Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Hans-Eberhard Urbaniak, der am
9. April seinen 72. Geburtstag feierte, und dem Kollegen
Karl-Heinz Scherhag, der am 5. Mai seinen 65. Ge-
burtstag feierte, nachträglich die besten Glückwünsche
des Hauses aussprechen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT: zu den Antworten
der Bundesregierung auf die Fragen 11 und 12 auf Druck-
sache 14/5942
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Hildebrecht Braun, Rainer Brüderle, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.: Steuerliche Benachteiligung
des Mittelstandes beseitigen Drucksache 14/5962
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Bundes-
politische Auswirkungen neuer Vorwürfe einer Verletzung
des Parteiengesetzes durch die CDU
4. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
Eva Bulling-Schröter, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: Bürgerbahn statt Börsenbahn
Drucksachen 14/3784, 14/5953
Berichterstattung:
Abgeordneter Eduard Lintner
5. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Bundeswehr-
einsätze beenden Politische Lösungen auf dem Balkan
durch UNO und OSZE durchsetzen Drucksache 14/5964
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
6. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Einführung des Wohnortprinzips bei Honorar-
vereinbarungen für Ärzte und Zahnärzte Drucksache
14/5960
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
7. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Neuregelung der Krankenkassenwahl-
rechte Drucksache 14/5957
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
8. Vereinbarte Debatte zur Rentenpolitik
9. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach
Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Ge-
setz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur
Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens
Drucksachen 14/4595,
14/5068, 14/5146, 14/5150, 14/5367, 14/5383, 14/5970
Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Schmidt
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der F.D.P.: Public Private Part-
nership in der Auswärtigen Kulturpolitik Drucksache
14/5963
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-
punkt 15 Festbetrags-Anpassungsgesetz abzusetzen.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei-
sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 155. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich an den
16265
167. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Beginn: 9.00 Uhr
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.: Deutsche Initiative zum Schutz der Bin-
nenvertriebenen Drucksache 14/5453
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über verfas-
sungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für
die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für
den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für
die Gewährung von Bundesergänzungszuweisun-
gen
Drucksachen 14/5951, 14/5971
Überweisungsvorschlag:
Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichsgesetz
Haushaltsausschuss gem. § 96 GO-BT und mitberatend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-
nister der Finanzen, Hans Eichel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kenn-
zeichen des deutschen Staatswesens in Europa ist das
eher eine Seltenheit ist der föderale Staatsaufbau. Der
Föderalismus ist durch die deutsche Geschichte begrün-
det. Positiv gewendet: Das Vorhandensein der vielen klei-
nen deutschen Staaten, die später den Deutschen Bund ge-
schlossen haben, hat dazu geführt, dass wir in
Deutschland anders als in vielen anderen Ländern über
das ganze Land eine gute Verteilung der Lebenschancen
und auch eine sehr ausgeprägte Vielfalt, zum Beispiel in
der Kulturlandschaft, haben. Ein Staatsaufbau dieser Art
kann bei der Beantwortung der Frage helfen ich denke,
davon sind wir alle überzeugt , wie wir das künftige Eu-
ropa gestalten.
Grundlage für den Föderalismus ist Solidarität, das
Einstehen der Länder füreinander, das Einstehen der stär-
keren für die schwächeren, das Einstehen des Bundes für
die Länder und das Einstehen der Länder für den Bund.
Auf dieser Basis, also auf der Basis von Solidarität, kön-
nen sich ganz unterschiedliche politische Systeme und
unterschiedliche politische Ergebnisse im Wettbewerb
entwickeln. Ich glaube übrigens, dass das jenseits des
wie ich finde, zugespitzten Streites über Solidarität
oder Wettbewerbsföderalismus in Wahrheit die Grund-
lage unseres Staatswesens ist; denn im Ernst kann nie-
mand das Prinzip des Einstehens der Stärkeren für die
Schwächeren infrage stellen. Dieses Prinzip ist auch ein
Fundament des Grundgesetzes.
Auf der anderen Seite gilt auch dieser Satz ist alt :
Beim Geld hört die Gemütlichkeit auf.
Das trifft natürlich auch für den Finanzausgleich zu.
Kaum gab es einen einvernehmlich alle 16 im Bundes-
rat vertretenen Länder und der Bundestag haben zuge-
stimmt verabschiedeten Finanzausgleich, schon gab es
drei Klagen. Sie wissen, dass ich als damaliger hessischer
Ministerpräsident daran beteiligt war. Für mich nehme ich
in Anspruch, darauf hinzuweisen, dass ich als Letzter der
drei geklagt habe.
Der Hintergrund war folgender: Zwei Länder waren
vorausmarschiert; eines, Baden-Württemberg, war, wie
Hessen, von Anfang an Zahlerland. Das andere Land,
Bayern, hatte 40 Jahre lang mehr genommen als gegeben.
Kaum dass dieses Land gemerkt hatte 1993 hatte Bay-
ern es noch nicht erkannt , dass es Zahlerland wird, hat
es geklagt.
So sind wir nicht davor gefeit das sage ich am Anfang
für das mögliche Ende der Debatte voraus , dass selbst
eine einvernehmliche Verabschiedung mit allen 16 Län-
dern und im Deutschen Bundestag nicht doch rasch wie-
der zu einer neuen Klage führt. Ich sage dies, obwohl ich
mir ein solches Ergebnis nicht wünsche.
Nun zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts deswegen stehen
wir heute hier und beraten über die erste Stufe beinhal-
tet nicht sehr genaue Vorgaben, aber eine Fülle von Fra-
gen in Bezug auf den jetzigen Finanzausgleich. Das Bun-
desverfassungsgericht hat uns aufgegeben, in einem
zweistufigen Verfahren den Finanzausgleich neu zu re-
geln. Stufe 1 ist ein Maßstäbegesetz, in dem allgemeine
Maßstäbe für den Ausgleich und die Zuweisung der Fi-
nanzen auf der Basis der Finanzverfassung des Grundge-
setzes entwickelt werden, und auf der Basis dieser allge-
meinen Maßstäbe soll dann als Stufe 2 ein konkretes
Finanzausgleichsgesetz folgen.
Ich weiß, dass allein diese Formulierung des Bundes-
verfassungsgerichts bereits umstritten ist, weil sie eine
Nachrangigkeit und eine Vorrangigkeit bei einfachen Ge-
setzen konstituiert. Wir haben eine ähnliche Situation be-
reits beim Haushaltsgrundsätzegesetz und den darauf auf-
bauenden Gesetzen. Allerdings kann jedes einfache
Gesetz auch das Haushaltsgrundsätzegesetz ändern.
Diese Situation aber, die Vorrangigkeit des Maßstäbe-
gesetzes zeitlich wie inhaltlich und die Nachrangigkeit
des Finanzausgleichsgesetzes zeitlich wie inhaltlich, führt
zu nicht unbeträchtlichen Problemen bei der Lösung die-
ser Aufgabe. In der Tat gibt es, um genau zu sein, eine
Menge Probleme. Auf Länderseite wird ich sage das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Präsident Wolfgang Thierse
16266
ohne jeden kritischen Unterton die Position vertreten:
Wir sind nicht bereit und willens, über das Maßstäbege-
setz zu reden, wenn wir nicht wissen, was beim Finanz-
ausgleichsgesetz herauskommt. Oder um einen Schritt
weiter zu gehen: Bei dem Entwurf des Bundesrates zum
Maßstäbegesetz, der sich auch in seiner Stellungnahme
befindet, die ja in Wirklichkeit die Vielfalt, aber auch die
Gegensätzlichkeit der Meinungen der Länder, darstellt,
handelt es sich nach meiner Überzeugung fast schon mehr
um ein Finanzausgleichsgesetz denn um ein Maßstäbege-
setz, weil viele Einzelregelungen enthalten sind, die nach
meiner Überzeugung in ein Maßstäbegesetz, wie es das
Verfassungsgericht verlangt hat, eigentlich eher nicht
hineingehören.
Dem Entwurf des Maßstäbegesetzes, den wir heute
hier beraten und den die Bundesregierung vorlegen
musste, um dem Urteil des Verfassungsgerichts über die
zeitliche Abfolge und die inhaltliche Abfolge zu genügen,
liegt natürlich die Überzeugung zugrunde, dass wir damit
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen.
Dabei gibt es vier Leitlinien:
Erstens. Es muss sich um langfristig haltbare Maßstäbe
handeln.
Zweitens. Es muss eine Vereinfachung und mehr
Transparenz im System geben; das heißt, es ist eine Reihe
von Sonderbedarfen in die allgemeine Ausgleichsmasse
einzubauen.
Drittens. Es geht um eine Verstärkung des Eigenbehalts
der Länder, damit sie ihre eigenen Finanzquellen stärker
pflegen.
Viertens. Erforderlich sind die Solidarität der Länder
untereinander, die Solidarität der Länder mit dem Bund
und die Solidarität des Bundes mit den Ländern, und dies
unter besonderer Berücksichtigung darauf ist im Maß-
stäbegesetz hingewiesen der neuen Bundesländer, die
aufgrund der teilungsbedingten Sonderlasten noch für
lange Zeit eine besondere Solidarität der Gesamtheit der
Länder und des Bundes benötigen.
Nun will ich kurz einige Einzelregelungen ansprechen.
Ich freue mich darüber, dass es hier im Plenum des Bun-
destages auch eine Diskussion mit den Ländervertretern
gibt, weil wir unsere Argumente prüfen müssen. Einzelne
besonders umstrittene Positionen will ich hier deutlich
machen, auch meine Position dazu.
Der erste Punkt ist die vertikale Umsatzsteuervertei-
lung. Es erstaunt nicht, dass in diesem Punkt es ist fast
der einzige alle Länder einig sind gegen den Bund. Aber
auch an diesem Punkt muss ich auf die Bundesposition
hinweisen. Hier und das ist das besondere Thema des
Familienleistungsausgleichs kommen die Länder zu
der Auffassung, es gebe zwei Regelkreise: einen Regel-
kreis Familienleistungsausgleich und einen anderen Re-
gelkreis allgemeine Deckungsquotenberechnung mit dem
daraus folgenden Ausgleich. Diese Position das sage ich
jetzt an die Vertreter der Länder kann ich nicht nach-
vollziehen. Diese Position könnte ich nur dann logisch
nachvollziehen, wenn dem Regelkreis Familienleistungs-
ausgleich die Aufteilung ist im Grundgesetz festgelegt;
der Bund trägt 76 Prozent und die Länder tragen 24 Pro-
zent nicht nur Ausgaben, sondern auch eigene Einnah-
men zugeordnet wären. In diesem Fall könnte der Famili-
enleistungsausgleich von der allgemeinen Deckungs-
quotenberechnung isoliert werden.
Da aber die Ausgaben in diesem Regelkreis aus den all-
gemeinen Deckungsmitteln finanziert werden, müssen sie
selbstverständlich auch in die allgemeine Deckungsquo-
tenberechnung eingehen. Ich sage mit allem Nachdruck:
Diese Position ist für mich sehr fest. Es ergäben sich näm-
lich Konsequenzen, wenn wir willkürlich zu- und abrech-
nen würden, was wir dem allgemeinen Deckungs-
quotenausgleich zuordnen bzw. nicht zuordnen.
Deswegen sage ich an dieser Stelle, dass es eine ganz
klare Position der Bundesregierung gibt. Auch wenn man
von der Aufteilung in 76 Prozent für den Bund und 24
Prozent für die Länder ausgeht: Der Familienleistungs-
ausgleich ist Bestandteil der allgemeinen Deckungsquo-
tenberechnung.
Zweiter Punkt. Wir definieren die dem Ausgleich zu-
grunde liegenden Einnahmen umfassend. Damit komme
ich zu einem streitigen Punkt unter den Ländern, nämlich
zu der Frage, in welchem Umfang die kommunalen
Einnahmen dem Ausgleich zugrunde gelegt werden. Bis-
her beträgt der Umfang 50 Prozent. Ich kenne die Län-
derpositionen in diesem Zusammenhang; ich selbst habe
sie schon vertreten.
Ich habe aber den Eindruck das ist positiv , dass wir
der allgemeinen Einbeziehung ein wenig näher kommen.
Im Maßstäbegesetz wird festgelegt, dass alle Ausgaben,
die ausgleichsrelevant sind, zu 100 Prozent eingerechnet
werden müssen. Es ist eine aus meiner Sicht rein interes-
sengeleitete Position es ist weniger eine verfassungs-
rechtliche Frage; das akzeptiere ich , wenn man die Ba-
sis wie im Steuerrecht künstlich schmal macht und auf
dieser künstlich schmal gemachten Basis die Ausgleichs-
volumina, die Ausgleichssätze und die Ausgleichstarife
aufbaut. Im Steuerrecht wollten wir den umgekehrten
Weg gehen. Mit Blick auf gestern sage ich allerdings, dass
dies in der Konsequenz nicht dazu führen darf, dass die
Krankenschwestern für die Chefärzte hinterher die Steu-
ersenkung bezahlen müssen. Das wollten wir nicht.
Wir werden noch darüber diskutieren; wir müssen im-
mer die sozialen Konsequenzen im Blick behalten.
Diese Frage müssen sich die Länder untereinander stel-
len. Wenn die Basis der Ausgleichsleistung künstlich
schmal gemacht wird, hat das natürlich für die Länder
Konsequenzen, in denen diese Basis von vornherein
schmal ist, weil sie finanzschwächer sind. In diesem
Punkt liegt der Grund für den Streit der Länder unterei-
nander.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Bundesminister Hans Eichel
16267
Dritter Punkt: die Ausgleichshöhe. Die Ministerpräsi-
dentenkonferenz hat sich einvernehmlich darauf verstän-
digt, das Thema Länderneugliederung nicht als Gegen-
stand dieser Debatte zu betrachten. Vielmehr soll die
Existenzfähigkeit aller 16 Länder die Grundlage für die
weiteren Betrachtungen bilden. Diese Position schließt
künftige Länderneugliederungen ich denke an die er-
neuten Bestrebungen, Berlin und Brandenburg zusam-
menzuschließen nicht aus. Bei den Regelungen zum Fi-
nanzausgleich muss berücksichtigt werden, dass es
keinen Sinn macht, einen Finanzausgleich zu konstru-
ieren, der die Existenzfähigkeit einzelner Länder finanzi-
ell infrage stellt.
Damit sind wir bei der Frage: Was sind die abstrakten
Mehrbedarfe der Stadtstaaten? Im Maßstäbegesetz
werden die abstrakten Mehrbedarfe der Stadtstaaten
ausdrücklich anerkannt. Ich glaube zwar, dass die
Einzelformulierung anders als in dem Entwurf der elf
Länder , wie hoch die Mehrbedarfe sein dürfen, ins Fi-
nanzausgleichsgesetz gehört. Ich habe aber inhaltlich mit
dem, was in dem Entwurf der elf Länder steht, kein Pro-
blem. Ich sage nur: Dieser Punkt gehört ins Finanzaus-
gleichsgesetz und nicht ins Maßstäbegesetz.
Ich weise ferner darauf hin, dass wir im Maßstäbege-
setz ausdrücklich abstrakte Mehrbedarfe besonders dünn
besiedelter Länder anerkannt haben. Ich weiß, dass insbe-
sondere die ostdeutschen Länder Probleme haben, weil
sie aufgrund der dünnen Besiedelung zusätzliche Kosten
haben. Ich finde, dieses Problem muss berücksichtigt
werden.
Es muss schließlich klar sein Stichwort horizontaler
Finanzausgleich , dass keine Veränderung der Finanz-
kraftreihenfolge durch den Ausgleich entstehen darf. Eine
andere Frage ergibt sich aus dem Sonderbedarf aufgrund
teilungsbedingter Lasten. Ich verweise in diesem Zusam-
menhang auf den Solidarpakt II. Hier werden wir nur
durch zusätzliche Leistungen, die dann auch die Finanz-
kraftreihenfolge zeitlich befristet verändern, die Chance
eröffnen, dass die ostdeutschen Länder an das Niveau der
westdeutschen anschließen. Ich denke aber, auch darüber
kann unter uns kein Streit sein.
Eine Bemerkung zum Verhältnis von Länderfinanzaus-
gleich und bundesstaatlichen Leistungen dabei. Ehe ich
sozusagen zu der politischen Betrachtung komme, weise
ich auf das Verfassungsgerichtsurteil hin, das in diesem
Punkte klar macht, dass im Verhältnis zum Gesamtum-
fang des Finanzausgleichs die Bundesergänzungszuwei-
sungen nicht beträchtlich sein dürfen und dass an sie hohe
Begründungsanforderungen gestellt werden. Politisch ge-
sehen erkläre ich hier ausdrücklich, dass der Bund daraus
trotzdem jedenfalls für die Übergangsphase nicht ab-
leitet, dass er im Finanzausgleich ein Gewinner sein will.
Ich sage das ausdrücklich, weil das vielleicht ein bisschen
hilft, die Einigung, die über den Finanzausgleich stattfin-
den muss, zu erleichtern. Aber ich weise auch auf das Ur-
teil in diesem Zusammenhang hin.
Meine Damen und Herren, nicht im Maßstäbegesetz
enthalten, weil es dort nicht hineingehört, aber wohl ent-
halten in unseren Regelungsvorschlägen ist der Fonds
Deutsche Einheit. Das Bundesverfassungsgericht macht
in seinem Urteil ausdrücklich klar, dass hier eine Neure-
gelung erforderlich ist. Wir schlagen deswegen vor, dass
der Fonds Deutsche Einheit insgesamt vom Bund über-
nommen wird und dass für Zins- und Tilgungsleistungen
die Länder dem Bund Umsatzsteueranteile in der Höhe, in
der Zins und Tilgung zu erbringen sind, abtreten.
Ich will dabei auch sagen, dass der Bund unter Um-
ständen bereit ist, im Blick auf die Einigungsfähigkeit im
Gesamtkonzept über die Frage zu verhandeln, in welcher
Höhe das genau passiert. Das aber heißt, dass zumindest
für eine Übergangszeit der Bund sogar bereit ist, bei Ein-
beziehung des Fonds Deutsche Einheit durch Verzicht auf
einen Teil der Zins- und Tilgungsleistungen den Ländern
noch entgegenzukommen und damit die Einigung der
Länder möglich zu machen. Wir haben das mit 1 bis ma-
ximal 1,5 Milliarden DM beziffert.
Ich weise aber auch darauf hin, dass der Bund, um die
Einigung möglich zu machen, 1993 mit Wirkung von
1995 zur Vorabauffüllung für die ostdeutschen Länder
7 Umsatzsteuerpunkte zur Verfügung gestellt hat und dass
die Mechanik im Finanzausgleich zwischen Bund und
Ländern, die dazu geführt hat, dass beim Einstieg 1970
der Anteil des Bundes an der Umsatzsteuer 70 Prozent be-
trug und der der Länder 30 und dass der Anteil des Bun-
des inzwischen auf knapp unter 50 gefallen ist, so nicht
weitergehen kann,
weil das zu einer nachhaltigen Schieflage im gesamtstaat-
lichen Gefüge führt und nur dann, wenn alle Ebenen
Bund, Länder und Gemeinden leistungsfähig sind, die
föderale Ordnung wirklich funktionieren kann.
Bei dieser Gelegenheit will ich auf einen weiteren
Punkt im Maßstäbegesetz aufmerksam machen, der mir
sehr wichtig ist; das ist die Regelung zum nationalen
Stabilitätspakt. Wir alle wissen, dass schon mein Vor-
vorgänger, Herr Kollege Waigel, intensive Versuche un-
ternommen hat, den Europäischen Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt in die innerdeutsche Situation einzupflanzen,
wobei wir übrigens auch vonseiten der Europäischen
Union ziemlichem Druck unterliegen, hier zu Lösungen
zu kommen. Wir wissen alle, dass es keine Lösungs-
möglichkeit gegeben hat, und zwar im Wesentlichen des-
wegen nicht, weil nicht klargemacht werden konnte
was ich auch für eine relativ unsinnige Debatte halte ,
wie viel denn der Einzelne über die Stränge schlagen darf
und, wenn er über die Stränge schlägt, wer die Veranstal-
tung bezahlt.
Der Vorschlag, den wir hier machen, ist, glaube ich, der
günstigste Ausweg aus der gesamten Situation, dass wir
uns nämlich gemeinsam mein Eindruck war, dass das
bei den Ländern nicht anders gesehen wird zu einer Po-
litik verpflichten, die aus der Schuldenfalle herausführt.
Ich weiß wohl, dass die Länder zu unterschiedlichen
Zeitpunkten das Ziel erreichen können. Aber ich glaube
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Bundesminister Hans Eichel
16268
auch nicht, dass dies das Wichtigste ist. Wenn wir uns über
das Prinzip einig sind, dann können wir uns, denke ich,
auch über den Zeitablauf einigen, dann können wir uns
diese abstrakt-theoretische und wegen der gedachten Aus-
wirkungen hinterher nicht einigungsfähige Debatte über
die Frage, wer wie über die Stränge schlagen darf und wer
das hinterher bezahlt, ersparen. Deswegen hänge ich an
dem Vorschlag, den ich dazu gemacht habe. Wir haben im
Finanzministerium lange darüber nachgedacht und sind
zu keiner anderen konstruktiven Lösung dieses Problems
gekommen. Deswegen bin ich ein bisschen konsterniert
über die Ablehnung, die diese Regelung in der ersten
Runde durch die Länder erfahren hat. Ich möchte drin-
gend darum bitten, entweder einen eigenen Lösungsvor-
schlag für dieses Problem zu unterbreiten oder, weil ich
nicht glaube, dass dies geht, darüber nachzudenken, ob
unser Lösungsvorschlag nicht für alle Beteiligten einen
sehr vernünftigen Weg darstellt.
Meine Damen und Herren, ich komme schließlich und
endlich zum politischen Zeitablauf: Das Bundesverfas-
sungsgericht geht von einem zeitlichen und inhaltlichen
Nacheinander von Maßstäbegesetz, Finanzausgleichsge-
setz und ich sage das ausdrücklich, weil es politisch und
fachlich miteinander verbunden ist Solidarpakt II aus.
So gesehen ist es theoretisch in Bezug auf die Zeitabläufe,
die das Verfassungsgericht im Urteil genannt hat, vor-
stellbar, in dieser Wahlperiode das Maßstäbegesetz und in
der nächsten Wahlperiode, wenn wir uns der Jahreswende
2004/2005 nähern, zu der die Neuregelungen in Kraft tre-
ten müssen, den Solidarpakt II und den Finanzausgleich
umzusetzen. Auf politischer Ebene ist aufgrund der For-
derung der Länder eine andere Verabredung getroffen
worden. Die Bundesregierung steht zu dieser Verabre-
dung, nämlich in dieser Wahlperiode sowohl das Maßstä-
begesetz als auch den Solidarpakt II und den Finanzaus-
gleich zu verabschieden.
Wir werden aber in erhebliche Zeitnot geraten, wenn
wir jetzt nicht anfangen, uns um eine Einigung zu
bemühen. Deswegen sage ich mit Nachdruck: Meine
herzliche Bitte an die Länder ist, jetzt einen Weg zu einer
Einigung zu finden, ohne dabei das Prinzip Keine
Gewinner keine Verlierer zu vernachlässigen und das
Verhältnis der Länder untereinander bzw. zwischen dem
Bund und den Ländern zu verschlechtern. Dies ist eine
wesentliche Voraussetzung dafür, dass es zwischen Bund
und Ländern zu einer Einigung kommt.
Meine Zielsetzung ist es trotz der am Anfang gemach-
ten skeptischen Vorbemerkungen , wenn es irgendwie
möglich ist, zu einem Einvernehmen zwischen allen Län-
dern untereinander und zwischen den Ländern und dem
Bund zu kommen. Ich hoffe, dass dieses dann länger hält
als beim letzten Mal.
Ich weise darauf hin, dass der Bund trotz seiner beson-
ders schwierigen Haushaltslage es gibt keine Gebiets-
körperschaft, die vergleichbar hohe Schulden hat wie der
Bund alles daran setzt, um die Voraussetzungen für eine
Einigung zu schaffen. Wir sind bereit ich habe das eben
schon erwähnt , bei einer Neuregelung durch die Einbe-
ziehung des Fonds Deutsche Einheit in das Ausgleichssys-
tem für die Länder 1 bis 1,5 Milliarden DM zur Verfügung
zu stellen, was zur Wahrung des Prinzips Keine Gewin-
ner keine Verlierer unter den Ländern einen wesentli-
chen Beitrag leisten würde.
Ich sage bei dieser Gelegenheit allerdings auch hier-
bei handelt es sich um eine Regelung im Maßstäbege-
setz , dass Haushaltsnotlagenprobleme, so wie es das
Verfassungsgericht in den Urteilen zur Haushaltsnotlage
von Bremen und dem Saarland festgelegt hat, künftig ge-
meinsam von Bund und Ländern gelöst werden müssen
und diese nicht wie es diesmal geschehen ist aus-
schließlich durch den Bund zu finanzieren sind.
Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Hause
aber auch in den einzelnen Ländern über die Frage dis-
kutieren, ob man nicht im gleichen Zusammenhang über
eine Revitalisierung des föderalen Staatsaufbaus, also
über eine geringere Verklammerung von Entscheidungen
und mehr Eigenverantwortung der Länder und des Bun-
des, nachdenken soll, so sage ich, dass die Bundesregie-
rung dazu bereit ist. Ich weise aber aus genauer Kenntnis
darauf hin, dass ich eine Mehrheit bei den Ländern für
eine Verfassungsänderung und das wäre die Vorausset-
zung für eine Einigung bisher nicht erkennen konnte,
weil sich zwar die finanzstarken Länder diesem Prinzip
verpflichtet fühlen, die finanzschwächeren Länder aber
sehr viel mehr auf die Ausgleichsmechanismen und ge-
meinsame Finanzierung setzen. Ich sage dies ohne jede
Kritik, weil es sich jeweils um Interessenwahrung han-
delt. Im Hintergrund steht aber immer die Forderung, über
die Frage zu reden, ob wir nicht zu einer Entflechtung der
Aufgabenbereiche und zu mehr Eigenverantwortung des
Bundes und der Länder kommen müssen; das halte ich für
eine wünschenswerte Zielsetzung.
Zum Schluss: Wir steigen heute hier im Bundestag in
diese Debatte ein. Im Bundesrat hat es dazu eine erste De-
batte sowie eine Stellungnahme bereits gegeben. Zielset-
zung des Bundes ist es, zu einem Einvernehmen zwischen
allen 16 Ländern untereinander sowie zwischen allen
16 Ländern und dem Bund zu kommen. Der Bund hat sei-
nerseits deutlich gemacht, dass er bereit ist, trotz seiner
besonders angespannten Haushaltslage dazu einen Bei-
trag zu leisten.
Ich wäre sehr froh, wenn wir heute ein Stückchen über
den bisherigen Stellungskrieg hinauskommen könnten,
wenn wir erkennen könnten, dass wir jetzt auf dem Weg
sind, um dann rasch zu einem Ergebnis zu kommen, mit
der Zielsetzung, vor der Sommerpause politisch ein Er-
gebnis zum Maßstäbegesetz, zu den Grundregelungen des
Finanzausgleichs und des Solidarpaktes II zu erreichen,
damit wir dann in der Abfolge, wie es das Verfassungsge-
richt vorgesehen hat, das Maßstäbegesetz möglichst rasch
verabschieden können und danach auch die Gesetzge-
bungsarbeit für den Solidarpakt II und das Finanz-
ausgleichsgesetz so gestalten können, dass wir, wie
politisch verabredet, in dieser Wahlperiode alles verab-
schieden können.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Bundesminister Hans Eichel
16269
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinz Seiffert, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Eichel, mit die-
ser Rede sind Sie im Bundesrat mit 16 : 0 untergegangen.
Ich hoffe jetzt nur, dass wenigstens die Herren Finanzmi-
nister und Ministerpräsidenten frische Reden gegenüber
denen, die sie im Bundesrat gehalten haben, dabeihaben;
denn wir sind heute im Deutschen Bundestag.
Herr Minister Eichel, Sie haben heute einen Gesetz-
entwurf verteidigt, von dem Sie und fast alle anderen wis-
sen, dass er so nie ins Gesetzblatt kommen wird. Außer-
dem verwundert, dass Sie in diesem Gesetzentwurf
Positionen vertreten, die Sie als hessischer Ministerpräsi-
dent noch heftig angegriffen und teilweise sogar für ver-
fassungswidrig erklärt haben.
Dieser Entwurf ist auch kein Beitrag zu einer einver-
nehmlichen Lösung mit den 16 Ländern. Sie ignorieren
im Gegenteil die ernsthaften Bemühungen der Länder,
eine allseits akzeptable Lösung hinzubekommen, so
schwierig dies auch ist.
Es geht Ihnen vor allem darum das wird bei der ver-
tikalen Verteilung der Umsatzsteuer besonders deutlich
, eine Position des Bundes aufzubauen, die Sie dann ge-
gebenenfalls im Vermittlungsverfahren räumen können.
Sie schonen die Bundeskasse.
Aber es ist kein Beitrag zu einer einvernehmlichen, fai-
ren Lösung.
Sie versuchen, die Bundesanteile an der Umsatzsteuer
zu erhöhen und Minderausgaben bei den Bundesergän-
zungszuweisungen durchzusetzen. Sie wollen die Unei-
nigkeit der Länder, die im Moment zweifellos noch vor-
herrscht, nutzen.
Aber weder die CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch die
16 Länder werden Schmiere stehen, wenn sich der Bund
aus seiner gesamtstaatlichen Verantwortung stehlen will.
Das machen wir sicher nicht mit.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit dem vorge-
schriebenen zweistufigen Verfahren keine leichte Auf-
gabe gestellt. Es ist für das Parlament schlicht unmöglich,
jetzt sozusagen im Blindflug ein Maßstäbegesetz zu bera-
ten, dessen finanzielle Folgen für den Bund und für die
Länder nicht konkret festgelegt werden können. Konkret
ist in dem Gesetzentwurf an und für sich nur ein Punkt,
nämlich die Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft
zu 100 Prozent statt, wie bisher, zu 50 Prozent.
Unabhängig davon, ob dieses Ansinnen nun verfas-
sungsgemäß ist oder nicht: Hier sind die finanziellen Fol-
gen klar berechenbar. Das würde bedeuten, dass diejeni-
gen Länder, die schon heute zahlen, künftig noch mehr
zahlen müssten. Wie aber die so genannte Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage dann finanziell kompensiert
würde, bleibt nebulös.
Insofern ist es unverzichtbar, das Finanzausgleichsge-
setz möglichst zeitnah zum Maßstäbegesetz vorzulegen.
Legen Sie doch die Proberechnungen auf den Tisch, die
im BMF vorliegen, Herr Minister Eichel! Nur wenn Sie
mit offenen Karten spielen, haben wir eine Chance, eine
einvernehmliche Lösung im Bundestag und im Bundesrat
hinzubekommen.
Nach Art. 107 Abs. 2 des Grundgesetzes ist sicherzu-
stellen, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder
angemessen ausgeglichen wird. Nun gehen natürlich
vermutlich seit es diese Verpflichtung zum Finanzaus-
gleich gibt die Meinungen darüber auseinander, was an-
gemessen ist. Die Sichtweise wird wahrscheinlich maß-
geblich davon beeinflusst, ob man im Ausgleichssystem
Empfänger oder Zahler ist. Da ist es dann auch Wurscht,
welche parteipolitische Zugehörigkeit man hat. Entspre-
chend ergeben sich im Moment Zweckbündnisse oder
Kreise, die im normalen politischen Alltag ziemlich
ungewöhnlich wären.
Tatsache ist, dass der Finanzausgleich ganz unabhän-
gig vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts seit lan-
gem reformbedürftig ist. Das geltende System ist höchst
kompliziert, undurchschaubar, leistungsfeindlich und da-
her für Geber und Empfänger ungerecht.
Es ist absurd, wenn von 100 DM zusätzlich eingenom-
mener Einkommensteuer in elf von 16 Landeskassen kein
Pfennig übrig bleibt. Vollends verrückt ist es doch, wenn
einzelne Empfängerländer bei 100 DM zusätzlicher eige-
ner Steuereinnahme bis zu 116 DM weniger an Zuwei-
sungen aus dem Finanzausgleich erhalten. Man wird also
bei eigenen Anstrengungen, bei Pflege der eigenen Steu-
erquellen bestraft. Das kann es nicht sein.
Ich will nicht dem Wettbewerbsföderalismus das Wort
reden. Dazu sind die strukturellen Verhältnisse in unserem
Land zu unterschiedlich. Tatsache ist, dass ein System wie
das, das wir jetzt haben, nicht den geringsten Anreiz für
eine zusätzliche wirtschaftliche Betätigung bietet. Die
von einigen Finanzwissenschaftlern vorgetragene Überle-
gung, dass das geltende Ausgleichssystem für das Steu-
eraufkommen und das Wirtschaftswachstum nachteilig
ist, sollten wir ernst nehmen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 200116270
Es ist wahrscheinlich, dass neben der verfehlten Steuer-
politik dieser Regierung auch der leistungsfeindliche Fi-
nanzausgleich mit daran schuld ist, dass wir im Euro-
Land beim Wirtschaftswachstum das Schlusslicht bilden.
Hinsichtlich der verbesserten Anreizwirkung sind im Ge-
setzentwurf durchaus positive Ansätze erkennbar. Wie sie
allerdings konkret umgesetzt werden sollen, ist unklar.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
Folgendes aufgegeben: Künftig soll es ein praktikables
Ausgleichssystem mit ökonomisch rationalen Regelun-
gen geben. Eine Übernivellierung muss ausgeschlossen
sein und die Finanzkraftreihenfolge der Länder darf auch
nach dem Ausgleich nicht auf den Kopf gestellt werden.
Schließlich sollen Einzelelemente nachhaltig auf ihre
Notwendigkeit und Rationalität hinterfragt werden. Zur
Umsetzung dieser Vorgaben werden noch kräftige An-
strengungen notwendig sein.
Dieses Gesetzgebungsverfahren wird so finde ich
eine Bewährungsprobe für den Föderalismus in Deutsch-
land. Dieser Herausforderung wird allerdings derjenige,
der sich ausschließlich bemüht, die jetzt ziemlich untrag-
baren Verhältnisse zu zementieren oder wasserdicht zu
machen, niemals gerecht. Das ist sicher nicht der richtige
Weg.
Ich finde, wir sollten die Neuregelung des Finanzaus-
gleichs dieses Maßstäbegesetz ist der erste Schritt dazu
nutzen, eine wirklich zukunftsträchtige Politik zu ma-
chen. Insofern bin ich mit vielem, was in den letzten an-
derthalb Jahren, also seit dem Urteil, gelaufen ist, nicht
gerade glücklich. Das Urteil wäre zumindest nach meiner
persönlichen Meinung auch ein Anlass gewesen, das
Grundproblem, den Hauptgrund für die Schieflage im
Länderfinanzausgleich anzusprechen, nämlich die unglei-
che Länderstruktur, die so nie gleiche oder ähnliche
Kräfteverhältnisse ermöglichen wird. Es ist schade, dass
diese notwendige Diskussion völlig unterblieben ist.
Als einer, der aus einem 1952 zusammengelegten Land
kommt, kann ich Ihnen versichern: Man lebt in Württem-
berg und in Baden gut und ohne Grenzzäune.
Die Reform von 1952 aber war davon lasse ich mich
nicht abbringen neben einer erfolgreichen Landespoli-
tik mit ein Grundstein dafür, dass Baden-Württemberg
dauerhaft zu den leistungsfähigsten Ländern der Republik
gehört und seit einem halben Jahrhundert Zahlerland ist.
Als äußerst ärgerlich und in der Sache wenig hilfreich
habe ich die Zusagen des Bundeskanzlers an einzelne
Stadtstaaten im Zuge des Vermittlungsverfahrens zur
Steuerreform empfunden. Genau diese politische Kunge-
lei, dieses Gezerre wollte das Bundesverfassungsgericht
vermeiden.
Dass der Bund am vergangenen Wochenende im Zuge des
Vermittlungsverfahrens zur Rentenreform und zur Neu-
regelung der Familienförderung wieder mit Milliardenzu-
sagen um sich geworfen hat, ist eine Zumutung für das
Bundesverfassungsgericht, eine Zumutung für die Parla-
mentarier hier. Im Übrigen ist es eine besondere Zumu-
tung für die CDU-geführten Länder in der Bundesrepu-
blik.
Herr Ausschussvorsitzender Kröning, dies alles hat
nichts mehr mit einem ordnungsgemäßen und sachge-
rechten Verfahren zu tun. Da können wir uns im Aus-
schuss anstrengen so viel wir wollen.
Einen weiteren Punkt will ich ansprechen: Ohne dass
man sich selbstkritisch die Mühe macht, grundsätzliche
Überlegungen über die Berechtigung und Zeitgemäßheit
einzelner Ausgleichsfaktoren anzustellen, sind eine
Menge Gutachten in Auftrag gegeben worden. Ich halte
diese Gutachten zu allen möglichen Bereichen für sehr
beachtlich. Dabei wundert mich immer eines: Jedes Gut-
achten bestätigt und bekräftigt oft sehr umfangreich
genau und ziemlich ausschließlich die Meinung der Auf-
traggeber.
Man kann sich also für oder gegen alles Mögliche Gut-
achten fertigen lassen und diese dann lustvoll zitieren.
Wir werden im Ausschuss nicht umhinkommen, den ei-
genen klaren Menschenverstand zu nutzen.
Ein klares Wort will ich für die CDU/CSU-Fraktion
zum Thema neue Länder sagen: Wir stehen ohne Wenn
und Aber für die Fortführung der Finanzhilfen über 2004
hinaus.
Die Ostländer werden noch lange eine deutlich geringere
Steuerkraft haben. Deshalb brauchen sie auf lange Sicht
Sonderbundesergänzungszuweisungen, eventuell als Teil
des Solidarpaktes II. Für uns jedenfalls gehören das Maß-
stäbegesetz, der Finanzausgleich und der Solidarpakt II
zueinander. Man wird über einzelne Fragen, über Volu-
men, Dauer und Anreizwirkung, sicher noch sprechen
müssen. Dies ändert aber überhaupt nichts daran, dass wir
grundsätzlich zur Solidarität mit den neuen Ländern be-
reit sind.
Nun sind in erster Linie die Länder gefordert. Sie sind
zur Einigung verdammt, und zwar möglichst nicht erst im
Vermittlungsverfahren; das wäre für uns alle hilfreich.
Jede Mehrheitsentscheidung, die im Bundesrat oder
auch hier im Deutschen Bundestag getroffen wird, hat
gute Chancen, wieder in Karlsruhe zu landen. Es wäre
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Heinz Seiffert
16271
allerdings ein Armutszeugnis für die Politik, wenn wir in
diesem wichtigen Punkt unfähig zur Einigung wären.
Wir sollten uns gemeinsam bemühen, die Interessen
der kleinen und der großen, der alten und neuen, der fi-
nanzschwachen und der finanzstarken Länder zu einem
gerechten ich betone: gerechten Ausgleich zu bringen.
Die Balance zwischen der Eigenstaatlichkeit der Länder
und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft muss gehalten
werden.
Dies sind fürwahr anspruchsvolle Ziele. Wir müssen
sie erreichen, wenn wir auf Dauer ein lebendiger födera-
ler Bundesstaat bleiben wollen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Seiffert hat davon gesprochen, dass wir heute nicht im
Bundesrat, sondern im Bundestag die Debatte führen,
und er hat den Bundesfinanzminister dahin gehend
attackiert, Argumente vorzutragen, die er bereits im Bun-
desrat vorgebracht hat.
Da frage ich die CDU/CSU-Fraktion: Warum ist heute bei
Ihnen der Kollege Seiffert der einzige Bundestagsabge-
ordnete, der zu diesem Thema spricht, während von Ihrer
Seite vier Finanzminister bzw. Ministerpräsidenten eine
Rede halten? Das ist schon bemerkenswert.
Die SPD ist in diesem Punkt korrekter. Man hat auf
Gleichheit geachtet: Es sprechen zwei Abgeordnete und
zwei Ländervertreter.
Angesichts des Verteilungskampfes zwischen Bund
und Ländern sollte man sich immer wieder vor Augen
führen, dass wir als Bundesebene natürlich die Interessen
des Bundes vertreten sollten.
Nach meiner Auffassung müssten heute angesichts dieses
Verteilungskampfes Kolleginnen und Kollegen aus unter-
schiedlichen Fraktionen denn wir alle sind Bundespoli-
tiker nachhaltig das Eigeninteresse des Bundes betonen.
Wir sollten nicht schon im Voraus die Ländersicht, die so
heterogen ist, dass die Länder unter sich nicht einig sind,
zum Maßstab des Abarbeitens unserer Position machen.
Ich erinnere daran, dass bei der letzten Reform des Fi-
nanzausgleichs damals wurden die neuen Bundesländer
einbezogen; dies war das Föderale Konsolidierungspro-
gramm Bundesfinanzminister Theo Waigel, der damals
in Bayern als Aspirant für die Ministerpräsidentenposi-
tion mit Stoiber rangelte er verlor im innerparteilichen
Kampf , in der Schlussrunde Bundesmittel zur Dispo-
sition stellte, also länderfreundlich agierte; vielleicht in
der falschen Hoffnung, in Bayern zum Zuge zu kommen.
Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages ha-
ben dann, als das thematisiert wurde dies war vor fünf
bzw. sechs Jahren , die eigenen CDU/CSU-Kollegen die
Position, dass damit ein Ausverkauf von Bundesinteres-
sen betrieben wurde, bestätigt.
Sie können es auch an der Steuerverteilung zwischen
den staatlichen Ebenen feststellen, dass der Bund in den
letzten acht Jahren Steueranteile verloren hat. Gäbe es
nicht bei der Mineralölsteuer, die eine reine Bundessteuer
ist, Zuwächse über die Ökosteuer diese fließen be-
kanntlich der Rentenversicherung zu , hätte sich der An-
teil des Bundes sogar weiter signifikant verschlechtert.
Der Bundesanteil wurde in den letzten Jahren lediglich
durch die Erhöhung einer Bundessteuer stabilisiert. Das
ist die Wahrheit, die man immer im Blickfeld behalten
sollte.
Ein Finanzausgleich ist nichts Abstraktes und Theore-
tisches. Wenn man eine Fachdiskussion über die Technik
des sehr komplizierten Mechanismus führt, dann hört sie
sich für jeden Normalbürger an, als hätte man nicht mehr
alle Tassen im Schrank, weil es unverständliches Kauder-
welsch darstellt.
Faktisch geht es bei dieser Diskussion um Finanzvo-
lumina, die weit über das hinausgehen, was wir bei jedem
einzelnen Gesetzentwurf in diesem Haus beschließen.
Wenn wir jetzt das Kindergeld um 30 DM erhöhen oder
bei der Rente bestimmte Regelungen treffen, die die Aus-
gaben in einem Volumen von wenigen Milliarden DM
zwischen Bund und Ländern hin- und herbewegen, dann
sind das vergleichsweise kleinste Größen gegenüber dem,
was wir im Finanzausgleich über die Jahre hinweg bewe-
gen. Hier geht es um dreistellige Milliardenbeträge, wes-
wegen es sich lohnt, das Interesse des Bürgers in den Mit-
telpunkt zu stellen.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ist übri-
gens die einzige Bundestagsfraktion, die hinsichtlich des
Maßstäbegesetzes eigenständige Positionen beschlossen
hat. Die anderen Fraktionen haben es demgegenüber der
Bundesregierung überlassen, mit dem Entwurf eines
Maßstäbegesetzes eine Vorlage zu schaffen, an der sich
die Länder abarbeiten.
Wir Grünen sind der Auffassung, dass das System des
Finanzausgleichs durch Ineffizienz gekennzeichnet ist,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Heinz Seiffert
16272
für die viele verantwortlich sind: nicht nur diese Koali-
tion; wir regieren erst seit zweieinhalb Jahren. Der Finanz-
ausgleich wurde auch in den 16 Jahren davor in die orga-
nisierte Verantwortungslosigkeit geführt, die wir alle
beklagen.
Das System ist ineffizient, weil Nehmerländer keinen
Anreiz haben, ihre eigene Wirtschaftskraft zu stärken, und
weil Haushaltsdisziplin nicht belohnt wird: Wer im Fi-
nanzausgleich stärker wird und die eigene Einnahmebasis
vergrößert, bekommt im Folgejahr einen Abzug. Das ist
absurd, weil sich dann Leistung weder für die Schwachen
noch für die Starken lohnt; Letztere werden wegen des
Ausgleichsmechanismus des heutigen Systems immer
mehr für die Schwächeren einbezahlen müssen, bei denen
dadurch wiederum jeglicher Anreiz wegfällt, die eigene
Leistungskraft zu erhöhen. Wenn wir von aktivierendem
Föderalismus reden diese Vokabel steht über dem grü-
nen Konzept , dann geht es darum, dass alle Länder
Nehmerländer wie Geberländer, auch die Stadtstaaten
ein Interesse daran haben, nicht augenzwinkernd Wirt-
schafts- und Ansiedlungspolitik zu betreiben, bei der sie
ihre Steuerkraft in der Hoffnung nicht ausschöpfen, dass
ihnen der Ausgleichsmechanismus schon das nötige Geld
in die Kassen spülen und im Zweifelsfall der Bundesfi-
nanzminister mit neuem Geld des Bundes die Unfähigkeit
auf der Landesebene ausgleichen werde. Darum geht der
Streit.
Der Streit geht auch um die Steuerlast der Bürgerinnen
und Bürger. Jeder sollte sich daran erinnern, dass in
Art. 106 des Grundgesetzes auch steht, dass im Rahmen
des innerstaatlichen Finanzausgleichs eine Überlastung
der Steuerpflichtigen vermieden wird. Deshalb brauchen
wir ein effizientes Anreizsystem, das zwar den solidari-
schen Gedanken bewahrt, dass die Starken den Schwa-
chen helfen, aber die Schwachen auch in die Lage ver-
setzt, eigene Einnahmen zu mobilisieren und davon
immer mehr zu behalten, damit die Schwachen in Zukunft
Starke werden können. Dieser Grundsatz ist auch für den
innerstaatlichen Finanzausgleich richtig; in der Wirt-
schaftspolitik wird dieser Grundgedanke von vielen Men-
schen in unserem Lande geteilt.
Wenn wir den Gedanken, eine Überlastung der Bürge-
rinnen und Bürger zu vermeiden, durchdeklinieren, dann
wäre es ohne Frage gerecht, den Finanzausgleich durch
die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage auf eine
langfristig tragfähige Basis zu stellen und in diesem Zu-
sammenhang auf die Bundesergänzungszuweisungen zu
verzichten, die immer stärker aufgewachsen sind und im
letzten Jahr über 26 Milliarden DM ausmachten. Mit die-
sen Mitteln regelt der Bund nur das, was der Finanzaus-
gleich offensichtlich nicht zu regeln in der Lage ist. Der
Grundgedanke, der dazu im Maßstäbegesetz enthalten ist,
zum Beispiel die kommunale Finanzkraft zu 100 Pro-
zent einzubeziehen, war absolut richtig.
Ich behaupte: Die fünf ostdeutschen Bundesländer
wären, obwohl sie sich jetzt im Elferklub im Hanno-
veraner Kreis nur auf 50 Prozent verständigt haben, lang-
fristig und strategisch die größten Profiteure einer mög-
lichst breiten Einbeziehung der Finanzierungsbasis, weil
Bundesergänzungszuweisungen immer unter dem Druck
sind, degressiv gestaltet zu werden. Sie sind keine Dauer-
alimentierung. Vielmehr werden diese Zuwendungen ten-
denziell abgeschmolzen werden müssen. Das ist übrigens
auch verfassungsrechtliche Vorgabe. Deshalb müssten die
Ostländer ein originäres Interesse daran haben, die kom-
munale Finanzkraft stärker angerechnet zu bekommen.
Trotzdem ist es nicht dazu gekommen, weil es Geber-
länder geschafft haben, den Eindruck zu erwecken, sie
würden dadurch bluten, ohne dass sie daran denken, dass
die Gegenmaßnahme bei der 100-prozentigen Anrech-
nung der Kommunalfinanzen natürlich der Ausgleichs-
mechanismus ist.
Es kommt darauf an, wie der Tarif gestaltet wird und
wie viel die Länder von ihren zusätzlichen Einnahmen be-
halten können. Es gibt dabei Stellgrößen, die verändert
werden können. In dieser Auseinandersetzung, bei dem,
was am letzten Wochenende im Kanzleramt zwar nur
mit den SPD-Ministerpräsidenten beredet wurde, ist zu
erkennen, dass diese Stellgrößen bedient werden. Daran
wird aber deutlich, dass dieses Maßstäbegesetz eine erst-
klassige Grundlage ist, um einen Kompromiss zwischen
Bund und Ländern zu finden. Es wird nicht funktionieren,
nur 50 Prozent der kommunalen Finanzkraft einzubezie-
hen. Dieser Anteil wird höher werden. Meines Erachtens
sind die jetzt in Rede stehenden zwei Drittel eigentlich zu
wenig. Man könnte diese Quote auf 70 oder 80 Prozent
festlegen, wenn man mit dem Ausgleichstarif arbeitet,
weil der Bund auf der anderen Seite die Besorgnis der
Länder, die ich zu einem gewissen Teil verstehe,
dadurch abmildert, dass er im Rahmen des Fonds Deut-
sche Einheit Annuitätenpflichten der Länder übernimmt.
Auch das Bekenntnis, das unsere Fraktion mit ihrem
Konzept ablegt und das sich im Maßstäbegesetz der Bun-
desregierung widerspiegelt, dass die Einwohnerverede-
lung gilt und man auch die Problematik der dünn besie-
delten Ostbundesländer aufgreifen muss, ist doch ein
Angebot, mit dem Bundespolitiker mit der Idee eines ak-
tivierenden Föderalismus belegen können: Das bündische
Prinzip, das Füreinander-Einstehen, wird von uns nicht
zur Disposition gestellt. Wir sollten aber auch gesamt-
staatlich die Anreizsysteme wecken, die nötig sind, um
längerfristig tatsächlich in der Finanzverfassung in die-
sem Land Fortschritte zu machen.
Jetzt sage ich einmal relativ frech: Das Verfassungsge-
richt ist in seiner Entscheidung etwas blauäugig davon
ausgegangen, dass Gesetzgebung in einem zweistufigen
Verfahren stattfindet. Gesetzgebung besteht in der Praxis
egal, wer regiert aber häufig darin, dass Kanzler,
Finanzminister und Ministerpräsidenten verhandeln, Pa-
kete von Maßnahmen schnüren, die eigentlich nichts
miteinander zu tun haben.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Oswald Metzger
16273
Auch am letzten Wochenende wurde ein Paket ge-
schnürt. Es ist Fakt, dass seine Bestandteile nichts mitei-
nander zu tun haben.
Rente, Familienleistungsausgleich und Finanzausgleich
haben eigentlich nichts miteinander zu tun.
Diese Unbeweglichkeit
klatscht nicht zu früh; das war bei euch nicht anders ,
zwischen Bund und Ländern, außer beim Schnüren großer
Pakete, hat die Verfassungsrichter zu der Forderung be-
wogen, dass wir allgemein gültige, nachvollziehbare
Maßstäbe beschließen sollen, die unabhängig vom kon-
kreten Streitfall sozusagen eine vorweggenommene Ge-
neralklausel darstellen. Das war blauäugig, denn jeder
von uns weiß, dass auch das Gesetzgebungsverfahren
über dieses Maßstäbegesetz nach dem gleichen Kungel-
mechanismus abläuft. Das ist schade, aber das müssen wir
zur Kenntnis nehmen.
Es geht nicht um einen Kungelkanzler,
sondern es geht darum, dass es der Kanzler überhaupt ge-
schafft hat, wieder Bewegung hineinzubringen. Das müs-
sen auch Sie anerkennen.
Es ist Bewegung in eine festgefahrene Position ge-
kommen, die unter den Ländern nicht regelbar war. So
ehrlich muss man sein. Wenn das am Wochenende durch
die Initiative des Kanzlers und des Finanzministers nicht
gelungen wäre, dann würden wir in den nächsten Wochen
von einer Krise des Föderalismus sprechen, von einer
Selbstblockade, von einer Unfähigkeit der Länder, die Fi-
nanzierung unseres Gemeinwesens tatsächlich auf eine
neue Grundlage zu stellen.
Weil sich der Bund durchaus beweglich zeigt so neh-
men wir den Ländern ein Stück weit die Angst vor Fi-
nanzmittelentzug , bin ich optimistisch, dass man in den
nächsten Wochen und Monaten, noch vor dem Sommer,
ein Maßstäbegesetz hinbekommt, vielleicht sogar ohne
Vermittlungsverfahren. So könnten wir möglicherweise
in einem Entschließungsantrag zum Entwurf eines Maß-
stäbegesetzes im Bundestag Eckpunkte festlegen, die den
Rahmen für die Verabschiedung des späteren Finanzaus-
gleichsgesetzes im Bundestag und im Bundesrat setzen,
und so den Ländern ermöglichen, in diesem zweistufigen
Verfahren ihre Zustimmung sozusagen im Vorgriff zu er-
teilen.
Aber auch wenn wir das hinbekommen ich bin ei-
gentlich guter Hoffnung , werden wir merken, dass eine
grundsätzliche Reform der Finanzverfassung unseres
Staates ansteht. Um diese Finanzverfassungsreform wer-
den wir in der nächsten Legislaturperiode nicht herum-
kommen, weil diese Schmalspurreform nur den be-
scheidenen Vorgaben des Verfassungsgerichts genügt. Es
wäre des Schweißes der Edlen in diesem Hause wert, im
Rahmen einer Enquête-Kommission eine grundsätzliche
Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten zwischen Bund,
Ländern und Gemeinden zu organisieren. Dann kämen
auch die Städte und Gemeinden zum Zug, die ja gestern,
auf der Hauptversammlung des Städtetages, erneut eine
Reform der Finanzverfassung angemahnt haben. Diese ist
in der Tat dringend nötig. Dem Konnexitätsprinzip wer
bestellt, bezahlt muss zum Durchbruch verholfen wer-
den. Wir werden auf verschiedenen staatlichen Ebenen
mehr Steuerautonomie hinbekommen müssen.
Verfassungsrechtlich wäre ein Hebesatzrecht der Ge-
meinden auf die Einkommensteuer schon jetzt prinzipiell
möglich. Das ist aber nicht durch spezialgesetzliche Re-
gelungen abgesegnet.
Um all diese Dinge müssen wir uns kümmern, im Inte-
resse eines modernen, wirtschaftlich orientierten, aber
trotzdem solidarischen bundesstaatlichen Gemeinwesens.
Bund und Länder sitzen in einem Boot.
Kollege Metzger, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel?
Ja,
bitte.
Lieber Kollege
Metzger, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass
eine generelle Reform der Finanzverfassung ansteht, und
dazu Vorschläge unterbreitet. Ich frage Sie auch unter
den Eindrücken der gestrigen Hauptversammlung des
Deutschen Städtetages in Leipzig : Warum steht dann die
Bundesregierung nicht zu der Koalitionsvereinbarung, in
der sie sich ja dazu verpflichtet hat, die Stärkung der Fi-
nanzkraft der Gemeinden in den Mittelpunkt zu rücken?
Da ist nichts passiert. Warum ist das aufgeschoben wor-
den und wann ist endlich mit Bewegung zu rechnen? Der
Kanzler hat gestern dazu leider nur sehr, sehr vage Aus-
sagen getroffen.
Ich
kann Ihnen das eindeutig beantworten: Natürlich steht
diese Reform an. Aber über eine gewisse Zeit gab es eine
Unbeweglichkeit, weil durch die Klagen von drei
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Oswald Metzger
16274
Bundesländern ursprünglich unterschiedlicher Farben-
lehre in Karlsruhe der Finanzausgleich auf dem Prüf-
stand stand. Alle haben wie das Kaninchen auf das Eich-
hörnchen geschaut.
Da sehen Sie einmal, was passiert, wenn man um eine
bildliche Sprache bemüht ist. Alle haben wie das Ka-
ninchen auf die Schlange nach Karlsruhe geschaut und
gesagt: Wir machen jetzt nicht ein Fass auf, bevor Karls-
ruhe sich zum Finanzausgleich geäußert hat.
In dieser Legislaturperiode können Sie beim besten
Willen nicht mehr eine grundlegende Reform der Finanz-
verfassung hinbekommen. Wenn wir die Maßstäbe des
Finanzausgleichs festgelegt haben dies regelt ja ge-
danklich den Solidarpakt II, für den wir ebenfalls einen
Zeitvorlauf brauchen, mit , dann steht eine große Fi-
nanzverfassungsreform an. Insofern wird, wie gesagt,
noch viel Schweiß der Edlen nötig sein, gerade auch an-
gesichts der steuerpolitischen Entwicklung in unserer Ge-
sellschaft: Die Gewerbeertragsteuer zum Beispiel ist
langfristig nicht EU-kompatibel. Wenn die Gemeinden
dafür Ersatz brauchen, müssen sie ein Hebesatzrecht auf
eine andere Steuer bekommen; das könnte beispielsweise
die Einkommensteuer sein. Sie kennen sich in diesen Din-
gen aus, Herr Rössel; Sie sind Fachmann in dem Bereich.
Auch Sie werden, so glaube ich, mit Ihrem Sachverstand
gefragt sein.
Denn dies ist eine Aufgabe der ganzen Republik.
Ich wollte noch den einen Gedanken zu Ende bringen:
Wir alle müssen im Hinblick auf den Gesamtstaat ein In-
teresse daran haben, die Finanzierungsgrundlagen auf
eine Basis zu stellen, die die Einnahmesituation von Bund
und Ländern langfristig verbessert und dadurch zu mehr
Effizienz führt , aber gleichzeitig die Belastungen der
Bürgerinnen und Bürger im Blickfeld haben. Wenn wir ef-
fizienter werden, können wir den Menschen mehr Geld in
der Tasche lassen. Auch das ist eine direkte Folge von ak-
tivierenden Elementen im bundesstaatlichen Finanzaus-
gleich. Das ist meine feste Überzeugung. Für die würde es
sich auch bei einem so trockenen Thema wie Maßstäbe-
gesetz und Finanzausgleich zu kämpfen lohnen.
Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin
Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Verehrte Mitglieder des Bundesrates! Wir
haben eben von Herrn Eichel gehört: Beim Geld hört die
Gemütlichkeit auf. Soweit ich mich erinnere Herr
Metzger, mit den Sprichwörtern ist es immer so eine
Sache , heißt es: Beim Geld hört die Freundschaft auf.
Wenn ich jetzt allerdings auf die Bundesratsbank
schaue, dann muss ich sagen: Ich habe den Eindruck, dass
Sie sich in aller Freundschaft verbündet haben, um einen
Schulausflug nach Berlin zu machen;
denn eine solch starke Besetzung auf der Bundesratsbank
haben wir ausgesprochen selten, normalerweise nur bei
hochoffiziellen Festakten.
Umso mehr freut es mich, dass Sie mit Ihrer Präsenz zei-
gen, wie wichtig Ihnen das Geld ist, vieles andere offen-
sichtlich nicht so sehr. Deshalb ein besonderer Gruß an
Sie.
Herr Metzger, ich komme zu Ihnen, weil wir gerade
über Sprichwörter geredet haben. Die Sache mit dem
Eichhörnchen ist wahrscheinlich kein Lapsus Linguae,
sondern ein Lapsus Mentis. Es geht schließlich um die
Bewahrung des Status quo. Dafür steht das Eichhörnchen
mehr als die Schlange.
Insofern war Ihr Versprecher gar nicht so falsch, auch
wenn Sie ihn korrigiert haben. Das war gar nicht nötig. Sie
hätten es ruhig so stehen lassen können.
Wir beraten heute das Maßstäbegesetz. Der eigentliche
Name ist noch viel komplizierter, aber es lohnt sich nicht,
hier in der Öffentlichkeit den ganzen Titel vorzutragen. Es
wird nicht weiter überraschen wir sind dabei in guter
Gesellschaft mit einzelnen Bundesländern : Wir als
F.D.P.-Fraktion lehnen dieses Maßstäbegesetz ab.
Wir tun dies in erster Linie deshalb, weil es nach dem
Motto aufgestellt worden ist: Es muss etwas geschehen,
aber es darf nichts passieren.
Dies ist das Motto, das über der ganzen Gesetzgebung
steht. Zum ersten Teil des Mottos Es muss etwas ge-
schehen kann ich nur sagen: Dies geschieht natürlich
deshalb, weil uns das Bundesverfassungsgericht in seiner
Entscheidung vom 11. 11. 1999 verpflichtet hat
ich weiß nicht, ob es 11.11 Uhr war, aber das Datum
11.11.1999 ist gut zu merken , in einem zweistufigen
Verfahren eine neue Regelung des Länderfinanz-
ausgleichs zu finden.
Dies hat es nicht nur gemacht, weil der Länderfinanz-
ausgleich total intransparent, unübersichtlich und über-
haupt nicht mehr praktikabel ist. Wir haben uns in
dem Sonderausschuss bisher bemüht, die Grundlagen des
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Oswald Metzger
16275
Ist-Zustandes des jetzigen Länderfinanzausgleiches ei-
nigermaßen zu beleuchten. Wenn ich Ihnen sage, dass da-
bei 126 verschiedene Positionen berücksichtigt sowie
Auffüllungstatbestände und Abführungstatbestände im-
mer wieder gegeneinander aufgewogen werden müssen,
dann können Sie sich vorstellen, dass dieses Verfahren auf
Dauer nicht haltbar ist.
Der zweite Punkt das ist noch viel wichtiger, darauf
haben meine Vorredner zum Teil schon hingewiesen ist
natürlich die Frage des Kungelns oder Mauschelns. Das
Bundesverfassungsgericht hat ganz klar gesagt: Der
Länderfinanzausgleich ist nicht nur zu kompliziert, son-
dern er wird politisch missbraucht, um entsprechende
Mehrheiten einzukaufen. Wir haben heute schon mehr-
fach gehört, dass der Bundeskanzler und unser Finanzmi-
nister im Gesetzgebungsverfahren der so genannten Un-
ternehmensteuerreform vor nunmehr etwa zehn Monaten
mit der großen Wundertüte im Bundesrat Zusagen ge-
macht haben. In der Stuttgarter Zeitung das fand ich
sehr nett gab es eine Karikatur, auf der zu sehen war, wie
Finanzminister Eichel mit einem großen Einkaufswagen
und einem entsprechenden Geldbündel den Bundesrat be-
tritt und fragt: Wo kann ich hier die Mehrheiten kaufen?
Am letzten Wochenende ist das wieder passiert. Daran
sehen wir Folgendes:
Die SPD-regierten Länder fühlen sich benachteiligt, weil
sich der Kaufansatz zunächst auf die Koalitionen bezogen
hatte, bei denen die Abstimmung nicht klar vorbestimmt
war.
Jetzt sehen sie: Das geht so nicht, das heißt, wir müssen
uns erst einmal als SPD-regierte Länder formieren, um
ebenfalls Ansprüche anzumelden. Mich persönlich als
Baden-Württembergerin, als Stuttgarterin hat sehr geär-
gert, dass Rezzo Schlauch von den Grünen Herr
Schlauch, ich würde mich freuen, wenn Sie wenigstens
jetzt einmal zuhören würden
in der Bewertung des Verfahrens zur so genannten Unter-
nehmensteuerreform der baden-württembergischen Lan-
desregierung in einer Stuttgarter Zeitung unwiderspro-
chen vorwerfen durfte, sie habe schlecht verhandelt, weil
sie das Unternehmensteuerkonzept abgelehnt habe, ohne
sich dafür entsprechende finanzielle Zusagen geben zu
lassen.
Herr Schlauch, das haben Sie in diesem Interview wort-
wörtlich gesagt. Dies zeigt ein sehr, sehr bedenkliches
Verfassungsverständnis.
Aber Herr Schlauch, Sie sehen: Die Länder haben ge-
lernt. Auch die SPD lässt sich jetzt nicht mehr für das
berühmte Linsengericht einkaufen. Sie will mehr sehen.
Am letzten Wochenende hat es die erste Zusage mit einem
Volumen von rund 1,5 Milliarden DM Entlastung des
Fonds Deutsche Einheit gegeben. Das heißt: Es geht
munter so weiter. Das ist auch einer der Hauptgründe
dafür, warum wir einen so ausgesprochen dürftigen Ent-
wurf eines Maßstäbegesetzes vorgelegt bekommen haben.
Man will sich diese Spielräume natürlich nicht durch abs-
trakte Maßstäbekriterien einengen. Man möchte vielmehr
die vorhandenen Spielräume weiter nutzen. Genau dies
will aber das Bundesverfassungsgericht für die Zukunft
abgestellt sehen.
Daher werden wir im weiteren Gesetzgebungsverfah-
ren darauf dringen, dass das Maßstäbegesetz auch tatsäch-
lich den Inhalt erhält, den es als Etikett trägt. Im Moment
ist es ein einziger Etikettenschwindel. Das ist kein Maß-
stäbegesetz, sondern das ist eine lediglich etwas angerei-
cherte Abschrift der Prinzipien des Grundgesetzes.
Es ist kein Wunder, dass die Länder, ganz gleich, wel-
chen Standpunkt sie einnehmen, dieses Gesetz unisono
ablehnen. Denn diese wachsweichen Maßstäbe lassen
überhaupt keine Rechtsfolgenabschätzung zu. Deshalb ist
die Front einheitlich.
Wir wollen nicht sagen: Wir stellen uns inhaltlich auf
die Seite der Länder. Aber vom Ergebnis her tun wir dies
jedenfalls und machen deutlich: Dieses Maßstäbegesetz
wird so nicht im Gesetzbuch stehen. Es wird noch erheb-
liche Veränderungen erfahren müssen, damit es tatsäch-
lich Gesetzeskraft erlangt.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns nicht nur Fris-
ten gesetzt, in denen, was das Gesetzgebungsverfahren
angeht, ganz bestimmte Schritte der Mehrstufigkeit voll-
zogen werden sollen. Es hat uns auch inhaltliche Vorga-
ben gemacht. Ich möchte jetzt nicht auf alle inhaltlichen
Vorgaben eingehen, aber auf die abstrakten Mehrbedarfe
zu sprechen kommen. Sie sind einer der Punkte, von de-
nen auch in der Öffentlichkeit am stärksten Kenntnis ge-
nommen wird. Damit niemand verschreckt ist, insbeson-
dere nicht auf der gut besetzten Bundesratsbank: Ich
werde jetzt nicht alle Mehrbedarfe einzeln infrage stellen
in dem Sinne, dass ich sie auf keinen Fall will. In Frage
stellen will ich sie aber insofern, als wir aufgrund des Ur-
teils des Bundesverfassungsgerichts gehalten sind, diese
abstrakten Sonderbedarfe zum einen zu benennen und sie
zum anderen auch zu begründen. Es kann nicht sein, wie
es im Gesetzgebungsverfahren ab und zu einmal den An-
schein hat, dass sich weite Teile der am Gesetzgebungs-
verfahren Beteiligten darauf zurückziehen, jetzt müsse
nur der Status quo, insbesondere was die Anerkennung
der abstrakten Mehrbedarfe angeht ich sage einmal: Hä-
fen, Stadtstaaten, dünn besiedelte Gebiete sind neu hinzu-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gisela Frick
16276
gekommen , so zementiert werden, wie er ist, indem die-
ser gut begründet werde. Das wird nicht ausreichen. Wir
müssen vielmehr Punkt für Punkt durchgehen und dann
überlegen: Was ist eigentlich dem Grund nach noch ge-
rechtfertigt? Und erst recht müssen wir überlegen: Was ist
denn der Höhe nach gerechtfertigt?
In dieser Beziehung werden wir noch viel Arbeit haben.
Kollege Seiffert hat schon gesagt, dass wir in dem Son-
derausschuss von einem wirklichen Schwall von Gut-
achten zugedeckt worden sind, die in ganz seltenen Aus-
nahmefällen darauf hat dankenswerterweise der Sekretär
dieses Sonderausschusses hingewiesen nicht von be-
stimmten Auftraggebern bezahlt worden sind. Es gibt also
einige wenige Gutachten, die sich um eine objektivere Ein-
schätzung bemühen. Solche sind aber leider die Aus-
nahme. Es wird deshalb sehr schwer werden. Wir haben
diese Erfahrung im Sonderausschuss auch schon gemacht,
als wir die Vertreter der Länder gehört haben; es prallen
sehr unterschiedliche Interessenlagen aufeinander.
Interessant ist, dass sich die Interessenlagen anders als
sonst gewohnt darstellen; es geht nicht um Schwarz-Gelb,
Rot-Grün oder Ähnliches, sondern es geht um die Inte-
ressen der Geberländer und der Nehmerländer. Das ist die
Ausgangsposition, wie sie sich bereits aus der Klagesi-
tuation ergibt. Wir haben auch gesehen, dass Herr Eichel,
als er noch Landesvater in Hessen war, das zu den Geber-
ländern gehört, eine entsprechende Argumentation vertre-
ten hat. Ich habe heute etwas Neues gelernt: Es macht ei-
nen Unterschied, wenn man das als Letzter und nicht als
Erster tut.
Das ist auch einmal etwas Neues. Sozusagen als Tritt-
brettfahrer will er profitieren, vertritt inhaltlich aber eine
andere Auffassung.
Das ist eine Wertung, Herr Schlauch. Man kann sich
lange darüber unterhalten, welches die beste Argumenta-
tion war.
Das langt auch nicht. Wir haben das auch überhaupt
nicht gesagt.
Mir ist weiter wichtig, dass das Anreizverfahren er-
halten bleibt wir haben darüber schon einiges von den
Vorrednern gehört; ich möchte dazu keine näheren
Ausführungen machen, dazu reicht die Zeit auch nicht
und dass insbesondere die Finanzkraftreihenfolge durch
den Finanzausgleich nicht geändert wird; das ist ein ganz
wichtiger Punkt. Das bedeutet, dass sich die Länder, die
vor der Durchführung des Finanzausgleiches bei der Fi-
nanzkraft ganz oben standen, nach der Durchführung
nicht am Ende oder ziemlich am Ende wiederfinden dür-
fen. Das darf nicht sein.
Die Parallelen, die Sie, Herr Metzger, zum einzelnen
Individuum gezogen haben, sind natürlich richtig. Auch
der Einzelne will einen Anreiz haben, um sich anzustren-
gen, und einen solchen will natürlich auch ein Land im
Rahmen des Länderfinanzausgleiches haben. Das müssen
wir beachten. Die F.D.P. sieht in den beiden Ansätzen der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes eher einen
Hinweis auf einen Wettbewerbsföderalismus einen sol-
chen müssen wir auf längere Sicht anstreben , aber kei-
nen Wettbewerbsföderalismus in Dschungelform, son-
dern einen solchen, der Anreize dafür schafft, dass mit
Ausnahme von bestimmten Bundesergänzungszuweisun-
gen die Finanzkraftreihenfolge erhalten bleibt.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns nach Auffas-
sung der F.D.P. einen Ball zur Revitalisierung des
Föderalismus ins Feld gespielt. Leider hat die Bundesre-
gierung diesen Ball nicht aufgenommen, sondern im Ge-
genteil alles dazu getan, dieses kleine Pflänzchen der
Hoffnung wieder verkümmern zu lassen. Insofern werden
Sie verstehen, dass wir diesem Maßstäbegesetz nicht zu-
stimmen können.
Danke schön.
Ich erteile dem Kolle-
gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Zunächst als etwas Beruhi-
gendes die gute Nachricht: Ich habe gelesen, dass dieser
Gesetzentwurf ausnahmsweise nicht den Titel Reform-
gesetz trägt. Wir sind von dieser Regierung und Koali-
tion gewöhnt: Wenn sie mit Reformgesetzen antritt, freut
sich die Öffentlichkeit, dass es jetzt so richtig nach vorn
losgeht. In aller Regel ging es aber bisher nach hinten los.
Insofern beruhigt mich dieser Umstand.
Allerdings muss auch klargestellt werden, dass hinter
all dem Zahlenwerk, das hier vorgetragen wird, die Frage
steht: Nach welchen Maßstäben wollen wir die zukünftige
Gesellschaft gestalten?
Ja, eben. Wenn wir es mit solchen Dimensionen zu tun
haben, geht es doch auch um die Frage auch meine Vor-
rednerin ist darauf eingegangen : Wollen wir einen soli-
darischen Föderalismus oder soll mit dem Begriff des
Wettbewerbsföderalismus eine Ellenbogengesellschaft
legitimiert werden?
Nun haben sich alle Länder gegen den vorliegenden
Entwurf ausgesprochen und Herr Metzger hat uns aufge-
fordert, wir sollten uns jetzt endlich als ordentliche Bun-
despolitiker benehmen, was wohl heißt, hier gegen die
Länder Front zu machen. Ich denke, wir müssen vor-
nehmlich darauf achten, dass nicht die Bürgerinnen und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gisela Frick
16277
Bürger Opfer des Streits zwischen Bund und Ländern
werden. Das zuallererst ist unsere Aufgabe.
Ich möchte der Bundesregierung nicht unterstellen, dass
sie keinen zukunftsfähigen Länderfinanzausgleich und
auch keinen Solidarpakt II wollte. Eine solche Unterstel-
lung wäre wohl unredlich. Aber der Geist ihrer Gesetzes-
vorlagen hat immer die Aussage: Ich muss, nie: Ich
will. Das ist das eigentliche Problem.
Es wird Sie nicht wundern, wenn mir bei der Frage des
Maßstäbegesetzes die Zukunft der neuen Länder beson-
ders am Herzen liegt. Sie wissen, dass seit 1996 die wich-
tigsten wirtschaftlichen Indikatoren zeigen, dass sich die
Lebensverhältnisse in Ost und West auseinander ent-
wickeln bzw. der Abstand zwischen den Lebensverhältnis-
sen auf hohem Niveau stagniert. Insofern stehen natürlich
Maßstäbegesetz, Länderfinanzausgleich und Solidar-
pakt II durchaus in einem engen Zusammenhang. Ich
glaube, dass es mit Blick auf die neuen Länder wichtig ist,
zunächst den Maßstab unseres Denkens und Handelns zu
verändern. Die neuen Länder sind keine Gegend von
Pflege oder Siechtum. Wir müssen endlich begreifen, dass
es nicht vorrangig um Belastungen, sondern um Chancen
geht. Deshalb hat die PDS ihr Papier über die Entwick-
lung der neuen Länder und den selbsttragenden Wirt-
schaftsaufschwung auch Zukunftsfaktor Ost genannt.
Ich versichere Ihnen: Mit diesem Faktor können Sie rech-
nen!
Die Botschaft aus den neuen Ländern heißt inzwischen:
Wir können es auch, wenn man uns nur lässt! Ich halte es
für wichtig, dass der Schweriner Arbeitsminister Helmut
Holter hier im Bundestag ein Aktionsbündnis Ost für Ar-
beit, Aufträge und Unternehmen vorgeschlagen hat; denn
wir brauchen endlich statt eines alimentierten Angleichens
der Lebensverhältnisse in Ost und West eine Unterstüt-
zung des selbsttragenden Wirtschaftsaufschwungs als
Grundlage dieser Angleichung.
Deshalb unterstützen wir die Forderungen der ostdeut-
schen Ministerpräsidenten, den Solidarpakt II im Maßstä-
begesetz zu verankern. Wir sind auch der Meinung, dass
es jetzt Übergangsregelungen geben muss und ein Sofort-
programm angebracht ist.
Ich möchte Ihnen noch eines sagen: Auch wir wollen
nicht in den Wettbewerb eintreten, wer denn nun mit den
größten Summen zur Förderung der neuen Länder han-
tiert. Das eigentliche Problem ist nämlich die Frage der
Zweckbestimmung dieser Mittel zur Ostförderung.
Wenn man sie einsetzt, um einen Wirtschaftsaufschwung
in Ostdeutschland zu organisieren, und feststellt, dass
diese Mittel das wissen wir alle zum großen Teil dort-
hin zurückfließen, woher sie gekommen sind, und zwar
ohne dass durch sie die Wirtschaft in Ostdeutschland ge-
fördert worden ist, dann muss man etwas verändern. Und
dabei wiederum ist nicht die Hauptfrage, ob die Mittel
wieder dorthin zurückfließen, woher sie gekommen sind;
denn das hieße ja nur, dass Steuermittel aus den alten Län-
dern wieder in die Kassen der alten Länder zurückfließen.
Das wäre ja noch ein sinnvoller Vorgang. Aber das ei-
gentliche Problem ist, dass sich die Steuermittel, die zur
Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland eingesetzt wur-
den, auf den Konten und in den Kassen von Banken, Ver-
sicherungen und Unternehmenszentralen wiederfinden.
Diese Art des Geldflusses müssen wir verhindern.
Dennoch ist der Finanzausgleich das verkennen wir
nicht ein gesamtdeutsches Problem. Ich weiß natürlich,
dass die Lage auf Schalke und in Bremerhaven nicht bes-
ser als in manchen ostdeutschen Kommunen ist. Auf dem
Städtetag gestern in Leipzig wurde uns vor Augen geführt,
dass sich die Investitionen der Kommunen seit Beginn der
90er-Jahre um ein Drittel reduziert haben. Das ist doch ein
Alarmsignal, auf das wir reagieren müssen. Deshalb sind
wir der Meinung ich weiß, dass nicht nur wir das ver-
treten; aber es muss noch einmal angesprochen werden ,
dass die Wirtschaftsförderung tatsächlich unten ansetzen
muss. Wir fordern die Wiedereinführung einer jährlichen
kommunalen Investitionspauschale in Höhe von 6 Mil-
liarden DM. Das wäre eine sinnvolle Lösung beim Über-
gang vom Solidarpakt I zum Solidarpakt II.
Der Kanzler selbst hat inzwischen öffentlich angedeu-
tet, dass auch er daran denke, eine solche Pauschale ein-
zuführen. Er hat die Zahl 1,5 Milliarden DM ins Spiel ge-
bracht.
Das halten wir, gelinde gesagt, nicht für kanzlerwürdig.
Unsere Unterstützung findet die von der Bundesregierung
vorgesehene Einbeziehung der Finanzkraft der Kommu-
nen in den Länderfinanzausgleich zu mehr als 50 Prozent.
Das führt dazu, dass die Maßstäbe anders und besser dar-
gestellt werden.
Zum Schluss möchte ich Sie gern auffordern, den Län-
derfinanzausgleich, die Finanzverfassung in Deutschland,
einmal wieder in einer anderen Dimension, nämlich von
unten her, zu denken. Bund und Länder müssten ich
glaube, dass es sich dabei um eine realistische Vision han-
delt in einem größeren Zeitraum einen erheblichen Teil
ihres Geldes und damit auch ihrer politischen Verfü-
gungsmacht nach unten abgeben.
Sie brauchen keine Angst zu haben: Ich fordere nicht die
Demontage des Staates; es geht um Maßstäbe. Ein Drittel
der finanziellen Mittel und der politischen Verfügungs-
macht könnte durchaus dorthin zurückgegeben werden,
wo das Leben wirklich stattfindet: in den Kommunen, im
Gemeinwohlsektor und auch in den kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen.
Die deutsche Finanzpolitik gehört vom Kopf auf die
Füße gestellt. Um dafür zu sorgen, bietet das Gesetz
Chancen aber nur, wenn es nicht so bleibt, wie es jetzt
ist.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Horst Schild, SPD-Fraktion, das Wort.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Roland Claus
16278
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Der bundesstaatliche Finanzausgleich
ist traditionell sehr streitbehaftet. Wer hier bisweilen den
Eindruck erweckt, in der Vergangenheit sei es wie in ei-
nem politischen Seminar zugegangen,
der möge sich nicht nur die umfangreiche Literatur, die es
über das Zustandekommen des letzten Finanzausgleichs-
gesetzes und des Solidarpaktes I gibt, anschauen, sondern
er möge sich auch das wäre vielleicht noch besser
durch Kollegen informieren, die damals dabei waren.
Ich jedenfalls habe gelesen, dass über den Finanzaus-
gleich nicht im Deutschen Bundestag zuerst diskutiert
worden sei, sondern schon vorher zumindest was die
Grundzüge angeht im Präsidium einer Volkspartei. Die
politische Einigung zwischen dem Bund und den Län-
dern, vor allen Dingen die Einigung unter den Ländern, ist
immer erst nach zähen, langwierigen Verhandlungen er-
reicht worden. Häufig ist die Angelegenheit früher oder
später wir wissen das alle; es ist heute schon angedeutet
worden in Karlsruhe gelandet. Auch diejenigen, die dem
Länderfinanzausgleich zuvor noch zugestimmt hatten
beim Solidarpakt I und beim gegenwärtig geltenden Fi-
nanzausgleich war das der Fall , sind nach Karlsruhe
gegangen.
Ich will hier nicht auf Details des Urteils des Bundes-
verfassungsgerichts vom November 1999 eingehen. Ich
denke an Vorgaben, bestimmte Probleme zukünftig in ei-
nem zweistufigen Verfahren zu regeln. Zum einen geht es
um ein Maßstäbegesetz darüber reden wir im Moment
und zum anderen um das auf dem Maßstäbegesetz auf-
bauenden Finanzausgleichsgesetz.
Ich möchte eines deutlich machen: Die mit der Zwei-
stufigkeit verbundene Forderung nach Konkretisierung
verfassungsrechtlicher Maßstäbe des Finanzausgleichs in
einem besonderen Gesetz war das Kernanliegen dieses
Urteils. Die tragenden Elemente des Finanzausgleichs er
hat sich durchaus bewährt und er ist effektiv hat das
Bundesverfassungsgericht keineswegs verworfen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Maß-
stäbegesetz ist ganz bewusst als Auftakt des Gesetzge-
bungsprozesses konzipiert worden; deswegen müssen
wir diesem Gesetzentwurf heute noch nicht zustimmen.
Ich hoffe, dass uns diese Debatte weiterbringt. Dieser Ge-
setzentwurf ist eine Positionsbestimmung der Bundesre-
gierung. Genau so als Aufforderung, gegebenenfalls ab-
weichende Positionen zu präzisieren ist er verstanden
worden. Das kann man den Stellungnahmen des Bundes-
rates entnehmen. Mit der Vorlage dieses Gesetzentwurfes
hat die Bundesregierung gleichzeitig die politische Dis-
kussion über die Ausgestaltung der finanziellen Grundla-
gen unserer föderativen Ordnung wieder auf das gerich-
tet, was im Rahmen der Vorgaben des Verfassungsgerichts
notwendig und machbar ist.
Zwischenzeitlichen Versuchen, den Karlsruher Urteils-
spruch zu instrumentalisieren oder umzudeuten auch
das ist ja heute schon wieder sichtbar geworden , ist eine
klare Absage erteilt worden.
Das gilt insbesondere für die Bestrebungen, unsere auf
Kooperation und Solidarität ihrer Glieder angelegte fö-
derale Ordnung in ihrem Kern zu verändern, sie vielleicht
gar durch das rein theoretische Konstrukt des so genann-
ten Wettbewerbsföderalismus zu ersetzen. Beides wollen
wir nicht.
Stattdessen lautet das Programm für den Gesetz-
geber als Erstinterpreten des Grundgesetzes: Konkreti-
sierung der bestehenden Finanzverfassung, Benennung
allgemeiner und abstrakter Maßstäbe für die verschiede-
nen Stufen und Elemente des bundesstaatlichen Finanz-
ausgleichs und Prüfung und Begründung der konkreten
Einzelregelungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einer intensiven
Diskussion insbesondere der juristischen und ökonomi-
schen Dimensionen der Urteilsfolgen hat sich der im
Herbst eingesetzte Sonderausschuss des Deutschen
Bundestages bereits eingehend auf die vor uns liegende
Gesetzgebungsarbeit vorbereitet. Hierauf können wir in
den vor uns liegenden Ausschussberatungen aufbauen.
Die intensive Vorbereitung unserer Gesetzgebungsar-
beit war unverzichtbar im Spannungsfeld unserer Arbeit
zwischen den Vorgaben des Gerichts, das vom Parlament
ausdrücklich eine aktive Rolle im Verfahren fordert, und
auf der anderen Seite dem Zeitplan, der zwischen der
Bundesregierung und den 16 Bundesländern vereinbart
worden ist.
Dieser Zeitplan sieht die Verabschiedung nicht nur des
Maßstäbegesetzes, sondern auch des Finanzausgleichsge-
setzes und der Regelungen zum Solidarpakt II in dieser
Wahlperiode vor. Das kann uns nur gelingen, wenn das
Maßstäbegesetz noch vor der parlamentarischen Som-
merpause abschließend beraten wird. Die politische Ver-
klammerung von Maßstäbegesetz, Finanzausgleichsge-
setz und Solidarpakt II ist dabei keineswegs willkürlich.
Im Gegenteil, eine isolierte Neuregelung der Maßstäbe
ohne Einzelelemente des Finanzausgleichs und ohne
gleichzeitige Aussagen über die Ausgestaltung des Soli-
darpaktes ab dem Jahre 2005 wäre mit Blick auf die Lage
in den neuen Ländern nicht verantwortbar.
Der bundesstaatliche Finanzausgleich ist seit 1995,
also seit der Einbeziehung der neuen Länder in den Län-
derfinanzausgleich, auf allen Ausgleichsstufen zu über
80 Prozent ein Mitteltransfer zugunsten der neuen Länder
und ihrer Gemeinden. Herr Claus er ist nicht da , das
sollte man zur Kenntnis nehmen. Angesichts der absolu-
ten Zahlen wird diese Dimension besonders deutlich: Von
64 Milliarden DM Gesamtvolumen des föderativen Fi-
nanzausgleichs im Jahr 2000 gingen 52 Milliarden DM an
die neuen Länder. Die enorme Volumenausweitung beim
Finanzausgleich nach 1995 ist Ausdruck des immer
noch vorhandenen teilungsbedingten Entwicklungsrück-
stands Ostdeutschlands. Im Solidarpakt werden die Mittel
bereitgestellt, um diese Lücken zu schließen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16279
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die enorme In-
frastrukturlücke der neuen Länder aufgrund von 40 Jah-
ren Planwirtschaft historisch einmalig ist und nicht etwa
aus dem Unvermögen der noch jungen Länder resultiert.
Die neuen Länder sind auch zukünftig auf die Solidarität
des Bundes und der alten finanzstarken Länder angewie-
sen.
Der Aufbau Ost ist eine gesamtstaatliche Generationen-
aufgabe, und es wäre politisch unverantwortlich, sich die-
ser Aufgabe zu entziehen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben
im Übrigen seit langem erklärt, den Solidarpakt der Struk-
tur und der Höhe nach auch nach dem Jahr 2005 auf ho-
hem Niveau fortführen zu wollen.
Die vollständige und vollwertige Eingliederung der
neuen Länder in den Finanzausgleich im Jahre 1995 war
ein wichtiger Auftrag des Einigungsvertrages und ist im-
mer noch zentrales Element der inneren Einheit Deutsch-
lands. Deshalb möchte ich auch ausdrücklich betonen:
Wir werden alle Änderungsvorschläge zum Finanzaus-
gleich daraufhin prüfen, ob sie dem Einigungs- und Auf-
bauprozess dienlich sind.
Das trifft auch auf die so genannte Anreizdiskussion
zu, die diesen zentralen Aspekt des bundesstaatlichen Fi-
nanzausgleichs aus dem Blickwinkel zu verlieren droht.
Es ist sachlich unhaltbar, wenn die theoretische Rechtfer-
tigung von Anreizen gerade an den besonders finanz-
schwachen Ländern festgemacht wird.
Diesen Ländern im Gegenzug zu einer Senkung des Aus-
gleichsniveaus eine besondere Belohnung für den Fall
überdurchschnittlicher Mehreinnahmen in Aussicht zu
stellen ist unrealistisch. Empirische Daten zeigen: Gerade
die finanzstärksten Länder weisen überproportionale
Steuerzuwächse auf. Sie würden bei so konstruierten An-
reizen noch zusätzlich belohnt werden. Diesen Aspekt
müssen wir sorgfältig beachten. Das ist keine Frage der
Theorie, sondern der praktischen Auswirkungen auf die
neuen Länder.
Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass alle Län-
der, Geber wie Nehmer, aus Eigeninteresse Ansiedlungs-
politik betreiben, auch wenn es sie erhebliche Summen
kostet. Dazu brauchen sie nicht erst durch den Finanzaus-
gleich angereizt zu werden.
Ich verweise auf die Beispiele Hamburg und die
Chipfabrik in Brandenburg.
Meine Fraktion wird darauf achten, dass mit dem Maß-
stäbegesetz eine für Bund und Länder tragfähige Grund-
lage für die Lösung der noch vorhandenen Streitpunkte
gefunden wird. Die Stellungnahme des Bundesrates hat
dies deutlich gemacht, auch wenn es unterschiedliche Po-
sitionen in zentralen Fragen wie der Höhe der Berück-
sichtigung der Finanzkraft der Gemeinden gibt. Wir wer-
den die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts
erfüllen, aber dennoch keine Gesetzgebung im Blindflug
betreiben. Wir werden uns der Folgen dieses Maßstäbe-
gesetzes vor der Verabschiedung bewusst sein. Wir wer-
den dieses Gesetz nicht im Schleier des Nichtwissens
beschließen.
Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit
nicht nur mit den Fraktionen dieses Hauses, sondern auch
mit den Ländern. Ich denke, wir werden am Ende dieses
Verfahrens zu einer vertretbaren Entscheidung kommen,
die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rech-
nung trägt und die finanzielle Existenzfähigkeit von Bund
und Ländern garantiert.
Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich das
Wort dem thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard
Vogel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
men und Herren Abgeordneten! Mit der ersten Lesung ei-
nes Maßstäbegesetzes Ende April im Bundesrat und heute
im Bundestag tritt nach monatelanger Diskussion die
Auseinandersetzung um die Umsetzung des Karlsruher
Urteils in ihre entscheidende Phase. Es geht um das Maß-
stäbegesetz und um das Finanzausgleichsgesetz. Es geht
aber auch um den Solidarpakt II. Verehrte Frau Frick, Sie
sollten nicht kritisieren, dass bei der Beratung dieses
wichtigen Gesetzes so viele Vertreter der Länder auf der
Bundesratsbank sitzen.
Ich kritisiere ja auch nicht, dass Ihre Fraktion in diesem
Haus so wenig vertreten ist.
Das Verfassungsgericht zwingt uns dazu, das Maßstä-
begesetz in dieser Wahlperiode zu verabschieden, weil
sonst ab 1. Januar 2003 ein rechtloser Zustand einträte.
Wir sind uns aber wohl alle darin einig, dass nicht nur das
Maßstäbegesetz, sondern alle drei Vorhaben in diesem
Jahr abschließend geregelt werden sollen. Das Ringen um
den Länderfinanzausgleich und um den Solidarpakt II
darf dabei auch wenn es auf der Vorderbühne stattfin-
det die vom Verfassungsgericht vorgegebene Notwen-
digkeit, ein Maßstäbegesetz vorzulegen, nicht in den Hin-
tergrund treten lassen.
Jeder in diesem Hause und jeder im Bundesrat ist sich
bewusst, dass niemand dem Maßstäbegesetz seine Zu-
stimmung gibt, ohne zu berechnen, was insgesamt he-
rauskommt. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar er-
reicht, dass wir ein Maßstäbegesetz auf den Weg bringen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Horst Schild
16280
Aber es glaubt doch niemand, dass wir nicht die finanzi-
ellen Folgen berechnen, die sich für uns ergeben. Das
wird sicherlich auch im Sonderausschuss Maßstäbe-/
Finanzausgleichsgesetz Ihres Hohen Hauses so gesehen,
dem dankenswerter Weise die Regierungschefs der Län-
der, insbesondere auch der neuen Länder, angehören und
der sich besonders intensiv mit der Materie beschäftigt.
Ich begrüße es zunächst, dass der Bundesfinanzminis-
ter seinen Entwurf vorgelegt hat. Wir kritisieren diesen
Entwurf keineswegs in allen Punkten, auch wenn sich alle
16 Länder im Bundesrat veranlasst gesehen haben, den
Gesetzentwurf abzulehnen ein seltener und bemerkens-
werter Vorgang.
Aufgabe des Maßstäbegesetzes ist es so heißt es im
Urteil , die langfristige Finanzplanung gegen aktuelle
Finanzinteressen, Besitzstände und Privilegien abzuschir-
men. Die Grundausrichtung des in Rede stehenden Ent-
wurfs der Regierung ist nach meiner Überzeugung in
einigen Teilen durchaus richtig. Die vorgesehene umfas-
sende Ermittlung der Finanzkraft der Länder und der Ge-
meinden scheint mir notwendig zu sein. Dass der Bundes-
regierungsvorschlag vorsieht, die Hafenlasten nicht mehr
finanzkraftmindernd zu berücksichtigen, scheint mir auch
richtig zu sein, denn wenn man diese Hafenlasten aus-
gleichen will, dann kann das auch außerhalb des Länder-
finanzausgleiches geschehen.
Schließlich halte ich es grundsätzlich für richtig, dass
den Ländern ein höherer Eigenanteil verbleibt; denn,
meine Damen und Herren, es muss sich lohnen, sich an-
zustrengen. Das gilt nicht nur für die finanzstarken, son-
dern das gilt auch für die im Aufbau befindlichen Länder.
Wir wollen, dass Anstrengung belohnt wird.
Neben diesen positiven Ansätzen besteht aber auch An-
lass zu deutlicher Kritik. Die Solidarität ist das Funda-
ment des Föderalismus, sagt Herr Kollege Eichel im Bun-
desrat und auch hier. Dann fügt er hinzu: Beim Geld hört
die Gemütlichkeit auf. In der Tat, der vorliegende Ent-
wurf erweckt den Eindruck, dass die Bundesregierung die
viel beschworene Solidarität als lästige Gemütlichkeit
empfindet. Das ist sie eben nicht, meine Damen und Her-
ren.
Die Bundesregierung handelt nicht solidarisch, wenn
sie die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern ein-
seitig zugunsten des Bundes verschiebt. Sie handelt nicht
solidarisch, wenn sie bei dieser Gelegenheit versucht, die
Verteilung der Umsatzsteuerpunkte zulasten der Länder
zu verändern. Und sie handelt nicht solidarisch, wenn sie
quasi nebenbei versucht, die verfassungsrechtlich festge-
schriebene Finanzierungsregelung zum Familienlasten-
ausgleich aufzuheben. Die Konsequenz dieser Vorschläge
wäre, dass die Länder im Jahre 2004 4,6 Milliarden DM
weniger zur Verfügung hätten.
Man kann dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
nicht genügen, indem man eine der Verfassung wider-
sprechende Regelung vorsieht. Die hier vorgesehene
Regelung hinsichtlich des Familienlastenausgleichs
widerspricht ganz eindeutig Art. 106 des Grundgesetzes.
Die Bundesregierung will sich nicht nur bei der verti-
kalen Umsatzsteuerverteilung entlasten, auch die Bun-
desergänzungszuweisungen und die Sonderbedarfsbun-
desergänzungszuweisungen sollen erheblich reduziert,
degressiv ausgebaut und zeitlich befristet werden. Aber,
wie jeder im Haus weiß, eine Kürzung der Sonderbe-
darfsbundesergänzungszuweisungen betrifft in besonde-
rem Maße die jungen Länder. Für sie besteht nicht nur ein
starker infrastruktureller Nachholbedarf, sondern auch
die dringende Notwendigkeit zur Förderung der Wirt-
schaft, wenn man einen selbst tragenden Aufschwung er-
reichen will.
Im Übrigen ist eine Sonderbedarfsbundesergänzungs-
zuweisung keine Bundesergänzungszuweisung mehr,
wenn man die Länder an ihrer Finanzierung beteiligt. Das
widerspricht schon der reinen Logik.
Natürlich, Herr Bundesminister, es gibt keine Alterna-
tiven zum Konsolidierungskurs; ich unterstütze das. Nur
darf man sich nicht zulasten Dritter konsolidieren; denn
auch die Länder wollen und müssen ihre Haushalte kon-
solidieren. Beide Seiten müssen das. Ihr Vorschlag führt
aber im Wesentlichen zu einer Konsolidierung des Bun-
deshaushaltes zulasten der Länderhaushalte, die so nicht
konsolidiert werden können. Von der Situation in den
Kommunen will ich nicht reden, sondern nur darauf hin-
weisen, dass die Länder gemäß unserem Verfassungssys-
tem auch die Interessen ihrer Gemeinden wahrnehmen.
Gestatten Sie nun dem Ministerpräsidenten eines jun-
gen Landes noch eine Bemerkung zum Aufbau Ost.
Stören Sie sich an dem Wort jung? Meine Damen und
Herren, die alten Länder sind eigentlich viel jünger als die
jungen Länder. Das weiß doch jeder, der sich ein wenig
mit Geschichte befasst hat. Die Bindestrich-Länder West-
deutschlands sind 50 Jahre alt, Thüringen war schon im
5. Jahrhundert ein Königreich.
Ich habe ganz bewusst von Thüringen gesprochen, Herr
Kollege Merz.
Eine Bemerkung zum Aufbau Ost. Es ist keine Frage:
Der Aufbau Ost gelingt. Gut die Hälfte des Weges wurde
schon erfolgreich zurückgelegt. Darin bin ich mir mit
meinen Kollegen in den jungen Ländern einig. Ich denke
an den Aufbauwillen der ostdeutschen Bevölkerung und
die solidarische Hilfe der westdeutschen Bevölkerung;
ebenso haben der Bund und alle Länder seit 1990 Großar-
tiges geleistet. Dafür ist zunächst einmal Dank angesagt,
statt immer nur neue Neiddebatten zu schüren.
Wir stehen nicht auf der Kippe. Wir haben viel erreicht,
aber wir sind noch nicht am Ziel.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
16281
Die Bevölkerung der jungen Länder darf durch eine sol-
che Feststellung nicht entmutigt werden. Vor allem darf
die Bevölkerung der alten Länder nicht den falschen Ein-
druck bekommen, der Osten sei ein Fass ohne Boden und
es lohne sich gar nicht zu helfen, da er nach zehn Jahren
auf der Kippe stehe und weitere zehn Jahre später einen
Schritt weiter sei. Das ist nicht unsere Philosophie.
Unser gegenwärtiges Problem ist nicht, dass der Auf-
bau Ost nicht gelingt, sondern, dass die Schere zwischen
Ost und West seit einigen Jahren wieder auseinander geht.
Die Arbeitslosigkeit im Westen sinkt, die Arbeitslosigkeit
im Osten sinkt nicht.
Das Wirtschaftswachstum in den alten Ländern betrug im
letzten Jahr 3,4 Prozent, in den jungen Ländern dagegen
1,3 Prozent.
Deswegen muss nach meiner Überzeugung jetzt etwas ge-
schehen.
Aus diesem Grunde habe ich ein Sonderprogramm
Ost vorgeschlagen, durch das Maßnahmen in Gang ge-
setzt werden sollen, die sofort greifen. Sie sollen insbe-
sondere zur Verbesserung der Infrastruktur im For-
schungsbereich, im Bereich der Kommunen und der
Verkehrswege dienen. Ich lege Wert auf die Feststellung,
dass ich keine zusätzliche Mark verlangt, sondern einen
konkreten Finanzierungsvorschlag unterbreitet habe. Lei-
der machen sich die Leute nicht die Mühe, sich damit aus-
einander zu setzen.
Angesichts der Tatsache das ist ja erfreulich zu hö-
ren , dass der Bund überraschenderweise mehrere Milli-
arden von Brüssel zurückbekommt, ist doch die Forde-
rung berechtigt, zu überlegen, ob man dieses Geld dafür
verwenden kann, die Schere nicht weiter auseinander ge-
hen zu lassen. Darüber muss man doch reden können.
Wenn der Westen stets schneller läuft als der Osten, kön-
nen wir, die wir später und langsamer gestartet sind, ihn
nicht einholen. Es geht uns zwar in der Tat wesentlich bes-
ser als vor Jahren, aber dem Westen geht es um vieles bes-
ser als vor Jahren. Dieses Ungleichgewicht muss ausge-
glichen werden, sonst erreichen wir das gemeinsame Ziel,
vergleichbare Lebensverhältnisse zu schaffen, nicht.
Beim Solidarpakt II das wird nicht immer beach-
tet geht es um die Zeit nach 2004. Ich bin ausdrücklich
dankbar dafür, dass weder der Bund noch die Länder je
die Notwendigkeit eines Solidarpakts II infrage gestellt
haben. Wir sind uns wohl alle einig, dass dieser Solidar-
pakt auch in seiner Höhe an den Solidarpakt I anschließen
muss, dass er eine Laufzeit von mindestens zehn Jahren
haben muss und dass er die voraussehbaren Folgen der
bevorstehenden Osterweiterung der EU berücksichtigen
muss. Die Strukturförderung der EU für die neuen Länder
als Zielgebiet 1 läuft 2006 aus. Das muss bei der Debatte
berücksichtigt werden.
Wie man hört und liest, haben sich meine sozialdemo-
kratischen Kollegen am vergangenen Wochenende mit
dem Bundeskanzler getroffen kein ungewöhnlicher Vor-
gang und kein Anlass zu Kritik. Missfallen hat nur, dass
der Eindruck erweckt wurde, hier habe ein neues Verfas-
sungsorgan bereits verbindliche Beschlüsse gefasst
und man werde uns noch rechtzeitig mitteilen, wie wir sie
umzusetzen hätten. Das ist nicht unser Verständnis von
Bundesrat und lebendigem Föderalismus.
Wir müssen uns schon bemühen, uns gemeinsam zu-
sammenzusetzen, obwohl wir die Schwierigkeiten ken-
nen und obwohl ich persönlich weiß Gott die Chancen,
sich zu einigen, nicht überschätze. Sie wissen, wir werden
im Juni noch einmal einen ernsthaften Versuch unterneh-
men, uns in Sachen des Länderfinanzausgleichs aufsei-
ten der Länder zu einigen. Denn dem stimme ich zu: Der
Vermittlungsausschuss, ein höchst achtbares Gremium,
ist für die Lösung dieses Problems nicht der geeignete
Ort.
Es muss alles getan werden, vorher eine Einigung her-
beizuführen.
Thüringen hält nicht viel von Gruppenbildungen und
hat sich bei diesem Thema, ähnlich wie Nordrhein-West-
falen, bisher auch keiner Gruppe angeschlossen, unter an-
derem auch aus der Erkenntnis heraus, dass die Nehmer-
länder zwar im Bundesrat die Mehrheit haben, dass die
Geberländer aber die Mehrheit der Bundestagsabgeord-
neten entsenden. Auch deswegen ist es angebracht, eine
Einigung zu versuchen, vor allem aber, weil wir einen
neuen Gang Unterlegener nach Karlsruhe auf jeden Fall
verhindern sollten; denn das schadet allen und kostet
unnötig Zeit.
Natürlich gehört mein Land, wie alle jungen Länder, zu
den ärmsten Ländern der Bundesrepublik. Aber wir wol-
len das nicht auf Dauer bleiben. Deswegen wünschen wir
uns ein Maßstäbegesetz und einen Finanzausgleich, die
denjenigen belohnen, der sich besonders anstrengt. Das
ist auch in unserem Interesse.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
16282
Ich meine deswegen: Lippenbekenntnisse zum Föderalis-
mus sind gut, reichen aber nicht mehr, sondern es muss
gehandelt werden. Wenn wir etwas erreichen wollen,
muss gemeinsam gehandelt werden. Nur so können wir
die Probleme lösen.
Das Maßstäbegesetz, wie es vorliegt, wird zu den Ge-
setzen gehören, die dieses Haus nicht so verlassen, wie sie
es betreten haben. Aber ein Maßstäbegesetz wird ge-
braucht, bei Ihnen und bei uns im Bundesrat.
Meine Damen und
Herren, auf der Ehrentribüne hat der Präsident des Par-
laments der Republik Litauen, Herr Arturas Paulauskas,
mit einer Abgeordnetendelegation Platz genommen. Ich
darf Sie von hier aus im Namen des ganzen Hauses herz-
lich begrüßen.
Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens
und die Überwindung der deutschen Teilung verdanken
sich beide den historischen Ereignissen des europäischen
Schicksalsjahres oder ich sollte besser sagen: Glücksjah-
res 1989. Unsere Länder verbindet seitdem in besonde-
rem Maß der Wunsch nach einer gesicherten Existenz in
einem freien und geeinten Europa. Bei meinem Besuch in
Litauen im vergangenen Jahr konnte ich mich überzeugen,
mit welchem Engagement Ihr Land die volle Integration in
die euroatlantische Gemeinschaft, Europäische Union und
NATO, anstrebt. Ich hoffe, dass Sie bei den zurückliegen-
den Begegnungen in den vergangenen Tagen in Dresden
und Berlin Ihrerseits spüren konnten, mit wie viel Interesse
und wie viel Sympathie wir in Deutschland Ihre Bestre-
bungen begleiten und unterstützen.
Sie werden in wenigen Stunden nach Litauen zurück-
kehren. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche
Ihnen für die noch verbleibende Zeit einen angenehmen
Aufenthalt in unserem Land.
Nun erteile ich der Kollegin Antje Hermenau, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte
findet zur besten Redezeit des Parlaments in dieser Woche
statt: in der Kerndebattenzeit. Auf den Tribünen sitzen
sehr viele Leute. Wahrscheinlich sitzt der eine oder andere
vor dem Fernsehgerät und verfolgt diese Debatte. Diese
Leute werden sich die ganze Zeit schon fragen: Worüber
reden die eigentlich? Worüber streiten die eigentlich? Was
ist eigentlich das Problem?
Genau das ist das Problem: Das, was passiert, ist nicht
transparent. Das ist unser Problem, das wir lösen müssen.
Das ist die Aufgabe, die Karlsruhe uns gestellt hat.
Wir reden über das Maßstäbegesetz, den Länderfinanz-
ausgleich und über den Solidarpakt II. Ich halte es für
richtig, dass man alle drei im Zusammenhang diskutiert.
Wir haben die Friktionen unter den Vertretern im Bun-
desrat, unter den Ministerpräsidenten und den Länderfi-
nanzministern bemerkt. Es gibt in den ostdeutschen Bun-
desländern natürlich eine emotionale und psychologische
Verunsicherung darüber, was mit dem Länderfinanzaus-
gleich werden soll und was dann für den Solidarpakt II
übrig bleibt. Deswegen muss man dies alles im Zusam-
menhang diskutieren, was wir auch tun. Man muss aber
genau unterscheiden, was wofür steht. Dies wurde bisher
in der Debatte gern vermieden. Ich möchte Klarheit da-
rüber schaffen, worüber wir eigentlich streiten.
Der politische Normalfall ist das, was im Länderfi-
nanzausgleich geregelt wird. Ich als ostdeutsche Abge-
ordnete möchte, dass wir so viel wie möglich über den
Länderfinanzausgleich, also den politischen Normalfall,
regeln. Ich halte dies für realistisch, transparent und lang-
fristig. Das sind die entscheidenden Kriterien dafür.
Der politische Sonderfall, von dem wir auch reden
müssen, ist zum Beispiel Gegenstand der Regelungen
zum Solidarpakt II, des Investitionsförderungsgesetzes
und der Sonderbundesergänzungszuweisungen. Schon
der Name zeigt, dass sie etwas Besonderes sind. Dazu
gehören auch andere Bundeszuständigkeiten. Aber hier
liegt der Hase im Pfeffer: Bei diesen politischen Sonder-
fällen kann man nicht von einer Finanzierung über Jahre
und Jahrzehnte ausgehen. Man kann nicht davon ausge-
hen, dass es ein selbstverständliches Ausgleichssystem
zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern gibt.
Man muss vielmehr jedes Mal aufstehen und sagen: Wir
bedürfen eines Sondergeldes. Hier gilt: Wenn wir alle
Vorstufen durchdekliniert haben, werden die zum Schluss
übrig gebliebenen paar Mark noch verteilt werden. Viele
werden das nicht mehr sein. Das hängt aber davon ab, wie
über die Vorstufen verhandelt wird. Den Letzten beißen
die Hunde. Zum Schluss geht es dann um Sonderergän-
zungszuweisungen und Sonderfinanzierungen. Deswe-
gen bin ich sehr enttäuscht darüber, dass die ostdeutschen
Ministerpräsidenten insgesamt nicht stärker für eine
höhere Anrechnung der kommunalen Finanzkraft der
ostdeutschen Kommunen plädiert haben.
Reden wir einmal darüber: Im Jahre 1969 gab es ein ar-
mes Bundesland. Dessen berühmtester Politiker, Franz
Josef Strauß, hat dem damals wirtschaftlich so schlecht
stehenden Lande geholfen, indem er argumentierte, man
müsse die kommunale Finanzkraft zu 100 Prozent ein-
rechnen. Alles andere würde das arme Land furchtbar be-
nachteiligen. Dies war in der Phase des Aufbaus Süd. Der
hat funktioniert, wie wir wissen. Das können wir heute da-
ran erkennen, dass bei diesem Thema der Herr Stoiber
ganz andere Töne als weiland der Herr Strauß anschlägt.
Als Herr Strauß schon damals sagte, der zwar ein umstrit-
tener, aber zumindest ein gescheiter Politiker gewesen ist,
die kommunale Finanzkraft müsse deutlich stärker einbe-
zogen werden, war das genauso realitätsnah wie unser
Vorschlag von Bundesseite, dass die kommunale Finanz-
kraft stärker einbezogen werden muss.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
16283
Ich kenne die Debatten aus dem Bundesrat und habe
die Protokolle nachgelesen. Ich weiß, dass zum Beispiel
Herr Teufel der Meinung ist, man würde gegen das
Grundgesetz und die Verfassung verstoßen, wenn man die
kommunale Finanzkraft zu 100 Prozent einbeziehen
würde. Wir können gern über einen Korridor reden, der
ein wenig Luft für die kommunale Selbstständigkeit lässt.
Wir müssen nicht unbedingt bei 100 Prozent ankommen.
Aber die Anrechnung der kommunalen Finanzkraft nur zu
zwei Dritteln als Erfolg zu bezeichnen, halte ich ange-
sichts der desolaten Finanzlage der Kommunen im Osten
für verfehlt. Man kann sagen, dass es Bewegung gegeben
hat, die man auch honorieren muss. Das ist völlig korrekt.
Aber ein Erfolg, Herr Ringstorff, ist das nicht.
Ich wünsche mir, dass die ostdeutschen Ministerpräsi-
denten in ihren Kaminrunden und sonstigen Runden deut-
lich stärker auf diesen Aspekt abheben. Ich möchte nicht,
dass sie sagen: Das Argument wollen wir uns für einen
späteren Zeitpunkt aufheben, zu dem wir über Sonderfi-
nanzierungen, Sonderberdarfsbundesergänzungszuwei-
sungen und was weiß ich sprechen müssen. Das ist
schwach. Am Ende wird dieses Argument nicht mehr zie-
hen. Dann nützen Absichtserklärungen gar nichts.
Ich glaube, die fünf ostdeutschen Länder profitieren
langfristig und strukturell stabil nur davon, dass die kom-
munale Finanzkraft deutlich höher angerechnet wird, als
das jetzt der Fall ist, und zwar deutlich höher als die zwei
Drittel, die jetzt im Raume stehen. Ich habe das Ganze für
eine spanische Eröffnung gehalten; die dafür nötigen zwei
Springer werden ja noch zu Wort kommen. Ich bin der
Auffassung, dass Sie diesen Punkt sehr viel besser
bearbeiten müssen. Wir brauchen bei der Anrechnung der
realen kommunalen Finanzkraft einen Korridor, der bei
mindestens 70 bzw. 80 Prozent liegt. Alles, was darunter
liegt, ist kein Erfolg, sondern höchstens Bewegung.
Nun zu einem anderen Aspekt: Herr Ministerpräsident
Vogel, Sie haben hier ausführlich dargestellt, wie wichtig
es Ihnen ist, dass es ein Sonderprogramm gibt. Sie ha-
ben dazu einen Finanzierungsvorschlag gemacht, der
nicht so einfach ist, wie Sie ihn hier dargestellt haben;
aber belassen wir es erst einmal dabei.
Ich finde es nicht richtig, dass wir im elften Jahr nach
der Wende noch immer darauf angewiesen sind, so viel
wie möglich über Sonderfinanzierungen und Sonderpro-
gramme zu realisieren. Ich möchte, dass wir mehr Kraft
darauf verwenden, in den politischen Normalfall einge-
ordnet zu werden, damit wir nicht jedes Mal Diskussionen
führen müssen, um die Notwendigkeit von Sonderfinan-
zierungen glaubhaft darzustellen.
Dies betrifft ebenso den Solidarpakt II. Im Rahmen
dessen wird immer gefordert, man brauche für die nächs-
ten zehn Jahre, über den Daumen gepeilt, 300 Milli-
arden DM. Diese Zahl ist nirgends belegt: Die einen spre-
chen von 140 Milliarden DM, die anderen sprechen von
300 Milliarden DM. Wenn man das Klima in dieser De-
batte nicht vergiften will, heißt das für uns Ostdeutsche,
jeden Wasserhahn, den wir installieren wollen, im Einzel-
nen abrechnen zu müssen, um die Notwendigkeit dieser
Finanzmittel überhaupt glaubhaft darstellen zu können.
Mir wäre es lieber, wir würden uns mehr Handlungs-
fähigkeit schaffen, indem wir auf der Basis einer realisti-
schen Berechnungsgrundlage im Rahmen des Länderfi-
nanzausgleiches ordentliches, sauberes und langfristig
strukturell geordnetes Geld bekommen. Das ist mir viel
wichtiger. Es erhöht unseren Handlungsspielraum und
unsere Beweglichkeit.
Es war Waigels Fehler, damals gesagt zu haben: Okay,
der Bund buckelt die Finanzierung der neuen Länder.
Das Problem, das wir jetzt mit lösen müssen, ist ja, dass
der Bund in den letzten Jahren die westdeutschen Bun-
desländer geschont hat und selber einen großen Teil der
Probleme finanziell gebuckelt hat. Da ist es ein bisschen
wohlfeil, sich hier hinzustellen und zu sagen: Es kann
nicht sein, dass sich der Bund zulasten der Länder saniert.
Natürlich müssen alle ihre Haushalte konsolidieren. Es
kann aber auch nicht sein, dass wir von einem Sonder-
programm zum nächsten hecheln. Nach über einer De-
kade deutscher Einheit ist das einfach nicht mehr ange-
messen.
Vonseiten der F.D.P. wurde heute gesagt, es sei wich-
tig, auch Anreize einzubringen. Da pflichte ich Ihnen
durchaus bei. Es ist nicht so, dass in den Koalitionsfrak-
tionen nicht über Anreize gesprochen wird. Das ist kein
Monopol der F.D.P.-Fraktion. Dazu muss man einmal
feststellen: So komisch die Kaminrunde am letzten Wo-
chenende auch gewesen sein mag denn sie ist kein Aus-
schuss des Bundestages , so hat es auch gute und inte-
ressante öffentliche Vorschläge seitens der Kaminrunde
gegeben.
Einer davon betrifft nach meinem Verständnis die An-
reizsysteme, indem man sagt, dass es keine ausschließli-
che Mindestauffüllung mehr geben soll, sondern eine
Auffüllung von 75 Prozent, wobei dann folgendes Prinzip
in Kraft treten soll: Diejenigen, die mehr als 75 Prozent
erwirtschaften, bekommen für jede darüber hinausge-
hende D-Mark in Form eines Selbstbehaltes 25 Prozent
ein Viertel ist immerhin ein Anreiz und diejenigen, die
weniger erwirtschaften, erhalten nur eine Auffüllung bis
zu 75 Prozent; auch das ist ein Anreiz, und zwar ein ne-
gativer. Ich finde, das ist ein vernünftiger Vorschlag, den
wir in unsere Diskussion mit einbeziehen sollten.
Herr Ministerpräsident Vogel, natürlich wird es zu die-
sem Gesetzentwurf noch viele Debatten geben. Natürlich
wird auch dieser Entwurf nicht 1:1, so wie er eingebracht
worden ist da haben Sie völlig Recht , die Beratungen
im Ausschuss verlassen können.
Das ist bei fast keinem Gesetz je so geschehen; das ist
völlig richtig. Aber da wir jetzt bei der Eröffnungsrunde
des Schachspiels sind und die zwei Springer der spani-
schen Eröffnung noch sprechen werden, möchte ich da-
rauf hinweisen, dass es noch ein paar Ziele gibt, die man
erreichen muss. Es gibt sozusagen eine Hürde, über die
man springen muss. Die wesentliche Hürde für die fünf
neuen Länder im Rahmen des Länderfinanzausgleichs ist
und bleibt die Anhebung der Anrechnung der realen kom-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Antje Hermenau
16284
munalen Finanzkraft. Diese muss mindestens in einem
Korridor von 70 bis 80 Prozent liegen. Alles andere ist
kein Erfolg.
Danke schön.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das bereits mehrfach erwähnte Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999 ist
sicherlich eines der bedeutendsten Urteile in seiner
langjährigen Geschichte. Es regelt nicht nur finanzpoli-
tisch und steuerpolitisch bedeutsame Fragen im Verhält-
nis von Bund und Ländern, sondern berührt in einem ganz
besonderen Maße Fragen unserer föderalen Ordnung.
Dies ist nicht nur aus Sicht der Länder zu betrachten; auch
der Bundestag hat ein besonderes Interesse am Funktio-
nieren unserer föderalen Ordnung.
Das Gericht hat zu Recht festgestellt, dass das geltende
Finanzausgleichsgesetz verfassungswidrig und deshalb
nur noch als Übergangsrecht anwendbar sei. Dabei hat das
Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass das zu
verabschiedende Maßstäbegesetz konkrete Zuteilungs-
und Ausgleichsmaßstäbe benennen müsse. Wir von der
F.D.P.-Fraktion haben allerdings große Zweifel, ob der
Gesetzentwurf der Bundesregierung insbesondere hin-
sichtlich der Konkretisierung hinreichend deutlich wird.
Hier müssen die Ausschüsse wahrscheinlich noch sehr
viel nacharbeiten. Die F.D.P. will sich dabei sehr dezidiert
an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts orientie-
ren. Dazu zählt auch, dass die grundsätzliche Funktions-
fähigkeit der Länder gesichert sein muss, dass aber auch
die unterschiedlichen Leistungen und die unterschiedli-
che Finanzkraft der Länder berücksichtigt werden müs-
sen.
Es ist bedauerlich, dass die Zeit seit dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts es sind jetzt fast zwei Jahre
durch Basargefeilsche der Bundesländer verplempert
worden ist. Besser wäre es gewesen, zunächst einmal eine
grundsätzliche Bestandausnahme über das zu machen,
was Föderalismus heute zu leisten hat. Erst am Ende die-
ser Diskussion hätte die Ausgestaltung des Länderfinanz-
ausgleichs diskutiert werden müssen.
Dabei wäre man sehr schnell zu der Frage gekommen,
ob ein Sonderbedarf der Länder wegen besonderer Ver-
antwortung zu berücksichtigen sei. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat in seinem Leitsatz in Ziffer 7 ausdrück-
lich gesagt, dass bei der Ermittlung der Finanzkraft
Sonderbedarf nicht berücksichtigt werden dürfe, jedoch
strukturelle Eigenarten insbesondere bei den Stadtstaa-
ten als Ausnahmetatbestand erwähnt. Dasselbe gilt für
die Berücksichtigung bei Sonderbelastungen aus der Un-
terhaltung und Erneuerung von Seehäfen.
Die hanseatischen Stadtstaaten, die im Übrigen auch
die bedeutenden Seehäfen zu unterhalten haben, stellen
für unsere föderale Grundordnung eine traditionelle repu-
blikanische Funktion dar, die es zu erhalten gilt.
Vielen Dank, Frau Fuchs. Sie haben auch gegenüber
den umgebenden Ländern Niedersachsen und Schleswig-
Holstein eine besondere Metropolfunktion und stellen für
die Umlandgemeinden praktisch die gesamte Infrastruk-
tur, angefangen von Krankenhäusern bis hin zu Museen.
Auch stellen diese Stadtstaaten die Arbeitsplätze zur Ver-
fügung.
Dass daraus eine zusätzliche Belastung entsteht, dürfte
außer Zweifel stehen. So haben zahlreiche Wissenschaft-
ler, insbesondere das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-
schung, mehrfach die Berechtigung einer besonderen Ein-
wohnerbewertung in diesem Fall von 135 Prozent für
angemessen gehalten. Davon ist offensichtlich auch das
Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilsgründen aus-
gegangen. Die zusätzliche Einwohnergewichtung der
Stadtstaaten infolge ihrer Metropolfunktion sollte zur
Vermeidung zukünftiger Auseinandersetzungen stärker
als bisher im Maßstäbegesetz berücksichtigt werden. Wir
wollen nämlich zukünftiges Feilschen der Bundesländer
untereinander durch klare Regelungen des Maßstäbege-
setzes verhindern.
Meine Damen und Herren, wir hätten es natürlich auch
lieber gesehen, wenn das Maßstäbegesetz und das Finanz-
ausgleichsgesetz wenn nicht zur gleichen Zeit, so doch
in einem zeitlich näheren Zusammenhang zusammen
beraten worden wären; denn es ist ja nicht zu verkennen,
dass beides eng zusammenhängt. Das sieht man auch an
der Feilscherei der Bundesländer untereinander, aber
ebenso mit dem Bund.
Wir hätten auch gerne gesehen, wenn der föderale Leis-
tungswettbewerb stärker als bisher nach dem Motto, dass
sich Leistung und Sparsamkeit lohnen sollen, im Entwurf
des Maßstäbegesetzes berücksichtigt worden wäre.
Die F.D.P.-Fraktion wird in ihrer Gesamtheit entspre-
chend den von Frau Professor Frick genannten Grundsät-
zen intensiv und konstruktiv an der Beratung dieses Ge-
setzentwurfs mitwirken.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Kol-
legin Dr. Barbara Höll für die PDS-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Es tut gut, an dieser Stelle der Diskussion noch
einmal auf das Grundproblem unserer Debatte hinzuwei-
sen. Im Kern ging es bei der Klage der Geberländer
vor dem Bundesverfassungsgericht um den Versuch, das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Antje Hermenau
16285
Sozialstaatsprinzip des föderalen Systems der Bundesre-
publik Deutschland aufzukündigen.
Dieses Sozialstaatsprinzip beinhaltet, dass wir gehalten
sind, staatliches Handeln danach auszurichten, in mög-
lichst hohem Maße für die Gleichwertigkeit der Lebens-
verhältnisse über die Grenzen der Gliedstaaten hinweg
Sorge zu tragen.
Das setzt natürlich eine relativ starke Zentrale voraus, er-
fordert aber auch einen solidarischen Ansatz.
Hier steht die Entscheidung zwischen einem weiteren
Ausbau und der Fortentwicklung des Sozialstaatsprinzips
im föderalen System zu einem modernen, demokrati-
schen, sozialen Föderalismus oder dem Übergang zu
Wettbewerbsföderalismus auf der Tagesordnung.
Herrn Metzgers Betonung der eigenständigen Position
der Grünen hat mich schon sehr erstaunt. Ich dachte, Sie
seien an der Regierung beteiligt und trügen auch deren
Entwurf.
Es fragt sich, inwieweit es Ihnen, wenn Sie versuchen, mit
dem schönen, neuen, modernen Terminus aktivierender
Föderalismus zu agieren, gelingen wird, zu verschleiern,
dass es auch bei Ihnen sehr starke Tendenzen gibt mit
denen Sie anscheinend noch nicht durchgekommen sind;
ich hoffe, Sie kommen damit auch nicht durch , die da-
rauf hinauslaufen, den Wettbewerbsföderalismus weiter
voranzubringen. Das wird so wenig funktionieren, wie
man ein bisschen schwanger sein kann.
Herr Metzger betonte ebenfalls, dass wir als Bundes-
tagsabgeordnete verpflichtet sind, die Bundesinteressen
zu vertreten. Das ist für mich in gewisser Weise etwas
Neues. Ich dachte, ich bin als Bundestagsabgeordnete ge-
wählt, um die Interessen der Bürgerinnen und Bürger
zu vertreten. Das heißt natürlich, sie in ihrem Leben in der
Kommune, in einem Bundesland innerhalb der Bundesre-
publik Deutschland zu vertreten. Deshalb sehen wir es als
unsere oberste Pflicht an, ein Gegeneinander-Ausspielen
der Interessen von Bund und Ländern und ein Vergessen
der kommunalen Interessen nicht zuzulassen, sondern
diesen solidarischen Ansatz wirklich voranzustellen.
Das bedeutet natürlich, dass wir vor der Aufgabe ste-
hen, über die Finanzverfassung der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt zu diskutieren und das Konne-
xitätsprinzip auch im Bundestag endlich auf die Tages-
ordnung zu setzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat von uns die Qua-
dratur des Kreises verlangt. Ich zitiere:
Der Gesetzgeber muss unabhängig von wechseln-
den Ausgleichsbedürfnissen und von konkreten Zu-
teilungs- und Ausgleichssummen langfristig an-
wendbare Maßstäbe bestimmen, aus denen dann die
konkreten, in Zahlen gefassten Zuteilungs- und Aus-
gleichsfolgen abgeleitet werden können.
Dies ist ein hehres Ziel, aber wohl kaum zu realisieren,
wenn als nächster Schritt über die Neuregelung des Fi-
nanzausgleichsgesetzes diskutiert werden soll. Denn wir
können darüber nicht abstrakt diskutieren, ohne im Kopf
zu haben, was das konkret bedeutet. Von daher ist die Auf-
gabenstellung, vor der Bundestag und Bundesrat stehen,
sehr schwierig.
Ich möchte nun noch etwas zu einem Aspekt sagen, der
mich in der Debatte doch sehr bewegt hat. Von verschie-
dener Seite ist betont worden, es sei notwendig, das Leis-
tungsprinzip stärker zu fördern, ein bisschen Wettbewerb
auch im Föderalismus zu verankern. Als Beispiel wird oft-
mals die Frage der Betriebsprüfungen angeführt. Da ist ja
etwas dran. Es gibt in der Tat absolut zu wenige Betriebs-
prüfungen aber in allen Bundesländern! Betriebsprü-
fungen sind eigentlich das einzige steuerliche Mittel, das
die Bundesländer im Standortwettbewerb haben. Schon
heute gibt es zwischen den Kommunen einen umfassen-
den Standortwettbewerb was sich dann in den unter-
schiedlichen Hebesätzen bei der Gewerbesteuer aus-
drückt. Die Länder haben ein solches steuerliches
Instrument nicht, aber die Betriebsprüfungen. Ab und zu
wird dies auch klar gesagt: Wir dürfen nur nicht in den Ge-
ruch kommen, mehr als in anderen Bundesländern zu prü-
fen; das könnte ja potenzielle Investoren abschrecken.
Nun frage ich mich allerdings wirklich, ob ein Minis-
terpräsident oder eine Ministerpräsidentin eines Landes
Entscheidungen davon abhängig machen sollte, wie viel
beim Länderfinanzausgleich herauskommt. Ich denke, es
wird ihm bzw. ihr lieber sein, wenn Arbeitsplätze ge-
schaffen werden, wenn Menschen wieder in Lohn und
Brot kommen und die Möglichkeit haben, selbst für ihren
Lebensunterhalt zu sorgen. Auch unser Bundeskanzler
hatte ja eigentlich diese Zielstellung und hat den Abbau
der Arbeitslosigkeit als sein Hauptbetätigungsfeld gese-
hen. Leider ist er dabei bisher nicht sehr erfolgreich. Ich
meine, diese gesamte Diskussion zeigt die Notwendig-
keit, im Bundestag weiter am Maßstäbegesetz zu arbeiten.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu einem
weiteren Aspekt sagen, und zwar zum Solidarpakt. Ich
finde es erstaunlich, dass die Bundesregierung bei aller
Unkonkretheit, die Maßstäbe haben müssen weiß, dass
die Notwendigkeit eines Solidarpaktes nach Abschluss
des Solidarpaktes II auslaufen wird. Denn so ist es for-
muliert:
Nach dem Willen des maßstabbildenden Gesetzge-
bers gehen die Solidarpflichten des Bundes über
diese einmalige Verlängerungsmöglichkeit der Ge-
währung von Sonderbedarfsergänzungszuweisungen
für die neuen Länder und Berlin nicht hinaus.
Das kann ich nicht verstehen. Ich wusste nicht, dass Herr
Eichel hellseherisch veranlagt ist. Wir sind es nicht. Wir
halten es für erforderlich, im Gesetz einerseits die nötige
Unschärfe zu verankern und andererseits die nötige
Schärfe einzuziehen, zum Beispiel was den Dünnbesiede-
lungsfaktor betrifft.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Barbara Höll
16286
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Höll,
das klingt zwar alles wie ein Satz, aber Sie müssen wirk-
lich zum Ende kommen.
Die Notwendigkeit eines
Dünnbesiedelungsfaktors ist vorhanden. Wie er sich kon-
kret entwickeln wird, wird man dann sehen.
In diesem Sinne: Ich meine, wir haben gemeinsam ge-
nug zu tun im Interesse des gesamten Landes!
Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Erste Bürgermeister der Stadt Hamburg, Ortwin Runde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Abge-
ordnete Schild hat Recht: Der Finanzausgleich ist streit-
behaftet. Das bietet gleichzeitig überraschende Bündnis-
möglichkeiten, wobei man sagen muss: Ein Bündnis, das
sich gebildet hat, ist nicht so überraschend. Dass sich, be-
zogen auf den vertikalen Finanzausgleich, die Länder
wie schon im Bundesrat zusammenrotten und sich
gegen den Bund einig sind, gehört zu den weniger über-
raschenden Punkten. Das ist aber nun einmal so und das
muss der Bundesfinanzminister dann auch zur Kenntnis
nehmen.
Herr Seiffert hat gesagt: Hoffentlich wiederholen die
hier nicht die Reden, die sie im Bundesrat gehalten haben.
Da kann ich Sie beruhigen: Das wird nicht geschehen.
Man muss auch feststellen: Es ist wirklich ein anderes
Gremium.
Die Menschen hier sind ganz offenkundig leichter zu er-
freuen, als das im Bundesrat der Fall ist.
Das mit dem Eichhörnchen und dem Kaninchen hat mir
übrigens in der Tat sehr gut gefallen.
Das geht alles von meiner Redezeit ab. Dass sich Herr
Eichel nicht freut, kann ich mir nicht vorstellen.
Klar ist, dass wir bei dem Thema Finanzausgleich nur
vorankommen, wenn wir existenzielle Ängste und Bedro-
hungen vermeiden. Es ist ein schwieriger Prozess gewe-
sen, hier ein Stück voranzukommen. Der Sonderaus-
schuss des Bundestages hat frühzeitig erkannt: Es wird
nur Lösungen im Miteinander geben. Das ist hochkom-
plex, weil wir verschiedene Ebenen und verschiedene
Dimensionen zusammenzubringen haben. Dies muss in
einem System geschehen, das nicht einfach ist und das bei
allen Rufen nach Transparenz nie ganz einfach werden
wird. Ich kann nur alle diejenigen warnen, die ein einfa-
ches System fordern. In einer komplexen Welt gibt es das
nicht. Das kann nur ein Laie fordern.
Wir müssen etwas finden, das nicht zulasten der neuen
Länder geht, nicht zulasten der finanzschwachen west-
lichen Länder, nicht zulasten der Zahlerländer und auch
nicht den Stadtstaaten das Lebenslicht ausbläst. Das ge-
hört natürlich mit dazu, wenn ich dies als Bürgermeister
der Freien und Hansestadt Hamburg sagen darf.
Sagen wir es so: Es geht um eine fein abgestimmte Jus-
tierung eines empfindlichen Systems. Wer da meint, mit
dem großen Schraubenschlüssel oder mit dem dicken
Hammer herumfuhrwerken zu müssen, der riskiert den
föderalen Kurzschluss. Aber wenn es einen Kurzschluss
gibt, sitzen bekanntlich alle im Dunkeln. In bestimmten
Konstellationen soll dies ja interessant sein.
Das Thema Finanzausgleich ist nicht für Schaukämpfe
geeignet. Dies gilt auch für eine Aufteilung in A- und B-
Länder: Man darf nicht in Lagern von CDU/CSU, SPD
und Rot-Grün gegen andere Buntkulturen denken. Das
geht nicht. Deswegen haben die Ministerpräsidenten auch
gesagt: Wir müssen aus den Gräben heraus. Negativ aus-
gedrückt bezeichnet man dies als Kungeln; positiv ausge-
drückt mit: Wir müssen endlich die Sprachlosigkeit über-
winden und miteinander kommunizieren.
Solche Lockerungsübungen haben wir letzten Samstag
gemacht. Meines Erachtens haben sie zu ganz guten Er-
gebnissen geführt, nämlich zu sechs Eckwerten, die uns in
der Tat in der Diskussion und Lösungsfindung ein Stück
weiterführen.
Erstens. Die Bundesregierung ist bereit das ist ein
Eckwert, Bundesfinanzminister Eichel hat dies dankens-
werterweise ausgeführt , im Rahmen des bundesstaatli-
chen Finanzausgleichs den Fonds Deutsche Einheit
zu übernehmen und durch eine Umfinanzierung 1 bis
1,5 Milliarden DM dauerhaft ich lege Wert darauf, dies
zu unterstreichen zur Verfügung zu stellen. Ich muss sa-
gen: Dies ist eine Konsensfindungserleichterungsmaß-
nahme, für die wir dies sage ich für alle Länder dem
Bundesfinanzminister dankbar sind. Konsensfindungs-
erleichterung wird immer begrüßt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bürgermeister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Christa
Luft?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja,
aber fassen Sie sich bitte kurz.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16287
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das geht nicht von Ih-
rer Redezeit ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nicht? Dann können Sie ganz gelassen sprechen.
Es ist in dieser Debatte schon
wiederholt gesagt worden und auch Sie haben darauf hin-
gewiesen: Es sei ein Erfolg, wenn es zu einem Konsens
darüber käme, dass der Bund den Fonds Deutsche Ein-
heit tilgen, die Zinsen zahlen und dafür einen höheren
Umsatzsteueranteil der Länder einbehalten würde. Mei-
nen Sie nicht auch, dass dies letztlich so sehe ich es bis
jetzt zulasten der neuen Bundesländer ginge?
Denn diese sind an der Tilgung und an der Zinszahlung
nicht beteiligt, würden aber auch Umsatzsteueranteile
verlieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, das geht nicht zulasten der neuen Länder, Frau Luft.
Wir haben uns das sorgfältig überlegt. Dies kann man bei
der Gesamtgestaltung berücksichtigen. Wir haben es eben
nicht nur mit einer Justierschraube zu tun, sondern mit ei-
ner Vielzahl von Justierschrauben. Deswegen habe ich
von einem empfindlichen System gesprochen, das man
justieren muss. Man kann das so regeln, dass die Interes-
sen der neuen Länder selbstverständlich mit berücksich-
tigt werden. Das liegt mir in der Tat am Herzen. Das ist
möglich.
Zweitens: Am Ende soll mit diesen Konsensfindungs-
erleichterungsmaßnahmen für alle Länder eine schwarze
Null stehen. Dieses Ziel ist innerhalb des Länderfi-
nanzausgleichs systemkonform zu realisieren. Dies ist
auch noch eine Teilantwort auf die Frage von Frau Luft.
Wir Länder sind dankbar für diesen Beitrag und für die
Unterstützung bei der Konsensfindung.
Drittens: Die kommunale Steuerkraft soll zukünftig
mit einem Anteil von bis zu zwei Dritteln in den Länder-
finanzausgleich einbezogen werden, wobei das Verhältnis
von Real- zu Verbundsteuern flexibel gestaltet werden
soll. Hier wird ja diskutiert, ob die kommunale Steuer-
kraft nicht eigentlich zu 100 Prozent einbezogen werden
müsste. Wenn man sich aber das Verfassungsgerichts-
urteil ansieht, so gibt es sehr gute Argumente dafür, dass
nicht mehr als 50 Prozent einbezogen werden dürfen.
Insbesondere im Hinblick auf die Selbstständigkeit der
Gemeinden muss man dies sehen. Wir haben uns als Kom-
promiss zwischen der 100-prozentigen Einbeziehung, wie
im Entwurf des Maßstäbegesetzes des Bundes vorgese-
hen, und der 50-prozentigen Einbeziehung, die von Zah-
lerländern gefordert worden ist, auf zwei Drittel verstän-
digt.
Viertens. Die Einwohnerwertung zugunsten der Stadt-
staaten soll in der Größenordnung von 135 Prozent beibe-
halten werden, wobei eine Überprüfung der Höhe nach sie-
ben Jahren mittels Großstadtvergleichs erfolgen soll.
Dabei ist es wichtig, dass festgeschrieben wird: Wenn
nicht 135 Prozent, dann aber die Methode Großstadtver-
gleich. Das ist ein entscheidender Punkt.
Fünftens. Im Sinne einer Anreizwirkung im System ist
hinsichtlich der Steuereinnahmen, die über dem Durch-
schnitt liegen, künftig ein höherer Selbstbehalt vorgese-
hen. Dies scheint mir gerade für die kleineren Länder ein
richtiger Anreiz zu sein.
Sechstens. Der Solidarpakt II ab dem Jahre 2005 wird
für mindestens zehn Jahre vereinbart.
Herr Seiffert hat voller Stolz auf Baden-Württemberg
verwiesen. Deswegen muss ich als Bürgermeister der
Freien und Hansestadt Hamburg sagen, dass wir im alten
System des Länderfinanzausgleichs auch ohne Neu-
gliederung über 50 Jahre lang die höchste Pro-Kopf-Be-
lastung aller Länder gehabt haben. Hamburg ist aber soli-
darisch geblieben.
Apropos Leistungsfeindlichkeit des gegenwärtigen Län-
derfinanzausgleichs: Wenn man sieht, dass sich Bayern
unter den Bedingungen des alten Systems des Länderfi-
nanzausgleichs mithilfe Hamburgs aus einem Nehmer- in
ein Zahlerland verwandelt hat,
dann zeigt das doch, dass das System so schlecht nicht
sein kann.
Da ich Herrn Waigel gerade sehe, will ich noch sagen:
Die Einbeziehung der neuen Länder in den geltenden al-
ten Finanzausgleich war eine enorme solidarische Leis-
tung, die man nicht unterschätzen sollte. Insoweit ist also
Entscheidendes geleistet worden.
Jetzt kommt es darauf an, das Maßstäbegesetz unter
großem Zeitdruck, nämlich möglichst bis zur Sommer-
pause, zuwege zu bringen. Denn wir sind alle darauf an-
gewiesen, Klarheit über den finanziellen Rahmen der
nächsten Jahre zu erhalten, und zwar vor dem Hintergrund
der Rentenreform, der Familienleistungsgesetze und des
Länderfinanzausgleichs. Insofern haben wir eine schwie-
rige Aufgabe vor uns. Dass auch von CDU/CSU-Seite ge-
sagt wird, bitte nicht in den Vermittlungsausschuss, wird
Herr Blens verstehen. Ich verstehe aber auch Sie, Herr
Eichel, dass Sie es angesichts der Beurteilung von Herrn
Blens nicht so gerne hätten. Also sollten wir sehen, dass
uns eine Einigung in einem ganz normalen Abstim-
mungsverfahren gelingt.
Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der baye-
rische Staatsminister Erwin Huber.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 200116288
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordne-
ten! Ich habe zu Beginn der Debatte das bemerkenswerte
Bekenntnis von Herrn Eichel gehört, er sei der Letzte ge-
wesen, der vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt
habe.
Das war kurz vor der Landtagswahl in Hessen, als Ihnen
die Felle schon davongeschwommen sind. Das bestätigt
nur unser Gesamturteil, dass Sie, wenn es darum geht,
Dynamik in der Politik zu wagen, immer der Letzte sind,
Herr Kollege Eichel.
Dass man uns auf der anderen Seite vorgeworfen hat,
zuerst bei den Klägern gewesen zu sein, bestätigt, dass wir
schnell denken und rasch handeln. Das hat Bayern nach
vorne gebracht und das wird auch so bleiben.
Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist vorgehalten
worden, sie lasse mehrere Länderpolitiker zu Wort kom-
men. Ich möchte mich dafür ausdrücklich bedanken. Das
ist ein Beweis von gelebtem Föderalismus und Partner-
schaft. Besten Dank dafür.
Dass die starke Anwesenheit auf der Bundesratsbank von
Ihnen anerkannt wird, freut uns. Es ist natürlich falsch,
uns zu unterstellen, wir seien nur wegen des Mammons
hier. Wir sind in erster Linie aus Respekt und Hoch-
achtung vor dem Hohen Hause anwesend.
Es ist aber durchaus angebracht, bei diesem Bundesfi-
nanzminister hinsichtlich der Verteilung von Steuerein-
nahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen sehr
misstrauisch zu sein.
Ich räume ein, dass auch das Verhältnis zwischen den
Ländern und dem früheren Bundesfinanzminister Waigel
nicht immer konfliktfrei war. Doch fühlten wir uns bei
ihm immer in guten Händen und wurden fair behandelt.
Es ist mehrmals angedeutet worden zuletzt von Herrn
Runde , Bayern verhalte sich unsolidarisch, weil es mit
einer Klage auf eine Änderung des Länderfinanzaus-
gleiches hingewirkt habe. Ich möchte nüchtern die Fak-
ten aufführen: Wir haben von 1953, seit es den Finanz-
ausgleich gibt, bis Ende der 80er-Jahre nominal etwa
6 Milliarden DM bekommen. Wir haben das Geld gut an-
gelegt und sind das einzige Land, das von einem Emp-
fängerland zu einem Zahlerland geworden ist. Wir ha-
ben in der Zwischenzeit merken Sie sich die Zahl, damit
Sie nicht weiter Unsinn verbreiten nominal 20 Milliar-
den DM in den Länderfinanzausgleich einbezahlt.
Selbstverständlich müssen diese Summen über Jahr-
zehnte hinweg in Kaufkraft gemessen werden und dürfen
nicht einfach nominal verglichen werden. Wenn wir die-
sen Vergleich anstellen, müssen wir feststellen, dass wir
in der Zwischenzeit inflationsbereinigt mehr als 3 Milli-
arden DM mehr einbezahlt haben, als wir bekommen
haben. Das sind die Fakten. Ich möchte mich aber ich
habe damit überhaupt keine Probleme ausdrücklich bei
den Ländern bedanken, von denen wir Geld bekommen
haben.
Ich möchte Ihnen, Herr Runde, und den Kollegen aus
Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen
bestätigen: Wir haben das Geld sehr gut angelegt und sind
dabei, es nicht nur zurückzuzahlen, sondern darüber hi-
naus einen positiven Beitrag zu leisten. Herr Kollege
Runde, vielleicht könnten Sie Ihrem Kollegen in Nieder-
sachsen, das nur Empfängerland ist und nie Zahlerland
geworden ist und auf absehbare Zeit auch keine Chance
hat, mit seiner Politik Zahlerland zu werden , einmal die
gleiche Empfehlung geben.
Wir streben keine Beseitigung des bundesstaatlichen
Finanzausgleichs an; wir streben in keiner Weise eine Be-
seitigung des Länderfinanzausgleichs an. Wir stehen zur
Solidarität. Es geht uns als Zahlerländer darum, einen ge-
rechteren Finanzausgleich zu bekommen. Wir wollen kei-
nen leistungsnivellierenden Finanzausgleich, der die ei-
genen Kräfte in den Ländern lähmt, weil es sich nicht
lohnt, sich anzustrengen. Im Sinne des Gesamtstaates und
der wirtschaftlichen Entwicklung wäre es positiv, wenn
im Finanzausgleich Leistungsanreize enthalten wären.
Solche zu erreichen ist unser Ziel und nicht etwa die Be-
seitigung des Finanzausgleiches.
In der Tat gibt es ganz sonderbare Zusammenschlüsse.
So bewegt sich zum Beispiel Herr Runde als Vertreter der
Freien und Hansestadt Hamburg, einer der reichsten
Städte der Republik, bei den Armen im Hannoveraner
Kreis.
Das ist nicht aus der Situation heraus zu verstehen, son-
dern aus einem Besitzstandsdenken heraus. Dass eine der-
art reiche Stadt in der Vergangenheit einen Ausgleich für
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Vizepräsidentin Petra Bläss
16289
Hafenlasten bekommen hat, erstaunt mich. Ich habe im-
mer gedacht, ein Seehafen sei ein Vorteil für eine Stadt.
Ich begrüße es jedenfalls, dass diese Sonderleistung be-
seitigt wird.
Wir streben nicht an das ist angesprochen worden ,
über eine Änderung des Finanzausgleiches eine Neuord-
nung der Länder zu erreichen. Eine solche wäre insge-
samt positiv, wir wollen das aber nicht über den Länder-
finanzausgleich erzwingen. Eine solche Änderung muss
von den Parlamenten oder den Bürgern im Rahmen eines
Volksentscheids herbeigeführt werden, darf aber nicht
über eine Änderung des Finanzausgleichs erzwungen
werden. Wir akzeptieren ausdrücklich das Lebensrecht
aller Länder.
Da uns oft vorgeworfen wird, wir wollten aus der So-
lidarität gerade mit den neuen Ländern aussteigen, erkläre
ich deutlich: Wir sind für die Fortsetzung des Solidar-
pakts. Die Bedingungen in den neuen Ländern haben sich
ja in den letzten zwei Jahren verschlechtert und nicht ver-
bessert. Das sieht man an der Entwicklung des Arbeits-
marktes. Selbstverständlich muss die Sonderförderung
für die neuen Länder über das Jahr 2004 hinaus fortgesetzt
werden. Das hat die Bayerische Staatsregierung oft er-
klärt. Das werden wir selbstverständlich auch bei den wei-
teren Verhandlungen einhalten.
Lassen Sie mich zum vorliegenden Maßstäbegesetz-
entwurf einige Bemerkungen machen. Positiv an diesem
Gesetz ist, dass es ein echtes Rahmengesetz ist, und posi-
tiv ist auch, Herr Eichel, dass mit ihm der Eigenanteil der
Länder gestärkt wird.
Die Materie scheint trocken, kompliziert und sehr tech-
nisch zu sein. Aber sie ist politisch von höchster Bedeu-
tung; denn es werden im Rahmen des bundesstaatlichen
Finanzausgleichs etwa 60 Milliarden DM bewegt. Es geht
in der Tat darum, ob Föderalismus gelebt und ob die
Leistungsfähigkeit von Ländern und Kommunen auch in
Zukunft erhalten werden kann.
Ich sehe in der Vorlage des Bundesfinanzministers in
erster Linie eine taktische Eröffnung der Verhandlungen
und nicht eine Vorlage, auf der man weiterverhandeln
könnte, um sinnvolle Ergebnisse zu erzielen; denn der
Bundesfinanzminister richtet seinen Blick zuerst auf die
eigene Kasse.
Wenn das, was geplant ist, umgesetzt würde, dann
würde der Bund im Rahmen des Familienleistungsaus-
gleichs einen zweistelligen Milliardenbetrag auf Kosten
der Länder und Kommunen sparen. Herr Eichel, wir sind
in der Tat der Meinung, dass die Sonderregelung, nach der
sich der Bund mit 74 Prozent und die Länder und Kom-
munen mit 26 Prozent an der Finanzierung des Kinder-
geldes beteiligen, erhalten bleiben muss. Nachdem wir
diese Regelung gemeinsam gefunden haben, können Sie
sie nicht nach fünf Jahren korrigieren. Auch die Anrech-
nung der Finanzkraft der Gemeinden im Rahmen des
Länderfinanzausgleichs würde nur dazu führen, dass man
die Länder rechnerisch besser stellt, um aufseiten des
Bundes Zuweisungen zu sparen. Es kann nicht der Sinn
sein, dass der Bund Windfall Profits in Höhe von mehr als
10 Milliarden DM macht, wenn wir das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts zum Finanzausgleich umsetzen.
Wir bitten Sie herzlich, einen gerechten und fairen Län-
derfinanzausgleich und ein entsprechendes Maßstäbe-
gesetz zu verabschieden.
Die Linie des Bundesfinanzministers ist im Übrigen
nicht neu. Wenn sich Bundesarbeitsminister Riester
rühmt, dass jetzt 20 Milliarden DM für die Altersvorsorge
bereitgestellt würden, dann darf ich darauf hinweisen,
dass Länder und Kommunen davon 12 Milliarden DM,
also rund 57 Prozent, bezahlen. Die UMTS-Erlöse führen
bei Ländern und Kommunen zu Steuerausfällen in Höhe
von 27 Milliarden DM. Der Bund alleine profitiert von
den Einnahmen. Ich weise außerdem auf die BSE-Folge-
kosten hin, die in die Milliarden gehen und die die Länder
bezahlen müssen. Allein Bayern muss 600 Millionen DM
in zwei Jahren aufbringen. Der Bund gibt läppische
100 Millionen DM. Sie stehlen sich aus der nationalen
Verantwortung, Herr Eichel.
Deshalb bitte ich Sie: Tragen Sie dazu bei, dass es einen
gerechten und fairen Länderfinanzausgleich mit entspre-
chenden Leistungsanreizen geben wird!
Zur Runde vom letzten Samstag möchte ich noch sa-
gen: Natürlich kann man sich innerhalb einer Partei aus-
sprechen. Aber es müsste eigentlich auch der Bundestags-
fraktion der SPD zu denken geben, dass der Bundeskanzler
mit den Ministerpräsidenten allein gesprochen hat und
kein Vertreter der Bundestagsfraktionen der SPD und der
Grünen dabei war.
Ich halte das für sehr bedenklich. Der Bundeskanzler hat
bei der Einweihung des neuen Kanzleramtes möglicher-
weise die Vokabeln verdreht. Es heißt wohl in Zukunft:
Hier wird nicht regiert, hier wird geherrscht. Mit uns
nicht, meine Damen und Herren!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Mi-
nisterpräsident des Landes Mecklenburg-Vorpommern,
Dr. Harald Ringstorff.
ten Damen und Herren! Mit dem Maßstäbegesetz, dem Fi-
nanzausgleichsgesetz und dem Solidarpakt II wird auch
über den weiteren Erfolg der Wiedervereinigung ent-
schieden. Es geht heute also nicht allein um den üblichen
Streit ums Geld. Der gehört zum alltäglichen Geschäft
zwischen Bund und Ländern.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Staatsminister Erwin Huber
16290
Selbstverständlich haben Bund und Länder hier jeweils
ihre eigenen Interessen zu sichern und letzten Endes
Kompromisse zu finden. Aber mit der Weiterentwicklung
des bundesstaatlichen Finanzausgleichs wird auch über
die Frage entschieden, ob wir beim Aufbau Ost auf hal-
ber Strecke stehen bleiben oder ihn zu Ende führen.
Anfang der 90er-Jahre haben viele geglaubt, dass die
Angleichung der Lebensverhältnisse in wenigen Jahren
zu leisten sei. Aber spätestens 1993 war klar, dass das eine
jahrzehntelange Aufgabe ist, eine Generationenaufgabe,
die von allen Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepu-
blik zu bewältigen ist. Kollege Huber, nicht nur in den
letzten zwei Jahren, sondern in den letzten fünf Jahren war
das Wachstum in Ostdeutschland niedriger als in der alten
Bundesrepublik. Die gleichberechtigte Einbeziehung der
ostdeutschen Länder in den bundesstaatlichen Finanzaus-
gleich betrachte ich deshalb darin bin ich mit Herrn
Runde voll und ganz einig als einen wichtigen Beitrag
zum im Grundgesetz angelegten kooperativen Födera-
lismus.
Aus diesem Bekenntnis zum Föderalismus des Grund-
gesetzes haben die Institutionen sowie die Bürger in den
neuen Ländern und in Berlin das Selbstbewusstsein und
die Kraft gewonnen, mit eigenen großen Anstrengungen
den wirtschaftlichen Wiederaufbau auf den Weg zu brin-
gen. Ich sage hier ganz deutlich: In den ostdeutschen Län-
dern liegt niemand in der Hängematte; in den ostdeut-
schen Ländern wartet niemand tatenlos auf den
Geldsegen aus den alten Ländern im Gegenteil. Meine
Regierung in Mecklenburg-Vorpommern betreibt das
trifft auch auf andere Landesregierungen in Ostdeutsch-
land zu eine konsequente Ansiedlungspolitik; meine
Landesregierung betreibt eine Politik der konsequenten
Haushaltskonsolidierung und sie schlägt nicht über die
Stränge. Diese Konsolidierung ist für uns kein Selbst-
zweck. Ich betrachte sie als Chance für eine Strukturof-
fensive.
Ich möchte Sie gern daran erinnern, dass das Umstei-
gen von einer staatlichen Planwirtschaft in eine freie
Marktwirtschaft eine historisch völlig neue Aufgabe ist.
Sie ist viel mehr als ein regionales Strukturproblem der
Wirtschaftspolitik.
Ich bin stolz auf das, was die Bürger in den ostdeut-
schen Ländern und ihre Regierungen in diesen zehn Jah-
ren erreicht haben.
Mit diesen Erfolgen brauchen wir uns vor niemandem zu
verstecken im Gegenteil. Umgekehrt wissen wir selbst
Sie alle hier wissen es auch , dass in dem Prozess der
Angleichung der Lebensverhältnisse noch eine schwie-
rige Wegstrecke vor uns liegt. Diese Wegstrecke wollen
und müssen wir gemeinsam gehen.
Der infrastrukturelle Nachholbedarf in den neuen
Ländern und in Berlin ist noch erheblich. Die Wirt-
schaftsstruktur ermöglicht noch keinen selbsttragenden
wirtschaftlichen Aufschwung. Ich stelle aber mit Befrie-
digung fest, dass in den neuen Ländern in den letzten Jah-
ren weltmarktfähige industrielle Kerne auf den Gebieten
der Biotechnologie und der neuen Technologien entstan-
den sind und dass diese Kerne schon heute ein wesentli-
cher Beitrag zum Wirtschaftsstandort Deutschland sind.
Das heißt: In die neuen Länder fließt nicht nur Geld;
vielmehr leisten die neuen Länder mit der Unterstützung
aus den alten Ländern auch einen Beitrag zur Stärkung
des Wirtschaftsstandortes Deutschland insgesamt.
Mit diesen Erfolgen wird der verfassungsmäßige Auf-
trag des bundesstaatlichen Finanzausgleichs in einem ko-
operativen Föderalismus erfüllt. Das Grundgesetz fordert,
dass Bund und Länder so am Finanzaufkommen beteiligt
werden, dass ihre politische Eigenständigkeit, Herr Abge-
ordneter Seiffert, und ihre finanzielle Handlungsfähigkeit
gewährleistet sind. Die Politik muss sicherstellen, dass
alle Bürger der Bundesrepublik ganz gleich, ob sie im
Westen oder im Osten wohnen die Bundesrepublik ins-
gesamt stärken und weiterentwickeln können.
Aus der Sicht eines ostdeutschen Landes möchte ich
noch einige Bemerkungen zum Entwurf für ein Maßstä-
begesetz des Bundes machen.
Erstens. Die Aufnahme von Sonderbedarfsbundeser-
gänzungszuweisungen zugunsten der ostdeutschen Län-
der in das Maßstäbegesetz begrüße ich ausdrücklich. Die
Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen sind neben
den Mitteln aus dem Investitionsförderungsgesetz Aufbau
Ost der zentrale Baustein des künftigen Solidarpaktes II.
Aber die derzeit im Maßstäbegesetz angelegte Reduzie-
rung der Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen
auf die infrastrukturellen Nachholbedarfe schränkt die
Handlungsmöglichkeiten der Landesregierungen ein.
Denn neben den infrastrukturellen Nachteilen besteht
immer noch eine erhebliche wirtschaftliche Struktur-
schwäche. Insbesondere gilt es, die Wirtschaftsstruk-
tur nachhaltig zu verbessern. Die Zielrichtung der
Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen muss mei-
ner Meinung nach deshalb erweitert werden, dies insbe-
sondere vor dem Hintergrund, dass erst durch diese Mit-
tel die ostdeutschen Länder in der Lage sind, die
Kofinanzierung von Förderprogrammen des Bundes und
der EU zu sichern.
Zweitens. Als Hauptkonfliktpunkte zwischen den Län-
dern gelten derzeit die Höhe der Einbeziehung der kom-
munalen Finanzkraft und die Ausgleichsintensität in
den einzelnen Stufen des Finanzausgleichs. Beides hängt
für mich untrennbar zusammen; denn durch die Verbrei-
terung der Bemessungsgrundlagen kann die Ausgleichs-
intensität verändert werden. Damit können dann auch eine
stärkere Anreizorientierung und die Sicherung eines
höheren Selbstbehaltes verwirklicht werden. Der Vor-
schlag des Bundes geht genau in diese Richtung und
könnte bei gutem Willen aller Beteiligten, insbesondere
der Südländer, eine Einigung ermöglichen. Die Forderung
der Südländer, die kommunale Finanzkraft nur zur Hälfte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff
16291
einzubeziehen und gleichzeitig den Ausgleichsgrad we-
sentlich zu senken, ist für mich und meine Kollegen aus
elf Ländern nicht konsensfähig; denn damit wird aus mei-
ner Sicht einseitig die Solidarität unter allen Ländern auf-
gekündigt.
Drittens. Weiterhin hat der bundesstaatliche Finanz-
ausgleich besonderen landesspezifischen Belastungen
Rechnung zu tragen. Für Mecklenburg-Vorpommern geht
es dabei um die verpflichtende Berücksichtigung der Fol-
gen extrem dünner Besiedlung im neuen Maßstäbegesetz.
Die aus dieser Situation resultierenden erhöhten Kosten
bei der öffentlichen Leistungserbringung sind als abstrak-
ter Mehrbedarf im Finanzausgleich dauerhaft anzuerken-
nen. In dieser Haltung fühle ich mich durch das vom Bun-
desamt für Bauwesen und Raumordnung im Auftrag des
BMF erarbeitete Gutachten ausdrücklich bestätigt.
In diesem Gutachten wird festgestellt, dass in den dünn
besiedelten Ländern Mecklenburg-Vorpommern und
Brandenburg anzuerkennende abstrakte Mehrbedarfe
vorliegen. Die im Gesetz des Bundes gefundene Formu-
lierung bringt dies für mich noch nicht klar genug zum
Ausdruck. Sie müsste meiner Meinung nach eindeutiger
gefasst werden.
Meine Damen und Herren, Bundestag, Bundesregie-
rung und Länder haben für sich die Bewältigung der
großen Aufgaben aus dem Maßstäbegesetz, dem Finanz-
ausgleichsgesetz und dem Solidarpakt II bis zur Sommer-
pause vorgesehen. Sie haben sich damit einen ehrgeizigen
Arbeitsplan verordnet. Ich setze darauf, dass alle beteilig-
ten Verfassungsorgane intensiv an einer Konsenslösung,
die für alle tragbar ist, mitarbeiten. Die Zukunftsfragen
des deutschen Föderalismus in einem europäischen Kon-
text gehören nicht in einen Vermittlungsausschuss. Ich bin
in dieser Frage ausdrücklich einig mit Kollegen Runde
und Kollegen Vogel. Mecklenburg-Vorpommern jeden-
falls wird daran mitarbeiten, dass es zu einer zukunfts-
fähigen Lösung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger
in den alten und den neuen Ländern kommt. Lassen Sie
uns alle gemeinsam dafür sorgen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der Fi-
nanzminister des Landes Baden-Württemberg, Gerhard
Stratthaus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Herr Bundesfinanzminister Eichel hat uns am Beginn sei-
ner Rede gesagt, dass er nach Baden-Württemberg und
Bayern als hessischer Ministerpräsident als Letzter auf-
gesprungen sei. Der Kollege aus Bayern hat das bayrisch-
bissig kommentiert. Ich will es badisch kommentieren:
Das gibt uns Hoffnung, Herr Eichel, dass Sie auch in die-
sem Fall später auf unsere Vorschläge aufspringen wer-
den.
Weil es vorhin schon einen edlen Wettstreit darüber gab,
wer am meisten und am längsten bezahlt hat, darf ich doch
sagen, dass ich, wie Herr Vogel festgestellt hat, aus dem
jüngsten Bundesland komme, aus einem Bindestrich-Bun-
desland, das allerdings schon immer in den Finanzaus-
gleich einzahlt. Wir haben bisher über 80 Milliarden DM
eingezahlt und haben 57 Milliarden DM Schulden. Unser
Ministerpräsident behauptet immer, wir hätten keine
Schulden, wenn wir nicht eingezahlt hätten. Das glaube ich
allerdings nicht.
Uns wäre schon etwas eingefallen.
Lassen Sie mich nun aber im Ernst unseren Standpunkt
zu dem uns vorliegenden Entwurf der Bundesregierung
vortragen. Ich möchte zunächst einmal feststellen, dass
dieser Entwurf durchaus einzelne Bestandteile enthält, die
uns hoffen lassen und von denen wir überzeugt sind, dass
sie weiterzuentwickeln sind. Dazu gehören die klare Ein-
haltung der Finanzkraftreihenfolge und die Versiche-
rung, dass ein erhöhter Selbstbehalt bestehen soll. Diese
sinnvollen Punkte tragen wir gerne mit. Ansonsten ist aber
an diesem Entwurf zu sehen, dass der Bund die Absicht
hat, seine Lasten auf Kosten der Länder zu verringern.
Dies können wir nicht mittragen.
Durch das Gipfeltreffen der Sozialdemokraten am letz-
ten Wochenende hat sich in der Zwischenzeit eine neue
Situation eingestellt. Zur Form dieses Treffens ist schon
genug gesagt worden; dazu möchte ich mich nicht mehr
äußern. Die Frage bleibt aber: Was gilt jetzt? Es ist näm-
lich bekannt geworden, dass vieles anders beschlossen
worden ist, als im Entwurf des Maßstäbegesetzes vorge-
sehen.
Ich möchte versuchen, den Entwurf und das, was wir
inoffiziell über die Medien erfahren haben, aus baden-
württembergischer Sicht zu bewerten. Ich glaube, die Si-
tuation in der vertikalen Verteilung zwischen Bund und
Ländern hat sich durch das, was bekannt geworden ist,
entspannt. Bei der horizontalen Verteilung sind wir der
Meinung, dass einzelne Fortschritte zu sehen sind. Man
kann allerdings bei weitem noch nicht von einem Durch-
bruch sprechen.
Es ist vorhin schon gesagt worden, dass bei diesem
Länderfinanzausgleich die übliche Eingruppierung in
A- und B-Länder keine Rolle spielt. Es spielen vielmehr
Einzelinteressen eine Rolle. Ich möchte in diesem Zu-
sammenhang aber darauf hinweisen, dass Einzelinteressen
durchaus mit Gesamtinteressen konvergieren können. Ich
werde das nachher in einem konkreten Fall nachweisen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff
16292
Es stellt sich zunächst einmal die Frage nach der kom-
munalen Finanzkraft. Ich bin nicht der Meinung, dass
die kommunale Finanzkraft zu mehr als 50 Prozent in den
Finanzausgleich einbezogen werden soll. Warum? Es hat
in den letzten Jahren Entwicklungen gegeben, die die Fi-
nanzautonomie der Gemeinden geradezu verfassungs-
rechtlich verfestigt haben. Es kommt aber noch ein ande-
rer Aspekt hinzu: Gemeinden haben heute im Grunde
genommen schon eine größere Finanzselbstständigkeit
als die Länder. Gemeinden können immerhin ihre Hebe-
sätze bei der Grundsteuer und bei der Gewerbesteuer
selbst festlegen.
Vorhin ist das Alter von Gemeinden und von Königrei-
chen angesprochen worden. Es gibt bei uns eine ganze
Reihe von freien Reichsstädten, die sehr stolz darauf sind,
800 Jahre alt zu sein. Ich bin der Ansicht, man sollte die
kommunale Finanzkraft, die übrigens eine besonders
starke Anreizwirkung für Investitionen in der Gemeinde
hat, nicht zu 70 oder 100 Prozent, sondern nur zu 50 Pro-
zent einbeziehen, so wie das bisher der Fall ist. Alles an-
dere wäre wohl verfassungswidrig.
Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass
ein Anteil von 50 Prozent möglich ist.
Redlicherweise muss man hinzufügen, dass das Ver-
fassungsgericht nicht festgestellt hat, dass ein anderer An-
teil nicht möglich ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Uwe-Jens
Rössel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Das Bundesverfas-
sungsgericht hat in seinem Urteil aus dem Jahre 1992 aus-
drücklich beanstandet so ist es nachzulesen , dass die
Gemeindefinanzkraft nur zu 50 Prozent berücksichtigt
wird. Ist daraus nicht abzuleiten, dass der Anteil größer
sein muss? Er muss vielleicht nicht zwingend 100 Prozent
sein; aber er muss schon größer als 50 Prozent sein. Wie
gesagt, der Anteil von 50 Prozent wurde 1992 ausdrück-
lich beanstandet. Daraus kann man doch nur die Schluss-
folgerung ziehen, dass man sich in Richtung 100 Prozent
bewegen muss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für mich ist das jüngste Urteil entscheidend. Darin wurde
der geradezu verfassungsrechtliche Rang der gestiegenen
und gesteigerten Finanzautonomie der Gemeinden betont.
Dieses Urteil ist für uns ausschlaggebend.
Wir halten es auch nicht für richtig, den schon mehrfach
angestellten Vergleich mit der Verbreiterung der Einkom-
mensteuerbasis zu ziehen.
Als zweiten Punkt möchte ich die Stadtstaatenwer-
tung ansprechen, die im horizontalen Finanzausgleich
eine ganz große Rolle spielt. Sie macht ungefähr 40 Pro-
zent der Gesamtzahlungen aus. Ich möchte ausdrücklich
darauf hinweisen, dass Baden-Württemberg wie das
auch der Kollege aus Bayern schon betont hat keines-
wegs einen Angriff auf die Selbstständigkeit von einzel-
nen Bundesländern machen will. Das hat jedes Land
selbst zu entscheiden, wenngleich ich sagen muss, dass
wir ja das einzige Bundesland sind, das sich neu formiert
hat. Wir sind gerne bereit, unsere Erfahrungen, die wir da-
bei gemacht haben, den anderen Ländern zur Verfügung
zu stellen.
Ja, meine Damen und Herren, heute haben Sie die Un-
terschiedlichkeit von Baden-Württemberg gesehen. Wir
haben eine Werbung, die heißt Wir können alles außer
Hochdeutsch. Nicht einmal das stimmt, wenn ich die
Frau Frick gehört habe, und dass ein Schwabe so schnell
reden kann wie Herr Metzger, das war mir auch neu.
Nun, meine Damen und Herren, wir haben Unter-
schiede, aber diese Unterschiede sind bei uns kein
Sprengsatz, sondern eher ein Treibsatz. Das sollten wir
auch für den Finanzausgleich gelten lassen.
Aber zurück zum Mehrbedarf der Stadtstaaten: Es ist
ein Mehrbedarf, keine Frage. Aber dieser Mehrbedarf
muss objektiv ermittelt und begründet werden. Und das ist
er eben nicht; denn die Tatsache, dass die drei Stadtstaa-
ten das sind Länder, die so unterschiedlich sind, wie sie
unterschiedlicher nicht sein könnten den gleichen Pro-
zentsatz haben, ist doch ein Beweis, dass der nicht er-
rechnet wurde, sondern gegriffen ist. Bedenken Sie: Un-
sere Bundeshauptstadt, die vor elf Jahren noch geteilt war,
wird genauso behandelt wie Bremen, das noch mit gewis-
sen Strukturproblemen kämpft, und wie das reiche Ham-
burg. Denn, Herr Kollege Runde, Hamburg muss schon
das Schauspielhaus in Anspruch nehmen, um sich als arm
darzustellen.
Hamburg ist ohne Frage das reichste Land, das wir über-
haupt haben.
Dann spielt für mich auch noch eine Rolle, wie der
Mehrbedarf berechnet wird. Im Augenblick ist es so, dass
der Mehrbedarf durch die Veränderung der Finanzkraft
aller Länder beeinflusst wird. Das ist nicht einzusehen.
Der Mehrbedarf sollte mit einem absoluten Betrag festge-
stellt werden.
Meine Damen und Herren, wir sind auch an einer Ei-
nigung, an einer gemeinsamen Lösung interessiert. Las-
sen Sie mich deshalb zwei Grundsätze einer Einigung
nennen. Ich bin der Ansicht, dass sich der Länderfinanz-
ausgleich einmal demokratisch legitimieren muss, zum
anderen aber auch ökonomisch. Das scheint mir beson-
ders wichtig. Es ist heute, glaube ich, nur ein einziges Mal
angesprochen worden, dass die Nivellierung im Länder-
finanzausgleich natürlich auch ganz bestimmte volks-
wirtschaftliche Wirkungen hat. Es gilt doch auf allen
Gebieten der Wirtschaft, dass eine große Nivellierung zu
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Minister Gerhard Stratthaus
16293
Lethargie und die Akzeptanz von Unterschieden zu
Wachstum führt. Das gilt meines Erachtens auch für den
Länderfinanzausgleich.
Dies haben unabhängig voneinander zwei verschie-
dene wissenschaftliche Institute festgestellt. Zum Bei-
spiel hat ein Institut in Würzburg festgestellt, der Finanz-
ausgleich in Deutschland sei das Wachstumshemmnis
Nummer eins. Ob er das wirklich ist, weiß ich nicht, aber
ein großes Wachstumshemmnis ist er ganz bestimmt.
Deswegen sollten wir bereit sein, auch unter den Ländern
Unterschiede zu akzeptieren. Ich bin der Überzeugung,
dass durch den Ausgleich dieser Unterschiede, durch die
Anstrengungen für den Ausgleich dieser Unterschiede ein
ganz neuer wirtschaftlicher Treibsatz entstehen würde.
Das scheint mir ganz wichtig.
Es muss sich ein neuer Länderfinanzausgleich natür-
lich auch demokratisch legitimieren. Es kann nicht sein,
dass die Nehmerländer, die nun einmal im Bundesrat die
Mehrheit haben, durch eine Mehrheitsentscheidung ihre
Vorstellungen durchsetzen, ohne die Geber daran zu be-
teiligen. Ich darf darauf hinweisen, dass die Nehmerlän-
der im Bundesrat zwar eine deutliche Mehrheit haben,
aber in der Bundesrepublik Deutschland stellen die Ge-
berländer 57 Prozent der Bevölkerung, und dies spiegelt
sich auch hier im Bundestag wider.
Meine Damen und Herren, wir sind an einem Konsens
interessiert und glauben, dass wir durch unsere Beiträge
insbesondere im Bundesrat auch einen Weg gezeigt ha-
ben. Wir werden mitarbeiten, wir sind an einem Konsens
interessiert, er muss aber unseren Maßstäben entsprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Volker Kröning.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir bitte kurz
vor dem Ende dieser Debatte ein Zwischenfazit der ersten
Lesung, durchaus auch als Vorsitzender des Sonderaus-
schusses. Unser früherer Kollege Jacoby wird gleich die
Gelegenheit haben, ein solches Zwischenfazit aus der
Sicht der anderen Bank zu ziehen, die hier neben der Bun-
desregierung dem Haus gegenübersitzt.
Man muss, wie ich glaube, nüchtern feststellen, dass
der Gesetzentwurf der Bundesregierung bisher keine
Mehrheit im Bundesrat hat.
Auch im Bundestag muss er seine Mehrheit noch finden.
Die Debatte darüber war aber hilfreich, und alle Diskus-
sionsbeiträge haben dazu beigetragen, weitere Schritte
hin zu einer Einigung zu gehen. Um es auch nüchtern zu
betrachten, möchte ich einige ahnungsvolle Sätze aus der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die un-
ser Muss-Programm vorgibt und nicht viel Spielraum für
Wünsche lässt, mit der Erlaubnis der Präsidentin zitieren:
Eine nur vertragliche Verständigung über Tatbe-
stände und Rechtsfolgen des Finanzausgleichsgeset-
zes ist ... ausgeschlossen, weil damit jedes Land, das
zum Vertragsschluss nicht bereit wäre, sich seinen
Ausgleichspflichten entziehen könnte. Andererseits
rechtfertigt auch die bloße parlamentarische Mehr-
heit noch nicht den beschlossenen Finanzausgleich.
Der Gesetzgeber hat gegenläufige Interessen festzu-
stellen, zu bewerten und auszugleichen. Er darf aber
nicht allein in der Rechtfertigung eines Mehrheits-
willens
ich wende mich jetzt besonders an den besorgten Minis-
ter Stratthaus, der schon geht
zulasten einer Minderheit auf fremde Haushalte zu-
greifen oder Ausgleichsansprüche vereiteln. Damit
begegnet eine Gesetzgebungspraxis, die das Finanz-
ausgleichsgesetz faktisch in die Verantwortlichkeit
des Bundesrates verschiebt, verfassungsrechtlichen
Einwänden.
Auf das Maßstäbegesetz kommt es deshalb an, um keine
verfassungsrechtlichen Angriffspunkte gegen das spätere
Finanzausgleichsgesetz zu bieten, und auf die inhaltliche
und zeitliche Abfolge kommt es an, um keine Angriffs-
punkte zu bieten, die vor dem Gericht Aussicht auf Erfolg
haben.
Obersatz der Entscheidung von 1999 ist deshalb ich
darf noch einmal zitieren : Die
Maßstäbegesetzgebung schafft ... Kriterien, in denen
der Gesetzgeber sich selbst und der Öffentlichkeit
Rechenschaft gibt, die rechtsstaatliche Transparenz
der Mittelverteilung sichert und die haushaltswirt-
schaftliche Planbarkeit ... der finanzwirtschaftlichen
Autonomiegrundlagen für den Bund und jedes Land
gewährleistet.
Um immer wieder zu hörenden Ängsten zu begegnen, un-
terstreiche ich Herr Bürgermeister Runde, das darf ich
an Ihre Adresse sagen , dass es auf Autonomie für den
Bund und für jedes Land ankommt. Auf der anderen Seite
will ich auch noch einmal Herrn Minister Huber, der
ebenfalls das Hohe Haus bereits verlassen hat, sagen: Le-
bensrecht heißt nach den eindeutigen verfassungsrecht-
lichen Vorgaben, über die wir politisch überhaupt nicht
mehr zu streiten brauchen, Handlungs- und Leistungs-
fähigkeit der Länder.
An die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts müs-
sen sich alle Verfassungsorgane halten, also Bundestag
und Bundesrat. Wir haben es im Gesetzgebungsverfahren
nicht mehr mit den Ländern, sondern mit dem Bundesrat
zu tun, der nach Art. 50 des Grundgesetzes ebenfalls ein
Gesetzgebungsorgan des Bundes ist. Es ist dabei nicht nur
legitim, sondern auch legal, bei der Maßstabbildung auf
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Minister Gerhard Stratthaus
16294
die Gesetzesfolgen Acht zu geben, und zwar nicht nur auf
die Effekte, die man bewirken will, sondern auch auf die
Nebeneffekte, die man möglicherweise nicht beachtet hat
und die einem dann, wenn sie eintreten, nicht gefallen.
Wir legen uns also keinen Schleier des Nichtwissens
vor die Augen. So ist die Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts auch durchaus nicht zu verstehen.
Es geht allerdings nicht das möchte ich mit allem
Nachdruck aus aktuellem Anlass unterstreichen , ein
künftiges Finanzausgleichsgesetz nur zur Folie der Maß-
stabbildung zu machen, also erst ein fertiges Gesetz zu
konzipieren und anschließend über die Maßstabbildung
zu beschließen. Ich halte es für verfassungsrechtlich ver-
tretbar, gemeinsame Eckwerte zu bilden. Doch die inhalt-
liche und zeitliche Reihenfolge, von der im Urteil die
Rede ist, darf sich nicht verkehren.
Wenn also Herr Stratthaus konzediert, dass die bisheri-
gen Eckpunkte der Bundesregierung am Wochenende im
Sinne von möglichen gemeinsamen Eckwerten weiterent-
wickelt worden sind, kann ich nur sagen: Auf einer sol-
chen Linie können wir uns durchaus finden. Dann kann
man aber nicht die eigenen Maßstäbe an die Stelle von
Maßstäben, die erst noch zu finden sind, setzen.
Zu beachten ist übrigens auch, dass die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts von 1999 wesentlich weiter
geht als die Entscheidung von 1992, die unseren Ländern,
Herr Kollege Jacoby, so wesentlich weitergeholfen hat. Wir
wollen diese Ernte ja auch noch in die Scheuer fahren.
Es sollte auch erkannt werden, dass die Entscheidung
noch wesentlich deutlicher geworden ist. Das Gericht sagt
an einer Stelle sogar, dass der Gesetzgeber nur Erstinter-
pret sei, und deutet damit an, welches Risiko wir laufen,
wenn wir nicht ein vermittlungsausschuss- und verfas-
sungsgerichtsfestes Gesetz zustande bringen.
Karlsruhe macht Vorgaben zur Umsatzsteuerverteilung
das ist neu , auf die sich, wie auch auf die übrigen Vor-
gaben, der Tenor des Urteils ausdrücklich bezieht. Karls-
ruhe verlangt Einheitlichkeit der Indikatoren bei der
Deckungsquotenberechnung und beim horizontalen und
vertikalen Ausgleich. Außerdem zwingt das Bundesverfas-
sungsgericht hier findet es seine genuine Rolle zur
Gleichbehandlung bei der Anerkennung von Mehrbedarfen
und zur Konsistenz der Maßstäbe. Das Gericht mahnt uner-
ledigte Prüfaufträge an und stelle neue auf, gebietet Nach-
vollziehbarkeit und Widerspruchsfreiheit der Regelungen
und stellt Benennungs- und Begründungsanforderungen
auf, denen nach seiner Meinung das bisherige Recht er-
kennbar nicht genügt. Es ist richtig, dass das geltende Recht
sozusagen nur noch bedingt befristet fortbesteht.
