in dieser Wahlperiode nicht mehr! Das macht aber nichts! Wir machen es!)


Bis zur Stunde liegt aber nichts vor. Wir hören bereits,
dass Sie vorhaben – das hätten Sie heute erklären kön-
nen –, diese Übergangsregelung erneut zu verlängern und
die ganze Sache über den Wahltermin 2002 hinauszu-
schieben.

Dabei haben Sie doch eigentlich genügend Datenmate-
rial. Sie haben jetzt den Armuts- und Reichtumsbericht,
den Sie so sehr loben, und Sie haben insgesamt zehn Gut-
achten, die noch in unserer Regierungszeit in Auftrag ge-
geben worden sind und auf deren Grundlage Sie ein neues
Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe vorlegen
können. Ich fordere Sie auf, diese zehn Gutachten endlich
der Öffentlichkeit vorzulegen und uns zu sagen, was Sie
vorhaben.

Bereits heute steht fest, dass Sie uns angelogen haben,
als Sie die Verlängerung der Übergangsfrist beschlossen
haben.


(Zuruf von der SPD: Schon 1996!)

Ich kann mich noch an die Rede der Frau Kollegin Lange
erinnern. Ihre Begründung lautete: Diese Übergangsrege-
lung – die wir von der CDU/CSU kopiert haben – können
wir deswegen weiterführen, weil aller Voraussicht nach in
den kommenden Jahren die Renten und damit auch die
Sozialhilfe stärker steigen werden als in der Vergangen-
heit.


(Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch richtig!)

– Nein, Fakt ist doch, Herr Gilges:


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Jetzt kommt euer Rentenbetrug Nr. 3!)


Aufgrund Ihrer Rentenmanipulationen sind die Renten
und die Sozialhilfe im vergangenen Jahr – das wird auch
in diesem Jahr so sein – um einen erheblich geringeren
Prozentsatz gestiegen, als die aktuelle Inflationsrate ist.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es! Und die Inflationsrate steigt!)


Das sind die Fakten. Das heißt, Ihre eigene Gesetzesbe-
gründung stimmt nicht mehr.


(Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417323800
Herr Kol-
lege Weiß, Sie müssen zum Schluss kommen.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Er soll weitermachen!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1417323900
Ja, Herr
Präsident. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot-
Grün, Sie haben sich das mit dem datenmäßigen Ende




PeterWeiß (Emmendingen)


17017


(C)



(D)



(A)



(B)


1998, das dem Armuts- und Reichtumsbericht zugrunde
liegt, schön ausgedacht. Sie wollen mit dem Finger auf
CDU/CSU und F.D.P. zeigen. Aber auch für Sie gilt das
Sprichwort: Wer mit dem Zeigefinger auf jemanden zeigt,
auf den zeigen drei Finger zurück. – So ist es leider.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417324000
Ich
schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5990 und 14/6171 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zu-
satzpunkt 9 auf:

11. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Andreas Schockenhoff, Karl Lamers, Christian
Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Die deutsch-französischen Beziehungen neu be-
gründen
– Drucksache 14/5959 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ernst Burgbacher, Ina
Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Die deutsch-französischen Beziehungen mit Le-
ben erfüllen
– Drucksache 14/6167 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss

Es ist vorgeschlagen worden, die Reden dazu zu Pro-
tokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden der Kol-
legen Gernot Erler und Monika Griefahn von der SPD,
Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU, Ernst
Burgbacher von der F.D.P., Wolfgang Gehrcke von der
PDS und um die Rede des Bundesministers Joschka
Fischer.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann verfahren wir so.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5959 und 14/6167 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Mineralölsteuergesetzes
– Drucksache 14/6141 –
Überweisungsvorschläge:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Auch zu diesem Punkt wird vorgeschlagen, die Reden
zu Protokoll zu nehmen, und zwar handelt es sich um die
Reden der Kollegen Lydia Westrich und Heidi Wright von
der SPD, Norbert Schindler von der CDU/CSU, Ulrike
Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen, Marita Sehn von
der F.D.P. und Kersten Naumann von der PDS.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes
auf Drucksache 14/6141 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse sowie mitberatend und gemäß § 96 der
Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatz-
punkte 10 und 11 auf:

13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Leo Dautzenberg, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
FairerWettbewerb bei Basel II
– Drucksache 14/6049 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Basel II – Belange des Mittelstands wahren
– Drucksache 14/6172 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Fairer Wettbewerb bei Basel II – Neufassung
der Basler Eigenkapitalvereinbarung und
Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften
für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen
– Drucksache 14/6196 –




PeterWeiß (Emmendingen)

17018


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 4 2) Anlage 5

Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Es handelt sich um die Reden der Kollegen Klaus
Lennartz von der SPD, Leo Dautzenberg von der
CDU/CSU, Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grü-
nen, Rainer Funke von der F.D.P., Dr. Barbara Höll von
der PDS und Dr. Barbara Hendricks für die Bundes-
regierung.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/6049 und 14/6172 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Dies ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü-
nen, F.D.P. und PDS mit dem Titel „Fairer Wettbewerb bei
Basel II – Neufassung der Basler Eigenkapitalvereinba-
rung und Überarbeitung der Eigenkapitalvorschriften für
Kreditinstitute und Wertpapierfirmen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Dann ist der Antrag auf Drucksache 14/6196 einstimmig
angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-

dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(19. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Risikoabschätzung und
Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflan-
zen“
– Drucksache 14/5492 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) zu
dem Bericht des Ausschusses für Bildung, For-

(19. Ausschuss)

Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ –
Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Baube-
reich
– Drucksachen 14/2949, 14/5574 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright

Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll
zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Heino

Wiese und René Röspel von der SPD, Peter Bleser von der
CDU/CSU, Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen,
Ulrike Flach von der F.D.P. und Kersten Naumann von der
PDS.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5492 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Druck-
sache 14/5574. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei-
ner Beschlussempfehlung, den Bericht des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsordnung zu dem Thema „Mo-
nitoring ‚Nachwachsende Rohstoffe‘“ auf Drucksache
14/2949 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung bei Ent-
haltung der PDS angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme von zwei Entschließungen. Wer
stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 Buchstabe a der
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5574? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der
PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Wer stimmt für die Entschließung unter Nr. 2 Buch-
stabe b der Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussemp-
fehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen von CDU/CSU und F.D.P. sowie Enthal-
tung der PDS-Fraktion angenommen.

Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des
Energiewirtschaftsrechts
– Drucksache 14/5969 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Auch bei diesem Punkt ist vorgesehen, die Reden zu
Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden?
– Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden der Kol-
legen Volker Jung von der SPD, Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU, Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die
Grünen, Walter Hirche von der F.D.P., Eva Bulling-
Schröter von der PDS und des Parlamentarischen Staats-
sekretärs Siegmar Mosdorf.3)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/5969 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

17019


(C)



(D)



(A)



(B)


1) Anlage 6
2) Anlage 7
3) Anlage 8

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Norbert Barthle, Friedrich Bohl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Errichtung eines Fonds zur Unterstützung der
Doping-Opfer der DDR
– Drucksache 14/5674 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1417324100
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auf kaum einem gesell-
schaftlichen Gebiet ist die Zusammenführung der beiden
deutschen Staaten so schnell und reibungslos gelungen
wie im Sport. Dies ist parteipolitisch, glaube ich, über-
greifend unbestritten.

Von dieser Zusammenführung haben die alten und die
neuen Länder, hat der deutsche Sport in seiner Gesamtheit
Gewinn gezogen. Sportstättenbau und Sportinfrastruktur
in den neuen Ländern haben in den vergangenen Jahren
erhebliche Fortschritte gemacht. Rund 2,5Milliarden DM
aus dem Investitionsfördergesetz sind seit 1995 in den
Sportstättenbau der neuen Länder geflossen. Auch der so
genannte Goldene Plan Ost wird, wenn auch in beschei-
denerem Maße als angekündigt, zu einer weiteren Ver-
besserung führen.

Die alten Länder haben in der sportpolitischen Leis-
tungsbilanz in nicht unerheblichem Maße von den Spit-
zenleistungen der ehemaligen DDR-Spitzensportlerinnen
und -Spitzensportler profitiert.


(Uwe Hiksch [PDS]: Sehr richtig!)

Noch zehn Jahre nach der Wende bessern die Sportler

der ehemaligen DDR die deutsche Bilanz bei Welt- und
Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen auf.
Ohne deren Spitzenleistungen würde die Bilanzierung des
deutschen Spitzensports im internationalen Vergleich sehr
viel schlechter ausfallen. Noch zehn Jahre nach der
Wende profitieren wir von den Jugend- und Kaderschulen
der ehemaligen DDR.

Diese Nachfolge des DDR-Sportsystems haben wir
gerne angetreten. Wir schmücken uns mit den herausra-
genden Leistungen. Wir stehen gerne neben den Erfolg-
reichen des ehemaligen DDR-Systems. Wir verleihen ih-
nen das Silberne Lorbeerblatt. Die Medien widmen diesen
Spitzensportlern umfassende Aufmerksamkeit und die
Sponsoren zeigen sich großzügig. Dies ist im Grunde
nicht zu kritisieren.

Doch, meine Damen und Herren, diese herausragenden
Leistungen von Topsportlern der ehemaligen DDR haben
einen langen Schatten. Er heißt Doping, systematisch an-
gewendet an vielen jungen Athleten, oft gegen deren Wil-
len, meist ohne deren Wissen. Für diese Athleten gab es
keine Hinweise auf zu erwartende psychische und physi-
sche Schäden, gab es keine Warnung vor Langzeitschä-
den. Sie haben sich einem System von staatlichen Funk-
tionären und Trainern anvertraut, deren Maxime die
Leistung zum Wohle des Staates war. Wir wissen von die-
sen dunklen Kapiteln des DDR-Sports aus zahlreichen
wissenschaftlichen Veröffentlichungen, aus Geständnis-
sen von Trainern und Funktionären und aus Berichten von
Sportlern.

Es ist an Zynismus kaum zu überbieten, wenn Ärzte
vor Gericht erklären, es sei für sie selbstverständlich ge-
wesen, junge Sportler bei ihrem Streben nach Höchstleis-
tungen mit Dopingmitteln zu unterstützen; gesundheitli-
che Schäden seien zu erwarten gewesen. Dies zeigt die
Gewissenlosigkeit, mit der mit jungen Menschen und Do-
ping umgegangen wurde.