Aber nicht nur rechts- und finanzwissenschaftlich stellt
das Bundesverfassungsgericht Anforderungen, die nicht
ignoriert werden können. Der Bund ist als Gesetzgeber
und auch als Finanzier gefragt. Deutlich ist der Hinweis
auf das Missverhältnis im Volumen von horizontalem und
vertikalem Ausgleich. Das Gericht fordert wörtlich eine
Korrektur auf längere Sicht auch im Hinblick auf die
neuen Länder.
Überdeutlich sind die Hinweise auf die Grenze des Fi-
nanzierbaren und die Überbelastung der Steuerpflich-
tigen, auf den Vorrang der Finanzwirtschaft, also in der
Staat-Bürger-Beziehung, vor der Haushaltswirtschaft, also
in der Beziehung zwischen den Gebietskörperschaften.
Ich möchte, um Herrn Minister Eichels Mahnung zu
unterstreichen, ein letztes Mal zitieren:
Ein Deckungsquotenverfahren, das allein nach den in
den jeweiligen Haushalten veranschlagten Einnah-
men und Ausgaben bemessen ist, genügt diesen Er-
fordernissen nicht.
Ich hoffe, dass gerade diese besonders schwierige
Hürde des einstimmigen Votums des Bundesrates auf der
einen Seite und des Vorschlags der Bundesregierung auf
der anderen Seite in diesem Punkt genommen werden
kann, um auch das ist zu Recht gesagt worden; ich
glaube, Herr Ministerpräsident Ringstorff war es den
europäischen Anforderungen an unsere gesamte Haus-
halts- und Finanzwirtschaft Genüge zu tun.
Ich will auf das Bundesinteresse nicht weiter eingehen.
Mir scheint viel gewonnen, wenn wir die Gesetzgebung
sicher und zügig abschließen, auch um das an vielen Stel-
len bröckelnde Vertrauen in Föderalismus und Parla-
mentarismus zu erhalten. Für mich geht dabei Sorgfalt
vor Tempo. Wir haben in den zehn Sitzungen, die der Son-
derausschuss bisher unter ständiger Einbeziehung der
Ländervertreter und von, wie schon erwähnt worden ist,
zwei Finanzministern und vier Regierungschefs durch-
geführt hat, die Beratung des Gesetzentwurfes anhand der
Themenschwerpunkte, die uns aufgegeben sind, vorberei-
tet. Für die Einzelberatung, die Anhörung von Experten
und die Entscheidungen über Änderungsanträge sowie
den Gesamtbericht stehen bis zur Sommerpause noch fünf
Sitzungen zur Verfügung.
Dann können Bundestag und auch Bundesrat die erste
Gesetzgebungsrunde hoffentlich noch vor der Sommer-
pause abschließen.
Wenn wir das schaffen und in dieser Legislaturperiode
das Drei-Schritt-Programm von Maßstäbegesetz, Finanz-
ausgleichsgesetz und dem intern und extern zu regelnden
Solidarpakt II schaffen,
haben wir nicht nur juristische, sondern auch ordnungs-
politische Vorgaben umgesetzt. Dann darf man von einer
Reform sprechen, die nicht groß ist, aber in die richtige
Richtung weist und auf der wir in der nächsten Legisla-
turperiode hoffentlich mit einem weiterführenden Zu-
sammenwirken von Bund und Ländern aufbauen kön-
nen. Mit einer solchen Zwischenbilanz können wir dann
durchaus vor der Öffentlichkeit und dem Wähler Rechen-
schaft ablegen.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in die-
ser Debatte ist der saarländische Minister für Finanz- und
Bundesangelegenheiten, Peter Jacoby.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Volker Kröning
16295
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Blick auf
die fortgeschrittene Zeit ist es sicherlich angebracht,
ebenfalls ein paar abschließende Bemerkungen zu ma-
chen, zumal uns das weitere Verfahren noch an der einen
oder anderen Stelle zusammenführen wird.
Zunächst einmal zum Zeitablauf: Ich denke, dass der
vorgesehene Zeitablauf nicht nur im Interesse der betei-
ligten Bundesländer ist, damit Klarheit in dieser Frage so-
wie Planungssicherheit erreicht werden können. Er ist
vielmehr auch unter gesamtstaatlichen Gesichtspunkten
von Bedeutung. Denn je mehr die Gefahr droht, dass wir
hier mit Ablauf des Jahres 2002, dem Jahr der Bundes-
tagswahl, zu keinen befriedigenden Lösungen kommen,
die ab dem Jahr 2005 in Kraft zu sein haben, je mehr also
die Gefahr droht, dass das ganze System aus den Fugen
gerät, umso mehr wird dies zu einem Problem für den Ge-
samtstaat und nicht nur für die einzelnen Bundesländer.
Daher haben wir alle zusammen ein Interesse daran, den
zeitlichen Vorgaben des Verfassungsgerichts auch durch
entsprechende parlamentarische Begleitung und Beratung
zu entsprechen.
Nun will ich die Gelegenheit wahrnehmen, auf einige
Bemerkungen in der Debatte Bezug zu nehmen, die sozu-
sagen Brücken bauen. Denn ich glaube, dass es das ist,
worum es angesichts dessen, was noch vor uns liegt, geht.
Der erste Punkt: Ich nehme zunächst einmal auf das
Bezug, was der Bundesfinanzminister heute über die For-
mulierungen des Maßstäbegesetzes hinaus gesagt hat. Er
hat das im Zusammenhang mit der neuen Regelung zur
Bedienung der Annuitäten beim Fonds Deutsche Ein-
heit und der bei der Umsatzsteuerverteilung zu finden-
den Entsprechung konkretisiert. Er ging über das hinaus,
was im Übrigen Bestandteil der Diskussion im Bundesrat
vor wenigen Tagen gewesen ist, weil es eben jüngeren Da-
tums ist. Dies ist ein erster Weg, der geeignet und in der
Lage ist, Brücken zu bauen.
Zweiter Punkt: Niemand, auch nicht die nehmenden
Länder, plädiert für den Status quo oder formuliert eine
Absage an die Implantierung weiterer Anreizfunktionen,
plädiert für eine Absage an größere Selbstbehalte. Ganz
im Gegenteil: Auch an dieser nicht unerheblichen Front
ist entscheidende, qualitativ orientierte Bewegung derge-
stalt entstanden, dass wir sagen: Für Steuermehreinnah-
men in einer gewissen Größenordnung sollen prozentual
auch da sind gewisse Größenordnungen in der Diskus-
sion stärkere Selbstbehalte gelten, als das bisher der
Fall ist, um für den Finanzausgleich der Zukunft einen
stärkeren Anreiz zu konstituieren.
Ich füge allerdings hinzu: Wenn dieser oberste Grund-
satz, die Finanzausstattung der Bundesländer auf Dauer
aufgabengerecht zu gestalten, auch in Zukunft berück-
sichtigt werden soll, hat dies zwangsläufig eine Folgewir-
kung für die Frage der Bemessungsgrundlage und im
Übrigen auch für andere Dinge, die noch zu regeln sind.
Diese Entsprechung bedeutet mit Blick auf die kommu-
nale Finanzkraft, dass das Plädoyer an die gebenden
Länder geht, die kommunale Finanzkraft im zukünftigen
Finanzausgleich über die bisherige Dimensionierung von
50 Prozent hinaus zu gewichten.
Da greife ich einen Begriff auf, der vorhin in anderer
Hinsicht benutzt worden ist, nämlich den Begriff der Ge-
rechtigkeit. Ich will die Notwendigkeit zur Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage und zur stärkeren Gewichtung
der kommunalen Finanzkraft gerade mit Blick auf die Ge-
rechtigkeit so begründen: Dass sich reiche Länder künst-
lich arm rechnen, während die Finanzkraft der Nehmer-
länder nur auf dem Papier besser wird, weil ihre
unzureichende Steuerkraft eben nur hälftig in die Bewer-
tung einfließt, das ist alles andere als überzeugend.
Dies hat wirklich nichts mit Gerechtigkeit zu tun, zu-
mal in einer Situation, in der wir es mit einer Kumulation
von Problemen zu tun haben. In prosperierenden Regio-
nen gibt es mehr Steuereinnahmen und gleichzeitig
kommt es auf der Ausgabenseite, bei der Sozialhilfe, bei
der Arbeitslosenhilfe und in anderen Bereichen, zu weni-
ger Ausgaben. Dies ist eine Kumulation der positiven Ef-
fekte. Bei den Nehmenden, bei den Schwächeren, bei de-
nen, die strukturpolitisch aufholen müssen und wollen
es ist auch im Sinne der Gebenden, dass sie eine Per-
spektive haben , haben wir eine Kumulation der negati-
ven Effekte: hohe Arbeitslosigkeit, geringe Wirtschafts-
kraft, mehr Ausgaben im Sozialbereich.
Von daher sind die Verbreiterung der Bemessungs-
grundlage und die stärkere Gewichtung der kommunalen
Finanzkraft entscheidende Stellschrauben, die dann,
wenn man kompromissorientiert an die Sache herangeht,
eben nicht vom Tisch gewischt werden sollten.
Schließlich will ich noch auf Folgendes hinweisen: Es
ist eigentlich eine falsche Alternative, die aufgemacht
wird, wenn man von Wettbewerb oder Hängematte, Dy-
namik oder Subventionsmentalität spricht. Da will ich an
das, was vorhin gesagt worden ist, anknüpfen: Es war der
Deutsche Bundestag, der zum Beispiel vor zwei Jahren
die Fortsetzung der Teilentschuldung der beiden Bun-
desländer Bremen und Saarland einstimmig beschlossen
hat. Auch das hatte eine verfassungsrechtliche Grundlage
zur Voraussetzung. Es wurde nämlich gesagt: In den Fäl-
len, in denen Bundesländer aus Gründen, die sie nicht zu
vertreten haben, in eine Haushaltsnotlage geraten, die sie
aus eigener Kraft nicht bewältigen können, ist das Soli-
darprinzip als solches maßgebend und darauf aufbauend
die Verpflichtung des Bundes und da gebe ich dem Bun-
desfinanzminister Recht auch die der Länder. Diese
Hilfspflicht ist so in Karlsruhe formuliert worden. Das ist
auch umgesetzt worden.
Es hat jetzt keinen Sinn auf diesen Zusammenhang
lege ich Wert , Lösungen das Wort zu reden, die diesen
selbst in Gang gesetzten Aufholprozess sozusagen infrage
stellen. Ganz im Gegenteil: Die Chance wird nicht nur zur
Haushaltssanierung genutzt, sondern auch zur Verbreite-
rung und Modernisierung der wirtschaftlichen Struktur.
Wir stellen uns der Aufholnotwendigkeit; wir sind für
mehr Wettbewerb. Nur, wenn man Wettbewerb aushalten
will, wenn man ihn gestalten will, braucht man gleiche
Startchancen. Die gibt es in einigen Regionen in Deutsch-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 200116296
land noch nicht. Das ist der entsprechende Zusammen-
hang.
Ganz zum Schluss formuliert das wurde ja an der ei-
nen oder anderen Stelle angedeutet : Wenn man sagt:
Wir wollen keine Länderneugliederung durch die Hin-
tertür, dann hat das im Hinblick auf die Ausgestaltung
des Finanzausgleichs natürlich die eine oder andere Kon-
sequenz. Es wäre die falsche Konsequenz, durch diese
Hintertür schreiten zu wollen in einer Zeit, die ansonsten
von der Renaissance des Regionalen geprägt und gekenn-
zeichnet ist, und angesichts dessen, dass es in anderen De-
batten dieses Hauses darum geht, die föderativen Struktu-
ren der Bundesrepublik Deutschland auf die europäische
Ebene zu übertragen. Auch da bitte ich um die Berück-
sichtigung entsprechender Zusammenhänge.
Noch einmal zusammengefasst gesagt: Die Zeichen
der Zeit stehen eigentlich auf Verständigung und auf
Kompromiss. Es ist möglich, entsprechende Brücken zu
bauen. Diesen Eindruck habe ich nach der Debatte des
heutigen Tages.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent-
wurf es handelt sich um die Drucksachen 14/5951 und
14/5971 zu überweisen, und zwar zur federführenden
Beratung an den Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzaus-
gleichsgesetz und daneben ausschließlich an den
Haushaltsausschuss zur Mitberatung und gemäß § 96 der
Geschäftsordnung. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatz-
punkt 2 auf:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Norbert Barthle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Steuerliche Gleichstellung des Mittelstands
Drucksache 14/5551
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun
, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der F.D.P.
Steuerliche Benachteiligung des Mittelstands
beseitigen
Drucksache 14/5962
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Gerda Hasselfeldt.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die steuerrecht-
lichen Veränderungen, die in dieser Legislaturperiode be-
schlossen worden sind, ist der Steuervollzug noch kom-
plizierter, noch weniger überschaubar und vor allem noch
ungerechter geworden.
Dabei war und ist der größte Fehler die Ungleichbe-
handlung der Kapitalgesellschaften auf der einen Seite
und der Personenunternehmen auf der anderen Seite. Sie
haben mit Ihrer Steuerpolitik ein Zweiklassensteuersys-
tem geschaffen: In der bevorzugten ersten Klasse sind die
Kapitalgesellschaften, in der benachteiligten zweiten
Klasse die Personenunternehmen; in der ersten Klasse
sind die großen, in der zweiten Klasse sind die kleinen
und mittleren Unternehmen.
Diese Entscheidung haben Sie getroffen, obwohl Sie
wissen, dass in unserem Land fast 90 Prozent der Unter-
nehmen Personenunternehmen sind, dass also fast 90 Pro-
zent der Betriebe der persönlichen Haftung der Unterneh-
mer unterliegen, und obwohl Sie wissen, dass auch diese
Personenunternehmen im Wettbewerb mit den Kapitalge-
sellschaften und im internationalen Wettbewerb stehen.
Es ist an der Zeit, diese Benachteiligung wieder abzu-
schaffen und dem Mittelstand die gleichen steuerlichen
Rahmenbedingungen wie den Kapitalgesellschaften zu
geben.
Meine Damen und Herren, wir stehen mit dieser Kritik
nicht allein. Wir befinden uns damit nicht nur in guter Ge-
sellschaft mit den Mittelstandsverbänden. Auch Verbände
wie der Bundesverband der Deutschen Industrie, der weiß
Gott nicht nur die kleinen und mittleren Unternehmen
vertritt, hat mehrfach wörtlich erklärt: Nachbesserungen
für den Mittelstand sind dringend erforderlich.
Ich wünschte mir, dass Sie auch die Stimmen von Vertre-
tern, die tagtäglich mit diesen Dingen zu tun haben, ein
bisschen ernster nähmen, als Sie es bisher getan haben.
Nun bestätigen uns Umfragen, dass viele mittelstän-
dische Unternehmen mittlerweile in die Rechtsform der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Minister Peter Jacoby
16297
Kapitalgesellschaft flüchten. Die Begründung dafür: Ers-
tens. Die Körperschaftsteuer für die Kapitalgesellschaften
ist deutlich niedriger als die Einkommensteuerbelastung
für die Personenunternehmen. Zweitens. Die Gewinne bei
der Veräußerung von Anteilen von Kapitalgesellschaften
sind bei Kapitalgesellschaften steuerfrei, bei Personenun-
ternehmen aber nicht. Nun kann man natürlich die
Entscheidung eines Unternehmers, die Rechtsform der
Kapitalgesellschaft zu wählen, persönlich durchaus nach-
vollziehen, vor allem dann, wenn die uns vorliegenden
Berechnungen stimmen sollten, wonach im Jahr 2002
90 Prozent der gesamten Entlastungen aus dem Steuer-
entlastungsgesetz bei den Kapitalgesellschaften landen.
Jeder vernünftige Ökonom weiß, dass steuerliche Be-
dingungen nicht primär für die Wahl der Rechtsform
ausschlaggebend sein sollten; vielmehr müssen dafür
viele andere Kriterien den Ausschlag geben. Sie treiben
mit Ihrer einseitigen steuerlichen Bevorzugung der Kapi-
talgesellschaften Unternehmen zum Teil in falsche öko-
nomische Entscheidungen hinein.
An dieser Stelle setzt unser Antrag an: Wir wollen die Be-
nachteiligung des Mittelstandes abschaffen. Wir wollen
ferner, dass für die Personenunternehmen die Steuerent-
lastung zur selben Zeit und im selben Umfang wie bei den
Kapitalgesellschaften greift. Schließlich wollen wir, dass
nicht nur bei Kapitalgesellschaften, sondern auch bei Per-
sonenunternehmen Umstrukturierungen steuerneutral er-
folgen können.
Ich will Ihnen die Ungleichbehandlung anhand einiger
Beispiele deutlich machen. Wir haben in diesem Jahr, im
ersten Jahr nach In-Kraft-Treten der Reform, eine
Körperschaftsteuerbelastung bei Kapitalgesellschaften
von 25 Prozent und bei Personenunternehmen eine
Höchststeuerbelastung von 48,5 Prozent.
Ich weiß, dass man die 25 Prozent nicht mit den 48,5 Pro-
zent vergleichen kann, aber man kann sehr wohl die sich
daraus ergebende durchschnittliche Steuerbelastung ver-
gleichen. Gerade bei ertragsstarken Unternehmen, gerade
bei denen, die hohe Gewinne erzielen, wird diese
Ungleichbehandlung ganz besonders deutlich; denn diese
Unternehmen haben einen größeren Teil ihres Gewinns
mit dem Höchststeuersatz zu versteuern.
Ich kenne die Argumente, die Sie an dieser Stelle im-
mer wieder anführen. Sie heben auf die Gewerbesteuer-
anrechnung ab. Dem halte ich Folgendes entgegen: Ers-
tens zahlen nicht alle Unternehmen Gewerbesteuer.
Zweitens haben Sie gerade, auch in diesem Jahr, die Ta-
rifbegrenzung bei der Gewerbesteuer abgeschafft. Auch
dies muss der Wahrheit halber gesagt werden.
Als weiteres Argument tragen Sie vor, es könne nicht
nur das Jahr 2001 in die Betrachtung einbezogen werden,
sondern es müsse auch das Jahr 2005, in dem eine weitere
Entlastung stattfinden werde, berücksichtigt werden. Bis
zum Jahr 2005, übrigens dem Ende der nächsten Legisla-
turperiode, vergehen aber noch einige Jahre. Bis dahin ha-
ben wir steigende Löhne, Gehälter und in aller Regel auch
steigende Gewinne, sodass immer mehr Unternehmen
den Höchststeuersatz entrichten müssen. Die Entlastung
im Jahr 2005 das wissen Sie ganz genau, meine Damen
und Herren steht auf dem Papier. Weder die Unter-
nehmer noch die Arbeitnehmer, die davon betroffen sind,
haben tatsächlich etwas davon. Das ist eine Fata Morgana;
es wird etwas versprochen, aber nicht gehalten.
Ein Weiteres kommt hinzu: Schon im Jahr 2001 wird
die Entlastung, die Sie den Unternehmen und den Arbeit-
nehmern gewährt haben, durch die Erhöhung der Öko-
steuer ohnehin wieder aufgezehrt sein.
All dies macht deutlich, dass diese Ungleichbehand-
lung bereits im Tarif vorgegeben ist, dass es also dringend
notwendig ist, die Steuerentlastung im Einkommensteu-
erbereich, die für das Jahr 2005 vorgesehen ist, drastisch
vorzuziehen und eine Abflachung des Tarifs vorzuneh-
men.
Apropos Haushalt und Finanzierung. Wenn Sie für die
Kapitalgesellschaften Geld haben, dann können und soll-
ten Sie auch für die Personenunternehmen Geld haben.
Dieses Argument greift überhaupt nicht.
Diese Entlastung ist umso dringender, als bei der Ge-
genfinanzierung, beispielsweise bei den Abschreibungen
und bei den AfA-Tabellen, alle Unternehmen auch die
Personenunternehmen in gleichem Maße betroffen sind.
In diesem Zusammenhang haben Sie sich in den letzten
Monaten ein Meisterstück im Abzocken, beim Nehmen
eines kräftigen Schlucks aus der Pulle, geleistet.
Wenn wir im Finanzausschuss gemeinsam mit der
F.D.P. nicht so hart gerungen hätten, dann wäre bei den
AfA-Tabellen noch wesentlich Schlimmeres herausge-
kommen. Das will ich einmal gesagt haben.
Gleichwohl ist es notwendig, endlich die auch von Ihnen
in Aussicht gestellte Gesetzesänderung vorzunehmen,
wonach nicht nur die technische, sondern auch die be-
triebswirtschaftliche Nutzungsdauer bei den Wirtschafts-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gerda Hasselfeldt
16298
gütern in die AfA-Tabellen einfließen muss. Sie haben in
Diskussionen mehrfach geäußert, dass das notwendig sei.
Mit Sonntagsreden ist das Problem aber nicht zu lösen,
sondern nur mit Taten, mit Entscheidungen. Sie können
bei diesem Antrag beweisen, wie groß Ihre Glaubwürdig-
keit tatsächlich ist.
Da ich schon bei der Glaubwürdigkeit bin, will ich auf
die seit kurzem berufene Mittelstandsbeauftragte der
Bundesregierung, die der Fraktion der Grünen angehört,
zu sprechen kommen. Wie in einer Zeitung vor einigen
Wochen nachzulesen war, hat Frau Wolf erwähnt, es sei
zu überlegen, ob Personenunternehmen stille Reserven
bei der Veräußerung von Kapitalgesellschaften steuerneu-
tral übertragen könnten.
Dies würde so Frau Wolf den Mittelstand flexibler
machen und ihm vor allem die gleichen Möglichkeiten
wie den Kapitalgesellschaften eröffnen.
Genau das ist es, was wir in den Beratungen ständig
eingefordert haben. Genau das steht auch in diesem An-
trag. Warum haben Sie denn bisher immer dagegen ge-
stimmt? Warum waren Sie in den Beratungen dagegen?
Warum sind Sie bis heute dagegen? Warum ist auch in
dem uns vorliegenden Bericht des BMF zur Weiterent-
wicklung der Unternehmensteuerreform dieser Punkt ent-
gegen dem Ergebnis der Beratungen in dem jeweiligen
Beirat wieder zurückgestellt bzw. abgelehnt worden?
Damit wir uns da richtig verstehen: Hierbei handelt es
sich nicht etwa um eine Maßnahme zur Förderung der
Personenunternehmen, zur Förderung des Mittelstandes,
nein, es handelt sich nur um die Beseitigung eines Nach-
teiles für den Mittelstand und für Personenunternehmen.
Wie ist die von Ihnen geschaffene Rechtslage?
Wenn Kapitalgesellschaften Anteile an Kapitalgesell-
schaften verkaufen, dann sind die Gewinne daraus steuer-
frei. Wenn Personenunternehmen Anteile an Kapitalge-
sellschaften verkaufen, dann sind die Gewinne daraus
steuerpflichtig, und zwar auch dann, wenn diese wieder in
Unternehmen investiert werden.
Meine Damen und Herren, es kann nicht hingenom-
men werden, dass Gewinne, die auf gleiche Art und Weise
erzielt werden und die für gleiche Zwecke, nämlich für
betriebliche, verwendet werden, auf der einen Seite, bei
den Kapitalgesellschaften, steuerfrei und damit gute Ge-
winne sind und auf der anderen Seite, bei den Personen-
unternehmen, steuerpflichtig und damit schlechte Ge-
winne sind.
Wir werden diese Ungleichbehandlung nicht hinnehmen.
Denn offensichtlicher und eklatanter kann eine Ungleich-
behandlung nicht sein. Wir werden dies immer und immer
wieder einfordern.
In dem Bericht, den ich eben erwähnt habe, haben Sie
in der Begründung erwähnt, dies sei aus steuersystemati-
schen und aus haushaltspolitischen Gründen nicht mach-
bar. Dazu muss ich sagen: Wenn Steuersystematik etwas
mit Steuergerechtigkeit zu tun hat, dann muss dies geän-
dert werden. Und wenn Haushaltspolitik glaubwürdig
sein soll, dann muss für Kapitalgesellschaften das Gleiche
gelten wie für Personenunternehmen und umgekehrt. An-
sonsten ist alles unglaubwürdig.
Als die Welt noch mehr in Ordnung war, nämlich vor
Ihrer Regierungszeit,
galt bei Umstrukturierungen von Unternehmen fol-
gender Grundsatz: Solange sichergestellt ist, dass Wirt-
schaftsgüter im Unternehmensvermögen bleiben, kommt
es zu keiner Aufdeckung der stillen Reserven und zu kei-
ner Besteuerung. Das galt bis Anfang dieser Legislatur-
periode. Dann kam Lafontaine und mit den Stimmen die-
ser Koalitionsmehrheit wurde dieser Grundsatz geändert.
Ab dann galt: Sofern es bei der Übertragung von Wirt-
schaftsgütern zu einem Rechtsträgerwechsel kommt, er-
folgt eine Besteuerung.
Wir haben darüber lange verhandelt auch im Ver-
mittlungsausschuss , bis bei dem Mitunternehmererlass
eine teilweise Wiederherstellung des alten Zustandes er-
folgt ist. Sie haben jetzt immer wieder behauptet, der alte
Zustand sei wieder hergestellt; aber ich betone: Dies ist
nur teilweise der Fall. Denn nach wie vor ist es beispiels-
weise so ich will Ihnen das einmal an einem konkreten
Beispiel erläutern : Wenn zwei Unternehmer über 15
oder 20 Jahre gemeinsam ein Fuhrunternehmen betreiben,
mit einigen Lastwagen und einem Grundstück, das dafür
da ist, dass die Lastwagen dort parken können, und sich
dann trennen wollen, aus welchen Gründen auch immer,
dann muss nach jetziger Rechtslage die Differenz des
Grundstückswertes zwischen dem jetzigen Wert und dem
Anschaffungswert versteuert werden. Bei einem Wert des
Grundstückes von vielleicht 2 Millionen DM und einem
Anschaffungswert von 400 000 DM fallen so Steuern in
Höhe von mehreren Hunderttausend D-Mark an.
Frau Wolf, auf diese Fälle angesprochen, sagt zu
Recht ebenfalls nachzulesen in einem Interview wört-
lich: Das kann den Konkurs bedeuten. Jawohl, meine
Damen und Herren, das kann den Konkurs bedeuten und
bedeutet in aller Regel den Konkurs. Deshalb wird eine
solche Umstrukturierung in aller Regel nicht vorgenom-
men. Das kann doch nicht das Ziel unserer Politik sein.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gerda Hasselfeldt
16299
Deshalb werden wir dafür eintreten, dass der volle frühere
Rechtszustand ich betone: der volle! wieder hergestellt
wird, damit Umstrukturierungen wieder ohne derartige
Verschlechterungen möglich sind.
Wenn man den Bericht des Bundesfinanzministeri-
ums zur Weiterentwicklung der Unternehmensteuer-
reform liest, so stellt man fest: Es ist nicht nur nicht der
volle frühere Rechtszustand wieder hergestellt, sondern
es besteht sogar noch eine Verschlechterung, nämlich in-
sofern, als eine Siebenjahresbehaltefrist gelten soll. Da
wird Misstrauen in unternehmerisches Handeln sichtbar,
da wird Gängelung sichtbar ganz abgesehen von den
Regelungen zur Überwachung und Kontrolle. Wir treten
dafür ein: voller früherer Rechtszustand, keine Verschär-
fung des bisherigen Rechts!
Dass unser Drängeln, unsere Arbeit selbst aus der Op-
position heraus gelegentlich wenigstens teilweise Erfolg
hat, zeigt die Entscheidung zur Wiedereinführung des hal-
ben durchschnittlichen Steuersatzes für Betriebsaufga-
ben. Sie haben auf unser langes Drängen hin zwar zuge-
standen, dass der halbe durchschnittliche Steuersatz bei
Betriebsaufgaben wieder eingeführt wird, aber nach wie
vor existiert im Zeitraum von 1999 bis 2000 eine Lücke.
Deshalb plädieren wir dafür, die Verschlechterung, die Sie
eingeführt haben, auch für diese beiden Jahre zurückzu-
nehmen.
Der zweite Punkt ist, dass auch die Handelsvertreter
und Arbeitnehmer in diese Regelung der hälftigen Be-
steuerung einbezogen werden müssen. Das, meine Damen
und Herren von der SPD und von den Grünen, haben Sie
bei den Ausschussberatungen, den öffentlichen Podiums-
diskussionen und den Verbänden mehrfach versprochen.
Sie haben uns versprochen: Wenn es jetzt nicht in die
jeweiligen Steueränderungsgesetze hineingeschrieben
wird, bei denen wir es immer wieder eingefordert haben,
dann sollte es bei der Rentenreform gemacht werden. Als
wir Sie darauf angesprochen haben, wollten Sie wieder
nichts mehr davon wissen. Sie haben in Bezug auf die Ar-
beitnehmerabfindungen und die Handelsvertreter einen
Wortbruch begangen. Sie sind in der Verantwortung. Sie
sind in Ihrer Glaubwürdigkeit wesentlich gestraft worden.
So ist es.
Im Übrigen kennen wir die Versprechen, die nicht ge-
halten werden, und die Sonntagsreden von Ihrer Seite in
mehrfacher Hinsicht.
Ich will eines erwähnen; Herr Spiller, hier spreche ich Sie
ganz persönlich an. Wir waren gemeinsam bei einer Podi-
umsdiskussion in Augsburg. Dabei ging es unter anderem
um die besonderen Belastungen mittelständischer Unter-
nehmer. Auch die Frage der Behandlung der Nachzah-
lungszinsen wurde gestellt. Vielleicht erinnern Sie sich
daran: Dies ist ein Relikt aus dem Steuerentlastungsgesetz
mit dem Ergebnis, dass heute Zinsen für Steuernachfor-
derungen nicht mehr wie früher als Ausgaben abzugsfähig
sind, während hingegen Erstattungszinsen sehr wohl
steuerpflichtig sind.
Diese Ungleichbehandlung, die überhaupt keine fach-
liche und sachliche Rechtfertigung hat und letztlich nur
dazu dient, Kasse zu machen, muss beseitigt werden. Sie
haben damals bei dem Gespräch so getan, als sei Ihnen
dieses Problem gar nicht bekannt. Sie haben die Frage
aufgenommen und gesagt: Dies ist ein Problem, das gelöst
werden kann. Sie haben mit unserem Antrag, den wir im
Finanzausschuss und anschließend im Plenum behandeln
werden, die Chance, zuzustimmen und dieses Problem zu
beseitigen. Dazu fordere ich Sie ganz herzlich auf.
All diese Vorschläge ich will aufgrund der Kürze der
Zeit nicht alle im Antrag enthaltenen Vorschläge auf-
führen haben wir letztlich nur aufgrund Ihrer verkorks-
ten Steuerpolitik in dieser Legislaturperiode erarbeitet.
Wir haben uns dabei wirklich auf das Wesentliche kon-
zentriert. Wenn Sie meinen, dies mit der Argumentation,
das alles sei nicht bezahlbar und hätte zu große finanzielle
Auswirkungen, abtun zu können, dann will ich Ihnen ei-
nes sagen:
Erstens. Eine ganze Reihe unserer Vorschläge haben
keine finanziellen Auswirkungen, weil Umstrukturierun-
gen entfallen, wenn die entsprechenden steuerlichen Be-
dingungen so sind, wie sie sind, beispielsweise bei der
Grunderwerbsteuer.
Zweitens. Sie haben mit Ihrer Ungleichbehandlung
von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen
letztlich die Innovationskraft und die Investitionskraft ge-
rade des Mittelstandes geschwächt. Dies gilt es
zurückzunehmen.
Wenn Sie unseren Vorschlägen folgen, dann werden
Sie sehen, dass sich gerade im mittelständischen Bereich
Wachstumsimpulse zeigen, die im Folgenden zu mehr
Steuereinnahmen führen werden.
Wir erwarten in der nächsten Zeit die Steuerschätzung.
Wir hören immer wieder, dass die Steuereinnahmen auf-
grund des zurückgehenden Wachstums sinken werden.
Die Regierung hat lange gebraucht, bis sie eingestanden
hat, dass das Wachstum nicht so groß werden wird, wie sie
es einmal prognostiziert hat, und sie ihre Einschätzungen
zurücknehmen muss. Gut, sie hat es zumindest eingese-
hen.
Wenn Sie diesen mutigen Schritt vollziehen würden,
dann würden Sie zu mehr Wachstum und zu einer Stär-
kung der Investitionskraft des Mittelstandes und damit zu
höheren Steuereinnahmen beitragen. Das Argument mit
der Finanzierung gilt also nicht.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gerda Hasselfeldt
16300
Im Übrigen ist die Ökosteuer nicht nur ein Abzocken
all derjenigen, die sich nicht wehren können, sondern sie
ist die Wachstumsbremse Nummer eins. Auch dies will
ich deutlich machen.
Wenn Sie ein wenig mutig wären, dann hätten wir auch
die Chance, von dem Platz in der Wachstumsskala der Eu-
ropäischen Union, an dem wir uns befinden, nämlich von
ziemlich weit unten, wieder weiter nach oben zu kommen.
Meine Damen und Herren, Sie haben mit diesem Antrag
die Gelegenheit, dem Mittelstand das zu geben, worauf
er ein Recht hat, nämlich eine gerechte Behandlung und
die steuerliche Gleichbehandlung mit den Kapitalgesell-
schaften. Nutzen Sie diese Chance!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-Fraktion
hat jetzt der Kollege Jörg-Otto Spiller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Friedrich Merz will in
der Steuerpolitik Profil gewinnen, war dieser Tage in der
Presse zu lesen. So weit, so gut.
Ich finde, diesen Versuch muss man dem Vorsitzenden
der Fraktion der CDU/CSU zubilligen. Mein sozialdemo-
kratisches Herz sagt mir: Wer so arm dran ist wie Herr
Merz, hat das Recht, nach fast jedem Strohhalm zu grei-
fen.
Warum er sich aber gerade die Steuerpolitik ausgesucht
hat, kann ich nicht recht nachvollziehen. Wahrscheinlich
glaubt er, dies sei für ihn leichter, weil er durch seine
langjährige Zugehörigkeit zum Finanzausschuss hiervon
allerlei versteht.
Dies ist allerdings ein zweischneidiges Schwert und hat
auch den Nachteil, dass man ihm nicht abnimmt, wenn er
Dinge verschweigt, dass man ihm nicht abnimmt, dass er
die Konsequenzen von Aussagen nicht überblickt. Der
Nachteil besteht im Grunde darin, dass man merkt, dass er
unredlich ist, und dass seine Fraktion ihm in dieser Un-
redlichkeit leider folgt. Dieser Antrag, Frau Kollegin
Hasselfeldt, ist ein wirklich hervorragendes Beispiel
dafür.
Gestern im Finanzausschuss hat Herr Professor
Kirchhof den Vorschlag seiner Kommission dargelegt,
wie man zu einem radikal vereinfachten Einkommen-
steuergesetz kommt. Die erste Reaktion von Ihnen, Frau
Hasselfeldt, war: Sie stehen voll dahinter; das trägt Ihre
Fraktion mit.
Vergleichen Sie doch bitte einmal das, was Sie in Ihrem
Antrag verlangen, mit dem, was Professor Kirchhof vor-
schlägt. Das passt nun überhaupt nicht zusammen. Ges-
tern sagen Sie: radikale Vereinfachung; heute diskutieren
Sie einen Antrag, der eine Vielzahl detaillierter Spezialre-
gelungen im Gesetz verlangt.
Worin insoweit die Übereinstimmung bestehen soll, ver-
stehe ich nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Spiller,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Sehr gerne.
Herr Kollege
Spiller, ich sehe in dieser Entwicklung überhaupt keinen
Gegensatz und möchte Sie deswegen fragen: Können Sie
für Ihre Fraktion und für Ihren Finanzminister erklären,
dass Sie den Vorschlägen von Herrn Kirchhof weitgehend
und vor allem bald folgen wollen? Wenn Sie das wollen,
können wir Ihnen versprechen, dass wir unseren Antrag
zurückziehen.
Es tut mir Leid, Herr Kol-
lege Schauerte, dass Sie da keinen Widerspruch ent-
decken können. Aber ein gestörtes Wahrnehmungs-
vermögen ist an sich keine Qualifikation für einen
Parlamentarier.
Das tut mir richtig Leid. Ich habe bisher eigentlich immer
den Eindruck gehabt, dass Sie einen recht guten Durch-
blick haben.
Aber wenn Sie aus taktischen Gründen meinen, Sie soll-
ten sich wegen der Fraktionsdisziplin dumm stellen, dann
tun Sie es.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gerda Hasselfeldt
16301
Nun zu unserer Haltung zu dem, was Kirchhof und
seine Kollegen vorgeschlagen haben.
Dies ist eine wunderschöne, gut lesbare Formulierung ei-
nes sehr einfachen Steuergesetzes. Sie lässt viele Fragen
offen und sagt: Das regeln wir alles auf dem Wege von
Verordnungen. In diesem Zusammenhang sage ich Ihnen:
Der Parlamentarismus ist in Jahrhunderten durch den
Kampf um das Steuer- und Haushaltsrecht geprägt wor-
den, den gewählte Körperschaften, die sich auf die Legi-
timation durch die Bürgerschaft berufen konnten, ausge-
fochten haben.
Wenn Sie solche Entscheidungen auf die Exekutive dele-
gieren wollen, haben Sie nicht unsere Unterstützung.
Ich kann nicht erkennen, dass alles einfacher wird,
wenn sich das Gesetz schön liest und alles Wesentliche
durch Verordnungen geregelt wird. Insofern müssen mit
Verlaub noch mehrere Überlegungen darüber angestellt
werden, wie viel Brauchbares in dem hübschen Paket von
Kirchhof enthalten ist. Wir werden uns die Vorschläge an-
sehen. Es würde mich aber wundern, wenn das der große
Wurf wäre.
Ich komme auf Ihre Haltung, Frau Hasselfeldt zurück:
Gestern haben Sie gesagt, Sie wollten die Vorschläge
übernehmen; heute aber fordern Sie eine Vielzahl detail-
lierter Regelungen.
Ich möchte gar nicht auf die Einzelheiten eingehen; im
Grunde genommen sind das auch Fragen, die man am bes-
ten im Ausschuss diskutiert, zumal sie alle Gegenstand
des Berichtes sind, den uns das Bundesfinanzministerium
auf Bitte des Ausschusses vorgelegt hat. Damit werden
wir uns im Einzelnen sachlich und nüchtern zu befassen
haben.
Ich will zwei Punkte kurz erwähnen, bei denen die Un-
ehrlichkeit Ihres Vorgehens besonders deutlich wird:
Erstens: Zum Thema AfA haben Sie eben fast tränen-
reich
über die Belastung durch eine Verlängerung von Ab-
schreibungsfristen Klage geführt. In dem von Kirchhof
erarbeiteten Gesetzentwurf steht: Es gibt erstens über-
haupt nur noch eine Orientierung an der tatsächlichen
Nutzungsdauer. Es gibt zweitens eine nur lineare und
keine degressive Abschreibung. Ich habe noch keinen
Unternehmer gefunden, der solche Pläne gut finden
würde. Sie sagen, Ihnen gefielen diese Vorschläge und Sie
wollten sie übernehmen. Wenn Sie sich so entscheiden
wollen, dann sagen Sie hier aber nichts anderes. Am bes-
ten ist, Sie entscheiden sich mal gelegentlich, wofür Sie
eigentlich sind.
Zweiter Punkt: Sie haben in Ihrer Rede im Antrag ist
das extra aufgeführt über die steuerliche Behandlung
von Betriebsveräußerungen gesprochen. Ein Hand-
werksmeister, der mit 60 Jahren seinen Betrieb aufgibt,
kann nach dem geltenden Recht erstens einen Freibetrag
und zweitens wahlweise was ich großzügig finde ent-
weder eine Dämpfung der Progression durch die so ge-
nannte Fünftelung oder aber eine Besteuerung nach dem
halben durchschnittlichen Steuersatz in Anspruch neh-
men. Das ist für einen Handwerksmeister, der sich nach
einem langen Berufsleben dafür entscheidet, seinen Beruf
aufzugeben, eine gute Regelung.
Was fordert Kirchhof, zu dem Sie ja sagen, alles bes-
tens, Kirchhof sei gut, das ist Ihr Konzept? Kirchhof ver-
langt, dass die Veräußerung von Privatvermögen voll
steuerpflichtig sein soll!
Bei ganz anderen Steuersätzen? Er spricht von 35 Pro-
zent. Ich finde, Herr Uldall, Sie sollten ein bisschen an Ihr
Herz denken und ganz ruhig bleiben
und dann in der Diskussion in der Fraktion mit Ihrem
Sachverstand dazu beitragen, dass die Sache nüchtern und
vernünftig behandelt wird.
Ich komme zu dem Schluss: Frau Hasselfeldt, da Sie
sich gestern dahin gehend geäußert haben, Sie seien für
Kirchhofs Vorschlag, wäre es das Beste, wenn Sie den An-
trag zurückzögen. Das wäre das Einfachste und Kon-
sequenteste.
Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb Sie Ihren
Antrag zurückziehen sollten. Die politische Kernaussage,
durch unsere Steuerreform gebe es eine Benachteiligung
des Mittelstandes unter dem Mittelstand verstehen Sie
etwas grob vereinfachend Personenunternehmer und Per-
sonengesellschaften, obwohl sich ein großer Teil des
Mittelstandes aus vielerlei Gründen für andere Rechtsfor-
men, zum Beispiel die GmbH, entscheidet; Sie behaupten,
nur die Personengesellschaften seien für den Mittelstand
charakteristisch, das trifft aber nicht zu , ist einfach
falsch.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Jörg-Otto Spiller
16302
Ich weiß, dass das für Sie ein Rettungsanker ist. Es trifft,
wie gesagt, bloß nicht zu.
Das Handelsblatt, dem nun wirklich nicht nachge-
sagt werden kann, dass es der CDU gegenüber emotional
abgeneigt sei, hat vor einem guten halben Jahr Arthur
Andersen den Auftrag erteilt, zu untersuchen, wie sich die
Unternehmensteuerreform auf Personengesellschaften
und Kapitalgesellschaften auswirkt. Das Ergebnis war: Es
gibt keine Benachteiligung der Personengesellschaften.
Nein, bei nüchterner Betrachtungsweise kommt man
immer wieder zu diesem Ergebnis.
Dass Sie zu falschen Schlussfolgerungen kommen,
liegt daran, dass Sie sehr grob vereinfachen, wenn Sie
über Steuersätze reden. Sie vergleichen einfach den Kör-
perschaftsteuersatz von 25 Prozent mit dem Spitzen-
steuersatz bei der Einkommensteuer, der bei 48,5 Prozent
liegt. Aber Sie sollten die durchschnittliche effektive
Steuerbelastung vergleichen und dabei auch berücksichti-
gen, dass Personenunternehmen im Gegensatz zu Ka-
pitalgesellschaften faktisch keine Gewerbesteuer mehr
zahlen.
Damit ein verheirateter Personenunternehmer auch nur
annähernd eine ähnlich hohe steuerliche Belastung wie
eine Kapitalgesellschaft hat, muss er einen Gewinn von
gut 400 000 DM erwirtschaften.
Das Gewinnniveau von 95 Prozent der Personengesell-
schaften und der Einzelunternehmer liegt aber weit da-
runter. Reden Sie also den Leuten nicht immer etwas ein,
was einfach nicht zutrifft. Entschuldigung, ich nehme
einreden zurück.
Meine Erfahrung ist: Mittelständler können rechnen
und sind nicht blöd. Sie können denen so viel erzählen,
wie Sie wollen. Die können nachrechnen und vergleichen
einfach das, was sie vorher an Steuern gezahlt haben, mit
dem, was sie heute an Steuern zahlen.
Herr Thiele, als Ihre Fraktion die damalige Koalition
mitgetragen hat, lag der Spitzensteuersatz bei der Ein-
kommensteuer bei 53 Prozent.
Zusätzlich gab es die Gewerbesteuer. Sie glauben doch
nicht, dass ein mittelständischer Unternehmer nicht
merkt, dass er heute weniger Steuern zahlen muss.
Versuchen Sie nicht, die Mittelständler für dumm zu ver-
kaufen! Machen Sie sich auch nicht die Argumentation
von Frau Hasselfeldt zu Eigen, Veräußerungsgewinne, die
bei den Kapitalgesellschaften anfallen, seien völlig steu-
erfrei. Sobald der Gewinn an die Gesellschafter ausge-
schüttet wird, wird er natürlich steuerpflichtig.
Behaupten Sie auch nicht, wir hätten zugesagt, die
AfA-Tabellen noch in dieser Wahlperiode komplett zu än-
dern. Wir haben im Ausschuss das Bundesfinanzmi-
nisterium doch gemeinsam aufgefordert, eine grundle-
gende Untersuchung darüber in Auftrag zu geben, wie das
in anderen Ländern gemacht wird und wie man das von
der Systematik her viel einfacher regeln kann. Wenn der
Bericht im nächsten Jahr vorliegt, werden wir in der
nächsten Wahlperiode die Konsequenzen aus ihm ziehen.
Ich möchte folgende Schlussbemerkungen machen:
Erstens. Ziehen Sie den Antrag zurück!
Zweitens. Mit diesem Antrag hat Herr Merz auch den
Versuch unternommen, sich Profil zu verschaffen. Meiner
Ansicht nach war dieser Versuch ausgesprochen unglück-
lich;
denn das einzige Ergebnis war eigentlich, dass sich Herr
Merz steuerpolitisch als ein Lieferant von Mogelpackun-
gen erwiesen hat,
um die Frau Hasselfeldt ein rosa Bändchen schnürt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich jetzt dem Kollegen Hans Michelbach
das Wort.
Herr Kollege Spiller,
Sie haben uns der Unredlichkeit bezichtigt; daher habe ich
mich zu dieser Kurzintervention gemeldet.
Ich bitte Sie, diesen Vorwurf zurückzunehmen. Ihr Steuer-
senkungsgesetz hat im Mittelstand Willkür und Diskrimi-
nierung hervorgerufen. Diese unredliche Politik belastet
letzten Endes viele Existenzen. Sie sollten nicht mit einem
solchen politischen Totschlagargument arbeiten.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Jörg-Otto Spiller
16303
Der Antrag der CDU/CSU bezog sich natürlich auf Ihr
Steuersenkungsgesetz. Wir mussten die von Ihnen
verursachte Willkür und Diskriminierung im Hinblick
auf steuerliche Gleichbehandlung thematisieren. Der
Kirchhof-Plan, den Professoren für Wirtschaftswissen-
schaft entwickelt haben, ist ein neuer Ansatz. Er hat mit
Ihrem Steuersenkungsgesetz nur insofern etwas zu tun,
als dass er verdeutlicht, dass Ihre Steuerpolitik so nicht
weitergehen kann.
Ihre Steuerpolitik treibt Steuerungerechtigkeit und
Steuerkompliziertheit voran. Der Ansatz von Kirchhof
besagt das ist ganz deutlich : Steuervereinfachung,
überfällige Neuorientierung in der Steuerpolitik und
natürlich ein Niedrigsteuersatzprinzip im Rahmen von
15 bis 35 Prozent. Über die Einkommensgrenzen kann
man sicherlich reden. Ich möchte Ihnen klarmachen, dass
die von Ihnen zu verantwortenden Diskriminierungen und
Ungleichbehandlungen korrigiert werden müssen. Dass
das geschehen muss, kann nur über einen solchen Antrag
der CDU/CSU verdeutlicht werden.
Sie müssen die verfassungswidrige Tarifspreizung be-
enden. 2001 und 2002 gibt es noch immer eine ungleiche
Steuerbelastung für Personengesellschaften und für Kapi-
talgesellschaften in Höhe von 33 Prozent. Zwar gilt dies
nur für die oberen Progressionsstufen, unter die lediglich
10 Prozent der Unternehmen fallen; in diesen Unterneh-
men arbeiten aber fast 60 Prozent der im Mittelstand Be-
schäftigten. Es ist wichtig, dass diese Unternehmen bereit
sind, zu investieren und damit das konjunkturelle Wachs-
tum voranzutreiben. Sie müssen die fehlende Systematik,
die in der einseitigen Begünstigung der thesaurierten Ge-
winne besteht, zurücknehmen. Vor allem müssen Sie die
Diskriminierung des Mittelstandes im Hinblick auf die
Beteiligungsveräußerungen beseitigen.
Es ist eine unredliche Politik, die Großbanken, die sich
im Umfang von 400 Milliarden DM an deutschen Kon-
zernen beteiligen, steuerfrei zu stellen und beim Mittel-
stand durch jede Umstrukturierung voll abzukassieren.
Ihre Steuerpolitik ist die ungerechteste und die unred-
lichste, die es in Deutschland je gegeben hat, Herr Spiller.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung
spricht Herr Kollege Spiller, bitte.
Herr Kollege Michelbach,
ich bestätige Ihnen gerne, dass Sie ein redlicher mittel-
ständischer Kaufmann sind. Sobald Sie als Parlamentarier
über den Mittelstand reden, kann ich Ihnen diese Red-
lichkeit allerdings nicht bescheinigen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die F.D.P.-Frak-
tion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der kurzen
Redezeit, die mir zur Verfügung steht, will ich nur auf we-
nige Fakten eingehen. Die Steuersenkung, die in dem
Steuerreformgesetz der rot-grünen Regierung enthalten
war, begrüßen wir; sie war richtig. Die Ungleichbehand-
lung von mittelständischen Personengesellschaften bzw.
Einzelkaufleuten und großen Kapitalgesellschaften war
und ist aber verfehlt. Sie muss korrigiert werden.
Hier brauchen wir kurzfristig eine schnell wirkende Kor-
rektur, weil fünf Jahre drastischer Unterschied in der Steu-
erbelastung für viele mittelständische Existenzen das
Ende bedeuten kann. Das darf so nicht hingenommen
werden.
Es ist an einfachen Zahlen zu belegen: Die Kapitalge-
sellschaften werden von diesem Jahr ab nur noch mit etwa
38 Prozent belastet 25 Prozent Körperschaftssteuer plus
Gewerbesteuer , die Personengesellschaften werden bis
2005 mit 48,5 Prozent belastet.
Hinzu kommt Herr Kollege Spiller, ich muss Ihnen das
sagen; Sie sind nicht richtig informiert , dass die Ge-
werbesteuer nicht voll verrechnet wird. Das wird von Ih-
nen immer behauptet. Sie hätten sich einmal um die Fak-
ten kümmern können.
Die volle Verrechnung gilt nur für Unternehmen in Ge-
meinden mit einem Steuerhebesatz von unter 350 Prozent.
Fast alle Gemeinden mit mehr als 50 000 Einwohnern ha-
ben allerdings deutlich darüber liegende Steuerhebesätze.
Deswegen bleibt in diesen Gemeinden eine ganz spürbare
Gewerbesteuerbelastung übrig. Das können Sie nicht ver-
nachlässigen. Damit kommen die Unternehmen über
50 Prozent.
Dieser drastische Unterschied ist ungerecht, er ist in mei-
nen Augen sogar verfassungswidrig, auch wenn er auf
fünf Jahre begrenzt ist. Das kann so nicht hingenommen
werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Solms,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Uldall?
Gerne.
Herr Kollege, da Sie
eben sehr eindrucksvoll die unterschiedliche Belastung,
die durch die Schröder/Eichel-Reform hervorgerufen
wird, dargestellt haben, möchte ich Sie fragen, wie Sie die
folgenden heute veröffentlichten Zahlen einer Umfrage
bewerten, die die Zeitschrift Die Woche durch das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Hans Michelbach
16304
Forsa-Institut hat erstellen lassen. Wie beurteilen Sie die
Tatsache, dass 89 Prozent der Bevölkerung erklären, dass
sie durch die Steuerreform Schröder/Eichel wenig oder
gar nicht entlastet werden? Ein Blick auf die Anhänger-
schaft der SPD: Nur 9 Prozent der SPD-Wähler sagen, sie
würden eine deutliche Entlastung spüren.
Das ist eine ganz
verständliche Reaktion; denn die Bürger betrachten ja
nicht nur die Belastung durch die Lohnsteuer, sie betrach-
ten die Gesamtsteuerbelastung. Wenn auf der anderen
Seite bei der Ökosteuer so unverschämt zugegriffen
wird es ist einfach eine politische Dummheit, was Sie da
gemacht haben , dann können Sie keine positive Reso-
nanz erwarten für das, was Sie bei der Einkommensteuer
gemacht haben.
Damit will ich auch widerlegen, was der Bundes-
finanzminister hier immer großspurig sagt. Er redet ja von
der größten Steuerreform, die es in der Bundesrepublik
überhaupt gegeben hat.
Ich habe einmal nachrechnen lassen, wie die Steuerbelas-
tung im Vergleich aussieht. Das Steueraufkommen in
Deutschland alle Steuern zusammen wird im Jahre
2005, am Ende der Reform, um 28 Prozent höher liegen
als 1998. Das prognostizierte Wachstum des Volksein-
kommens in Deutschland beträgt aber bis zum Jahr 2005
nur 23 Prozent. Im Klartext: Die steuerliche Belastung der
Bürgerinnen und Bürger wird im Durchschnitt bis 2005
nicht niedriger, sondern höher sein.
Das sind die offiziellen Zahlen, wobei darin noch die ho-
hen Wachstumszahlen aus der Schätzung enthalten sind.
Die Bürger können also keine echte Steuerentlastung er-
warten. Das ist großer Lärm um nichts. Da wird viel um-
verteilt; aber die Bürger gewinnen nichts und der Mittel-
stand zahlt, wie immer bei Ihnen, die Zeche.
Das kann so nicht hingenommen werden.
Wir haben damals diesem Kompromiss zugestimmt,
weil wir dem Kollegen Brüderle und unseren Freunden in
Rheinland-Pfalz dafür dankbar waren, dass sie im Kom-
promiss für den Mittelstand immerhin noch 7 Milliar-
den DM herausgeholt haben, nämlich dadurch, dass der
Steuertarif von 45 auf 42 Prozent gesenkt wurde, dass der
Mitunternehmererlass wieder eingeführt wurde wenn
auch nur lückenhaft, was jetzt noch zu korrigieren bleibt
und dass natürlich der halbe Durchschnittssteuersatz wie-
der eingeführt wurde, allerdings auch nur lückenhaft, weil
die Handelsvertreter und die Abfindungen bei Arbeit-
nehmern nicht enthalten sind.
Auch hier müssen Sie Ihr eigenes Werk noch korrigieren,
weil das, was Sie durchgesetzt haben, nicht dem ent-
sprach, was als Kompromiss ausgehandelt war. Jedenfalls
hat es dem Sinn des Kompromisses nicht entsprochen. Ich
höre, dass man jetzt überlegt, hier einiges zu korrigieren.
Es bleibt dabei: Die unterschiedliche Behandlung von
Kapitalgesellschaften, Personengesellschaften und Ein-
zelkaufleuten ist nicht akzeptabel. Wir brauchen eine
kurzfristige Korrektur. Sie sollten also noch vor dem Jahre
2005 die Steuersätze so schnell wie möglich auf das Ni-
veau von 42 Prozent senken dieser Höchststeuersatz soll
dann für alle gelten , das nach Ihren Vorstellungen erst
im Jahr 2005 erreicht werden soll.
Herr Kollege Spiller, die Anträge, die Union und F.D.P.
eingebracht haben, sind Anträge, um die Fehler, die Sie zu
verantworten haben, kurzfristig zu korrigieren.
Was aber die Professoren Kirchhof und Bareis und deren
Expertengruppe vorgelegt haben, ist etwas ganz anderes.
Dabei geht es um einen systematischen Neuanfang, um
ein einfaches, verständliches und gerechteres Steuersys-
tem aufzubauen. Einen solchen Neuanfang können Sie
mit Kritik an einzelnen Punkten immer zerreden und zer-
pflücken. Das wird aber Ihrem Anspruch, das Steuerrecht
zu vereinfachen, nicht gerecht.
Ich möchte Sie daher herzlich bitten, dass Sie diesen Neu-
anfang nicht zerreden, sondern dass Sie in den eigenen
Reihen überlegen, welche Erkenntnisse man für die Zu-
kunft aus diesen Vorschlägen gewinnen kann. Das ist eine
Aufgabe, der sich alle Parteien widmen müssen.
Wir freuen uns über diesen Ansatz, weil er in den Eck-
punkten und Kriterien genau dem entspricht, was wir be-
reits 1996 auf einem Bundesparteitag verabschiedet ha-
ben. Der Vorschlag der F.D.P. kommt zu dem gleichen
Ergebnis: radikale Beseitigung aller Ausnahmetatbe-
stände, keine Berücksichtigung unterschiedlicher Ein-
kunftsarten und absolute Gleichbehandlung der Steu-
erpflichtigen. Die Besteuerung soll nur von der Höhe des
Einkommens abhängen. Wir wie auch der Kollege Uldall
schlagen einen Stufentarif vor. Kirchhof regt einen linea-
ren Tarif an. Das ist aber Technik und nicht Substanz.
Jetzt höre ich aus den Reihen der Sozialdemokraten
den Einwand: Diese Regelungen sind in der Verteilungs-
wirkung ungerecht; die Kleinen müssen mehr bezahlen
und die Großen werden stärker entlastet. Stellen Sie
diese Überlegungen einmal zurück! Über den Tarif kann
man ja zum Schluss reden. Das Entscheidende ist doch,
dass wir damit ein Steuerrecht schaffen, das den
Grundsätzen unseres demokratischen Systems entspricht.
Dieses neu zu schaffende Steuerrecht soll von den Men-
schen verstanden werden können das ist ja das Min-
deste, was man fordern muss
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gunnar Uldall
16305
und die Belastungen sollen so maßvoll gestaltet werden,
dass die Menschen bereit sind, es zu akzeptieren. Dadurch
könnten die zahlreichen Bemühungen der Steuerpflich-
tigen aller Einkommensgruppen, die Steuer zu umgehen,
obsolet werden, weil sich der Aufwand nicht mehr lohnt.
Aufgrund dieses einfachen und verständlichen Steuer-
rechts könnte der Arbeitnehmer im Normalfall seine
Steuererklärung auf einer Postkarte abschicken. Das ist
meine Idealvorstellung von einem einfachen, klar ver-
ständlichen und damit akzeptablen Steuersystem.
Ich will noch einen Grundgedanken anführen. Ein
Recht, das von der Mehrzahl der Bevölkerung nicht mehr
akzeptiert wird, hat in einer Demokratie seine Berechti-
gung verloren. Das demokratische Prinzip beruht ja da-
rauf, dass man den Volkswillen umsetzt. Ein Steuerrecht,
das keiner mehr akzeptiert, kann nicht bestehen bleiben.
Man muss dem Volkswillen entsprechen und einen neuen
Ansatz suchen. Wir sollten dies gemeinsam tun. Damit
können wir wirklich etwas Gutes schaffen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Solms, ich bin doch schon etwas verwundert:
29 Jahre lang hat die F.D.P. Regierungsverantwortung ge-
tragen. Sie aber reden davon, dass wir endlich ein Steuer-
system schaffen sollen, das gerecht und transparent ist
und das die Menschen verstehen.
Das Problem, das wir jetzt haben, beruht darauf, dass
sich das Steuerrecht über Jahrzehnte unter Ihrer Mitge-
staltung bis zum heutigen Stand entwickelt hat. Wir müs-
sen jetzt versuchen, Sondertatbestände zu streichen. Die
Bundesregierung tut dies sukzessive und verbindet dies
gleichzeitig mit einer Tarifsenkung.
Es gehört zur Wahrheit, dass man einmal sagt, was
während Ihrer Regierungszeit passiert ist: Die Bürger
wurden durch die Steuern immer mehr belastet. Die
Steuer- und Abgabenlast war wesentlich höher, als sie
heute ist. Außerdem haben Sie uns eine Staatsverschul-
dung von 2,3 Billionen DM hinterlassen, mit der wir jetzt
fertig werden müssen.
Wir können also nicht einfach sagen, es gibt eine größere
Entlastung, ohne dass die Haushalte der Länder und der
Bundeshaushalt in den Ruin getrieben werden würden
und ohne dass wir die europäischen Vorgaben nicht mehr
einhalten könnten. Das ist doch der Punkt.
Hier muss man ehrlich sein und auch sagen, in wel-
chem Rahmen eine Veränderung stattfinden kann.
Ich bin auch überrascht, dass die CDU/CSU heute
ihren Antrag vorlegt. Das ist ja wieder ein umfangreicher
Wunschzettel, bei dem die Finanzierungsfragen in keiner
Weise geklärt sind und auch nicht, wie wir denn zusam-
men mit den Ländern dies überhaupt umsetzen können.
Sie kennen doch Ihre eigenen Länder und wissen, dass in
Bayern, in Baden-Württemberg, in Hessen und auch in ei-
nigen neuen Bundesländern CDU und CSU regieren. Bei
jeder Verhandlung, wenn es um mehr Entlastung bei der
Steuer geht, feilschen Sie mit dem Bund, weil Sie nicht
bereit und zum großen Teil auch nicht in der Lage sind,
Ihre Haushalte weiter zu belasten.
Das ist doch die Wahrheit, der auch Sie sich in Ihren ei-
genen Ländern stellen müssen.
Da hilft es nichts, wenn sich die Opposition jetzt hier hin-
stellt und sagt: Schöne heile Welt; wir machen das jetzt so.
Das klingt zwar für die Bürger schön, es kann aber kein
Mensch in der jetzigen Situation finanzieren. Das muss
man doch sagen!
Eine verantwortliche Finanz- und Steuerpolitik bedeu-
tet doch auch das müssen Sie im Prinzip zugeben , dass
wir mit Blick auf die kommenden Generationen Spiel-
räume brauchen, um die Investitionen, die im Bereich des
Sozialen, in der Wirtschaft, für Bildung, für Forschung
und vieles mehr notwendig sind, überhaupt finanzieren zu
können.
Das tun wir in einer verantwortlichen Art und Weise,
wogegen Sie permanent Forderungskataloge aufstellen,
die die finanzielle Lage des Bundes und der Länder
schlichtweg ignorieren. Das hat nichts mit Solidität zu
tun, sondern mit purem Populismus.
Wir haben ja auch von Herrn Merz gehört es gibt ein
neues Credo der CDU : Alle Ausnahmen sollen gestrichen
werden. Da würde jeder Mensch sagen: Klasse! Der Ta-
rif soll gesenkt werden. Da wird auch jeder sagen: Toll!
Während Herr Merz am letzten Wochenende diese
Überlegung der Öffentlichkeit präsentiert hat,
bringen Sie gleichzeitig hier einen Antrag ein, der das ge-
naue Gegenteil der Vorschläge beinhaltet, die Ihr Frakti-
onschef in der Öffentlichkeit präsentiert hat.
Ich fände es schön, wenn man alle Sondertatbestände,
alle Subventionstatbestände reduzieren könnte. Vereinfa-
chung des Steuerrechtes heißt allerdings: Man verändert
keinen Tatbestand, sondern streicht ihn. Das ist Vereinfa-
chung. Alles andere ist ja nur eine Umgestaltung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Hermann Otto Solms
16306
Aber wenn Sie sich sicher sind, dass das funktionieren
kann, dann müssten Sie diesen Antrag zurückziehen,
müssten den Vorschlag von Herrn Merz hier einbringen
und auch sagen, wie er finanziert werden kann. Das wäre
ehrliche Politik seitens der Opposition. Aber Sie versu-
chen immer nur, mit irgendwelchen Formulierungen
draußen den Eindruck zu erwecken, als ob Sie eine tolle
Politik machen würden. Das ist schlichtweg nicht der
Fall.
Wir haben gestern die Vorschläge von Herrn Professor
Kirchhof, von anderen Professoren sowie sonstigen Wirt-
schafts- und Finanzwissenschaftlern und anderen Fach-
leuten im Finanzausschuss diskutiert. Ich finde, dass die
Vorschläge, die vorgestellt worden sind, aus wis-
senschaftlicher Sicht sehr gut sind. Darüber braucht man
überhaupt nicht zu reden. Aber man muss auch über die
Widersprüche, die sich ergeben könnten, diskutieren.
Wenn man so etwas will an dem Punkt müssen wir noch
weiter diskutieren , müssen wir klar sehen,
was es für die kleinen und mittleren Einkommen bedeu-
tet, ob sie gegenüber unserem Steuerkonzept be- oder ent-
lastet werden. Das muss geklärt werden. Denn was auf
keinen Fall passieren darf, ist, dass man bei einem wun-
derbaren Tarif von 15 bis 35 Prozent und einem Existenz-
minimum von 16 000 DM da zahlt man keine Steuern
stehen bleibt
und die Abschaffung von Regelungen, die es für Arbeit-
nehmer und Unternehmen gibt, etwa die Abzugsfähigkeit
der Kosten der Fahrt zur Arbeit, die steuerliche Behand-
lung der Nachtarbeitszuschläge, die degressive AfA die
abgeschafft werden soll und vieles andere mehr, nicht
berücksichtigt wird. Unter dem Strich muss man die Wir-
kungen auf Kleine und Mittlere berücksichtigen. Im unte-
ren und mittleren Bereich darf es bei Unternehmen
genauso wie bei privaten Lohn- und Einkommensteuer-
zahlern auf keinen Fall zu Verschlechterungen kommen.
Das ist noch zu prüfen. Hierzu liegen überhaupt noch
keine klaren Ergebnisse vor.
Hinzu kommt: Radikale Steuersenkungen kann man
sich nur dann leisten, wenn die Zahl der steuerlichen
Ausnahmetatbestände radikal verringert wird. Das ha-
ben wir auch gestern betont. Sie dagegen forderten in den
letzten Monaten maximale Steuersenkungen und gleich-
zeitig die Wiedereinführung von allen Ausnahme-
tatbeständen, die es jemals in irgendwelchen Bereichen
gegeben hat.
Das passt nicht zusammen. An diesem Punkt frage ich
mich, was denn überhaupt los ist und was Sie wollen. Sie
verfolgen eine völlig unklare Linie: Ihr Fraktionsvorsit-
zender sagt etwas anderes als die Fraktion, auf dem Par-
teitag wurde noch einmal etwas anderes beschlossen.
Ihre Vorstellungen zur Steuer- und Finanzpolitik sind, wie
ich finde, mehr als diffus.
Eine durchgreifende Vereinfachung des Steuerrechts
ist durchaus diskussionswürdig und überlegenswert; da-
gegen hat niemand etwas. Wenn wir jedoch ein transpa-
rentes Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zum Nut-
zen der Bürgerinnen und Bürger schaffen wollen,
dann brauchen wir, Frau Hasselfeldt, einen breiten gesell-
schaftlichen Konsens.
Ich kann mich gut daran erinnern, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, was damals in Ihrer Fraktion
los war, als Ihr Fraktionskollege Herr Uldall seinen radi-
kalen Vorschlag unterbreitet hat.
Auch wir von den Grünen haben das so gesehen und uns
häufiger darüber unterhalten. Genauso verhielt es sich
später, als Professor Bareis als von der CDU/CSU-Frak-
tion eingeladener Sachverständiger seine Vorschläge zu
einer Vereinfachung des Steuersystems unterbreitet hat.
Manchmal denke ich, dass Sie an Gedächtnisschwund lei-
den. Ich erinnere mich noch, wie Herr Uldall aufgrund
seiner Vorschläge von den Sozialpolitikern aus der eige-
nen Fraktion niedergemacht worden ist.
Es hieß, das sei sozial vollkommen ungerecht. Die Woh-
nungsbaupolitiker haben gesagt, dass sie es nicht akzep-
tieren könnten, dass Wohneigentum nicht mehr steuerlich
abzugsfähig gemacht werden sollte; die Landwirte haben
gefordert, die Sonderregelungen für die Landwirtschaft
beizubehalten. Bei vielen anderen Punkten war es ge-
nauso.
Das ist doch genau der Punkt, wo die Probleme liegen.
Deshalb sage ich: Wenn wir zu einer radikalen Vereinfa-
chung des Steuerrechts kommen wollen, brauchen wir
einen Konsens aller Menschen in dieser Gesellschaft, die
von der Steuerpolitik betroffen sind, darüber, dass man
bereit ist, auf Tatbestände, von denen man selbst profi-
tiert, zu verzichten. Diese Diskussion ist sehr schwierig.
Jeder fordert, dass das Steuerrecht vereinfacht werden
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Christine Scheel
16307
müsse; ich höre bei jeder Veranstaltung, dass es zu kom-
pliziert sei. Das ist vollkommen richtig. Es ist zu kompli-
ziert.
Aber in dem Moment, wo Sachverhalte verändert, be-
stimmte Maßnahmen gestrichen werden, gibt es sofort aus
den verschiedensten Gruppen heraus jede Menge Gründe
dafür, warum es zwingend geboten sei,
den Steuertatbestand, der die eigene Gruppe betrifft, zu
belassen; dagegen könne man bei Tatbeständen, die an-
dere betreffen, streichen, nur eben nicht bei einem selber.
Genau vor diesem Problem stehen wir doch alle. Das
trifft nicht nur auf eine Fraktion zu, sondern auf alle, die
in der Politik Verantwortung tragen. Das unterscheidet
unsere Ansätze auch so stark das sage ich ganz nach-
denklich von den Ansätzen, die ein Professor Kirchhof
mit seiner Gruppe aus der Wissenschaft heraus so wun-
derbar entwickeln kann und auch gut entwickelt hat; das
ist unstrittig. Wir in der Politik aber haben es mit Interes-
senverbänden und Organisationen zu tun. Ich will nicht
sagen, dass diese die Politik zu stark beeinflussen würden,
aber wir haben es eben mit solchen Interessenkonstella-
tionen zu tun. Das trifft auch auf die Ihrer Fraktion nahe
stehenden Verbände und Vorstände in Sozialverbänden
und anderen Organisationen zu. Ich möchte einmal hören,
was diese sagen, wenn die steuerliche Sonderbehandlung
des Nachtarbeitszuschlags wegfällt; was Ihre Sozialver-
bände sagen, wenn der Weg zur Arbeit nicht mehr steuer-
lich begünstigt wird,
und was die Landwirte sagen, wenn es keine Sonderrege-
lungen mehr gibt. Das würde mich interessieren. Sie müs-
sen da genauso wie wir noch sehr viel Arbeit und Zeit in-
vestieren und sehr viel Überzeugungsarbeit leisten.
Wir haben jetzt das war das, was man erreichen
konnte
einen Tarif beschlossen, der im internationalen Vergleich
sehr gut ist. Wir haben einen Eingangssteuersatz von
15 Prozent, genau wie es auch Herr Professor Kirchhof
vorgeschlagen hat, und wir haben einen Spitzensteuersatz
von 42 Prozent; Herr Professor Kirchhof fordert 35 Pro-
zent.
Wir haben ein Entlastungsvolumen von insgesamt 45 Mil-
liarden DM.
Diese 45 Milliarden DM kommen vorwiegend Familien
und Beziehern kleinerer Einkommen zugute, auch den
kleinen und mittleren Unternehmen. Das muss man klipp
und klar sagen.
Ich nenne Ihnen dazu gleich noch paar Zahlen, damit Sie
die Realität sehen.
Den kleinen und mittleren Einkommen, dem so ge-
nannten Mittelstand, über den Sie immer gerne reden,
nutzt es, wenn der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent ge-
senkt wird. Wir haben den Eingangssteuersatz um 11 Pro-
zentpunkte gesenkt. Denen nutzt es, wenn das Existenz-
minimum von 12 300 DM damit haben wir angefan-
gen auf 15 000 DM angehoben wird; ab dieser Grenze
werden sie langsam steuerpflichtig.
Denen nutzt es, wenn wir die Gewerbesteueranrech-
nung vornehmen. Sie können sie als Betriebsausgabe ab-
setzen, Herr Dr. Solms das haben Sie unterschlagen ,
und sie können das, was an realer Schuld bleibt, mit ihrer
Einkommensteuerschuld verrechnen, sodass für den
Großteil aller Unternehmen in der Bundesrepublik
Deutschland, die gewerbesteuerpflichtig sind, faktisch
keine Mark Gewerbesteuer mehr fällig wird.
Das ist die Wahrheit; diese Maßnahmen dienen den klei-
nen Unternehmen.
Bei Veranstaltungen, zum Beispiel mit dem Hand-
werk, frage ich nach dem durchschnittlichen Steuersatz.
Was glauben Sie denn, welches Einkommen man
braucht, um überhaupt an den Steuersatz zu kommen, den
die Körperschaften zu zahlen haben! Die Körperschaften
haben einen Steuersatz von 25 Prozent plus die Gewer-
besteuer. Dabei sagen Sie immer, sie hätten einen großen
Vorteil. Die Personenunternehmen brauchen, um mit
38 Prozent belastet zu werden, einen steuerpflichtigen
Gewinn von 480 000 DM. Welches kleine Handwerks-
unternehmen, welcher verheiratete kleine Handwerker
hat denn 480 000 DM zu versteuernden Gewinn am Jah-
resende?
Das sind doch gerade 5 Prozent aller Personenunterneh-
men in der Bundesrepublik Deutschland, deren Struktur
so aussieht.
Das hat in der Regel erbschaftsteuerrechtliche Gründe,
weil es große Familienunternehmen sind, die ihre Struk-
tur deswegen nicht verändert haben.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Christine Scheel
16308
Sie setzen sich für einen kleinen Teil von sehr lukrati-
ven Personenunternehmen ein
und für den Rest machen Sie keine Vorschläge. Das ist
doch der Punkt.
Sie verteilen von unten nach oben und das wollen wir
nicht. Wir stehen im internationalen Steuerwettbewerb
seit 2000 besser und seit 2001 noch besser da. Wir errei-
chen im Bereich der Unternehmen, die Körperschaften
sind, ein gutes Mittelfeld. Wir haben aufgrund der drei
Maßnahmen, die ich vorhin angesprochen habe, für die
kleinen Unternehmen eine enorme Steuerentlastung vor-
genommen.
Wir werden die Unternehmensteuern, was das
Außensteuerrecht, das Umwandlungsteuerrecht und die
Besteuerung von Auslandsbeziehungen betrifft, weiter re-
formieren. Es wird jetzt ein Bericht diskutiert, der vom
Ministerium vorgelegt worden ist. In diesem Bericht sind
einzelne Punkte angesprochen, die umgesetzt werden sol-
len. Es geht um den Mitunternehmererlass, es geht um die
Umstrukturierung von Personenunternehmen, für die dies
bedeutsam ist, es geht um die Hinzurechnungsbesteue-
rungen im Außensteuergesetz, es geht darum, wie die
Grunderwerbsteuer bei Umstrukturierungen im Konzern
gehandhabt wird, und um viele Punkte mehr.
Das heißt, wir setzen das um, was wir haushaltsmäßig
verantworten können. Wir tun das, was europapolitisch
und wirtschaftspolitisch notwendig ist. Ich bitte Sie, dies
zur Kenntnis zu nehmen. Es geht darum, hier eine sinn-
volle und leistungsfreundliche Besteuerung zu schaffen.
Das haben wir mit unserem Steuertarif, mit unseren Vor-
schlägen gemacht. An weiteren Vereinfachungen müssen
auch wir arbeiten; das ist vollkommen richtig. Auch wir
wollen, dass das Steuersystem einfacher wird. Aber dann
muss man den Menschen auch sagen, welche Konse-
quenzen das hat. Für den Einzelnen kann dies bedeuten,
dass er trotz niedrigerer Steuersätze aufgrund des Weg-
falls aller steuermindernden Tatbestände mehr als heute
bezahlt. Dies gilt es zu klären. Wir wollen auf keinen Fall,
dass Familien mit mehreren Kindern oder die Bezieher
kleiner oder mittlerer Einkommen stärker als heute belas-
tet werden, dass die Regelung also nur auf den ersten
Blick schön aussieht.
Danke schön.
Ich erteile
der Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Welches ist nun der Punkt, Frau
Scheel? Haben Sie das gemacht, was haushaltspolitisch
verantwortbar ist? Sie verzichten bis zum Jahre 2004 auf
Steuereinnahmen in Höhe von 120 Milliarden DM. Aus
der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen resultieren
14 Milliarden DM. Die Senkung des Körperschaftsteuer-
satzes auf 25 Prozent wird 59 Milliarden DM kosten.
Mit dieser riesigen Entlastung sind Wachstum und
mehr Arbeitsplätze versprochen worden. Wir haben die
neuen saisonbereinigten Zahlen vom April: Die Zahl der
Arbeitslosen ist um 6 000 gestiegen. Das ist die Realität.
Wir fordern die Entlastung der Familien. Die Realität
sieht so aus: ein würdeloses Gezerre um eine Erhöhung
des Kindergeldes von 30 DM, die nicht ganz freiwillig ge-
schieht. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
müssen Familien mit Kindern endlich nicht nur finanziell,
und zwar in Kindergeld ausgedrückt, sondern insgesamt
besser gestellt werden. Dies betrifft unter anderem auch
den Anspruch auf kostengünstige bis kostenlose Betreu-
ung von Kindern, und zwar außerhäuslich.
Die Entlastung der Familien wird unter Finanzierungs-
vorbehalt gestellt, das heißt, Sie, meine Damen und Her-
ren von der Regierungskoalition, opfern die Umsetzung
der entsprechenden Beschlüsse des Bundesverfassungs-
gerichts den ertragsstarken Konzernen. Das ist das Pro-
blem, vor dem wir stehen.
Der Titel des Antrags der CDU Steuerliche Gleich-
stellung des Mittelstands ist, insbesondere bezogen auf
den Begriff des Mittelstandes, sehr vage. Sie haben aber
beim Problem der steuerlichen Gleichstellung den Finger
auf der wunden Stelle. Denn diese massive Entlastung der
Konzerne wird durch die Aufkündigung grundlegender
Prinzipien der Besteuerung wie das der Gleichbesteue-
rung und der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit er-
reicht. Diese hat die Regierung über Bord geworfen.
Die Antwort der CDU besteht nun allerdings aus einem
bunten Katalog von Einzelmaßnahmen, um steuerliche
Gerechtigkeit herzustellen. Das heißt, dass Sie die von der
rot-grünen Regierung eingeschlagene Richtung hin zu
steuerlichen Ungerechtigkeiten akzeptieren, jetzt aber ein
kleines bisschen nachbessern möchten. Dabei vergessen
Sie, dass ein Großteil der Personenunternehmen auch von
Ihren steuerlichen Nachbesserungen nichts hätte. Sie
kommen wieder nur mit Ihrem uralten Konzept der Steuer-
senkung. Damit werden Sie den in der Bundesrepublik
real existierenden Problemen nicht gerecht.
An einem Punkt haben Sie Recht, und zwar mit der
Kritik an der Ungleichbesteuerung und Ungleichbehand-
lung von Personen- und Kapitalgesellschaften. Ange-
sichts dessen, dass hier in der Debatte versucht wurde,
dies so darzustellen, als ob es diese gar nicht gäbe, frage
ich mich, warum die Bundesregierung und Herr Eichel
das unbedingt wollten. Denn begründet wurde dies damit,
dass damit bewusst eine Lenkungswirkung ausgeübt wer-
den sollte. Diese Lenkungswirkung wird uns als Gemein-
schaft der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sehr viel
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Christine Scheel
16309
Geld kosten. Sie soll mit Steuergeschenken ohne entspre-
chende Kontrollmechanismen hinsichtlich der tatsächlich
geschaffenen Arbeitsplätze erreicht werden. Die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen sollte aber der eigentliche Zweck
sein.
Der Regierung geht es vielmehr nur darum, die Rechts-
form der Kapitalgesellschaft besser zu stellen und so ei-
nen Eingriff in die Freiheit des wirtschaftlichen Subjekts
vorzunehmen, in welcher Rechtsform es tätig werden
will.
Aber von der Antwort der CDU/CSU bezüglich einer
steuerlichen Gleichstellung von Personenunternehmen
und Kapitalgesellschaften haben 68 Prozent der Perso-
nenunternehmen überhaupt nichts, weil sie einen Gewinn
von unter 50 000 DM erzielen. Bei solch geringen Ge-
winnen zahlen sie kaum oder keine Steuern. Also wird es
überhaupt keine Wirkung haben. Der Vorwurf von Frau
Scheel hinsichtlich Ihrer konkreten Vorschläge, dass es
Ihnen nur um eine kleine Klientel geht, ist also durchaus
berechtigt.
Von 2,3 Millionen Personenunternehmen ich sage
das noch einmal erzielen 68 Prozent einen Gewinn von
weniger als 50 000 DM.
Wenn Sie mich etwas fragen möchten, dann stellen Sie
bitte eine Zwischenfrage.
Das heißt, hier ist tatsächlich Kreativität gefragt. Dazu
ist es notwendig, endlich davon abzugehen, Steuerge-
schenke in der Art, in der es die Regierung getan hat, aus-
zuschütten bzw. Nachbesserungen einzufordern, so wie
Sie von der rechten Seite der Opposition das tun, und über
dieses Steuerdenken hinauszugehen.
Wir fordern hier eine Lösung. Man könnte in diesem
Sinne in den neuen Bundesländern anfangen, in denen
sich der Mittelstand ja erst etablieren muss. Wir haben in
den neuen Bundesländern gut ausgebildete, motivierte
Fachkräfte, traditionelle Wirtschaftsbeziehungen, die wie-
derbelebt werden können und müssen, und auch wissen-
schaftliche Spitzenleistungen in Zukunftsbereichen. Das
kann man erschließen.
Deshalb meinen wir, eine Lösung der Probleme des
Mittelstandes, welche tatsächlich existieren, ist möglich.
In den neuen Bundesländern haben wir ja sogar oftmals
überhaupt keinen Mittelstand, weder in Form von
Personenunternehmen noch in Form von Kapitalgesell-
schaften. Solche Unternehmen sind dort gar nicht vor-
handen oder haben kaum Chancen zu überleben. Hier ist
es notwendig, neu heranzugehen.
Wir als PDS haben in diesem Zusammenhang einige
Vorschläge gemacht, wovon ich folgende nennen möchte:
Erstens fordern wir eine Bündelung der Fördermaß-
nahmen und eine Entbürokratisierung der Förderung.
Das Problem für die 68 Prozent der Personenunter-
nehmen, die nichts zu versteuern haben, ist, dass sie oft-
mals nichts von Förderprogrammen haben, weil diese zu
kompliziert gestaltet sind und sie daher keinen Zugang
zu diesen Förderprogrammen haben. In der Hoffnung,
vielleicht irgendwann einmal Gewinne zu erzielen, die
sie dann versteuern müssten, sind sie froh, wenn es über-
haupt zu einer Steuererleichterung kommt. Aber dies ist
nicht der Weg, der ihnen hilft.
Zweitens schlagen wir vor, dass Existenzgründerinnen
und Existenzgründer endlich die notwendige Unterstüt-
zung durch die Banken erhalten
und auch langfristig existenzsichernd begleitet werden.
Denn die Realität sieht doch so aus: Gerade aus dem Ge-
schäft mit den Kleinst- und Kleinunternehmen ziehen sich
die Großbanken zurück und überlassen dies oftmals den
Sparkassen vor Ort. Diese Unternehmen erfahren keine
ausreichende Unterstützung.
Drittens fordern wir eine Vernetzung der kleinen und
mittleren Unternehmen, um endlich in Richtung einer Re-
gionalisierung der Wirtschaftsstrukturen voranzu-
kommen. Wie notwendig das ist, haben die letzten Ereig-
nisse in der Landwirtschaft gezeigt. Hier ist es endlich an
der Zeit, nicht weiter abzuwarten, sondern es bewusst als
politische Aufgabe anzupacken, eine Vernetzung von
kleinen und mittleren Unternehmen voranzubringen.
Viertens schlagen wir vor, dass die Politik insgesamt
stärker die Verantwortung dafür wahrnimmt, die Degene-
ration des öffentlichen Nahverkehrs aufzuhalten. Eine
gute Infrastruktur und die Regionalisierung der Wirt-
schaftsbeziehungen erfordern einen öffentlichen Nahver-
kehr. Wir brauchen den Ausbau des Schienennetzes und
keinen weiteren Abbau in der Fläche.
Man könnte die Aufzählung dieser Dinge fortsetzen.
Ich sage Ihnen: Wenn wir in diese Richtung gehen, kön-
nen vielleicht bald mehr Unternehmen in den neuen Bun-
desländern Steuern zahlen. Das wäre dann die richtige
Antwort auf die Finanzkrisen der öffentlichen Haushalte.
Wenn Sie dazu nicht bereit sind Frau Scheel hat ja so-
eben beklagt, dass das Geld fehle , könnte die Regie-
rungskoalition, nachdem sie sich anscheinend von der
Vermögensteuer fast endgültig verabschiedet hat, zumin-
dest den Mut aufbringen, ihr Versprechen bezüglich der
Erbschaftsteuer einzuhalten. Ich erinnere an Ihren Partei-
tag von 1999; da klang es noch ganz anders.
Ich bedanke mich.
Ich gebe der
Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesfinanzmi-
nisterium, der Kollegin Dr. Barbara Hendricks, das Wort.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Barbara Höll
16310
D
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich darf zu Beginn zitieren:
Überraschung selbst bei den gewieftesten Steuer-
experten: Personengesellschaften und Einzelunter-
nehmen schneiden durch die Steuerreform besser ab
als die GmbH.
So führt das Handwerk Magazin eine große Titelge-
schichte im März dieses Jahres ein.
Ich zähle mich selbst nicht zu den gewieftesten Steuer-
experten der Bundesrepublik Deutschland. Für mich war
das allerdings keine Überraschung; ich wusste dies seit
mindestens zwei Jahren und habe wirklich zwei Jahre
lang versucht, das insbesondere in Handwerkerkreisen
ich sage es einmal etwas flapsig den Menschen ans
Hirn zu bringen. Es war offensichtlich notwendig, dass
sie die erste steuerliche Vorauszahlung im März erlebt ha-
ben. Jetzt haben sie es greifbar, wie ihre Steuer im Ver-
hältnis zum vergangenen Jahr tatsächlich gesunken ist.
Seit Mitte März höre ich andere Töne. Jeder hat beim
Steuervorauszahlungstermin im März dieses Jahres mer-
ken können, dass die Steuern für den Mittelstand wirk-
lich gesunken sind.
Sie sagen immer, es gebe keine Entlastung, weil sie
erst 2005 kommen werde, und führen die Tarifspreizung
und was nicht alles an. Aber es ist jetzt schon wegen der
Verrechnungsmöglichkeit der Gewerbesteuer mit der
Einkommensteuer eine deutliche Entlastung spürbar,
was auch mit der Möglichkeit zusammenhängt, die Ge-
werbesteuer als Betriebsausgabe abzuziehen. Natürlich
haben wir auch mit den Tarifabsenkungen nicht erst in
diesem Jahr, sondern schon im Jahr 1999 begonnen; vor
zwei Jahren betraf dies den Eingangssteuerbereich. Jetzt
sind es schon 6 Prozentpunkte bei der Eingangssteuer
und 4,5 Prozentpunkte beim Spitzensteuersatz weniger,
als es in Ihrer Regierungszeit der Fall war. Das ist jetzt
unsere Bilanz nach knapp drei Jahren Regierungsverant-
wortung. Diese Bilanz können wir guten Gewissens den
Gegebenheiten zu Ihrer Regierungszeit gegenüberstel-
len.
Wir werden noch weitere Steuersenkungsschritte vor-
sehen. Zunächst werden im Jahre 2003 das ist von Ihnen,
Frau Hasselfeldt, vorhin auch verschwiegen worden
sowohl der Eingangssteuersatz als auch der Spitzen-
steuersatz weiter sinken. Im Jahre 2005 werden wir dann
einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einen Spit-
zensteuersatz von 42 Prozent erreicht haben.
Das ist auch ein bemerkenswerter Tatbestand: Solange
Sie Regierungsverantwortung trugen, hat man das Wort
von der so genannten kalten Progression nie gehört. Auch
war nie vom Tarif auf Rollen die Rede.
16 Jahre lang gab es dieses Phänomen offenbar nicht.
Herr Michelbach, wir können ja einmal über die durch-
schnittlichen Inflationszahlen während Ihrer Regierungs-
zeit sprechen. Im Moment habe ich sie nicht im Kopf.
Herr Michelbach, behaupten Sie hier doch nicht eine Zahl
von 0,7 Prozent! Für den Durchschnitt Ihrer Regierungszeit
ist sie mit Sicherheit falsch. Im Moment muss ich die von
Ihnen genannte Zahl mit Nichtwissen bestreiten, weil ich
die korrekte Zahl nicht weiß. Aber 0,7 Prozent ist garantiert
falsch; das kann ich mit Gewissheit sagen.
Das ist richtig! Das Wirtschaftswachstum war sehr ge-
ring und die Arbeitnehmereinkommen haben sich über
mehrere Jahre negativ entwickelt. Daher haben sie in der
Progression keine Rolle gespielt. Wegen der von Ihnen
ständig vorangetriebenen Erhöhung der Sozialversiche-
rungsabgaben war die Einkommensentwicklung tatsäch-
lich negativ; darum konnte die Progression keine Rolle
spielen. Zugleich sind die Steuern von Ihnen an anderer
Stelle erhöht worden; das dürfen wir auch nicht ver-
schweigen.