An jungen Sportlerinnen und Sportlern wurden Medi-
kamente erprobt. Gesundheitliche Risiken wurden von
Funktionären, Trainern und Betreuern bewusst in Kauf
genommen. Die Athleten waren in der Regel ahnungslos.

Wir wissen heute durch gerichtliche Verfahren mehr
über diese verwerflichen Methoden und Machenschaften.
Wir sollten uns deshalb zu beiden Seiten der Medaille des
Leistungssports der ehemaligen DDR bekennen, zu den
Siegern und zu den Opfern.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beide sind Ergebnisse eines staatlich verordneten Leis-
tungsgedankens mit dem Ziel, durch sportliche Höchst-
leistungen die Leistungsfähigkeit des sozialistischen Sys-
tems unter Beweis zu stellen. Beide sind Ergebnisse eines
Systems, in dem nicht der Mensch, sondern der Erfolg
entscheidend war. Der Mensch war lediglich Mittel zum
Zweck.


(Uwe Hiksch [PDS]: Das ist ja eine gewagte These!)


Junge, hochtalentierte Sportler haben sich guten Glau-
bens einem System anvertraut, das vorgab, ihre Talente
fördern zu wollen. In Wirklichkeit wurden sie benutzt.
13-, 14-, 15-Jährige wurden mit leistungsfördernden Mit-
teln vollgepumpt, ohne über die Folgen aufgeklärt zu sein.

Die Verlierer des Systems sind die Opfer, von der Öf-
fentlichkeit verdrängt. Sie müssen selber sehen, wie sie
mit den Folgen fertig werden. Sie haben Höchstleistungen
erreicht oder erreichen wollen. Sie müssen heute fest-
stellen, dass sie an einem System gescheitert sind, in dem
die Leistung und der Erfolg um jeden Preis alles, die Ge-
sundheit wenig war.

In unserem Antrag geht es um diese Opfer eines mani-
pulierten Leistungssports. Die Schädigungen sind vielfäl-
tig: von der Akne über Regelstörungen, Schwanger-
schaftsstörungen, Skelettverformungen, Unfruchtbarkeit
bis hin zum Brustkrebs. Von den Schädigungen ist zum




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
17020


(C)



(D)



(A)



(B)


Teil auch die Nachfolgegeneration betroffen. Es geht
nicht in erster Linie um Recht oder Unrecht. Es geht nicht
darum, dem Bund eine Last aufzubürden, die er nicht
schultern muss oder kann. Es geht in diesem Antrag nicht
darum, Schadenersatzansprüche zu befriedigen oder Vo-
raussetzungen für eine Welle von Schadenersatzan-
sprüchen auszulösen.

Es gilt, ein Zeichen zu setzen und sich auch zu den Op-
fern des Systems zu bekennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es gilt, Leid zu lindern, Mittel für einen Fonds bereitzu-
stellen, um gesundheitliche Vorsorge leisten zu können,
um breit angelegte diagnostische Untersuchungen zu er-
möglichen, um Nebenwirkungen zu erforschen und damit
die Kinder der Nachfolgegeneration vor nachhaltigen
Schädigungen zu bewahren. Es geht darum, diesen ge-
schädigten Sportlern Hilfen für einen beruflichen Einstieg
und zur beruflichen Qualifizierung zu gewähren. Sie ha-
ben damals schulische und berufliche Bildung zurückge-
stellt, um sportliche Höchstleistungen zu erbringen.

Wir leisten schnell und unbürokratisch Hilfe für in Not
geratene Menschen in fernen Ländern. Das ist gut und
richtig. Wir haben aber die gleiche Verpflichtung gegen-
über den Menschen im eigenen Lande, die Opfer eines
Systems geworden sind. Hier ist eine kleine private Ini-
tiative überfordert.

Einige Dopingopfer haben in einer Petition an den
Deutschen Bundestag die „halbherzige Aufarbeitung des
Dopings im DDR-Leistungssport“ beklagt. Sie haben an-
gemahnt, Doping nicht auf die Art und Weise zu ver-
harmlosen, dass man die Folgewirkungen einfach nicht
zur Kenntnis nimmt. Es war Zeit, dass diese Sportlerinnen
und Sportler ihr Schweigen gebrochen haben.

Wir dürfen die Dopingopfer ihrem Schicksal nicht al-
lein überlassen. Es ist nicht richtig, die Sieger eines Sys-
tems öffentlich auszuzeichnen, die Schicksale der Opfer
aber einfach wegzudrängen. Das ist moralisch nicht ver-
tretbar.

Der Bund sollte durch Errichtung eines Fonds die Ini-
tiativen des gemeinnützigen Doping-Opfer-Hilfe-Vereins
unterstützen. Wir versprechen uns von der Einrichtung ei-
nes Fonds eine Signalwirkung für Spenden seitens der
Pharmaindustrie, der restlichen Wirtschaft und für weitere
private Spenden. Sie alle werden sich der moralischen
Verpflichtung stellen müssen und einen angemessenen
Beitrag für die Dopingopfer leisten. Eine Signalwirkung
hat dies aber auch für den Sport: Die Präsidenten des
Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen
Komitees haben öffentlich ihre Bereitschaft dazu erklärt.
Lassen Sie uns in den Beratungen in den Ausschüssen
eine einvernehmliche Lösung für einen solchen Fonds an-
streben!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bedauere aus meiner heutigen Kenntnis und Sicht,

dass die frühere Bundesregierung und auch meine Frak-
tion nicht schon früher die Initiative ergriffen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist allerdings nicht zu spät. Wir sollten gemeinsam für
die Dopingopfer des Sports der ehemaligen DDR eintreten.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417324200
Das Wort
hat jetzt der Kollege Götz-Peter Lohmann von der SPD-
Fraktion.


Götz-Peter Lohmann (SPD):
Rede ID: ID1417324300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Werte Gäste! Ich wollte eigentlich ausdrück-
lich auch Vertreter des Doping-Opfer-Hilfe e. V. und mög-
licherweise auch Betroffene begrüßen. Sollten Vertreter
anwesend sein – ich bin mir da nicht ganz sicher –, möchte
ich das hiermit ausdrücklich tun.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


In seinem Geleitwort zu dem Buch „Anklage: Kinder-
doping – Das Erbe des DDR-Sports“ stellt Bundestags-
präsident Wolfgang Thierse fest – ich zitiere –:

Irgendwie geahnt haben es viele: Die Erfolge der
DDR im internationalen Sport waren auch bedingt
durch den massiven regelwidrigen Einsatz gesund-
heitsgefährdender Dopingmittel.

Er schrieb, die DDR habe den Sport für Zwecke der
Außenpolitik und der Außendarstellung missbraucht.
– Das ist unbestreitbar. – Diese Zwecke seien den Verant-
wortlichen wichtiger als das konkrete Leben und die kon-
krete Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler gewesen.

Als jemand, der – zugegeben – eine relativ kurze Zeit
den DDR-Sport bzw. -Leistungssport kennen gelernt hat,
kann und muss ich mich diesen Feststellungen anschlie-
ßen, möchte aber heute in diesem Hohen Hause die Gele-
genheit nutzen, einmal in einem Satz erwähnen zu dürfen,
dass es auch unter den Trainern und den Sportmedizinern
der damaligen DDR – zugegeben, es war eine klare Min-
derheit – solche gegeben hat, die sich aus moralischer
Überzeugung geweigert haben – einmal muss ich das sa-
gen dürfen –, bei diesem Spiel mitzumachen. Denn sie
konnten es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass
zum Beispiel Kindern ohne ihr Wissen Dopingsubstanzen
zugeführt wurden, damit sie die geforderten Zeiten, Wei-
ten und Höhen erzielen konnten. Wer sich dazu durchrin-
gen konnte bzw. durchgerungen hat, für den gab es Pro-
bleme; das weiß ich sehr wohl. Ich betone noch einmal:
Es war eine Minderheit. Aber es gehört auch zur Ehrlich-
keit und zur Fairness, das einmal festzustellen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung – ich habe
das erwähnt – spreche ich heute zu dem vorliegenden An-
trag. Dabei muss ich auf verschiedene Aspekte eingehen,
und zwar sowohl auf inhaltliche als auch auf Verfah-
rensfragen.

Zunächst zu den rechtlichen Aspekten – Kollege
Riegert ist kurz darauf eingegangen –: Sie schreiben im
Feststellungsteil des Antrages:




Klaus Riegert

17021


(C)



(D)



(A)



(B)


Die Bundesregierung mag die Auffassung vertreten,
dass gegen die Bundesrepublik Deutschland kein
Anspruch als Rechtsnachfolger bestehe.

Da setzt meine Kritik an: Herr Kollege Riegert, Sie er-
wecken damit den Eindruck, als vertrete die heutige Bun-
desregierung eine Auffassung, die man nicht unbedingt
teilen müsse. Vor dem Hintergrund der Ihnen bekannten
Rechtsprechung des Landgerichtes und des Oberlandes-
gerichtes Dresden zur Klage des ehemaligen Gewichthe-
bers Roland Schmidt darf ich daran erinnern, dass es der
damalige Bundesgesundheitsminister Herr Seehofer war,
der als Vertreter der Beklagten die Auffassung vertrat,
dass die Bundesrepublik Deutschland für diesen staats-
haftungsrechtlichen Anspruch, der zu Zeiten der DDR
entstanden ist, nicht einzustehen habe. Er hat die Ansicht
vertreten, dass das Rechtsinstitut der Funktionsnachfolge
nicht zur Anwendung komme, und zudem den gesamten
Hergang der Medikamentenabgabe bestritten bzw. sich
auf Nichtwissen berufen. Schließlich hat er auch die Ein-
rede der Verjährung erhoben.

Das Oberlandesgericht hat sich der Auffassung der da-
maligen Bundesregierung zur Funktionsnachfolge an-
geschlossen. Da der Kläger den Antrag auf Revision be-
kanntlich zurückgenommen hat, ist das Urteil des
Oberlandesgerichtes Dresden vom 29. Februar 1996
rechtskräftig geworden. Man mag das beklagen, aber es
ist die Rechtslage und nicht nur die Auffassung der Bun-
desregierung. Ich denke, Herr Kollege Riegert, darauf
hätte in Ihrem Antrag zumindest eingegangen werden
können, wenn nicht gar müssen, aber – da stimmt die
SPD-Bundestagsfraktion Ihrer Aussage ausdrücklich zu –
moralische Kategorien überwiegen in diesem Falle recht-
liche Normen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Allerdings gilt dies nicht erst seit dem 27. März 2001,

als Sie Ihren Antrag stellten. Dies galt bereits unmittelbar
nach Rechtskraft des Urteils, also zu einer Zeit, als Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, Regie-
rungsverantwortung trugen und Sie, Herr Kollege
Riegert, sportpolitischer Sprecher Ihrer Fraktion waren;
aber Sie haben ja darauf hingewiesen.