Wir müssen jetzt wirklich zur Ehrlichkeit zurückkom-
men, zumindest einmal den Versuch unternehmen. Kolle-
gin Ulla Schmidt, die Bundesgesundheitsministerin, hat
an anderer Stelle einmal gesagt, manchmal empfinde sie
es in der Politik ganz hilfreich, dass sie eine Qualifikation
als Sonderschullehrerin für Lernbehinderte habe.
Im Verhältnis zur Realitätsverweigerung, die die Oppo-
sition hier betreibt, komme ich mir manchmal auch so vor,
als bräuchte ich eine Qualifikation als Sonderschullehre-
rin für Lernbehinderte.
Ich glaube aber, es liegt daran, dass Sie es nicht lernen
wollen, weil es nicht in Ihr Konzept passt. Sie sind nicht
prinzipiell dazu unfähig, zu erkennen, welche Wirkung
unsere Steuerpolitik hat; Sie wollen es nicht begreifen.
Stattdessen wollen Sie eine Kampagne fortführen, die
letztlich den von Ihnen Vertretenen schadet. Zu Beginn
meiner Rede habe ich das Handwerk Magazin zitiert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16311
Über Monate hinweg haben viele Verbände der Wirt-
schaft und des Handwerks sowie viele andere Verbände
insinuiert, die mittelständische Wirtschaft würde im Ver-
hältnis zu den Kapitalgesellschaften benachteiligt. Das
hat natürlich dazu geführt, dass viele Mitgliedsfirmen die-
ser Verbände in ihrem Investitionsverhalten, in ihrem Ver-
trauen auf die Zukunft verunsichert worden sind. Das
bedeutet doch, dass ihnen wegen dieser Verunsicherungs-
kampagne Gewinnchancen entgangen sind.
Wenn sie das, was das Handwerk Magazin erst jetzt im
März schrieb, schon im September des vergangenen
Jahres gewusst hätten, hätten sie in dem dazwischen-
liegenden halben Jahr andere Investitionsentscheidungen
gefällt.
Das wäre im Sinne der Gewinnerwartung zu ihrem eige-
nen unternehmerischen Nutzen gewesen. Die Kampagne
schadet also gerade denen, denen Sie helfen zu wollen
vorgeben.
Nachdem Sie jetzt über Monate diese falsche Kampa-
gne betrieben und letztlich die Menschen wider besseres
Wissen gleichsam auf die Bäume gejagt haben, sollten Sie
so wie es das Handwerk Magazin in seiner Ausgabe
vom März macht langsam damit anfangen, dazu beizu-
tragen, die Menschen jetzt endlich zutreffend zu infor-
mieren und die falschen Informationen, die Sie seit Mo-
naten und Jahren streuen, zu korrigieren, damit wir
Gewinnerwartungen, die in der deutschen Wirtschaft zu
Recht herrschen, auch Realität werden lassen.
Herzlichen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Jochen-Konrad
Fromme.
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Zunächst an Ihre
Adresse, Frau Scheel: Wir sprechen nicht für eine kleine
Gruppe, sondern wir setzen uns für die Schaffung von Ar-
beitsplätzen für Millionen von Menschen ein.
Es ist eben etwas anderes, ob man einen völligen Neuan-
fang macht, wie ihn der Entwurf der Professoren oder das,
was Herr Merz am Wochenende vorgeschlagen hat, dar-
stellt, oder ob man sich mit der Reparatur eines ver-
murksten Gesetzes befassen muss.
Herr Spiller hat doch gerade erklärt, Sie wollten der Sa-
che nicht näher treten. Also müssen wir doch etwas tun,
um diesen vermurksten Entwurf wenigstens einiger-
maßen erträglich zu machen, denn bis 2005 werden es
viele Unternehmen gar nicht aushalten.
Frau Kollegin Scheel, der Antrag muss ein wahrhafter
Volltreffer gewesen sein. Ich frage mich, warum Sie sich
inhaltlich überhaupt nicht damit auseinander gesetzt ha-
ben. Ich kann es Ihnen sagen: Sie hätten ihm nämlich zu-
stimmen müssen, weil darin vieles enthalten ist, was Sie
öffentlich versprechen, obwohl Sie hier genau das Ge-
genteil machen.
Deswegen kann ich nur sagen das gilt für Frau Scheel
und Herrn Spiller , wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit
Steinen werfen.
Herr Merz vertritt seit Jahren einen neuen Ansatz und
ist sich darin immer treu geblieben. Wer aber an seiner
Spitze einen Bundeskanzler hat, der verspricht, 6 Pfennig
Steuererhöhung bei Benzin seien genug inzwischen ha-
ben wir jährlich 6 Pfennig Erhöhung plus Mehrwertsteuer
, der verspricht, solange er etwas zu sagen habe, gelte die
nettolohnbezogene Rente, und dieses Versprechen bricht,
wer sagt, die Rentner erhielten den Inflationsausgleich,
und diese Zusage mehrfach bricht, der betrügt die Men-
schen. Sie sollten bei Ihren Beschuldigungen anderer
Leute etwas vorsichtiger sein. Wer im Glashaus sitzt, soll
nicht mit Steinen werfen.
In den letzten Tagen lauteten die Überschriften in der
Presse: Überraschend schlechte Daten vom Arbeits-
markt, Konjunkturflaute drückt auf den Arbeitsmarkt
Saisonbereinigte Erwerbslosigkeit nimmt zu. Meine Da-
men und Herren, Sie haben die Entwicklung des
Arbeitsmarktes zu Ihrer Messlatte erklärt. Deswegen
werden wir Sie immer wieder daran messen. Da erklärt
der Bundeskanzler, er will die Zahl der Arbeitslosen um
1 Million senken. Wenige Minuten später muss dann der
Regierungssprecher sagen, der Kanzler habe nicht 1 Mil-
lion gemeint, sondern 500 000.
Sie hatten schon einmal jemanden als Kandidaten an Ih-
rer Spitze, der mit den Begriffen brutto und netto ähnliche
Schwierigkeiten hatte.
Ich meine den Zirkusgaul, ja.
Der Abbau von Arbeitslosigkeit kann nicht an der Zahl
von Köpfen gemessen werden, sondern er kann einzig und
allein an dem Umfang der Beschäftigung, an den geleis-
teten Arbeitsstunden, gemessen werden. Ein ganz einfa-
ches Beispiel: Wenn ich 100 Arbeiter 10 Stunden lang
arbeiten lasse, dann habe ich ein bestimmtes Arbeitsvolu-
men, nämlich 1 000 Stunden.
Wenn ich die Arbeiter aber nur 8 Stunden arbeiten
lasse, dann kann ich für diese 1 000 Stunden 125 Arbeiter
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
16312
beschäftigen ohne auch nur ein bisschen mehr Beschäf-
tigung geschaffen zu haben. Genau diese Statistiktrickse-
rei aber machen Sie bei den 630-Mark-Beschäftigten. So
kann es nicht gehen.
Es ist auch nicht damit getan, die Arbeitslosen zu
zählen. Ich will daher noch einmal auf die Beschäftigten
zurückkommen. Ich zeige diese Grafik, die ich hier in
Händen halte, besonders gern, weil sie deutlich macht,
dass die Beschäftigtenzahlen bei uns stagnieren. Das be-
deutet, dass wir Fortschritte am Arbeitsmarkt, wie Sie das
immer behaupten, nicht gemacht haben.
Das Gleiche gilt für die demographische Entwicklung:
Die Zahl der Köpfe ist zurückgegangen. Das aber bedeu-
tet nicht einen Fortschritt am Arbeitsmarkt.
Wenn Sie gar nichts gemacht hätten, wäre der Abbau viel-
leicht sogar noch größer gewesen. Es kommt also auf die
Zahl der Arbeitsstunden an, nicht auf die Zahl der Ar-
beitslosen.
All denen, die die Dinge deutlich ansprechen, werfen
Sie vor, Deutschland mies zu machen. Wenn wir hier eine
klare Analyse vornehmen, so hat das nichts damit zu tun,
die Situation mies zu reden oder die Arbeitnehmer zu be-
schimpfen. Wir bemühen uns lediglich, das Fundament
für Verbesserungen zu legen. Erst wenn man die Lage
richtig erkannt hat, kann man auch für Verbesserungen
eintreten.
Sie haben bei Ihrer Arbeitsmarktpolitik ausschließlich
auf den niedrigen Euro, auf den Export gebaut. Deshalb
haben Sie die Rahmenbedingungen einseitig zugunsten
der großen Kapitalgesellschaften verändert. Da braucht es
einen nicht zu wundern, wenn dies nicht wirkt. Denn der
niedrige Euro hat ja Folgen: Wir müssen für die Rohstoffe
das haben Sie nicht bedacht wesentlich mehr bezah-
len. Wenn man auf einen niedrigen Euro baut, dann be-
deutet das am Ende, dass man sich die Inflation ins Land
holt. Und wir haben bereits eine Inflationsrate von
2,8 Prozent!
Sie haben einseitig auf den Export gebaut. Deshalb
merken wir: Amerika hustet und wir bekommen einen
Schnupfen. Ich komme aus einer Region, in der die
Automobilindustrie sehr stark ist. Im Augenblick wird
sehr viel nach Amerika exportiert. Wenn die Zulassungen
im Inland den Markt bestimmen würden minus 10, 11,
12 Prozent , dann hätten wir schon lange Kurzarbeit.
Wenn sich in Amerika etwas ändert, werden wir dies über
kurz oder lang spüren, ob wir das wollen oder nicht. Des-
halb sollte man nicht einseitig auf den Export bauen.
Sie haben bei Ihrer Politik den Bereich, der die Jobma-
schine in Deutschland ist, der die meisten Arbeitsplätze
stellt, völlig vernachlässigt. Sie haben den Mittelstand
nicht nur vernachlässigt, sondern die Rahmenbedingun-
gen für ihn verschlechtert. Deswegen brauchen Sie sich
überhaupt nicht zu wundern, wenn sich am Arbeitsmarkt
nichts tut.
Sie haben etwas Teilrichtiges getan: Sie haben Ge-
winne aus Umstrukturierungen steuerfrei gestellt. Das
ist richtig in einer Welt, die sich aus Gründen der Globa-
lisierung neu sortieren muss. Aber was Sie getan haben,
war eben nur teilrichtig, weil diese Änderung nicht auf ei-
ner wirtschaftlichen Erkenntnis Ihrerseits beruhte, son-
dern auf rein ideologischen Vorgaben. Sie haben verges-
sen, diese Regelung auf Personengesellschaften die
Rechtsform des für den Arbeitsmarkt wichtigen Mittel-
standes auszuweiten.
Ich will darauf näher eingehen: Es handelt sich um die
Einbringungsklausel im Körperschaftsteuergesetz. Diese
für Körperschaften geltende Regelung ist das sage ich
ausdrücklich richtig. Aber: Stellen Sie sich einmal vor,
wir als Union hätten eine solche Regelung allein für die
Kapitalgesellschaften erlassen! Was wäre in diesem Land
los gewesen, was hätten Sie von Steuergeschenke an
Reiche usw. geredet! Ich sage noch einmal: Die Rege-
lung ist richtig, aber sie muss für beide Bereiche gelten.
Warum ist das, was bei uns völlig falsch gewesen wäre
und eine einseitige Politik dargestellt hätte, bei Ihnen auf
einmal richtig? Ich kann Ihnen sagen, was dahinter steht:
Sie wollen die Wirtschaftenden in die Rechtsform der Ka-
pitalgesellschaft zwingen. Indem Sie Unternehmer und
Unternehmen unterscheiden, sagen Sie das ja auch.
Mit dem Godesberger Programm haben Sie sich von
Ihrer alten Ideologie verabschiedet, weil Sie gemerkt ha-
ben, dass sie bei den Menschen nicht ankam. Dann woll-
ten die Achtundsechziger über Stamokap und Investiti-
onslenkung die Wirtschaft unter ihre Fuchtel nehmen. Das
ist ihnen nicht gelungen. Was wollen Sie jetzt? Jetzt ge-
hen Sie einen neuen Weg, indem Sie die Betriebe in die
Rechtsform einer Kapitalgesellschaft zwingen. Die zen-
trale Steuerung soll jetzt nicht mehr über betriebliche,
sondern über gewerkschaftliche Steuerung erfolgen. Das
steckt dahinter!
Eine von Ideologie geprägte Wirtschaftspolitik ist noch nie
gut gewesen, war noch nie hilfreich. Weil das so ideologisch
war, haben sich auch die Linken in Ihrer Partei damit ein-
verstanden erklärt. Ich möchte noch einmal darauf verwei-
sen: Was wäre los gewesen, wenn wir dies gemacht hätten?
Aber die Menschen erkennen das. Die Umfragen bele-
gen, dass man mit Ihrer Regierung nicht zufrieden ist.
Gerade die Neue Mitte merkt am Betriebsverfassungsge-
setz und an den AfA-Tabellen, wie ehrlich Sie es mit ihr
meinen. Diejenigen, die Ihnen 1998 zur Mehrheit verhol-
fen haben, sind jetzt bitter enttäuscht, weil sie das Großge-
druckte, das, was Herr Schröder ähnlich plakativ wie Frau
Scheel auf öffentlichen Veranstaltungen gesagt hat, ge-
glaubt haben. In Wahrheit haben Sie immer etwas anderes
gewollt. Auch wenn Ihnen Herr Lafontaine als Minister
inzwischen abhanden gekommen ist: Seine Ideologie fei-
ert in diesem Haus täglich fröhliche Urständ. Das ist
schädlich für den Arbeitsmarkt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Jochen-Konrad Fromme
16313
Sie schmieren den Leuten immer wieder Honig ums
Maul und betrügen sie dabei. Nehmen Sie einmal die
Ökosteuer ich weiß, dass Sie das nicht mehr hören kön-
nen : Die Ökosteuer hat im Jahr 2000 7,8 Milliarden DM
Einnahmen gebracht. Laut einer Antwort auf eine Kleine
Anfrage der PDS das Finanzministerium selbst hat die
Antwort gegeben hätte dies ausgereicht, um den Ren-
tenbeitrag um 0,5 Beitragspunkte abzusenken. Sie haben
ihn aber nur um 0,2 Beitragspunkte abgesenkt. Das heißt:
Sie haben 7,8 Milliarden DM eingenommen, gut 3 Milli-
arden DM zurückgegeben und über 4 Milliarden DM ab-
kassiert.
Sie haben den Eindruck erzeugt: Die Leute tun an der
Tankstelle etwas Gutes, wenn sie die Ökosteuer für ihre
Rente bezahlen, weil diese 1:1 zur Beitragssenkung ein-
gesetzt wird. Das Geld wird nicht einmal zur Hälfte für
die Beitragssenkung verwendet, sondern es verschwindet
in Ihren Kassen. Dieser Prozess wiederholt sich im
Jahr 2001 in ähnlicher Größenordnung. Innerhalb von
zwei Jahren machen Sie auf diese Art und Weise Kasse
von fast 8 Milliarden DM.
Sie raten den Leuten, weniger Auto zu fahren. Das
kann nur jemand sagen, der mit einem Dienstwagen fährt.
Gerade die Menschen in einem Flächenland müssen zur
Arbeit fahren, damit sie nicht arbeitslos sind. Sie haben
keine andere Möglichkeit.
Die Leute müssen auch ihre Wohnung heizen.
drauf!)
Sie brauchen Licht. Sie haben keine Möglichkeit, sich
dieser Steuer zu entziehen. Damit machen Sie natürlich
die Kaufkraft kaputt. Weil die Leute nicht mehr Einkom-
men haben, müssen sie das, was sie mehr für Energie und
Benzin ausgeben müssen egal, ob sie wollen oder nicht ,
woanders abzwacken. Deswegen fehlt die Nachfrage.
Dies spüren wir am Arbeitsmarkt.
Nicht umsonst schrieb die Berliner Zeitung am ges-
trigen Tag: Regierungspolitik nach Art von Straßenräu-
bern. Nun haben Sie gemerkt, dass Sie mit Ihrer Politik
auf Widerstand stoßen, wenn Sie jetzt den kleinen Betrie-
ben bei der Erbschaftsteuer wieder in die Tasche greifen
wollen. Deshalb legen Sie dieses Projekt auf Eis, weil Sie
merken, dass Sie auf Widerstand stoßen. Das bedeutet bei
Ihnen: Wiedervorlage nach irgendeiner Wahl. Freitag-
abend haben Sie diese Meldung so in den Geschäftsgang
gegeben, dass es bis Sonntag keiner merken konnte. Da-
nach war plötzlich alles ein Irrtum. Aber Frau Simonis hat
die Maske fallen lassen und erklärt: Wir wollen weiterhin
diese Regelung. Ich bin sehr gespannt auf diese Diskus-
sion.
Wir werden die Auswirkungen bei der nächsten Tarif-
runde merken. Sie profitieren im Augenblick noch davon,
dass die Tarifparteien in ihren Lohnforderungen sehr
zurückhaltend gewesen sind. Bei einer Inflationsrate von
2,8 Prozent wird Sie dies einholen. Das wird dazu führen,
dass wir Lohnsteigerungen bekommen werden, die die In-
flationsrate weiter anheizen und damit Arbeitsplätze ge-
fährden werden. Das sind die Früchte Ihrer Politik. Sie
können nicht sagen, dass dies auf die 16 Jahre unserer Re-
gierungszeit zurückzuführen ist. Diese Bedingungen gel-
ten für alle Länder in Europa.
Früher waren wir die Konjunkturlokomotive in Eu-
ropa. Wir und auch ich waren stolz darauf. Jetzt bilden wir
fast das Schlusslicht. Das müssen wir ändern. Wir können
dies nur durch eine vernünftige Politik für den Mittelstand
ändern.
Deswegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Tun Sie
endlich etwas, wozu Sie auch von den Medien aufgefor-
dert werden! Es ist Zeit zum Handeln und wir legen Ihnen
das Konzept vor.
Schönen Dank.
Ich gebe der
Kollegin Jelena Hoffmann für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihren Anträgen ver-
folgt die Opposition eigentlich nur ein Ziel: unsere Steu-
erreform schlecht zu reden. Aber das werden Sie nicht
schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Denn die Unternehmen draußen im Lande, gerade auch
die kleinen und mittleren Unternehmen, haben schon
längst begriffen: Wir haben mit der Unterneh-
mensteuerreform natürlich im Rahmen unserer Steuer-
vorhaben einen enorm wichtigen Schritt für unsere
Wirtschaft getan, einen Quantensprung, zu dem Sie doch
gar nicht in der Lage gewesen sind und zu dem Sie noch
immer nicht in der Lage sind.
Wissen Sie, liebe Kollegen von der CDU, was mich in
Ihrem Antrag am meisten stört und ärgert? Es ist gleich
der erste Punkt, in dem Sie fordern, die Tarifsenkung bei
der Einkommensteuer auf das Jahr 2003 vorzuziehen. Zu-
nächst einmal haben gerade Sie als eingefleischte Steu-
ererhöhungspartei kein Recht, noch höhere oder noch
frühere Tarifsenkungen zu fordern. Natürlich wäre dies
wünschenswert. Da muss ich Ihnen ausnahmsweise Recht
geben. Aber hier haben wir wieder ein Beispiel für Ihre
wirtschaftspolitische Unvernunft. Hans Eichel ist bereits
jetzt an die Grenzen des Machbaren gegangen. Alles an-
dere wäre schlicht und einfach unklug.
Eine Steuersenkung um noch einmal 1,5 Prozentpunkte
würde weitere 2,4 Milliarden DM kosten. Das ist einfach
nicht mehr drin, wenn wir auf unserem Konsolidierungs-
kurs bleiben wollen, und das werden wir. Davon bringen
Sie uns nicht ab.
Dann, liebe Kollegen von der Opposition, vergleichen
Sie den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer mit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Jochen-Konrad Fromme
16314
dem konstanten Steuersatz der Körperschaftsteuer. Herr
Spiller hat dies schon erklärt. Ich versuche, es Ihnen
nochmals zu erklären, weil ich Ihren Reden entnehme,
dass Sie es immer noch nicht begriffen haben. 48,5 Pro-
zent Einkommensteuer sind mehr als 39,3 Prozent steuer-
liche Belastungen der Kapitalgesellschaften. Das ist un-
strittig, da gebe ich Ihnen Recht. Aber damit begründen
Sie, dass die Mittelständler benachteiligt seien, da sie als
Personengesellschaften angeblich höhere Steuern als die
Kapitalgesellschaften zahlen müssten. So einfach ist dies
nicht. Ihnen ist offensichtlich entgangen, dass die Ein-
kommensteuer progressiv gestaltet ist. Der Spitzensteuer-
satz beträgt zurzeit 48,5 Prozent. Bei Ihnen betrug er im-
merhin noch 52 Prozent. Wir haben den Spitzensteuersatz
also bereits reduziert und werden ihn noch auf 42 Prozent
absenken.
Es wäre natürlich schön, wenn unsere Mittelständler so
viel Geld verdienen würden, dass sie den höchsten Steu-
ersatz zahlen müssten. Aber das ist nicht der Fall. Herr
Spiller ist darauf eingegangen. Ich sage es noch einmal:
Fakt ist, dass ein verheirateter Personenunternehmer erst
480 000 DM Gewinn erwirtschaften muss, um einen
Steuersatz wie eine Kapitalgesellschaft zahlen zu müssen.
Und Fakt ist auch, Frau Hasselfeldt, dass nicht 25 Prozent,
sondern nur 5 Prozent der verheirateten Personenunter-
nehmer einen Gewinn von über 250 000 DM erwirtschaf-
ten und lediglich 0,5 Prozent der Personenunternehmen
einen Gewinn von über 480 000 DM haben. Das kann
man nicht oft genug sagen.
Über den Mittelstand dürfen Sie also nicht sprechen.
Wir müssen uns darauf verständigen, ob wir über 95 Pro-
zent bzw. sogar 99 Prozent oder über 5 Prozent bzw. über
1 Prozent der Mittelständler reden wollen.
Wie Sie alle wissen, haben wir aus steuersystemati-
schen Gründen Veräußerungsgewinne von Kapitalgesell-
schaften steuerlich freigestellt, um Doppelbelastungen zu
vermeiden. Das hat Herr Spiller auch erklärt. In diesem
Punkt haben Sie mich allerdings zum Nachdenken ge-
bracht. Wenn man jedoch die Substanz über die Form
stellt, also wirtschaftende Unternehmen unabhängig von
ihrer Rechtsform betrachtet, dann ist die Überlegung zu-
mindest nicht völlig abwegig, Personengesellschaften
diesbezüglich mit den Kapitalgesellschaften gleichzustel-
len. Darüber können wir vielleicht gemeinsam mit Ih-
nen noch einmal nachdenken.
Ich möchte aber nicht, dass Sie mich hier falsch ver-
stehen: Von einer systematischen Benachteiligung der
Personengesellschaften, also des Mittelstandes, kann
überhaupt keine Rede sein. Der Mittelstand profitiert von
unseren Steuergesetzen im Umfang von 30 Milliar-
den DM. 23 Milliarden DM beruhen allein auf der von Ih-
nen so ungeliebten Unternehmensteuerreform. Das sind
doch Ergebnisse, die Sie von der Opposition endlich zur
Kenntnis nehmen sollten.
Selbstverständlich muss man sich bei Reformen von
solchen Ausmaßen Gedanken über die Gegenfinanzie-
rung machen. Aufgrund Ihrer früheren Finanzpolitik
konnten wir leider nicht viele Geschenke machen. In die-
sem Zusammenhang komme ich auf die AfA-Tabellen zu
sprechen: Der Vorwurf, die Regierung hätte nicht Wort
gehalten und deutlich mehr als 3,5 Milliarden DM zur Ge-
genfinanzierung umgelegt, war natürlich sehr schwerwie-
gend. Zum Glück ist dieser Vorwurf nun vom Tisch. Beide
Seiten Regierung und Wirtschaft haben noch einmal
nachgerechnet und sprechen nun nur noch von 2,7 Milli-
arden DM.
Sie sehen: Trotz mancher Meinungsunterschiede, die
manchmal unvermeidlich sind und die wohl auch sein
müssen, arbeiten wir sehr gut mit der mittelständischen
Wirtschaft zusammen und kommen auch zu guten, sogar
zu sehr guten Ergebnissen.
Vielen Dank.
Ich gebe
nunmehr dem Kollegen Rainer Brüderle für die F.D.P.-
Fraktion das Wort.
Rainer Brüderle (von der F.D.P. und Abge-
ordneten der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Wir sprechen über den
Mittelstand. Es bietet sich uns ein typisches Bild: Der Bun-
deswirtschaftsminister nimmt an der Debatte überhaupt
nicht teil und auch die so genannte Mittelstandsbeauftragte
hat es nicht nötig, die Debatte weiter zu verfolgen.
Das ist ein bezeichnendes Bild dafür, welchen Stellenwert
der Mittelstand bei der Bundesregierung einnimmt. Frau
Kollegin, es gehört sich, dass ich in einer Debatte, in der
es um den Mittelstand geht, zuhöre, wenn ich dafür zu-
ständig bin, und nicht woanders meine Zeit vertreibe. Was
ist das für ein Stil und welches Verständnis gegenüber
dem Parlament kommt damit zum Ausdruck?
Die Konjunktur schwächelt, die Arbeitslosigkeit sta-
gniert auf unerträglich hohem Niveau, die Preise steigen
und der Mittelstand leidet, aber die Bundesregierung
schaut tatenlos zu. Statt die Wachstumskräfte zu stärken,
wird nur alles schöngeredet. Schlimmer noch: Die Kos-
ten für die Wirtschaft werden weiter nach oben getrie-
ben. Durch die Verschärfung der Mitbestimmung entsteht
eine Zusatzbelastung von 2,7 Milliarden DM und durch
das Einwegpfand eine solche von 4 Milliarden DM. Wenn
Grün-Rot so weiter macht, wird aus der Konjunkturdelle
ein Konjunkturtal, weil die grün-roten Kostentreiber das
Geschäftsklima weiter vergiften.
Wie es anders geht, kann man an den Vereinigten
Staaten sehen: Der amerikanische Präsident Bush bringt
ein Steuersenkungsprogramm im Umfang von 2 800 Mil-
liarden DM durch den Kongress. Das ist ein anderer Weg.
Gleichzeitig verkündet der Bundesfinanzminister ein
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Jelena Hoffmann
16315
Steuersenkungsmoratorium für die nächsten sechs Jahre.
Die so genannte Ökosteuer wird selbstverständlich weiter
erhöht, bei der Erbschaftsteuer haben wir ein absurdes
Theater. Alle paar Wochen gibt es einen neuen Er-
höhungsvorstoß aus einem grün-roten Bundesland, den
der Bundeskanzler dann wieder abschmettert. Damit wird
die psychologische Stimmung für den Mittelstand weiter
verschlechtert.
Man sagt, Wirtschaftspolitik bestünde zu 50 Prozent aus
Psychologie. Das trifft aber nur dann zu, wenn die anderen
50 Prozent der Wirtschaftspolitik ordentlich gemacht wer-
den. Ordentlich machen heißt schnell Herr Solms hat kon-
krete Vorschläge unterbreitet Steuern zu senken, damit
das Wachstum belebt wird, Investitionen vorankommen
und Beschäftigung wieder aufgebaut werden kann.
Es macht nämlich psychologisch einen großen Unter-
schied, ob ein Mittelständler 50 Pfennig, 40 Pfennig oder
35 Pfennig jeder hart erarbeiteten Mark beim Fiskus ab-
geben muss. Das merken der Handwerksmeister, der Ge-
werbetreibende und der Freiberufler täglich in ihren Kas-
sen ganz konkret.
Davon hängt ab, ob investiert und Beschäftigung ge-
schaffen werden kann.
Diese ökonomischen Zusammenhänge auf Volkshoch-
schulniveau haben die Grünen bis heute nicht verstanden.
Sie wollen nämlich bei der Mittelstandsentlastung Rück-
schritte vornehmen. Im Entwurf ihres Grundsatzpro-
gramms faseln die Grünen schon wieder von Steuererhö-
hungen. Die Bevölkerung hat dies genau registriert.
Gerade einmal ein Hundertstel der Wähler billigt den Grü-
nen Wirtschaftskompetenz zu, wie aus ihrer eigenen Auf-
tragsstudie hervorgeht,
und zwar zu Recht!
Die meisten in Ihrer Partei empfinden noch immer
klammheimliche Freude, wenn ein angeblich böser Kapi-
talist mit seinem Kleinunternehmen unverschuldet den
Bach hinuntergeht. Sie arbeiten mit Ihren wirt-
schaftsfeindlichen Plänen wieder auf Ihr altes Traumziel
vom Null Wachstum hin. Nullwachstum, null Ahnung und
null Arbeitsplätze, aber 5 DM für den Liter Benzin so
sieht grüne Politik aus!
Der Mittelstand ist bei den Grünen jedenfalls verraten und
verkauft. Da helfen auch keine mittelstandspolitische Fei-
genblätter wie Frau Scheel oder Frau Wolf, die es noch
nicht einmal für nötig hält, an dieser Debatte teilzunehmen.
Auch sonst steht der Mittelstand bei dieser Regierung
im Regen. Der Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich
die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen am
Kabinettstisch vertreten sollte, kümmert sich lieber um
ehemalige Staatsmonopolisten und Energiegroßkonzerne.
Monopolminister Müller begibt sich lieber auf eine wirt-
schaftspolitische Fortbildungsreise nach Kuba, anstatt
sich um die Sorgen und Nöte des Mittelstands und der
fleißigen Handwerker in diesem Land zu kümmern.
Die F.D.P. macht es besser, weil sie weiß, wie der Mit-
telstand atmet und denkt und welche Voraussetzungen er
braucht. Wir haben in der Tat, wie Otto Solms schon ge-
sagt hat, wenigstens für eine kleine Verbesserung gesorgt,
als wir bei der Steuerreform 1 durchgesetzt haben, dass
die Steuerbelastung um weitere 7 Milliarden DM gesenkt
wird. Aber jetzt muss endlich die Steuerreform 2 auf den
Weg gebracht werden, müssen die Steuern weiter redu-
ziert werden und muss das Steuersystem radikal verein-
facht werden, damit jeder seinen Steuerbescheid nach-
vollziehen kann.
Wir haben ein Modell mit drei Steuersätzen vorgelegt:
15, 25 und 35 Prozent. Das ist klar und überzeugend. Herr
Struck hat die Richtigkeit unseres Modells schon vor ei-
nem halben Jahr erkannt. Mittlerweile spricht sich auch
Herr Merz für unser Einfachsteuermodell aus. Ich kann
beiden nur sagen: Willkommen im Klub! Ich bin ge-
spannt, wer sich von den beiden als Erster in seiner Frak-
tion durchsetzen kann; denn die Beschlusslagen in den
beiden Fraktionen sind anders.
Wir müssen uns beeilen. Die Steuerreform 2 muss an-
gepackt werden. Der Mittelstand braucht die Entlastung.
Auf Grüne und PDS braucht er nicht zu warten; denn
beide werden es nie lernen. Die anderen müssen han-
deln.
Vielen Dank.
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht nun für die SPD-Fraktion
der Kollege Reinhard Schultz.
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige De-
batte trägt zum Teil absurde Züge. Ihre Rede, Herr
Brüderle, die Sie in bewährter Weise gehalten haben, war
die Krönung. Wir beide sind sowieso das Dreamteam. In
Debatten über den Mittelstand reden wir beide immer hin-
tereinander. Diesmal bestand Ihre Rede ausschließlich aus
Pöbeleien.
Ich glaube, es ist nicht besonders fair, der Mittelstandsbe-
auftragten, die bis zu Ihrer Rede anwesend war ich weiß
nicht, aufgrund welcher dringlicher Gründe sie jetzt den
Saal verlassen musste , und dem Wirtschaftsminister, der
auf jedem größeren Kammertag der IHKs anwesend ist
und mit den Handwerkern diskutiert, vorzuwerfen, dass
sie hier nicht anwesend seien. Das halte ich, ehrlich ge-
sagt, für lächerlich.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Rainer Brüderle
16316
Die Anträge, die die Fraktionen der Union und der
F.D.P. vor wenigen Tagen gestellt haben, sind ebenfalls
merkwürdig, weil in ihnen etwas gefordert wird, was ei-
gentlich längst vorhanden ist. Wie angekündigt und wie
vom Finanzausschuss gefordert, liegt der Bericht der
Bundesregierung zur Fortführung der Unternehmensteu-
erreform seit April vor, und zwar mit einem zeitlichen
Fahrplan, der deutlich macht, wann was gesetzgeberisch
umgesetzt werden soll. Viele Dinge, über die wir heute
diskutieren, wie zum Beispiel die Frage, wie die Perso-
nengesellschaften steuerlich behandelt werden sollen
hier besteht ohne Frage noch Handlungsbedarf , wer-
den noch in dieser Wahlperiode, so ist es angekündigt
worden, erledigt werden. Insofern laufen die in Ihren An-
trägen enthaltenen Appelle an die Bundesregierung, Ge-
setzentwürfe vorzulegen, völlig ins Leere, da diese Bun-
desregierung einen Fahrplan bereits vorgelegt hat. Wir
Parlamentarier müssen lediglich entscheiden, wie wir da-
mit umgehen.
Der Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkom-
mensteuergesetzes, den uns ein Arbeitskreis von elf Sach-
verständigen es sind überwiegend Professoren gestern
vorgetragen hat, schwebt etwas über den Wolken der heu-
tigen Debatte.
Das mag schon sein. Herr Kirchhof ist vom Olymp ge-
stiegen und hat uns einfach und leicht eine virtuelle Re-
form vorgetragen, während wir Parlamentarier, insbeson-
dere die Koalition und die Bundesregierung bereits eine
tatsächliche Reform zustande gebracht haben, die die
Bürger und die Unternehmen im Jahr 2005 um 98 Mil-
liarden DM das ist schon ein Unterschied entlasten
wird. Was uns die elf Sachverständigen vorgetragen ha-
ben, ist sicherlich eine interessante und anregende
Schreibübung. Wir haben allerdings eine Reform trotz
Widerständen in den Interessengruppen und trotz Schwie-
rigkeiten zwischen Bund und Ländern durchgesetzt. Was
zählt, das ist die Tat und kein dünnes Büchlein.
Wer sich den Gedanken der Einfachheit im Steuer-
recht zu Eigen gemacht hat ich neige ebenfalls dazu ,
der sollte sich den Karlsruher Entwurf genauer an-
schauen. Er ist nur deswegen so überschaubar und ein-
fach, weil er alles, was kompliziert ist, alle besonderen
Lebenslagen und alle Sonderfälle in die Sphäre des Ver-
ordnungsgebers verlagert und damit im Grunde genom-
men dem parlamentarischen, also dem demokratischen,
Zugriff entzieht. Am einfachsten wäre es, ehrlich gesagt,
wenn wir ein Steuergesetz verabschiedeten, in dem zwei
Sätze stünden: Erstens. Der Staat hat das Recht, Steuern
zu erheben. Zweitens. Das Nähere regelt der Verord-
nungsgeber. Das, was Kirchhof vorschlägt, geht unge-
fähr in diese Richtung. Durch die Umsetzung seiner Vor-
schläge würde zwar möglicherweise das Gesetz einfacher,
aber das Leben leider komplizierter.
Darüber hinaus lebt der Karlsruher Entwurf davon
die Debatte darüber war ganz interessant , dass viele
Sonderregelungen, zum Beispiel Freibeträge, der Arbeit-
nehmerfreibetrag, die Entfernungspauschale und anderes,
ersatzlos gestrichen werden. Herr Fromme hat sich eben
hierhin gestellt und ein engagiertes Plädoyer für vernünf-
tige Entfernungspauschalen es ging um die Entlastung
von Pendlern im ländlichen Raum gehalten, was
wohl im Einkommensteuerrecht geregelt werden muss.
Kirchhof will die Entfernungspauschalen ersatzlos ab-
schaffen. Gleichzeitig erklären Sie, dass das Einfach-
heitsbeispiel, das uns sozusagen vom Olymp aus vorge-
tragen worden ist, demnächst Teil Ihres Programms sei.
Es ist irgendwie merkwürdig, wenn Sie sich so in ein und
derselben Debatte äußern.
Ich glaube, dass die Einfachheit des Einkommensteu-
errechts da ihre Grenzen findet, wo das Prinzip der Leis-
tungsfähigkeit und das Nettobesteuerungsprinzip durch-
brochen werden. Beides muss letztendlich gerichtsfest
geregelt werden.
Wenn es um die Abwägung zwischen Einfachheit und
Steuergerechtigkeit geht, dann treten wir im Zweifelsfall
das muss man sagen; dafür sind wir gewählt worden
eher für Steuergerechtigkeit ein. Wir nehmen also Kom-
pliziertheit in Kauf, wenn dies mehr Steuergerechtigkeit
bedeutet. Wir sind nicht gewählt worden, um ein einfa-
ches, aber ungerechtes Steuersystem zu schaffen, sondern
weil man uns zutraut, Steuergerechtigkeit wieder herzu-
stellen. Dass uns das gelungen ist, haben wir nachgewie-
sen.
Der Karlsruher Entwurf sieht vor, dass der Spitzen-
steuersatz bereits bei einem Bruttoeinkommen von
70 000 DM das ist zugegebenermaßen wenig einsetzt.
Alle Einkommen, die oberhalb dieser Grenze liegen, wer-
den quasi gleich behandelt. Das sind riesige Geschenke
für sehr gut verdienende Menschen, während die Bezie-
her von kleinen und mittleren Einkommen überproportio-
nal belastet werden. Eine solche Politik wäre eine Abkehr
vom Ziel der Steuergerechtigkeit.
Nachdem wir heute gefordert haben, mehr für den Mit-
telstand zu tun, kommt es mir wie der größte Witz der
Weltgeschichte vor, dass Sie, insbesondere die Politiker
der F.D.P. Sie waren sozusagen die Helden der AfA-De-
batte , den Karlsruher Entwurf so verherrlichen und sich
damit einverstanden erklären, dass Abschreibungen künf-
tig nur noch linear und nicht mehr degressiv sein sollen,
womit insbesondere mittelständischen Unternehmen ge-
waltige Liquiditätsprobleme aufgebürdet würden. Das ist
doch Schizophrenie; Sie brauchen einen Therapeuten. Mit
der politischen Wirklichkeit haben Ihre Forderungen
nichts zu tun.
In dem Antrag der Union wird behauptet Frau
Hasselfeldt hat es mündlich vorgetragen , unsere Unter-
nehmensteuerreform jage die Personenunternehmen mit
Gewalt und bewusst in andere Rechtsformen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Reinhard Schultz
16317
Herr Fromme hat sogar philosophische Bemerkungen da-
rüber angestellt das fand ich ganz witzig , welche Hin-
terhältigkeiten sich Generationen von Sozialdemokraten
von Godesberg über 1968 bis heute dabei gedacht ha-
ben.
Herr Fromme, das ist doch geradezu albern. Wir ha-
ben bei Neugründungen von Unternehmen eine zuneh-
mende Zahl von rechtsformgebundenen Personengesell-
schaften. Diese Entwicklung setzte schon ein, bevor wir
die Unternehmensteuerreform verabschiedet haben. Das
hat natürlich etwas mit der Neugründung vieler kapitalin-
tensiver, mit Risikokapital gespeister Gesellschaften zu
tun, an denen zwar mehrere beteiligt sind, die aber nicht
aktiv mitwirken, die sich die notwendige Haftungssicher-
heit nur in der Rechtsform schaffen können.
Der einzelne Unternehmer hat nach wie vor die Wahl,
zu entscheiden, wie er sich organisiert. Dazu gehören vie-
lerlei Dinge. Dazu gehören die Fragen: Wann will er was
vererben? Wie ist die Nachfolge geregelt? Wie ist die
steuerliche Kulisse? Jeder optimiert das für sich. Da mi-
schen wir uns überhaupt nicht ein, wir schaffen nur klare
Rahmenbedingungen.
Die Union behauptet in ihrem Antrag, die großen Ka-
pitalgesellschaften seien die Gewinner der Steuerre-
form und zwar zu 90 Prozent. Das ist absolut lächerlich
und außerhalb jeder Statistik, selbst der gefälschtesten,
die mir bekannt ist. Von dieser Zahl habe ich erstmals
durch diesen Entschließungsantrag erfahren. Das ist eine
Falschmeldung. Tatsache ist, dass von der Entlastung von
98 Milliarden DM im Jahr 2005, die insgesamt allen Steu-
erbürgern zugute kommt, 30 Milliarden DM auf verschie-
denen Wegen an den Mittelstand gehen. Er ist der große
Gewinner der Steuerreform und nicht der Verlierer.
In der Debatte ging es auch um die Definitivbesteue-
rung bei den Kapitalgesellschaften in Höhe von 25 Pro-
zent und um die Unternehmen in der Einkommensteuer-
sphäre. Dazu ist eben einiges gesagt worden. Tatsächlich
liegen bei 95 Prozent aller Unternehmen die Gewinne un-
terhalb von 250 000 DM. Sie müssten aber 480 000 DM
verdienen, um über die Schwelle von 38 Prozent zu kom-
men, die hier ständig zitiert wird. Damit wird eigentlich
klar, um was es hier letztendlich geht.
Den meisten Unternehmen bei uns geht es nach der
Steuerreform deutlich besser, wenngleich einige vielleicht
gewisse Probleme mit Blick auf Kapitalgesellschaften ha-
ben. Sie haben aber aus sehr persönlichen Gründen, die in
den Unternehmerfamilien liegen, den Sprung in die Kapi-
talgesellschaft bislang vermieden. Jeder Vernünftige würde
bei einer solchen Größenordnung schon aus Haftungssi-
cherheitsgründen die Form einer Kapitalgesellschaft
wählen. Diesen Unternehmen können wir leider nicht hel-
fen; wir können ihnen das nicht noch hinterhertragen.
Die Bundesregierung ist in dem Bericht zur Fortent-
wicklung des Unternehmensteuerrechts auf praktisch
alle zentralen Punkte eingegangen, die die Wirtschaft for-
dert und die zum Teil in Ihren Entschließungsanträgen
genannt werden. Der Mitunternehmererlass wird faktisch
wieder hergestellt. Die Übertragung von Bestandteilen
von Wirtschaftsgütern von einem Unternehmen auf ein
anderes Unternehmen, soweit es noch einen Verbund
über den Unternehmer oder über die mitbeteiligten Mit-
unternehmer gibt, wird steuerneutral möglich sein. Auch
die Frage, ob Realteilung stattfindet sei es aus Nach-
folgegründen, sei es, weil sich der Kreis der Gesellschaf-
ter verändert , soll steuerneutral geregelt werden. Das
hat die Bundesregierung bereits erklärt. Ebenfalls soll die
Übertragung von Grundstücken bei der Neustrukturie-
rung von Unternehmen von der Grunderwerbsteuer frei-
gestellt werden. Die Bundesregierung spricht sich dafür
aus. Darüber müssen wir allerdings mit den Ländern re-
den; denn das ist eine Steuer, die den Ländern zugute
kommt.
Es bleibt einzig die Frage übrig: Was ist mit dem Erlös
des Verkaufs einer Beteiligung an einer Kapitalgesell-
schaft durch eine Personengesellschaft? Ich sage die Fi-
nanzverwaltung ist da skeptisch , dass man dort eine
Gleichstellung mit den Kapitalgesellschaften herstellen
sollte. Personengesellschaften sollten genauso behandelt
werden wie Kapitalgesellschaften, die untereinander Be-
teiligungen verkaufen.
Wir sollten ernsthaft über Instrumente reden, wie wir
eine Investitionsrücklage oder Ähnliches mit einer klaren
Bindungsfrist ausstatten, allerdings abgetrennt vom per-
sönlichen Zugriff des Unternehmers und von seinem
privaten Einkommen. Man kann darüber reden, Geld für
neue Investitionen in einer solchen Rücklage zu parken.
Ich persönlich bin dafür, viele in unserer Fraktion auch.
Wir werden versuchen, das beim Feinschliff im Gesetz-
gebungsgang gemeinsam zu erreichen. Viel Spaß!
Vielen Dank.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5551 und 14/5962 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 e auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 11. Oktober 1999 über Handel,
Entwicklung und Zusammenarbeit zwischen
der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und der Republik Süd-
afrika andererseits
Drucksache 14/5713
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Reinhard Schultz
16318
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Ver-
trägen vom 27. April 1999 und 8. Juli 1999 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über grenz-
überschreitende polizeiliche Zusammenarbeit,
Auslieferung, Rechtshilfe sowie zu dem Abkom-
men vom 8. Juli 1999 zwischen der Bundesre-
publik Deutschland und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft über Durchgangsrechte
Drucksache 14/5735
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp-
fung der illegalen Beschäftigung im gewerbli-
chen Güterkraftverkehr
Drucksache 14/5934
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organi-
sationsreform in der landwirtschaftlichen So-
zialversicherung
Drucksache 14/5928
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstel-
lung von Gesetzen und anderer Vorschriften
auf dem Gebiet des Gesundheitswesens auf
Euro
Drucksache 14/5930
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Auch damit ist das Haus einverstanden.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europä-
ischen Parlaments und des Rates mit Hygiene-
vorschriften für nicht für den menschlichen
Verzehr bestimmte tierische Nebenprodukte
KOM 574 endg.; Ratsdok. 12648/00
Drucksachen 14/5172 Nr. 2.26, 14/5774
Berichterstattung:
Abgeordnete Jella Teuchner
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Vorschlags
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? Wer
enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europä-
ischen Parlaments und des Rates über die Ge-
währung von Beihilfen für die Koordinierung
des Eisenbahnverkehrs, des Straßenverkehrs
und der Binnenschifffahrt
KOM 5 endg.; Ratsdok. 10166/00
Drucksachen 14/4441 Nr. 1.31, 14/5785
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Vorschlags
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Gegenprobe! Enthaltungen? Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Bundespolitische Auswirkungen neuer Vor-
würfe einer Verletzung des Parteiengesetzes
durch die CDU
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Kollegen Frank Hofmann das Wort für den Antragsteller.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Der eigentliche Skandal ist die Verhöhnung unserer
Verfassung durch die CDU. Bimbes-Kohl und seine Hel-
fershelfer haben zur selben Zeit, als die Flickaffäre auf-
gearbeitet wurde, als das neue Parteiengesetz verabschie-
det wurde und als spektakuläre Strafverfahren liefen,
unverfroren das Schwarzgeldsystem fortgeführt und ver-
feinert.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16319
Die Merkel-CDU ist heute die Hauptstütze des Sys-
tems Kohl, weil sie es zulässt, dass Kohl weiterhin sein
Ehrenwort über die Verfassung stellen kann. Wenn nicht
zufällig die Koffer-Million aufgeflogen wäre, würde die
CDU heute noch so tun, als sei sie die Mutter der deut-
schen Moral. An die Adresse von Frau Merkel sei gesagt:
Diese Masche läuft heute nicht mehr, selbst dann nicht,
wenn sie beteuert: Wir nehmen nur sauberes Geld.
Frau Merkel, war das etwa sauberes Geld, das Ihnen
der Brutaloaufklärer Koch als 15-Millionen-Darlehen zur
Verfügung gestellt hat? Ich sage: Diese Vermächtnismil-
lionen der Hessen-CDU stinken noch immer zum Him-
mel. Haben Sie diese Millionen abgelehnt oder auf ein
Sonderkonto überwiesen? Nein, natürlich nicht, Sie ha-
ben sie eingesackt.
Und die Kiep-Million, das Überraschungsei zu Ostern?
Diese Million war noch nicht richtig auf dem CDU-
Konto, da hatte sie der Haushaltsausschuss der CDU für
seine Projekte schon verplant. Frau Merkel stellt sich aber
hin und behauptet öffentlich: Wir nehmen kein dubioses
Geld. Was soll der Bürger von dieser CDU halten?
Weshalb verspielen Sie so Ihre Glaubwürdigkeit?
Der Generalsekretär Meyer sagt, man habe einfach
nicht daran gedacht, diese Million nach der Sitzung des
CDU-Präsidiums am 23. April in der Pressekonferenz zu
erwähnen.
Diese Kiep-Million bewegt die gesamte Bundesrepublik
Deutschland. Wie wollen Sie die Bundesrepublik
Deutschland politisch in eine gute Zukunft führen, wenn
Sie mit Ihrer Mannschaft nicht einmal in der Lage sind,
die Probleme, die Überraschungseier mit sich bringen, zu
lösen?
Die CDU hat bei der Aufklärung anscheinend finan-
zielle Probleme, weil sie die Bankbelege in der Schweiz
zum Norfolk-Konto wegen der Kosten nicht heraussu-
chen lassen will. Weshalb kommt Ihnen da nicht die Idee,
einen Spendenaufruf zu machen? Hier würden Ihnen si-
cher viele Bürger gern helfen.
Sie reagieren aber nur auf Druck: auf Druck des Un-
tersuchungsausschusses, auf Druck der Staatsanwalt-
schaften, auf Druck von Zeitungsberichten. Das unter-
scheidet die Merkel-CDU nicht mehr von Bimbes-Kohl.
Warum haben Sie die Aufklärung der CDU-Finanzaffäre
nicht zu Ihrer eigenen Sache gemacht, Frau Merkel, zur
Chefsache? Die neuen Unterlagen aus der Schweiz ent-
halten mehrere Spuren, die die CDU und nur sie auf-
klären kann: bei Weyrauch, bei Lüthje und bei der
Schweizer Bank UBS. Ist das etwa Krisenmanagement
à la CDU, wenn der CDU-Bundesgeschäftsführer die
Journalistenrunde bei der Pressekonferenz fragt: Haben
Sie noch eine Idee, was man tun könnte? Wollen Sie so
zur nächsten Bundestagswahl antreten, um die Bundesre-
publik politisch zu führen? Weshalb haben Sie nicht auch
bei Weyrauch wie bei Kiep Regressforderungen gestellt?
Hat die Merkel-CDU Angst davor, dass er seine Drohung
wahrmachen könnte, die Republik werde wackeln, wenn
er auspackt? Sind Sie Gefangene des Systems Kohl?
Die Merkel-CDU muss endlich den Stall ausmisten
und den Dreck nicht nur oberflächlich mit Streu zu-
decken.
An den Tag kommt es allemal!
Vergessen Sie dabei nicht, die Sauställe in den Landes-
verbänden Berlin und Rheinland-Pfalz gleich mit auszu-
misten. Wie lange schaut die Merkel-CDU noch zu, dass
ein Mann namens Landowsky in Berlin ein Parteiamt be-
kleidet? Sind Strippenzieher mit einnehmendem Wesen
ein Markenzeichen der CDU?
Was tun Sie in Rheinland-Pfalz? Die unsauberen Gel-
der, die Ihre Partei den kriminellen Machenschaften von
Doerfert verdankt, sind längst noch nicht alle zurückge-
zahlt.
Und der jetzt bekannt gewordene Umgang des
Kohlzöglings Böhr mit Fraktionsgeldern stinkt ebenfalls
zum Himmel. Aber der Apfel fällt ja hier nicht weit vom
Stamm. Hat Christoph Böhr hier lediglich von Kohl ge-
lernt, der sich aus den Fraktionskassen in Millionenhöhe
bedient hat?
Sie sehen, eine Menge Arbeit liegt noch vor der
Merkel-CDU, bevor sie behaupten kann: Wir sind wieder
sauber.
Danke.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Andreas
Schmidt.
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Kollege Hofmann, die Rede, die Sie gerade gehalten ha-
ben, haben Sie im Februar schon einmal gehalten.
Das ist auch deswegen möglich gewesen, weil es keine
neuen Vorwürfe gibt und weil es auch keine neuen Verlet-
zungen des Parteiengesetzes durch die Union gibt.
Ich möchte
bitten, dass von der Regierungsbank keine Zurufe ge-
macht werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Frank Hofmann
16320
Wenn Sie
ehrlich sind, Herr Kollege Hofmann, müssten Sie heute
zugeben, dass es eben nicht den Vorwurf von neuen Ver-
letzungen des Parteiengesetzes durch die CDU gibt. Dies
ist in der Tat nicht richtig.
Sie wollen, meine Damen und Herren, mit dieser Aktuel-
len Stunde nur ablenken das ist ja auch ein Ritual; ich
habe dafür Verständnis von den wirklich wichtigen po-
litischen Themen in diesem Land, von Ihrer katastropha-
len Arbeitsmarktbilanz, von Ihrer Rentenkonfusion, von
anderen wichtigen Dingen.
Meine Damen und Herren, die 1 Million DM von
Herrn Kiep, die auf das Konto der CDU überwiesen wor-
den ist, ist für die Union ein sehr ärgerlicher Vorgang. Es
ist völlig klar, dass hier überhaupt nichts zu beschönigen
ist. Wir erwarten, dass Herr Kiep kurzfristig aufklärt, wo-
her das Geld kommt.
Er hat hier eine Bringschuld gegenüber der CDU und
wir als Union erwarten, dass wir von Herrn Kiep unver-
züglich Aufklärung erhalten. Danach wird die Union ent-
scheiden, was mit der Million passiert. Sie können ganz
sicher sein: Das wird selbstverständlich nach Recht und
Gesetz erfolgen.
Hören Sie ganz ruhig zu, Herr Kollege Hofmann.
Aber, meine Damen und Herren, es geht Ihnen ja nicht
um Aufklärung. Sie suchen nach neuer Munition,
weil Sie jetzt spüren, dass Ihre Strategie im Untersu-
chungsausschuss, nämlich die Union weiter zu diffamie-
ren, vor dem Scheitern steht.
Ich will Ihnen das jetzt konkret sagen: Beim The-
ma Panzerlieferungen musste der Ausschussvorsitzende
Neumann eingestehen, dass nicht mehr der Vorwurf erho-
ben werden kann, die Regierung Helmut Kohl sei in die-
ser Frage bestechlich gewesen. Er ist dafür von Ihnen ge-
scholten worden, aber er hat mit dieser Feststellung, die er
in der Öffentlichkeit getan hat, Recht gehabt.
Wir haben gestern das Thema Eisenbahnerwohnungen
abgeschlossen, ebenfalls mit dem klaren Ergebnis, dass
sich der Vorwurf der Bestechlichkeit auch in diesem
Punkt nicht mehr aufrechterhalten lässt.
Herr Ströbele hat gestern seinen letzten großen Kampf
gegen diese bürgerliche Gesellschaft geführt, als er Herrn
Ehlerding als Zeugen vernommen hat. Aber Herr Ströbele
hat keinen Erfolg gehabt, weil an diesen Vorwürfen nichts
dran ist. Wenn Sie heute die Vernehmung von Herrn Diller
verfolgt haben, dann haben Sie nicht nur festgestellt, dass
dies eine Zumutung für das Parlament und für den Parla-
mentarischen Untersuchungsausschuss war, sondern dann
ist auch klar geworden, dass es im Bereich Leuna/Minol
keinen einzigen Anhaltspunkt auf rot-grüner Seite gibt,
der belegt, dass die Regierung Helmut Kohl in dieser
Frage durch Geld in bestimmte Richtungen gedrängt wor-
den ist oder sich hat drängen lassen.
Meine Damen und Herren, das Gleiche gilt für den
Hirsch-Bericht. Auch hier droht Ihnen ein Scheitern, weil
die Staatsanwaltschaft in Bonn nach eigenen Ermittlun-
gen offensichtlich festgestellt hat, dass die Vorwürfe von
Herrn Hirsch so nicht zutreffen.
Ich empfinde es als einen Skandal, dass jetzt von Ihrer
Seite politisch Druck auf die Staatsanwaltschaft in Bonn
ausgeübt wird,
dieses Verfahren nicht einzustellen. Gegen diese Einfluss-
nahme auf die Justiz in Nordrhein-Westfalen verwahren
wir uns.
Lassen Sie mich jetzt abschließend etwas zu dem Vor-
wurf des Kollegen Hofmann, wir hätten nicht aufgeklärt,
woher einige Gelder stammten, sagen.
Das ist zwar wahr, wir haben uns aber bemüht. Die Union
hat unter der Führung von Angela Merkel und Bundesge-
schäftsführer Hausmann sowie unter Wolfgang Schäuble
alles getan, um zum Beispiel die Herkunft der Norfolk-
Gelder aufzuklären. Dies ist uns in der Tat bis heute nicht
gelungen.
Herr Kollege Hofmann, ich habe jetzt das Wort und jetzt
hören Sie mir einmal zu, was ich Ihnen zu sagen habe.
Messen Sie sich bitte mit den gleichen Maßstäben, mit
denen Sie uns messen.
Ich sage Ihnen jetzt, wann Sie Spenden erhalten haben,
ohne dass Sie sich bemüht haben, die Spender festzustel-
len: Am 13. Juni 1980 haben Sie 2 Millionen DM erhal-
ten Spender unbekannt. Am 23. Juni 1980 haben Sie
45 000 DM erhalten Spender unbekannt. Am 30. Juni
1980 haben Sie 53 050 DM eingenommen Spender un-
bekannt. Am 26. August haben Sie 176 500 DM an Spen-
den angenommen Spender unbekannt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16321
Am 2. September 1980 haben Sie 2 Millionen DM an
Spenden angenommen Spender unbekannt. Am 19. De-
zember 1980 haben Sie 1 Million DM angenommen
Spender unbekannt.
Auch damals gab es die Pflicht zur Veröffentlichung von
Spendernamen. Ich bin froh, dass die Schatzmeisterin
hier sitzt.
Ich lese Ihnen jetzt vor, was Ihr damaliger Schatzmeis-
ter zu den Spenden, die ich gerade aufgeführt habe, auf-
geschrieben hat. Er hat am 31. Dezember 1980 in einem
vertraulichen Vermerk notiert:
Die folgenden, nach dem Tage des Eingangs im Ein-
zelnen aufgeführten Mittel, die von nicht genannten
Spendern gesammelt worden sind, wurden mir mit
bestimmten Verwendungszwecken der Spender und
der Bedingung übergeben, dass die Herkunft der
Mittel nicht erkennbar ist und wird. Eine entspre-
chende Schweigepflicht habe ich zusichern müssen.
Meine Damen und Herren, Sie können uns auffordern,
Spendernamen zu nennen. Wir erwarten dann aber, dass
auch Sie sich bemühen, die Spendernamen auf Ihrer Seite
herauszufinden und der Öffentlichkeit bekannt zu geben.
Vielen Dank.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Abgeordnete
Hans-Christian Ströbele.
gen! Meine Damen und Herren! Es gibt Leute, die sagen,
dass die CDU unter der neuen Vorsitzenden Frau Merkel
und unter dem neuen Fraktionsvorsitzenden Herrn Merz
anders geworden ist, aufklären will und diese ganze
Affäre hinter sich bringen und alles auf den Tisch legen
möchte. Ich sage diesen Leuten, denen ich auf der Straße
oder bei Veranstaltungen begegne, dass ich weder Herrn
Merz noch Frau Merkel zu nahe treten möchte,
aber man nach anderthalb Jahren, die die Affäre der CDU
nun schon dauert, doch die Frage stellen muss die kön-
nen Sie, Herr Merz, an Ihre Kollegin Frau Merkel weiter-
geben; die habe ich ihr auch im Ausschuss gestellt ,
warum Sie eigentlich nicht zivilrechtlich gegen diejenigen
vorgehen, die in Ihrer Partei Funktionen ausgeübt haben,
in ihrer Funktion Erkenntnisse erlangt und in ihrer Funk-
tion Geld beiseite geschafft haben, zum Beispiel 1,5 Mil-
lionen Schweizer Franken unter sich aufgeteilt haben.
Sie als Jurist wissen, dass Sie die zivilrechtliche Mög-
lichkeit haben, diese Personen auf Auskunft zu verklagen,
und als Parteivorsitzender sogar die Pflicht haben, zivil-
rechtlich einen Schadensersatz oder die Rückzahlung der
unrechtmäßig vereinnahmten Beträge durchzusetzen.
Warum tun Sie das nicht? Solange Sie das nicht tun, set-
zen Sie sich dem Verdacht aus, dass Sie weder aufklären
noch der CDU oder vielleicht auch der Bundeskasse bzw.
dem Herrn Bundestagspräsidenten diese Gelder wieder
zurückverschaffen wollen. Sie wollen nicht aufklären,
weil Sie Angst haben, dass die Leute, deren Auskunft Sie
in Anspruch nehmen müssten, vielleicht alles sagen, dass
diese alles auf den Tisch legen und so noch sehr viel mehr
herauskommt als das, was wir schon heute wissen und
womit wir uns jede Woche beschäftigen müssen.
Ich habe Frau Merkel am 15. März im Untersuchungs-
ausschuss gefragt: Frau Merkel, haben Sie als Parteivor-
sitzende irgendetwas unternommen, um von den drei Her-
ren Weyrauch, Ihrem früheren Steuerberater, Dr. Lüthje,
Ihrem damaligen Generalbevollmächtigten in Finanzan-
gelegenheiten, oder Herrn Kiep, Ihrem damaligen Bun-
desschatzmeister, jeweils die 500 000 Schweizer Franken
einzutreiben, die sie für sich vereinnahmt haben, ohne
dass sie es durften, die, wie Herr Kiep es selber einmal
formuliert hat, die Beute unter sich geteilt haben, die das
Geld einfach eingesteckt haben? Daraufhin hat Frau
Merkel das war ihre einzige Antwort gesagt, sie seien
im Prozess, zu überlegen, was zu machen sei. Sie hat hin-
zugefügt, sie sei gern bereit, uns auf dem Laufenden zu
halten; mehr könne sie zu diesem Punkte nicht sagen.
Sie hat auch nicht meine Frage beantwortet: Haben Sie
einmal einen Brief geschrieben? Inzwischen wissen wir,
dass viel mehr gewesen ist. Frau Merkel hat am 17. April
einen Brief an den Ausschuss geschrieben, in dem sie dem
Ausschuss mitgeteilt hat, das Protokoll sei so richtig. Aber
sie hat genau das nicht gemacht, was sie versprochen hat,
nämlich den Ausschuss darüber zu informieren, dass in
der Zwischenzeit erstens Herr Kiep wegen der Gelder ei-
nen Brief an sie geschrieben hat und er zweitens 1 Mil-
lion DM auf ein CDU-Konto überwiesen hat. Sieht so das
Aufklärungsbemühen der Frau Merkel aus, ihr Verspre-
chen, dass sie dem Ausschuss mitteilt, was passiert, wenn
sich etwas Neues ereignet? Da muss man doch zweifeln.
Da muss man doch die Frage stellen: Hat Frau Merkel
im Untersuchungsausschuss die Wahrheit gesagt? Hat sie
wirklich alles auf den Tisch gelegt oder hat sie ein kleines
bisschen geschäublet, das heißt, ein bisschen zurückge-
halten, was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen
wollte?
So ähnlich hat sich Herr Hausmann im Untersu-
chungsausschuss verhalten, als wir ihm die gleichen Fra-
gen gestellt haben, warum er denn nichts mache, warum
er nicht die Unterlagen von Ihrem Bankkonto, von dem
Bankkonto der CDU in der Schweiz besorge. Jeder weiß,
dass er solche Unterlagen von seiner Bank beziehen kann.
Wenn Sie sich an Ihre Filiale wenden, dann bekommen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Andreas Schmidt
16322
Sie die Unterlagen. Wir haben Herrn Hausmann gebeten,
die Unterlagen zu besorgen, aus denen sich ergibt, wer
900 000 DM in bar auf das Konto in der Schweiz einge-
zahlt hat und wer von dem Konto in der Schweiz 1,2 Mil-
lionen DM in bar abgehoben hat. Das muss doch auf den
Belegen stehen. Wissen Sie, was er uns darauf gesagt bzw.
am 12. Oktober 2000 schriftlich mitgeteilt hat? Nach
Auskunft der Bank sind die Belege allerdings nicht mehr
vorhanden. Am 8. Februar 2001 hat er gesagt: Weitere
Dokumente sind nicht mehr vorhanden.
Vorgestern haben wir aber doch einen ganzen Stoß Un-
terlagen bekommen. Plötzlich sind sie doch vorhanden.
Heute lese ich zu meinem Leidwesen in der Berliner Zei-
tung, dass auch diese Unterlagen nicht vollständig sein
sollen, dass es noch weitere Dokumente gibt, die offenbar
bei der CDU oder bei der Bank sind und uns vorenthalten
werden.
So sieht die Aufklärung aus, die die CDU uns darbie-
tet. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie Ihren Ruf wirk-
lich loswerden wollen, wenn Sie den Fluch der bösen Tat
von Herrn Kohl und all den anderen loswerden wollen,
dann tun Sie was. Sitzen Sie nicht nur rum und sagen Sie
nicht alle paar Monate dasselbe, nämlich dass Sie aufge-
klärt haben, sondern lassen Sie diesen Worten endlich
Aufklärungstaten folgen.
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Max Stadler.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Ich verstehe den Wunsch
der CDU sehr gut, dass sie mit ihren neuen Konzepten
endlich wieder zur Sachpolitik zurückkehren möchte,
dass sie zum Beispiel zur Zuwanderungspolitik, zur Ren-
tenpolitik, zur Steuerreform und anderem gehört werden
möchte.
Aber ihre Mitglieder müssen ja schier verzweifeln, weil
das Thema CDU-Spendenskandal durch ihr eigenes Ver-
halten und durch ihren eigenen Umgang mit den Pro-
blemen, die aus ihren Reihen kommen, immer wieder zu
einem Thema in der Öffentlichkeit und im Untersu-
chungsausschuss wird. Der Umgang mit der Kiep-Million
war wieder ein Beispiel dafür.
So schwer war die Motivation von Herrn Kiep doch
auch nicht nachzuvollziehen. Wenn es nämlich richtig ist,
dass nahezu 1 Million DM jahrelang auf seinem Konto
gelegen hat, die in Wahrheit der CDU gehörte, dann ist
seit Jahren objektiv der Straftatbestand der Untreue von
Herrn Kiep gegenüber der CDU erfüllt. Nachdem die im
Rahmen seiner Befragung im Ausschuss zugesagte Über-
prüfung seiner Konten ergeben hat, dass sich fremdes
Geld darauf befindet, musste ihm sein Anwalt den Rat ge-
ben, dieses Geld so schnell wie möglich loszuwerden.
Denn ab dem Zeitpunkt der Entdeckung hätte er sich nicht
mehr auf Fahrlässigkeit und damit Straflosigkeit berufen
können. Wenn er das Geld behalten hätte, hätte er vor-
sätzlich gehandelt. Er wollte also einem Strafverfahren
zuvorkommen. Das ist ziemlich klar.
Unklar war aber die Herkunft der Gelder. In einer sol-
chen Situation gerade bei einem Absender wie Herrn
Kiep gibt es doch nur eine einzige sofortige Reaktion:
Wenn man es nicht sofort zurückweist, muss solches Geld
natürlich auf ein Sonderkonto gelegt werden, bis die Her-
kunft geklärt ist. Das wäre das Mindeste gewesen. Ich
habe mich schon sehr darüber gewundert, dass Sie dies of-
fenbar erst gemacht haben wenn Sie es schon vorher ge-
macht haben, ist es zumindest nicht öffentlich bekannt ge-
geben worden , nachdem Ihnen Guido Westerwelle am
27. April dieses Jahres im Frühstücksfernsehen diesen
Rat mit dem Sonderkonto gegeben hat. Ich verspreche Ih-
nen: Er wird jetzt nicht mehr die Zeit haben, um Ihnen
Ratschläge für die Lösung Ihrer Probleme zu geben.
Dies hätten Sie selbst wissen müssen. Sie hätten vor al-
len Dingen insbesondere aufgrund der Erfahrungen in der
Vergangenheit eines wissen müssen, nämlich dass einen
das, was man nicht selbst offensiv an die Öffentlichkeit
bringt, immer wieder einholt. Diese Erfahrung ist doch
aus der Weigerung von Helmut Kohl, die Namen der
Spender zu nennen, zu ziehen. Da er dies nicht macht, ist
es unvermeidlich, ihn im September wieder als Zeuge vor
den Ausschuss zu laden. Dann wird es wieder zum Thema
und dann wird es wieder einen Streit über die Frage ge-
ben, ob er die Aussage verweigern darf oder nicht. Dann
erfüllt sich Ihr Wunsch, zur Sachpolitik zurückzukehren,
wieder nicht. Das ist aber auch deswegen so, weil Sie
das ist aber etwas, das Sie entscheiden müssen von den
zivilrechtlichen Auskunftsmöglichkeiten, die Sie hätten,
keinen Gebrauch machen. Das haben wir nicht zu bewer-
ten; das ist Ihre Sache. Aber dann bleibt es eben ein
Thema.
Dadurch kommt auch der Ausschuss mit der Erfüllung
seiner eigentlichen Aufgabe nicht recht voran, nämlich
den schwierigen Komplex Leuna/Minol aufzuklären. Lei-
der ist der Ausschuss auch heute diesbezüglich keinen
einzigen Schritt weitergekommen, weil Staatssekretär
Diller einen nichts sagenden Auftritt geliefert hat. Man
kann schon anhand des Zeitplans erkennen, dass der Aus-
schuss allein aus Zeitgründen an dieser Thematik schei-
tern wird.
Wenn er am Ende doch noch etwas Gutes bewirken
soll, kann dies nur darin liegen, dass aus den Erkenntnis-
sen des Ausschusses Folgerungen für die Zukunft getrof-
fen werden. Ich meine, dass hierbei besonders ein Thema
in den Mittelpunkt der Diskussion rücken wird, auch
wenn das der SPD nicht gefällt. Zunächst war es ein Ent-
lastungsangriff der Union, stellt aber in Wahrheit ein sehr
ernsthaftes Problem dar. Es geht um die Frage: Ist es ei-
gentlich richtig, dass sich Parteien in dem Umfang wirt-
schaftlich betätigen dürfen, wie wir dies jetzt von der SPD
kennen gelernt haben?
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Hans-Christian Ströbele
16323
Es mag historische Gründe haben, aber es ist schon pro-
blematisch, wenn die vierte Gewalt im Staat, nämlich der
Journalismus, die Politik kontrollieren soll, aber Parteien,
die von den Medien kontrolliert werden sollen, selber um-
fangreiche Medienbeteiligungen haben. Dies wirft wieder
die alte Frage von Max Rheinstein auf: Wer kontrolliert
die Kontrolleure?
Darüber muss nachgedacht werden.
Es muss natürlich auch über Sanktionen bei Verstößen
gegen das Parteiengesetz nachgedacht werden. Manche
Sanktionen sind in ihrer Ausgestaltung zu stumpf. Andere
gehen zu weit, denn es ist nicht einzusehen, dass sehr weit
zurückliegende kleine Verstöße womöglich sehr weitrei-
chende finanzielle Konsequenzen haben. Dies ist alles
nicht im Lot.
Hiermit und etwa mit der Frage, wer eigentlich das Fi-
nanzgebaren der Parteien kontrollieren soll ob das wirk-
lich dem Bundestagspräsidenten zuzumuten ist, der doch
auch selber Partei ist , müssen wir uns beschäftigen. Dies
ist der eigentliche Ertrag, der noch aus der Arbeit des Un-
tersuchungsausschusses zu ziehen sein wird.
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als ich mir am Donnerstag
der letzten Woche die Nachrichtensendung angesehen
habe, hatte ich das Gefühl, ich sei in einer Zeitschleife ge-
fangen und in die Jahreswende 1999/2000 zurückversetzt:
Es geht wieder um 1 Million DM unbekannter Herkunft,
CDU-Größen finden sich im Blitzlichtgewitter wieder,
die CDU-Spendenaffäre ist der Nachrichtenaufmacher
und die CDU-Vorsitzende steht mit hilflosen Erklärungs-
versuchen vor den Journalisten.
Man könnte fast Mitleid haben, wenn das Problem
nicht hausgemacht wäre. Denn es hat einzig und allein ei-
nen Grund: Es sind das Unvermögen und schlicht der feh-
lende Wille, die alten ungelösten Probleme der Spenden-
affäre offensiv, transparent und konsequent zu lösen. Das
Wiederaufbrechen des Spendenskandals war deshalb nur
eine Frage der Zeit; aber es war unvermeidlich und kann
sich jederzeit wiederholen.
Wenn es nicht einen so ernsthaften Hintergrund hätte
und letztlich auf alle Parteien zurückfallen würde das
müssen wir uns hier bewusst machen , dann wäre die
zweite Kiep-Million ein Stoff, aus dem man eine Satire
machen könnte.
Man könnte fast meinen, Kiep hätte auf seine Weise mehr
Lehren aus der Spendenaffäre gezogen als die CDU. Denn
er hat sich doch relativ erfolgreich der Gelder zweifelhaf-
ter Herkunft entledigt und die Schwarze-Peter-Karte
wie in dem bekannten Kinderkartenspiel an die CDU
weitergereicht, nicht nach dem Motto Wer bekommt die
Million?, sondern frei nach dem Motto Wer muss die
Million behalten?. Das könnte ein neues Gesellschafts-
spiel für CDU-Politiker sein.
Die Überweisung, Verbuchung und Vertuschung der
Kiep-Million und auch die nachfolgenden hilflosen Er-
klärungsversuche stellen sich aber in Wirklichkeit als
Tragödie in mehreren Akten dar.
Der erste Akt besteht aus den doch relativ halbherzi-
gen, geradezu verschämten Versuchen der CDU, bei Kiep
als dem Solventesten der CDU-Spendenprotagonisten um
Schadensersatz nachzusuchen. Es werden keine Infor-
mationen an den Untersuchungsausschuss weitergegeben.
Auch auf direkte Nachfrage im Untersuchungsausschuss
Kollege Ströbele hat das vorhin sehr ausführlich ge-
schildert wird dazu geschwiegen.
Den zweiten Akt könnte man folgendermaßen über-
schreiben: Die CDU hätte gern eine Regresszahlung
bekommen und bekam stattdessen mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit eine Schwarzgeldmillion untergeschoben.
Aber anstatt sich im dritten Akt von diesem Geld-
segen zu distanzieren und für größtmögliche Transparenz
zu sorgen, das heißt den Geldbetrag entweder zurückzu-
überweisen oder ein Sonderkonto einzurichten und
insbesondere den Bundestagspräsidenten sowie den Un-
tersuchungsausschuss zu informieren, hat sie das Geld
erst einmal angenommen, obwohl Kiep in seinem Schrei-
ben vom März dieses Jahres keinen Zweifel daran gelas-
sen hat, dass das Geld unbekannter Herkunft ist. Ob man
ihm das glauben darf, kann man dahingestellt lassen. Of-
fensichtlich in dem irrtümlichen Glauben, man könnte
jetzt reibungsarm handeln und würde nicht noch einmal in
der Öffentlichkeit mit Schadensersatzforderungen kon-
frontiert, hat man versucht, eine Verrechnung vorzuneh-
men. Dass das nicht klappt, war von vornherein klar. Das
musste einfach schief gehen.
Hieran zeigt sich die immer noch in gewissen Teilen
vorhandene alte Mentalität, diese Angelegenheiten unter
sich regeln zu wollen, von außen keine Luft heranzulas-
sen das erinnert sehr an die Reichmann-Affäre und
eine Schadensbegrenzung um jeden Preis durchzuführen.
Der vierte Akt ist das hausmannsche Notgeständnis
und das Krisenmanagement, das eigentlich gar keines
war; dazu will ich weiter nichts sagen.
Der fünfte Akt wird wahrscheinlich in Kürze folgen:
Das ist der kiepsche Bericht. Dass da noch einiges an
Überraschungen auf uns zukommen kann, das ist, so
glaube ich, allen klar.
Zum Schluss möchte ich noch zwei Bemerkungen an-
fügen: Zum einen hat die Überweisung dieser 1 Mil-
lion DM deutlich gemacht, dass die Aufklärung der Spen-
denaffäre keinesfalls abgeschlossen ist. Das merke ich an
mir selber. Denn je tiefer ich in das Kontengeflecht, das
vor allem Herr Weyrauch zu verantworten hat, eindringe,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Max Stadler
16324
desto mehr stoße ich auf ungeklärte Fragen. Das ist wie
ein Knäuel, bei dem man noch ganz viele offene Enden
hat, die miteinander verknotet werden müssen. Man kann
ziehen, wo man will, man stößt immer wieder auf Neues.
Ich bin unlängst bei meinem Besuch der Staatsanwalt-
schaft in Bonn auf etliche Konten gestoßen, deren Exis-
tenz ich bisher nicht einmal kannte und von denen bisher
nur die Kontonummern bekannt sind. Da kommt noch ei-
niges an Arbeit auf Sie zu. Da werden Sie ganz bestimmt
unter Beweis stellen können, inwieweit Sie zu Ihren
früheren Banken gute Beziehungen haben und die not-
wendigen Unterlagen herbeischaffen können.
Zum anderen geht die Taktik, auf halbem Wege stehen
zu bleiben und wider besseres Wissen die Aufklärung der
Spendenaffäre für beendet zu erklären, einfach nicht auf.
Denn der Ansehensverlust der CDU wird größer, je wei-
ter sich die jetzigen Fehlentscheidungen vom Ausbruch
der Spendenaffäre entfernen. Man nimmt Ihnen den Neu-
anfang in personeller Hinsicht einfach nicht mehr ab.
Ich gebe das
Wort der Kollegin Inge Wettig-Danielmeier für die Frak-
tion der SPD.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich wundere mich über gar
nichts mehr, sang Otto Reutter in einem populären Cou-
plet. So und nicht anders kann man wohl die Enthüllun-
gen aus der Finanzpraxis der CDU kommentieren.
Mich hat schon vor einem Jahr der veröffentlichte
Prüfbericht von Ernst & Young gewundert. Danach soll-
ten mehr als 12 Millionen DM verschwunden, sozusagen
verdampft sein. Im April 2000 spricht Herr Schäuble auf
dem Parteitag der CDU von 10 Millionen DM, deren Her-
kunft und Ausgabe ungeklärt sind. Sie fassen dort schnei-
dige Beschlüsse und führen uns geradezu eine Sauber-
keitsoper vor: mani pulite, saubere Hände.
Ein Jahr später erfahren wir, dass Sie nichts, gar nichts ge-
tan haben, um die verschwundenen Millionen zurückzu-
fordern.
Eines wissen wir seit Kieps Brief genauer: Finanzielle
Transaktionen liefen über private Konten, Parteigelder
wurden außerhalb des Wirtschaftsplans der Partei bewegt
und Vorständen, Revisoren und Wirtschaftsprüfern ver-
schwiegen; auch in den Rechenschaftsberichten tauchen
sie nicht auf. Schließlich verteilten die Finanzverantwort-
lichen wie in einem Hollywood-Film über die Mafia
die Restsummen unter sich.
Staunend erfahre ich genauso wie ein Millionenpubli-
kum, dass Sie mit Herrn Kiep, der immerhin mehr als
zwei Jahrzehnte Ihr Schatzmeister war, nur über Anwälte
verkehren. Einen Gesprächsversuch mit dem Ziel der
Aufklärung scheint es nicht gegeben zu haben. Die juris-
tischen Möglichkeiten zur Aufklärung scheinen noch
nicht einmal angekündigt worden zu sein. Das nennen Sie
Aufklärung? Ich halte das für den brutalstmöglichen
Verzicht auf Aufklärung.
Nun wird uns immer wieder von Ihnen und auch von
einigen Medien unterstellt, wir empfänden am Debakel
der CDU-Führung eine klammheimliche Freude. Dem
muss ich widersprechen. Die CSU müsste dem noch viel
lauter widersprechen; denn sie hat ja nicht so viel Dreck
am Stecken. Es ist so, wie Franziska Augstein im Mer-
kur schreibt:
Der Dreck, der da hochgewirbelt wird, fällt auf uns
alle wieder herunter.
Wir sind über Ihren Fortsetzungsskandal überhaupt
nicht erfreut. Wir erfahren zunehmend die Belastungen,
die er für alle Parteien bringt. Es reicht nicht aus, dass Sie
hektisch mit neuen Reformvorschlägen aufwarten. Nicht
das Parteiengesetz hat den Skandal ausgelöst, sondern
eine Verletzung dieses Gesetzes durch prominente CDU-
Politiker.
Deswegen täuschen Sie auch die Öffentlichkeit, wenn Sie
ihr vorspielen, ein verändertes Parteiengesetz mache
Skandale dieser Art unmöglich. Wir können das Gesetz
ändern. Aber dies wird nichts verändern, wenn Sie nicht
Ihre Gesinnung ändern, und zwar im Bund und in den
Ländern.
Das Parteiengesetz kann man ändern; Sie aber müssen
sich ändern.
Damit das zu keinem Missverständnis führt oder von
Ihrer Seite gegen uns benutzt wird: Wir wollen das Gesetz
sehr wohl verändern und arbeiten daran.
Noch ein Wort zu den angestrengten Versuchen des
CDU-Kollegen Schmidt, der SPD eine permanente Ver-
letzung des Parteiengesetzes anzuhängen. Langsam
müsste Ihnen doch klar werden, dass diese Versuche der
üblen Nachrede nicht funktionieren. Sie erzählen alte Ge-
schichten ohne Belege, die durch Wiederholen nicht plau-
sibler werden. Sie wissen genau, dass wir uns außerhalb
von Aufbewahrungsfristen befinden, die vieles nicht mehr
rekonstruierbar machen. Die berühmten anonymen Spen-
den haben Sie hier verlesen, ohne die anonymen Spenden
der CDU, der CSU, der F.D.P. und des Südschleswigschen
Wählerverbandes zu nennen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Evelyn Kenzler
16325
Die neuen Geschichten, die Sie erfinden, sind ohnehin
Kokolores und belegbar falsch. Besonders infam finde
ich, dass Sie ehrlich erworbenes Vermögen kri-
minalisieren wollen. Die Verfolgungen des Kaiserreiches
haben dessen Entstehung nicht verhindern können. Die
Nazis haben viel davon zerstört, aber sie konnten uns
nicht dauerhaft enteignen, ebenso wenig die SED durch
die Zwangsvereinigung.
Unser Vermögen ist nicht durch Koffergeschäfte ent-
standen. Seinen Grund legten Arbeit und unternehmeri-
sches Geschick. Es hat Höhen und Tiefen erlebt. Stets
wurde es für legale Zwecke eingesetzt. Sie werden sich
schon ein wenig mehr einfallen lassen müssen, denn Sie
werden uns gut vorbereitet finden.
Herr Stadler, wir haben nichts gegen Überlegungen zur
Begrenzung der Medienkonzentration für alle.
Eine dritte Enteignung der SPD wird Ihnen jedenfalls
nicht gelingen.
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Dr. Hans-Peter Friedrich für die
Fraktion der CDU/CSU.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Wettig-
Danielmeier, ich wundere mich hier auch über nichts
mehr. Es ist wirklich allerhand, dass jemand, der wie Sie
im Glashaus sitzt, hier mit Steinen um sich wirft.
Ich habe erwartet, dass Sie zu den neuen Vorwürfen,
die erst vor wenigen Wochen aufgetaucht sind, Stellung
nehmen. Sie hätten einmal erklären können, wie die SPD
einer Rücklage 8,3 Millionen DM entnimmt nicht 1 Mil-
lion DM und diese Rücklage dabei stabil bleibt.
Das hätten Sie nach Ihrem Herumeiern im Untersu-
chungsausschuss, als Sie nicht erläutern konnten, wie Sie
irgendwelche Einnahmen wegsaldiert haben, einmal er-
klären können.
Beim Thema Naphtalie-Stiftung können Sie sich wirk-
lich nur darauf berufen, dass die Staatsanwaltschaft da-
mals nicht weiter ermittelt hat, weil die Personen, um die
es ging, nicht mehr am Leben waren.
Meine Damen und Herren, es ist schon bezeichnend:
Die größte Regierungsfraktion in diesem Hause hat in ei-
ner Woche, in der es wirklich um wichtige Probleme in
diesem Land geht, nicht etwa eine Aktuelle Stunde zur Ar-
beitsmarktlage, zur Europapolitik, zur Wirtschaftspolitik
oder zur Sozialpolitik beantragt, sondern zu einer Über-
weisung von Herrn Kiep an die CDU. Das zeigt, dass es
Ihnen im Grunde immer nur um das eine geht: die CDU
zu diffamieren.
Dieses Ablenkungsmanöver der Regierungskoalition ist
das eigentlich Klägliche, Jämmerliche an der ganzen Ge-
schichte.
Ich darf Sie daran erinnern: Vor anderthalb Jahren hat
der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Fraktio-
nen den Untersuchungsausschuss eingesetzt. Vor über ei-
nem Jahr hat die CDU in einer vorbildlichen Art und
Weise unter ihrem Parteichef Wolfgang Schäuble die Un-
regelmäßigkeiten der Kassenführung aus der Vergangen-
heit offen gelegt und aufgedeckt.
Der Untersuchungsausschuss hat in seiner bisherigen
Tätigkeit von eineinhalb Jahren bisher Punkt für Punkt
das, was die CDU aufgedeckt hat, bestätigen können.
Neue Sachverhalte und Tatsachen keine Verdächtigun-
gen; Sie, Herr Ströbele, werfen doch nur Schlamm um
sich sind bisher nicht aufgetaucht.
Es ist ohne Frage richtig, dass die gesamte Spendenaf-
färe der CDU in der Öffentlichkeit geschadet hat. Es ent-
spricht den Gepflogenheiten der politischen Auseinander-
setzung, dass die SPD dies ausgeschlachtet hat. Ich
bedauere allerdings sehr, dass dabei allzu oft die Grenzen
der politischen Fairness überschritten worden sind.
Das, was Sie seit nunmehr zwei, drei Wochen betrei-
ben, was Sie gegen die CDU-Führung unter Angela
Merkel inszenieren, sprengt allerdings die Grenzen des
politischen Anstandes,
denn Sie wissen ganz genau: Egal, ob diese Überweisung
von Herrn Kiep
die Erfüllung von Schadenersatzansprüchen war wie die
CDU geglaubt hat oder ob es eine Rückzahlung von
Geldern war,
die der CDU gehören, in keinem Fall liegt ein Verstoß ge-
gen das Parteiengesetz vor.
Trotzdem versuchen Sie mit einer billigen Kampagne, die
CDU-Führung zu diskreditieren.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Inge Wettig-Danielmeier
16326
Herr Ströbele, ich sage Ihnen eines: Ob und wann die
CDU Regress von irgendjemandem verlangt, das geht Sie
nichts an. Das ist eine Angelegenheit der CDU.
Sie können das im Protokoll nachlesen.
Die Frage, was letzten Endes das Motiv für Herrn Kiep
war, das Geld zu überweisen, kann einzig und allein er
selbst beantworten. Selbst die Vermutung, dass es sich um
Geld aus dem Norfolk-Konto handelt, kann weder die
CDU noch der Untersuchungsausschuss belegen. Wir
warten Andreas Schmidt hat es deutlich gemacht auf
das klärende Wort von Herrn Kiep.
Es fällt auf, dass sich das erste Mal in der ganzen De-
batte auch Bundeskanzler Schröder zu Wort gemeldet
hat: Er hat der CDU in Zusammenhang mit der jüngsten
Überweisung Politikunfähigkeit vorgeworfen. Ausge-
rechnet jetzt das ist das Merkwürdige , wo er vor dem
Scherbenhaufen seiner Arbeitsmarktpolitik steht,
ausgerechnet jetzt, wo sich herausstellt wir haben das in
der Debatte vorhin gehört , dass seine Steuerreform ein
einziger Flop war,
jetzt, wo sich zeigt, dass die rot-grüne Rentenreform
nichts weiter als ein absurdes Bürokratenmonster gebiert,
schickt Herr Schröder seine Diffamierungsexperten wie-
der an die Front.
Aber ich bin mir sicher: Die deutsche Öffentlichkeit
wird sich nicht täuschen lassen.
Die Spendenaffäre ist ohne Frage ein unschönes, aber sie
ist ein abgeschlossenes Kapitel. Sie gehört der Vergan-
genheit an.
Die Menschen in diesem Lande haben einen Anspruch da-
rauf, dass sich diejenigen, die in Berlin Politik machen,
mit der Zukunft befassen. Bisher haben Sie es mit Ihrer
rot-grünen Mehrheit nur fertig gebracht, das Land zum
Schlusslicht in der Europäischen Union zu machen.
Eine Regierungsmehrheit, die ihre Hauptaufgabe in der
Diskreditierung des politischen Gegners, der Opposition,
sieht,
statt in der Gestaltung, wird ihre Quittung bekommen. Die-
ses Vertrauen in die Menschen in diesem Lande habe ich.
Vielen Dank.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort dem
Kollegen Cem Özdemir.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sollten nicht
unfair sein; denn wem von uns ist es nicht schon einmal
passiert, dass er eine Rechnung übersehen hat, dass er ver-
gessen hat, eine Überweisung zu tätigen? Insofern, so
denke ich, sollten wir fair sein im Umgang mit unseren
Kollegen von der Union. Auch ich habe, nachdem ich das
mit Herrn Kiep gelesen habe, erst einmal auf mein eige-
nes Konto geschaut und geprüft, ob ich nicht vielleicht
1 Million DM übersehen habe. Leider habe ich nichts der-
gleichen festgestellt und mich danach auch gleich gefragt:
Was hat dieser Kiep, was unsereiner nicht hat? Warum
werden wir nicht mit Millionenspenden bemüht?