Über die Notwendigkeit, den DDR-Dopingopfern fi-
nanziell zu helfen, bestand auch – ich möchte daran erin-
nern – in der Sportausschusssitzung am 25. Oktober letz-
ten Jahres kein Dissens. Die sportpolitische Sprecherin
der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Freitag, hat – wie
vereinbart – alle Mitglieder unserer Fraktion gebeten, sich
bei den Gerichten in ihren Wahlkreisen dafür einzusetzen,
dass Strafgelder dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein über-
wiesen werden. Bedauerlicherweise ist nur ein geringer
Betrag überwiesen worden. Ferner hatte die Vertreterin
der Bundesregierung, Frau Staatssekretärin Zypries, zu-
gesagt, Spenden für den Verein einzuwerben.

Der Verein war gebeten worden, eine Dokumentation
in eigener Sache zu erstellen. Mir ist bekannt, dass es
mehrere Monate dauerte, bis diese Information vorlag.

Die SPD-Fraktion bekennt sich heute erneut zu dieser
moralischen Verpflichtung – ich betone das. Es muss ein
deutliches Zeichen gesetzt werden, dass man angesichts

der gesundheitlichen Schäden durch das staatlich verord-
nete Doping in der ehemaligen DDR nicht zur Tagesord-
nung übergeht.

Jedoch – damit komme ich zu einem weiteren Aspekt –
sind die medizinischen Fragen nach unserer Auffassung
noch nicht hinreichend geklärt. Dopinganalytiker und En-
dokrinologen bestätigen übereinstimmend, dass in jedem
Einzelfall geprüft werden müsste, ob die gesundheitlichen
Schäden tatsächlich in der Gabe von Dopingsubstanzen
ihre Ursache haben. Wenn wir nicht wollen, dass die Gel-
der, die für Dopingopfer bereitgestellt werden, überwie-
gend für medizinische Gutachten ausgegeben werden,
dann müssen wir im Interesse einer praktikablen Rege-
lung zu nachvollziehbaren Kriterien kommen, wer Ent-
schädigungsleistungen erhält und wer nicht. Ich bin auch
für eine Differenzierung. Wo die Substanzen Kindern und
Jugendlichen ohne deren Wissen verabreicht wurden
– darüber besteht, denke ich, Konsens –, muss es eine Ent-
schädigung geben.

Mir ist aber auch bekannt, dass es eine ganze Reihe von
erwachsenen Athleten gab, die wissentlich und das Risiko
in Kauf nehmend entsprechende Mittel zu sich genom-
men haben. Ich denke, da ist eine Differenzierung ange-
bracht.

Aber wir können und werden darüber diskutieren und
uns von Fachleuten beraten lassen. Deshalb plädieren wir
für eine solche Untersuchung.

Darüber hinaus stellt sich für die SPD-Fraktion die
Frage – die ich schon angedeutet habe – dass es Sportle-
rinnen und Sportler gab, die Kenntnis vom Einsatz von
Dopingmitteln hatten und ihn billigend in Kauf genom-
men haben. Die Versuchung war groß. Ich will das nicht
billigen, im Gegenteil, aber es gab ja im Anschluss, wenn
die Erfolge kamen, eine ganze Reihe von staatlichen Ver-
günstigungen. Da gab es multiple Varianten; ich möchte
nicht näher darauf eingehen. An dieser Stelle, Herr
Riegert, stimmen wir also mit Ihrem Antrag nicht überein.

Nun zu einem weiteren, nicht unwesentlichen Aspekt,
nämlich der finanziellen Seite Ihres Antrags. Wie den
Pressemeldungen zu entnehmen war, haben Sie im Antrag
bewusst keine konkrete finanzielle Forderung erhoben.
Dies wäre angesichts Ihrer von mir auch sonst registrier-
ten besonderen Gabe, mit finanziellen Forderungen in Sa-
chen Sport insbesondere seit Herbst 1998 nicht gerade
kleinlich zu sein, ein bemerkenswerter Fortschritt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir von euch gelernt!)


wenn Sie nicht nachweislich der „Netzeitung“ Ende
März – meines Wissens ist das auch belegbar – ein Inter-
view gegeben und dabei den finanziellen Umfang der Ent-
schädigungszahlungen auf 10, 20 oder gar 30 Milli-
onen DM über mehrere Jahre beziffert hätten. Mit diesen
Zahlen tun Sie niemandem einen Gefallen,


(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])


vor allem nicht den Betroffenen, bei denen Sie Erwartun-
gen wecken, die möglicherweise nicht befriedigt werden




Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg)

17022


(C)



(D)



(A)



(B)


können. Dann haben Sie aber auch noch kühn behauptet,
diese Zahlen kämen nicht aus der CDU/CSU-Fraktion,
sondern die hätte die SPD ins Spiel gebracht. Das ist ge-
wissermaßen schon ein starkes Stück und hat nach mei-
nem Dafürhalten mit fairer Oppositionsarbeit nichts zu
tun. Ich bin immer davon ausgegangen, dass gerade wir
Sportpolitiker und noch aktive Sportler relativ fair mitei-
nander umgehen.

Wir alle erinnern uns an die Sportausschusssitzung am
25. Oktober, als der Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-
Vereins, Dr. Klaus Zöllig, vortrug. Da war von deutlich
geringeren Beträgen die Rede.

Die SPD-Fraktion will sich nicht auf einen konkreten
Betrag festlegen. Wir alle wissen: Es kommt zu einer
Überweisung in die entsprechenden Ausschüsse, auch in
den Sportausschuss. Ich denke, wir werden im Sportaus-
schuss Gelegenheit haben, uns noch einmal intensiv mit
dieser Problematik zu befassen. Dann wird auch darüber
zu sprechen sein, ob – wie in Ihrem Antrag vorgesehen –
ausschließlich die Bundesregierung gefordert ist, sicher-
zustellen, dass DDR-Dopingopfern geholfen werden
kann.

Wir sehen es so, dass sich der organisierte Sport und
auch die Pharmaindustrie dieser moralischen Verpflich-
tung stellen müssen. Es gibt Gott sei Dank Hinweise, wo-
nach mit einer finanziellen Beteiligung zu rechnen ist, so-
dass das realisiert werden könnte.

Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag der CDU/CSU-
Fraktion in der vorliegenden Fassung ab. Wir lehnen ihn
nicht ab, weil wir gegen die Entschädigung von DDR-Do-
pingopfern sind, sondern weil der Antrag mehrere Passa-
gen enthält, die nach unserer Ansicht nicht akzeptabel
sind.

Erstens. Nicht nur die Bundesregierung hat sicherzu-
stellen, dass DDR-Dopingopfern geholfen werden kann,
auch der organisierte Sport und die Pharmaindustrie sind
nach unserer Auffassung in der Pflicht.

Zweitens. Wesentliche Fragen, vor allem die medizini-
schen, sind noch nicht geklärt. Ohne wissenschaftliche
Untersuchungskriterienwird ein praktikables Verfahren
nicht möglich sein.

Die SPD-Fraktion erklärt ausdrücklich ihre Bereit-
schaft, in einen konstruktiven Dialog mit allen Beteiligten
einzutreten bzw. den begonnenen Dialog fortzusetzen.
Dies kann bereits in einer der nächsten Sportausschusssit-
zungen der Fall sein. Wir widersprechen allerdings allen
leichtfertig geäußerten und utopischen finanziellen For-
derungen.

Ich möchte nicht vergessen, zum Abschluss eines zu
sagen, weil wir trotz der fortgeschrittenen Zeit immer
noch Gäste haben: Nach Ablauf von elf Jahren seit dem
Untergang der DDR und angesichts der Möglichkeiten, in
rund acht Jahren der Regierungsverantwortung das Pro-
blem zu lösen, wird ein derartiger Antrag – man könnte
ihn vielleicht auch als populistischen Antrag bezeichnen,
aber ich gehe davon aus, dass wir alle es in der Sache ehr-
lich meinen – der Bedeutung der Angelegenheit nicht ge-
recht. Auch deshalb lehnen wir den Antrag in dieser Fas-
sung ab.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, die Sie mir
trotz der fortgeschrittenen Zeit gewidmet haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417324400
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus
Kinkel von der F.D.P.-Fraktion.


Dr. Klaus Kinkel (FDP):
Rede ID: ID1417324500
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! „Heuchelei um Mitternacht“
schreibt heute der „Tagesspiegel“. Mitternacht ist es nicht
ganz geworden, aber dieses Thema hätte in der Tat eine et-
was günstigere Stunde zur Behandlung verdient. Dafür ist
es zu wichtig.

Ich habe im Übrigen auch nicht die geringsten Pro-
bleme damit, zu sagen, dass wir uns um dieses Thema hät-
ten früher kümmern müssen, auch in der alten Regierung.
Da stimme ich Ihnen, Herr Riegert, ausdrücklich zu.

Das, was da in der früheren DDR geschehen ist, ist eine
schlimme Hinterlassenschaft. Das systematische Doping,
das Staatsdoping, ist inzwischen sportmedizinisch-wis-
senschaftlich einigermaßen aufgearbeitet. Aufgearbeitet
ist seit den Prozessen im letzten Jahr und seit der Ver-
jährung auch die Frage der Strafbarkeit der Verantwortli-
chen. Es ist fast nichts, wenn ich richtig unterrichtet bin,
in Richtung Unterstützung geschehen.

Deshalb erwarten die Betroffenen, dass ihre zum Teil
schlimmen physischen und psychischen Schäden in ir-
gendeiner Form anerkannt werden und dass man darüber
befindet, was getan werden kann. Etliche leiden unter
chronischen Krankheiten. Ich verstehe auch, dass sich ei-
nige der Betroffenen gesellschaftlich isoliert fühlen; auch
ist es beruflich um viele Betroffene nicht gut bestellt. Das
ist nicht gut. Die gesundheitlichen Spätfolgen scheinen
sich zudem in vielen Fällen erst in der nächsten Genera-
tion zu zeigen und sind dann auch noch schwer nach-
weisbar.