Aber Spaß beiseite! Das, was Sie, meine Damen und
Herren von der Union, hier in Sachen Aufklärung vorge-
legt haben, ist nicht nur völlig unhaltbar, sondern ein
Skandal für diese Demokratie.
Herr Kollege Friedrich, Sie haben eben auf die The-
men, die auf der Tagesordnung stehen, verwiesen. Sie ha-
ben die Rentenreform, über die wir gegenwärtig reden
und über die in diesen Tagen entschieden wird, vergessen.
Wir müssen Rentnern erklären, dass sie nach einem lan-
gen Leben der Arbeit mit einer Rente auskommen müs-
sen, die für viele sehr bescheiden ist im Vergleich zu dem,
was andere verdienen. Ebendiesen Menschen müssen wir
erklären, dass einige bei Ihnen Probleme damit haben,
ihre Millionen sortiert zu bekommen. Ich frage Sie ernst-
haft: Glauben Sie selber daran, dass Sie regierungsfähig
sind? Ich glaube, die Union ist von der Regierungsfähig-
keit gegenwärtig ungefähr so weit entfernt wie die F.D.P.
von ihren 18 Prozent.
Insofern kann dieser Republik nichts Besseres passieren,
als wenn diese Partei so lange wie möglich da bleibt, wo
sie hingehört, auf den Oppositionsbänken.
Herr Friedrich, Sie haben vorhin gesagt, dass man ver-
suche, die Union zu diffamieren. Ich glaube, umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Das, was Herr Kiep gemacht hat
und was in dessen Folge Sie tun , ist der Versuch, die
ganze Demokratie zu diffamieren. Sie schaden uns allen
hier: Sie schaden sich; Sie schaden denen, die in der
Union anständig Politik machen; Sie schaden Ihren
Mitgliedern an der Basis; Sie schaden denjenigen, die für
Politik, für Demokratie werben, dafür, dass sich junge
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Hans-Peter Friedrich
16327
Leute in unseren Parteien engagieren. Das wird unsere Ar-
beit nicht erleichtern. Insofern bitte ich Sie: Helfen Sie
nicht nur sich selber, sondern helfen Sie uns allen, diese
Demokratie attraktiv zu machen. Das, was Sie hier ma-
chen, ist Antiwerbung für Demokratie, Antiwerbung für
Parlamentarismus, Antiwerbung für den Bundestag. Des-
halb: Hören Sie auf damit, diese Gesellschaft und die De-
mokratie zu diffamieren!
Wir führen in diesen Tagen ja eine Integrationsdebatte.
Ich will einmal einen anderen Aspekt in die Integrati-
onsdebatte einbringen: Meines Erachtens sind die Herren
Kohl, Kanther und Kiep und wie sie alle heißen nicht
integrationsfähig. Kohl ist weder integrationsfähig noch
integrationswillig.
Wenn die Union ernsthaft ein Interesse daran hat, mit
dieser ganzen Affäre Schluss zu machen, dann schmeißen
Sie diese Herren endlich raus. Ziehen Sie einen klaren
Schlussstrich! Machen Sie eine Neuordnung! Sagen Sie,
dass diese Union damit nichts mehr zu tun hat. Dann
nimmt man Ihnen ab, dass Sie integrationswürdig sind
und dass Sie sich den Problemen dieser Gesellschaft
ernsthaft zuwenden wollen. Solange Sie diesen klaren
Strich nicht ziehen den Willen hierzu kann man bei Ih-
nen offensichtlich nicht erkennen , so lange wird die
Union in diesem Trubel gefangen sein. Darüber kann sich
niemand ernsthaft freuen; denn die Union ist als kräftige
Oppositionspartei in dieser Demokratie notwendig.
Was wir dringend brauchen Frau Wettig-Danielmeier
hat darauf hingewiesen : Wir müssen das Parteiengesetz
ändern; denn ganz offensichtlich sind die Transparenzre-
gelungen nach wie vor nicht streng genug, die Summe, ab
der Spenden veröffentlicht werden müssen, ist nach wie
vor zu hoch. Darum haben die Grünen erste Überlegun-
gen vorgelegt. Wir hoffen, dass wir noch in dieser Legis-
laturperiode, auch mit Unterstützung der Opposition, ein
neues Parteiengesetz vorlegen können.
Ich will zum Schluss eines klarmachen: Dieses Partei-
engesetz ist nicht unser Gesetz. Es ist ein Gesetz, das Sie
vorgelegt haben, und zwar nicht irgendwann, sondern
nach der Erschütterung der Republik durch den Flick-
Skandal. Nach dem Flick-Untersuchungsausschuss hat
die Union gemeinsam mit der F.D.P. dieses Gesetz vorge-
legt. Sie haben also nicht gegen ein Gesetz von Rot-Grün
verstoßen und auch nicht gegen eines, das aus der Zeit
Kaiser Wilhelms stammt. Sie haben gegen das Gesetz ver-
stoßen, das die Unterschrift von Dr. Helmut Kohl trägt,
dem ehemaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland.
Auch dies sollten Sie bedenken, wenn Sie in diesen Ta-
gen davon reden, dass es Unklarheiten gebe. Es gibt keine
Unklarheiten mit diesem Gesetz. Das Einzige, was unklar
ist, ist die Haltung von manchen in Ihrer Partei zur
Rechtsstaatlichkeit.
Herzlichen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Harald Friese.
Herr Präsident! Meine sehr ge-
ehrten Kolleginnen und Kollegen! Die schönsten Satiren
schreibt immer noch das Leben. Da die CDU ja mitten
im Leben steht, könnte man versucht sein, zu sagen: Bei
der Inszenierung der zweiten Kiep-Million handelt es sich
um eine Satire mit hohen Staatsschauspielern.
Man muss sich das Geschehen wirklich einmal bildlich
vorstellen: Walther Leisler Kiep sitzt eines schönen
Abends in seinem Haus im Herrenzimmer, hat eine Fla-
sche trockenen Rheingauer Rieslings vor sich stehen und
ihm ist langweilig. Musik, Gespräche und Lektüre können
ihn nicht erheitern. Er denkt: Jetzt gehe ich einmal in mein
Arbeitszimmer und blättere die Kontoauszüge der
Jahre 1992 und 1993 durch. Bildlich gesagt: Er lässt die
Millionen durch seine Hände gleiten. Er stellt fest: Es gibt
Eingänge, deren Herkunft er sich nicht erklären kann. Er
rechnet Pi mal Daumen die Zinsen und die Zinseszinsen
aus, rundet nach oben auf und überweist 1 Million DM an
die CDU. So muss man sich das vorstellen.
Etwas ist dabei unklar: Komischerweise hat Herr Kiep
die Beträge, die ihm unklar waren, in den Jahren 1992 und
1993 als Einkünfte versteuert. Das ist merkwürdig. Merk-
würdig ist auch, dass die CDU diese Million getreu nach
dem Grundsatz kassierte das haben wir in der Partei-
spendenaffäre erlebt : Pecunia non olet. Sie hat darauf-
hin widersprüchliche Erklärungen abgegeben. Einmal
waren es Gelder der Norfolk-Stiftung, womit das Geld
rechtlich darüber gebe es keine Bedenken der CDU
gehöre. Dann waren es Vorauszahlungen auf Regressfor-
derungen, von denen wir erfahren haben, dass sie die
CDU noch gar nicht erhoben hat.
Ich frage mich wirklich: Für wie dumm hält die CDU
die Öffentlichkeit, die Mitglieder dieses Parlaments und
den Parlamentspräsidenten? Wenn man es freundlich aus-
drückt, kann man nur noch von einer Irreführung der
Behörden sprechen. Wenn man es so sagen will, wie es ist,
heißt das: Hier wird die deutsche Öffentlichkeit bewusst
verarscht.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Sie ha-
ben nichts gelernt. Sie verhalten sich nach anderthalb Jah-
ren Parteispendenskandal genauso, wie Sie es immer ge-
tan haben: vertuschen, verdecken, verdrängen, vergessen.
Immer das gleiche Ritual. Sie haben im Umgang mit Geld
nichts gelernt. Sie haben keine Sensibilität in Bezug auf
Geld entwickelt. Immer sind die anderen schuld. Diesmal
ist es Kiep. Die Partei ist natürlich nicht schuld. Aufge-
drängte Bereicherung würde dies vielleicht ein Jurist nen-
nen.
Dann kommen wieder die Vorwürfe aus den 80er-Jah-
ren. Herr Schmidt, das haben wir schon x-mal diskutiert.
Das, wovon Sie reden, war ein anderes Parteiengesetz, das
anonyme Sammelspenden erlaubte. Das war zulässig.
Deswegen ist das Parteiengesetz geändert worden. Ihre
Vorwürfe werden nicht dadurch richtiger, dass Sie sie
ständig wiederholen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Cem Özdemir
16328
Es kann uns ja noch egal sein, wenn die CDU durch ihr
Verhalten ihre Glaubwürdigkeit verliert. Es kann uns auch
egal sein, wenn die Parteivorsitzende der CDU ihre
Glaubwürdigkeit verloren hat. Nicht egal sein kann uns
aber die Tatsache, dass in der Vergangenheit nichts die po-
litische Kultur in diesem Lande mehr beschädigt hat als
die Schwarzgeldaffäre der CDU.
Politische Kultur bedeutet Öffentlichkeit und Transpa-
renz und sie bedeutet Vertrauen und Glaubwürdigkeit.
Vertrauen ist, wie Wilhelm Hennis, der Nestor der Politi-
schen Wissenschaft in Deutschland, sagt, die seelische
Grundlage der repräsentativen Demokratie.
Da muss ich an Sie die Frage richten: Merken Sie ei-
gentlich nicht, was Sie tun? Merken Sie es wirklich nicht?
Wenn Sie sich jetzt noch als Hüterin des Parteienge-
setzes aufspielen, so muss ich sagen: Klären Sie erst ein-
mal Ihr Verhältnis zum Geld. Dann können wir uns darü-
ber unterhalten. Haben Sie erst einmal den Willen, das
Parteiengesetz und Art. 21 des Grundgesetzes einzuhal-
ten. Ich möchte hier feststellen: Sie haben gegen das Par-
teiengesetz verstoßen, nicht wir. Sie waren es!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen
darüber besteht wohl Einvernehmen das Parteiengesetz
noch in dieser Legislaturperiode novellieren. Wir werden
aber zunächst die Vorschläge abwarten, die die vom Bun-
despräsidenten eingesetzte Kommission vorlegen wird.
Das gebietet schon der Respekt vor dieser Kommission
und auch die Tatsache, dass sie vom Bundespräsidenten
eingesetzt wurde.
Eines kann ich Ihnen aber jetzt schon, unabhängig von
diesen Vorschlägen, sagen: Wir brauchen keine grundle-
gende Revision des Parteiengesetzes. Das Parteiengesetz
hat sich bewährt. Wer sich daran halten wollte, konnte
dies tun. Bei Ihnen hätte nicht einmal die Vorschrift eines
§ 17a des Parteiengesetzes etwas bewirkt, die gelautet
hätte: Es ist verboten, gegen das Parteiengesetz zu ver-
stoßen. Meine Damen und Herren von der CDU, ich will
Ihnen klipp und klar sagen: Sie sind nicht Opfer eines un-
klaren Parteiengesetzes, Sie sind vorsätzliche Täter.
Ich bitte Sie: Begreifen Sie das endlich! Das würde auch
der politischen Kultur in Deutschland gut tun.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Dietmar Schlee, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist eigent-
lich die Stunde des Untersuchungsausschusses. 99 Pro-
zent der Punkte, die in dieser Debatte angesprochen wor-
den sind, betreffen den Untersuchungsausschuss, sind
Vorgänge, die im Untersuchungsausschuss aufgeklärt
werden müssen. Soweit sie nicht schon aufgeklärt worden
sind, müssen sie nun schnell aufgeklärt werden.
Statt dies zu tun, führen Sie hier eine Aktuelle Stunde
durch, die so unnötig ist wie ein Kropf. Diese Debatte
dient natürlich nicht der Aufklärung, nicht der Wahrheits-
findung, sondern ausschließlich der Ablenkung von den
außerordentlich windigen Ergebnissen, die Sie bisher im
Untersuchungsausschuss erzielt haben.
Neben der Perpetuierung der Problematik der Parteispen-
den ist das offensichtlich der Sinn dieser Debatte.
Die Machart, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ist immer dieselbe.
Da werden Vorwürfe medienwirksam aufgepumpt, da
wird bei jedem Vorgang Skandal, Skandal! gerufen.
Wenn dann die Dinge im Untersuchungsausschuss behan-
delt werden und die blauen und roten Luftballons, die Sie
haben steigen lassen, im Ausschuss zerplatzen,
dann hoffen Sie, dass sich die Öffentlichkeit an das ganze
Theater, das Sie zuvor veranstaltet haben, an all die Vor-
würfe nicht mehr erinnert, dass dies alles still und leise
beerdigt wird.
Beispiel Nummer eins: Was haben Sie von der rot-grü-
nen Koalition Mitgliedern der früheren Bundesregierung
im Zusammenhang mit der Lieferung von Panzerfahrzeu-
gen nach Saudi-Arabien nicht alles vorgeworfen! Wir ha-
ben dieses Thema im Untersuchungsausschuss Stunden
um Stunden, Tage um Tage behandelt. Ergebnis: Die da-
malige Bundesregierung hat sich korrekt verhalten.
Herr Stünker, das ist das Ergebnis. Dass Sie das anders
haben wollen, merke ich im Untersuchungsausschuss.
Ihre verzweifelten Versuche, sich an irgendeinem Stroh-
halm festzuhalten, sind doch offensichtlich. Wenn Sie das,
was Sie gesagt haben, mit dem vergleichen, was am Ende
herausgekommen ist, muss man feststellen, dass Sie ein
Debakel erlebt haben. Der erste bunte Luftballon ist zer-
platzt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Harald Friese
16329
Ich will Ihnen ein zweites ganz frisches Beispiel
nennen: Wir haben gestern im Untersuchungsausschuss
den Komplex mit den Eisenbahnerwohnungen wohl ab-
schließend behandelt. Nun hat Herr Ströbele im Zusam-
menhang mit IG Farben noch ein Spezialthema aufgegrif-
fen, das in den nächsten Monaten intensiv behandelt
werden müsse. Sie sollten sich jetzt einmal hinstellen und
sagen, dass an all den Vorwürfen, die Sie in Sachen Ei-
senbahnerwohnungen vorgetragen haben, nichts dran ist.
Sie sollten zugeben, dass Sie auch in diesem Zusammen-
hang einen Luftballon haben steigen lassen und dass Ih-
nen dieser Luftballon spätestens gestern Abend geplatzt
ist.
Beispiel Nummer drei: Auch im Zusammenhang mit
Leuna/Minol gab es seit vielen, vielen Jahren Vorwürfe,
Verdächtigungen und Spekulationen, die geschürt wur-
den. Diese Sache hat eine außenpolitische Dimension.
Diese Vorwürfe haben uns im Ausland nachhaltig gescha-
det. Dieses Thema hätte daher allein aus außenpolitischen
Gründen sehr rasch behandelt werden müssen. Sie verzö-
gern das aber seit anderthalb Jahren; Sie gehen an die Sa-
che nicht heran, weil irgendeiner, der die Akten gelesen
hat, festgestellt hat, dass an der Geschichte nichts dran ist.
Herr Ströbele, an dieser Geschichte ist nichts dran!
Sie haben möglicherweise vor der Presse geschickt tak-
tiert, indem Sie auf Staatssekretär Diller abgelenkt haben.
Herr Diller ist Teil einer Strategie; er hat die Dinge dila-
torisch behandelt. Sie wollen die Sache nämlich nicht auf-
klären, sondern bis zum Ende der Legislaturperiode be-
treiben.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluss kom-
men. Nur noch einen Satz, bitte.
Das ist genau das, was
Sie wollen.
Nun haben Sie einen besonders bunten Ballon in Sa-
chen Kiep gestartet. Dieser Ballon wird im Untersu-
chungsausschuss das gleiche Schicksal erleiden wie Ihre
bisherigen Ballone, was ich Ihnen als Beispiele eins bis
drei verdeutlicht habe. Die Frage ist nur, wann das ge-
schehen wird. Dabei hoffen Sie auch wieder, dass die Öf-
fentlichkeit dann nicht mehr weiß, was Sie heute an un-
haltbaren Vorwürfen verbreitet haben.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Friedrich, Sie tun sich
auch im Untersuchungsausschuss nicht gerade mit Auf-
klärungswillen hervor, sondern mit unqualifizierten
Zwischenrufen; so viel zu Ihrem Beitrag hier.
Herr Schlee, Sie haben gesagt, die Machart sei immer
die gleiche. Dem kann man zustimmen: Täuschen und
Tricksen, Vertuschen und Verschweigen kennzeichnen
den Umgang der Union mit Geld. Dabei steht Frau Merkel
in der Kontinuität ihrer Vorgänger.
Es geht nicht um Peanuts, es geht um Millionen; es
geht um die Schreiber- oder Panzer-Million, um die Hes-
sen-Millionen, die Siemens-Millionen, die Ehlerding-
Millionen, anonymisierte Spender-Millionen und jetzt
eben um die Kiep-Million. Es geht dabei nicht nur um
CDU-interne Vorgänge, sondern auch um Glaubwürdig-
keit und um das Einhalten von Recht und Verfassung; es
geht um Spielregeln in einer Demokratie. Es geht um das
Gebot der Transparenz der Parteifinanzen und um die
Nachvollziehbarkeit von politischen Entscheidungen. Bis
heute ist ungeklärt, woher das Geld stammt, wer die an-
geblichen Spender sind, zu welchem Zweck das Geld ge-
spendet wurde, wer über das Geld verfügte und wer Geld
wofür erhielt.
Seit Monaten beschäftigen sich die Öffentlichkeit und
inzwischen auch mehrere Untersuchungsausschüsse so-
wie Staatsanwaltschaften im In- und Ausland mit diesen
Vorgängen. Die Zeit des Mauerns und Vertuschens ist vor-
bei, Frau Merkel. Sie haben dem Untersuchungsaus-
schuss zugesagt, ihn über Ihre Erkenntnisse auf dem Lau-
fenden zu halten. In dem Formblatt, mit dem die Zeugen
ihr Protokoll zur Korrektur übersandt bekommen, heißt
es:
Für den Fall, dass Sie Ihre Aussage inhaltlich ergän-
zen möchten bzw. eine dahingehende Zusage in Ihrer
Vernehmung gegeben haben, bitte ich Sie, diese
Ergänzungen jeweils auf einem gesonderten Blatt
vorzunehmen.
Obwohl Frau Merkel bereits am 17. April über den Ein-
gang der Kiep-Million Bescheid wusste, hat sie dem Un-
tersuchungsausschuss nichts mitgeteilt. Weshalb nicht?
Hat das etwa auch Herr Hausmann zu verantworten?
Herr Kohl war Vorsitzender der CDU. Alles lag in sei-
ner Hand. Nichts geschah ohne sein Wissen. Aber er ver-
schweigt beharrlich die Namen der Spender, kann sich an
entscheidende Vorgänge nicht erinnern und hält die gegen
ihn erhobenen Vorwürfe für abwegig. Dabei steht fest:
Entscheidungen der ehemaligen Bundesregierung und
Millionenspenden stehen in einem engen zeitlichen Zu-
sammenhang, auch die Ehlerding-Spende, Herr Schlee.
Verdächtigungen können nicht entkräftet werden, weil die
Entscheidungen nicht mehr nachvollziehbar sind. Akten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dietmar Schlee
16330
wurden vernichtet, geflöht und weggeschafft. Daten
wurden gelöscht. Ein Geflecht von Anderkonten,
Treuhandkonten, Sonderkonten, Auslandskonten und
Stiftungen, nicht nur bei der Bundes-CDU, sondern auch
bei Landesverbänden, war gängige Praxis. Ein- und Aus-
zahlungen wurden in bar vorgenommen. Das Geld wurde
in Safes deponiert, in Koffern transportiert und anonymi-
siert.
Die Geldkofferträger teilten großzügig beträchtliche
Summen unter sich auf und belohnten sich für ihre Arbeit.
Alle Beteiligten wissen nichts mehr, wollen oder können
nichts sagen, wollen oder können sich nicht erinnern oder
sind auf der Flucht.
Nun der Blick auf heute: Als sich Frau Angela Merkel
Ende 1999 in einem Artikel in der FAZ von Helmut
Kohl distanzierte, stellte sie sich als Aufklärerin dar und
verkörperte für viele den sauberen Neubeginn. Aber die
selbst ernannten Saubermänner und -frauen setzen nur da-
rauf, dass das Interesse der Öffentlichkeit an der Affäre
nachlässt. Doch die Vergangenheit holt die CDU immer
wieder ein. Brutalstmögliche Aufklärung bleibt ein Lip-
penbekenntnis. Fristen, in denen Belege anzufordern sind,
die Aufschluss über Geldflüsse geben könnten, verstrei-
chen ungenutzt. Schadenersatz wird nicht geltend ge-
macht. Millionenbeträge tauchen auf und werden ange-
nommen. Die Öffentlichkeit wird erst nach wichtigen
Landtagswahlen informiert. Als Zweifel an der Recht-
mäßigkeit auftreten, gibt es wortreiche und widersprüch-
liche Erklärungen. Täuschen und tricksen, vertuschen und
verschweigen das war der Stil von Helmut Kohl und das
ist auch der Stil von Angela Merkel.
Frau Merkel hat erklärt: Was Herr Kiep uns und der
deutschen Öffentlichkeit bietet, ist eine Zumutung. Frau
Merkel, das, was Sie und Ihre Partei uns und der deut-
schen Öffentlichkeit bieten, ist eine Zumutung.
Frau Merkel, wenn Sie und Ihre Partei in Zukunft als de-
mokratische Partei ernst genommen werden wollen, dann
gibt es nur einen Weg: Klären Sie auf und handeln Sie
nach Recht und Gesetz!
Danke.
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Andrea Voßhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Özdemir, erlauben Sie
mir eine Anmerkung zu Ihren Ausführungen. Wir brau-
chen keine Empfehlungen von den Grünen, wer Mitglied
der CDU sein sollte und wer nicht. Auch in der Wortwahl
haben wir keinen Nachholbedarf, wenn ich höre, welche
Begriffe Sie verwenden, zum Beispiel rausschmeißen.
Das ist nicht unsere Tonart. Wir entscheiden, wer Mitglied
der CDU bleiben darf und wer nicht.
Die Regierungsfraktionen beantragten im Februar die-
ses Jahres eine Aktuelle Stunde zum Thema Parteispen-
den der Berliner CDU. Der bundespolitische Bezug war
nur schwer auszumachen. Aus Anlass der Kiep-Million
haben Sie heute wieder eine Aktuelle Stunde beantragt.
Dafür haben Sie sogar die Sitzung des Untersuchungs-
ausschusses unterbrochen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, Ihre parlamentarischen Anstrengungen, die Themen
des Untersuchungsausschusses in diesem Hohen Hause
zu behandeln, lassen Ihre Absicht mehr als durchschei-
nend hervortreten.
Sie wollen nach wie vor die gegenüber der CDU erhobe-
nen Vorwürfe politisch instrumentalisieren. Wenn Sie uns
vorwerfen, wir seien an Aufklärung nicht interessiert, dann
muss ich Ihnen entgegnen: Ihre heutigen Beiträge zeigen,
dass es damit auch bei Ihnen nicht sehr weit her ist.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD
und von den Grünen: Wo bleibt Ihre Beantragung einer
Aktuellen Stunde in diesem Hause zu den Erkenntnissen
des Untersuchungsausschusses über den Vorwurf der
Käuflichkeit des Regierungshandelns der Kohl-Regie-
rung hinsichtlich der Lieferung von Spürpanzern nach
Saudi-Arabien? Meine Vorredner haben es gesagt: Nach
monatelangen Zeugenvernehmungen ist dieser Vorwurf
ausgeräumt.
Was sagen Sie dazu, dass der Exaußenminister der USA,
Baker, in einem vor kurzem veröffentlichten Schreiben
die Aussagen Helmut Kohls in dieser Frage bestätigt hat?
Ich habe keinen Kommentar Ihrerseits dazu gehört.
Wo bleibt Ihre Beantragung einer Aktuellen Stunde zu
den Erkenntnissen des Ausschusses in Sachen Eisen-
bahnerwohnungen? Mein Kollege Schlee ist schon auf die
gestrige Vernehmung des Herrn Ehlerding eingegangen.
Ihre Mutmaßungen und Ihre Unterstellungen sind nicht
bestätigt worden. Da sich die bisherigen Vorwürfe nicht
bestätigt haben, wollen Sie die Überweisung der Kiep-
Million zu einer neuen Spendenaffäre aufbauschen.
Um je nach politischer Notwendigkeit von Fehlent-
wicklungen Ihrer Regierungsarbeit abzulenken, mischt
sich auch noch der Kanzler ein. In Ihren Beiträgen
dazu erleben wir nur ein Feuerwerk von Mutmaßungen,
Unterstellungen und Spekulationen, mit denen Sie schier
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gabriele Fograscher
16331
unermüdlich die Arbeit des Untersuchungsausschusses
kommentieren.
All dies wird uns nicht davon abhalten, konsequent
das auch durch unsere Aufklärungsarbeit wieder ge-
wonnene Vertrauen der Bürger weiter auszubauen. Die
CDU-Spendenaffäre, aber auch die durch diese Spenden-
affäre bekannt gewordene Verschleierung, die die SPD
hinsichtlich ihres Vermögens- bzw. Finanzierungsgeba-
rens betreibt, haben gezeigt, dass das Parteiengesetz no-
velliert werden muss. Es ist zutreffend das ist heute
schon gesagt worden : Es hilft nichts, dass ein Gesetz
noch so gut ist, wenn es immer wieder Menschen gibt, die
dagegen verstoßen.
Das ist gar keine Frage; das ist absolut korrekt.
Genauso klar ist jedoch, dass im Zuge dieser Affäre
auch deutlich geworden ist, dass das Parteiengesetz unzu-
reichend ist. Gerade aufgrund der Spendenaffäre sehen
wir uns in der Pflicht, an einem wirkungsvolleren und
sinnvolleren Parteiengesetz mitzuwirken, das geeignet ist,
den bekannt gewordenen Verstößen effektiver zu begeg-
nen und den Wählern ein wirklichkeitsgetreues Bild der
politischen Parteien und ihrer Finanzen zu verschaffen.
Eine Aktuelle Stunde mit dem dazugehörigen Schlag-
abtausch macht nur dann Sinn, wenn der Gesetzgeber den
Handlungsbedarf nicht nur sieht, sondern ihn auch um-
setzt. Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Stiegler
hat in der Süddeutschen Zeitung erklärt, man werde
nach der Sommerpause einen Vorschlag zur Novellierung
erarbeiten. Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben bereits
am 11. Dezember 2000 erste Eckpunkte einer Novellie-
rung zur Diskussion gestellt. Wir wollen Klarheit in Be-
zug auf die Rechnungslegung der Parteifinanzen; wir wol-
len Schlupflöcher schließen und Grauzonen beseitigen.
Wir wollen aber auch eine Begrenzung der wirtschaft-
lichen Betätigung der Parteien, so wie es das Verfas-
sungsrecht vorgibt.
Das Parteiengesetz muss präziser gefasst werden. Wir
wollen ein System von Sanktionen, damit Verstöße geahn-
det werden. Wir halten auch eine so umfassende Medien-
beteiligung wie die der SPD für mehr als bedenklich. Zu
einigen unserer Vorschläge hat ebenfalls Ihr stellvertreten-
der Fraktionsvorsitzender in der Süddeutschen Zeitung
geäußert zumindest wird er so zitiert , es gebe keine
Veranlassung, der SPD an dieser Stelle Fesseln anzulegen.
Offenbar sieht das der Bundesinnenminister Schily
vom Ansatz her etwas anders. In einem anderen Zusam-
menhang soll er gegenüber der italienischen Zeitung La
Republica gesagt haben, er könne sich einen Medienun-
ternehmer nur schwer als Regierungschef vorstellen. Die
Politik sollte nicht den Eindruck erwecken, in einen In-
teressenkonflikt verwickelt zu sein. In einer Demokratie
müssten Medien den Bürgern zur Bildung ihrer eigenen
Meinung verhelfen und sie dürften nicht zu einseitigen
Propagandamitteln werden.
Frau Wettig-Danielmeier, vom Ansatz her sind Sie in die-
ser Hinsicht ich hoffe, Ihre Ausführungen richtig ver-
standen zu haben mit Herrn Schily einig, sodass auch
eine Begrenzung der Medienbeteiligungen der Parteien
wahrscheinlich das Ergebnis der aktuellen Diskussionen
über das Parteiengesetz sein wird.
Zeitgleich mit dieser Parlamentsdebatte findet eine Ex-
pertenanhörung der CDU/CSU-Fraktion zur Novellie-
rung des Parteiengesetzes statt.
Sie reden, wir handeln.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Friedrich, Sie ha-
ben vorhin gesagt, Frau Inge Wettig-Danielmeier sitze im
Glashaus und solle nicht mit Steinen werfen. Ich will Ih-
nen Folgendes sagen: Sie wären doch heute froh und
glücklich und Ihnen wäre in den letzten zwei Jahren poli-
tisch viel erspart geblieben, wenn Sie 20 Jahre lang eine
Schatzmeisterin wie Frau Inge Wettig-Danielmeier ge-
habt hätten, die nach Recht und Gesetz vorgegangen wäre.
Sie lecken sich die Finger nach einer solchen Schatzmeis-
terin, was ich gut verstehen kann.
Deswegen sitzt sie nicht im Glashaus, sondern mitten in
unserer Fraktion, und wir sind stolz darauf und froh darü-
ber, dass wir eine Schatzmeisterin haben, die nach Recht
und Gesetz handelt.
Das Tollste, was Sie hier heute zu bieten hatten, Herr
Schmidt, Herr Friedrich, Herr Schlee, war der Freispruch
an sich selber in Sachen Ehlerding, in Sachen Panzeraf-
färe und in Sachen Leuna/Minol. Wie ist denn der
Sachverhalt? Wollen wir uns das doch noch einmal vor
Augen führen. Fangen wir an mit Ehlerding und den Ei-
senbahnerwohnungen: Im Juni 1998 erhalten die Eheleute
Ehlerding den Zuschlag für die Privatisierung der Eisen-
bahnerwohnungen, obwohl ein anderer Bieter 1 Milli-
arde DM mehr geboten hat.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Andrea Voßhoff
16332
Wenige Wochen später erhält die CDU eine Parteispende
über 5,9 Millionen DM. Das ist die höchste Parteispende,
die die Union jemals bekommen hat. Es war die einzige
Spende an die CDU, die die Eheleute Ehlerding in ihrem
ganzen Leben bis dahin gegeben hatten. Anschließend
wird diese Spende zunächst auf ein schwarzes Konto
Kohl geschaufelt, bevor sie herüberkommt, ein weiteres
Jahr wird sie bei der Union anonym behandelt. Der spä-
tere Schatzmeister Wissmann sagt, er habe erst ein Jahr
später von dieser Spende erfahren. Angesichts all dieser
Umstände wollen Sie sich selber freisprechen in dieser
Frage. Das ist an Absurdität nicht zu überbieten, meine
Damen und Herren.
Ich will auch zur Panzeraffäre kurz ein Wort sagen.
Wie war es denn damit? 24 Millionen DM hat die Firma
Thyssen Herrn Schreiber zum Verteilen zur Verfügung ge-
stellt, damit dieses Geschäft so sage ich einmal ein we-
nig gefördert wird. Wir wissen nicht, wo all dieses Geld
gelandet ist. Von einer Million wissen wir allerdings, wo
sie gelandet ist. Eine Million wurde von Herrn Schreiber
in bar auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in der
Schweiz an den damaligen Schatzmeister der CDU, Herrn
Kiep, in einem Koffer übergeben
und landete anschließend auf den Schwarzgeldkonten von
Helmut Kohl. Sich in einer solchen Sache freizusprechen
ich sage es noch einmal , das ist an Absurdität nicht zu
überbieten.
Wenn ich ein falsches Fakt gesagt habe, stehe ich dafür
gerade. Habe ich an einer Stelle etwas Falsches gesagt,
Herr Schmidt? Ich stehe dafür gerade. Es ist alles richtig.
Lassen Sie mich auf eine Sache noch kurz eingehen.
Frau Merkel hat über mehrere Wochen die Millionen von
Herrn Kiep ein wenig diskret gehandhabt. Sie hat im
Nachhinein erklärt, es habe sich um eine Vorauszahlung
von 1 Million DM auf geltend gemachte Schadensersatz-
ansprüche gehandelt. Ich habe mir daraufhin den Schrift-
verkehr der Anwälte angeguckt. Der Anwalt von Frau
Merkel hat an den Anwalt von Herrn Kiep geschrieben,
man müsse über die Sache mal reden.
Herr Schmidt, Sie sind doch auch Anwalt. Stellen Sie
sich vor, in Ihre Kanzlei kommt ein Mandant und beauf-
tragt Sie, Schadensersatzansprüche zu verfolgen. Wenn
Sie dem gegnerischen Anwalt dann schreiben, man müsse
einmal über den Sachverhalt reden, denkt Ihr Mandant
doch, wenn er das liest, er habe für die Verfolgung seiner
rechtlichen Interessen keinen Rechtsanwalt, sondern ei-
nen Diplompsychologen eingeschaltet.
So verfolgt man doch keine Schadensersatzansprüche.
Das wissen wir doch beide. Deshalb bleibe ich dabei: Frau
Merkel hat sich zu sehr in den Geruch begeben, weiterzu-
machen mit Verschleppen, Verzögern, Verschweigen. Sie
rückt immer nur das heraus, was ohnehin über die Medien
herausgekommen ist.
Es wurde mehrfach über Schadensersatzansprüche ge-
sprochen. Ich räume ein: Das ist Ihre Sache, es ist Ihr Geld.
Es ist Ihre Angelegenheit, was Sie damit machen. Die Aus-
kunftsansprüche betreffen mich allerdings. Denn uns als
Untersuchungsausschuss wird gelegentlich vorgeworfen,
wir würden bei den Auskünften nicht weiterkommen. Be-
stimmt haben wir auch Fehler gemacht; das will ich nicht
bestreiten. Nur eines bleibt: Alle informierten Personen,
Kohl, Terlinden, Weyrauch, Lüthje, Kiep, machen von
ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Strafpro-
zessordnung Gebrauch, weil sie Sorge haben, sich selber
zu belasten. Das ist in Ordnung. Aber deshalb kommen
wir an der Stelle nicht weiter. Es gibt nur eine Person, die
weiterhelfen kann. Das ist Frau Merkel. Frau Merkel hat
als Parteivorsitzende der Union nicht strafrechtliche
Dinge zu verfolgen, aber sie hat den Anspruch auf Aus-
kunft gegen ihre ehemaligen Funktionäre und Auftrag-
nehmer zivilrechtlich geltend zu machen. Solange dieser
Anspruch nicht geltend gemacht wird, Herr Schmidt,
bleibt der Geruch der politischen Korruption in Ihren
Kleidern hängen.
Solange dieser Anspruch nicht geltend gemacht wird,
bleibt uns nichts anderes übrig, als wiederholt Aktuelle
Stunden zu beantragen, um mit Ihnen über diesen Sach-
verhalt zu sprechen und zu streiten.
Es liegt an Ihnen, den Weg konsequent bis zum Ende
zu gehen. Dann können wir wieder in die politische Aus-
einandersetzung über andere Themen eintreten. Ich freue
mich darauf, weil wir auch da die besseren Argumente ha-
ben.
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Wohngeld- und Mietenbericht 1999
zu dem Entschließungsantrag der Abgeord-
neten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer
, Eduard Oswald, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung Wohn-
geld- und Mietenbericht 1999
Drucksachen 14/3070, 14/4248, 14/4705
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Rainer Wend
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Berichterstattung:
Abgeordnete Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Wolfgang Spanier
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute über
den Wohngeld- und Mietenbericht 1999, der eine Be-
standsaufnahme des Jahres 1998 beinhaltet. Der nächste
Wohngeld- und Mietenbericht wird im Jahr 2003 erschei-
nen.
Die Verzögerung ergibt sich dadurch, dass wir alle darin
übereingestimmt haben, zunächst einmal die Auswirkun-
gen der Wohngeldreform abzuwarten, um sie in den Be-
richt aufnehmen zu können. Dann werden wir wieder zum
zweijährigen Rhythmus zurückkehren. Ich möchte jetzt
aber keine Rückschau halten. Deswegen möchte ich mich
auf den Entschließungsantrag der CDU/CSU konzen-
trieren.
Dieser Entschließungsantrag stammt vom 10. Oktober
2000; das ist gerade einmal ein halbes Jahr her. Ich habe
mich über diesen Antrag gewundert und mich bis zuletzt
gefragt, ob er tatsächlich aufrechterhalten wird, weil er in
weiten Teilen Makulatur ist.
Machen Sie sich doch keinen Kopf um den Antrag der
CDU/CSU! Ist es mit der F.D.P. schon so weit gekommen,
dass sie jetzt für die Union in die Bresche springen muss?
In diesem Entschließungsantrag taucht die übliche Po-
lemik gegen die Ökosteuer auf.
Sie wird als Preistreiber Nummer eins dargestellt. Es ist
fast müßig, dass ich darauf eingehe, weil ich weiß, dass
Sie sachlichen Argumenten bezüglich der Ökosteuer, die
sich beim Heizöl mit einer einzigen Erhöhung um 4 Pfen-
nig überhaupt nicht entscheidend auswirkt,
nicht zugänglich sind.
Ich sage ganz offen: Dass Sie ausgerechnet das Einset-
zen der Kommission Kostensenkungsstrategien bei den
Wohnnebenkosten so abtun, als sei dies ein Beleg für die
Unglaubwürdigkeit der Bundesregierung, hat mich sehr
geärgert und erstaunt, weil wir doch alle wissen, dass
diese Wohnnebenkosten, die so genannte zweite Miete,
eine Entwicklung nehmen, die nicht nur den Mieterinnen
und Mietern, sondern auch uns durchaus Sorgen bereitet.
Ich finde es daher gut, dass die Bundesregierung diese
Kommission eingesetzt hat. Es wäre besser gewesen, Sie
hätten dieses halbe Jahr genutzt, einmal nachzufragen,
wie der Stand der Dinge ist.
Wir haben mittlerweile in einer Bestandsaufnahme die
Daten und Fakten zusammengestellt. In diesen Tagen
werden Handlungsvorschläge entwickelt.
Es ist bemerkenswert, dass dies den Fachleuten in einem
solch kurzen Zeitraum gelingt. Daher sollten Sie sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der
F.D.P. ich schließe die Kollegen der F.D.P. mit ein, da-
mit sie nicht gekränkt sind , einmal darüber informieren.
Dann werden wir zu gegebener Zeit über die Vorschläge
der Kommission hier gemeinsam diskutieren können.
Merkwürdig und das ist fast vornehm ausgedrückt
ist Ihr Vorwurf der Untätigkeit der Bundesregierung bei
der Weiterentwicklung integrierter Lösungskonzepte zur
städtebaulichen Planung. Entschuldigen Sie das
bürokratische Deutsch, das ist ein Zitat aus Ihrem Ent-
schließungsantrag. Haben Sie denn nichts mitbekom-
men von der Aufstockung der Mittel für Städtebauförde-
rung? Haben Sie nichts mitbekommen vom Programm
Soziale Stadt? Dann fragen Sie doch einmal in den
CDU-regierten und in den mit F.D.P.-Beteiligung regier-
ten Ländern nach.
Gerade in diesen Ländern wurde das Programm Soziale
Stadt umgesetzt und ausdrücklich gelobt. Ich kann daher
überhaupt nicht verstehen, warum Sie hier sagen, dass die
Bundesregierung im Bereich der Stadtentwicklung
untätig sei.
Offensichtlich haben Sie auch nichts mitbekommen
von der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung
insgesamt. Hier ist in den letzten Monaten sehr viel auf
den Weg gebracht worden. Es wäre also auch aus diesem
Grund besser gewesen, Sie hätten auf Ihren Ent-
schließungsantrag verzichtet.
Ich komme nun zu Ihrer wohl wichtigsten Forderung,
die Sie erheben, dass nun wirklich bis zum 1. März ein
Gesetzentwurf zur Reform der sozialen Wohnungs-
bauförderung vorgelegt werden soll. Meine lieben Kol-
leginnen und Kollegen, wir werden dieses Gesetz noch
vor der Sommerpause verabschieden. Dass Sie diesen An-
trag, ein ensprechender Entwurf möge bis zum 1. März
vorgelegt werden, noch aufrechterhalten, ist daher schon
etwas kurios.
Ich finde es aber gut, dass wir verabredet haben, hier
gemeinsam vorzugehen, weil ich glaube, dass eine Re-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
16334
form des sozialen Wohnungsbaus längst überfällig ist und
weil es hier wirklich auf eine gemeinsame Strategie von
Bund und Ländern ankommt. Die Vorarbeiten von Bund
und Ländern sind bereits so weit gediehen, dass ich
glaube, dass wir noch vor der Sommerpause einen Ge-
setzentwurf vorlegen werden, der den Anforderungen und
Ansprüchen einer Reform genügt.
Sie fordern ebenfalls auch das ist etwas kurios , den
künftigen Wohnungsbedarf zu ermitteln und mahnen eine
Wohnraumprognose an. In der Sache ist diese Forde-
rung zwar begründet. Aber haben Sie nicht mitbekom-
men, dass am 10. Januar dieses Jahres der Bundesbaumi-
nister Kurt Bodewig eine Wohnungsprognose bis zum
Jahr 2015, erstellt vom Bundesamt für Bauwesen und
Raumordnung, vorgelegt hat? Was bringt es also, hier
Dinge zu fordern, die schon längst umgesetzt, die schon
längst verwirklicht sind?
Lassen Sie mich auf den Hauptvorwurf eingehen, den
Sie ja nicht nur im fast schon berühmt-berüchtigten Ent-
schließungsantrag erheben, sondern den Sie in fast allen
Pressemitteilungen und in fast allen Reden hier im Bun-
destag wiederholen, wann immer es um Wohnungspolitik
geht. Der Hauptvorwurf gegen die Bundesregierung ist,
sie sei verantwortlich für den Rückgang der Fertigungs-
zahlen im Wohnungsbau.
Das wird von Ihnen ständig unterstellt und der Kollege
von der F.D.P. tutet begeistert, auch jetzt wieder, in das
gleiche Horn. Vielleicht sollten Sie sich gleich rüberset-
zen. Es wundert mich, dass Sie heute so unisono reden.
Wo bleibt die Selbstständigkeit der F.D.P.? Sie müssen
einmal mit Ihrem neuen Vorsitzenden sprechen.
In der Tat hatten wir in den 90er-Jahren im Durch-
schnitt 350 000 Fertigstellungen.
Schauen Sie bitte in den Bericht! Über Zahlen kann man
nicht streiten; man kann sie nur prüfen.
In den 80er-Jahren hatten wir einen Durchschnitt von
280 000 Fertigstellungen. Das entspricht in etwa der
Größenordnung, wie wir sie zurzeit haben. Eine Schuld-
zuweisung an die Bundesregierung ist aber das zu sagen
will ich heute die Gelegenheit nutzen abwegig; denn der
Rückgang erfolgte nachweislich bereits seit fünf Jahren.
Wir hatten diesen Rückgang also schon in den letzten drei
Jahren Ihrer Regierungszeit.
Der Mietwohnungsbau in den alten Bundesländern ist
seit fünf Jahren rückgängig. Die Gründe sind das partielle
Überangebot und die sinkende Kaufkraft breiter Schich-
ten, für die Sie einen Großteil Mitverantwortung tragen.
Zudem hatten wir das zeigt ja der Wohngeld- und Mie-
tenbericht 1999 einen starken Druck auf die Mieten.
Eben. Jetzt kommt das kleine volkswirtschaftliche
Einmaleins dass ich jemals so etwas im Bundestag vor-
tragen muss, hätte ich nie gedacht : Dieser Druck auf die
Mieten hat sich natürlich auf die Investitionsbereitschaft
ausgewirkt.
Ein weiterer Punkt, der dazu beigetragen hat auch
dazu liegen wissenschaftliche Untersuchungen vor, das
sage ich nicht aus dem hohlen Bauch heraus , ist, dass in
diesen Jahren Finanzanlagen, insbesondere Aktien, für
Anleger deutlich interessanter als Sachanlagen waren.
Das sind die tiefer greifenden Ursachen, die den bereits
seit fünf Jahren andauernden Prozess der Rückentwick-
lung verursacht haben.
Nun zum Eigenheimbau: Sie behaupten, dass nach
dem Regierungswechsel die Zahlen nach unten gegangen
seien. Die Fakten hier sind ganz klar: 1996 gab es in die-
sem Bereich einen starken Schub aufgrund des von uns
gemeinsam beschlossenen Eigenheimzulagengesetzes.
Außerdem gab es Vorzieheffekte, die unter anderem auch
durch die Senkung der Einkommensgrenzen im Jahre
2000 verursacht wurden, die allerdings nur eine kleine
Schicht junger Doppelverdiener betroffen hat. Nach wie
vor hat nämlich ein verbeamteter Staatssekretär in Nord-
rhein-Westfalen mit drei Kindern Anspruch auf Eigen-
heimzulage. Nur so viel möchte ich anhand eines konkre-
ten Beispiels zur Frage der Einkommensgrenzen sagen.
Unstrittig ist, dass hier mittlerweile ein Rückgang zu ver-
zeichnen ist. Es gibt aber einen Zusammenhang zwischen
dem jetzt feststellbaren Rückgang und dem früheren An-
stieg, der durch Vorzieheffekte ausgelöst worden ist.
In den neuen Ländern gab es 1998 einen steilen Rück-
gang. Die Ursache liegt auf der Hand: Wegfall der Son-
derförderung. Dies wurde damals von Ihnen mit auf den
Weg gebracht. Das hat zu einem drastischen Rückgang
geführt. Dass dieses richtig war, darüber sind wir uns im
Grunde genommen auch einig, Herr Dr. Kansy; ich habe
Sie selbst so argumentieren gehört. Es wurde in den Jah-
ren vor 1998 nämlich nicht entsprechend dem Bedarf ge-
baut, da es nicht um die Erzielung langfristiger Renditen,
sondern nur um schnelle Steuervorteile ging.
Deshalb ist am Markt vorbei gebaut worden; hierdurch
sind Fehlentwicklungen verursacht worden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Wolfgang Spanier
16335
Ich stelle das nur fest, ohne irgendeinen Vorwurf zu erhe-
ben.
Wir haben eine klare Perspektive: Wir wollen zum ei-
nen den Bau von Sozialwohnungen verstetigen und zum
anderen stärker auf Bestandssicherung und Qualitätsver-
besserung setzen. Wir haben einiges getan: Ich erinnere
an die Förderprogramme wie das 100 000-Dächer-Pro-
gramm, das Modernisierungsprogramm, das Erneuerbare-
Energien-Gesetz und auch an die Reform des Mietrechts.
Zusammen genommen ergibt das einen sinnvollen Ansatz.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen: Wir müssen meiner Meinung nach weg von einer
Wohnungsbaupolitik, die nur auf Fertigungszahlen schaut.
Wir müssen Wohnungsbaupolitik und Stadtentwicklungs-
politik im Zusammenhang sehen. Die Frage der Qualität
von Wohnungsbeständen muss im Mittelpunkt unseres In-
teresses stehen.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Das gilt vor allem dann,
wenn sich unsere Wohnungsbaupolitik am Leitbild der
Nachhaltigkeit orientieren soll. Bei der Förderung von
sozialem Wohnraum haben wir hoffentlich die Gelegen-
heit, einen ersten Schritt gemeinsam zu gehen.
Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der
Kollege Dr. Dietmar Kansy für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Da-
men und Herren! Meine leicht lädierte Stimme ist tatsäch-
lich auf eine Sommergrippe zurückzuführen und hat mit
dem Zustand des Jakob-Kaiser-Hauses absolut nichts zu
tun. Ich verbitte mir also dementsprechende Zwischenrufe.
Herr Kollege Spanier, ich fand es schon interessant,
dass Sie sich dafür entschieden haben, sich nicht in erster
Linie mit dem Wohngeld- und Mietenbericht zu beschäf-
tigen, sondern vielmehr sehr ausführlich mit unserem An-
trag. Genau das hatten wir nämlich gehofft. Den Gefallen,
diesen jetzt zurückzuziehen, werden wir Ihnen nicht tun.
Sie haben Stück für Stück die von uns in diesem Antrag
skizzierten Sachverhalte argumentativ zu widerlegen ver-
sucht. Ich meinerseits erlaube mir, gleich darauf einzuge-
hen. Bei einer Angelegenheit haben Sie allerdings Recht:
Vielleicht sollten wir auch die Arbeit im Parlament be-
schleunigen, denn der Umstand, dass über den Wohngeld-
und Mietenbericht 1999 und die dazugehörigen Anträge
erst im Mai 2001 diskutiert wird, hat letzten Endes dazu
geführt, dass in einem dieser Anträge ein Termin steht, der
nicht mehr ganz angemessen ist. Dieser wird von mir zum
schnellstmöglichen Zeitpunkt geändert. So einfach ist
das.
Meine Damen und Herren, ich steige jetzt einmal etwas
anders ein, und zwar mit zwei guten und zwei schlechten
Nachrichten. Zuerst eine gute, wie es sich gehört: Der
Wohngeld- und Mietenbericht, um den es letztendlich in
dieser Debatte geht, ist ein eindrucksvolles Dokument ei-
ner äußerst erfolgreichen Wohnungsbaupolitik
das tut mir sehr Leid; überlegen Sie sich zwischenzeit-
lich schnell etwas Neues mit einem historischen Tief-
stand der Mietindexsteigerung von 1,1 Prozent. Das ist
nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis einer kon-
sequenten, im Wesentlichen angebotsorientierten Woh-
nungspolitik,
durch die wir in Spitzenzeiten bis zu 600 000 neue Woh-
nungen pro Jahr in Deutschland gebaut haben.
Das ist die gute Nachricht dieses Berichtes.
Die schlechte Nachricht dazu: Diese tolle Bilanz be-
zieht sich nicht auf die Gegenwart und auch nicht auf
diese Regierung deswegen hat Herr Spanier den Bericht
auch nicht näher gewürdigt , sondern im Wesentlichen
auf das Jahr 1998, wie er zu Recht gesagt hat und ein
bisschen auf 1999 und damit im Wesentlichen auf die
Wohnungspolitik der ehemaligen Koalition aus CDU/CSU
und F.D.P.
Wenn ich mir ausnahmsweise doch einmal eine Be-
merkung zur Regierungsbank erlauben darf:
Dass dieser Bauminister Bauen als fünftes Rad am Wagen
seines Ministeriums betrachtet, ist die eine Sache. Aber
auch Baustaatssekretär Großmann taucht bei solchen De-
batten jetzt nicht mehr auf. Bei allem Respekt: Für wie
wichtig Sie diese Thematik halten, kann man sehen, wenn
man auf die linke Seite schaut.
Bereits im letzten Jahr, Herr Kollege Spanier, als die-
ser Wohngeld- und Mietenbericht geschrieben wurde, hat-
ten wir eine Steigerung der Bruttowarmmiete von 2 Pro-
zent. Heute sind wir bei 4 Prozent; lesen Sie die letzten
Veröffentlichungen. Auch die Nettokaltmiete steigt wie-
der, wenn auch unterschiedlich in Deutschland. Gemäß
dem Marktbericht des Ringes Deutscher Makler, die übri-
gens heute und morgen ihre Jahrestagung haben
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Wolfgang Spanier
16336
in dem schönen Suhl, jawohl , beträgt der Mietanstieg
gegenüber dem Vorjahr zurzeit bei aktuell ab-
geschlossenen Mietverträgen insofern sind das alles Ar-
gumentationen, die schon wieder veraltet sind im Alt-
wohnungsbestand im Schnitt 2 Prozent und bei Erstbezug
von Neubauwohnungen 1,5 Prozent. In manchem süd-
deutschen und westdeutschen Ballungsraum geht der An-
stieg bereits darüber hinaus. Deswegen gibt es nicht den
geringsten Grund, sich zufrieden zurückzulehnen und in
dem Sinne, wie Sie das getan haben, auf alles Mögliche
zu verweisen.
Aber ich habe eine zweite gute Nachricht mitgebracht.
Ich habe sie gestern in einer Pressemitteilung des Instituts
für Städtebau, Wohnungswirtschaft und Bausparwesen
gefunden; sie ist also ganz aktuell. Sie lautet: Der Woh-
nungsmarkt boomt. Als ich näher hinschaute, erkannte ich
allerdings, dass sich das auf Indien bezog.
Das ist die schlechte Nachricht dazu. In Deutschland
Herr Spanier ist ja darauf eingegangen sind die Bau-
genehmigungen im Januar dieses Jahres jüngeres statis-
tisches Material liegt leider nicht vor gegenüber dem
Vorjahresmonat um 33 Prozent also nicht um ein we-
nig zurückgegangen. Das ist der dramatischste Einbruch
auf dem Baumarkt seit anno Tobak.
Wohnungspolitisch ist es natürlich eine schlimme Sa-
che und nicht nur ein Schönheitsfehler, Herr Kollege
Spanier, dass die im letzten Jahr nicht 1998 begonnene
Trendwende im Einfamilienhausbau jetzt plötzlich zu
einem so dramatischen Rückgang geführt hat; denn mit
33,6 Prozent Rückgang der Baugenehmigungen im Ein-
familienhausbau haben wir einen Einbruch zu verzeich-
nen, wie wir ihn in der gesamten Zeit noch nie erlebt ha-
ben.
Herr Wiesehügel ich weiß nicht, ob er zufällig hier
ist; aber auch ich bin nicht in jeder Debatte anwesend
hat uns ein Schreiben geschickt, in dem er uns auf die
schwierige Lage am Bau hingewiesen hat. Da hat er
Recht; denn allein im letzten Jahr haben wir
50 000 Arbeitsplätze verloren, im vorletzten Jahr haben
wir 50 000 Arbeitsplätze verloren und in diesem Jahr wer-
den wir weitere 50 000 Arbeitsplätze verlieren.
Das Schreiben vom Kollegen Wiesehügel hat nur einen
Schönheitsfehler: Er schreibt nicht dazu, dass er auch
SPD-Bundestagsabgeordneter ist, dass er diese Entwick-
lung also mit zu verantworten hat.
Es wirft Ihnen, Herr Spanier, doch keiner vor, dass
nicht mehr 600 000 Wohnungen im Jahr gebaut werden,
wo wir nur 400 000 brauchen. Aber Sie haben die Mittel
für den sozialen Wohnungsbau seit Antritt Ihrer Regie-
rung auf etwa ein Drittel der Summe reduziert, die noch
im letzten Regierungsjahr Helmut Kohls vorhanden war.
Sie haben zigmal an der Förderung des selbst genutzten
Wohneigentums herumgebastelt. Sie haben die Bedin-
gungen für den frei finanzierten Wohnungsbau durch
Änderungen im Steuerrecht, im Mietrecht und in anderen
Bereichen so verschlechtert, dass sich trotz der weit ge-
fächerten Möglichkeiten zurzeit niemand ermuntert
sieht, zu bauen und zu investieren.
Da hat es keinen Sinn, Krokodilstränen über arbeitslose
Bauarbeiter zu vergießen. Man muss hier in diesem Par-
lament die richtigen Gesetze beschließen und die richti-
gen Beschlüsse fassen.
Der Kollege Großmann, dessen Anwesenheit ich ei-
gentlich erhofft hatte, hat in der letzten Debatte zu diesem
Thema im April gesagt:
Wir rechnen also damit, dass beim Eigenheimbau die
Talsohle durchschritten ist.
Der Stand damals: minus 33,6 Prozent.
Dann hat er weiter gesagt ich zitiere :
Wir sind fast am Ende des schmerzlichen Anpas-
sungsprozesses.
Er sagte, in diesem Jahr sei nur noch mit einem kleinen
Minus zu rechnen, mit einem Minus von 0,5 Prozent.
Fakt ist: Zwei Tage nach seiner Aussage hier im Deut-
schen Bundestag haben die wissenschaftlichen For-
schungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten unter der
Überschrift Keine Erholung der Bauinvestitionen für
das laufende Jahr einen weiteren Rückgang der Bauinves-
titionen von 2,3 Prozent vorhergesagt. Im letzten Jahr gab
es ein Minus von 2,5 Prozent.
Wir leiden also nach wie vor daran dieses ceterum
censeo werden Sie auch heute von mir hören , dass es
aufgrund organisatorischer Maßnahmen, für die allein
diese Regierung verantwortlich ist, keine sichtbar lang-
fristig abgestimmte Baupolitik mehr gibt. Da helfen auch
keine Hinweise auf Leerstände in Ostdeutschland, wenn
der Markt in Teilen von Süd- und Westdeutschland wie-
der zu kippen beginnt.
Wir werden in dieser Republik wahrscheinlich keinen
flächendeckenden Schweinezyklus mehr bekommen.
Aber wir werden wieder regionale Schweinezyklen das
bedeutet auf gut Deutsch einen ständigen Wechsel von
Wohnungsüberhang und Wohnungsnachfrage bekom-
men. Dies führt dann wie wir das schon öfter mitge-
macht haben zu Mietsteigerungen in erheblichem Um-
fang und damit wieder zu Problemen auf dem
Wohnungsmarkt.
Meine Damen und Herren, ich kann Sie nur noch ein-
mal auffordern, jetzt unabhängig von der Novelle der Ei-
gentumsförderung die Beratung insbesondere hinsichtlich
der Umstrukturierung der öffentlichen Wohnungsbau-
förderung in dem Sinne konstruktiv zu führen, dass öf-
fentliche Anhörungen auch tatsächlich öffentliche An-
hörungen sind, dass Einwände gegen Einzelvorschläge
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
16337
tatsächlich mitberaten werden und nicht so verfahren wird
wie beim Mietrecht, wo man überhaupt keine Zeit mehr
hatte, über die Einzelbestimmungen zu diskutieren.
Alle Wohnungsbaupolitiker dieses Parlaments und mit
ihnen das gesamte Parlament werden in absehbarer Zeit
mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden. Das
Thema Ökosteuer, Herr Kollege Spanier das will ich
doch einmal sagen , betrifft nicht nur das Öl, sondern
auch viele andere Bereiche.
Die trotz des ausgeglichenen Wohnungsmarkts erfolgte
wahnsinnige Entwicklung der Bruttowarmmieten beruht
natürlich zum Teil auf dem dramatischen Anstieg der
Energiekosten. Das ist auch nicht von ungefähr gekom-
men.
Machen Sie es im Bereich der Wohnungspolitik durch
Zusammenfassung der Ressourcen, die über die ganze
Bundesrepublik verstreut sind, möglich, dass wir seitens
des Bundes wieder eine Perspektive geben können. Denn
nicht dieser Wohngeld- und Mietenbericht, sondern die
aktuelle Politik von Ihnen gibt Anlass zur Sorge. Wir er-
hoffen uns, dass die letzten anderthalb Jahre dieser Legis-
laturperiode genutzt werden, auf Bundesebene wieder
Wohnungspolitik zu machen, und zwar mit einem Minis-
ter, der sich dieses Themas auch annimmt.
Vielen Dank.
Jetzt hat die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig für Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Kollegen! Ich muss sagen, dass es mich etwas irritiert, wie
die Diskussion heute hier verläuft. Denn auf der einen
Seite sind wir alle, sowohl die Oppositionsseite als auch
die Koalitionsseite, mit dem Wohngeld- und Mietenbe-
richt relativ zufrieden; das schließt Kritik im Einzelfall
überhaupt nicht aus. Wir können feststellen, dass die
Mietsteigerungsraten insgesamt zurückgegangen sind
und dass wir in weiten Teilen einen ausgeglichenen Woh-
nungsmarkt haben.
Allerdings sollte man sehr deutlich sagen da wird die
Diskussion wirklich wichtig und interessant , dass es ex-
treme regionale Unterschiede gibt. Wenn wir über den
Wohngeld- und Mietenbericht so diskutieren, dass wir sa-
gen, wir seien relativ zufrieden, dann dürfen wir nicht ver-
gessen, dass wir in München, Frankfurt und in einigen an-
deren Ballungsräumen enorme Probleme haben.
Da gibt es auf der einen Seite nicht nur für Haushalte mit
geringen, sondern auch teilweise für Haushalte mit mitt-
leren Einkommen wirklich wieder so etwas wie Woh-
nungsnot. Ich habe große Angst, dass es dort soziale
Schichten gibt, die nicht wissen, wo sie in der nächsten
Zeit landen werden, und zwar sowohl wegen fehlenden
Wohnraums als auch wegen des Mietenlevels. Auf der
anderen Seite besteht ein Wohnungsüberschuss diese
Diskussion haben wir hier schon oft genug geführt , wie
wir ihn uns vor ein paar Jahren überhaupt nicht vorstellen
konnten.
Von daher bitte ich den Kollegen Kansy, endlich das
Bild des Schweinezyklus ad acta zu legen. Ich habe so-
eben das Gefühl gehabt, dass Sie nur darauf warten, dass
der Schweinezyklus endlich wieder zum Thema wird. Das
ist wirklich kalter Kaffee.
Es tut mir wirklich Leid, Herr Kollege Kansy: Das sind
nicht die Herausforderungen, vor denen wir stehen und
denen wir uns alle, egal, wer an der Regierung und wer in
der Opposition ist, stellen müssen. Ich werbe dafür, das
endlich einmal zu unterlassen.
Ein paar Kritikpunkte an dem Entschließungsantrag
der CDU/CSU hat Kollege Spanier schon angesprochen.
Aber über den entscheidenden haben wir alle noch viel zu
wenig diskutiert: Sie fordern in Ihrem Antrag: Mehr
Wohnungen sind der beste Mieterschutz.
Gehen Sie mit dieser Aussage einmal nach Leipzig oder
nach Görlitz. Da lachen die Hühner! In München würden
Ihnen die Menschen sagen: Was nützen uns mehr Woh-
nungen, wenn die Reichen die Wohnungen abgreifen und
wir nicht an die Wohnungen herankommen, weil sie für
uns nicht bezahlbar sind?
Von daher sollten Sie sich überlegen, dass Ihre Forde-
rung zwar bis zu einer gewissen Grenze völlig richtig ist,
aber dass wir nicht mehr über die Situation von 1960 dis-
kutieren. Von den Quantitäten her darüber diskutieren
Sie immer besteht ein ausgeglichenes Wohnungsange-
bot. Aber angesichts der Tatsachen, dass wir eine sta-
gnierende und rückläufige Bevölkerung haben und wir
inzwischen bei einer Haushaltsdifferenzierung ange-
kommen sind, ist der quantitative Wohnungsbedarf in
weiten Teilen unseres Landes eben nicht mehr das Pro-
blem, Herr Kollege Kansy.
Wir haben ganz andere Herausforderungen. Das sind
zum einen die regionalen Differenzierungen. Ich nenne
noch einmal auf der einen Seite die Beispiele München
und Frankfurt und auf der anderen Seite das Beispiel
Lübeck. Denn genauso wie in Lübeck entsteht in einer
Reihe von westdeutschen Regionen das Problem von
Wohnungsüberangeboten.
Ich habe manchmal das Gefühl, Sie möchten, dass künf-
tig pro Person nicht nur eine Wohnung geschaffen wird,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
16338
sondern dass sich die Menschen halbieren und wir pro
Person zwei Wohnungen vorsehen. Ich verstehe wirklich
nicht ganz, was Sie an manchen Stellen wollen.
Ein anderes Problem ist die soziale Differenzierung,
weil inzwischen viele Menschen auf dem Wohnungs-
markt sehr mobil sind; auch in diesem Zusammenhang
sollten wir über das bestehende Wohnungsüberangebot
ernsthaft diskutieren. Die Haushalte, die es sich leisten
können, ziehen in die besseren Wohnquartiere bzw. ins
Umland. Die soziale Segregation, die wir alle beklagen,
ist mit ein Ergebnis einer Phase, in der Wohnungsüberan-
gebote bestehen. Deswegen bitte ich Sie, nicht immer nur
das Klischee in den Raum zu stellen, dass wir sehr viel
mehr Wohnungen brauchen, weil, wenn wir diese nicht
hätten, wir bald wieder eine große Wohnungsnot hätten.
Auch Wohnungsüberangebote und die zahlreichen Wahl-
möglichkeiten der Bevölkerung, was wir im Grundsatz
alle begrüßen, bringen uns stadtentwicklungspolitische
und sozialpolitische Probleme. Deswegen müssen wir uns
diesen Problemen stellen und nicht nach quantitativen Lö-
sungen, also nach immer mehr Wohnungen, rufen.
Von daher sind gerade die soziale Differenzierung un-
serer Gesellschaft, die Wahlmöglichkeiten und steigende
Wohnungsansprüche die Probleme, die wir in Zukunft lö-
sen müssen. Denn Tatsache ist, dass im Eigentum neue
Konkurrenzen entstehen. Das können wir uns alle noch
nicht vorstellen. In Ostdeutschland lernen wir es sehr hart
und bitter.
Die Wohnungsverbände fordern ihrerseits genau wie
Sie immer noch mehr Neubau und wissen gar nicht, dass
sie morgen selbst die Opfer des Neubaus sind, den sie
heute fordern, weil vielfach die Bestände mit bestimmten
Neubauqualitäten nicht konkurrieren können. Das gilt für
die Spannungsfelder Innen versus Außen und Mietwoh-
nung versus Eigentumswohnung, aber auch für bestimmte
Standards. Ich denke hier etwa an qualifizierte Freiflä-
chen, die in bestimmten Wohngegenden angeboten wer-
den, über die aber Bestände in den Innenstädten, etwa
Gründerzeitwohnungen, überhaupt nicht verfügen. Die
Leute verlangen jetzt eine Freifläche und ziehen dorthin,
wo es sie gibt. Das wertet die Stadtquartiere ab, aus denen
sie wegziehen. Mit dieser Differenzierung müssen wir uns
genauso wie mit der neuen Form der Eigentümerkonkur-
renz auseinander setzen.
In diesem Zusammenhang ist die Forderung des Kol-
legen Spanier richtig. Es geht nicht mehr so sehr um ein
quantitatives Problem, sieht man von einigen Regionen
ab das will ich überhaupt nicht abstreiten , sondern es
geht um die Verknüpfung von stadtentwicklungspoliti-
schen Zielen und den von mir eben geschilderten Wohn-
versorgungszielen. Dieser Herausforderung hat sich
diese Koalition bereits gestellt.
Zum Zweiten geht es um das Problem einer Qualifi-
zierung der Wohnungsbestände, damit sie gegenüber
dem Neubau konkurrenzfähig sind.
Ja, natürlich. Dafür werben wir auch.
Momentan geht es um drei Ebenen: erstens um die so-
ziale Abfederung der Haushalte, die es nötig haben. Die-
sem Thema haben wir uns gestellt, indem wir zum 1. Ja-
nuar mit der Wohngeldnovelle den Haushalten geholfen
haben, die mit Mietzahlungen Schwierigkeiten hatten.
Dies hatten Sie sich lange vorgenommen, ohne es auf den
Weg gebracht zu haben.
Zweitens greife ich das Thema soziale Segregation
auf: Weil wir dieses Thema erkannt haben, haben wir das
Programm Soziale Stadt auf den Weg gebracht. Hier
geht es darum, Stadtteile zu stärken, die zunehmend von
dieser Benachteiligung betroffen sind.
Drittens komme ich zur Reform des sozialen Woh-
nungsbaus. Wir haben sehr intensiv darüber diskutiert,
wie weit wir noch quantitative Probleme und wie weit wir
qualitative Probleme mit dem sozialen Wohnungsbau lö-
sen müssen. Wir sind übereingekommen, dass es ange-
sichts der Tatsache, dass weniger Haushaltsmittel zur Ver-
fügung stehen, im Wesentlichen um eine Konzentration
der Mittel auf die Gruppen der Bedürftigen, die es wirk-
lich brauchen, und um eine Gewichtsverlagerung vom
Neubau auf die Bestandserneuerung und Qualifizierung
des Bestandes geht, damit wir auch in Zukunft eine ge-
wisse soziale Durchmischung gewährleisten können.
Viertens haben wir uns auch im energetischen Be-
reich um eine Qualifizierung des Bestandes gekümmert.
Das Altbausanierungsprogramm ist heutzutage wichtiger
als die Forderung nach mehr Wohnungsneubau, weil der
Bestand nur dann mit dem Neubau konkurrieren kann,
wenn er in Energieverbrauchsfragen zukunftssicher wird
und die Wohnnebenkosten durch gute Wärmedämmung
und durch einen guten energetischen Standard in der
Heizgeräteausstattung gesenkt werden können. Deswe-
gen haben wir das mit 2 Milliarden DM dotierte Altbau-
sanierungsprogramm auf den Weg gebracht. Das ist si-
cherlich besser, als immer nur zu jammern und mehr
Neubau zu fordern.
Bei allen anderen Fragestellungen beschränke ich mich
auf kurze Stichworte. Das 100 000-Dächer-Programm
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Franziska Eichstädt-Bohlig
16339
stellt ebenfalls eine Qualifizierung dar, die man nicht nur
unter energetischen, sondern auch unter Zukunftsge-
sichtspunkten sehen muss, weil ein solches Haus irgend-
wann einen Wert bekommt, der es zukunftsfest macht.
Das Markteinführungsprogramm für Solarthermie
zeigt, dass wir auch in Fragen der aktiven Energienutzung
viel für Investitionen im Immobilienbereich getan haben.
Ein Letztes, das gerade aktuell ist: Wir wissen, dass es
über das so genannte Entnahmemodell viele Auseinan-
dersetzungen gab, hoffen jetzt aber, dass es an diesem
Freitag definitiv in die Altersvorsorge hineinkommt. Da-
mit sollten Sie sehr zufrieden sein; denn dies ist besser, als
hätten wir Ihre Forderung nach stärkerer Förderung der
Bausparkassen erfüllt. Da wäre viel Geld weniger effizi-
ent ausgegeben worden. Insoweit haben wir hier wieder
ein Beispiel dafür, dass wir mit knappen Mitteln sparsam
und treffsicher an die wohnungspolitische Herausforde-
rung herangehen, die auch in der Altersvorsorge steckt.
Wir haben uns dieser Herausforderung gestellt, wenn
auch teilweise mit Schwierigkeiten und mit Ihrer Unter-
stützung.
In dem Sinne tut diese Koalition sehr viel, um in der
Wohnungs- und Städtebaupolitik Schritt für Schritt die
Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Ich finde es
toll, Herr Kollege Kansy, wenn Sie dies akzeptierten, an-
statt nach dem nächsten Schweinezyklus zu rufen.
Jetzt hat der Kollege
Hans-Michael Goldmann für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ein wenig da-
rüber irritiert, Frau Eichstädt-Bohlig, dass Sie irritiert
sind, denn eigentlich ist die Sache ganz einfach: Der
Wohngeld- und Mietenbericht von 1999 sagt schlicht und
ergreifend aus, dass die Situation im Wohnungsbau bis
zum Jahr 1998 an der einen oder anderen Stelle zwar ein
wenig schwierig, aber insgesamt super war.
Es gab jede Menge Wohnungen. Die Mieten waren nied-
rig.
Das stimmt. Haben Sie denn in den Bericht hineinge-
guckt? Das haben Sie wahrscheinlich nicht. Gerade für
die Menschen in den neuen Ländern war die Situation gut.
Dem Bericht ist zu entnehmen, dass sie nur 20 Prozent ih-
res Einkommens für Miete ausgeben mussten. Dadurch
hatten sie noch viel Geld zur Verfügung. Ebenso waren
die Mietsteigerungen gering. Es war also eine hervor-
ragende Situation.
Wir als Freie Demokraten sind zusammen mit den
Christdemokraten und der CSU ich zähle alle Parteien
auf; so viel Zeit muss sein natürlich froh darüber, dass
wir dieses Angebot unterbreiten konnten. Das werden Sie
uns doch wohl nicht übel nehmen. Wir waren froh da-
rüber, dass die Situation der Betriebe, obwohl sie damals
schon das eine oder andere Problem hatten, und die
Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
diesem Bereich gut war.
Vor zwei Tagen war ich Herr Spanier, Sie waren lei-
der nicht dabei bei Vertretern der Bauindustrie Berlin/
Brandenburg. Sie haben nicht gejammert, sondern haben
mir gegenüber festgestellt, dass es bei ihnen seit sieben
Jahren bergab geht und dass sie einfach nicht mehr wei-
terwissen.
Besonders schlimm sei es aber erst seit 1998. Das haben
nicht nur meine Gesprächspartner gesagt. Diese Entwick-
lung kann jeder feststellen, der sich damit beschäftigt,
auch Sie, Herr Spanier. In dem Bericht werden schon An-
zeichen genannt, wo bestimmte Probleme entstehen.
Frau Eichstädt-Bohlig, ich verstehe überhaupt nicht,
dass Sie zu einer der Kernaussagen in diesem Bericht,
nämlich zum Leerstand, der uns vor große Probleme stel-
len wird, kein Wort sagen. Der Leerstand ist das Problem,
vor dem die Städte in den neuen Ländern stehen, wie sie
auch immer wieder sagen.
Frau Eichstädt-Bohlig, hören Sie mir doch bitte zu! Im
Moment brauchen sie allerdings nicht darauf hinzuwei-
sen, weil sie genau wissen, dass Sie keine Antwort darauf
haben. Das ist das Problem. Sie haben bis jetzt auf das,
was die Lehmann-Grube-Kommission vorgeschlagen
hat, absolut keine Lösungsansätze auf den Weg gebracht.
Ich denke, Sie sollten in diesem Punkt von der F.D.P.
lernen. Die F.D.P. das haben Sie doch wohl gelesen hat
ein Programm entwickelt. Mit diesem Programm will sie
zum Beispiel beim Wohngeld mehr für die neuen Länder
tun. Sie will für diejenigen in den neuen Ländern mehr
tun, die nur einige wenige Wohnungen haben. Insgesamt
will sie 1 Milliarde DM ausgeben, damit die Städte in den
neuen Ländern Konzepte entwickeln können, aus denen
sich Lösungen ergeben, die der jeweiligen individuellen
Situation vor Ort gerecht werden. Ich denke, das ist ein
glänzender Vorschlag.
Nun will ich etwas zu dem von Ihnen zum Schluss Ih-
rer Rede gelobten Altersvermögensgesetz sagen. Sie
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Franziska Eichstädt-Bohlig
16340
wissen doch, dass das, was Sie beschlossen haben, nicht
funktioniert. Sie können ja rechnen.
Sie haben sicherlich auch die Beispiele zur Kenntnis ge-
nommen, die man dort vorgebracht hat.
Herr Spanier, Sie sind doch für Familienpolitik. Ich
nenne als Beispiel eine Familie mit zwei Kindern; die El-
tern sind 35 Jahre alt; sie nehmen für ein 300 000 DM-
Haus 50 000 DM auf. Das bedeutet für diese Familie bei
Auslaufen der Eigenheimzulage eine monatliche Belas-
tung von hören Sie nun gut zu 1 800 DM und das in
einer Situation, in der bei dieser Familie, wie ich hoffe, die
Kinder in Ausbildung, wenn nicht sogar in hochschu-
lischer Ausbildung sind.
Herr Kollege, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-
Bohlig?
Nein, ich möchte
diesen Gedanken gerne fortführen. Diese Belastungen
können sich diese Familien überhaupt nicht leisten. Ge-
rade für die Schwellenhaushalte, die zur Schaffung sozia-
ler Sicherheit Eigentum bilden sollen, ist dieses Modell
nicht geeignet. Dieses Modell ist das will ich zugeben
etwas mehr als das, was früher angedacht war. Herr
Riester wollte in diesem Bereich ja gar nichts; er hatte den
Stellenwert der Immobilie in der Altersvorsorge über-
haupt nicht verstanden.
Aber das Modell, das Sie auf den Weg gebracht haben, ist
kein Modell für soziale Sicherheit, ist kein Modell für in-
telligente Antworten im Wohnungsbau.
Ich bin wie Sie der Meinung, dass es dort nicht mehr so
weitergehen kann wie früher. Nein, es geht darum, die
Wohnraumsituation an die sozialen Veränderungen in un-
serer Gesellschaft anzupassen. Es geht darum, Wohnraum
zu schaffen zum Beispiel nach dem Schweizer Modell
für Menschen, die besonders mobil sind, Wohnraum zu
schaffen für Menschen, die alleine leben oder allein er-
ziehend sind. Insofern bin ich ja voll auf Ihrer Seite. Nur,
das Problem ist doch, dass Sie nicht bereit sind, die Si-
gnale des Berichtes in dem Bericht wird ja durchaus dar-
gestellt, was Sie alles tun wollen wahrzunehmen.
Nehmen wir den sozialen Wohnungsbau: Das ist ja
nun der Witz überhaupt.
Wir wollen ihn nicht abschaffen, wir wollen ihn effek-
tiv gestalten, indem wir dafür sorgen, dass das Geld bei
den Menschen ankommt, die Wohnraum nachfragen.
Was machen Sie denn? Sie legen Kriterien fest. Wenn
man das durchrechnet, dann gibt es nach Ihrem Modell
es ist erschütternd, Frau Eichstädt-Bohlig, dass die Grü-
nen so etwas auf den Weg bringen pro Familie und Jahr
ganze 30 DM. Auf den Monat gerechnet ergibt das auch
wenn ich weiß, dass dies ein etwas gewagter Vergleich ist
so viel, wie derzeit ein Liter Superbenzin kostet.
Das ist Ihre Hilfe im Bereich des sozialen Wohnungsbaus
2,50 DM pro Monat! , wenn die Förderung all die in
Anspruch nehmen, von denen Sie meinen, dass sie sie in
Anspruch nehmen sollten.
Sie sind in diesem Bereich schlecht. Das ärgert mich
sehr, weil sich das ein bisschen auch auf unsere gesamte
Arbeit überträgt. Mich ärgert es, dass bei dieser Debatte
weder der Minister noch ein Staatssekretär auf der Regie-
rungsbank Platz genommen haben. Mich ärgert es, dass
die Regierung noch nicht einmal zum Wohngeld- und
Mietenbericht das Wort ergreift. Mich ärgert das, weil
man daran deutlich sieht, dass die Probleme, vor denen
wir stehen, seitens Rot-Grün und seitens der Regierung
nicht so angegangen werden, wie es nötig ist.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, bei dem ich auf
Gemeinsamkeit hoffe. Ich bin wie Frau Eichstädt-Bohlig
und wie viele andere der Meinung, dass wir uns um das
kümmern müssen, was sich in den Städten tut. Ich weiß
nicht, ob Sie gestern den Fernsehbericht Leeres Land
gesehen haben.
Bayern war gut, Herr Kollege, aber nach diesem Bericht
war ich bedient. Wir sollten uns mit diesem Problem be-
schäftigen. Ich will nur eine Zahl, die dort genannt wurde,
in den Raum stellen: In 40 Jahren wird die Bundesrepu-
blik Deutschland nicht mehr über 80 Millionen, sondern
knapp über 50 Millionen Einwohner haben.
Da war von Städten und Dörfern die Rede, die schon heute
leer sind. Wir müssen uns mit dieser Problematik intensiv
auseinander setzen. Wir müssen, wenn wir in den Städten
Leben, Sicherheit, Kultur, Sport erhalten wollen, völlig
neue Wege gehen und wir müssen uns von einem guten
Teil dessen, was nach dem Krieg über 50 Jahre bei uns ge-
wachsen ist, verabschieden.
Darüber können wir ja gemeinsam reden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Hans-Michael Goldmann
16341
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Jawohl, ich höre
jetzt auf. Was Sie, Herr Spanier, wollen, ist ja keine so-
ziale Wohnraumförderung. Ihre Maßnahmen ich habe es
Ihnen eben vorgerechnet nutzen nichts. Ich bin für die
soziale Stadt. Aber wir dürfen die soziale Stadt nicht ver-
engen auf das, was sie bis jetzt beinhaltet, sondern müs-
sen daraus ein Modell Zukunft unserer Städte insgesamt
entwickeln. Wir werden dazu Vorschläge machen. Ich
würde mich freuen, wenn wir in dieser Frage viel Ge-
meinsamkeit entwickeln.
Herzlichen Dank.
Die Abgeordnete der
PDS-Fraktion hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Da-
mit erteile ich das Wort der Kollegin Iris Gleicke für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die wohnungspolitische Diskussion
wird derzeit wesentlich bestimmt und überschattet vom
dramatischen Wohnungsleerstand in Ostdeutschland. Der
Bericht, den die Kommission zum wohnungswirtschaftli-
chen Strukturwandel in den neuen Bundesländern im
Herbst im Auftrag der Bundesregierung vorgelegt hat, ist
nicht nur in wohnungspolitischer Hinsicht ein bemer-
kenswertes Dokument. Der aufgeschlossene und unvor-
eingenommene Leser findet in diesem Bericht in weiten
Teilen eine vorzügliche Analyse der allgemeinen Lebens-
situation in Ostdeutschland.
Der Leerstandsbericht macht vor allen Dingen eines
deutlich: Veränderte Lebensgewohnheiten in Verbindung
mit Wanderungsbewegungen und demographischer
Entwicklung stellen die Wohnungspolitik vor eine gewal-
tige Herausforderung. Und: Es ist eine gesamtdeutsche
Herausforderung.
Dabei geht es nicht nur um Geld für den Osten. Dabei
geht es keineswegs nur darum, wieder einmal die Solida-
rität des Westens einzufordern; denn in gar nicht so ferner
Zukunft wird es auch im Westen ein Leerstandsproblem
geben. Das bestätigen alle Experten. Die demographische
Entwicklung lässt überhaupt keine anderen Schlüsse zu.
Das Leerstandsproblem überschattet wichtige Erfolge,
die wir unterdessen erzielt haben. Ich denke dabei vor al-
lem an die gesamtdeutsche Wohngeldnovelle, die im Ja-
nuar in Kraft getreten ist.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie schrei-
ben in Ihrem Antrag, wir hätten die Wohngeldnovelle hi-
nausgezögert. Das finde ich ausgesprochen schäbig. Mir
platzt bald wirklich der Kragen. Das ist eine bodenlose
Unverschämtheit!
Sie haben in Ihrer Regierungszeit die Wohngeldnovelle
immer wieder versprochen und dann auf den Sankt-Nim-
merleins-Tag verschoben. Wir haben nach dem Regie-
rungswechsel die Wohngeldnovelle in Angriff genom-
men, eine solide Finanzierung gefunden und den Kreis der
Anspruchsberechtigten erheblich ausgeweitet.
Das ist die Wahrheit und nichts anderes. Anstatt unserem
Staatssekretär Achim Großmann dafür zu danken, dass er
dies durchgesetzt hat, wollen Sie die Leute für dumm ver-
kaufen! Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Es täte Ihnen sowieso recht gut, wenn Sie sich einmal
ernsthaft mit den Problemen befassen würden. Ich habe
nichts gegen eine gelungene Polemik, aber Ihre ist wirk-
lich grottenmäßig; das ist unterste Schublade. Was im
Osten vor sich geht, haben Sie offensichtlich überhaupt
nicht verstanden.
Offensichtlich doch, Frau Kollegin. Eigentlich müss-
ten Sie wissen, dass der Leerstand unter anderem darauf
zurückzuführen ist, dass die Menschen ins Umland gezo-
gen sind und ein Häuschen gebaut haben. Trotzdem
schreiben Sie in Ihrem Entschließungsantrag:
Der inzwischen in allen neuen Ländern zu verzeich-
nende Überhang an Mietwohnraum spiegelt teil-
weise diese Nachfrageveränderungen wider, stellt
aber vor allem Spätfolgen einer verfehlten DDR-
Wohnungswirtschafts-, Standort- und städtischen
Planungspolitik dar.
Wissen Sie eigentlich, was Sie den Leuten damit sa-
gen? Sie haben überhaupt keine Ahnung, wie lange man
in der DDR auf eine solche Wohnung warten musste.
Wir waren froh und glücklich, wenn wir endlich eine
Wohnung mit einer Heizung hatten. Wir waren froh und
glücklich, wenn man endlich eine Wohnung mit Bad be-
saß. Wir waren froh und glücklich, wenn das Klo inner-
halb der Wohnung war. Wir waren stolz auf diese Woh-
nungen.
Wenn Sie ehrlich wären, dann müssten Sie zugeben,
dass der Leerstand auch das Ergebnis politischer Fehler
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 200116342
1) Anlage 2
der Nachwendezeit und einer Förderpolitik ist, die sich im
Nachhinein als teilweise verfehlt darstellt.
Aber Sie wollen sich aus der Verantwortung stehlen. Mit
den Fehlentwicklungen im Osten haben die Union und die
F.D.P. wieder einmal nichts zu tun.
Das sind bloß alles Erblasten aus der DDR-Zeit.
Wissen Sie, Sie haben wirklich einen unglaublichen
Gedächtnisverlust. Aber ich will Ihrem Gedächtnis gerne
auf die Sprünge helfen.
Als der Leerstandsbericht vorlag und wir Überlegungen
angestellt haben, wie wir das Wohnen im Bestand fördern
sowie die weitere Zersiedlung und Abwanderung ver-
meiden können und wie wir die Städte so attraktiv machen
können, dass die Leute dort gerne wohnen bleiben,
da haben Sie ganz locker behauptet, wir wollten die Men-
schen wieder in die Arbeiterschließfächer zurückschicken.
Das ist wirklich unglaublich und eine bodenlose Frech-
heit. Ihre ganze Wohnungspolitik im Osten hat darauf be-
ruht, dass die Leute genau diese Wohnungen, diese Ar-
beiterschließfächer, kaufen sollten. Das war nämlich Sinn
und Zweck der Privatisierungsquote im Altschuldenhilfe-
Gesetz.
Das ist Ihr politischer Stil: Sie üben keinerlei Selbstkritik.
Herr Kollege Grund, das wird auf Sie zurückfallen. Das
garantiere ich Ihnen. Wir haben das Altschuldenhilfe-
Gesetz reformiert und novelliert. Wir haben dafür gesorgt,
dass ein Leerstandsbericht vorliegt, der die Sünden und
Irrtümer der Vergangenheit ebenso schonungslos wie dif-
ferenziert offen legt.
Was wir jetzt brauchen und was jetzt kommen muss, ist
ein Stadtumbauprogramm für den Osten. Ich spreche
lieber von Stadtumbau als von Stadterneuerung, weil es
hier um wirkliche Gestaltung geht. Die Probleme sind
eben nicht nur mit Dynamit und der Abrissbirne zu lösen.
Der Abriss wird ja schon praktiziert, und von mir aus kann
man das auch Rückbau nennen, das klingt ja schon ir-
gendwie netter. Und es geht auch nicht um eine Konjunk-
turspritze für die daniederliegende Bauwirtschaft oder um
eine reine Maßnahme zur Marktbereinigung zugunsten
der Wohnungsunternehmen.
Erst recht geht es nicht um ein Arbeitsbeschaffungs-
programm nach dem guten alten DDR-Motto wir bauen
auf und reißen nieder, Arbeit gibt es immer wieder.
Es geht darum, die Städte lebenswert zu machen. Wir
brauchen echte städtebauliche Konzepte; wir brauchen
den Mut, die Fantasie und die Kreativität aller, die an die-
sem Projekt beteiligt sind.
Wenn hässliche leer stehende Häuser abgerissen wer-
den, wenn das Wohnumfeld sich spürbar verbessert, wenn
das alles kinder- und familienfreundlich gestaltet wird,
wenn die Leute nicht mehr so weit zur Arbeit fahren müs-
sen, dann bedeutet das mehr Lebensqualität. Wenn dieses
Projekt gelingt, kann der Osten da auch eine echte Pilot-
funktion und Vorbildfunktion übernehmen.
Ich sage es noch einmal: Auch auf den Westen kommt
in absehbarer Zeit ein Leerstandsproblem zu. Und dann
wird man auf die Erfahrungen mit dem Stadtumbaupro-
gramm Ost zurückgreifen können.
Ich will hier noch eines klarstellen: Es wäre absolut
verheerend, wenn im Westen jetzt der Eindruck entstünde,
dass nach dem Geld für den Aufbau Ost jetzt neue Mittel
für den Abriss Ost gefordert werden. Ich höre ja schon
wieder das Gequatsche vom Milliardengrab.
Es geht hier um Investitionen in unsere gemeinsame ge-
samtdeutsche Zukunft. Das jetzt so reiche Bayern ist jahr-
zehntelang gefördert worden.
Es muss endlich damit Schluss sein, dass die Ostdeut-
schen immer als Bittsteller dastehen. Wir sitzen nicht
mehr hinter der Mauer und machen mit glänzenden Au-
gen die Westpakete auf.
Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat der Kollege Eduard Oswald das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der erstmals
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Iris Gleicke
16343
von der neuen Bundesregierung vorgelegte Wohngeld-
und Mietenbericht ist ein eindrucksvolles Dokument ei-
ner erfolgreichen Wohnungspolitik der Vorgängerregie-
rungen.