Die rechtliche Situation ist durch die Entscheidung
des Dresdener Oberlandesgerichts geprägt, die besagt:
Keine Haftung des Staates. – Als ehemaliger Justizminis-
ter und langjähriger Staatssekretär im Justizministerium
muss ich sagen, dass ich darüber auch etwas unzufrieden
bin. Ich kenne mich in der Problematik der Rechtsnach-
folge einigermaßen aus, aber ich habe meine Zweifel da-
ran, ob dies alles so sein musste.


(Beifall bei der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was soll das denn jetzt heißen?)


Man kann den betroffenen Menschen schließlich nicht
vorwerfen, sie hätten das alles sozusagen selbst verschul-
det. Für junge, talentierte Sportler war es wohl schwer,
sich in dem Unrechtsstaat dem Dopingsystem zu entzie-
hen. Die Abhängigkeit war einfach zu groß. Deshalb glau-
ben wir, dass in der Tat ein Fonds gegründet werden
sollte. Darüber haben wir uns bereits unterhalten und
sind uns wohl auch einigermaßen einig. Dieser Fonds
müsste aus staatlichen Mitteln gespeist werden; es müssten




Götz-Peter Lohmann (Neubrandenburg)


17023


(C)



(D)



(A)



(B)


Mittel aus der Wirtschaft hinzukommen – ich kann mir
auch vorstellen, dass dies möglich sein wird – und die
Sportverbände sollten sich ebenfalls an diesem Fonds be-
teiligen. Wir können die Betroffenen nicht im Regen ste-
hen lassen.


(Susanne Kastner [SPD]: Schicken wir mal den Kohl los! Der kann das!)


Die Opfer kämpfen seit relativ langer Zeit gegen die
Mühlen der Bürokratie und gegen die Nichtbeachtung in
Politik und Gesellschaft, zum Teil auch gegen offene An-
feindungen. Für viele war es wohl auch sehr schwer, aus
der Reserve zu kommen und dies mit einem persönlichen
Outing zu verbinden, das zum Teil bis in die intimsten Pri-
vatbereiche hineinging. Deswegen meine ich, dass die
Betroffenen es verdienen, endlich Gehör zu finden und
eine Antwort sowie finanzielle Unterstützung zu bekom-
men.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich habe versucht, mich über die Zahlen zu informie-

ren, die infrage stehen. Wenn ich das richtig verstanden
habe – aber ich bitte darum, das nicht als absolut verbind-
lich zu nehmen –, handelt es sich höchstens um 100, 200
oder 300 Betroffene. Angesichts einer solchen Dimension
kann das Vorhaben wohl kaum scheitern. Es geht schließ-
lich um Einzelschicksale. Das kostet zwar etwas Geld,
aber entscheidend ist, dass wir den guten Willen haben, zu
helfen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich meine, dass es auch der großen Sportnation

Deutschland, die wir sein und bleiben wollen, nicht
schlecht anstünde, wenn wir dies täten, auch im Hinblick
darauf – das ist ebenfalls vorhin bereits erwähnt worden –,
dass wir nicht unwesentlich vom Sporterbe der DDR pro-
fitiert haben.

Das Fazit ist also: Nach unserem Vorschlag sollen
– wie im Sportausschuss angedeutet und besprochen –
Wirtschaft, Staat und die Verbände in einen Fonds ein-
zahlen und dann sollte ein vernünftiges System der Aus-
zahlung und Abfindung gefunden werden.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417324600
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417324700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäfti-
gen uns heute mit einem sicherlich schwierigen und aus
meiner Sicht auch widerlichen Kapitel der deutschen
Sportgeschichte. Am liebsten würde man es – so geht es
mir jedenfalls – ad acta legen, wenn es da nicht die Opfer
gäbe, die noch lange an diesem Missbrauch leiden werden.

Ich glaube, wir können uns das nicht mehr leisten.
Meiner Meinung nach ist das Positive und Angenehme

der heutigen Debatte, dass die Redner aller Fraktionen
deutlich gemacht haben, dass wir das nicht mehr verdrän-
gen wollen, sondern wir uns dieser Verantwortung stellen
wollen, obwohl wir nicht diejenigen sind, die die eigent-
liche Verantwortung tragen. Es hat mir gefallen, dass alle
gesagt haben: Wir wollen nicht nur das Gute des Erbes
übernehmen. Das haben wir gerne getan. Bei einem Erbe
ist es aber nicht möglich, den schlechten Teil auszuschla-
gen. Auch die Erblasten gehören dazu. Damit setzen wir
uns auseinander.

Ich habe im Sportausschuss deutlich gemacht, dass wir
uns, unabhängig von der schwierigen rechtlichen Lage
und den schwierigen Fragen von Schuld und Verantwor-
tung, unserer Verantwortung stellen müssen. Aus meiner
Sicht gibt es Täter, Mitwisser, Halbwissende und Men-
schen, die nichts wissen wollten. Es gibt tatsächlich auch
Nichtwissende, Ahnungslose, Opfer. In dieser Unter-
schiedlichkeit müssen wir die Problematik angehen.

Das komplexe System des DDR-Dopings ist nicht ganz
leicht zu erfassen. Man muss aufpassen, dass man nicht
das Bild vermittelt, als sei der DDR-Sport eine einzige Ge-
schichte des Dopings oder als seien alle Sportlerinnen und
Sportler der DDR nur leistungs- und wirtschaftsgeil und
deswegen verführbar gewesen. Es gab viele Menschen, die
aus Liebe zum und Freude am Sport und in gutem Glau-
ben – übrigens nicht alle mit Doping – Sport getrieben ha-
ben. Ines Geipel, die meines Wissens heute hier ist, hat es
unlängst ausgedrückt. Die Spitzensportlerin sagte: Wir ha-
ben es auch aus Liebe an der Bewegung getan.

Manches von dem System wird nur erkennbar, wenn
man in die Stasi-Akten schaut. Vielleicht haben damit ei-
nige von uns Probleme, weil es Stasi-Akten sind. Aber die
konspirative Methode ist nur über diese Akten verstehbar,
so widerlich sie sind. Sie sind die einzigen Dokumente,
die offen darlegen, was damals geschehen ist, wie kon-
spirativ gearbeitet wurde, dass manche eingeweiht waren
und andere eben nicht.

Trotz all dieser Differenzierung muss ich aus grüner
Sicht sagen: Es gibt Opfer. Selbst wenn es medizinisch
schwierig ist, nachzuweisen, was tatsächlich dazu geführt
hat, meine ich angesichts der Rechtssituation: Wir können
nicht ignorieren, dass es Geschädigte gibt. Herr Kinkel
und andere haben das Landgericht Dresden angespro-
chen. Das Gericht hat festgestellt: Wir, die Bun-
desrepublik, sind nicht verantwortlich und müssen nicht
zahlen. Aber ich finde, wir können diese Position nicht an-
nehmen. Es hat mich gefreut, dass selbstkritisch gesagt
wurde: Wir können dies nicht aussitzen. – Es fällt oft
leicht, in der Opposition Verantwortung einzuklagen,
wenn man sie nicht hat. Jetzt haben Sie sie eingeklagt und
wir nehmen sie an. Damit ist der Weg frei, etwas zu tun.

Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein hat schon Großarti-
ges geleistet. Dafür herzlichen Dank und weiterhin viel
Kraft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Er hat die Politiker angestoßen, die die Verantwortung
zunächst nicht übernommen haben. Es liegt jetzt an uns,




Dr. Klaus Kinkel
17024


(C)



(D)



(A)



(B)


diesen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, den Betrof-
fenen zu helfen. Allein mit diesem Verein wird es nicht
möglich sein. Wir brauchen – darin stimme ich allen zu,
die dies gesagt haben – einen Fonds. Er muss aus staat-
lichen Mitteln, aber auch aus Mitteln der Wirtschaft ge-
speist werden. Man hat zum Teil damals davon profitiert
und ist auch heute noch Teil des Systems. Aber auch
Sportorganisationen müssen sich beteiligen. Das NOK
hat gerne einige Millionen aus dem Vermögen als gutes
Erbe mitgenommen. In dem Fall muss man auch etwas für
den schlechten Teil zahlen, also in den Fonds einzahlen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417324800
Herr Kol-
lege Hermann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Beucher?


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417324900

Ja, bitte schön.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417325000
Bitte
schön, Herr Beucher.


Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1417325100
Geschätzter Kol-
lege Hermann, folgen Sie meiner Einschätzung, dass die
Politik den Hilferuf zumindest dergestalt aufgegriffen hat,
dass wir im Sportausschuss des Deutschen Bundestages
den Doping-Opfer-Hilfe-Verein angehört haben, und dass
es wichtig ist, dies in dieser Debatte, in der wir das Thema
neu anstoßen, zu erwähnen?


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1417325200

Vielen Dank, Kollege Beucher. Ich kann Ihnen voll und
ganz zustimmen. Ich freue mich außerordentlich darüber,
dass wir nicht im Duktus der Herrschenden gesagt haben:
Wir geben nichts, wir haben nichts, wir sind nicht verant-
wortlich. – Vielmehr haben wir gesagt: Wir möchten die
Probleme kennen lernen. Wir möchten sehen: Was sind
die Schwierigkeiten? Wo braucht ihr Hilfe? Das war der
erste Schritt.

Der nächste Schritt ist, dass wir uns jetzt zusammen-
setzen und überlegen: Wie kann man einen solchen Fonds
aufbauen und speisen? Ich sage aber auch ganz klar: Wir
sollten nicht so tun, als müsse dies der Staat allein regeln,
sondern wir müssen diese Dreierkonstruktion hinbekom-
men, bei der die Sportvereine und die Wirtschaft mit in
das Boot hinein müssen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann sehe ich Möglichkeiten. Ich finde, der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion gibt einen guten Anstoß. Wir müssen
allerdings sehen, wie wir das im Detail umsetzen können.

Ich kann Ihnen zum Schluss sagen: Für mich ist die
ganze Geschichte der Dopingopfer der DDR eigentlich
eine Ermahnung, jetzt in der Bundesrepublik Deutschland
rasch ein eigenes Anti-Doping-Gesetz zu erarbeiten, da-
mit wir nicht in wenigen Jahren über die Schäden der
Sportler sprechen müssen, die heute Doping betreiben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1417325300
Da der
Kollege Gustav-Adolf Schur von der PDS-Fraktion seine
Rede zu Protokoll gegeben hat, schließe ich die Ausspra-
che.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5674 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 1. Juni 2001, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.