Deswegen sagen Sie zu dem Bericht nichts. Wenn ich
mir anschaue, wer auf der Rednerliste steht, stelle ich fest:
Auch die Bundesregierung sagt erstaunlicherweise nichts
dazu. Es ist schon merkwürdig, dass sich die Bundesre-
gierung zu ihrem eigenen Bericht nicht äußert.
Dies ist aber auch das Eingeständnis der heutigen Regie-
rungsfraktionen, in ihrer Oppositionszeit eine falsche In-
vestitionspolitik betrieben zu haben.
Denn staatliche Markt- und Preisreglementierung ist das
falsche Rezept. Für uns gilt, wie Dietmar Kansy richtig
gesagt hat: Mehr Wohnungen sind der beste Mieterschutz.
Das ist unsere Position.
Frau Kollegin Gleicke, Sie haben Recht: Wir haben in
Deutschland einen differenzierten Wohnungsmarkt.
Die Leerstandsproblematik ist eine unglaubliche He-
rausforderung für uns alle und wir nehmen diese auch ins-
gesamt an.
In Ballungsgebieten wird die Situation im Immobilien-
bereich zunehmend kritischer. Die Investitionen in den
Wohnungsbau gehen dramatisch zurück. Abzulesen ist
dies an der Zahl der fertig gestellten Wohneinheiten. Lag
sie 1997 noch bei 587 000, so sackte sie im letzten Jahr
auf nur noch 443 000 ab und im laufenden Jahr gehen die
Prognosen von nur noch 358 000 Wohnungen aus.
Der Direktor des Deutschen Mieterbundes, Franz-
Georg Rips, sagt ich zitiere :
In Deutschland droht eine neue Wohnungsknappheit,
in Ballungsgebieten auch Wohnungsnot. Schon jetzt
fehlen rund 1 Million Wohnungen. Das wird sich in
zwei bis drei Jahren auf die Mieten auswirken. Die
Wohnungsnot wird vor allem einkommensschwache
Haushalte treffen.
So weit der Direktor des Deutschen Mieterbundes, der
ja hier im Hause bekannt ist.
Auch beim Eigenheimbau, der in den letzten Jahren
die tragende Säule des Wohnungsbaus war, geht es nicht
mehr voran. Hier ist heuer bei den Fertigstellungen mit ei-
nem Rückgang um rund 7 Prozent zu rechnen. Trotz des
ungebrochenen Wunsches nach den eigenen vier Wänden
wird das Potenzial beim Eigenheimbau nicht ausge-
schöpft. Das ist das Problem. Durch eine wachsende Woh-
nungsnachfrage, die auf ein immer knapper werdendes
Angebot trifft insbesondere in Ballungsräumen, zum
Beispiel in der Landeshauptstadt München , ist wieder
mit stärkeren Mietpreissteigerungen zu rechnen. Ins-
besondere Familien haben zunehmend Schwierigkeiten
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie haben das richtig
analysiert , erschwinglichen Wohnraum zu finden.
Tatsache ist: Die rot-grüne Bundesregierung hat die
steuerlichen Rahmenbedingungen so verschlechtert, dass
sich die Kapitalanleger aus dem Wohnungsbau nahezu
vollständig zurückgezogen haben. Auch die Änderungen
im Mietrecht fördern nicht gerade das Vertrauen der
Investoren. Um die negative Entwicklung umzukehren
und Investoren für diesen volkswirtschaftlich wichtigen
Sektor zurückzugewinnen, brauchen wir schnellstmög-
lich eine Offensive zur Verbesserung der Investitionsbe-
dingungen bei Immobilien. Das ist eine Herausforderung
für uns.
Gerade im Geschosswohnungsbau machen sich die ver-
schlechterten steuerlichen Rahmenbedingungen immer
stärker bemerkbar. Die Defizite der steuerlichen Rahmen-
bedingungen liegen insbesondere erstens in der Beschrän-
kung der Verlustrechnung bei Vermietung und Verpach-
tung, zweitens in der überlangen Ausdehnung der
Spekulationsfrist bei privaten Grundstücksverkäufen von
zwei auf zehn Jahre und drittens in der Einschränkung der
Verteilungsmöglichkeit des Investitionsaufwandes für ver-
mietete Häuser auf mehrere Jahre.
Daneben muss die Verteilung größerer Erhaltungs-
aufwendungen für vermietete Häuser und Wohnungen
wieder zugelassen werden. Es gilt die Grunderkenntnis:
Wenn Vermieten uninteressant wird, unterbleiben Inves-
titionen und die Mieten steigen. An dieser Erkenntnis
kommt niemand vorbei.
Wer etwas für Mieter tun will das will ich und das wol-
len wir hoffentlich alle , muss für ausreichenden Wohn-
raum sorgen.
Wir brauchen eine Immobilienoffensive, mit der das
durch die Steuerpolitik der Bundesregierung beschädigte
Vertrauen von Investoren auf diesem wichtigen volks-
wirtschaftlichen Sektor zurückgewonnen und dauerhaft
gestärkt werden kann. Wenn schon der Staatssekretär aus
dem Bauministerium nicht da ist, sollte wenigstens ein
Staatssekretär aus dem Finanzministerium anwesend
sein.
Mit verbesserten steuerlichen Rahmenbedingungen ist ei-
ner Verknappung von Wohnraum insbesondere in Bal-
lungsräumen entgegenzuwirken, die vor allem Familien
treffen würde.
Wir sind uns darin einig, dass neben dem Wohngeld,
das als allgemeines finanzielles Förderinstrument vor al-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Eduard Oswald
16344
lem bei der Begrenzung der Mietbelastung und bei der Er-
haltung einer vorhandenen Wohnungsversorgung in Fäl-
len von Einkommensverlusten wirksam ist, weiterhin das
Instrument des sozialen Wohnungsbaus benötigt wird.
Wir werden in der kommenden Woche eine umfangreiche
Anhörung zur Reform des sozialen Wohnungsbaus im
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen durch-
führen.
Für mich, Herr Kollege Schmidt, gilt: Die Wahrneh-
mung der Bundeskompetenz zur Reform des Rechts des
sozialen Wohnungsbaus ist nur in Verbindung mit einem
starken finanziellen Engagement des Bundes möglich.
Ansonsten kann in diesem Bereich der Bund nicht die
Wirkung entfalten, die er eigentlich entfalten müsste.
Neben dem Wohngeld und dem sozialen Wohnungsbau
ist das Mietrecht die dritte Säule der sozialen Absiche-
rung des Wohnens. Sie haben auf diesem Gebiet durch das
neue Recht die Mieter- und Vermieterinteressen aus dem
Gleichgewicht gebracht.
Sie sagen Quatsch. Warum hat der Bundesrat das Vor-
haben dann aufgehalten?
Ihre Reform führt nicht zu einem partnerschaftlichen
Vertragsverhältnis, sondern zu mehr Streitpunkten. Wir
stehen zum sozialen Mietrecht. Wir wollen aber keine
Schlagseite, weder in die eine noch in die andere Rich-
tung.
Kein Wohngeld- oder Mietenbericht kann ohne das
Thema der zweiten Miete, der Mietnebenkosten, erör-
tert werden. Eine Kommission wir haben es heute schon
gehört soll das Thema Kostensenkungsstrategien bei
den Wohnnebenkosten behandeln. Wir sind auf die Er-
gebnisse, die Sie, Herr Kollege Spanier, bereits angekün-
digt haben, sehr gespannt.
Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, welches Ergeb-
nis an erster Stelle der Analyse stehen wird. Sie müssen ja
nur einmal mit den Mieterinnen und Mietern reden. Sie
hören es nicht gerne: Seit Einführung der Ökosteuer, die
für den überproportionalen Anstieg der Heizöl- und Gas-
preise verantwortlich ist, ist die Bundesregierung zum
Preistreiber Nummer eins bei den Wohnkosten der Mieter
und Eigentümer selbst genutzten Wohnraums geworden.
Das muss gesagt werden; was wahr ist, ist wahr.
Wo es wehtut, wird es in diesem Haus immer laut; das
ist bekannt. Wir verfahren nach dem Grundsatz: Wo es
wehtut, muss man immer wieder draufdrücken. Insofern
werden wir Ihnen das Thema niemals ersparen können.
Ich stimme dem zu, was Sie zum Thema soziale Stadt
gesagt haben. Das ist für uns alle ein unheimlich wichti-
ges Thema. Es ist ja auch ein gemeinsames Bund-Länder-
Programm in unserer Regierungszeit vorbereitet worden.
Ich frage die Koalition und die Bundesregierung nur, was
eigentlich aus der Initiative Pro Innenstadt geworden ist,
die die ehemalige Bundesregierung angeschoben hat. Hier
sind Sie gefordert, etwas zu tun. Sie sollten die Umsetzung
dieses Programms nicht deshalb auf die lange Bank schie-
ben oder es in Vergessenheit geraten lassen, weil wir es ini-
tiiert haben. Frau Kollegin Mertens, hier könnten Sie et-
was tun und damit sollte sich Ihr Haus befassen.
Wir brauchen also eine Offensive zur Verbesserung der
Investitionsbedingungen für Immobilien; denn Woh-
nungsknappheit führt zu Mietsteigerungen. Heben Sie die
Einkommensgrenzen bei der Eigenheimzulage wieder an,
damit vorhandenes Eigenkapital stärker für den Erwerb
von Wohneigentum mobilisiert wird! Dass mietfreies
Wohnen im Alter ein immer wichtigerer Baustein der indi-
viduellen Altersvorsorge wird, brauche ich hier nicht wei-
ter zu vertiefen. Damit haben wir uns bereits in den letz-
ten Wochen sehr intensiv beschäftigt.
Wir fordern Sie auf: Räumen Sie der Wohnungsbaupo-
litik, also der Politik für Mieter und Vermieter, wieder ei-
nen höheren Stellenwert in Ihrer Gesamtpolitik ein! Stel-
len Sie die verloren gegangene Abstimmung zwischen
Wohnungspolitik, Steuerpolitik und Mietenpolitik wieder
her und sorgen Sie für verbesserte Rahmenbedingungen
für den Wohnungsbau, damit wieder mehr investiert wird
und gerade junge Familien und einkommensschwächere
Haushalte davon profitieren!
Herzlichen Dank.
Als Letzter in dieser
Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele
Iwersen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Oswald, Sie haben ja wieder schrecklich krauses Zeug er-
zählt. Wenn ich nur daran denke, dass Sie mit Ihrer
Immobilienoffensive die Ballungsgebiete retten wollen,
die leider keinen Baugrund und -boden mehr haben, was
sonst immer allgemein bedauert wird!
Reden Sie nur!
Das, was Sie hervorrufen werden, ist eine aussterbende
Stadt mittlerer Größe, umgeben von einem Gürtel aus Häu-
sern, in denen die Opfer der Scheidungsanwälte sitzen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Eduard Oswald
16345
Der Wohngeld- und Mietenbericht gibt nicht nur Aus-
kunft über die finanzielle Situation der Mieterhaushalte,
sondern unausgesprochen auch über die Lebensphilo-
sophie unserer Gesellschaft. Im Vergleich zu anderen
europäischen Gesellschaften haben die privaten vier
Wände bei uns eine sehr viel größere Bedeutung. Die
Wohnung ist ein hohes Gut, das niemandem vorenthalten
werden darf, auch wenn er nur über ein geringes Einkom-
men verfügt bzw. ersatzweise Sozialhilfe bezieht.
Die Gegenüberstellung der Mietbelastungsquoten vor
und nach Wohngeld, auf die eigentlich niemand bis auf
Herrn Goldmann, wenn auch völlig falsch, eingegangen
ist, zeigt deutlich die familienorientierte Ausgestaltung des
Wohngeldes. Reduziert sich die Mietbelastung eines ein-
kommensschwachen Einpersonenhaushalts durch das
Wohngeld von 44 Prozent auf 35 Prozent, so sinkt die
Quote bei einem entsprechenden Vierpersonenhaushalt
von 33 Prozent auf 24,6 Prozent. Mit Ihren 20 Prozent ist
in den einkommensschwachen Familien also sowieso
leider nichts zu machen. Aber man sieht, dass das
Wohngeld
hören Sie auf, dazwischenzurufen; Sie haben lange ge-
nug geredet; das war schlimm genug für uns alle gerade
für Familien eine erhebliche Bedeutung hat.
Bund und Länder teilen sich die Wohngeldkosten, wie
vermutlich bekannt ist, jeweils zur Hälfte. Im Jahr 1999
waren das zusammen knapp 7 Milliarden DM. Ab 2001
werden durch die Wohngeldnovelle 1,4 Milliarden DM
dazukommen. Ich erwähne das nur, falls Sie das noch
nicht mitbekommen haben sollten.
Noch immer gibt es bei der Ausstattung der Wohnun-
gen in Bezug auf Heizung, sanitäre Anlagen und die für
die Wirtschaftlichkeit so wichtige Wärmedämmung der
Außenhaut Frau Eichstädt-Bohlig hatte das schon er-
wähnt ein erhebliches Qualitätsgefälle. Das heißt, es ist
noch viel zu tun. Es besteht kein Zweifel: Die Kosten für
das Billigsegment des Wohnungsmarktes werden weiter
steigen.
Ist das so gewollt?, wird vielleicht der eine oder an-
dere fragen. Ja, es ist gewollt. Weil das so ist, musste das
Wohngeld angehoben werden. Wir wollen die Lebenssi-
tuation besonders in unseren Städten so gestalten und
auch immer wieder dahin gehend anpassen, dass sie un-
serem Ziel der Chancengleichheit gerecht wird.
Die Wohnung ist für den Menschen die dritte Haut, sie
schützt vor Unbilden der Witterung und vor sonstigen Ge-
fahren. Sie ist Mittelpunkt eines Lebensraumes, in dem
der Mensch seine Wurzeln Jahr für Jahr weiter schlägt.
Wohngeld hilft, diese Bezüge zu erhalten, auch in Zeiten
finanzieller Engpässe. Dabei muss in Zukunft noch stär-
ker darauf geachtet werden, dass sich die Chancengleich-
heit, besonders für Familien mit Kindern, nicht nur an der
Ausstattung, sondern auch am Umfeld festmacht. Der Le-
bensraum Stadt oder auch Dorf ist die prägende Kraft, die
zur Identität eines Ortes führt, die seine Bewohner fesselt.
Dies im positiven Sinne zu ermöglichen ist Aufgabe des
Wohngeldes.
Das genügt aber nicht. Die Idee der sozialen Stadt ist
die notwendige Ergänzung. Sie soll zunächst soziale
Brennpunkte entschärfen und auf weitere Sicht verhin-
dern. Die Wohnquartiere müssen für ihre Bewohner le-
benswert bleiben; sie dürfen daher nicht allzu stark ver-
fremdet werden. Wir alle wissen sehr genau, dass Städte
lebendig sind und sich ständig verändern.
Das Stichwort sozialer Wohnungsbau ist bei diesem
Thema natürlich nahe liegend. Die Zeiten sind vorbei, als
möglichst viele gleichwertige Wohnungen nach starren
Förderrichtlinien in Erfüllung der Vorgaben von Bebau-
ungsplänen entstanden, in der Hoffnung, dass Gleiches
auch gleich glücklich macht. Der erste Förderweg ist ein-
fach überholt; unsere Bemühungen um ein neues Recht
für den sozialen Wohnungsbau sind angemessen.
Wir haben jetzt andere wichtige Aufgaben wahrzuneh-
men. Rettet die Städte jetzt, das war Ende der
70er-Jahre einmal das Motto eines Deutschen Städtetages.
Auch 20 Jahre später ist dieses Motto noch immer von Be-
deutung. Wir sollten nicht davor zurückschrecken, ver-
stärkt Förderprogramme zu entwickeln, um den Leerstand
von Wohnungen in den Kernstädten nicht nur im Os-
ten abzubauen, durch Umbau, Veränderung von Grund-
rissen, Zusammenlegung kleinster Wohnungen usw.
Besonders für einkommensschwache Haushalte kann ein
Balkon ein kleines Paradies sein.
Die Großstädte werden langsam, aber sicher immer
leerer und man fragt sich, warum. Vielleicht liegt es an der
Konzentration des Einzelhandels, der die fußläufige Ver-
sorgung der angestammten Wohnquartiere leider längst
aufgegeben hat und den Einsatz des Autos ohnehin er-
zwingt. Vielleicht liegt es aber auch an dem zu billigen
Sprit, was jeder Familie unbegrenzte Mobilität vorgau-
kelt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir unsere
Wohnverhältnisse nur noch in Zahlen ausdrücken die
meisten Beiträge dieser Debatte bestätigen das : in Ge-
winn und Verlust, natürlich immer auf ein ganzes Men-
schenleben gerechnet. Vielleicht ist eine Ehe schon nach
sieben Jahren kaputt, die Schulden für ein Haus sind mög-
licherweise noch nicht abbezahlt aber man hat dem Staat
wenigstens nichts geschenkt, siehe Eigenheimzulage.
Vielleicht ist das Wohnquartier mit einer gesunden Mi-
schung an Wohnungen, wie sie in den letzten 100 Jahren
und mehr erbaut worden sind, die Lösung, die es sinnvoll
erscheinen lässt, Wurzeln zu schlagen.
Sozialromantik werden Sie vielleicht sagen. Darauf
antworte ich Ihnen: Politiker sollten keine reinen Buch-
halter sein. Das bringt unsere Gesellschaft nicht weiter.
Wir brauchen auch Menschen, die die Entwicklung unse-
rer Gesellschaft mit einigem Optimismus begleiten und
die bereit sind, zu gestalten, statt nur zu verwalten. Stadt-
entwicklung als gesellschaftspolitische Aufgabe gehört zu
den wichtigsten hoheitlichen Aufgaben der Gemeinde. Wir
reden zwar immer von der Planungshoheit der Kommune;
dies darf sich aber nicht in der Ausweisung neuer Bauge-
biete erschöpfen, Hauptsache die Einwohnerzahl steigt.
Die Idee der sozialen Stadt darf nicht nur ein Krisen-
management darstellen; vielmehr soll der Begriff soziale
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gabriele Iwersen
16346
Stadt Motto für die Stadt sein, in der wir alle zusam-
men, mit und ohne Wohngeld leben.
Schönen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-
che 14/4705. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung, den Wohngeld- und Mietenbericht
1999 der Bundesregierung auf Drucksache 14/3070 zur
Kenntnis zu nehmen. Ich denke, dass Sie das alle gerne
wollen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU zum Wohngeld- und Mietenbericht 1999 ab-
zulehnen, Drucksache 14/4248. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? Die Gegenprobe! Wer enthält
sich? Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie
Zusatzpunkt 4 auf.
6. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen
zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard Lintner,
Dirk Fischer , Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Bahnreform 2 Neuer Schwung für die Bahn
zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich
, Hans-Michael Goldmann, Dr.
Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion F.D.P.
Bahnreform fortsetzen, Schienenverkehr stär-
ken vom Staatsbahnmonopol zum europä-
ischen Wettbewerb um den Eisenbahnkunden
Drucksachen 14/2691, 14/2781, 14/5952
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Eduard Lintner
Albert Schmidt
Horst Friedrich
Dr. Winfried Wolf
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Dehnel, Bernward Müller , Dirk Fischer
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Ausbau des Mitte-Deutschland-Schienenver-
kehrsnetzes konsequent vorantreiben
Drucksache 14/5756
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-
Schröter, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
Bürgerbahn statt Börsenbahn
Drucksachen 14/3784, 14/5953
Berichterstattung:
Abgeordneter Eduard Lintner
Alle Ausschussmitglieder können gleich sitzen bleiben;
das ist praktisch.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn
Eduard Lintner für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Kapitel
Bahn gerät der Regierungskoalition immer mehr zu einer
grotesken Veranstaltung; denn ein Ende dieses Hin und
Her, das wir seit Beginn dieser Legislaturperiode erleben,
ist überhaupt nicht in Sicht. Die Ungewissheit über die
wichtigen Rahmenbedingungen und politischen Vorgaben
hält unverändert an. Obwohl die oberen Manager gera-
dezu beschwörend von der Regierung immer wieder ver-
bindliche Zusagen über das Jahr 2003 hinaus verlangen,
werden ihnen diese Zusagen und diese Sicherheit hart-
näckig verweigert.
Da braucht man sich nicht zu wundern: Das macht es
dem Bahnvorstand natürlich auch objektiv unmöglich,
eine seriöse mittelfristige Investitionsplanung vorzule-
gen. Gerade eine solche ist höchst dringlich, und zwar
nach innen wie nach außen nach innen, um den malträ-
tierten Eisenbahnern endlich wieder Halt für die zum un-
ternehmerischen Erfolg ja unentbehrliche persönliche
emotionale Identifikation mit der eigenen Firma zu bie-
ten, und nach außen, um Kunden und Planer in die Lage
zu versetzen, sich auf die künftigen infrastrukturellen Ge-
gebenheiten bzw. auf die erforderlichen planerischen Ka-
pazitäten einzustellen.
Diese hartnäckige Kurzatmigkeit der Bundesregierung
zwingt die Bahnführung, sich mit ständigem Stopfen von
immer neu auftauchenden Finanzlöchern zu verausgaben.
So wird man die Ziele der 1994 so dynamisch begonnen
Bahnreform nie erreichen. Eine besonders wichtige Ziel-
marke dieser Reform haben die Bundesregierung und der
Bahnvorstand ja auch schon längst aufgegeben, nämlich
die eigentlich für 2004 angestrebte Kapitalmarktfähig-
keit, also den Gang an die Börse.
Erinnern wir uns kurz an den Ausgangspunkt für die
rot-grüne Koalition im Jahr 1998. Die Bahn war in eine
Aktiengesellschaft überführt, sie war entschuldet und
die renten- und pensionsrechtlichen Verpflichtungen wa-
ren neutralisiert worden. Die jährlichen Zuwendungen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Gabriele Iwersen
16347
wurden für einen Zeitraum von zehn Jahren beziffert und
zugesagt und sie waren im Ergebnis immer so hoch, wie
die Bahn sie tatsächlich auch abarbeiten konnte.
Mehr zu geben machte keinen Sinn, wie sich zeigte, weil
die Bahn offenbar bis heute nicht imstande ist, mehr als
6 bis 7 Milliarden DM jährlich zu investieren.
Das hat sich erst im letzten Jahr gezeigt, als Sie ja auch
verschämt zugeben mussten, dass die Bahn wieder um
1,1 Milliarden DM, die an sich zur Verfügung standen,
nicht ausgeben konnte. Alles wie gehabt; das gab es auch
zu unserer Zeit leider schon.
Herr Schmidt, daran ändert auch der Aufsichtsrat, dem
Sie angehören, nichts.
Weil wir meinen, dass Sie bei dem Bau von Neu-
baustrecken sehr wohl noch mehr Geld ausgeben könnten.
Das würde auch Sinn machen. Aber Sie stehen sich ideo-
logisch selber im Weg. Sie haben da eine Blockade, die
ich eigentlich nur als ideologische Borniertheit bezeich-
nen kann.
Diese Selbstblockade ist deshalb so besonders
schmerzlich, weil ja gerade der schnelle ICE-Verkehr ein
echtes Erfolgskapitel der Bahnpolitik ist.
Damit sind wirklich viele Menschen Geschäftsreisende,
Fernpendler und auch Fluggäste für die Bahn zurückge-
wonnen worden, was wir alle wollen. Denken Sie nur im
Ausschuss ist es am Mittwoch erwähnt worden an die
sehr erfolgreiche Sprinter-Verbindung zwischen Frank-
furt und Berlin. Das ist doch ein Erfolgsmodell. Sie könn-
ten beispielsweise 2 Milliarden DM für die Strecke Nürn-
bergErfurt ausgeben.
Aber das wollen Sie nicht, weil Sie einer grünen romanti-
schen Ideologie anhängen.
Das Bahnnetz muss weiter ergänzt werden. Für Neu-
baustrecken besteht durchaus Bedarf. Herr Schmidt, die
bloße Ertüchtigung des vorhandenen Netzes auf eine Ge-
schwindigkeit von etwa 160 Stundenkilometern reicht
nicht aus, um den gewünschten Effekt zu erzielen, näm-
lich mehr Kunden für die Bahn zu gewinnen. Dafür sind
die erreichbaren Fahrzeitverkürzungen einfach nicht at-
traktiv genug.
Sie sind aber andererseits bereit das ist zu beklagen ,
Hunderte von Millionen DM für die Ertüchtigung von
Strecken auszugeben, die Ihnen aber diesen großen Kun-
denansturm nicht bescheren werden,
weil dafür die erreichbaren Verbesserungen nicht ausrei-
chen. Denken Sie beispielsweise an die Strecke von Bam-
berg über Lichtenfels in Richtung Chemnitz. Sie wollen
etliche Summen in diese Strecke investieren.
Aber jeder, der die Topographie kennt, sagt heute, dass auf
dieser Strecke keine attraktiven Fahrzeiten erzielt werden
können.
Ich habe dieses Beispiel nur deshalb erwähnt, weil es
für die Eisenbahnphilosophie der rot-grünen Koalition
so typisch ist, siehe Kritik an der Neubaustrecke
KölnFrankfurt, siehe Ihre Verweigerungshaltung gegen-
über dem Transrapid. Kurioserweise wollen Sie im
Ruhrgebiet für den Bau des Transrapid als bessere S-
Bahn-Verbindung 1 Milliarde DM mehr ausgeben als für
die Strecke HamburgBerlin, für die Ihnen schon 6,3 Mil-
liarden DM zu viel waren.
Wer dies auf die Reihe bekommen will, der muss schon
bei Ihnen Mathematik gelernt haben.
Ich denke auch an den zähen Widerstand, den Sie bei
der Verbesserung der Strecke von Stuttgart nach München
über Ulm geleistet haben. Erst ein nicht mehr auszuschla-
gendes Vorfinanzierungsangebot der Länder Bayern und
Baden-Württemberg hat es Ihnen unmöglich gemacht,
Ihre Vorurteile gegen schnelle Bahnverbindungen auszu-
leben.
Die rot-grüne Verkehrspolitik kann deshalb nur als eine
Chronik gebrochener Versprechen und enttäuschter Hoff-
nungen bezeichnet werden. Ich erlebe, dass in den Wahl-
kreisen vor Ort der Kollege Fell ist anwesend der
eigenen Wählerklientel versprochen wird, den Schienen-
verkehr ohne Rücksicht auf die tatsächliche Nachfrage zu
erweitern. Heute müssen Sie aber scheibchenweise ein-
räumen, dass genau das Gegenteil geschieht.
Tatsache ist nämlich, dass beispielsweise der Inter-
regio-Verkehr weitgehend eingestellt werden wird. Ich
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Eduard Lintner
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habe per Zufall einen Fahrplanentwurf für das Jahr 2003,
also einen Entwurf für den übernächsten Fahrplan, gese-
hen. Ich kann Ihnen sagen, dass darin überhaupt kein In-
terregio mehr vorgesehen ist.
Obwohl wir wissen, dass zum Beispiel die Direktverbin-
dungen das Attraktivste aus der Sicht der Bahnkunden
sind, sollen diese Direktverbindungen zerschlagen und er-
setzt werden durch eine Abfolge von regionalen Eilzügen,
die ein dauerndes Umsteigen erforderlich machen.
Herr Mehdorn will ja allein heuer 31 Millionen Zugki-
lometer im Personenverkehr stilllegen.
Herr Schmidt, weitere 17 Millionen Kilometer erklärt er
ausdrücklich als aufgabewürdig. Auch der gesetzlichen
Konkretisierung der im Art. 87 e Abs. 4 des Grundgeset-
zes festgelegten Bedienungspflicht, gemäß einem Gesetz-
entwurf der Länder Bayern und Baden-Württemberg,
wollen Sie nicht näher treten. So ausdrücklich die Aus-
kunft des Herrn Bodewig ich wundere mich ohnehin,
wo er heute ist bei der Ausschusssitzung. Der Mieten-
bericht ist immerhin wichtig genug, dass der Minister
höchstpersönlich hier gewesen wäre. Ich meine jetzt gar
nicht unser Thema. Aber offensichtlich rangieren bei dem
Zustand dieses Ministeriums Bauen und Mieten nur unter
ferner liefen.
Jetzt zurück zum Thema. Es steht im Grundgesetz aus-
drücklich auch der Satz: Das Nähere wird durch Bun-
desgesetz geregelt. Dieser Verantwortung verweigern
Sie sich nachdrücklich.
Ich will jetzt auf den Regionalverkehr nicht weiter ein-
gehen, aber eines will ich doch noch ansprechen: Jetzt
kommt der Güterverkehr an die Reihe, nachdem wir im-
mer wieder von Einschränkungen im Personenverkehr
Kenntnis nehmen mussten. Dem Güterverkehr droht
überhaupt der totale Kahlschlag. Die Bahn AG zieht sich
praktisch aus der Fläche zurück. Dort sollen Private ein-
treten, sofern es die überhaupt gibt. Es kommt zu dem von
Ihnen immer wieder so lauthals dementierten Rückzug
aus der Fläche, es kommt eben zur Schrumpfbahn, und
das unter rot-grüner Federführung. Wer hätte das gedacht,
kann ich da nur hinzufügen.
Praktisch, gibt die Bahn damit auch die wachstums-
trächtigste Güterverkehrssparte, nämlich den kombinier-
ten Ladeverkehr, auf;
die drastische Reduzierung der Güterverkehrsannahme-
stellen im ganzen Land und die Kappung Tausender von
Gleisanschlüssen in Betrieben lässt das deutlich werden.
Diese Wählertäuschung zu verhindern oder zumindest
deutlich zu machen ist ja nicht zuletzt unser Anliegen, in-
dem wir einfach der Bahnpolitik dieser Bundesregierung
ständig eine hohe Aufmerksamkeit widmen.
Auch der Plan die überwiegende Zahl der Sachver-
ständigen bejaht ihn , Netz und Betrieb endlich vonei-
nander zu trennen, droht wieder in einem Arbeitskreis
versenkt zu werden; denn ich höre heute, dass die ur-
sprüngliche Zielsetzung, diese Taskforce solle bis zum
September ihren Vorschlag vorlegen, korrigiert worden
ist. Jetzt spricht man von Ende dieses Jahres. Wer weiß,
dass Ende dieses Jahres der Wahlkampf voll ausgebro-
chen ist, weiß auch, dass damit eigentlich schon für diese
Legislaturperiode dieses höchst wichtige Vorhaben von
Ihnen praktisch beerdigt worden ist. Damit ist Ihr dritter
Verkehrsminister innerhalb einer Legislaturperiode in ei-
nem ganz wichtigen Bereich gescheitert. Das kann man
heute schon feststellen.
Es wäre auch interessant, auf Ihre Ankündigung in Sa-
chen Europa hinzuweisen. Sie treten immer mit starken
Worten auf Verkehrsministerkonferenzen auf und müssen
hinterher kleinlaut eingestehen, nichts erreicht zu haben.
Am Mittwoch haben wir doch den blamablen Vorfall im
Ausschuss zur Kenntnis nehmen müssen, dass Sie aus-
drücklich einem französischen Vorhaben zu weiteren Ver-
billigungen in Sachen Benzin zugestimmt haben. Das
heißt, Sie haben den Wettbewerbsnachteil noch ver-
größert. Wir wissen ja, dass die Franzosen durch das kon-
sequente Schützen ihres Monopols ihre Eisenbahn dazu
befähigen, in unseren deutschen Revieren zu wildern.
Ganze Nahverkehrssysteme sind ja mittlerweile von den
Franzosen gekauft worden.
Wenn man sich das alles vor Augen hält, dann hat man
schon den Eindruck, dass die Beteuerungen, die Sie in
Wahlkämpfen draußen im Land immer wieder verkündet
haben, die Bahn sei Ihre besondere Sorge, Sie wollten sich
besonders darum kümmern, für mehr Verkehr und für bes-
sere Ausstattung sorgen, nichts mit dem zu tun haben, was
Sie jetzt in der Regierung tatsächlich vollbringen. Ich
kann nur sagen: Solange Sie Ihre Hausaufgaben so mise-
rabel erledigen, wie das derzeit der Fall ist, werden wir
auch keine Ruhe geben und immer wieder solche Debat-
ten fordern, wie wir sie heute haben.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Karin Rehbock-Zureich für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege Lintner,
ich möchte auf die Hausaufgaben zurückkommen, wie Sie
zum Schluss gesagt haben. Wenn Sie in Ihrer 16-jährigen
Regierungszeit die Hausaufgaben gemacht hätten, dann
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Eduard Lintner
16349
stünden wir nicht an diesem Punkt, an dem wir heute ste-
hen.
Hausaufgaben müssen noch bei der Investitionspla-
nung gemacht werden. Ich muss einfach noch einmal da-
rauf hinweisen, dass Sie hier schlichtweg die Unwahrheit
sagen. Sie haben in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit die
Investitionen für die Bahn von angedachten 10 Milliar-
den DM pro Jahr auf 5,7 Milliarden DM im Jahr 1998 her-
untergefahren.
Sie wollen uns doch wohl nicht erklären, wie wir die Haus-
aufgaben zu machen haben. Diese schlecht bzw. nicht ge-
machten Hausaufgaben aus Ihrer Regierungszeit werden
wir uns sicherlich nicht zum Vorbild nehmen.
Deswegen haben wir zu Beginn unserer Regierungszeit die
Investitionsmittel sofort erhöht. Im Jahre 1999 haben wir die
Investitionsmittel von 5,7 Milliarden DM auf rund 7 Milli-
arden DM hochgefahren. Dies ist eine großartige Leistung.
Heute sind wir in der Lage, Mittel in einer Größenordnung
von 8,8 Milliarden DM für die Bahn einzusetzen, so wie es
bei der Bahnreform angedacht war. Ich glaube, dass diese
Zahl allein schon dafür spricht, dass wir ein Interesse daran
haben, den Verkehrsträger Schiene voranzubringen.
Wir haben neben der Erhöhung der Investitionsmittel
auch erste Schritte unternommen, um die Rahmenbedin-
gungen für die Bahn zu verbessern.
Verbessert wurden die Rahmenbedingungen für die Bahn
zum einen durch eine Übereinkunft in Europa. Ich
möchte dies aufgreifen: Es gab noch nie gleiche Rahmen-
bedingungen in Europa für Nutzung und Zugang. Durch
das unter Federführung Deutschlands zustande gekom-
mene Infrastrukturpaket konnte dieses Ziel auf europä-
ischer Ebene ein Stück weit verwirklicht werden. Mit ei-
ner entfernungsabhängigen LKW-Maut schaffen wir zum
anderen gleichwertige Chancen für die Verkehrsträger.
Von der Verwirklichung einer Chancengleichheit für die
Verkehrsträger waren Sie weit entfernt.
Dass Sie die Mittel für die Bahn und den Schienenver-
kehr in Ihren Haushalten zurückgefahren und somit Ihre
Hausaufgaben nicht gemacht haben, ist eigentlich der
traurigste Punkt Ihrer Bilanz. Es ist auch eine Irreführung
das empfinde ich als eine bodenlose Frechheit , wenn
Sie sich hier hinstellen und sagen, wir würden nicht dafür
sorgen, dass Investitionen für die Bahn gleichmäßig und
vorausschauend in einem bestimmten Zeitraum getätigt
werden.
Wir haben bis zum Jahr 2003 und noch bis ins Jahr 2004
hinein 6 Milliarden DM zusätzlich zu den Investitions-
mitteln für die Modernisierung des Schienennetzes zur
Verfügung gestellt. Dies ist für die Bahn von grundsätzli-
cher Bedeutung.
Diese Bilanz müssten Sie erst einmal aufweisen, bevor
Sie sich hier hinstellen und solche Reden schwingen kön-
nen.
Wir haben die Investitionsmittel wesentlich erhöht.
Wir gehen davon aus, dass über die Jahre 2003 und 2004
hinaus diese Investitionsmittel abgesichert sind, denn die
Modernisierung, die die Bahn heute beim Netz beginnt,
wird natürlich weiter geführt. Wir als SPD-Fraktion sind
uns sehr wohl darin einig, dass dies die Voraussetzung für
eine Weiterentwicklung der Bahn ist.
Ich komme auf die Regionalverkehre zu sprechen:
Sie, Herr Lintner, wissen ganz genau, dass jedes Jahr Mit-
tel in einer Größenordnung von 13,5 Milliarden DM an
die Länder gehen. Wir sind bereit, diese Mittel weiterhin
zu dynamisieren, wollen aber erkennen und transparenter
machen, ob und wo diese Mittel in ihrer Gesamtheit sach-
gerecht eingesetzt werden.
Folgendes ist uns, gerade bei der Diskussion der Gü-
terverkehre in der Fläche, ein wichtiges Anliegen: Wenn
die DB Cargo feststellt, dass sie gewisse Relationen nicht
mehr bedienen will, dass sich gewisse Güterverkehrsstel-
len nicht mehr lohnen, dann werden wir als SPD-Fraktion
darauf achten, dass diese privaten Bahnen angeboten
werden, dass dies Kunden frühzeitig mitgeteilt wird, da-
mit in den Regionen die Chance besteht, gemeinsam mit
den Bahnen und den Kunden eine Diskussion zu entfa-
chen, um Verkehre, die von der DB Cargo nicht mehr be-
dient werden sollen, weiter aufrechtzuerhalten.
Wir werden die DB Cargo hier beim Wort nehmen. Ich
zitiere sie:
DB Cargo und DB Netz wollen alles unternehmen,
um alternative Betreiber zu finden und die Weiterbe-
dienung von Güterverkehrsstellen durch enge Ko-
operation mit privaten Bahnen zu ermöglichen.
Herr Mehdorn hat mir geschrieben: Zurzeit sind wir da-
bei, mit jedem einzelnen Kunden, den Ländern und Kom-
munen über diese Vorhaben zu reden. Die Ergebnisse die-
ser Gespräche werden die zukünftige Gestalt des
Konzeptes vorgeben. Wir nehmen die DB Cargo hier
beim Wort. Wir haben ein Interesse an weiterem Güter-
verkehr in der Fläche.
Unsere Gesetzgebung enthält schon jetzt das, was im
Bundeskabinett verabschiedet wurde und was von unse-
rer Fraktion sicherlich noch verändert, verstärkt werden
wird: Der Zugang zum Netz muss gesichert sein, muss
diskriminierungsfrei für alle möglich sein. Das heißt, wir
brauchen eine Verbesserung des AEG, des Allgemeinen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Karin Rehbock-Zureich
16350
Eisenbahngesetzes, die dies gewährleistet und das Eisen-
bahn-Bundesamt in die Lage versetzt, hier zu kontrollie-
ren und Diskriminierungen auf Zuruf zu beseitigen.
Die Unabhängigkeit des Netzes wird ein weiterer
Punkt sein. Herr Lintner, Sie sagen hämisch, wir würden
dieses Thema in einen Arbeitskreis abschieben. Die Dis-
kussion unter den Ländern, die die Unabhängigkeit des
Netzes infrage stellen, zeigt, wie schwierig dieses Thema
ist. Sie haben immer vorgeschlagen: Trennung des Netzes
vom Betrieb basta, erledigt. Es wird nun die Aufgabe ei-
ner Arbeitsgruppe sein, sorgfältig zu bewerten, wie wir
die Unabhängigkeit des Netzes erreichen können.
Wir sind nämlich in einer Situation, in der wir uns keinen
Fehler erlauben können. Wir wollen weder eine Situation
wie die in den englischen Netzen, noch haben wir ein Vor-
bild.
Wir haben alle diese Dinge nicht mit dem Ziel in Gang
gesetzt, an die Börse zu gehen. Die Börsenfähigkeit war
nie ein Ziel der Bahnreform. Das Ziel der Bahnreform war
immer, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Wenn
Sie in Ihren 16 Jahren diese Schritte so vollzogen hätten
wie wir in den zwei Jahren, in denen wir an der Regierung
sind, dann stünde die Bahn anders da und wir müssten
nicht diskutieren. Das haben Sie mit verursacht.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsiden-
tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin
Karin Rehbock-Zureich, ich weiß nicht, ob es mir die Trä-
nen vor Freude über Ihr kurzes Gedächtnis in die Augen
treibt oder darüber, dass Sie weiterhin keine Argumente
haben, als immer zu wiederholen: Wenn Sie in Ihren
16 Jahren anders gehandelt hätten! Offensichtlich haben
Sie vergessen, wer eigentlich im Vorfeld der Bahnreform
von 1994 gravierende Reformschritte bei der Bahn ver-
hindert hat. Das waren doch Sie mit Ihrer Ländermehr-
heit! Sie haben doch immer alles verhindert!
Die Probleme, die wir bei der Bahnreform jetzt noch ha-
ben, haben wir Ihren Verhandlungsführern bei der Bahn-
reform 1994 zu verdanken. Die Probleme, die wir mit
dem Netz jetzt haben, haben Sie in die Reform hineinver-
handelt. Wir mussten darauf eingehen damit das Grund-
gesetz überhaupt geändert werden konnte. Das ist doch
die Realität. Kommen Sie doch nicht daher und erzählen
die Story vom Pferd!
Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass wir schnel-
ler hätten sein sollen: Was hindert Sie dann daran, jetzt un-
seren Antrag auf Trennung von Netz und Betrieb anzu-
nehmen? Herr Bodewig stellte sich auf dem Parteitag der
Grünen hin und erklärte: Das ist überhaupt keine Frage
mehr, das Netz wird abgetrennt, es geht nur noch um die
Frage, wie man das macht. Zwei Tage später erklärte er
dann aber wieder: So ganz ernst habe ich das nicht ge-
meint. Dies hat er gesagt, weil Herr Mehdorn den Finger
gehoben und ihm gesagt hat: Mein lieber Herr Minister,
das darfst du aber nicht öffentlich sagen. Er zieht also wie-
der zurück. Es passiert dann genau das, was ich schon ein-
mal kritisiert habe, nämlich dass er sich den Bahnchef in
den Arbeitskreis holt. Aber Herr Mehdorn denkt über-
haupt nicht daran, seine Monopolstellung beim Netz auf-
zugeben. Er wäre aus seiner Sicht auch mit dem Klam-
merbeutel gepudert, wenn er es machen würde.
Mich wundert aber eines: Auf allen Strecken, auf de-
nen die Bahn nicht mehr aktiv ist, weil sie daran kein In-
teresse mehr hat, findet man ab und zu kleine Bahnen, die
nicht Teil der mehdornschen Privatisierung sind. Denn die
Gründung einer privaten GmbH, bei der die Bahn sagt,
wie das Geschäft funktioniert, ist keine Privatisierung.
Denn hier möchte Herr Mehdorn auch bestimmen. Genau
das will ich eigentlich nicht. Aber auf all den Strecken, wo
sich private Unternehmer auf Risiko beteiligen und Schie-
nenverkehr ausüben, klappt es auf einmal, und zwar selbst
dort, wo es die Bahn vorher nicht geschafft hat. Die ver-
dienen sogar Geld damit. Also liegt es nicht zwingend an
der Schiene und am System, sondern offensichtlich am
Management und an der Logistik. Dies scheint bei der
Bahn nicht so zu funktionieren.
Wie sieht also das Ergebnis aus? Fangen wir doch ein-
mal an, den Initiatoren und Unternehmern, die sich an
dem Geschäft beteiligen wollen, Planungssicherheit zu
geben, indem wir ihnen zusagen,
dass wir das Netz herauslösen und auch nicht mehr die
Bahn definieren lassen, wer wann wie zu welchen Bedin-
gungen der Bahn Konkurrenz macht. Dann gibt es auf der
Schiene genauso wie auf der Straße, in der Luft und bei
anderen Verkehrsträgern Konkurrenz. Dann werden wir
endlich sehen, dass die Logistik funktioniert. Das ist der
eigentliche Sinn unseres Antrags.
Wenn Sie all das, was Sie gerade hier gesagt haben,
auch tatsächlich meinen,
müssten Sie jetzt eigentlich zustimmen. Nun werfen Sie
doch einmal im Gegensatz zu Ihrem Verhalten bei der Ab-
stimmung im Ausschuss Ihr Herz über die Hürden und
stimmen Sie dem Antrag zu! Wir verlangen nicht, dass die
Trennung morgen erfolgen soll. Wir fordern lediglich die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Karin Rehbock-Zureich
16351
konsequente Umsetzung. Sie wollen mittlerweile nur
noch das Verschieben auf die Zeit nach der nächsten Bun-
destagswahl.
Genau das ist das Problem.
Alles, was Sie bisher bei der Bahn neben einigen Ver-
besserungen, der Umwandlung von Darlehen in verlorene
Zuschüsse, was den Steuerzahler wieder etwas mehr Geld
kostet, neben der Übertragung von einem Haushalt in ei-
nen anderen, weil die Bahn erkennbar nicht in der Lage
ist, Gelder zeitgerecht auszugeben, gemacht haben, ist ei-
gentlich nur das Verteilen von Lizenzversteigerungserlö-
sen und das Umsetzen von Beschlüssen, die nicht Sie,
sondern noch wir gefasst haben. Auch da ging bei Ihnen
eigentlich die Welt unter. Was hindert Sie denn daran, die
Bahn in die gleiche Situation wie die Post oder andere
große Unternehmen, die auch Monopolträger waren, zu
versetzen?
Weil Sie Herrn Pällmann und die LKW-Maut genannt
haben, will ich Ihnen sagen: Der Glaube, dass allein die
Umstellung der LKW-Maut von Zeit- auf Streckenbe-
zogenheit zum 1. Januar 2003 wenn sie überhaupt
kommt dazu führt, dass ein spürbar größerer Güteranteil
von der Straße auf die Schiene verlagert wird, ist ein Irr-
glaube. Das sage nicht ich, sondern das sagt Herr
Pällmann.
Der sollte es eigentlich wissen, denn er war Vorstands-
mitglied der Deutschen Bundesbahn und weiß offensicht-
lich, wovon er redet. Glauben Sie ihm, wenn Sie mir
schon nicht glauben. Neben dem Preis kommt es natürlich
auch auf die Logistik an. Hier hat die Bahn nach wie vor
offensichtlich das gibt sie selber zu Probleme.
Was passiert jetzt? Die DB Cargo erstellt ein Konzept,
das sich Mora C, B oder wie auch immer nennt, und zieht
sich aus weiten Teilen zurück. Herr Malmström erklärt
zwar: Wir stellen 50 Prozent unserer Bedienung ein, ver-
lieren damit aber nur 5 Prozent unseres Umsatzes. Das
kann man glauben oder auch nicht. Er sagt gleichzeitig zu,
dass die Netz AG deswegen aber keine Schienen abbauen
wird. Aber diese Botschaft scheint sich bei der Netz AG
noch nicht herumgesprochen zu haben.
Die Konsequenz ist nämlich in aller Regel: Wenn sich
auch die Cargo aus der Bedienung der Strecke zurück-
zieht, auf der sowieso kein Personenzug mehr fährt, dann
kommt die Netz AG und sagt: Jetzt verdienen wir über-
haupt kein Geld mehr, also Ende der Kiste! Wenn die
Schiene nicht abgebaut wird, dann werden zumindest die
Weichen abgebaut. Das ist die Realität!
Genau das wollen wir rechtzeitig verhindern: nicht erst
2004, 2005 oder noch später, sondern jetzt. Deswegen
müssen jetzt Fakten geschaffen werden. Daher kann ich
nur appellieren: Stimmen Sie unserem Antrag zu dann
tun Sie endlich etwas Konkretes in der Bahnpolitik und
hören Sie mit Ihrem Herumgeeiere auf!
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Heute beschäftigt uns ein ganzes Bün-
del von Anträgen zum Thema Bahn; einige davon in ers-
ter Lesung, andere in abschließender Lesung. Ich will
versuchen, weniger zu den einzelnen Anträgen, sondern
zu den einzelnen Themenblöcken, die in den Anträgen an-
gesprochen werden, Position zu beziehen.
Genau darauf werde ich mit Sicherheit auch zu sprechen
kommen, verehrte Frau Kollegin Blank.
Der erste Themenblock ist die Forderung nach mehr
Investitionen für die Bahn. Ich finde es allerdings ziem-
lich dreist, dass sich ausgerechnet diejenigen, die in den
letzten Jahren ihrer koalitionären Tätigkeit nach einer ein-
maligen Spitze der Investitionsmittel 1995 lagen die
Bahninvestitionen bei über 9 Milliarden DM; dies betraf
damals übrigens das Soll und das Ist; heute hören wir von
denselben, mehr als 6 Milliarden DM könne man bei der
Bahn gar nicht verbauen; das Vorgehen von 1995 war also
irgendetwas Unbegreifliches Jahr um Jahr reduziert, die
Bahninvestitionen um mindestens ein Drittel zusammen-
gestrichen und die Löcher und Probleme, die wir jetzt zu
bewältigen haben, verursacht haben, heute hierhin stellen
und im Rahmen der Haushaltsberatungen scheinheilig
mehr Geld für die Bahn beantragen. Nach den Haushalts-
beratungen sagen sie dann: Es sollte nicht mehr Geld für
die Bahn ausgegeben werden, da man ja gar nicht mehr
Mittel verbauen kann. Was wollen Sie denn eigentlich?
Finden Sie einmal eine glaubwürdige Linie!
Wir haben nicht nur Reden gehalten, sondern wir ha-
ben unmittelbar nach dem Regierungswechsel die Bahn-
baumittel um 1,3 Milliarden DM, und zwar nicht nur im
Soll, sondern auch im Ist, erhöht.
Wir haben jetzt mit dem UMTS-Programm dreimal 2 Mil-
liarden DM, also nicht nur für ein Jahr, sondern für einen
mittelfristigen und überschaubaren Zeitraum, zur Verfü-
gung gestellt. Wir haben die Verwendung dieser Mittel
durch den Grundsatz der Überjährigkeit sichergestellt.
Das heißt, natürlich wird die DB denn sie ist mitverant-
wortlich für den Abbau der Planungskapazitäten im
Unternehmen diese 2 Milliarden DM im ersten Jahr gar
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Horst Friedrich
16352
nicht sinnvoll umsetzen können. Aber durch die Über-
jährigkeit, durch die Möglichkeit, dieses Geld in den Fol-
gejahren bestimmungsgemäß zu verwenden, werden in
diesen drei Jahren die Mittel dorthin gelangen, wo sie hin-
gehören: zum Abbau von Langsamfahrstellen, zur Moder-
nisierung der Leit- und Sicherungstechnik. Dies alles sind
Fortschritte für die Fahrgäste, um die es letzten Endes geht.
Wir garantieren Ihnen: Wir werden Ihnen beweisen,
dass man in den Bahnbau auch in das Bestandsnetz
mehr als 6 Milliarden DM nicht nur sinnvoll investieren
kann, sondern auch investieren muss. Denn die Kunden
der Bahn wollen nicht, dass es rumpelt und rattert und
dass der Zug stehen bleibt. Sie wollen einen modernen
Zug, der auf einer neuen Schiene fährt.
Damit komme ich zu meinem zweiten Themenblock.
Das ist ein Sanierungsprogramm, ein bitterer, harter und
steiniger Weg. Wir werden nicht alle Wünsche und diese
vor allem nicht sofort erfüllen können. Solche Investi-
tionen werden natürlich für die Fahrgäste erst mit zeitli-
cher Verzögerung spürbar werden. Aber sie werden spür-
bar. Allein in Bayern Herr Kollege Lintner, das wissen
Sie so gut wie ich werden in diesen Wochen 200 neue
Züge, und zwar vom Regio-Sprinter bis zum ICE-Diesel-
triebzug, auf die Schiene kommen. Das wird ein
Gesamtvolumen von 1,3 Milliarden DM umfassen. Ich
will gar nicht sagen, dass wir das alles bezahlt haben. Aber
wir versetzen durch unsere jetzigen Investitionen die
Bahn endlich in die Lage, diese Züge zu kaufen. In den
Jahren, als Sie noch an der Regierung waren, haben Sie
die Bestellungen storniert, weil Ihnen das Geld ausge-
gangen war.
Ein dritter Themenblock nach dem der Investitionen
und der Sanierung ist das Thema Wettbewerb und Re-
gulierung. Auch das wird richtigerweise in allen Anträ-
gen angesprochen. Einige Punkte möchte ich klarstellen:
Sie hatten reichlich Zeit, auch, Herr Kollege Friedrich,
wenn ich weiß, wie es als kleinerer Koalitionspartner ist:
Man erreicht nicht sofort all das, was man gerne hätte.
Diese Erfahrung machen auch wir jetzt.
Mit Verweis auf den Wirtschaftsteil der Süddeutschen
Zeitung von heute sage ich an die Adresse der schwarz
regierten Bundesländer Sie bekommen schon wieder
Angst vor der eigenen Courage : Sie hatten und haben
ausreichend Zeit, zu dokumentieren, dass es mit der Her-
stellung von fairen Wettbewerbsbedingungen auf dem
Verkehrsmarkt insgesamt und für den intramodalen Wett-
bewerb auf der Schiene im Besonderen ernst ist. Sie ha-
ben diese Zeit nicht genutzt. Sie haben nicht nur die heute
so lautstark erhobene Forderung nach einer konsequenten
Entflechtung von Netz und Betrieb nicht umgesetzt, son-
dern Sie haben nicht einmal Schritte auf dem Weg dorthin
umgesetzt.
Diese Schritte haben wir umgesetzt. Seit dem 1. April
ist ein neues Trassenpreissystem in Kraft und macht
Schluss mit der Selbstrabattierung der DB an die eigenen
Tochterunternehmen. Jetzt werden alle Güterbahnen
gleich behandelt. Wir haben die Novelle zum Allgemei-
nen Eisenbahngesetz auf den Weg gebracht, die das Ei-
senbahn-Bundesamt überhaupt erst zu einer neutralen
Wettbewerbsaufsicht in die Lage versetzt. Das zusammen
wird einen neuen Schub für neue Güterbahnen bringen,
das garantiere ich Ihnen. Besonders dort wird die Musik
abgehen.
Die Züge sollen abgehen, da haben Sie Recht, Herr
Kollege.
Aber jetzt will ich noch ein Wort zum Mora C sagen.
Dieses merkwürdige Kürzel steht für nichts anderes als
die Aufgabe von knapp 600 Güterverteilpunkten, an de-
nen zugegebenermaßen immer relativ wenig Verkehrs-
aufkommen war. Dies ist für uns akzeptabel und sogar
sinnvoll. Ich glaube nicht, dass nur DB Cargo Güterver-
kehr durchführen kann, um das ganz klar zu sagen. Die-
ser Koloss ist in vielen Bereichen viel zu schwerfällig und
auch logistisch nicht auf der Höhe, wie wir gehört haben.
Wir erwarten und verlangen aber wir werden das in je-
dem Projekt einfordern, einklagen und kontrollieren ,
dass die Infrastruktur erhalten bleibt, und zwar in funkti-
onsfähigem Zustand, damit neue, nicht staatliche Eisen-
bahnunternehmen innovative Hafenbahnen, Lokalbah-
nen, Industriebahnen wirklich noch fahren können. Es
wird nicht hingenommen werden, dass in der einen Wo-
che DB Cargo kündigt und sagt, sie fahre nicht mehr, und
in der anderen Woche DB Netz uns sagt, sie baue den
Gleisanschluss ab. Eine solche Politik ist mit uns nicht zu
machen.
Ich sage noch etwas dazu: Man muss diesen nicht staat-
lichen Eisenbahnen auch genügend Zeit geben, um sich
logistisch und technisch überhaupt aufzustellen, damit sie
den Job in der Region übernehmen können. Auch das ist
eine Forderung, die ich hier ganz klar aussprechen
möchte. Ich ersuche auch das Ministerium, ausdrücklich
darauf zu achten, dass nicht übertrieben kurze Fristen ge-
setzt werden, die nicht einzuhalten sind.
Jetzt will ich noch kurz, wenn es gestattet ist, ein Wort
zum Thema Mitte-Deutschland-Verbindung sagen. Dazu
gibt es dankenswerterweise einen Antrag. Die Mitte-
Deutschland-Bahn ist eine der wichtigsten West-Ost-Ver-
bindungen aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet nicht nur bis
Dresden, sondern auch bis Görlitz und weiter in Richtung
Tschechien und Polen. Diese Verbindung ist ein vergesse-
nes Verkehrsprojekt Deutsche Einheit. Hier geht es
bei der Planung und beim Bau seit Jahren viel zu langsam
vorwärts. Vor allem unter Ihrer Regierung haben wir
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Albert Schmidt
16353
immer nur verbale Luftblasen gehört, und nichts ist pas-
siert. Jetzt endlich ist die erste Finanzierungsvereinbarung
unterschrieben. Jetzt endlich wird wahrnehmbar gebaut. Ich
unterstütze aber jede Bemühung, diesen Ausbau zu be-
schleunigen und auf ein höheres Niveau zu bringen. Gerade
wegen der EU-Osterweiterung und durch den Beitritt Tsche-
chiens, Polens und anderer Länder brauchen wir verbesserte
West-Ost-Verbindungen. Deswegen sind wir schon immer
ausdrücklich für die durchgehende Zweigleisigkeit und für
die durchgehende Elektrifizierung eingetreten.
Zum Abschluss kann ich Ihnen nicht die Bemerkung
ersparen, liebe Frau Kollegin Blank, dass Sie selbst mit
Ihrer Mehrheit am 25. Juni 1997 im Verkehrsausschuss
des Bundestages unseren diesbezüglichen Antrag mit fol-
gender Begründung abgelehnt haben: Die Forderung nach
durchgehender Zweigleisigkeit lässt sich wirtschaftlich
nicht darstellen. Ein durchgehender Ausbau der Strecke
verursacht Investitionskosten in einer Höhe, die wirt-
schaftlich nicht mehr tragbar ist. Was interessiert Sie
jetzt Ihr Geschwätz von gestern! Damals haben Sie ge-
sagt: Es ist unwirtschaftlich.
Herr Kollege,
jetzt ist aber Ihre Redezeit vorbei.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Jetzt sagen Sie, wir sollen es machen. Ich ver-
spreche Ihnen: Wir werden es machen, und zwar schnel-
ler, als Sie es für möglich halten.
Kurzinter-
vention der Kollegin Blank.
Herr Kollege Schmidt, es
ist schön, dass Sie auf Ihren Antrag 13/8539 vom 22. Sep-
tember 1997 eingegangen sind. Allerdings haben Sie nicht
den ganzen Inhalt Ihres Antrages erwähnt. Sie haben da-
mals gesagt:
Die Finanzierung dieser so genannten Mitte-
Deutschland-Linie soll erfolgen, indem die Baukos-
ten vorfinanziert werden, wobei der Bund einerseits
und die beteiligten Länder andererseits die dabei ent-
stehenden zusätzlichen Finanzierungskosten je zur
Hälfte übernehmen sollen.
Wenn ich Ihre Ausführungen, die Sie seit 1998 ge-
macht haben, richtig verstehe, dann lehnen Sie nach heu-
tiger Sicht eine Vorfinanzierung ab, egal, ob sie privat,
durch den Bund oder die Länder durchgeführt wird.
Herr Kollege Schmidt, was hindert Sie daran, heute un-
serem Antrag zuzustimmen, da Sie diese Mitte-Deutsch-
land-Linie doch immer wollten?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Liebe Frau Kollegin Blank, es ist nicht mehr
damit getan, einen Antrag zu stellen; dafür sind Sie zu spät
aufgestanden. Die Strecke wird schon gebaut. Es geht nun
darum, den Bau zu beschleunigen, und darum, das Qua-
litätsniveau dieser Strecke anzuheben. Darum müssen wir
uns bemühen. Jetzt ist keine Zeit mehr, um Papiere zu ver-
fassen. Diskussionen hatten wir damals. Wir müssen auch
die Finanzierungsfrage nicht mehr klären. Die ersten bei-
den Finanzierungsvereinbarungen sind unterschrieben.
Wir brauchen die Vorfinanzierung durch die Länder nicht
mehr. Diese Bundesregierung hat das Geld, das Sie immer
nur versprochen haben, endlich zur Verfügung gestellt.
Das ist der feine Unterschied.
Ich bin sehr für die Anmeldungen der Länder Thürin-
gen und Sachsen für den neuen Bundesverkehrswegeplan,
dieses Projekt auf einem verbesserten Niveau durchge-
hend zweigleisig und elektrifiziert weiterzuführen. Ich
bin sehr dafür, dass Sie diese Forderung angesichts der
EU-Osterweiterung ich hatte das eben angesprochen
ernsthaft würdigen. Es kann nicht sein, dass die Autobah-
nen A 44 und A 4 diese Ost-West-Verkehrsverbindung auf
höchstem Niveau sicherstellen und die Schiene ver-
gleichsweise vorsintflutlich bleibt. Wir haben heute eine
Durchschnittsgeschwindigkeit von 55 km/h. Wir brau-
chen mindestens das Doppelte. Wenn wir uns in der Sache
verständigen, dass wir im neuen Verkehrswegeplan die-
sen neuen Akzent setzen wollen, dann sind wir einer Mei-
nung.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsi-
dentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge,
die hier zur Debatte stehen, sind auch deswegen wider-
sprüchlich, weil F.D.P. und CDU/CSU für die Bahnreform
gestanden haben, einerseits Kontinuität praktizieren wol-
len und andererseits ihre jetzige Opposition und einiges
Richtige zum Ausdruck bringen wollen.
Sie wissen, dass die PDS eine andere Position hatte und
als einzige Partei im Deutschen Bundestag 1993/94 diese
Bahnreform abgelehnt hatte. Wir hatten gesagt, dass
durch diese Bahnreform nicht mehr Verkehr auf die
Schiene kommen würde. Herr Bodewig hat nun in seinem
Verkehrsbericht geschrieben, dass die Bahnreform bis-
her keinen zusätzlichen Schub zugunsten des Verkehrs-
trägers Schiene bewirken konnte und dass der Anteil des
Schienenpersonenfernverkehrs der gleiche wie vor zehn
Jahren blieb. Das ist eine vernichtende Bilanz des jetzigen
Verkehrsministers.
Die Bahnchefs, mit denen wir es zu tun hatten, wie
Herr Dürr, Herr Ludewig und Herr Mehdorn, wurden, so-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Albert Schmidt
16354
weit ich weiß, vom Bund als Eigner wie auch von allen
Parteien im Wesentlichen unterstützt. Diese Herren waren
nicht in der Lage, aus diesem Unternehmen ein flexibles,
marktorientiertes Unternehmen zu machen. Im Gegenteil:
Sie waren noch nicht einmal in der Lage, Geld auszuge-
ben. Nirgends in der Wirtschaft gibt es den Fall, dass ein
Unternehmen über sechs oder sieben Jahre lang nicht in
der Lage ist, Milliardenbeträge, die ihm zur Verfügung
stehen, auszugeben. Das gilt auch für Herrn Mehdorn im
letzten Jahr.
Ich muss feststellen, dass die Bahn momentan das
schlechteste Image hat, das irgendein Großbetrieb in die-
sem Land hat.
Die Bahn trägt auf traurige Weise zur Belebung der deut-
schen Witzkultur bei. Es gibt einen traurigen Witz: Einer
fragt in eine Runde hinein: Ihr glaubt gar nicht, was mir
neulich bei der Bahn passiert ist. Alle sagen: Doch,
doch, wir glauben das. Die Menschen glauben mo-
mentan alles. Es ist richtig, was hier gesagt wurde: Die
Bahn wird damit nicht madig gemacht; das Management
macht vielmehr eine Politik, die die Bahn insgesamt zer-
stört. Dazu nenne ich nur folgende Punkte: Halbierung
des Bahn-Card-Rabatts, Mora-C-Güterverkehr, Abschaf-
fung der Restaurants im Zug, Verkauf von Bahnhöfen und
Trennung von Netz und Betrieb. Herr Mehdorn will in den
nächsten zwei Jahren das Netz noch einmal um 20 Prozent
reduzieren.
Zwei konkrete Beispiele: Der Turnerbund wollte im
April ein Turnerfest in Offenburg in Baden durchführen.
Jedes Jahr, in dem diese Veranstaltung stattfand, war die
Bahn bisher in der Lage, dorthin mit Sonderzügen zu fah-
ren. In diesem Jahr war das nicht mehr so. Begründung:
Wir haben kein Wagenmaterial. Nach einem Briefwech-
sel zwischen Turnerbund und Bahn, der sich über ein
Vierteljahr hinzog, hieß es schließlich: Bitte nehmen Sie
doch Schönes-Wochenende-Tickets! Für 8 000 Turner!
Ein zweites Beispiel: Am 3. Mai haben wir mit der
Initiative Bürgerbahn statt Börsenbahn nach unseren
Aktionen im Süden im Oberschwaben-Interregio, im
Schwarzwald-Interregio, im Interregio nach Saarbrücken
eine Pressekonferenz im Interregio BerlinRostock durch-
geführt. In der Pressekonferenz im Zug haben wir von
Fachleuten erfahren, dass dieser Zug absolut falsch fährt.
Er braucht für BerlinRostock jetzt drei Stunden. Wenn er
in Berlin nicht eine Ehrenrunde drehen würde dazu in
falscher Richtung: statt OstbahnhofLichtenberg und
dann nordwärts zu fahren, fährt er OstbahnhofZoo
Spandau und nicht über Güstrow, sondern direkt fahren
würde, würde er 50 Minuten einsparen. Was macht die
Bahn? Sie stellt den Zug zum Fahrplanwechsel am
10. Juni komplett ein. Einen Interregio dorthin gibt es
dann nicht mehr, die Hansestadt Rostock wird vom Fern-
verkehr der Schiene abgehängt. Das ist die Bilanz.
Stattdessen fährt ein so genannter Interregio Express
faktisch ein Nahverkehrszug mit einer Lok und drei
Wagen, einem Doppelstockwagen und zwei normalen
Wagen. Bisher fahren acht Wagen. Der Doppelstockwa-
gen hat drei Fahrradplätze; bisher waren im Interregio 20
verfügbar. Alle Lokführer, die auf der Strecke fahren, sa-
gen: Unmöglich, im Sommer wird der Zug knallvoll sein,
man wird Fahrgäste am Bahnsteig abweisen müssen.
Eigentlich ist das eine Sache für den Chef. Eigentlich
müsste Herr Mehdorn übernehmen. Was macht Herr
Mehdorn? Wir verteilen in den Zügen das Faltblatt Ihr
Interregio nach Nirgendwo, was sympathisch den Falt-
blättern der Bahn nachempfunden wurde. Herr Mehdorn
hat darauf mit der Anweisung an alle Zugbegleiter rea-
giert, dieses Faltblatt müsse eingesammelt werden ob-
wohl Fahrgäste und Zugpersonal diese Faltblätter begei-
stert entgegennehmen und bereits 50 000 davon verteilt
worden sind. Er reagiert wie ein beleidigter Kurfürst, wie
ein Politbürokrat der alten SED.
Genau!
Wir fordern eine Bahn für alle. Wir fordern den Stopp
der Privatisierung, wir fordern den Stopp der Ausver-
kaufspolitik, wir fordern auch den Stopp des Beleg-
schaftsabbaus. Wir fordern: Bürgerbahn statt Börsenbahn.
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika
Mertens.
A
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich vorweg
noch einmal ganz kurz auf den vorigen Tagesordnungs-
punkt zurückkommen darf: In der Debatte ist immer nach
Herrn Großmann verlangt worden. Herr Großmann hätte
gerne die Reihenfolge der vorherigen und der jetzigen De-
batte getauscht. Aber irgendwie war das nicht möglich.
Wenn wir die Bahndebatte vorgezogen hätten, wäre auch
er hier gewesen.
Wir haben heute vier Anträge zu beraten. Die erstaun-
lichste Überschrift trägt wohl der der PDS: Bürgerbahn
statt Börsenbahn. Vielleicht sollten Sie um damit noch
einmal auf den Vorwurf im Zusammenhang mit dem Po-
litbüro zurückzukommen uns einmal erklären, was für
Sie Bürgerbahn bedeutet. Sehen Sie sich in der Rolle
des Citoyen oder in der Rolle des Bourgeois?
Wir jedenfalls sagen Kundenbahn. Sie sollten das mit
dem Politbüro, so denke ich, zurücknehmen.
Wir werden die Debatte in den nächsten Wochen fort-
setzen. Aber die Diskussion hier zeigt wir reden nicht
das erste Mal über die Bahn , dass es Diskussions- und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Winfried Wolf
16355
Handlungsbedarf gibt. Parlament und Regierung ziehen
Bilanz. Sie kommen dabei zu unterschiedlichen Ergeb-
nissen übrigens weniger im Schriftlichen als im Münd-
lichen. Mit dem Rollenwechsel, von der Regierung in die
Opposition, verkehren sich ja manchmal auch die Stand-
punkte. Die Demographie könnte sich eigentlich freuen:
Wir haben ganz viele Neugeborene hier; mit dem, was sie
früher gemacht haben, wollen einige überhaupt nichts
mehr zu tun haben. Deshalb frage ich mich: Das kann
doch nicht alles falsch gewesen sein, was Sie damals auf
den Weg gebracht haben und was wir als damalige Oppo-
sition unterstützt haben. Das mag für Sie persönlich eine
Befreiung sein; in der Sache jedenfalls ist dies wenig hilf-
reich.
Wenn all dies ernst gemeint wäre, dann würden Sie
jetzt ein bisschen Trauerarbeit leisten, und zwar im Hin-
blick auf die Finanzmittel, mit denen Sie die Bahn ausge-
stattet haben, im Hinblick auf die Personalentscheidun-
gen, mit denen Sie die Bahn beglückt haben, und im
Hinblick auf die Infrastrukturentscheidungen. Eine neue
Regierung muss immer mit dem arbeiten, was sie vorfin-
det. Das war, so will ich es einmal ausdrücken, weniger,
als wir es uns gewünscht hätten, aber mehr, als Sie heute
zugeben. Ihre Haltung ist jedenfalls für mich völlig un-
verständlich: So missraten kann das Kind DB AG nun
wirklich nicht sein. Dass Sie Vater- und Mutterschaft be-
streiten, hat die DB AG nicht verdient.
Mit der Regierungsübernahme haben wir das Kind
DB AG adoptiert. Wir stehen zur DB AG. Das sollten
auch Sie tun. Die neue Bahn ist siebeneinhalb Jahre alt.
Sie ist nicht perfekt; das wissen wir alle. Aber jedes Mal,
wenn wir wissen wollen, was genetisch bedingt und was
anerzogen ist, dann sagen Sie: Das hat das Kind nicht
von uns, das muss es sich in den letzten zweieinhalb Jah-
ren angewöhnt haben. Das geht nicht. Wir sollten uns
auf das rückbesinnen, was wir einmal gemeinsam an
Zielen formuliert haben. Das heißt, erstens mehr Verkehr
auf die Schiene, zweitens eine Begrenzung der Belas-
tung des Steuerzahlers, drittens die Wirtschaftlichkeit
der DB AG. Das gilt hoffentlich immer noch für uns alle.
Dies war übrigens eine der größten Wirtschaftsrefor-
men, die die Bundesrepublik erlebt hat, vielleicht sogar
die größte.
Die Ziele werden nicht ohne Konflikte umgesetzt wer-
den können. Das muss man einfach sehen. Sie bilden un-
tereinander zwangsweise neue Konflikte. Es ist normal,
dass ein solches Vorhaben konfliktträchtig ist. Gegenwind
kann manchmal auch gute Frisuren geben. Aber an den
Zielen ist nicht zu rütteln. Sie waren und sind richtig.
Wenn ich mir überlege, dass Herr Lintner die ganze Zeit
redet, dann rate ich ihm, zuzuhören. Er könnte noch etwas
lernen.
Was tun wir, um diese Ziele zu erreichen? Wir haben
aufgehört, uns die Bahn schönzurechnen und schönzure-
den. Wir haben die Probleme benannt und sind sie ange-
gangen, zum Beispiel in der Investitionspolitik und der
Ordnungspolitik. Das Netz bleibt die wichtigste Res-
source der Eisenbahn. Der Schienenverkehr kann immer
nur so gut sein wie das Netz, auf dem er erbracht wird.
Deshalb haben wir genau da im Rahmen von ZIP ange-
setzt. Sie wissen das. Damit sollen tagtägliche Ärgernisse,
zum Beispiel Langsamfahrstellen, beseitigt werden. Wir
werden der Ertüchtigung des bestehenden Netzes Vorrang
einräumen. Herr Lintner, Sie können nicht beides ma-
chen: Sie können nicht Neubaustrecken fordern und
gleichzeitig erklären, dass auch die Fläche bedient werden
müsse. All das, was Sie gefordert haben, machen wir. Wir
kümmern uns um den Bestand und sorgen auch für den
Bau neuer Strecken.
Wir haben in der trilateralen Vereinbarung etwas ge-
macht, von dem mir nicht bekannt ist, dass Sie es jemals
gemacht haben: Wir haben nämlich bis 2003 mit 26,4 Mil-
liarden DM Planungssicherheit geschaffen. Das ist kein
Pappenstiel, sondern rund 9 Milliarden DM jährlich.
Auch haben wir damit eine weitgehende Umstellung von
Darlehen auf Baukostenzuschüsse verbunden.
Bei der Ordnungspolitik haben wir ab 2003 eine
LKW-Maut vorgesehen. Das ist ein erster wichtiger
Schritt zur gerechteren Anlastung des LKW. Bahnchefs
mögen hier von 1,25 DM pro Kilometer träumen. Das ist
aber eine theoretische Betrachtung in der Gewissheit, dass
dies praktisch nicht umgesetzt wird. Verbal lässt sich so
manches transportieren, materiell sind die Grenzen in der
Regel viel früher erreicht. Wir trauen der DB Cargo eini-
ges zu, aber eine LKW-Maut von 1,25 DM wollen wir ihr
doch nicht wünschen. Zu den ordnungspolitischen Maß-
nahmen gehört auch die Stärkung des EBA als Wettbe-
werbsaufsicht. Dazu gehört auch die Antwort auf die
Frage, in welcher Form die Unabhängigkeit und die Neu-
tralität des Netzes zu verwirklichen ist.
Es gibt aber auch Handlungsbedarf des Unterneh-
mens. Wir haben Erwartungen an das Unternehmen. Un-
sere Erwartungen reduzieren sich auf zwei Punkte: Anteil
des Schienenverkehrs erhöhen und den Konsolidierungs-
prozess fortsetzen. Wenn sich der Nebel in den Diskussio-
nen ein wenig gelichtet hat, dann werden wir feststellen,
dass wir keine neue Bahnreform brauchen. Stattdessen
müssen wir das, was 1994 beschlossen worden ist, jetzt
vollenden.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Dehnel.
Wolfgang Dehnel (von Abgeordneten
der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Verehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der
vorliegende Antrag Ausbau des Mitte-Deutschland-
Schienen-Verkehrsnetzes konsequent vorantreiben ist
nicht erarbeitet worden, um die Regierungskoalition zu
verärgern, sondern geärgert haben sich Verbände, Indus-
trie- und Handelskammern, Bürger und Bürgermeister,
die mir geschrieben haben und sich in Pressemitteilungen
geäußert haben.
In diesem Zusammenhang sind Überschriften zu lesen
wie Regionen abgekoppelt oder Liste der Grausam-
keiten oder Gewerkschaft fordert neue Verkehrspoli-
tik. Dies alles bezieht sich auf die Frage: Wie kommt die
Bahnreform vor Ort an?
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens
16356
Meine Damen und Herren, Kommunen brauchen eine
zukunftsweisende Infrastrukturpolitik und klare Vorga-
ben. Sie brauchen Aussagen und nicht immer wieder neue
Programme, die undurchschaubar sind.
Klar ist für mich, dass es nicht Aufgabe eines Abgeord-
neten sein kann, konkrete Vorschläge zum Streckenver-
lauf, zum Ausbaugrad oder zur Zugbestückung zu machen.
Dies ist nach meiner Auffassung Aufgabe der Fachgremien
in Bund und Land, aber eben auch der Bahn AG. Wenn es
aber um den Verkehrsanschluss, um die Vernetzung von
Regionen und um die drohende Abkoppelung solcher Re-
gionen von Fernverkehrsnetzen geht, dann sind wir Abge-
ordnete schon gefordert, uns zu Wort zu melden.
Genau dieses Thema behandelt der vorliegende An-
trag. Er ist aus der Sorge der Bürgerinnen und Bürger ent-
standen, dass die Vernetzung der sächsischen Oberzentren
mit den thüringischen, hessischen und bayerischen Ober-
zentren nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und Kon-
sequenz vorangetrieben wird. Angesichts der geplanten
EU-Erweiterung erhält dieser Antrag zusätzliches Gewicht.
Eine fortgesetzte Zögerlichkeit im Verkehrsministerium
hätte im Hinblick hierauf dramatische Auswirkungen.
Die Regionen Ostthüringen und Südwestsachsen mit
den Wirtschaftsregionen Plauen, Zwickau und Chemnitz
sowie das Erzgebirge, das Vogtland und die Oberlausitz
gehören nun einmal zu den markantesten Bevölkerungs-
verdichtungsräumen mit besonderer Bedeutung für die
Wirtschaftsentwicklung in Sachsen und Thüringen.
Deshalb ist es unverständlich, dass aus dem Hause des
nunmehr dritten Verkehrsministers innerhalb von zwei
Jahren keine konkreten Planungen und Maßnahmen vor-
gelegt werden, die speziell diesen überaus wichtigen
Verkehrsverbindungen Rechnung tragen. Ihnen ist höchs-
te Priorität einzuräumen.
Umso mehr freue ich mich, dass der vorliegende Antrag
die Unterstützung meiner Kollegen in der Arbeitsgruppe,
in den Landesgruppen und in der Fraktion erhalten hat. Mit
diesem Antrag wollen wir der Regierung und Minister
Bodewig etwas Feuer unterm Hosenboden machen.
Damit machen wir auch der Bahn AG Dampf, den diese
auf die Lok bringen soll.
In unseren Reden steckt mehr Sinn als in Ihrem Ge-
schwätz, das Sie wie auf dem Marktplatz vortragen. Das
muss ich sagen.
Meine Damen und Herren, vor über 100 Jahren gehör-
ten die genannten sächsischen Regionen zu den sich am
rasantesten entwickelnden Wirtschaftsregionen Deutsch-
lands. Bekannte Automobilhersteller wie Horch und Auto
Union sowie Maschinen- und Textilgroßunternehmen
hatten hier ihre Stammsitze. Heute hat von den 200 größ-
ten Unternehmen in Deutschland keines mehr seinen
Stammsitz in den neuen Bundesländern.
An dieser Entwicklung kann man deutlich sehen, was
40 Jahre Sozialismus auch in diesem Bereich bewirkt haben.
Dies sollte man immer wieder auch in SED-nostalgi-
sche Ohren sagen können. Es ist schlimm, wenn man
sieht, dass die jetzige Bundesregierung bei der Bewälti-
gung dieser Altlasten überhaupt nicht vorankommt. Im
Gegenteil. Die Arbeit kommt zum Erliegen.
Meine Damen und Herren, durch die Chefsache
Kohl wurde in acht Jahren deutscher Einheit Gewaltiges
geleistet.
Die Verkehrsinfrastruktur in Sachsen und Thüringen
kann sich heute schon in weiten Bereichen sehen lassen.
Frau Rehbock-Zureich, Sie hatten vorhin von Hausaufga-
ben und Noten gesprochen. Ich würde der damaligen Re-
gierung die Note sehr gut geben.
Wir brauchen jetzt hinsichtlich der Infrastrukturpla-
nung konkrete Schritte im Schnellzugtempo. Es genügt
nicht, dass wir im Bummelzug Müntefering-Klimmt-
Bodewig und zurück ankommen.
Meine Damen und Herren und Kollegen der Regie-
rungskoalition, stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu.
Herr Schmidt, Sie haben vorhin von der Mitte-
Deutschland-Schienenverbindung so lobend gesprochen.
Stimmen Sie dem Antrag zukunftsweisender Infrastruk-
turpolitik unserer Fraktion zu.
Die Bürger dieser Region würden es Ihnen sonst bei der
nächsten Bundestagswahl gehörig zeigen, wenn Sie sie
vergessen.
Jetzt hat der Ab-
geordnete Wieland Sorge das Wort.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Wolfgang Dehnel
16357
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Friedrich und Herr Dehnel, wenn wir um
die Wahrheit streiten, wird es natürlich immer unterschied-
liche Meinungen geben. Deswegen können wir doch nicht
von Rumeierei oder Geschwätz reden; denn sonst werden
wir draußen nicht mehr ernst genommen. Wir sollten viel-
mehr versuchen, unsere Gedanken auszutauschen und das
bessere Konzept mit Mehrheit durchzusetzen.
Ich möchte einige Bemerkungen zu dem Antrag der
CDU/CSU bezüglich der Strecke PaderbornChemnitz
machen: In der Tat ist es wichtig, diese Strecke zu bauen.
Der Abschnitt gehörte von all den Streckenabschnitten, die
wir seinerzeit übernommen haben, zu den schlechtes ten.
Teilweise war ein Verkehr auf diesem Streckenabschnitt
nur bis zu 25 Kilometern pro Stunde möglich. Aus diesem
Grund war das Interesse an dieser Strecke weder im Be-
reich des Personen- noch des Güterverkehrs sehr groß.
Wir teilen auch die Auffassung, dass die großen Ver-
kehrs- und Wirtschaftszentren Deutschlands miteinander
verbunden werden müssen. Wichtig ist, das Ruhrgebiet
mit den wichtigsten mitteldeutschen Industriezentren
Thüringens und Sachsens zu verbinden. Darin sind wir
uns völlig einig.
Wir müssen uns aber die Tatsachen vor Augen halten:
1997 gab es eine Vereinbarung zwischen der Deutschen
Bahn AG und dem Land Thüringen mit dem Inhalt, diese
Strecke zu bauen. Der Bund hatte keine Gelder zur Verfü-
gung gestellt. Der Bau wurde zunächst begonnen und
musste eingestellt werden, nachdem kein Geld mehr vor-
handen war. Auf dieser Strecke geschah nichts mehr und
man konnte weiterhin nur mit einer Höchstgeschwindig-
keit von 25 Kilometern pro Stunde fahren.
Aus diesem Grunde ist die Bundesregierung aktiv ge-
worden. Wir haben diese Strecke in den vordringlichen
Plan des Bahnausbaus aufgenommen und konkrete Fest-
legungen getroffen.
Moment einmal, liebe Frau Blank, das geschah 1999
und zu diesem Zeitpunkt war bekanntlich schon Rot-Grün
an der Regierung.
Wir haben sofort versucht, eine Finanzierung des
Ausbaus zu gewährleisten. Wir haben insgesamt 665 Mil-
lionen DM bereitgestellt, die wir in drei Finanzierungsab-
schnitten ausgeben wollen: Im ersten Abschnitt sollen von
1999 bis 2002 317 Millionen DM und in den darauf fol-
genden Jahren 235 Millionen DM ausgegeben werden.
Die Restfinanzierung soll entsprechend den tatsächlichen
Entwicklungen erfolgen.
Die Planung ist aber im Wesentlichen schon abge-
schlossen.
Wir haben außerdem mit Thüringen einen Sonderver-
trag abgeschlossen, der das Finanzierungsvolumen um
35 Millionen DM erhöht, weil wir einen Teil der Strecke
auf Antrag der Thüringer Landesregierung zweigleisig
ausbauen wollen.
Ich möchte auf das eingehen, was Herr Kollege
Schmidt zu der Frage einer zweigleisigen Elektrifizie-
rung gesagt hat. Die internationale Bedeutung der
Strecke ist so groß, dass wir um diese Maßnahme nicht
herumkommen werden. Es besteht aber ein Untersu-
chungsauftrag, der die Wirtschaftlichkeit dieser Strecke
prüfen und bewerten soll. Wenn die Ergebnisse vorliegen,
wollen wir die Bewertungsmaßstäbe, die für den Bundes-
verkehrswegeplan gelten, damit vergleichen und dann
neue Beschlüsse fassen. Wenn sich zeigt, dass die Strecke
wirtschaftlich ist, weil sie auf ein großes Interesse stößt,
werden wir den Ausbau durchsetzen.
Herr Kollege Lintner, es ist ein erster Schritt, wenn wir
von Paderborn über Kassel auch das ist ein Teil dieser
Strecke, die für den Verkehr besser genutzt werden soll ,
Chemnitz und Erfurt bis nach Dresden mithilfe der Nei-
gezugtechnik durchgängig mit 150 Kilometern pro
Stunde fahren können; dann haben wir Vieles geschafft.
Dann wird auch das Interesse potenzieller Nutzer sehr
groß sein und die Wirtschaftlichkeit wachsen. Dann kön-
nen wir neue Entscheidungen treffen, aber bis dahin ha-
ben wir noch ein bisschen Zeit.
Danke.
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir stimmen nun zuerst über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ab, Drucksache 14/5952. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrages der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel
Bahnreform 2 Neuer Schwung für die Bahn. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegen-
stimmen? Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
CDU/CSU angenommen worden.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen die Ablehnung des Antrages der F.D.P.-Fraktion mit
dem Titel Bahnreform fortsetzen, Schienenverkehr stär-
ken vom Staatsbahnmonopol zum europäischen Wett-
bewerb um den Eisenbahnkunden. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? Enthaltun-
gen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5756 an die in der Tagesordnung aufge-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 200116358
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
dem Antrag der PDS-Fraktion auf Drucksache 14/3784
mit dem Titel Bürgerbahn statt Börsenbahn ab. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? Ent-
haltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen sowie von CDU/CSU und
F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie den Zusatz-
punkt 5 auf:
7. Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri-
schen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 des Sicherheitsrats der Verein-
ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des
Militärisch-Technischen Abkommens zwischen
der internationalen Sicherheitspräsenz
und den Regierungen der Bundesrepublik
Jugoslawien und der Republik Serbien vom
9. Juni 1999
Drucksache 14/5972
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Bundeswehreinsätze beenden Politische Lö-
sungen auf dem Balkan durch UNO und
OSZE durchsetzen
Drucksache 14/5964
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der
Bundesminister Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie zuge-
sagt und im Bundestag beschlossen, wird heute erneut
über das Mandat der Bundesrepublik Deutschland und
der Bundeswehr im Kosovo debattiert. Die KFOR ist
nunmehr seit zwei Jahren dort vertreten, und zwar zurzeit
mit mehr als 42 000 Soldaten. Sie stammen aus 39 Natio-
nen, unter denen sich auch alle NATO-Mitgliedstaaten be-
finden. Diese internationale Sicherheitspräsenz hat einen
unveränderten Auftrag. Die Grundlage des Auftrags sind
die Resolution 1244 der Vereinten Nationen vom 10. Juni
1999 und das Militärisch-Technische Abkommen zwi-
schen KFOR und den Regierungen der Bundesrepublik
Jugoslawien und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999.
Ich denke, wir stimmen darin überein, dass sich die Bi-
lanz des Engagements im Kosovo sehen lassen kann. Es
gibt Fortschritte bei der äußeren und inneren Sicherheit,
bei den ersten sich selbsttragenden Strukturen, bei der
Flüchtlingsrückkehr und beim Wiederaufbau. Dazu hat
auch das hohe persönliche Engagement der KFOR-An-
gehörigen, das unverzichtbar ist, beigetragen, für das ich
mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte.
Nahezu alle kosovo-albanischen Flüchtlinge es waren
ursprünglich fast 1,5 Millionen sind zurückgekehrt.
Die internationale Staatengemeinschaft hat große, auch fi-
nanzielle Anstrengungen beim Wiederaufbau, bei der In-
frastruktur sowie beim Schul- und Bildungswesen unter-
nommen. Die Zahl der Gewaltdelikte ist signifikant
zurückgegangen. Bei den Verhandlungen über eine vorläu-
fige Verfassung, an denen die serbische Minderheit größ-
tenteils beteiligt war, wurde außerdem ein tragfähiger
Kompromiss erzielt. Der Repräsentant der Vereinten Na-
tionen Hans Haekkerup hat das Ergebnis gestern bei den
Vereinten Nationen in New York vorgestellt. Damit sind die
Voraussetzungen für die gemäß der genannten Resolu-
tion 1244 vorgesehenen provisorischen Verwaltungsgrund-
lagen gegeben. Das ist eine solide Grundlage, um im Herbst
2001 allgemeine Wahlen im Kosovo durchzuführen.
Man kann hinzufügen, dass unser militärisches Enga-
gement entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich die
fortschrittlichen und demokratischen Kräfte im Herbst
vergangenen Jahres auch in Belgrad durchsetzen konnten.
Auf das Engagement der KFOR stützen sich auch die in-
ternationalen Organisationen, was dazu führt, dass die
KFOR häufig militärisch untypische Aufgaben über-
nimmt, um wichtige Grundvoraussetzungen für die Stabi-
lisierung und für die Normalisierung der Lebensbedin-
gungen der Bevölkerung zu gewährleisten.
Andererseits verzeichnen wir neben vielen Fortschrit-
ten wiederholt herbe Rückschläge. Die Bereitschaft zur
Gewalt zwischen den Ethnien und gegenüber moderaten
Kräften ist unverändert hoch. Die Rückkehrbereitschaft
kosovo-serbischer Flüchtlinge ist sehr gering. Die noch
im Kosovo Lebenden tun das unter unerträglichen Um-
ständen. Bei ihnen wird häufig illegaler Waffenbesitz oder
der Besitz von Kampfmitteln festgestellt. Das Ausmaß an
Drogenhandel, organisierter Kriminalität, Menschenhan-
del und Schmuggel ist bedenklich. Alles das deutet darauf
hin, dass das Engagement fortgesetzt und an mancher
Stelle der nicht militärischen Aufgabenwahrnehmung so-
gar verstärkt werden muss.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
16359
Insgesamt kommt die Bundesregierung zu dem Ergeb-
nis, dass für den weiteren Wiederaufbau des Kosovo und
für die Stabilisierung der Region die internationale Si-
cherheitspräsenz unverzichtbar war, ist und bleibt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat an den Arbeiten
von KFOR einen wichtigen Anteil. Wir sind darin zurzeit
mit rund 5 200 Soldaten vertreten. Wir sind die Leitnation
der Multinationalen Brigade Süd. Unter deutscher
Führung arbeiten in diesem Bereich 2 300 weitere Solda-
ten aus acht verschiedenen Nationen. Deutschland besetzt
hochrangige Positionen im Hauptquartier von KFOR.
Unsere Soldatinnen und Soldaten sind in ihrem Ver-
antwortungsbereich hoch angesehen. Sie leisten unter In-
kaufnahme erheblicher persönlicher Einschränkungen
eine wichtige, Stabilität und Frieden fördernde Aufgabe
und tragen so ganz wesentlich zur hohen Anerkennung
unseres Landes in der internationalen Staatengemein-
schaft bei. Auch das vermerke ich hier ausdrücklich mit
Respekt und Anerkennung.
Wenn man das politische Umfeld betrachtet, dann er-
kennt man, dass die friedliche Revolution in Belgrad, die
Demokratisierung Serbiens, und die fortschreitende Re-
form jugoslawischer Institutionen die gesamte Situation
grundlegend verändert haben. Damit wurden neue Mög-
lichkeiten konstruktiver Zusammenarbeit zur Stabilisie-
rung der gesamten Region geschaffen.
Das Wahlergebnis in Montenegro ist geeignet, die de-
stabilisierenden Bestrebungen der dortigen Regierung in
konstruktive Bahnen zu lenken, weil eine verfassungs-
konforme Unabhängigkeit Montenegros auf dieser
Grundlage kaum zu erzielen wäre.
Große Sorgen bereitet die Entwicklung in Mazedonien.
Es wird auch in Zukunft darauf ankommen, die Extremis-
ten zu isolieren, eine Solidarisierung der Bevölkerung zu
verhindern und substanzielle Fortschritte beim inter-
ethnischen Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen zu
erzielen. Dem dient das bilaterale und das internationale
Einwirken und Drängen von NATO und Europäischer
Union, wie bei den Besuchen des Generalsekretärs
Robertson und des Hohen Repräsentanten für die Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana,
deutlich geworden ist.
Es ist ganz und gar unverzichtbar, dass die mazedoni-
sche Regierung auch künftig maßvoll vorgeht was sie
oft nicht tut und dass die Spirale der Gewalt nicht wei-
ter gedreht wird. Deswegen war es wichtig, dass der
Kriegszustand nicht ausgerufen worden ist.
Ich erwähne das deshalb im Zusammenhang mit der
internationalen Sicherheitspräsenz, weil eine stark intensi-
vierte Überwachung der Grenze zwischen dem Kosovo und
Mazedonien zur Stabilisierung in Mazedonien beiträgt.
Das Kosovo darf kein sicheres Rückzugsgebiet, kein logis-
tisches Hinterland und kein Ausbildungshinterland für Ex-
tremisten in Mazedonien oder andernorts werden.
Auch dafür ist die internationale Präsenz entscheidend.
Im Übrigen entwickelt sie eine stabilisierende Wirkung,
wie man an diesem Beispiel sehen kann, weit über das
Kosovo hinaus.
Der längerfristige Prozess der friedlichen und demo-
kratischen Entwicklung des Kosovo und der gesamten
Region bedarf also auch zukünftig der Präsenz und der
Absicherung, also eines fortgesetzten Engagements auch
der NATO und ihrer Partner. Ich denke, wir stimmen darin
überein, dass die deutsche Teilhabe dabei selbstverständ-
lich und die Mandatsverlängerung dafür die zwingende
Voraussetzung ist.
Gleichzeitig aber, meine Damen und Herren, ist eine
gewisse Erweiterung des Mandats notwendig.
Erheblicher äußerer Einfluss auf das Kosovo entsteht
nämlich auch aus Südostserbien, dem so genannten Pre-
sevo-Tal. Aufgrund der Bestimmungen des Militärisch-
Technischen Abkommens ist dort ein Rückzugsraum für
Extremisten entstanden.
Ursprünglicher Zweck des MTA war die Regelung des
Abzugs der jugoslawischen Sicherheitskräfte. Die Sicher-
heitszonen von 25 Kilometern Luftraum und 5 Kilome-
tern auf dem Boden sollten denkbaren Zusammenstößen
zwischen internationaler Sicherheitspräsenz und jugosla-
wischen bzw. serbischen Kräften vorbeugen. Deshalb
sieht das Militärisch-Technische Abkommen lediglich die
Präsenz leicht bewaffneter jugoslawischer Polizisten in
diesem Gebiet vor. Das ist auf eine nicht erträgliche Weise
ausgenutzt worden, auch für zahlreiche gewaltsame Über-
griffe.
Im aktuellen Zusammenhang mit den Bestimmungen
dieses Abkommens steht derzeit die Gewährung des Zu-
gangs für jugoslawische Sicherheitskräfte in die Bodensi-
cherheitszone rund um das Kosovo. Dieser Zugang er-
folgt gegenwärtig abschnittsweise unter der Autorität und
der engen Überwachung von KFOR und unter der politi-
schen Kontrolle des NATO-Rates. Die Öffnung eines
Sektors, über den ich schon sprach, des Presevo-Tals in
Südostserbien, im MTA als Sektor B bezeichnet, steht
noch aus. Hierzu ist, wie in allen anderen Zonen auch, die
aktive Mitwirkung von KFOR erforderlich, um die politi-
schen Anstrengungen zu einer gewaltfreien Bewältigung
dieser Krise auch in diesem Gebiet zu unterstützen.
Es geht also um einen Verhandlungsprozess, es geht
um vertrauensbildende Maßnahmen zwischen serbisch-
jugoslawischen und ethnisch-albanischen Konfliktpar-
teien oder Partnern auf den jeweiligen Seiten. Es geht um
politisch wirksame Lösungen, die gemeinsam getragen
werden können. Es geht beispielsweise um Verbindungs-
organe und Patrouillen, um Unterstützungsleistungen für
und durch andere internationale Organisationen.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
16360
Die Europäische Union hat eine Monitoring Mission
beschlossen. Sie fußt auf der zwischen Europäischer
Union und NATO getroffenen Vereinbarung. Sie hat aus-
schließlich beobachtenden und humanitären Charakter.
Um diese Mission durchführen zu können, bedarf es ent-
sprechender Absicherung, beispielsweise im Falle von
Verwundung oder Geiselnahme. Das ist, wie bisher übri-
gens auch, unverändert an die Zustimmung der beteilig-
ten Nationen gebunden.
Ich will Ihnen mit diesem Beispiel eines deutlich ma-
chen, was in der Vergangenheit durch die eine oder andere
missverständliche Äußerung in der Öffentlichkeit zu Ver-
wirrungen geführt hat. Es geht nicht um die Stationierung
von KFOR-Kräften in der Bodensicherheitszone. Es geht
nicht um die Übernahme von Verantwortung für ein siche-
res Umfeld in Südostserbien. Es geht nicht um Maßnahmen
auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen durch
KFOR in Südostserbien und auf serbisch-jugoslawischem
Staatsgebiet. Es geht um etwas ganz anderes, nämlich da-
rum, dass die im Militärisch-Technischen Abkommen
schon vorgesehene Implementierungskommission für
die Bestimmungen dieses MTA ihre Arbeit tun kann, dass
zum Beispiel Vertreter des KFOR-Hauptquartiers an Ge-
sprächen über vertrauensbildende Maßnahmen vor Ort teil-
nehmen können. Das können sie zurzeit tun, aber nicht un-
ter deutscher Beteiligung. Das ist das eigentliche Ärgernis;
denn die bisher geltenden Bestimmungen des Bundestags-
mandats machen es unmöglich ich komme gleich zum
Ende, Frau Präsident , dass deutsche KFOR-An-
gehörige, auch solche mit Spitzenpositionen im Haupt-
quartier, an solchen Gesprächen und Verhandlungen teil-
nehmen.
Der für die Operationen zuständige stellvertretende
Befehlshaber von KFOR, ein deutscher Offizier, muss an
der Verwaltungsgrenze des Kosovo aus dem Auto steigen.
Er kann an Gesprächen mit Bürgermeistern im Presevo-
Tal und an der Schaffung vertrauensbildender Maßnah-
men nicht teilnehmen. Das ist nicht in Ordnung. Dadurch
wird Deutschland singularisiert, was wir uns in der heuti-
gen Situation nicht leisten können.
Es dürfte selbstverständlich sein, dass wir dabei wie
bisher den Weg kluger Zurückhaltung auch im militäri-
schen Bereich gehen. Ich hoffe, dass der Bundestag nach
sorgfältiger Beratung in den Ausschüssen dem Mandat zu
einer Fortsetzung und zu der hier beschriebenen Erweite-
rung zustimmen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Rühe.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bereits in der Debatte im letz-
ten Jahr hatten wir unseren Wunsch angekündigt, auch in
diesem Jahr zu einer konstitutiven Befassung des Bun-
destages zu kommen. Unabhängig davon, dass das jetzt
aufgrund der Ausweitung des Mandats zwingend erfor-
derlich wurde, halten wir angesichts der Art und des Um-
fangs des deutschen Engagements im Kosovo eine jährli-
che Entscheidung und damit auch eine Rechtfertigung vor
der deutschen Öffentlichkeit für unverzichtbar.
Die Art und Weise, wie wir über diesen Einsatz disku-
tieren, muss auch den Respekt vor dem schwierigen Ein-
satz der Soldaten widerspiegeln. Das darf niemals eine
Routineentscheidung des Deutschen Bundestages wer-
den.
Ich meine die Tonlage in dieser Debatte. Nach den Aus-
schussberatungen dies ist heute nur die erste Debatte
werden wir uns mit diesem Thema noch ausführlich im
Plenum beschäftigen.
Die deutschen Soldaten leisten unter schwierigen Um-
ständen einen großartigen Beitrag zur Stabilisierung und
schaffen damit die Voraussetzung für den Aufbau des
Landes und einer zivilen Gesellschaft. Deswegen danken
wir ihnen ganz besonders für ihr großartiges Engagement.
Die Lage im Kosovo, gerade auch im Verantwortungs-
bereich der deutschen Streitkräfte, ist schwieriger gewor-
den; sie wird noch schwieriger werden. Das hängt mit den
Veränderungen in Serbien wie auch mit der Zuspitzung in
Mazedonien zusammen. Die Gefahr wächst, dass von al-
banischen Extremisten gegen unsere Soldaten vorgegan-
gen wird, nachdem diese Extremisten schon in den letzten
Monaten bei Aggressionen gegenüber der serbischen
Minderheit zunehmend die Gefährdung von KFOR und
UNMIK in Kauf genommen haben. Deshalb müssen Eu-
ropäer und Amerikaner im Kosovo noch energischer ge-
gen die UCK vorgehen. Ihre Entwaffnung und das Auf-
spüren von Waffenlagern müssen noch konsequenter
betrieben werden.
Vor allem aber muss die internationale Gemeinschaft
den politischen Führern im Kosovo unmissverständlich
klarmachen, dass es ihren eigenen Anliegen schadet,
wenn sie nicht in der Lage sind, den Einsatz von Gewalt
durch Extremisten zu unterbinden. Die Kosovo-Albaner,
die sich in Deutschland viele Sympathien erworben haben
wer kann sich nicht an die Bilder von den Hundert-
tausenden von jungen und alten Menschen erinnern, die
über die hohen Berge geflüchtet sind , müssen wissen,
dass sie durch Gewalt nichts gewinnen, sondern alles ver-
lieren können.
Die schwieriger gewordene Situation zeigt, wie dring-
lich es ist, dass der politische Prozess im Kosovo und in
der Region schneller vorankommt; denn der politische
Prozess der Einsatz der Soldaten ist kein Ersatz für die-
sen Prozess hängt noch viel zu weit zurück, weil er nicht
energisch genug vorangetrieben wurde, übrigens auch
nicht von der Bundesregierung. Wir haben immer wieder
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Bundesminister Rudolf Scharping
16361
ein größeres Engagement eingeklagt, so auch schon vor
einem Jahr. Wir brauchen zwar nicht sofort eine Exit-Stra-
tegie, aber doch einen politischen Prozess, der die Leis-
tungen unserer Soldaten nutzt, damit es einen Weg in die
Zukunft gibt.
Wir brauchen jetzt dringend eine Vereinbarung über
eine substanzielle Autonomie, damit es im Herbst zu
Kosovo-weiten Parlaments- und Präsidentenwahlen kom-
men kann. Dann werden die Kosovaren die künftige Ent-
wicklung ihres Landes in vielen Bereichen selbst in die
Hand nehmen können. Das ist auch deshalb wichtig, da-
mit die Menschen im Kosovo die internationale Ge-
meinschaft oder auch unsere Soldaten nicht als Besatzer
ansehen. Das ist eine große Gefahr, wenn es nicht gelingt,
diesen politischen Prozess voranzubringen.
Damit die Selbstverwaltung aber auch Erfolg hat,
müssen die Voraussetzungen dafür erheblich verbessert
werden. Das heißt insbesondere, dass die internationale
Gemeinschaft die rechtlichen und wirtschaftlichen He-
rausforderungen schneller als bisher bewältigen muss.
Deshalb muss die Einführung moderner Zivil- und Straf-
gesetze beschleunigt werden. Erst wenn es ein robustes
Rechtssystem gibt, werden auch Investoren kommen.
Aber auch hier Fehlanzeige, was die Initiativen der Bun-
desregierung angeht.
Das gilt auch für den Aufbau von nachhaltigen Wirt-
schaftsstrukturen. Das muss effizienter und unbürokrati-
scher ablaufen.
Diese und viele andere Mängel müssen möglichst
schnell beseitigt werden, damit der Autonomieprozess Er-
folg hat, wir dadurch wegkommen von der ständigen Dis-
kussion über die Frage des endgültigen Status, die aus
meiner Sicht jetzt nicht zu lösen ist. Dieser Status wird
erst am Ende eines regionalen Prozesses stehen können,
in dem viele noch offene bilaterale Fragen geregelt wor-
den sind und in dem es grenzüberschreitend zu einer Ver-
ständigung gekommen ist über Prinzipien wie Gewalt-
verzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, verpflichtende
Standards des Minderheitenschutzes, der Flüchtlings-
rückkehr, über Fragen der gemeinsamen Bekämpfung von
internationaler Kriminalität und Terrorismus sowie über
wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Meine Damen und Herren, bei ihrer schwierigen und
gefährlichen Aufgabe hat die Bundeswehr unsere nach-
haltige Unterstützung verdient. Womit wir uns aber nicht
mehr abfinden werden, ist, dass dies nur in netten Worten
der Anerkennung in Plenumsdebatten zum Ausdruck
kommt. Es muss sich endlich auch in der finanziellen
Ausstattung der Bundeswehr insgesamt niederschla-
gen; sonst ist das unglaubwürdig.
Welche Situation haben wir? Wir haben praktisch eine
zweigeteilte Bundeswehr: eine Bundeswehr Ausland, die
für ihre Einsätze gut ausgerüstet ist und hervorragend vor-
bereitet wird. Es wird alles getan zum Schutz der Solda-
ten. Das war immer so und ist auch so geblieben; da al-
lerdings die Mittel insgesamt nicht reichen, häufig
zulasten der Bundeswehr insgesamt. Wir haben nämlich
auch eine Bundeswehr Inland, die immer mehr in eine
hoffnungslose Lage gerät. Das wird sich mittelfristig, was
die Motivation der Soldaten angeht, auch negativ auf die
Auslandseinsätze auswirken.
Der Zustand der Bundeswehr wird bei unseren Bünd-
nispartnern immer mehr zu einem Faktor des Anstoßes,
auch wegen der Verpflichtung, die in der NATO und der
ESVP eingegangen wurden, aber nicht eingehalten wer-
den können.
Es ist für jedermann erkennbar, dass der Verteidi-
gungsminister seine Möglichkeiten offensichtlich völlig
eingebüßt hat, eine finanziell verbesserte Situation der
Bundeswehr zu erreichen.
Deshalb ist das längst eine Angelegenheit des Bundes-
kanzlers und seiner Glaubwürdigkeit gegenüber unseren
Soldaten und den internationalen Partnern geworden. Aus
dieser Verantwortung werden wir ihn nicht entlassen.
Wir werden ihm im Übrigen auch seine offensichtliche
Gleichgültigkeit und sein manchmal kaltschnäuziges
Desinteresse gegenüber den Anliegen der Soldaten und
der Bundeswehr das spüren die Soldaten nicht durch-
gehen lassen. Wir werden den Bundeskanzler in die
Pflicht nehmen, damit sich die unhaltbare Situation der
Bundeswehr nicht weiter verschlechtert.
Aus meiner Sicht erfordert es die Lage, dass der Ko-
sovo-Einsatz fortgesetzt und der Einsatz in der Ground
Safety Zone übrigens entsprechend den Einsatzregeln
der anderen Soldaten auch ermöglicht wird.
Ich muss aber auch in aller Klarheit sagen: Wenn bei
den Haushaltsberatungen in diesem Jahr in der Regierung
und im Parlament die drastische Unterfinanzierung der
Bundeswehr nicht korrigiert wird und keine grundlegen-
den Verbesserungen eintreten, dann können wir uns aus
heutiger Sicht und unter den heutigen Umständen nicht
vorstellen, auch im nächsten Jahr einfach unsere Zu-
stimmung zu einem solchen Einsatz zu geben.
Warten Sie es ab! Die Bundesregierung und die Mehr-
heit des Deutschen Bundestages haben bis zum Abschluss
der Haushaltsberatungen im November sechs Monate
Zeit, die Situation für die Bundeswehr zu verbessern.
Diese Haltung ist keine Abkehr von den Auslands-
einsätzen. Schließlich und das wissen die Soldaten, das
weiß auch die Öffentlichkeit, national und international
waren wir es, die gegen heftigste Widerstände von Rot
und Grün bis hin zum Bundesverfassungsgericht die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Volker Rühe
16362
Voraussetzungen für den Auslandseinsatz der Bundes-
wehr geschaffen haben, die Voraussetzungen dafür, dass
unsere Soldaten zusammen mit den Soldaten im Bündnis
eingesetzt werden können.
Jetzt muss ich mich an den Außenminister wenden: Es
geht nicht an, Herr Fischer, dass Sie als Außenminister bei
der UNO, der NATO und der Europäischen Union in Be-
zug auf die Einsatztruppe zusätzliche Verpflichtungen un-
terschreiben, aber, noch bevor die Tinte getrocknet ist,
zu Hause mit Ihren grünen Parlamentskolleginnen und
-kollegen dafür sorgen, dass der Bundeswehr das
benötigte Geld nicht zur Verfügung gestellt wird. Diese
Kritik gilt übrigens genauso für den Bundeskanzler. Ein
solcher Spagat ist nicht länger hinnehmbar.
Sie müssen uns schon erlauben, diesen Einsatz in einen
größeren Zusammenhang zu stellen. Ich habe gerade eine
Einheit besucht: Während diese im Herbst im Kosovo
sein wird, wird sie zu Hause aufgelöst. Was glauben Sie,
was das für die Motivation der Soldaten bedeutet? Wir
müssen also wirklich einen Zusammenhang zwischen den
Auslandseinsätzen und der Frage der Finanzierung der
Bundeswehr insgesamt herstellen. Sonst werden wir der
Verantwortung, die wir gegenüber den Soldaten tragen,
nicht gerecht.
International immer mehr Verantwortung zu überneh-
men, aber zu Hause die Bundeswehr finanziell an die
Wand zu fahren fügt der Bundeswehr schwersten Schaden
zu und untergräbt im Übrigen die Glaubwürdigkeit der
deutschen Außenpolitik.
Wer die Signale aus Washington nicht spürt und nicht
merkt, wie stark die Glaubwürdigkeit unserer Außen- und
Sicherheitspolitik inzwischen durch Ihre Bundeswehrpo-
litik, Herr Außenminister, gefährdet wird, der ist blind
und schwerhörig.
Ich bin mir im Übrigen sicher da machen Sie sich mal
keine falschen Hoffnungen, dass unsere Position missver-
standen wird , dass die Soldaten der Bundeswehr, unsere
Mitbürger in Deutschland und auch unsere internationa-
len Partner dieses klare Warnsignal der Union an die Re-
gierung gut verstehen werden.
Es geht uns nicht um den Abbruch der Auslandseinsätze.
Wir müssen aber mit aller Klarheit sagen, dass dem verant-
wortungslosen Umgang der rot-grünen Bundesregierung
mit unseren Streitkräften ein Ende gemacht werden muss.
Das Wort hat
jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte
eigentlich nur einen ganz auf den Antrag der Mandatsver-
längerung und -ausweitung bezogenen Beitrag bringen.
Aber Ihr Beitrag, Kollege Rühe, macht es einfach not-
wendig, dass man Ihnen, der Sie ja auch einmal Bundes-
verteidigungsminister waren, widerspricht.
Es ist schon eine besondere Form von Politikdarstel-
lung, wenn Sie hier als Abgeordneter, der lange Anlauf-
schwierigkeiten hatte, seine Rolle in der Opposition zu
finden, Kritik üben, indem Sie mächtig die rhetorische
Keule im Saale schwingen, im Grunde genommen aber
Ihre eigene Rolle völlig unterschlagen. Wo bleibt da die
Glaubwürdigkeit, meine Damen und Herren?
Ja, ich will gerne darüber reden. Ich habe zum Beispiel
in der Zeit, als ich Oppositionsabgeordneter war,
manchem Antrag des damaligen Verteidigungsministers
bzw. der Bundesregierung in Bezug auf Bosnien zuge-
stimmt.
Sie fordern also hier nun eine jährliche Beschlussfas-
sung ein. Eine jährliche Beschlussfassung haben Sie da-
mals bezüglich des SFOR- und des Adria-Einsatzes abge-
lehnt.
Ich möchte das nur einmal festhalten.
Sie möchten das Ganze in einem größeren Zusammen-
hang sehen und sagen, die Bundesregierung sei politisch
nicht vorangekommen. Bei einer solchen Kritik vonseiten
der Opposition muss sich der Kollege Rühe schon einmal
Ausführungen darüber gefallen lassen, wo wir denn ei-
gentlich in Bosnien stehen. Diese Bundesregierung hat
doch etwas erreicht, was die Vorgängerregierung über
Jahre hinweg nicht erreicht hat.
Sachlich betrachtet besteht doch heute ein ganz ande-
res Problem. Kollege Rühe weiß ja viel besser, als es seine
Polemik als Oppositionsabgeordneter vermuten lässt,
welche Widerstände auch in Bosnien noch heute zu über-
winden sind.
Ich erinnere nur an die jüngsten Vorgänge in Banja Luka,
auf der Seite der Republika Srpska.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Volker Rühe
16363
Herr Außenminis-
ter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rühe?
Bitte.
Herr Kollege Fischer, Sie
haben das schon im letzten Jahr ähnlich dargestellt. Ich
wollte Ihnen damals nicht widersprechen. Wenn Sie sa-
gen, wir hätten die jährliche Beschlussfassung abge-
lehnt: Darf ich Sie dann daran erinnern, dass sowohl Sie
als auch der Fraktionsvorsitzende der SPD bei mir als Ver-
teidigungsminister mit der Bitte vorstellig geworden sind,
wegen der Schwierigkeiten in Ihren Fraktionen, dort je-
weils eine klare Meinungsbildung herbeizuführen,
nicht jährlich abzustimmen genauso war es , und dass
wir insofern auf die Opposition zugegangen sind und auf
die jährliche Beschlussfassung verzichtet haben? Jetzt
sind wir die Opposition. Wenn wir die jährliche Abstim-
mung fordern, weil wir mit der politischen Meinungsbil-
dung keine Probleme haben, dann sollten Sie die Dinge
nicht in der Weise verdrehen, wie Sie es gemacht haben.
Kollege Rühe, den Vorwurf des Verdrehens muss ich Ih-
nen direkt zurückgeben. Wir haben die sehr harte Aus-
einandersetzung um die Beschlussfassung in der Fraktion
öffentlich geführt. Wir haben sie auch im Übergang zur
Regierungspartei geführt. Wir haben sie auf dem Kosovo-
Parteitag, aber auch schon in der Legislaturperiode vorher
geführt. Da gab es überhaupt nichts zu verstecken, ge-
schweige denn dass ich bei Ihnen gebeten hätte, auf die
jährliche Beschlussfassung zu verzichten.
Herr Außenmi-
nister, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Scharping?
Bitte, ich gestatte alle Zwischenfragen.
Herr Kollege Fischer, kön-
nen Sie zur Kenntnis nehmen, dass ich den Kollegen Rühe
in seiner Eigenschaft als Verteidigungsminister in der Ver-
gangenheit zu keinem Zeitpunkt gebeten habe, die jährli-
che Beschlussfassung wegen angeblicher Schwierigkei-
ten in meiner Fraktion zu vermeiden?
Ich kann das nach meinen Kenntnissen nur bestätigen.
Das war ein echter Rühe.
Ich möchte jetzt nicht vertiefend auf das eingehen,
Herr Kollege Rühe, was in Ihrem Verantwortungsbereich
als Verteidigungsminister geschehen ist. Wenn Sie jetzt
etwa den Bundeskanzler angreifen und behaupten, dass er
zur Bundeswehr ein kaltschnäuziges Verhältnis habe
was ich in aller Form zurückweise ,
und wenn Sie den Bundesverteidigungsminister in diesem
Zusammenhang angreifen, kann ich nur sagen: Unsere
Partner haben die notwendige Militärreform bereits
Mitte der 90er-Jahre durchgeführt. Wie hieß denn damals
der Bundesverteidigungsminister?
Wenn Sie heute über eine Unterfinanzierung spre-
chen, kann ich nur sagen: Ich weiß nur zu gut, wie schwer
die Finanzierung ist, nicht nur im Bereich des Kollegen
Scharping, sondern auch in meinem Bereich. Aber wenn
wir die Konsolidierungspolitik nicht angepackt hätten
die Sie schon längst hätten anpacken müssen , dann
hätten wir weder die entsprechende Umkehr in der Wirt-
schaftsentwicklung noch den Modernisierungseffekt er-
reicht.
Sich heute hier hinzustellen und die nicht stattgefun-
dene Bundeswehrreform sowie die Unterfinanzierung bei
dieser Regierung abzuladen, finde ich für einen ehemali-
gen Verteidigungsminister, der für diese Untätigkeit die
Verantwortung hat, mit Verlaub gesagt das Allerletzte.
Diese geteilte Bundeswehr ich möchte es nochmals
betonen haben wir doch von Ihnen übernommen. Sie
hätten sie durch die Bundeswehrreform so, wie es die
Franzosen, die Briten und die Amerikaner Anfang der
90er-Jahre gemacht haben, anpacken müssen. Dann hät-
ten wir die Probleme, die wir gegenwärtig zu lösen haben,
in dieser Form nicht mehr
respektive hätten sie schon sehr weitgehend lösen können.
Herr Außenmi-
nister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? Bitte.
Herr Außenminister, darf
ich fragen, ob wir noch etwas zum Antrag der Bundesre-
gierung hören oder ob Sie zur Bundeswehrreform Stel-
lung nehmen wollen?
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 200116364
Entschuldigung, ich weiß nicht, wie es in der neuen F.D.P.
üblich ist. Ich pflege in einer parlamentarischen Debatte
die Argumente, die von der Opposition vorgebracht wer-
den, ernst zu nehmen und darauf einzugehen.
Ich habe dem Kollegen Rühe sehr sorgfältig zugehört. Er
teilt gewiss nicht meine Position, aber das Wesen der par-
lamentarischen Debatte ist ja nicht dadurch geprägt, dass
wir Freundlichkeiten austauschen, sondern dadurch, dass
wir gegenseitig auf Argumente eingehen, die wir für
falsch respektive für richtig halten. Das habe ich jetzt ge-
tan. Wenn das die F.D.P. in Unruhe versetzt, dann bitte.
Ich für meinen Teil komme, nachdem ich jetzt die Fra-
gen beantwortet habe, gerne zum eigentlichen Thema.
Ich habe keine halbe Stunde Redezeit, sondern sechs-
einhalb Minuten. Ich habe jetzt drei Fragen beantwortet,
unter anderem Ihre. Ich finde es, wenn wir über einen
Bundeswehreinsatz reden und ein ehemaliger Verteidi-
gungsminister solche Vorwürfe erhebt, wichtig, dass die
Bundesregierung in Gestalt des Bundesaußenministers
dem entgegnet. Ich weiß nicht, was es daran zu kritisieren
gibt.
Es ist sehr wichtig, dass wir die Präsenz in der Region
aufrechterhalten. Es ist ein langfristiges Engagement. Ich
stimme all denen zu in der Sache sind die Widersprüche
ja gar nicht so groß, wie es hier teilweise dargestellt
wird , die sagen: Wir werden nur dann eine politische
Lösung finden, wenn wir dieses Engagement aufrechter-
halten und der gesamten Region gleichzeitig eine euro-
päische Zukunft vermitteln.
Ich glaube, wesentliches Ergebnis des Einsatzes von
KFOR und auch von UNMIK ist die Entwicklung in der
Gesamtregion. Eines der wichtigsten Ereignisse im ver-
gangenen Jahr, dem Jahr, in dem das Mandat lief, ereig-
nete sich nicht im Kosovo, sondern in Belgrad. Denn dort
fand eine demokratische, eine friedliche Revolution statt.
Ein Teil des Problems der Mandatsausweitung, über
die wir heute diskutieren, hängt unmittelbar damit zu-
sammen: Aufgrund der veränderten Situation ist in einem
bestimmten Segment, nämlich dort, wo es eine albanische
Bevölkerungsmehrheit gibt staatsrechtlich gehört dieses
Gebiet allerdings zu Serbien , eine Pufferzone entstan-
den. Dort hat sich tatsächlich ein Vakuum entwickelt, das
destabilisierende Wirkungen auf den Kosovo und auch
auf Mazedonien sowie die gesamte Region haben kann.
Dieses Vakuum kann nicht hingenommen werden.
Nach unserer Meinung war es auch nicht sinnvoll, hier
ein neues Mandat zu schaffen. KFOR hat einen im dop-
pelten Sinne des Wortes sehr guten Ruf im Kosovo. KFOR
wird ernst genommen. Insofern ist es wichtig, dass es nicht
eine Mandatsausweitung im Sinne eines Kampfeinsatzes
gibt. Vielmehr geht es dort um die Möglichkeit der Präsenz
von deutschen Truppenangehörigen und deutschen Stabs-
angehörigen in gemischten Gruppen bei Verhandlungen
auch unter dem Gesichtspunkt, dass es zu einer gefähr-
lichen Situation für unbewaffnete EU-Monitoren kommen
könnte und dann die Bundeswehr dort gemeinsam mit den
Partnern beteiligt werden kann. Nicht mehr und nicht we-
niger.
Wir meinen, dass wir jetzt vor der schwierigen Ent-
scheidung stehen, das entsprechende Autonomiestatut
im Kosovo zu vollenden. Allerdings bleibt die Schwie-
rigkeit, dass die Mehrheit der Kosovaren hierzu eine an-
dere, nämlich eine nur transitorische Position vertritt und
recht schnell in Richtung Unabhängigkeit gehen will.
Dies ist weder durch die Resolution 1244 noch durch die
Interessen der Nachbarn gedeckt.
Ich stimme ausdrücklich all denen zu, die sagen: Dies
ist heute nicht lösbar. Möglich sind aber vertrauensbil-
dende Maßnahmen und vor allen Dingen die Implemen-
tierung von Grundsätzen, die später eine substanzielle Lö-
sung möglich machen.
Was bleibt, ist insofern sehe ich mit einer gewissen
Sorge die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina, in
Mostar, und auch die Entwicklung in Banja Luka , dass
natürlich auch in Mazedonien ein aggressiver Nationa-
lismus, der nicht an eine Volksgruppe dort in der Region
gebunden ist, versucht, die Bereitschaft der internationa-
len Staatengemeinschaft ein weiteres Mal zu testen. Wir
dürfen nicht zulassen, dass dort egal, mit welcher natio-
nalistischen Begründung Grenzen mit Gewalt verändert
werden, dass im Grunde genommen durch Terror wieder
eine Politik der ethnischen Säuberung versucht werden
soll.
Heute sind wir hier in einer wesentlich besseren Situa-
tion, in der wir klarmachen können, dass wir nicht akzep-
tieren können, dass ein aggressiver Nationalismus von
albanischen Extremisten die territoriale Integrität Maze-
doniens gefährdet. Hier muss mit Klugheit und Ent-
schlossenheit vorgegangen werden. Aber genauso muss
klar sein, dass die albanische Minderheit in Mazedonien
ein gleichberechtigtes Zuhause finden muss. Wir unter-
stützen also mit allem Nachdruck, was Javier Solana, der
Hohe Beauftragte der EU, und George Robertson, der
NATO-Generalsekretär, in den letzten Tagen erreicht ha-
ben. Ich möchte hier nochmals an die mazedonische Re-
gierung und an alle demokratischen Parteien appellieren,
hier endlich substanzielle Schritte zu machen, sodass es zu
einer entsprechenden Modernisierung der Verfassung und
dann auch der Verfassungswirklichkeit in Mazedonien
kommt,
damit die Mehrheit der albanischstämmigen Mazedonier
eben nicht in Richtung der Extremisten gedrückt wird.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16365
Alles in allem ist die Präsenz von KFOR unverzichtbar,
übrigens genauso wie von SFOR. Es wird ganz entschei-
dend darauf ankommen, dass wir diese Präsenz für das Er-
reichen einer politischen Lösung nutzen. Ich möchte aber
vor Illusionen warnen. Das Erreichen dieser politischen
Lösung wird dauern. Wir sind hier vorangekommen.
Wenn wir die jetzige mit der Situation von vor einem Jahr
vergleichen, können wir feststellen: Beeindruckende
Fortschritte sind erzielt worden. Mit den Wahlen im
Herbst wird es zu weiteren Fortschritten kommen.
Die Entwicklung in Mazedonien gibt aufgrund der de-
mokratischen Wahlen Anlass zu etwas Erleichterung. In
Bosnien sind die wirklichen Probleme noch nicht gelöst.
Auch diese werden letztendlich in einen Regionalansatz
eingebunden werden müssen, der Stabilität, der Frieden,
der gemeinsame Entwicklung in Richtung des Europas
der Integration zum Gegenstand hat.
Dafür ist es notwendig, das Mandat zu verlängern und um
diesen einen Punkt zu erweitern, damit es nicht zu neuen
Unsicherheiten kommt. Ich bitte deshalb um Ihre Zustim-
mung.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Kollege Rühe das Wort.
Ich möchte drei kurze
Feststellungen treffen:
Erstens. Ich bleibe bei meiner Behauptung. Wir haben
zu unserer Regierungszeit im Bundestag zunächst jährlich
die Einsätze beschlossen. Es war eine Initiative vor allen
Dingen von den Grünen, aber auch von der sozial-
demokratischen Seite, von jährlichen Beschlussfassungen
abzugehen, damit, wie argumentiert wurde, man nicht
ständig diese schwierigen Abstimmungen im Bundestag
habe. Jetzt sind wir in der Opposition und wir haben die
Bitte, jährlich abzustimmen, weil wir wollen, dass solche
Entscheidungen nicht zur Routine werden.
Zweitens. Sie haben bemängelt, wir hätten in den 90er-
Jahren keine Bundeswehrreform durchgeführt. Ich weiß
nicht, wo Sie gewesen sind. Wir haben nicht nur aus zwei
Armeen eine gemacht das ist, was unsere Streitkräfte an-
geht, wahrscheinlich immer noch die größte Leistung in
den 90er-Jahren , sondern wir haben, ganz präzise for-
muliert, 1994 eine Verkleinerung der Bundeswehr um
30 000 Soldaten vorgenommen. Herr Fischer, hören Sie
doch einmal zu, anstatt auf der Regierungsbank so arro-
gant zu lachen!
Die Reduzierung der Bundeswehr war verbunden mit
einer grundlegenden Reform: Wir haben Krisenreaktions-
kräfte geschaffen. Wenn wir diese Krisenreaktionskräfte
nicht geschaffen hätten, hätten Sie heute in Jugoslawien
nicht einmal eine Kompanie im Einsatz. Dies ist übrigens
gegen den erbitterten Widerstand gerade der Grünen und
zum Teil gegen den der Sozialdemokraten erfolgt. Ich er-
innere mich noch an die erbitterten Angriffe im Verteidi-
gungsausschuss gegen die Schaffung dieser Krisenreakti-
onskräfte. Durch diese Reform wird es Deutschland heute
ermöglicht, Soldaten auf dem Balkan zu stationieren und
eine internationale Rolle zu spielen. Das sollten Sie nicht
vergessen. Früher haben Sie ja ein kurzes Gedächtnis ge-
habt; jetzt sollten Sie ein etwas längeres entwickeln.
Entschuldigung, das ging vielleicht etwas über den Rah-
men einer Kurzintervention hinaus.
Drittens zur Finanzierung: Natürlich ist Geld immer
knapp. Auch bei uns gab es keine Situation, in der wir
Geld im Überfluss hatten. Wir haben über vier Jahre hin-
weg 20 Milliarden DM mehr zur Verfügung gestellt; An-
fang der 90er-Jahre netto natürlich noch mehr. Wenn Sie
jetzt sagen, die Vorgängerregierung habe zu wenig Geld
für die Bundeswehr eingesetzt, dann wäre doch die logi-
sche Folge, dass Sie mehr Geld für die Bundeswehr be-
reitstellen. Stattdessen stellen Sie 20 Milliarden DM we-
niger zur Verfügung. Das ist eine Zerstörung der
Glaubwürdigkeit der deutschen Außen- und Sicherheits-
politik.
Wollen Sie ant-
worten?
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.
Frau Präsiden-
tin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Fischer, Sie
hätten angesichts dieser sehr wichtigen Frage vielleicht
doch zum Antrag der Bundesregierung sprechen sollen.
Dann hätten Sie uns Ihre peinliche Vorstellung erspart.
Vielleicht hätten Sie uns sogar überzeugen können.
Denn, Herr Minister Fischer, die jetzige Formulierung des
vorliegenden Antrages öffnet Tür und Tor für nicht kalku-
lierbare Einsätze. Eine derartige undifferenzierte Erweite-
rung des Mandats lehnt die F.D.P. ab. Für eine Blanko-
scheckpolitik ist die F.D.P. nicht zu haben.
Herr Minister Fischer, Herr Minister Scharping, wir se-
hen gegenwärtig nicht die Notwendigkeit eines Einsatzes
von Bundeswehrsoldaten in der Sicherheitszone, da diese
nicht dem Einsatzsektor der deutschen Truppen vor-
gelagert ist. Ein solcher Einsatz würde zum Beispiel die
Führung von Bundeswehrpatrouillen unnötig komplizie-
ren.
Die F.D.P. ist dafür, dass den deutschen KFOR-Solda-
ten alle Mittel zur Verfügung gestellt werden, die zur bei-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Bundesminister Joseph Fischer
16366
spielhaften Auftragserfüllung in ihrem Sektor im Kosovo
notwendig sind. Wir sind dafür, dass sie bestmöglich
ausgebildet werden, dass ihre Ausrüstung und Bewaff-
nung modernstem Standard entspricht und dass sie die
größtmögliche Fürsorge erhalten. Aber müssen unsere
Soldaten über ihren eigentlichen Bereich hinaus Einsatz-
aufträge erhalten? Wir lehnen eine Automatik der Auf-
tragserweiterung genauso ab wie einen vorauseilenden
Gehorsam des Außen- und des Verteidigungsministers.
Nur weil Minister Fischer ständig zum Musterknaben
unseres großen Bündnispartners mutieren will, darf der
Gefährdungsgrad unserer Soldaten nicht leichtfertig er-
höht werden.
Nur weil Minister Scharping im Bündnis zunehmend
schwerer die drastische Unterfinanzierung der Bundes-
wehr erklären kann, dürfen Einsatzwille und Leistungs-
bereitschaft unserer Soldaten nicht missbraucht werden.
Statt sich um den inneren Zustand der Bundeswehr zu
kümmern, statt die Bundeswehrreform voranzutreiben,
statt die Anschubfinanzierung sicherzustellen und statt
das Attraktivitätsprogramm zu realisieren, betreibt der
Verteidigungsminister die Ausweitung des Einsatzraumes
der deutschen KFOR-Soldaten auf Serbien. Statt den Sta-
bilitätspakt von Südosteuropa zu forcieren, statt sich end-
lich um Menschenrechtsverletzungen zu kümmern, statt
die Beendung des Tschetschenienkrieges einzufordern
und statt energisch deutsche Interessen in Fragen der Ra-
ketenabwehr und der NATO-Erweiterung zu vertreten,
versucht der Außenminister mit der Zusage des Einsatzes
deutscher KFOR-Soldaten auf serbischem Gebiet zu
glänzen.
Die F.D.P. steht zur NATO und zur UNO, ohne jeden
Zweifel. Die F.D.P. ist aufgrund der unverändert fragilen
Lage für den Verbleib der Bundeswehr im Kosovo, trotz
der permanenten Gefährdung für Leib und Leben unserer
Soldaten. Wir danken unseren Soldaten für diese schwie-
rige Arbeit.
Die F.D.P. ist allerdings gegen eine nicht notwendige Er-
höhung dieser Gefährdung durch eine logisch nicht zu be-
gründende Ausweitung des Mandats.
Herr Minister Scharping, Herr Minister Fischer: Wenn
es um Gespräche von Offizieren mit Bürgermeistern geht,
dann brauchen wir keine Mandatserweiterung. Wozu aber
werden drei Kompanien benötigt, die für den Einsatz vor-
gesehen sind?
Auch diese Frage wurde heute nicht beantwortet. Die
F.D.P. lehnt das Ansinnen der Bundesregierung daher
heute ab; das verlangt die Fürsorge für unsere Soldaten.
Es ist auch bezeichnend, dass heute nur Regierungs-
mitglieder von Rot-Grün gesprochen haben. Es haben
keine rot-grünen Parlamentarier gesprochen.
Ich sage dazu: Die Bundeswehr ist keine Regierungsar-
mee. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und muss
eine Parlamentsarmee bleiben.
Mich interessiert sehr, wie rot-grüne Parlamentarier zu
dieser Frage stehen. Auch dazu hat es hier heute keine
Antwort gegeben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Minister
Scharping, ich will Sie nur darauf hinweisen, dass es die
Regel ist, dass von der Regierungsbank nicht dazwi-
schengerufen wird. Ich muss aber zugeben, dass von an-
deren Kollegen immer wieder gegen diese Regel ver-
stoßen wird.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon sehr inte-
ressant, auf die kurze Kontroverse Rühe, Scharping,
Fischer zurückzukommen. Wenn ich es ein bisschen über-
ziehen würde, würde ich sagen: einen Untersuchungsaus-
schuss einsetzen.
Ich sage Ihnen aber sehr ernsthaft: Vor dem Hintergrund,
dass sich die Bundesregierung öffentlich immer mehr fra-
gen lassen muss, ob sie im Zusammenhang mit der Ent-
scheidung für den Krieg die Bevölkerung belogen, be-
schwindelt und betrogen hat,
ist die Frage, ob sich Politiker der Grünen und der SPD mit
dem ehemaligen Verteidigungsminister der CDU/CSU ge-
gen die eigenen Parteien verbündet haben, klärenswert.
Ich finde, sie sollte hier geklärt werden; denn dies ist ein
ganz erheblicher Vorwurf.
Vielleicht hat sich auch jemand geirrt oder hat gelogen
wie immer man das bezeichnen mag.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Günther Friedrich Nolting
16367
Des Weiteren ist es mir wichtig festzuhalten, dass die
Bundesregierung nicht nur eine Verlängerung des Manda-
tes, sondern eine Ausweitung des Mandates bzw. eigent-
lich ein neues Mandat beantragt.
Ich gehe einmal mit Selbstverständlichkeit davon aus,
dass die Bundesregierung bereit ist, über beide Teile ihres
Antrages hier im Parlament getrennt abstimmen zu lassen.
Das ist zwar kein Problem der PDS; wir werden beide
Teile ablehnen. Das ist aber ein Problem verschiedener
Kolleginnen und Kollegen.
Auch da werden wir sehen, ob und inwieweit die Bun-
desregierung bereit ist, sich demokratischen Spielregeln
zu unterziehen, oder ob hier wieder eine Sache zusam-
mengebunden wird, die aus meiner Sicht so nicht zusam-
men gehört.
Ich will auch auf das antworten, was Rudolf Scharping
als Bilanz vorgestellt hat. Seiner Anregung, auf die Bilanz
zu schauen, sollte man durchaus nachkommen. Schauen
wir einmal auf die Bilanz zwei Jahre nach dem Krieg:
Krieg in Mazedonien.
Es ist nicht erheblich, ob in Mazedonien der Kriegszu-
stand ausgerufen wird oder nicht. Ich bin froh, dass er
nicht ausgerufen wurde, aber in Mazedonien findet Krieg
statt. Bewaffnete Auseinandersetzungen gibt es nach wie
vor im Kosovo. Die Vertreibung der einen Ethnie ist durch
die Vertreibung anderer aus dem Kosovo ersetzt worden.
Instabilität gibt es in Montenegro und in Bosnien. Das ist
auch Teil der Bilanz, die Sie hier nicht schönreden können
und der Sie sich stellen müssen.
Ihr jetzt eingebrachter Antrag, die deutsche Beteili-
gung auf die Sicherheitszone auszudehnen, ist ebenfalls
Ausdruck von Instabilität und nicht von Stabilität. Auch
das muss hier ausgesprochen werden.
Wir sollten auch ganz deutlich festhalten: Die neu ge-
wählte jugoslawische Volksvertretung hat in einem Brief
an den Deutschen Bundestag, den Sie einmal lesen soll-
ten, ausgedrückt, dass rechtlich gesehen nach der UNO-
Resolution einzig und allein KFOR die Verantwortung für
alles trägt, was im Kosovo und aus dem Kosovo heraus
geschehen ist.
Unser Weg ist ein anderer.
Wir lehnen die Erweiterung des Mandates ab. Wir lehnen
die Verlängerung des Mandates ab.
Wir schlagen vor, die im Rahmen der KFOR eingesetzten
Bundeswehreinheiten abzuziehen. Weil diese sich im Be-
wusstsein der Menschen zu Komplizen der UCK gemacht
haben dieses Problem besteht doch real , ist KFOR
nicht geeignet und sollte durch eine UN-Blauhelmtruppe
ersetzt werden.
Danke sehr.
Zu einer Kurz-
intervention erhält der Abgeordnete Rudolf Scharping das
Wort.
Herr Kollege Nolting, ich
wollte Ihnen so wie im Gespräch mit den Fraktionen und
in der Sitzung des Ausschusses für Verteidigung des Deut-
schen Bundestages auch bei dieser Gelegenheit und damit
zum dritten Mal erläutern, dass die Umgruppierung der
logistischen Kräfte zwischen Mazedonien und dem Ko-
sovo Personal in der Stärke von etwa drei Kompanien
freisetzt, die zur Wahrnehmung von Aufgaben im Kosovo
eingesetzt werden können, zum Beispiel bei der verstärk-
ten Grenzüberwachung zwischen Kosovo und Mazedo-
nien.
Der von Ihnen fortwährend unternommene Versuch,
diese drei Kompanien in Zusammenhang mit den Tätig-
keiten im Presevo-Tal zu bringen, ist Ihnen jetzt zum drit-
ten Mal als sachlich völlig unhaltbar erläutert worden.
Wenn es erforderlich wird, werde ich Ihnen das in der
Hoffnung, dass es irgendwann verstanden wird, bei jeder
Gelegenheit erneut erläutern.
Herr Nolting,
bitte.
Herr Abgeord-
neter Scharping, ich hatte zwar den Minister angespro-
chen, aber ich unterhalte mich auch mit dem Abgeordne-
ten.
Herr Kollege
Nolting, das Kurzinterventionsrecht ist ein Recht von Ab-
geordneten. Deswegen ist das so berechtigt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Wolfgang Gehrcke
16368
Das habe ich
nicht bestritten.
Das ist also kein
Anlass, sich darüber zu mokieren.
Herr Abgeord-
neter Scharping, wenn es um Gespräche geht, die in der
Sicherheitszone geführt werden sollen, dann brauchen
wir keine Mandatsänderung. Wenn es um Grenzsiche-
rung geht, dann brauchen wir erst recht keine Man-
datsänderung, denn das gibt das jetzige Mandat schon
her.
Sie müssen dann schon genau erklären, was folgende
Formulierung im Antrag der Bundesregierung heißt:
Darüber hinaus können deutsche Kräfte zur Wahr-
nehmung von Aufgaben, die auf der Grundlage des
Militär-Technischen Abkommens KFOR übertragen
sind, auch in der Boden- und Luftsicherheitszone
eingesetzt werden.
Da bitten wir wirklich um Präzisierung, weil wir Ihnen
eben keinen Blankoscheck mit auf den Weg geben wollen,
weil wir an diesem Punkt kein unkalkulierbares Risiko
eingehen wollen.
Sie müssen Verständnis dafür haben, dass wir sowohl
als Parlamentarier als auch als Opposition unserer Ver-
antwortung gegenüber den Soldaten nachkommen. Nichts
anderes ist hier gemeint. Dieser Verantwortung sollten Sie
auch nachkommen.
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 14/5972 und 14/5964 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulrike Flach, Birgit Homburger, Horst Friedrich
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der F.D.P.
Biologisch abbaubare Werkstoffe
Drucksachen 14/2437, 14/3448
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Umsetzung der EU-Altfahrzeugrichtlinie öko-
logisch sinnvoll und ökonomisch verantwort-
lich gestalten
Drucksache 14/5466
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. Kein Widerspruch?
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die Antwort
auf die Große Anfrage der F.D.P. zu biologisch abbauba-
ren Werkstoffen. In dieser Antwort hat die Bundesregie-
rung bestätigt, dass nachwachsende Rohstoffe aus der
Land- und Forstwirtschaft einen erheblichen Beitrag zum
Klimaschutz leisten können.
Mit der Verwendung von Produkten aus nachwachsen-
den Rohstoffen kann man dem Treibhauseffekt entge-
genwirken, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Am
Ende der Nutzungskette wirkt sich nämlich ein Effekt aus,
den man als CO2-Neutralität bezeichnet. Das bedeutet,
dass insbesondere die pflanzlichen Rohstoffe im Laufe ih-
res Wachstums CO2 aufnehmen, und wenn sie am Ende
ihres Produktlebens verwertet werden, belasten sie die At-
mosphäre nicht mit mehr CO2, als sie vorher während ih-
res Wachstums aufgenommen haben. Die Nutzung sol-
cher Rohstoffe ist also weitgehend CO2-neutral. Im
Unterschied zu konventionellen Materialien wird durch
sie die Klimabelastung nicht erhöht.
Außerdem haben nachwachsende Rohstoffe während
ihrer Nutzungsphase die ökologisch wichtige Eigen-
schaft, etwa im Vergleich mit Stahl besonders leicht zu
sein. Wenn nachwachsende Rohstoffe zum Beispiel im
Fahrzeugbau Verwendung finden, reduzieren sie das Ge-
wicht der Fahrzeuge und damit auch den Kraftstoffver-
brauch. Dies wiederum entlastet das Klima. Biologisch
abbaubare Werkstoffe haben also ein zweifaches Poten-
zial für den Klimaschutz.
In der Antwort auf die Große Anfrage der F.D.P. erwähnt
die Bundesregierung vor diesem Hintergrund Förderpro-
gramme, mit denen die Entwicklung und der Einsatz sol-
cher Werkstoffe unterstützt werden. Diese Programme hat
der damalige Landwirtschaftsminister Funke vorgestellt
und dabei ausdrücklich Bezug auf hochwertige neue Er-
zeugnisse, unter anderem im Bereich der Fahrzeugteile, ge-
nommen. Auch an anderer Stelle hat die Bundesregierung
festgestellt, dass der Einsatz nachwachsender Rohstoffe bei
der Herstellung von Pkw einen Beitrag dazu leisten kann,
möglichst leichte Fahrzeuge herzustellen.
So weit, so gut eine erfreuliche Entwicklung. Die
F.D.P. freut sich, dass die Bundesregierung das so sieht,
und unterstützt, dass das so gefördert wird.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16369
Wenn aber nun die ökologischen Vorteile dieser Mate-
rialien erkannt wurden und wenn deshalb deren Förde-
rung, und zwar mit dem Geld der Steuerzahler, beschlos-
sen wurde, sollte man von einer verantwortlichen und
konsistenten, sprich: einer widerspruchsfreien, Umwelt-
politik eigentlich erwarten, dass nicht an anderer Stelle
Regelungen getroffen werden, die dem, was eigentlich ge-
fördert werden sollte, entgegenwirken.
Aber genau das droht den deutschen Steuerzahlern im
Rahmen der Umsetzung der EU-Altfahrzeugrichtlinie.
Genau das ist auch der Grund, warum wir heute die Ant-
wort auf die Große Anfrage zu biologisch abbaubaren
Werkstoffen und das Thema Altfahrzeugrichtlinie ge-
meinsam behandeln. Die F.D.P. hat mit Blick auf die Alt-
fahrzeuge darauf hingewiesen, dass eine produktbezo-
gene Umweltpolitik, die glaubwürdig und nachhaltig sein
will, alle Phasen des Produktlebenszyklus bedenken
muss. Dem hat sich die Bundesregierung im Übrigen in
ihrer Antwort auf unsere Anfrage angeschlossen.
Wir von der F.D.P. haben ferner darauf hingewiesen,
dass eine Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs und der
Emissionen beim Fahrzeugbetrieb aus ökologischer Per-
spektive nicht durch unsinnige Vorgaben beim Fahrzeug-
recycling konterkariert werden darf. Auch dem hat die
Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Anfrage
ausdrücklich zugestimmt. Wenn es Ihnen also ernst ist,
dann sollte Sie nichts hindern,
dem F.D.P.-Antrag zuzustimmen; genau das, Frau
Ganseforth.
Stattdessen drohen allerdings das möchte ich jetzt
doch etwas erläutern nach dem rot-grünen Entwurf eines
Gesetzes über die Entsorgung von Altfahrzeugen mit
Stand vom 20. April einen neueren habe ich nicht öko-
logisch unsinnige Vorgaben für das Recycling von Alt-
fahrzeugen. In Ihrem Entwurf soll die EU-Altfahrzeug-
richtlinie in dieser Hinsicht stur und wortgetreu umgesetzt
werden. Sie sieht unter anderem vor, dass bis 2015 eine
stoffliche Recyclingquote von 85 Gewichtsprozent erfüllt
werden muss. Die F.D.P. hat in ihrem Antrag schon deut-
lich darauf hingewiesen, dass eine solche Quotenvorgabe
ökologisch kontraproduktiv ist, und zwar deswegen, weil
sie beim Fahrzeugbau den Leichtbau behindert.
Der Grund dafür ist einleuchtend: Je schwerer ein
Fahrzeug ist, je schwerer also die einzelnen Bauteile sind,
desto weniger Bauteile müssen wiederverwertbar sein,
um die geforderten 85 Prozent zu erfüllen. Verwendet
man für die Wiederverwertung Kotflügel aus Stahl, dann
sind 85 Gewichtsprozent schnell erreicht. Werden solche
Bauteile durch leichte Teile, zum Beispiel aus nachwach-
senden Rohstoffen, ersetzt, dann müssen die Hersteller
auf immer kleinere Bauteile zurückgreifen, um die Quote
zu erfüllen. Das wiederum erhöht nachher die Recycling-
kosten.
Da die Nutzung von Leichtbauwerkstoffen aus Sicht
der Fahrzeughersteller durch die Richtlinie in Zukunft
also weniger attraktiv sein wird, entsteht das ist der
zweite und an sich wesentliche Punkt bei den Herstel-
lern der Anreiz, bei der Konstruktion und dem Bau von
Fahrzeugen unnötig schwere Konstruktionsweisen beizu-
behalten oder sogar das ist das, was wir befürchten
Entwicklungen, die in die richtige Richtung gegangen
sind, rückgängig zu machen. Bei der Fahrzeugentwick-
lung würden also vor allem konventionelle, vergleichs-
weise schwere Strukturkonzepte realisiert, was wiederum
den Kraftstoffverbrauch erhöht.
Auch diesen Effekt hat die Bundesregierung auf Anfrage
der F.D.P. ausdrücklich anerkannt und erklärt, sie wolle
dieses Problem bei den weiteren Beratungen berück-
sichtigen. Frau Ganseforth, wenn Sie das nicht akzep-
tieren, ist das Ihr Problem. Ihre Bundesregierung sieht das
genauso wie die F.D.P.
Allerdings das ist genau der Punkt kann in dem Ent-
wurf, der bisher vorliegt, davon keine Rede mehr sein. All
das, was die Bundesregierung anerkannt hat, greift sie in
ihrem Entwurf nicht mehr auf. Nach wie vor enthält der
jüngste Referentenentwurf eines Gesetzes über die Entsor-
gung von Altfahrzeugen diese ökologisch kontraproduktive
Quotenvorgabe. Wenn Sie die Altfahrzeugrichtlinie so um-
setzen, wie das in dem Entwurf vorgesehen ist, dann wäre
dies die erste Quote, von der die Bundesregierung im Vor-
feld selber erkannt hat, dass sie der Umwelt schaden könnte.
Deswegen fordern wir Sie auf: Stimmen Sie dem An-
trag der F.D.P. zu.
Ermöglichen Sie eine Umsetzung der EU-Altfahrzeug-
richtlinie, die ökologisch sinnvoll und ökonomisch ver-
antwortlich ist.
Was die Forderung im F.D.P.-Antrag nach einer öko-
nomisch verantwortlichen Gestaltung der steuerlichen
Folgen der Umsetzung dieser Richtlinie betrifft, zeigt die
Bundesregierung offenbar Einsicht, in diesem Fall sogar
im Gesetzentwurf. Die F.D.P. hatte eine Kleine Anfrage zu
den ökonomischen Auswirkungen und zu Fragen der
Rückstellungen gemacht. Diese werden dem Wähler jetzt
als Pilotprojekt verkauft. Dahinter verbirgt sich nichts an-
deres als ein peinliches Eingeständnis: Sie sind nämlich
gezwungen, das Handelsrecht und das Einkommensteuer-
recht zu ändern.
Anderenfalls hätten Sie nämlich zugeben müssen, dass
Sie auf europäischer Ebene einer Richtlinie zugestimmt
haben, die die deutsche Automobilindustrie in ernst zu
nehmende Schwierigkeiten bringt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Birgit Homburger
16370
Die Zahlen, die noch vor wenigen Wochen vergeblich
von uns erfragt wurden, liegen zwischenzeitlich vor. Bei
den Fahrzeugherstellern und -importeuren verursacht die
Rücknahmepflicht Entsorgungskosten von jährlich rund
800 Millionen DM. Allein in den Jahren 2002 bis 2007
wird dies zu Steuerausfällen von rund einer halben Milli-
arde DM pro Jahr führen.
Nach 2008 werden es pro Jahr immer noch rund 300 Mil-
lionen DM sein. Dies wird ein teurer Spaß für ein Gesetz,
das der Umwelt und dem Klimaschutz einen Bärendienst
erweist.
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Gerald
Thalheim.
Dr
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ziel der Bundesregierung ist es,
Grundsätzen der Nachhaltigkeit in allen Bereichen der
Wirtschaft stärker zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei
können biologisch abbaubare Werkstoffe einen wichtigen
Beitrag leisten.
Insofern ist mit der Antwort auf die Große Anfrage der
F.D.P.-Fraktion die Haltung der Bundesregierung in wich-
tigen Punkten dargestellt worden. Ich möchte sie wie folgt
zusammenfassen:
Biologisch abbaubare Rohstoffe stehen mittlerweile
vor der breiteren Markteinführung. Hier und da ist es
schon geschehen. Wir gehen davon aus, dass wir in nächs-
ter Zeit ein weiteres Stück vorankommen werden.
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz
und für die Entsorgung solcher Stoffe sind gegeben.
Nachwachsende Rohstoffe leisten einen positiven Bei-
trag zum Klimaschutz und zur Ressourcenschonung. Die
Bundesregierung hat umfangreiche Mittel für Forschung
und Entwicklung bezüglich biologisch abbaubarer Werk-
stoffe auf der Basis nachwachsender Rohstoffe bereit-
gestellt. Durch das spezifische Förderprogramm der
Landwirtschaft Zulässigkeit des Anbaus von nachwach-
senden Rohstoffen auf Stilllegungsflächen wird dies
auch auf Dauer gefördert.
Trotz dieser Unterstützung im Entwicklungs- und For-
schungsbereich und der Möglichkeit des Anbaus auf den
Stilllegungsflächen ist natürlich im Grundsatz festzuhal-
ten, dass letztlich den Wirtschaftsbeteiligten die Verant-
wortung zukommt, die biologisch abbaubaren Werkstoffe
stärker in den Markt einzuführen. Mittlerweile gibt es eine
große Palette von Möglichkeiten vom Verpackungs-
material über Einweggeschirr und Folien bis hin zu so zu-
kunftsträchtigen Märkten wie der Medizin-, Bio- und
Umwelttechnik.
Ziel ist es, Verpackungsmaterial zu entwickeln, das den
Vorteil und den Nutzwert herkömmlicher Kunststoffe mit
der Eigenschaft einer schadstofffreien biologischen Ab-
baubarkeit nach dem Gebrauch verbindet. Darüber hinaus
bietet sich aus ökologischen und arbeitsökonomischen
Gründen der Einsatz im Garten- und Landschaftsbau so-
wie in der Landwirtschaft an. Als Produkte kommen hier-
bei zum Beispiel Pflanztöpfe, Mulchfolien oder Binde-
garn infrage.
Für die Landwirtschaft hat das mehrfach Vorteile. Auf
der einen Seite ist dies ein breites praktisches Anwen-
dungsgebiet, auf der anderen Seite sind es vor allen Din-
gen landwirtschaftliche Rohstoffe, die hier als Ausgangs-
material dienen. Das heißt, neben dem ökologischen
Nutzen ist die Möglichkeit der Wertschöpfung und der Si-
cherung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum gegeben.
Neben der Erzeugung von Lebensmitteln werden gleich-
zeitig Rohstoffe für deren Verpackung produziert.
Der unbestreitbare Vorteil der biologisch abbaubaren
Produkte besteht darin, dass sie über die Bioabfallsamm-
lung kompostiert oder in Biogasanlagen vergärt werden
können. Der Stoffkreislauf ist somit geschlossen. Der
nachwachsende Rohstoff wird in den Naturkreislauf
zurückgeführt.
Ein wesentliches Argument für die Entwicklung und
den Einsatz biologisch abbaubarer Werkstoffe ist der
Klima- und Ressourcenschutz. Soweit biologisch ab-
baubare Werkstoffe auf der Basis nachwachsender Roh-
stoffe hergestellt werden, tragen sie durch ihre weitge-
hende CO2-Neutralität dazu bei, dem Treibhauseffekt
entgegenzuwirken und fossile Ressourcen zu schonen.
Im Rahmen der Verpackungsverordnung wird den
positiven Umwelteigenschaften von biologisch abbau-
baren Werkstoffen und daraus hergestellten Verpackun-
gen dadurch Rechnung getragen, dass die Einrichtung ei-
nes Entsorgungssystems für derartige Verpackungen
erleichtert wird. Abweichend von den allgemeinen Vo-
raussetzungen zur Einrichtung dualer Systeme nach der
Verpackungsverordnung kann die zuständige Behörde
hier auf das Erfordernis der flächendeckenden Einrich-
tung eines Systems zum Zeitpunkt der Antragstellung bis
Mitte 2002 verzichten. Damit wird die Möglichkeit eröff-
net, bereits vorhandene Entsorgungsstrukturen der kom-
munalen Bioabfallsammlung zu nutzen. Ab Mitte 2002
hat der Systembetreiber sicherzustellen, dass mindestens
60 Prozent der in das System aufgenommenen Verpa-
ckungen einer Kompostierung zugeführt werden.
Wir wissen, dass die Wirtschaftlichkeit dieser Produkte
häufig noch nicht gegeben ist, was einem breiten Praxis-
einsatz entgegensteht. Zudem kann wegen bestimmter not-
wendiger Produkteigenschaften wie zum Beispiel der Wär-
mebeständigkeit oder der Transparenz von Folien noch
nicht vollständig auf fossile Bestandteile verzichtet werden.
Ziel aus Sicht der Bundesregierung ist es, in Zukunft
Produkte mit einem möglichst hohen Anteil an nach-
wachsenden Rohstoffen oder ausschließlich aus nach-
wachsenden Rohstoffen zu entwickeln. Daran ist weiter
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Birgit Homburger
16371
zu arbeiten. Das Bundesministerium für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft hat in diesem Be-
reich bisher rund 37 Millionen DM an Fördermitteln für
Forschung und Entwicklung ausgegeben.
Aufgrund der Probleme der Erfassung unterstützen wir
einen groß angelegten Demonstrationsversuch zur Ein-
führung biologisch abbaubarer Verpackungen in Kassel.
Dafür werden allein 2,2 Millionen DM an Bundesmitteln
zur Verfügung gestellt. Die beteiligten Wirtschaftsunter-
nehmen aus Handel, Verpackungsindustrie, chemischer
Industrie und Entsorgungswirtschaft erbringen einen
gleich großen Beitrag.
Hauptziel des Versuches ist es, den Verbraucherinnen
und Verbrauchern zu vermitteln, was es mit dem neuen
Verpackungsmaterial auf sich hat und wie es umweltver-
träglich über die Biotonne mit, wenn man so will, an-
schließender Kompostierung entsorgt werden kann. Wei-
terhin sollen mit diesem groß angelegten Versuch
Befürchtungen, die Verbraucher seien nicht in der Lage,
biologisch abbaubare Verpackungen von herkömmlichen
Kunststoffverpackungen zu unterscheiden, widerlegt
werden. Insofern liegt ein Schwerpunkt der wissenschaft-
lichen Begleitforschung des Versuches darin, das Sortier-
verhalten und mögliche Fehlwürfe herkömmlicher Kunst-
stoffe in die Biotonne näher zu untersuchen.
Hierzu wird dem Verbraucher seit April 2001 über etwa
zehn Monate erstmals gezielt die Möglichkeit gegeben,
mit biologisch abbaubaren Werkstoffen verpackte Pro-
dukte über den Einzelhandel zu erwerben. Neben Trage-
taschen, die anschließend als Bioabfallbeutel verwendet
werden können, sollen zum Beispiel Molkereibecher,
Fleischschalen, Obst- und Gemüseverpackungen sowie
Einweggeschirr aus biologisch abbaubaren Werkstoffen
angeboten werden.
Ich denke, mit diesem Versuch wird es uns gelingen,
für die Produkte zu werben und am Ende bei den Wirt-
schaftsbeteiligten die Bereitschaft zu wecken, sich stärker
zu engagieren. Letztlich kann es nicht allein Aufgabe
staatlicher Förderung sein, hier stärker in die Breite zu
kommen. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem
die Wirtschaft gefordert ist. Der Beitrag aus der landwirt-
schaftlichen Förderung ich habe das eingangs auch ge-
sagt , das heißt, der Anbau nachwachsender Rohstoffe
auf den Stilllegungsflächen, wird in Zukunft erbracht
werden.
Man kann also das Fazit ziehen: Biologisch abbaubare
Werkstoffe sind eine Möglichkeit, weg vom Öl und damit
vom Verbrauch endlicher Ressourcen zu kommen. Damit
wird ein wichtiger Beitrag für die Nachhaltigkeit geleistet.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
der nachwachsenden Rohstoffe ist nicht ganz neu. Der
Begriff der biologisch abbaubaren Werkstoffe ich würde
sie eher Wertstoffe nennen, denn eigentlich sind ihre Her-
stellung und ihr Einsatz ein Wert an sich ist ebenfalls seit
Jahren in der Diskussion. Was die landwirtschaftliche
Seite angeht darüber will ich sprechen , haben wir in
der Europäischen Union und bei uns in Deutschland eine
besondere Situation: Wir brauchen unsere Flächen nicht
mehr insgesamt für den Anbau landwirtschaftlicher
Produkte, und die Nachfrage ist in weiten Bereichen nied-
riger als die Produktion; insofern haben wir einen
Flächenüberhang.
Herr Staatssekretär Thalheim sprach eben bereits über
die Flächenstilllegungen, die in Deutschland zurzeit eine
Fläche von etwa 1,2 Millionen Hektar und in der Europä-
ischen Union von etwa 7 Millionen Hektar betreffen.
Diese Situation wird sich nach der Erweiterung der Euro-
päischen Union nach Osten hin zusätzlich verschärfen.
Nach der Osterweiterung werden wir unsere land-
wirtschaftliche Fläche in etwa verdoppelt haben, aber wir
werden nur etwa die Hälfte an Einwohnerzahl hinzube-
kommen haben. Wir werden daher noch relativ mehr
Agrarflächen haben, und das wird voraussichtlich dazu
führen, dass insgesamt etwa 12 Millionen Hektar in die
Stilllegungsprogramme einbezogen werden müssen. Das
heißt, aus der rein agrarpolitischen Sicht haben die nach-
wachsenden Rohstoffe ein ganz gewaltiges Entwick-
lungspotenzial.
Es stimmt aber auch das wissen wir alle , dass mo-
derne Industriegesellschaften ohne Kunststoffe nicht
denkbar wären. Die Nachfrage nach Kunststoffen ist er-
heblich. Nach Angaben von Fachleuten werden in
Deutschland pro Jahr etwa 1,5 Millionen Tonnen Ver-
packungsmaterialien aus Kunststoff hergestellt. Aber für
die Kunststofferzeugung benötigt man fossile Stoffe. Wir
nehmen bei der Herstellung von Kunststoffen die fossilen
Speicher unserer Erde Jahr für Jahr immer stärker in An-
spruch. Es heißt, dass wir zurzeit etwa 500 000 Jahre Spei-
cherleistung unserer Erde pro Jahr bei der Produktherstel-
lung verbrauchen. Es macht also Sinn, in Zukunft
sparsamer mit dem fossilen Speicher unserer Erde umzu-
gehen. Auch nach den Maßstäben der Kreislaufwirtschaft
machen Produkte aus biologisch abbaubaren Werkstoffen
Sinn. So ist es eigentlich selbstverständlich, dass das
BML eine größere Zahl an Förderprogrammen in diesem
Bereich aufgelegt hat, und zwar nicht erst seit sich diese
Bundesregierung für das Thema interessiert, Herr
Thalheim, sondern schon seit Anfang der 90er-Jahre.
Produkte aus biologisch abbaubaren Stoffen sind auch in
der Verwertung wesentlich einfacher zu handhaben. Es gibt
ja bereits den Begriff der kompostierbaren Verpackung.
Aber wir orientieren uns das ist jedenfalls meine Auffas-
sung im Moment viel zu sehr an diesen Produkten und
diskutieren viel zu sehr über die Frage der Verwertung die-
ser Produkte und viel zu wenig darüber, wie diese Produkte
überhaupt auf den Markt gebracht werden können. Ich
glaube, wenn wir schon jetzt festschreiben, dass ab 1. Juli
2002 eine Verwertungsquote von 60 Prozent garantiert sein
muss, dann behindern wir eher die Einführung solcher Pro-
dukte in diesem frühen Stadium.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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Ich meine, wir sollten stärker auf freiwillige Nutzung
sowie auf die Entsorgung über das bereits vorhandene
Biotonnensystem und auf Eigenkompostierung setzen.
Wir sollten die Sonderregelungen gegebenenfalls ausdeh-
nen und darüber nachdenken, inwieweit sich auch Ver-
packungen in die Biogasverwertung und in die Rege-
lungen des EEG einbeziehen lassen. Eine etwas
moderatere Förderung der biologisch abbaubaren Stoffe
auf diese Weise wäre für deren Markteinführung we-
sentlich hilfreicher. Wir sollten uns nicht schon jetzt weit-
gehende Gedanken über Details des späteren Sortierver-
haltens der Verbraucher machen, auch wenn Versuche in
dieser Richtung einen Sinn haben mögen.
Im Moment gibt es das Problem, dass Produkte aus
Stärke, Öl, Getreidestärke und Zucker aus Zeitgründen
kann ich nur ein paar nennen unter ökonomischen Ge-
sichtspunkten noch nicht wettbewerbsfähig sind. Die
Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große An-
frage der F.D.P.-Fraktion deutlich gesagt, für sie gelte
auch bei den biologisch abbaubaren Stoffen der Grund-
satz der Wirtschaftlichkeit. Nur, der break even point,
also der Punkt der Wirtschaftlichkeit, ist noch nicht er-
reicht. Die Herstellung von Produkten aus biologisch ab-
baubaren Rohstoffen ist in der Regel noch vier- bis sechs-
mal so teuer wie die konventionelle Herstellung.
Deswegen müssen wir gerade an dieser Stelle ansetzen
und dafür sorgen, dass die Wirtschaftlichkeit der Pro-
dukte aus biologisch abbaubaren Rohstoffen verbessert
wird.
Ich möchte einige Vorschläge machen, deren Umset-
zung nach meiner Meinung mit Nachdruck verfolgt wer-
den sollte. Ich habe im letzten und auch in diesem Jahr ei-
nige unserer Biokompetenzzentren besucht und habe
festgestellt, dass man dort in Forschung und Entwicklung
deutlich vorangekommen ist, weil man die modernen und
an der Nachhaltigkeit orientierten Möglichkeiten der gen-
technischen Verbesserung von Pflanzen genutzt hat.
Im Kompetenzzentrum in Norddeutschland sind Kar-
toffeln entwickelt worden, die beide Bestandteile der
Stärke, nämlich Amylose und Amylopektin, zu jeweils
100 Prozent enthalten. Das heißt, dass wir zukünftig even-
tuell keine hoch energetischen, sehr umständlichen und
kostentreibenden Verfahren mehr brauchen, um diese bei-
den Bestandteile der Stärke voneinander zu trennen; viel-
mehr können wir bereits in der Pflanze selbst einen der
beiden Bestandteile von Stärke sortenrein erzeugen. Wir
könnten also durch den Einsatz dieser Technologie die
ökonomische Erzeugung wesentlich verbessern. Wir
könnten die Kosten senken und würden damit einen
Sprung nach vorne machen, was die Verwendung nach-
wachsender Rohstoffe angeht.
Dasselbe gilt für den Bereich der Öle. Wir haben heute
die Möglichkeit, beispielsweise bei der Verarbeitung von
Raps oder von Sonnenblumen, die Öle so zuzuschneiden,
dass sie anschließend technologisch hervorragend ver-
wertbar sind, die Ökonomie verbessern können und den
Einsatz abbaubarer Produkte wesentlich erleichtern.
Vor wenigen Tagen habe ich mir vor Ort, im Biotech-
nologiezentrum Gatersleben in Sachsen-Anhalt, ansehen
können, dass es gelungen ist, die so genannte Spinnen-
seide es handelt sich um die Fäden, die Spinnen produ-
zieren in Tabakpflanzen zu erzeugen. Diese Fäden kann
man aus der Tabakpflanze extrahieren.
Man kann sie in der Medizin, in der Faserproduktion ein-
setzen. Das ist eine hervorragende Grundlage, biologi-
sche Werkstoffe ökonomisch verwertbar zu machen.
Es gibt in diesem ganzen Bereich zahlreiche Möglich-
keiten. Ich fordere Sie und die Bundesregierung auf, ideo-
logische Barrieren gegenüber gentechnischen Verbesse-
rungen zu beseitigen, diese Möglichkeiten aufzugreifen
und damit den künftigen Einsatz biologisch abbaubarer
Produkte zu verbessern.
Vielen Dank.
Jetzt hat die Ab-
geordnete Michaele Hustedt das Wort.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jährlich
müssen in der EU 10 Millionen Autos entsorgt werden.
Das macht ungefähr 10 Prozent des Sondermülls auf De-
ponien aus und dadurch werden Boden und Grundwasser
oft genug verseucht. In Deutschland wird das ist sehr be-
dauerlich lediglich ein Drittel der Autos, das heißt un-
gefähr 1 Million Autos, sicher entsorgt.
Was dieses Problem angeht, ist wir begrüßen das außer-
ordentlich Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Das Eu-
ropäische Parlament hat am 18. September 2000 die Richt-
linie zur Altautoentsorgung gebilligt. Sie muss innerhalb
von 18 Monaten in nationales Recht umgesetzt werden.
Ähnlich wie auf dem Gebiet der Verpackungen ist damit,
was das Recycling von Autos angeht, die Verantwortung
der Produzenten rechtlich verankert. Das ist sehr gut.
Der Geltungsbereich dieser EU-Richtlinie erstreckt
sich sowohl auf PKWs als auch auf leichte Nutzfahr-
zeuge. Es besteht die Forderung nach dem Aufbau einer
flächendeckenden Infrastruktur für die Rücknahme von
Altautos. Die Hersteller müssen danach sämtliche Ent-
sorgungskosten tragen: Sie müssen die nach dem
1. Juli 2002 zugelassenen Autos zurücknehmen. Ab dem
Jahre 2007 müssen sie darüber hinaus Altautos voll bzw.
zu wesentlichen Teilen zurücknehmen. Dabei sind mindes-
tens 85 Prozent des Gewichts dieser Autos stofflich wie-
der zu verwerten. In der Frage, wie wir mit dem großen
Müllberg, den unsere alten, nicht mehr gebrauchten Autos
ausmachen, umgehen, ist das ein großer Fortschritt.
Jetzt kommt es darauf an, diese EU-Richtlinie in deut-
sches Recht umzusetzen. Diesbezüglich wird zurzeit über
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Helmut Heiderich
16373
einen Gesetzentwurf diskutiert. Frau Homburger, Ihre
These lautet, dass eine hohe Recyclingquote die Anwen-
dung der Leichtbauweise behindert. Man sollte überprü-
fen, ob diese These stimmt. Ich weiß, dass es gerade über
diese Frage schon bei der Erstellung der EU-Richtlinie,
aber auch beim deutschen Gesetzgebungsverfahren diver-
se Gespräche mit den Herstellern gegeben hat und dass es
keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass diese These stimmt.
Von daher ist Ihre Ausgangsthese falsch und deshalb ist
auch Ihre Forderung falsch.
Wir werden über den entsprechenden deutschen Ge-
setzentwurf in absehbarer Zeit hier im Parlament disku-
tieren. Nach In-Kraft-Treten des Gesetzes wird es zu ei-
nem durchschnittlichen Preisaufschlag von 200 DM pro
Neufahrzeug kommen. Es ist aus meiner Sicht aber zu ak-
zeptieren, wenn zum Beispiel ein neuer Golf statt jetzt
40 000 DM dann 40 200 DM kostet. Schließlich regt die
Kreislaufwirtschaft auch Innovationen an und bringt uns
damit tatsächlich weiter.
Frau Kolle-
gin Hustedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Homburger?
Gerne.
Frau Kollegin Hustedt,
Sie haben gerade ausgeführt, dass unser Argument, dass
dadurch die Leichtbauweise behindert wird, nicht stimmt.
Ich möchte gerne wissen, wie Sie zu dieser Auffassung
kommen und wie Sie die Auffassung der Bundesregierung
bewerten, die da lautet:
Die Bundesregierung ist nach wie vor der Auffas-
sung, dass insbesondere die bis zum Jahr 2015 zu er-
reichende Recyclingquote in Höhe von 85 Prozent
die Weiterentwicklung der Leichtbauweise behin-
dern kann.
Das ist ein Zitat aus der Antwort der Bundesregierung auf
die Kleine Anfrage der F.D.P.-Fraktion. Sie sagen aber ge-
nau das Gegenteil. Ich möchte gerne wissen, wie Sie das
begründen.
Wie gesagt, es gibt bisher keinerlei Anzeichen dafür. Ich
habe, bevor wir uns hier getroffen haben, mit dem Recyc-
lingverband zusammengesessen und ihm unter anderem
auch diese Frage gestellt. Auch der Recyclingverband hat
die These, die Sie aufgestellt haben, nicht bestätigen kön-
nen.
Frau Homburger, ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn
wir den Gesetzentwurf im Bundestag beraten, werden wir
das in aller Ruhe überprüfen. Da es um ein wichtiges Vor-
haben geht, können wir auch gerne eine Anhörung ma-
chen. Wir werden Fachleute anhören und diese These
überprüfen; das kann ich Ihnen versprechen. Wenn sich
Ihre These bestätigt, muss man schauen, wie man damit
umgeht. Ich habe aber dafür bisher keine Anhaltspunkte.
In der Tat muss es zu Rückstellungen kommen, da die
Autohersteller die Entsorgung finanzieren müssen. Ihre
Forderung aber, mit diesen Rückstellungen wesentlich
früher zu beginnen, müssen wir ablehnen, weil wir glau-
ben, dass es ausreicht, wenn damit begonnen wird, sobald
wir die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt haben.
Rückstellungen bedeuten ja immer auch einen Verzicht
auf Steuereinnahmen; für die Rückstellungen von 2002
bis 2007 würde dies 500 Millionen DM pro Jahr ausma-
chen. Unsere Recherche hat ergeben, dass ausreichende
Rückstellungen gebildet werden können, wenn damit im
Jahr 2002, also in dem Jahr, in dem wir das Gesetz verab-
schieden werden, begonnen wird. Von daher ist Ihre
Forderung im zweiten Teil Ihres Antrags ebenso abzuleh-
nen. Ich freue mich in diesem Bereich auf eine spannende
Debatte.
Ich komme nun zum zweiten Punkt. In der Tat stellen
nachwachsende Rohstoffe für die Landwirtschaft eine
große Chance dar. Weil wir zu viel Nahrungsmittel pro-
duzieren, zahlen wir ja sogar Prämien für die Stilllegung
von Flächen. Natürlich ist es besser, auf die Stilllegung
dieser Flächen zu verzichten und zum Beispiel Nutz-
pflanzen anzubauen. Hier entsteht für die Landwirte eine
neue Aufgabe.
Ich glaube, die Landwirtschaft befindet sich in einem
großen Umbruch. Bisher ist der Landwirt Nahrungsmit-
telproduzent. Jetzt kommen neue Aufgaben auf ihn zu: Er
kann Rohstoffproduzent werden. Das betrifft die ange-
sprochenen biologischen Verpackungen und kunststoff-
ähnlichen Materialien sowie solche Schmierstoffe, die
Schmierstoffe auf Mineralölbasis ersetzen können. Be-
reits jetzt werden aus Raps 40 000 Tonnen Öl hergestellt.
Das wird sich weiter ausweiten, sodass der Landwirt der
Energiewirt von morgen wird.
Ich möchte im Folgenden die neuen Felder nennen: Die
Herstellung von Biodiesel hat dafür gesorgt, dass es 800
neue Tankstellen in diesem Bereich gibt. Zu erwähnen ist
weiterhin die Herstellung von Ethanol, das als Zusatz
Benzin ergänzen kann. Nicht vergessen darf man die Pro-
duktion von Biogas, aus dem Energie in Form von Strom
und Wärme erzeugt werden kann.
Es wird eine sehr spannende Diskussion darüber ge-
ben, wie man die stillgelegten Flächen für Energie- und
Rohstoffgewinnung nutzen kann. Ich prophezeie, dass wir
irgendwann an den Punkt kommen werden, an dem die
umgekehrte Situation, also zu wenig nutzbare Fläche, ein-
tritt; denn eine zunehmend ökologisch ausgerichtete Land-
wirtschaft, so wie wir sie vertreten, braucht mehr Fläche.
Es wird zum Beispiel mehr Fläche pro Rind benötigt,
wenn dieses Rind nicht mit Tiermehl, sondern mit Ge-
treide, Gras und Heu gefüttert wird. Da auf diese Weise
die Landwirtschaft mehr Fläche braucht, wird irgend-
wann der Zeitpunkt kommen, an dem es Konkurrenz bei
der Nachfrage nach Fläche gibt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Michaele Hustedt
16374
Ich lehne die Rohstoffproduktion der Landwirte nicht
ab. Ich halte dies für eine hervorragende Entwicklung und
freue mich sehr darüber, dass diese Entwicklung vom
ganzen Hause unterstützt wird. Die Bundesregierung hat
in diesem Bereich das wurde schon sehr ausführlich dar-
gestellt einige Förderprogramme auf den Weg gebracht.
Ich glaube, dass der Landwirt, der in Zukunft auch Roh-
stoff- und Energiewirt sein wird, damit eine gute Chance
hat, die sehr schwierige Situation, die sich aus der BSE-
und MKS-Krise ergeben hat, zu überwinden.
Ich danke.
Ich gebe das
Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion
der PDS.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es war schon eine sehr pein-
liche Vorstellung, die die Bundesregierung beim Aufwei-
chen der EU-Altautoverordnung damals gegeben hat.
Herr Piech hat sich sehr darüber gefreut.
Gerade erst hat sich unser Bundeskanzler, Auto-
Schröder, auch als Chemie-Kanzler geoutet und bei dieser
Gelegenheit mit der damaligen peinlichen deutschen
Blockade bei der Altfahrzeugrichtlinie geprahlt.
Doch. Am 27. April hat er vor der Industrie verkündet,
die Umsetzung des Chemikalien-Weißbuches der EU-
Kommission würde zur Vertreibung der Chemieindustrie
aus Europa führen. Die Financial Times schreibt dazu:
Der Kanzler verglich das Weißbuch mit der
Altautoverordnung, die Deutschland in letzter Mi-
nute angehalten und im Sinne der deutschen Indus-
trie entschärft hatte.
Beim Weißbuch geht es im Kern darum, dass die Be-
weislast für die Ungefährlichkeit eines Stoffes künftig bei
den Unternehmen liegen soll. Die Altautoverordnung hat
das Ziel, die Entsorgung der Fahrzeuge im Sinne der
Kreislaufwirtschaft und des Verursacherprinzips zu re-
geln. Beides ist Teufelszeug für Rot-Grün, sofern es die
Interessen der Konzerne berührt. Zum Glück stand da-
mals Jürgen Trittin als Überbringer der schlechten Nach-
richt allein in Brüssel. Die Altautorichtlinie wurde zwar
an-, aber nicht völlig aufgeweicht.
Nunmehr versucht die F.D.P., sich noch ein bisschen
für die Autoindustrie zu engagieren.
Der Kanzler muss ja nicht alles machen. Kernpunkt des
Antrages ist die steuerliche Anerkennung von Rück-
stellungen, Rückstellungen, die von den Unternehmen
gegenwärtig gebildet werden, um die Entsorgung von Alt-
fahrzeugen ab Anfang nächsten Jahres zu finanzieren.
Das Finanzministerium sagt aber Njet und die Indus-
trie vergießt Krokodilstränen. Dabei sollte sie eigentlich
froh sein: In kaum einem anderen Land werden die Rück-
stellungen steuerlich so großzügig behandelt wie in
Deutschland. Hierzulande können nämlich die Entsor-
gungsrückstellungen für Autos allerdings nicht schon
jetzt, sondern erst ab dem nächsten Jahr, also nach In-
Kraft-Treten der EU-Richtlinie steuerlich geltend ge-
macht werden.
Wenn ich richtig informiert bin, wird der Gesetzent-
wurf wohl nächsten Monat eingebracht. Somit bezahlt
dann die Allgemeinheit über Steuerstundungen einen Teil
der Autoschrottberge. Selbst in den ultrakonservativen
USA wäre so etwas nicht möglich. Finanzierungsvorteile
durch Steuerstundungen gibt es dort nämlich fast nir-
gends. Im Übrigen werden die Steuerstundungen durch
die laufenden Steuersenkungen dieser Regierung teil-
weise zu endgültigen Steuerausfällen.
Schon jetzt vermeldet beispielsweise Audi für das Jahr
2000 eine Verbesserung des Gewinns nach Steuern um
35,5 Prozent. VW erwartet für dieses Jahr gar eine Stei-
gerung des Reingewinns um 100 Prozent. Das ist überall
nachzulesen. Wir können jetzt also die Taschentücher aus-
packen und weinen.
Die F.D.P. hat große Sorge um die ökologische Wirk-
samkeit der Altautorichtlinie. 85 Prozent der Gewichts-
masse eines Autos sollen künftig stofflich recycelt wer-
den. Daraus schließt die F.D.P.: Wenn die Obergrenze von
15 Prozent der Gewichtsmasse eines Autos, die energe-
tisch verwertet oder als Abfall beseitigt werden dürfen, als
starre Größe festgeschrieben wird, so würde sich der An-
reiz, leichtere Autos zu bauen, verringern. Das würde wie-
derum den Spritverbrauch in die Höhe treiben.
Ich denke, die Autoindustrie ist sehr innovativ. Sie be-
findet sich zwar in einem Konflikt, aber es ist vieles mög-
lich. Ich sage nur: Vorsprung durch Technik! Im Übrigen
ist das Recycling natürlich auch eine Jobmaschine. Hier
gibt es gute neue Jobs und vor allem auch Ausbildungs-
stellen. Ich meine also, dass der Autoindustrie dazu etwas
einfallen wird. Das wird weniger ein Problem sein.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Ulrich Kelber für die Fraktion der
SPD.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Die Einführung von EU-weit gültigen
Produktverordnungen ist ein wichtiger Baustein für eine
integrierte Umweltpolitik. Deswegen ist es gut, wenn wir
mit der Umsetzung der Altfahrzeugrichtlinie in nationales
Recht eine solche Produktverordnung einführen. Dies
bringt sehr viele Vorteile in den verschiedenen Bereichen
mit sich.
Sie ist gut für die Umwelt, weil wir Standards EU-weit
etablieren und nicht nur in einem Nationalstaat, weil wir
eine umweltgerechte Produktion und umweltgerechte
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Michaele Hustedt
16375
Produkte erreichen und weil wir über die großen Import-
zahlen der Produkte das, was wir an neuen, besseren Um-
weltstandards setzen, auch über die EU hinaus tragen.
Sie ist auch gut für die Wirtschaft und für Jobs, weil
es eine langfristige Verlässlichkeit gibt man muss sich
nur die Übergangsraten und Zielgrößen anschauen , weil
es eine Entbürokratisierung gegenüber teilweise heute
vorhandenen Regelungen gibt und weil Innovationen und
das ganze Verarbeitungs- und Verwertungsgewerbe geför-
dert werden.
Wir können doch heute die Diskussion nicht führen,
ohne klar zu sagen, dass es vor ein paar Tagen positive
Signale gegeben hat, dass man sich von Regierungsseite
mit den Herstellern der Fahrzeuge geeinigt hat, wie das
gemacht wird. Das heißt, vonseiten der Industrie wird das
sehr viel positiver gesehen, als es zum Beispiel Frau
Homburger hier vorgetragen hat.
Die Produktverordnung ist auch gut für den Staat, weil
die finanzielle Belastung für den Bund vergleichsweise
gering ist, weil eine Entlastung der Länder durch Ent-
bürokratisierung erfolgt und es auch eine Entlastung auf
der Ebene der Kommunen gibt. Man kann sich ja einmal
einen kommunalen Haushalt anschauen, zumindest den
Gebührenhaushalt einer Kommune, und nachsehen, wie
viele Kosten für die Entsorgung wild abgestellter Altfahr-
zeuge anfallen. Dies wird in Zukunft wegfallen.
Die Umsetzung der Altfahrzeugrichtlinie ist gut für den
Verbraucher, weil es ein einfaches Verfahren ist, er als
Letzthalter sein Fahrzeug kostenlos zurückgeben kann
und weil die Kosten beim Kauf durch den Wettbewerb
sowohl bei der Herstellung des Produktes als auch bei der
Entsorgung gering sind. Von daher ist der Weg, dass jeder
Hersteller selbst danach trachten muss, seine Kosten zu
senken und sein Produkt besonders gut zu machen, der
richtige.
Angesichts all dieser Vorteile ist der grundsätzlich kri-
tische Antrag der F.D.P. zu dieser Produktverordnung völ-
lig unverständlich. In den letzten Debatten hat die F.D.P.
kritisiert, wir würden die EU-Vorgaben nicht im Verhält-
nis 1 : 1 umsetzen. Jetzt tun wir dies und wieder sind Sie
dagegen. So kann man sich natürlich leicht zum umwelt-
politischen Außenseiter machen.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Homburger?
Aber natürlich.
Herr Kollege, es geht um
einen speziellen Aspekt in der Umsetzung, den wir hier
schon diskutiert haben, nämlich um die Frage, wie sich
die Vorschrift, dass 85 Prozent des Autogewichts stofflich
wieder zu verwerten sind, auswirken wird. Hierbei gibt es
einen umweltpolitischen Zielkonflikt zwischen CO2-
Minderung und Recyclingquote. Diese beiden Ziele muss
man gegeneinander abwägen. Wenn Sie uns vorwerfen,
dass wir gegen eine 1:1-Umsetzung sind, dann stellt sich
für mich die Frage, warum die Bundesregierung in der
Antwort auf die Kleine Anfrage der F.D.P.-Fraktion ge-
sagt hat, sie werde das überprüfen.
Was steht denn in Art. 7 der Richtlinie? Sie werden es
nicht wissen, deswegen sage ich es Ihnen: Dort steht, dass
genau diese Regelung bis 31. Dezember 2005 noch ein-
mal überprüft werden soll. Warum hat man das wohl dort
hineingeschrieben? Man hat es genau aus den Befürch-
tungen heraus getan, die die F.D.P. hat. Könnten Sie das
Problem des ökologischen Zielkonflikts an dieser Stelle
vielleicht endlich einmal zur Kenntnis nehmen und diese
Problematik nicht immer leugnen bzw. schönreden?
Sie regen sich über etwas auf,
was in nationales Recht umgesetzt werden soll, und är-
gern sich darüber.
Sie machen nicht nur in dieser Debatte, sondern in vielen
umweltpolitischen Debatten einen ganz grundsätzlichen
Fehler: Ihnen fehlt die Gesamtübersicht über ein Thema.
Sie nehmen einen kleinen Bereich heraus und diskutieren
ihn für sich und nicht im Rahmen der vorhandenen Alter-
nativen.
Frau Homburger, um Ihre Frage weiter zu beantworten:
Die europäische Industrie hat sich selbst verpflichtet, bis
2008 den Spritverbrauch um 25 Prozent zu senken. Die
Leichtbauweise ist nur eine Methode, dieses Ziel zu er-
reichen. Warum haben Sie eigentlich so wenig Vertrauen
in die Innovationskraft deutscher Unternehmen und deut-
scher Ingenieure und zweifeln daran, dass sie mit recy-
celbaren Produkten die Leichtbauweise und andere Dinge
realisieren können? Ich habe etwas mehr Vertrauen in un-
sere Industrie als Sie.
Einer der beiden Schwerpunke innerhalb der Altfahr-
zeugrichtlinie ist die Rücknahmepflicht auf Kosten der
Hersteller. Die dafür notwendigen Rückstellungen wer-
den ab dem Jahre 2002 vorhanden sein. Die Steuerausfälle
dafür sind verkraftbar und werden an anderer Stelle teil-
kompensiert, darüber hinaus nehmen diese ab 2007 ab.
Aufgrund des Wettbewerbs wird es im Vergleich zu ande-
ren Lösungen am Ende zu weniger als 200 DM Mehrkos-
ten für den Käufer kommen. Es wird aber in der Tat einen
Punkt geben, auf den die Politik noch achten muss, näm-
lich den, dass dieser Wettbewerb auch kleinen und mittle-
ren Unternehmen Chancen lässt und es keinen direkten
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ulrich Kelber
16376
Zugriff der wenigen großen Hersteller, Ver- und Endver-
werter gibt.
Viel wichtiger ist aber die Verankerung der Produkt-
verantwortung. Dies stellt eine Erweiterung bereits ge-
setzlich oder auch freiwillig erreichter Standards in
Deutschland im Bereich der Altautoverordnung dar. Für
deutsche Unternehmen ist es natürlich auch gut es hat
mich gewundert, dass dies zum Beispiel von Ihrer Seite
überhaupt nicht erwähnt wurde , wenn diese Standards
EU-weit gelten, das heißt, sogar in Portugal.
Über Importfahrzeuge werden sich diese Standards auch
weltweit durchsetzen. Auch Unternehmen, die sich bis-
lang weit unterhalb dieser Standards bewegen, müssen
sich diesen Standards anpassen.
Recycling- und Verwertungsquoten, Kennzeichnungs-
normen, nach denen ersichtlich sein muss, was in dem
entsprechenden Fahrzeug eingebaut ist, Demontage-In-
fos und Stoffverbote sind sinnvolle Maßnahmen, da lang-
lebige Produkte gefordert werden. Es kommt Ihnen
wahrscheinlich nicht in den Sinn, dass es Teilprodukte
geben könnte, die über eine Autogeneration hinaus im
nächsten Auto verwendet und somit der Recyclingquote
zugerechnet werden können. Dadurch werden die Ver-
wendung von recyclebaren Stoffen und der Recycling-
markt gefördert. Gerade die Stoffverbote führen zu einer
wesentlichen Reduzierung von Schwermetallen wie Cad-
mium, Quecksilber, Blei und Chrom. Ich bin der Mei-
nung, dass dies ein sehr wichtiger Bestandteil dieser Pro-
duktverordnung ist.
Ich denke, dass die Einschätzung der F.D.P. bezüglich
dieser Richtlinie grundsätzlich falsch ist. Sie haben noch
nicht einmal die Unterstützung der betroffenen Industrie,
also weder der Hersteller noch der Verwerter noch des
Handels. Wer unterstützt denn Ihre Position überhaupt?
Keine der betroffenen Industrien.
Es ist relativ leicht, nachzuweisen, dass diese Altfahrzeug-
richtlinie nicht nur ökologisch sinnvoll ist, sondern dass
sie auch für den Standort Deutschland wirtschaftlich in-
teressant ist. Deswegen freuen wir uns über die Umset-
zung in nationales Recht, die aus unserer Sicht noch im
Jahre 2001 erfolgen sollte.
Wir denken, man muss diese Produktverantwortung
als eine Einheit sehen. Das ist ein neuer Schritt in der
Umweltpolitik, denn die Verantwortung wird neu gere-
gelt und die Langfristigkeit von Umweltpolitik erhöht.
Deswegen ist diese Umsetzung in nationales Recht sinn-
voll.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu
einer Kurzintervention erhält die Kollegin Birgit
Homburger.
Herr Kollege Kelber, ich
möchte an dieser Stelle nur zwei Bemerkungen machen.
Sie sagen hier, unsere Einschätzung der Richtlinie sei
völlig falsch. Das ist Ihre Interpretation; die steht Ihnen
selbstverständlich zu. Ihnen steht selbstverständlich auch
zu, in jeder abfallpolitischen Debatte zu sagen, dass nur
Sie den Überblick haben und alle anderen zu blöd dazu
sind.
Ich nehme das zur Kenntnis; das ist für mich kein Problem.
Aber ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir freuen uns, dass es
diese europäische Richtlinie und diese Regelung auf euro-
päischer Ebene endlich gibt. Zu dem Zeitpunkt, da eine
solche Regelung nicht durchsetzbar war, haben wir natio-
nal gehandelt. Um es noch einmal klarzustellen: Ich finde
es richtig, dass jetzt eine europäische Regelung kommt.
Was die Unterstützung der F.D.P. angeht, bin ich ganz
unbesorgt; das kann ich Ihnen sagen. Denn ich muss mit
großer Freude feststellen, dass sich die Bundesregierung
genötigt sah, in dem jetzt vorliegenden Entwurf auf alle
von uns zeitig vorgetragenen Punkte bis auf den einen
Punkt, den ich vorhin angesprochen habe zu reagieren,
insbesondere was die Rückstellungen angeht. Das ist ein
eindeutiger Erfolg der F.D.P. Diejenigen, die davon be-
troffen sind, werden wissen, wer das zuwege gebracht hat.
Dann gebe
ich jetzt als letztem Redner Herrn Kollegen Dr. Paul Laufs
für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Damit es von vornherein klar ist: Die
Union macht sich das Anliegen des F.D.P.-Antrags aus-
drücklich zu Eigen.
Die umweltverträgliche Entsorgung von Altautos ist eine
gewaltige und dringliche Aufgabe. Wir müssen ein halbes
Jahr nach In-Kraft-Treten dieser Richtlinie von der Bun-
desregierung einfordern, dass notwendige Entscheidun-
gen im Interesse der Umwelt, des Verbrauchers und der
Wirtschaft unverzüglich getroffen werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ulrich Kelber
16377
Seit 1997 besteht in Deutschland ein Entsorgungs-
konzept aus Ordnungsrecht und kooperativen Lösun-
gen, nämlich der Altautoverordnung und der freiwilligen
Selbstverpflichtung der Wirtschaft zur umweltgerechten
Altautoverwertung im Rahmen des Kreislaufwirtschafts-
gesetzes. Es ist ein Konzept, das sehr geeignet ist, die öko-
logischen Probleme nachhaltig und kostengünstig zu lö-
sen und kreislaufwirtschaftliche Impulse für einen
integrierten Umweltschutz zu geben. Es wird nun durch
die europäischen Regelungen überlagert, wobei sich die
Automobilindustrie von ihren Selbstverpflichtungen
nicht verabschieden wird.
Grundsätzlich da stimme ich Ihnen zu, Herr Kelber
ist zu begrüßen, dass die Altfahrzeuge nach gemein-
schaftsweit einheitlichem Recht entsorgt werden; aber wir
deutschen Umweltpolitiker haben Anlass zu kritischen
Bemerkungen.
Von der europäischen Richtlinie sollte man erwarten,
dass sie die Umweltanforderungen an die Betriebe ent-
lang der Altautoentsorgungskette definiert und europa-
weit harmonisiert. Dies ist nicht der Fall und deshalb sind
Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten
zu befürchten.
Die EU-Altfahrzeugrichtlinie bestimmt, dass Letzthal-
ter von Fahrzeugen ab 2002 alle ab diesem Zeitpunkt
zugelassenen Autos und ab 2007 sämtliche Altautos kos-
tenlos zurückgeben können. Sie enthält also auch rück-
wirkende Vorschriften mit der Verpflichtung für die Wirt-
schaft, bereits zugelassene Fahrzeuge kostenlos zur
Entsorgung zurückzunehmen.
Eine ökologisch einwandfreie Entsorgung ist aufwendig
und erfordert Investitionen in Rücknahme- und Verwer-
tungssysteme.
In der Rechtswissenschaft ist anerkannt, dass Rück-
stellungen von dem Zeitpunkt an gebildet werden kön-
nen, zu dem die handelsbilanzrechtliche Verpflichtung
hinreichend genau konkretisiert ist. Seit dem 21. Okto-
ber 2000 ist dies der Fall; denn die Vorschriften der Richt-
linie schreiben das sachliche und zeitliche Handeln für die
Kraftfahrzeughersteller fest. Die Bundesregierung hat
bisher nicht gehandelt und die steuerrechtlich wirksame
Bildung von Rücklagen aus Gründen verweigert, die nicht
überzeugen können. Das ist nicht in Ordnung.
Ein weiterer erheblicher Kritikpunkt ist, dass in der
EU-Altfahrzeugrichtlinie eine Aufteilung in stoffliche
und energetische Verwertung enthalten ist und hohe Recy-
clingquoten vorgeschrieben werden. In der freiwilligen
Selbstverpflichtung der Automobilindustrie ist vorgese-
hen, die nach stofflicher und energetischer Verwertung zu
beseitigenden Deponieabfälle bis zum Jahr 2002 auf ma-
ximal 15 und bis zum Jahr 2015 auf maximal fünf Ge-
wichtsprozent zu verringern. Die in der Richtlinie festge-
legten 85 Gewichtsprozent allein für die stoffliche
Wiederverwertbarkeit, die für neue Fahrzeugtypen bereits
ab dem Jahre 2005 belegt werden müssen, sind dagegen
gesamtökologisch kontraproduktiv, wie Frau Kollegin
Homburger bereits ausgeführt hat.
Die Arbeitsgemeinschaft Altauto beim Verband der
Automobilindustrie hat in ihrem ersten Monitoringbe-
richt, der Ihnen, Frau Kollegin Hustedt, offenbar entgan-
gen ist, eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass die zur
Verringerung des Kraftstoffverbrauchs erforderliche Re-
duktion des Fahrzeuggewichts durch solche Recycling-
quoten behindert wird und damit die Minderungsziele für
CO2-Emissionen gefährdet werden.
Leichtbauwerkstoffe aus dem Verbund von Kunststof-
fen, Glasfasern und Leichtmetallen oder von nachwach-
senden Rohstoffen, die verstärkt zur Gewichtsverringerung
eingesetzt werden müssen, sind in der Regel stofflich nicht
wieder zu verwenden. Materialrecycling muss nicht immer
besser als energetische Verwertung sein. Entscheidend ist
vielmehr, dass die zu deponierenden Abfallmengen mini-
miert werden, so wie dies in der freiwilligen Selbstver-
pflichtung angestrebt wird. Wir fordern die Regierung des-
halb auf, sich für eine Nachbesserung hinsichtlich der
stofflichen und energetischen Verwertungsfähigkeit und
der Typengenehmigungsverfahren einzusetzen.
Wir bedauern, dass es der Regierung im Ministerrat
nicht gelungen ist, sich im Sinne des deutschen Entsor-
gungskonzepts durchzusetzen. Wir erinnern uns, wie Um-
weltminister Trittin im Sommer 1999 durch ein harsches
Kanzlerwort gezwungen wurde, die Verabschiedung der
Richtlinie vorübergehend zu blockieren. Viel hat dies of-
fensichtlich nicht gebracht. Wir erwarten, dass die vorhan-
denen Gestaltungsspielräume nunmehr genutzt werden.
Die EU-Richtlinie muss spätestens bis zum
21. April 2002 in deutsches Recht umgesetzt werden. Die
Bundesregierung arbeitet gegenwärtig an einem Entwurf
eines Altfahrzeuggesetzes. Um Abfalltourismus zu ver-
meiden und die deutsche Wirtschaft nicht unnötig zu be-
lasten, sollten Festlegungen aus der freiwilligen Selbst-
verpflichtung übernommen werden, wo immer dies
möglich ist. So sollte zum Beispiel für die Beschaffenheit
der zurückgegebenen Altfahrzeuge im Einzelnen gelten,
dass sie rollfähig und in den wesentlichen Teilen voll-
ständig sind sowie mindestens sechs Monate auf den
Letzthalter in Deutschland zugelassen waren usw.
Die in der Richtlinie enthaltenen Quoten und Zielset-
zungen müssen nun trotz aller Kritik unverändert in deut-
sches Recht umgesetzt werden. Die Wege zu ihrer Errei-
chung sollten jedoch der Wirtschaft unter Beachtung der
im Übrigen vorgegebenen Rahmenbedingungen offen
bleiben. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, warum zur
Erzielung von Verwertungsquoten detailliert vorgeschrie-
ben werden soll, welche Fahrzeugteile bei der Entsorgung
ausgebaut werden müssen.
Die Richtlinie legt fest, dass die Automobilhersteller
bzw. -importeure die Entsorgungskosten voll oder doch
zu wesentlichen Teilen übernehmen müssen. Dies sieht
zugegeben zunächst verbraucherfreundlich aus, Kol-
lege Kelber, täuscht aber nur darüber hinweg, dass letzt-
lich alle Kosten, die mit dem Erwerb, der Nutzung und der
Entsorgung eines Fahrzeugs anfallen, vom Verbraucher
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Paul Laufs
16378
getragen werden müssen. Wenn die Hersteller die gesam-
ten Entsorgungskosten schon in den Verkaufspreis einrech-
nen müssen, gibt es für die Verwertungsbetriebe keinen An-
reiz mehr, kostengünstig und effizient zu arbeiten. Es sieht
so aus, als wolle die Regierung die Möglichkeit, andere an
den Kosten zu beteiligen, nicht berücksichtigen. Dann aber
sollte man die Entsorgungskosten beim Kauf eines Fahr-
zeugs wenigstens getrennt ausgewiesen bekommen.
Wir werden die Arbeit der Bundesregierung auch in
diesem Bereich sehr aufmerksam und kritisch begleiten.
Die CDU/CSU wird den F.D.P.-Antrag bei den weiteren
Beratungen unterstützen.
Danke schön.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5466 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Straßenbaubericht 2000
Drucksache 14/5064
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der
Abgeordneten Horst Friedrich , Hans-
Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
A 6 modellhaft ausbauen Deutschlands Fern-
straßennetz für Europa fit machen
Drucksachen 14/5229, 14/5557
Berichterstattung:
Abgeordnete Heide Mattischeck
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
SPD-Fraktion das Wort dem Kollegen Reinhold Strobl,
dem ich gleichzeitig im Namen des Hauses zu seinem
heutigen Geburtstag herzlich gratuliere.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Fern-
straßennetz ist angeblich nicht europatauglich. Zu dieser
erstaunlichen Feststellung kommt die F.D.P. in ihrem An-
trag, welcher heute zur Beratung ansteht. Ein weiser
Mann sagte einmal: Begangene Fehler können nicht bes-
ser entschuldigt werden als mit dem Geständnis, dass man
sie erkannt hat. Für mich ist der Satz, das deutsche Fern-
straßennetz sei nicht europatauglich, am Anfang Ihres An-
trages, meine Damen und Herren von der F.D.P. allzu
viele sind ja nicht anwesend , das Eingeständnis, dass
unter der letzten Regierung bekanntlich waren wir da-
ran nicht beteiligt einfach viel zu wenig für die Verbes-
serung unserer Verkehrsinfrastruktur getan wurde.
Da Ihr Antrag von Vorwürfen gegen die neue Bundes-
regierung nur so strotzt, bleibt mir gar nichts anderes
übrig, als Sie wiederum einmal daran zu erinnern, was Sie
uns vererbt haben.
Sie tun gerade so, als hätten Sie irgendwo einen Milliar-
denschatz vergraben. Dabei haben Sie uns Schulden in
Billionenhöhe hinterlassen. Der Verkehrshaushalt war
hoffnungslos unterfinanziert.
Die A 6 übt anscheinend einen besonderen Reiz auf die
Damen und Herren von der Opposition aus. Würde über
alle Autobahnen in Deutschland hier im Plenum so viel
diskutiert wie über die A 6, dann bräuchten wir uns über
andere wichtige Themen nicht mehr zu unterhalten. Dabei
ist die ganze Aufregung Ihrerseits gar nicht notwendig.
Für die SPD und die Bundesregierung gibt es keinen
Zweifel an der Notwendigkeit dieser wichtigen europä-
ischen Magistrale. Bis zum Jahr 2008, spätestens bis 2009
wird diese Autobahn fertig gebaut sein.
Erst vor einigen Tagen konnten wir bei Lohma ge-
meinsam mit unserem Staatssekretär Hilsberg und dem
bayerischen Innenminister Beckstein
den Spatenstich für ein weiteres 130 Millionen DM teures
Teilstück vornehmen. Bei Wernberg-Köblitz wird derzeit
mit Nachdruck die Naabtalbrücke mit einem Kostenauf-
wand von 24 Millionen DM gebaut. Meine Damen und
Herren von der F.D.P., vielleicht sollten Sie sich einmal
vor Ort selbst ein Bild vom Baufortschritt machen.
Dann müssten Sie eigentlich gesehen haben, dass es dort
einen großen Baufortschritt gibt. Sie bräuchten dann nicht
vom grünen Tisch aus solche Anträge wie den vorliegen-
den zu stellen.
Wie oft muss man es eigentlich noch sagen? Bereits in
drei, spätestens in vier Jahren wird die A 6 zwischen
Pfreimd und Waidhaus fertig sein. Ebenfalls in drei bzw.
vier Jahren wird mit dem Bau des letzten Teilstücks zwi-
schen Pfreimd und Amberg Ost begonnen. Auch wenn das
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Paul Laufs
16379
für den Bau dieses letzten Teilabschnittes notwendige Geld
sofort zur Verfügung stehen würde, wäre ein sofortiger Wei-
terbau gar nicht möglich, da noch einiges an Vorarbeiten,
zum Beispiel Grundstückskäufe, geleistet werden muss.
Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Die Leis-
tungen der neuen Bundesregierung sind beachtlich. Dies
ist auch hinsichtlich der A 6 so. Die A 6 wird als wichtige
Ost-West-Verbindung solide finanziert ausgebaut. Der
jetzt geltende Bedarfsplan enthält den sechsspurigen Aus-
bau der A 6 in Baden-Württemberg auf einer Strecke von
rund 90 Kilometer Länge zwischen den Kreuzen Viern-
heim und Weinsberg. 40 Kilometer davon werden im Rah-
men des Anti-Stau-Programmes ausgebaut. Im Hinblick
auf Bayern ist im Bedarfsplan der rund 20 Kilometer
lange Abschnitt zwischen Roth und dem Kreuz Altdorf
enthalten. Im Rahmen der Überarbeitung des Bundesver-
kehrswegeplanes haben die beiden Länder den sechsspu-
rigen Ausbau für den rund 140 Kilometer langen Ab-
schnitt zwischen Weinsberg und Roth zur Bewertung
angemeldet. Über weitere Festlegungen zum sechsspuri-
gen Ausbau der A 6 soll im Rahmen der Fortschreibung
des Bundesverkehrswegeplanes und der Novellierung des
Fernstraßenausbaugesetzes entschieden werden.
Wenn es nach der F.D.P. ginge, hätte der Bund immer
weniger Steuereinnahmen und immer mehr Ausgaben.
Es ist doch so. Ich sage nur die Wahrheit.
Der Staat hätte immer weniger Geld zur Verfügung. So ist
es doch. Sie stellen in einer Tour Anträge, dass wir immer
mehr Geld ausgeben sollen. Auf der anderen Seite fordern
Sie immer wieder Steuererleichterungen. Das ist das alte
Spiel.
Wir aber wollen keinen armen Staat, sondern einen Staat,
der finanziell dazu in der Lage ist, Leistungen für seine
Bürger zu erbringen.
Dazu gehört der Ausbau der Schiene ebenso wie der Bau
von Straßen, aber auch deren Unterhalt, für den übrigens
in den nächsten Jahren viel mehr Geld ausgegeben wer-
den muss.
Nun fordern Sie, durch eine Privatfinanzierung den
Lückenschluss zwischen Amberg und Pfreimd herzustel-
len. Sie wissen selbst, dass jede Privat- oder Vorfinanzie-
rung für den Bund letztendlich teurer ist als die Finanzie-
rung über den Bundeshaushalt
Sie begreifen wahrscheinlich selber nicht, ob das eine
Vorfinanzierung ist oder ob das eine Finanzierung über
die Europäische Investitionsbank ist.
Tatsache ist, dass das alles für den Bund letztendlich
teurer ist als die Finanzierung über den Bundeshaushalt.
Bereits jetzt ist der Bundeshaushalt aus 27 Vorfinanzie-
rungsprojekten mit insgesamt mehr als 8 Milliarden DM
belastet. Von 2004 bis mindestens zum Jahr 2015 bedeu-
tet dies jährliche Mehrausgaben in Höhe von 600 Milli-
onen DM. Übrigens ist der hier in Rede stehende Bauab-
schnitt bereits planfestgestellt, sodass Sie mit Ihrem
Ansinnen ohnehin zu spät kommen.
Vielleicht sollten Sie sich einmal fachkundig machen.
Ich würde Ihnen empfehlen, mit Herrn Wolfgang Roth zu
sprechen.
In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der
F.D.P., kommt der alte Geist der Schuldenmacherei wie-
der zum Vorschein. Es gibt keinen Anlass dafür, bei
Straßenbaumaßnahmen inflationär Privatfinanzierungen
zu verfolgen. Wir werden nämlich alle Maßnahmen solide
und nicht durch neue Schulden finanzieren.
Wir können Ihnen auch davon berichten, dass wir da-
von ausgehen, dass die EU-Kommission nach einer Ana-
lyse der Auswirkungen der EU-Erweiterung auf die
Grenzregionen ein Aktionsprogramm für die betroffe-
nen Mitgliedstaaten vorlegt. Vor diesem Hintergrund hat
die Bundesregierung mit Datum vom 2. Februar ein Pa-
pier mit dem Titel Förderung der Grenzregionen zu den
Beitrittsländern erarbeitet. Hierin sind Verkehrsprojekte
der Bereiche Schiene, Bundesfernstraßen und Bundes-
wasserstraßen zur beschleunigten bzw. zusätzlichen Rea-
lisierung in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden DM ent-
halten.
Das Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz beinhal-
tet das Recht, zur Refinanzierung eine Maut zu erheben.
Aufgrund europäischer Rahmenbedingungen sind derar-
tige Betreibermodelle derzeit beschränkt auf neu zu errich-
tende Brücken, Tunnels, Gebirgspässe usw. Eine etwaige
Ausweitung auf Autobahnstrecken ist erst nach Einführung
der streckenbezogenen LKW-Gebühr möglich,
da wir es ansonsten mit dem Problem der Doppelbe-
mautung zu tun hätten.
Es gäbe zu Ihrem Antrag noch viel zu sagen. In der mir
zustehenden Zeit ist das nicht möglich. Zusammenfas-
send möchte ich jedoch nochmals betonen: Wir haben
schon lange vor Ihrem Antrag die Notwendigkeit der Ver-
vollständigung der A 6 sowie ihres abschnittsweisen
sechsspurigen Ausbaus erkannt. Ihre Vorschläge würden
uns hier keinen Schritt voranbringen. Wir werden die A 6
aus- und weiterbauen. Darauf können Sie sich verlassen.
Danke schön.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Reinhold Strobl
16380
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht nun die Kollegin Renate
Blank.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Kollege Strobl, für die SPD scheint
sich der Straßenbaubericht 2000 auf die A 6 zu beschrän-
ken obwohl diese im Straßenbaubericht gar nicht vor-
kommt. Weil Sie heute Geburtstag haben, gehe ich auf
Ihre Anmerkungen jetzt nicht ein.
Der Straßenbaubericht zeigt eindeutig auf, dass in dem
Berichtszeitraum zu wenig Geld für den Straßenbau aus-
gegeben wurde. Aus unserer Sicht ist der Bericht eine
straßenbaupolitische Bankrotterklärung der Bundesregie-
rung,
denn das Auto ist und bleibt Verkehrsmittel Nummer eins
in Deutschland. Der Bericht bestätigt dies: Die Verkehrs-
leistungen von Bahn und Schiff sinken, die Verkehrs-
leistungen von PKW und LKW nehmen zu. Die Zahl
der PKW-Zulassungen steigt; die LKW-Fahrten werden
vor allem auch wegen der Osterweiterung weiter zu-
nehmen.
Wir wollen die Mobilität der Bürger im Gegensatz zu
Ihnen erhalten. Wirtschaftswachstum bringt auch Ver-
kehrsleistungen. Die Baubranche ist auf den Straßenbau
angewiesen. Zur Erinnerung: Investitionen im Umfang
von 1 Milliarde DM schaffen bzw. erhalten 10 000 bis
12 000 Arbeitsplätze.
Verkehrspolitik ist deshalb auch Standortpolitik, auch
wenn dies viele nicht wahrhaben wollen, insbesondere die
Grünen.
Durch Staus entsteht volkswirtschaftlicher Schaden.
Seriöse Angaben beziffern diesen Schaden auf rund 2 Pro-
zent unseres Bruttosozialprodukts, vom Schaden für die
Umwelt durch Staus ganz zu schweigen. Neben der ärger-
lichen Zeitverschwendung durch Staus entstehen Verlus-
te. Diese schlagen insbesondere bei LKW-Fahrten zu Bu-
che und gehen auf dem Weg über die Preise für Güter des
täglichen Bedarfs auf die Verbraucher über.
Die Bürgerinnen und Bürger sind doch längst aufge-
schreckt und höchst sensibel. Sie wissen, dass sie nicht
nur an der Tankstelle durch die Ökosteuer, die diesen Na-
men nicht verdient, abgezockt werden, sondern durch die
verfehlte rot-grüne Verkehrs- und Finanzpolitik auch
beim Einkaufen zusätzlich zur Kasse gebeten werden.
Dass das Auto zunehmend an Bedeutung gewinnt und
jeder junge Mensch den Wunsch nach Führerschein und
Auto hat, erkennen mittlerweile auch der Autokanzler,
die SPD und sogar Teile der Grünen. Verkehrspolitik kann
sich nicht ständig gegen den Verkehrsteilnehmer im
Straßenverkehr richten, wie Sie das dauernd versucht ha-
ben. Verkehrspolitik wird, wenn sie gegen den Verkehrs-
teilnehmer gerichtet ist, unrealistisch und unglaubwürdig.
Nachdem Rot-Grün diese Fakten nach und nach er-
kannt hat, hat man nachgedacht, wie eine zu geringe Ver-
anschlagung der Straßenbaumittel verschleiert werden
kann. Anstatt mehr Geld zur Verfügung zu stellen, hat die
Bundesregierung schnell die Lösung in Form verwirren-
der Programme gefunden: Investitionsprogramm, Anti-
Stau-Programm, Zukunftsinvestitionsprogramm alles
das sind nur klingende Namen und Absichtserklärungen.
Das Investitionsprogramm wurde von Minister
Müntefering vorgelegt; man erinnert sich noch. Es sollte
laut Bundesregierung Planungssicherheit bringen. Schon
bei der Vorlage war seinerzeit allerdings klar, dass das
Programm nur die während unserer Regierungszeit be-
reits begonnenen Maßnahmen fortführen wird bzw. Maß-
nahmen anfinanziert und diese dann weit über die Zeit
nach 2002 verschoben werden. Das Investitionspro-
gramm reicht so zeitlich weit in das Jahr 2010 hinein.
Ich möchte als Beispiel Bayern, das Transitland Num-
mer eins, anführen: Nach diesem Investitionsprogramm
hätten wir für Neubaumaßnahmen nur 29,4 Millionen DM
zur Verfügung gehabt, was einer Strecke von rund 3 Kilo-
metern entspräche. Dies ist natürlich viel zu wenig. Sie
haben die Straßenbaumittel bis 2002 um 4,9 Milliar-
den DM gekürzt.
Das Anti-Stau-Programm hat uns dann Minister
Klimmt vorgelegt. Es war eine eindeutige Wahlkampf-
hilfe für Nordrhein-Westfalen. Bester Beleg dafür ist, dass
die A 3, die meistbefahrene Straße Deutschlands, in die-
sem Programm nicht enthalten ist, obwohl sie eigentlich
alle Kriterien für eine Aufnahme erfüllt.
Die ab 2002 vorgesehenen Mittel hängen natürlich
vom Zeitpunkt der Einführung der streckenbezogenen
LKW-Maut und von der Höhe dieser Gebühr ab. Im Übri-
gen will der Finanzminister einen großen Teil dieser Ein-
nahmen für seinen allgemeinen Steuertopf.
Nun zum Zukunftsinvestitionsprogramm, vorgelegt
von Minister Bodewig jeder Minister ein Programm!
Die Mittel für dieses Programm kamen aus den Erlösen
der UMTS-Lizenzen. Die Vorleistungen dafür wurden
daran muss man immer erinnern von der CDU/CSU
erbracht. Wenn ich mich richtig erinnere, haben damals
die Ministerpräsidenten Eichel und Schröder der Libera-
lisierung des Telekommunikationsmarktes nicht zuge-
stimmt. Sie profitieren jetzt also von unseren Vorleistun-
gen. Dieses Zukunftsinvestitionsprogramm bringt für drei
Jahre 2,7 Milliarden DM zusätzlich. Das gleicht natürlich
die Kürzungen von 4,9 Milliarden DM nicht aus; es ist ein
Tropfen auf den heißen Stein. Größtenteils soll es für
Ortsumgehungen verwendet werden. Endlich haben Sie
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16381
begriffen, dass Ortsumgehungen auch zum Schutz der
Menschen sind und gebaut werden müssen.
In diesem Programm ist auch die europäische Magis-
trale A 6 zusätzlich zu den Mitteln aus dem normalen
Programm in Höhe von 55 Millionen DM mit einem Be-
trag von sage und schreibe 10 Millionen DM enthalten,
bei einem Bedarf von 600 Millionen DM! Wir bedauern
ausdrücklich, dass das Angebot der EIB zur Vorfinanzie-
rung nicht angenommen wurde. Das ehemalige SPD-
Bundestagsmitglied Roth hat bei seinem Angebot erklärt,
dass es eine Schande für Deutschland sei, wenn die A 6
nicht rechtzeitig gebaut werde und diese wichtige West-
Ost-Verbindung nicht zustande komme.
Alle drei Programme dienen der Verwirrung. Aber jetzt
kommt das Allerschlimmste: Die Bundesregierung hat
mit diesen Programmen den gesetzlichen Auftrag zur
Aufstellung des Fünfjahresprogramms, das bis 2000 Gül-
tigkeit hatte, umgangen. Die Länder waren entgegen den
Angaben der Bundesregierung an der Aufstellung der
Programme nicht beteiligt. Das ist ein unerhörter Vor-
gang.
Meine Damen und Herren, die Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit haben Priorität. Wir sind dank unse-
rer Weitsicht schon bei den Planungen davon ausgegan-
gen, dass die Verkehrsinfrastruktur einen wichtigen Bei-
trag zur Angleichung der Lebensverhältnisse und zur
Mobilität leistet, übrigens auch zur Beseitigung der Fol-
gen der Misswirtschaft der SED, und daher ganz beson-
ders wichtig sind.
Aber lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Zu-
stand der Bundesfernstraßen machen. Die volle Ge-
brauchsfähigkeit nimmt immer mehr ab, insbesondere in
den alten Bundesländern. Der Bericht stellt eine Zunahme
der leicht eingeschränkten und der eingeschränkten Ge-
brauchsfähigkeit fest. Insbesondere Bayern als Transit-
land Nummer eins ist davon stark betroffen.
Was ist zu tun? Die Bundesregierung muss für die In-
standhaltung mehr Geld zur Verfügung stellen, damit wir
nicht eines Tages vor einem total maroden Straßensystem,
insbesondere in den alten Bundesländern, stehen. Der
Substanzverlust schreitet mehr und mehr fort. Das Einbe-
ziehen von Standspuren auf hoch belasteten Straßen, das
der Minister großartig angekündigt hat, muss noch ge-
prüft werden. Im Übrigen ist das ein Vorschlag Bayerns.
Wir erwarten dazu einen Bericht und die Aufzeichnung
von Möglichkeiten der Umsetzung.
Nun zum Bundesverkehrswegeplan: Es gibt ein Ver-
sprechen, dass er noch in dieser Wahlperiode fortge-
schrieben werden soll. Als Sie allerdings festgestellt ha-
ben, dass auch SPD-geführte Länder Straßenbau wollen,
hat Sie der Mut verlassen, den Bundesverkehrswegeplan
in dieser Wahlperiode fortzuschreiben. Sie ziehen sich auf
Kriterien zurück, die im Grunde genommen die gleichen
sind wie unsere. Sie werden vielleicht etwas anders ge-
nannt, aber das spielt keine Rolle.
In den gestrigen Ausschussberatungen haben die
Staatssekretärin, der Sprecher der SPD-Fraktion und
schließlich auch der Minister Äußerungen zum Bundes-
verkehrswegeplan gemacht, die nicht zutreffen. Der
Minister hat gesagt, er werde dem Parlament 2003 das
Gesetz über den Bundesverkehrswegeplan zur Be-
schlussfassung vorlegen. Diese Aussage spiegelt die Qua-
lität der Arbeit der SPD wider. Ich möchte Ihnen, sowohl
der Bundesregierung als auch der SPD, deshalb eine kleine
Nachhilfe geben: Zur Festlegung von Prioritäten für den
Ausbau der Bundesverkehrswege hat die Bundesregierung
Mitte der 70er-Jahre es war eine SPD-geführte Regierung
für ihre Investitionspolitik eine integrierte Verkehrswege-
planung entwickelt. Diese verkehrsträgerübergreifende
Planung wird im Rahmen von Gesamtverkehrskonzepten
erstellt und findet ihren Niederschlag im so genannten
Bundesverkehrswegeplan. Der Bundesverkehrswegeplan
spiegelt die verkehrsinvestitionspolitischen Ziele der Bun-
desregierung wider. Er ist ein Investitionsrahmenplan und
damit ein Planungsinstrument kein Finanzierungsplan
oder -programm, auch kein Gesetz. Die rot-grüne Bundes-
regierung hat natürlich zugesagt, den BVWP von 1992 zü-
gig zu überarbeiten. Jetzt aber erhalten wir die Maßgabe,
dass dies erst 2003 passieren wird.
Die Realisierung der Maßnahmen des Bundesver-
kehrswegeplans erfolgt nach Maßgabe der vom Parla-
ment verabschiedeten Ausbaugesetze mit den jeweiligen
Bedarfsplänen. Der Ausbaubedarf für das Bundesfern-
straßengesetz wird seit 1970 durch das Fernstraßenaus-
baugesetz gesetzlich geregelt. Dem jeweiligen Ände-
rungsgesetz ist der so genannte Bedarfsplan für die
Bundesfernstraßen beigefügt. Dieser basiert auf dem je-
weils aktuellen Bundesverkehrswegeplan und enthält alle
für seinen Geltungszeitraum geplanten Neu- und Ausbau-
maßnahmen an Bundesfernstraßen.
Zur Verwirklichung der Ausbauziele nach den Bedarfs-
plänen ist unter Beachtung der mittelfristigen Finanzpla-
nung vom Gesetzgeber die Aufstellung von Fünfjahres-
plänen gefordert. Die Fünfjahrespläne sind ein Instrument
der Exekutive, werden aber gleichwohl den parlamentari-
schen Gremien zur Kenntnis gebracht.
Ich hoffe, dass Sie solche Aussagen wie die gestern im
Ausschuss in Zukunft nicht mehr treffen werden.
Ich komme zum Schluss: Die Art und Weise, wie Sie
Investitionspolitik betreiben, ist mit der Wahrheit und
Klarheit haushaltsrechtlicher Erfordernisse nicht mehr
vereinbar. Wenn sich der Verkehrsminister in der Öffent-
lichkeit immer wieder als Infrastrukturminister präsen-
tiert, dann muss er auch dafür sorgen, dass es statt einer
Vielzahl verwirrender und unübersichtlicher Programme
künftig eine bessere Finanzausstattung für den Straßen-
bau gibt.
Ich gebe
dem Kollegen Helmut Wilhelm für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Der Straßenbaubericht der Bundesregierung zeigt auf,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Renate Blank
16382
dass die rot-grüne Bundesregierung im vergangenen Jahr
bei Bau und Unterhalt der Bundesfernstraßen eine gute
Leistung erbracht hat.
Ich hoffe, dass die F.D.P. diesen Bericht verinnerlicht
und erkannt hat, dass in ihrem Antrag etwas nicht stim-
men kann. Sie wirft uns unter Ziffer I vor, wir hätten dras-
tisch gekürzt. Ja, wo denn? Die Mittel lagen in 2000 bei
9,95 Milliarden DM, werden 2001 bei 10,8 Milliar-
den DM und 2002 bei 10,39 Milliarden DM liegen. Zu
Ihren Zeiten stehen dem gegenüber: 1996 10,26 Milliar-
den DM und 1997 10,45 Milliarden DM. Wo bitte sind bei
uns die Kürzungen?
Ich rufe jetzt einen wahrhaft unverdächtigen Zeugen
an, einen leibhaftigen bayerischen Minister, Herrn
Dr. Beckstein, der in letzter Zeit bei jedem Spatenstich die
Bundesregierung für die von ihr zur Verfügung gestellten
Baumittel belobigt hat. Dies geschah zuletzt an der A 6
bei Lohma.
Nicht unbedingt.
Dass wir hierbei nicht nur an die Gaspedalritter ge-
dacht haben, sondern auch an die verkehrsbetroffenen
Bürger, und Geld speziell für Ortsumgehungen und völ-
lig neu für Lärmsanierungen ausgeben, ist ebenfalls
nicht gerade Anlass zur Kritik.
Jetzt zur A 6. Das betrifft meine Heimatregion; gestat-
ten Sie mir deshalb, dass ich einiges richtig stellen
möchte. Tatsächlich: In Tschechien ist die Autobahn bis
Prag fast vollständig fertig. In Deutschland klafft noch
eine große Lücke. Warum? 1988 war Grenzöffnung zu
Tschechien, der Verkehr wuchs und wuchs. Was geschah?
Nichts! Jedenfalls nicht unter der alten Bundesregie-
rung: kein Planfeststellungsverfahren, kein Baurecht,
nichts.
Die Planfeststellungsbeschlüsse ergingen erst 1998
und 2000. Siehe da: Die rot-grüne Bundesregierung stellte
auch die Baumittel zur Verfügung.
Zu diesem einen Punkt werde ich noch kommen.
Gerade erst vor wenigen Tagen war Baubeginn für den
Abschnitt bei Vohenstrauß, der laut Zukunftsinvestitions-
programm als Ortsumgehung eingeordnet ist. Also aufge-
passt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.: Ihre
Behauptung, dieses ZIP-Programm vernachlässige das eu-
ropäische Fernstraßennetz, ist ebenfalls nicht ganz richtig.
Was fehlt? Richtig: Woppenhof Kaltenbaum. Dazu
gibt es noch keinen Planfeststellungsbeschluss. Da kann
man nicht bauen. Hier hat eben das zuständige Land
Bayern seine Hausaufgaben noch nicht gemacht.
Und es fehlt der Abschnitt von Amberg/Ost bis zum
Autobahnkreuz Pfreimd. Hier ist der Planfeststellungsbe-
schluss durch Klage angefochten. Das ist das gute Recht
planbetroffener Bürger.
Das ist in einem Rechtsstaat zu akzeptieren. Das sollten
Ihre örtlichen Repräsentanten, liebe Kolleginnen und
Kollegen der CSU, vielleicht einsehen und den morali-
schen Druck gegenüber diesen Bürgern auf Klagerück-
nahme bitte unterlassen. Wir stehen doch wohl alle zu die-
sem Rechtsstaat und zu seinen Regularien.
Ganz Unrecht Frau Blank, jetzt komme ich zu diesem
Punkt haben diese Bürger nun wirklich nicht. Die Um-
weltverträglichkeitsprüfung hat die planfestgestellte
Trasse aus ökologischen Gründen als die schlechtestmög-
liche eingestuft. Liebe F.D.P., mit einem Modellversuch
Privatfinanzierung kommen wir über die Hürde des
Rechtswegs auch nicht gerade hinweg. Außerdem eignet
sich ganz ohne ideologische Scheuklappen dieser Ab-
schnitt auch wirklich nicht für eine Privatfinanzierung.
14 Kilometer Autobahn bei drei guten Umfahrungsmög-
lichkeiten da hätten wir die LKW genau dort, wo wir sie
nicht wollen, nämlich in den Ortsdurchfahrten.
Zum Schluss will ich sagen: Den Bundesverkehrswe-
geplan novellieren wir ohnedies, wie bereits in der Koali-
tionsvereinbarung abgemacht.
Ich gebe
dem Kollegen Horst Friedrich das Wort. Er spricht für die
F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir stehen leider nur
dreieinhalb Minuten zur Verfügung. Deswegen kann ich
nicht auf alles antworten. Dennoch vielleicht zwei Sätze
vorweg.
Wir diskutieren die gesamte Verkehrsinfrastruktur-
entwicklung vor dem Hintergrund, dass der Verkehr seit
Bestehen der Bundesrepublik um 900 Prozent zugenom-
men hat und die Infrastruktur insgesamt nur um 50 Pro-
zent. Zu diesem Missverhältnis kommt jetzt noch die
Osterweiterung der EU, wobei uns die Kommission der
EU prophezeit, dass es dann nochmals 60 Prozent mehr
Verkehr und davon 80 Prozent auf der Straße geben
wird.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns genötigt gese-
hen, Anträge für bestimmte Bereiche zu stellen, so auch
für die A 6, die ein hohes Maß an Verkehr in Ost-West-
Richtung bewältigen muss, wobei offensichtlich weder
im Investitionsprogramm noch im Zukunftsinvestitions-
programm noch im Anti-Stau-Programm Finanzmittel für
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Helmut Wilhelm
16383
die Strecke von Amberg/Ost bis Pfreimd vorgesehen sind,
sodass sie eine Lücke aufweist.
Herr Kollege Wilhelm, wenn Sie Angst haben, dass
sich bei einer anderen Finanzierung als der klassischen
die LKW andere Wege suchen würden, dann frage ich
mich, warum Sie mit Euphorie zum 1. Januar 2003 die
Maut auf Autobahnen für LKW einführen wollen, womit
Sie die Autobahnen für LKW verteuern würden. Sie könn-
ten ja aufgrund dieser Maßnahme auf andere Straßen aus-
weichen. Ihre Argumentation sollte schon schlüssig sein.
Ich glaube kaum, dass jemand für 14 Kilometer einen
Umweg sucht, wenn er über die ganze Strecke ansonsten
keinen Umweg macht. Ein bisschen mehr Realitätssinn
wäre also schon angebracht.
Herr Kollege Strobl, vielleicht sollten Sie Ihrem Re-
denschreiber einmal den Unterschied zwischen Vorfinan-
zierung, privatem Konzessionsmodell und der von uns ge-
forderten echten Privatfinanzierung aufzeigen.
Das ist nämlich der eigentliche Unterschied. Von dem,
worüber Sie uns die ganze Zeit erzählt haben, nämlich von
der privaten Vorfinanzierung, steht in dem Antrag kein
Wort. Es mag ja sein, dass Sie mit Scheuklappen durch die
Gegend laufen. Es gibt ja auch ein paar Konzessionsmo-
delle. Genau das will ich nicht. Genau das ist hier nicht
gefordert, sondern es geht um echte Privatfinanzierung
mit Maut. Dass eine solche erst ab 1. Januar 2003 mög-
lich ist, ist uns geläufig. Wir haben nämlich das
Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz Sie wer-
den es nicht glauben im Jahre 1994 beschlossen, und
zwar im Hinblick auf diese Situation.
Ich möchte Sie auf die Welt am Sonntag verweisen,
in deren Ausgabe vom letzten Sonntag groß zu lesen war:
Privatfinanzierung von Straßen und Binnenwasser-
straßen Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig plant
eine Infrastrukturfinanzierungsgesellschaft. Wenn Sie
es uns schon nicht abnehmen wollen, sollten Sie sich in
Ihren eigenen Parteigremien erkundigen, was auf diesem
Feld angedacht ist, und erst dann auf die anderen drauf-
schlagen. Das wäre sicherlich sinnvoller.
Wir haben im Übrigen als Vorgriff vorgeschlagen auch
das ist in der Pällmann-Kommission angedacht worden ,
die jetzt vorhandene LKW-Vignette mit einer Zweckbin-
dung zu versehen. Wenn es Ihnen gelingt, Einnahmen im
Umfang von 4,5 Milliarden DM oder 5 Milliarden DM
aus der Umstellung der Maut angeblich mit einer Zweck-
bindung zu versehen, müsste es doch auch möglich sein,
bereits jetzt 750 Millionen DM mit einer Zweckbindung
zu versehen
und damit Standspuren, dritte Spuren oder kleinere
Lückenschlüsse zu finanzieren, wie die 14 Kilometer zwi-
schen Amberg/Ost und Pfreimd. Wenn man sich den
Straßenbaubericht 2000 ansieht, muss man zugeben, dass
er einige Aussagen enthält, über die man nachdenken
sollte. Wir werden vielleicht irgendwann zusammenkom-
men und darin übereinstimmen, dass das alles mit der
klassischen Staatsfinanzierung nicht mehr zu machen ist.
Wir haben eine Zunahme der täglichen Verkehrsmenge
auf deutschen Autobahnen von rund 50 000 Fahrzeugen
pro Tag. Statistisch gesehen liegt der LKW-Anteil daran
bei 15 Prozent. Auf der A 6 liegt er wahrscheinlich bei
30 bis 35 Prozent. Darin liegen die eigentlichen Probleme.
Von den Brückenbauwerken in Deutschland sind fast
zwei Drittel, nämlich 65,4 Prozent, in einem Bauzustand,
bei dem es zumindest mittelfristig, in der Masse kurzfris-
tig, notwendig ist, endlich Reparaturarbeiten durchzu-
führen. Das bekommen Sie mit der klassischen, seriösen
Haushaltsfinanzierung nicht hin. Ich bin mir sicher, dass
Sie sich in diesem Punkt bewegen müssen. Deswegen for-
dere ich Sie auf: Schließen Sie sich unserem Antrag an!
Danke sehr.
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Winfried Wolf.
Werter Herr Präsident! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will und muss es
kurz machen, da mir nur drei Minuten zur Verfügung ste-
hen. Ich glaube, dass der vorliegende Antrag ein Klientel-
antrag, ein Schaufensterantrag ist. Die F.D.P. zieht damit
nach und ergänzt, was die CDU/CSU 11 Monate vorher
bereits ins Parlament eingebracht hat.
Bereits der erste inhaltliche Satz Das deutsche Fern-
straßennetz ist nicht europatauglich, Herr Kollege
Friedrich, ist einfach grotesk. Wer sich das deutsche Pla-
nungsrecht ansieht und überlegt, dass 16 Jahre lang
CDU/CSU und F.D.P. regiert haben, muss erkennen, dass
für die fehlende Europatauglichkeit allein CDU/CSU und
F.D.P. verantwortlich sein können.
Jetzt behauptet die F.D.P., Investitionen in das Bun-
desfernstraßennetz seien drastisch gekürzt worden.
Plötzlich protestieren SPD und Grüne und sagen: Es ist al-
les gleich geblieben, wir haben nichts gekürzt, es handelt
sich um ein absurdes Theater. SPD und Grüne, die uns
noch vor kurzem belehrt haben, dass es beim Vergleich
von Straße und Schiene Ungleichgewichte zuungunsten
der Bahn gibt, wollen in gleichem Maße weitermachen,
während die CDU/CSU, die vor einer Stunde einen An-
trag gestellt hat, in dem sie behauptet, die Bahn würde mit
2 Milliarden DM pro Jahr zu stark belastet, jetzt sagt, es
müssten mehr Mittel für die Straße ausgegeben werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Horst Friedrich
16384
Wenn Sie von der F.D.P. behaupten, es solle modellhaft
ein sechsspuriger Ausbau von Autobahnen stattfinden,
muss ich darauf hinweisen: Sie werden durch einen
Lückenschluss neue Lücken schaffen; denn wenn einmal
sechsspurig ausgebaut wird, wird man bei anderen Auto-
bahnen, die nur vierspurig sind, nachziehen müssen. Wir
werden dann weitere Debatten führen müssen und be-
kommen schließlich eine Situation wie in den USA, wo
alle Autobahnen sechsspurig sind und es trotzdem überall
Stau gibt.
Wenn schon Ost-West-Vergleiche angestellt werden,
fragen wir: Warum wird nichts dazu gesagt, dass die rol-
lende Landstraße Dresden-Tschechien eingestellt wurde,
nachdem die Autobahn gebaut wurde? Warum wird nichts
dazu gesagt, dass die Bahn ihre Verbindungen von
Deutschland nach Tschechien eingestellt hat, während wir
über Ost-West-Verbindungen bei Autobahnen diskutie-
ren? Warum wird nichts dazu gesagt, dass bestimmte Re-
gionen durch Einstellung von Interregiolinien abgehängt
werden? Auch dies gehört in eine Verkehrsdebatte. Wir
hören von Frau Blank bei der Debatte über den Straßen-
baubericht, wir hätten in den alten Ländern ein marodes
Straßennetz. Ich stelle in diesem Zusammenhang die
Frage: Wer ist dafür verantwortlich? SPD und Grüne sa-
gen nun, sie wollten alles weiter wie bisher machen und
Straßen ausbauen. Hierdurch wird eine falsche und trau-
rige Kontinuität in der Verkehrspolitik in unserem Land
dokumentiert.
Das schlägt sich auch, Frau Blank, in den Vorgaben des
Bundesverkehrswegeplans nieder. Im letzten Straßenbau-
bericht steht das ist doch ganz in Ihrem Sinne, Frau
Blank , dass der Straßenverkehr um 29 Prozent und der
LKW-Verkehr um 80 Prozent wachsen werden und dass
dementsprechend Straßen vorhanden sein müssen. Das ist
Kontinuität im falschen Sinn und keine Wende in der
Verkehrspolitik.
Für die Bun-
desregierung spricht nun der Parlamentarische Staatsse-
kretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen, Stephan Hilsberg.
S
Sehr ge-
ehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die größten Realisten waren Sie von der ganz linken Seite
noch nie. Insofern wundert mich das, was Sie unserem
Straßenbaubericht vorwerfen, überhaupt nicht. Man muss
die Entwicklungen so, wie sie sich vollziehen, ernst neh-
men und versuchen, sie zu steuern. Man muss die
Herausforderungen akzeptieren und vor dem Hintergrund
unserer demokratischen Gesellschaft eine mehrheits-
fähige Lösung unter den schwierigen Bedingungen der
Haushaltskonsolidierung realisieren. Per Diktat, wie Sie
das vermutlich im Auge haben, sind die Herausforde-
rungen der Mobilitätsentwicklung nicht zu meistern. Das
ist sozusagen Ihr Manko.
Die CDU/CSU hat andere Mankos. Ich möchte auf ei-
nes gleich zu sprechen kommen. Der Straßenbaubericht
2000, über den wir heute diskutieren, bezieht sich in ers-
ter Linie auf das Jahr 1999, also auf das Jahr, in dem wir
die unsolide und desaströse Verkehrsinfrastrukturfi-
nanzierung auf eine solide Basis gestellt haben. Herr
Strobl, dem auch ich bei dieser Gelegenheit herzlich zum
Geburtstag gratulieren möchte, hat das ja bereits deutlich
gemacht. Sie haben ganz erheblich zur Beschädigung der
Glaubwürdigkeit der Politik beigetragen, als Sie versucht
haben, den Menschen weiszumachen, dass die Verkehrs-
projekte trotz des Fehlens von 100 Milliarden DM in ei-
nem entsprechenden Zeitraum realisiert werden könnten.
Deshalb haben wir 1998/99 das war eine unserer ersten
Maßnahmen die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur
auf eine solide Basis gestellt und das Investitionspro-
gramm, das für den Zeitraum von 1999 bis 2002 gilt, auf-
gelegt. Das hat den großen Vorteil, dass jedes Land und
jede Kommune, ganz gleich, wer dort gerade regiert, ge-
nau weiß: Das, was in diesem Programm festgelegt ist,
wird auch realisiert.
Das ist die neue Qualität, für die wir gesorgt haben, und
das vor einem schwierigen finanziellen Hintergrund.
Hinzu kommt das ist der nächste wichtige Punkt ,
dass wir dabei nicht stehen geblieben sind. Wir haben da-
rüber hinaus die Mittel Zug für Zug an den Investitions-
bedarf in der Bundesrepublik angepasst, und zwar für alle
Verkehrsträger. Wir haben zuerst die globale Minderaus-
gabe aufgelöst. So konnten in den Bundeshaushalt 1 Mil-
liarde DM mehr zur Finanzierung der Verkehrsin-
frastruktur eingestellt werden. Wir haben des Weiteren
900 Millionen DM von den UMTS-Milliarden nur für den
Bau von neuen Ortsumgehungen in den Verkehrshaushalt
zusätzlich eingestellt. Das hat dazu geführt, dass in die-
sem Jahr allein für den Straßenbau 10,8 Milliarden DM
zur Verfügung stehen. Das ist der höchste Betrag, den es
je gegeben hat, wenn man einmal von 1992 absieht. Da-
ran können Sie sehen, wie wichtig uns nicht nur eine so-
lide, sondern auch eine Finanzierung auf hohem Niveau
ist. Das ist das muss man deutlich sagen einfach durch
nichts zu schlagen. Wir sorgen nicht nur für eine zuver-
lässige Finanzierung, sondern auch dafür, dass die
Verkehrsinfrastrukturaufgaben auch in Zukunft anständig
erfüllt werden können.
Ich möchte meinen Blick jetzt auf Ostdeutschland
richten. Eine gute Verkehrsinfrastruktur ist eine der we-
sentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wirt-
schaftsentwicklung. Von 1991 bis 1999 dafür sind Sie
verantwortlich sind 30 Prozent aller für den Straßenbau
bereitgestellten Mittel nach Ostdeutschland geflossen.
Wir haben in unserem Investitionsprogramm festge-
schrieben, dass von 1999 bis 2002 60 Prozent aller Mittel
nach Ostdeutschland fließen werden. So viel ist uns der
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Winfried Wolf
16385
Aufbau Ost wert. Das ist die neue Qualität in der Förde-
rung der Verkehrsinfrastruktur in Ostdeutschland. Das ist
ein wichtiger Punkt.
Gleichwohl können wir das ist völlig richtig an die-
sem Punkt nicht stehen bleiben. Die Herausforderungen
im Verkehr werden größer. Die Verkehrsentwicklungs-
zahlen, die der Straßenbaubericht 2000 enthält, sind ein-
deutig und sprechen Bände. Anders, als Sie es hier tun,
kann ich das Wachstum des Güterverkehrs um 64 Pro-
zent nicht einfach ignorieren. Ich muss auf die Fragen, die
damit verbunden sind, anständige Antworten geben. Der
Umfang der Aufwendungen für die Verkehrsinfrastruktur
und damit auch für den Straßenbau wird zunehmen. Dafür
spricht allein schon der bisher notwendige Erhaltungsauf-
wand. Man muss schauen, woher das Geld kommt.
Die F.D.P. wünscht offenbar, dass man mehr mit Pri-
vaten ins Geschäft kommt. Was die Finanzierung von
Straßen durch Private bedeutet, das wissen Sie doch. Fak-
tisch führt das dazu, dass eine PKW-Maut eingeführt
wird. Was die F.D.P. will, ist nichts anderes als eine
PKW-Maut für unsere Bürger. Das ist nicht die Finanzie-
rung der Autobahn, wie wir sie uns vorstellen.
Wenn man zusätzliche Mittel für die Finanzierung der
Verkehrsinfrastruktur, insbesondere für die Finanzierung
des Straßenbaus, beschaffen will, dann muss man
schauen, auf welche Verkehrsteilnehmer die Kosten zu
verteilen sind. Wenn man so vorgeht, stellt man ganz
schnell fest, wo Defizite bestehen. Die Schwerlaster das
ist ein Defizit tragen zu wenig zum Instandhaltungsauf-
wand bei. Man muss feststellen, dass beispielsweise der
Abnutzungsgrad durch einen 40-Tonner-LKW um ein
60 000faches höher als der durch einen PKW ist. Die
PKWs tragen über die Mineralölsteuer etc. genug zur Fi-
nanzierung der Infrastruktur bei. Für die LKWs ist das
nicht der Fall. Deshalb sind unsere Pläne völlig gerecht-
fertigt, eine LKW-Maut einzuführen.
Die Höhe einer solchen LKW-Maut kann man aller-
dings nicht, wie es Herr Mehdorn will, beliebig festlegen
es handelt sich nicht um eine Steuer , vielmehr muss
man sich an den von den LKWs tatsächlich verursachten
Kosten orientieren. Das wird bei 25 Pfennig oder viel-
leicht 30 Pfennig liegen. Darüber wird relativ kurz zu
diskutieren sein und dieses Vorhaben wird zu realisieren
sein.
Die Milliarden, die der Staat dadurch zusätzlich ein-
nimmt, müssen möglichst komplett bei Abrechnung von
Verwaltungskosten etc. in die Verkehrsinfrastruktur in-
vestiert werden. Ganz wichtig ist, daran zu denken, dass
das Wachstum des Güterverkehrs durch zusätzliche
Straßen nicht vollständig aufgefangen werden kann.
Wenn man das versuchte, dann müsste man an alle Bun-
desautobahnen eine zusätzliche Spur, eine Art LKW-Spur,
anbauen was überhaupt nicht zu finanzieren ist. Herr
Friedrich, es ist für meine Begriffe gerechtfertigt, die Ein-
nahmen aus einer LKW-Maut in die Schiene zu investie-
ren; denn das trägt besser zur Gesamteffizienz unseres
Verkehrssystems bei. Wir müssen immer den Gesamtzu-
sammenhang betrachten, wenn wir von Verkehrsinfra-
struktur und damit von Straßenbau sprechen. Die gesamte
Verkehrsfinanzierung muss effizienter werden. Die
Schiene muss dafür allerdings auf einen Stand gebracht
werden, der es ihr ermöglicht, den an sie gestellten Er-
wartungen gerecht zu werden.
Kurz und gut: Der Straßenbaubericht 2000 zeigt die
Herausforderungen, vor denen wir stehen, sehr eindeutig
auf. Die Haushaltsentwicklung zeigt, dass wir auf diese
Herausforderungen angemessen reagiert haben. Wir ha-
ben dafür erhebliche Mittel mehr als jemals zuvor in-
vestiert. Diese Leistung kann sich sehen lassen. Für die
Bürger in diesem Land ist es wichtig, die Politik an ihren
Taten und nicht an ihren Versprechen zu messen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5064 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Das Haus ist damit
einverstanden. Die Überweisung ist beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussem-
pfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Woh-
nungswesen zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. A 6
modellhaft ausbauen Deutschlands Fernstraßennetz für
Europa fit machen, Drucksache 14/5557. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5229 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Ge-
genprobe! Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zusatz-
punkte 6 und 7 auf:
10. Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Einführung des Wohnortprinzips bei
den Vereinbarungen über die ärzliche Gesamt-
vergütung
Drucksache 14/5694
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung des Wohnortprinzips bei Honorarver-
einbarungen für Ärzte und Zahnärzte
Drucksache 14/5960
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Parl. Staatssekretär Stephan Hilsberg
16386
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege-
lung der Krankenkassenwahlrechte
Drucksache 14/5957
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
dem Kollegen Eckhart Lewering, SPD-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen liegt
heute ein Antrag der Koalitionsfraktionen vor, der vor-
sieht, das Wohnortprinzip bei Vereinbarungen über die
Gesamtvergütung für Ärzte und Zahnärzte in der ambu-
lanten Versorgung für alle Kassenarten verbindlich vor-
zuschreiben. Wir haben es hier mit einem Problem zu tun,
das aufgrund des bundesweiten Wettbewerbs der Kran-
kenkassen entstanden ist.
Durch den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen
ist es zu Verteilungsungerechtigkeiten gekommen. Die
Krankenkassen zahlen die Gelder für die Versorgung ih-
rer Versicherten durch die niedergelassenen Ärzte an de-
ren Kassenärztliche Vereinigungen. Die Kassenärztlichen
Vereinigungen wiederum bezahlen von diesem Geld die
Ärzte in ihrer Region. In diesem Betrag sind sowohl die
ärztlichen Leistungen enthalten als auch Kosten der nie-
dergelassenen Ärzte für Vorhaltung zum Beispiel von me-
dizinischem Gerät.
Durch den Wettbewerb und die Öffnung der Kranken-
kassen haben viele Kassen jetzt Mitglieder, die nicht in
der Region wohnen, in der die Kasse ihren Sitz hat. Das
wird zunehmend zu einem Problem. Nach wie vor erhält
in vielen Fällen die kassenärztliche Vereinigung, in deren
Region die Krankenkasse ihren Sitz hat, den größten Teil
des Honorartopfs dieser Krankenkasse. Lediglich über
den so genannten Fremdkassenausgleich erhalten andere
Kassenärztliche Vereinigungen einen teilweisen Aus-
gleich für die von ihren Ärzten erbrachten Leistungen.
Wir wollen und werden diese unbefriedigende Situa-
tion grundlegend bereinigen. Der Gesetzentwurf der Ko-
alition sieht vor, dass die Krankenkassen die Gesamtver-
gütungen an die Kassenärztlichen Vereinigungen zahlen
sollen, deren Ärzte ihre Versicherten behandeln. In Zu-
kunft werden ärztliche Leistungen und die Vorhaltekosten
also dort vergütet, wo sie anfallen. Von der Einführung
des Wohnortprinzips profitieren vor allem auch Ärzte in
den neuen Bundesländern, da viele ihrer Patienten bei
Krankenkassen versichert sind, deren Sitz in den alten
Bundesländern liegt. Mit dieser Regelung sorgen wir für
mehr Gerechtigkeit und für die Sicherung der ambulanten
Versorgung auch in Ostdeutschland. Wir verstehen die
Besorgnisse einiger Länder, deren Ärzte bislang Gelder
erhalten haben, die ihnen aber eigentlich aus Sicht der
Beitragszahler nicht zugestanden hätten.
Eine pauschale Erhöhung des Finanzierungsvolu-
mens für die ambulante ärztliche Versorgung ohne flan-
kierende Maßnahmen im Bereich der Ausgabensteuerung
und der Honorarverteilung würde weder in den alten noch
in den neuen Ländern einen substanziellen und nachhalti-
gen Beitrag zur Lösung der Finanzprobleme leisten kön-
nen. Diese Gelder würden die eigentlich beabsichtigten
Wirkungen verfehlen und wirkungslos versickern. Wir
setzen daher auf das Konzept der Bundesregierung, die
Gelder gezielt dahin zu leiten, wo die Leistungen erbracht
werden.
Nun einige Sätze zum vorliegenden Entwurf der
CDU/CSU-Fraktion: Mit ihrem heutigen Gesetzentwurf
ist die Opposition auf den schon fahrenden Zug einer Ge-
setzesinitiative der Bundesregierung und der sie tragen-
den Koalitionsfraktionen aufgesprungen.
Im Dezember vorigen Jahres haben wir den Antrag ge-
stellt. Das wissen Sie genau.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion entspricht
in seiner Zielsetzung und auch in seinen Maßnahmen in
weiten Teilen dem Gesetzentwurf der Koalition zum
Thema Wohnortprinzip bei Honorarvereinbarungen.
Es freut mich, dass daher für den Gesetzentwurf der Koali-
tion eine breite Mehrheit in diesem Hause zu erwarten ist.
Allerdings gibt es auch einige Mängel in diesem Ent-
wurf der CDU/CSU-Fraktion. Einige Punkte möchte ich
aufzeigen:
Erstens. Die Union fordert, die Umstellung auf das
Wohnortprinzip dürfe nicht zur Folge haben, dass die Mit-
tel für die ambulante ärztliche Vergütung einer Region
verringert werden.
Ich komme gleich dazu.
Zweitens. Die CDU/CSU möchte die Teilnahme der
gesetzlichen Krankenkassen an der neuen Regelung auf
die Fälle und KV-Bezirke beschränken, in denen die je-
weilige Kasse zumindest 1 000 Mitglieder hat.
Drittens. Die Beteiligungsrechte so genannter einstrah-
lender Krankenkassen sollen durch die Ermöglichung ei-
ner Mitgliedschaft in allen Landesverbänden der jeweili-
gen Kassenarten sichergestellt werden, innerhalb deren
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
16387
Region die jeweilige Kasse über mehr als 3 000 Mitglie-
der verfügt.
Hierzu ist Folgendes zu sagen:
Erstens. Die Forderung der Union, dass die Einführung
des Wohnortprinzips keinerlei finanzielle Veränderungen
mit sich bringen dürfe, ist unrealistisch und steht der be-
absichtigten Lenkungswirkung entgegen.
Zweitens. Die Beschränkung der Teilnahme der Kran-
kenkassen auf solche, die mindestens 1 000 Mitglieder
aufzuweisen haben, könnte sinnvoll sein, um die Proble-
matik geringer Vergütungspunktwerte bei zu kleinen
Gesamtvergütungen zu vermeiden. Dieses Problem ist
aber durch eine Änderung des § 85 Abs. 4 SGB V zu lö-
sen, die die bislang bereits geübte Praxis gesetzlich fest-
schreibt, wonach bei der Berechnung des Punktwertes
dieser nicht auf die einzelne Kasse, sondern auf die Kas-
senart zu beziehen ist.
Die von der Union vorgesehene Regelung würde zu-
dem eine Aufweichung des Wohnortprinzips bedeuten.
Das ist insoweit problematisch, als die vorgesehene
Grenze von 1 000 Versicherten nicht gerade eine kleine
Gruppe umfassen würde. Zudem bestünde das Problem,
dass bei besonderen Versorgungsverträgen ein Ausschluss
der Versicherten erfolgen würde, deren Kasse unter dieser
Mindestgrenze liegen würde. Ein weiteres Problem würde
der zu erbringende Verwaltungsaufwand darstellen. Alles
in allem spricht dies eher gegen die Übernahme der von
der Union vorgeschlagenen Regelung.
Drittens. Die Sicherstellung der Beteiligungsrechte der
Einstrahlerkassen durch eine Mitgliedschaft in den ent-
sprechenden Landesverbänden erscheint als ein gangba-
rer Weg. Eine Klärung dieser Frage sollte aber, wie es der
Entwurf der Bundesregierung vorsieht, dem jeweiligen
Bundesverband der Kassenart, also der Selbstverwaltung,
vorbehalten bleiben.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Union,
um die Unterstützung des Koalitionsentwurfs,
weil er der Intention auch Ihres Antrags entspricht. Es ist
von allergrößter Bedeutung, dass wir hier und heute ein
deutliches Zeichen setzen. Das sage ich auch als Abge-
ordneter aus den neuen Bundesländern, weil ich die Sor-
gen und Nöte der niedergelassenen Ärzte an meinem
Wohnort jeden Tag selber erleben kann.
Mein Dank geht daher auch an die Bundesregierung,
die es mit der gebotenen Sorgfalt geschafft hat, in kurzer
Zeit einen entsprechenden Gesetzentwurf auf den Weg zu
bringen. Ich bitte Sie daher in den Ausschüssen um die
Zustimmung zum Entwurf der Koalition.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Ulf Fink für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in verbun-
dener Debatte drei Gesetzentwürfe: unseren Gesetzent-
wurf zur Einführung des Wohnortprinzips, den
entsprechenden Gesetzentwurf der Regierungskoalition
mit freundlicher Formulierungshilfe der Bundesregierung
und einen Gesetzentwurf der Regierungskoalition zur
Neuregelung der Krankenkassenwahlrechte.
Bevor ich auf unseren Gesetzentwurf zur Einführung
des Wohnortprinzips eingehe, muss ich ein Wort zum Ge-
setzentwurf der Koalition zur Neuregelung der Kranken-
kassenwahlrechte sagen. Um es ganz klar und deutlich zu
sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein gesundheitspoliti-
scher Offenbarungseid.
Vor nicht allzu langer Zeit hat der Bundeskanzler er-
klärt, die Sozialdemokraten wollten eine zivile Bürgerge-
sellschaft, der Staat müsse sich auf seine eigentlichen
Aufgaben besinnen, man müsse den Menschen mehr zu-
trauen und ihnen mehr Möglichkeiten einräumen. Die
Wahrheit aber ist, dass gestern unter dem Vorsitz dessel-
ben Bundeskanzlers das Kabinett in einer Nacht-und-Ne-
bel-Aktion den Versicherten mit sofortiger Wirkung ver-
boten hat, die Krankenkasse zu wechseln.
Das ist nicht mehr Freiheit, sondern weniger Freiheit für
den mündigen Bürger. Darin spiegelt sich das Leitbild des
unmündigen Bürgers wider, wie jedermann erkennen kann.
Es war die Union, die in den 90er-Jahren dafür Sorge
getragen hat, dass die Versicherten mehr Freiheit bekom-
men haben, zum Beispiel die Freiheit, die Krankenkasse
zu wechseln.
Eine zukunftsgerichtete Sozial- und Gesundheitspolitik
räumt mehr Wahl- und Freiheitsrechte in den Sozial-
und Gesundheitssystemen ein. Wir haben es mit mündi-
gen Bürgern zu tun. Deshalb sollte man, wo immer es
geht, die Wahl- und Freiheitsrechte erweitern und nicht
abbauen. Ich sage in aller Deutlichkeit: Es wird für ein
solches Kassenwechselverbotsgesetz keine einzige
Stimme aus meiner Fraktion geben.
Die Regierungskoalition begründet ihren Gesetzent-
wurf damit, dass die Wettbewerbsbedingungen zwischen
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Eckhart Lewering
16388
den Krankenkassen unfair seien. An diesem Argument ist
auch wirklich etwas dran. Die richtige Antwort auf dieses
Problem aber hätte dann doch nur lauten können, für faire
Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Und das hätten Sie
längst tun können, zum Beispiel durch eine Reform des
Risikostrukturausgleichs.
In der letzten Legislaturperiode wurde der Auftrag er-
teilt, den Risikostrukturausgleich wissenschaftlich zu
überprüfen. Es war die rot-grüne Koalition, die diesen
Auftrag sofort nach dem Regierungswechsel kassiert hat
mit der Konsequenz, dass wir jetzt eben keinen refor-
mierten Risikostrukturausgleich haben. Das ist nicht die
Schuld der jetzigen Gesundheitsministerin, aber sie steht
in der Verantwortung der gesamten Regierungskoalition.
Es war die rot-grüne Regierungskoalition, die diesen Auf-
trag kassiert hat. Und es bleibt eben dabei, das Kassen-
wechselverbotsgesetz ist ein gesundheitspolitischer Offen-
barungseid.
Nun zu unserem Gesetzentwurf zur Einführung des
Wohnortprinzips bei den Vereinbarungen über die ärztli-
chen Gesamtvergütungen. Es ist, wie man auch den Aus-
führungen meines Vorredners entnehmen kann, ein ver-
hältnismäßig kompliziertes Thema. Allerdings hat dieses
Thema erhebliche Bedeutung für die ambulante ärztliche
Versorgung in Ostdeutschland. Die Betriebs- und In-
nungskrankenkassen um die geht es vor allem
schließen Verträge mit den Kassenärztlichen Vereinigun-
gen ab, wo diese ihren Sitz haben. Und dorthin fließen
dann auch die Kopfpauschalen. Im Wege des Fremdkas-
senausgleichs bekommen die Kassenärztlichen Vereini-
gungen, wo die Leistungen wirklich erbracht werden, nur
die tatsächlich erbrachten Leistungen bezahlt.
Das hört sich erst einmal vernünftig an. Aber bei die-
sen Kopfpauschalen gibt es eine Mischkalkulation. Des-
halb führt diese Zahlungsweise wegen der notwendigen
Mischkalkulation zu zu geringen Zahlungen für die Men-
schen und die Ärzte im Osten. Da die meisten Betriebs-
und Innungskrankenkassen ihren Sitz nicht in Ost-
deutschland, sondern in Westdeutschland haben, bedeutet
das, dass den ostdeutschen Kassenärztlichen Vereinigun-
gen Millionen D-Mark an Mitteln für die ambulante Ver-
sorgung fehlen. Das wollen wir mit unserem Gesetzent-
wurf verändern.
Nun, Kollege Lewering, haben wir in dieser Woche ein
Gespräch mit allen Vertretern der ostdeutschen Kas-
senärztlichen Vereinigungen gehabt, mit denen von
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen,
Thüringen, um nur einige zu nennen. In diesem Gespräch
ist uns die Dramatik der Situation der ambulanten Versor-
gung in Ostdeutschland noch einmal sehr nahe gebracht
worden. Wir erwägen deshalb, im Laufe der Gesetzge-
bungsarbeit auf folgende zwei Punkte ganz besonders ein-
zugehen und, wenn es Not tut, auch Änderungen an dem
Gesetzentwurf vorzunehmen.
Erstens. Wir haben bisher für das In-Kraft-Treten des
Gesetzes den Termin 1. Januar 2002 vorgesehen, so auch
der Gesetzentwurf der Regierungskoalition. In Anbe-
tracht der dramatischen Probleme, mit denen sich die
Ärzte in Ostdeutschland konfrontiert sehen, sollten wir,
wie ich meine, alles daran setzen, zu erreichen, dass das
Gesetz nicht erst im nächsten Jahr, sondern noch in die-
sem Jahr in Kraft tritt. Ich möchte darauf hinweisen, dass
in dem Antrag, den Sie im Dezember als Koalition an die
Regierung gestellt haben, auch Sie ausdrücklich gesagt
haben, Sie bitten die Regierung, dafür zu sorgen, dass
noch vor dem Jahre 2002 der Gesetzentwurf in Kraft tritt.
Das ist nun in Ihrem Entwurf auch nicht beinhaltet. Viel-
leicht könnten wir gemeinsam in der Gesetzgebungsarbeit
schauen, ob wir nicht doch ein früheres In-Kraft-Treten
erreichen können.
Zweitens. Wir sind bei der Formulierung unseres Ge-
setzentwurfes von der Annahme ausgegangen, dass das
Geld, das bisher für die ambulante Versorgung in West-
deutschland zur Verfügung gestellt wurde, etwa in dieser
Höhe auch für die ambulante Versorgung in Ostdeutsch-
land zur Verfügung gestellt wird. In dem Gespräch mit
den Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigungen Ost-
deutschlands ist uns aber verdeutlicht worden, dass dies
nicht der Fall ist.
Da niemand ein Interesse an einem neuerlichen Vertei-
lungskampf zwischen Ärzten in Ost- und in Westdeutsch-
land haben kann, sind wir bereit, zu prüfen, ob der Ge-
sichtspunkt der Kostenneutralität wirklich absoluten
Vorrang vor allen anderen Gesichtspunkten haben darf. Ich
will mit meiner Meinung gar nicht hinter dem Berg halten
ich denke, ich spreche hier auch für die meisten Kolle-
ginnen und Kollegen aus meiner Fraktion : Der Zustand,
dass die Ärzte in Ostdeutschland mit häufigeren Kranken-
hausaufenthalten und schwereren Erkrankungen der ost-
deutschen Bevölkerung konfrontiert sind, sie aber nur
77 Prozent dessen bekommen, was den Ärzten in West-
deutschland für die ambulante Versorgung zur Verfügung
gestellt wird, ist nicht länger hinnehmbar. Das gilt zumal,
wenn man bedenkt, dass die Vergütung zum Beispiel im
öffentlichen Dienst bei 88,5 Prozent und im nächsten Jahr
sogar bei 90 Prozent liegen wird. Wenn da nicht schleu-
nigst Entscheidendes geschieht, droht die Gefahr, dass die
ambulante Versorgung in Ostdeutschland nicht mehr
gewährleistet ist. Schon jetzt verursacht es große Pro-
bleme, im flachen Land davon gibt es, lieber Kollege
Lewering, in Ostdeutschland eine ganze Menge die ord-
nungsgemäße medizinische Versorgung zu garantieren.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass der Gesetzent-
wurf zur Einführung des Wohnortprinzips nur ein be-
scheidener Schritt auf dem Wege zu einer Verbesserung
dieser Verhältnisse ist. Einen entscheidenden Schritt
könnten wir tun, wenn die Regierungskoalition endlich
unserer Forderung Rechnung tragen würde und mit der
verfehlten Politik der Budgetierung endlich Schluss
machte.
Die Budgetierung ist ein gesundheits- und finanzpolitisch
verfehlter Ansatz und trifft insbesondere die Menschen in
Ostdeutschland.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ulf Fink
16389
Wann endlich sieht die rot-grüne Koalition auch Frau
Schmidt-Zadel die simple Tatsache ein, dass man nur
dann, wenn man auch Krankheiten budgetieren kann,
auch die Finanzierung budgetieren kann?
Solange man das nicht kann, gibt es nur eine Antwort:
Weg mit den Budgets!
Cato pflegte seine Reden im Senat von Rom mit dem
Satz zu beenden: Ceterum censeo Carthaginem esse de-
lendam.
Wir im Deutschen Bundestag sollten es uns zur Gewohnheit
machen, die gesundheitspolitischen Debatten mit dem Satz
zu beenden: Ceterum censeo, die Budgets müssen weg.
Man ist ja
geneigt, mit anderen lateinischen Sprüchen zu antworten.
Ich will mir das ersparen, aber doch auf eines hinweisen:
Et respice finem. Das passt nämlich, da sich die Fraktio-
nen bezüglich der Tagesordnungspunkte 13 und 14 ver-
ständigt haben, die Reden zu Protokoll zu geben. Bei den
Tagesordnungspunkten 11 und 12 wird noch über einige
Reden verhandelt.
Jetzt gebe ich das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen an die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
warte ich, dass Sie auch den deutschen Ausdruck Bud-
gets ins Lateinische übersetzen, wenn Sie Ihr Ceterum
censeo anbringen. Das Gute an den Reden von Cato ist ja
gewesen, dass sie etwas leidenschaftlicher waren. Um
diese Tageszeit wird uns allen das nicht so gut gelingen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir sprechen heute
hier über die Einführung des Wohnortprinzips. Die Kolle-
gen Lewering und Fink haben ausgeführt, wie wichtig es
gerade für die Situation im Osten Deutschlands ist, damit
Schluss zu machen, dass die Vergütung dort um Millionen-
beträge niedriger ausfällt. Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf kommen wir einen wesentlichen nicht nur einen
kleinen Schritt bei der Frage weiter, wie hier eine An-
gleichung erreicht werden kann. Wir haben hier sehr lange
eine Ungerechtigkeit zugelassen, die wir jetzt beenden.
Ich bin sehr froh, dass wir in der Sache offensichtlich
an einem Strang ziehen. Wir werden in den Ausschussbe-
ratungen über die einzelnen Fragen zu reden haben. Ihren
Vorschlag, Herr Fink, über den Zeitpunkt des In-Kraft-
Tretens dieses Gesetzes zu reden, finde ich ehrenhaft. Ich
fürchte jedoch, er ist nur sehr schwer praktikabel. Weni-
ger ehrenhaft, obwohl sehr verständlich, finde ich aller-
dings, dass Sie hier gesagt haben, dass man möglicher-
weise das Ziel der Kostenneutralität aufgeben müsse.
Leider haben Sie an dieser Stelle nicht gesagt, woher das
Geld kommen soll, wenn wir das nicht kostenneutral ma-
chen. Ich denke, das müsste dann zumindest Gegenstand
seriöser Beratungen sein, damit wir Ihre Vorstellungen
dazu erfahren.
Ich glaube, dass das Wohnortprinzip vor allen Dingen
die Vertragsgestaltungsmöglichkeiten in den Regionen, in
denen die Krankenkasse nicht vertreten ist, deutlich voran-
bringt. Die Versorgungs- und Vergütungsstrukturen werden
mit regionalen Vereinbarungen um eine Dimension erwei-
tert und damit auch weiterentwickelt. Damit wird am Ende
das trifft nicht nur auf Ostdeutschland zu den spezifi-
schen Erfordernissen einer Region Rechnung getragen. Ich
bin sehr froh, dass wir dieses Prinzip einführen.
Nun möchte ich zu der Frage der Kassenwahlrechte
kommen. Lieber Kollege Fink, der Gesetzentwurf, den
das Kabinett verabschiedet hat und der heute hier einge-
bracht wird, ist alles andere als eine Verhinderungsstrate-
gie, alles andere als eine Einschränkung.
Wenn Sie sich die Substanz dieses Entwurfs anschauen,
dann erfahren Sie zunächst einmal, dass die Versicherten
mehr und nicht weniger Möglichkeiten bekommen, ins-
besondere vor dem Hintergrund der zentralen Frage, wie
in der gesetzlichen Krankenversicherung künftig die So-
lidarität formuliert wird.
Wir sind uns einig darüber, dass wir diese Frage erst
mit einem konsequenten Risikostrukturausgleich beant-
worten werden. Herr Fink, der Vorwurf, den Sie vorge-
bracht haben, dass hier Zeit vertan worden sei, ist schlicht
falsch. Wir haben in den letzten zwei Jahren intensiv an
der Frage gearbeitet, wie der Risikostrukturausgleich um-
zugestalten ist. Ich denke, wir sind jetzt auf einem guten
Weg. Aber dieser Weg bedeutet auch das haben uns alle
Beteiligten immer wieder gesagt , dass man unmittelbar
Maßnahmen ergreifen muss und nicht mehr nur auf län-
gerfristige und endgültige Lösungen warten kann. Des-
wegen ist es nicht nur legitim und sinnvoll, mit diesem
ersten Schritt deutlich zu machen, in welche Richtung es
gehen soll, sondern es erweitert auch die Möglichkeiten
der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Es erweitert die Möglichkeiten, weil durch diese neue
Regelung zu jedem Termin gekündigt werden kann. Bis-
her haben alle auf den 30. September geschaut wie das
Kaninchen auf die Schlange. Dadurch hatten die Versi-
cherten nicht die Möglichkeit der freien Entscheidung.
Bei der Wahl der Krankenkasse hat im Wesentlichen die
Höhe der Beitragssätze eine Rolle gespielt.
Dabei war immer auch ein kleines bisschen Panik im
Spiel nach dem Motto: Wenn ich diesen Termin verpasse,
kann ich nicht mehr wechseln.
Wenn nun die Möglichkeit besteht, jederzeit zu wech-
seln, wird das natürlich auch dazu führen, dass man sich
genauer überlegt, was man tut. Da werden viel mehr die
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ulf Fink
16390
Fragen eine Rolle spielen: Welche Qualität haben Be-
ratung und Service, welche Präventionsangebote gibt es
in dieser Krankenkasse? Es wird keine Panikattacken auf-
grund des bevorstehenden 30. Septembers mehr geben.
Wir haben auch nicht außer Kraft gesetzt, dass man
innerhalb einer relativ kurzen und verträglichen Zeit es
geht um nicht mehr als einen Aufschub von drei Mona-
ten die Krankenkasse wechseln kann, auch unmittelbar.
Und wir haben gesagt: Wenn wir ein solches flexibles
Recht einführen, dann muss das im Gegenzug natürlich
auch bedeuten, dass man etwas länger an eine Kasse ge-
bunden ist; das ist nur legitim. Dazu kommt aus meiner
Sicht zu Recht die Tatsache, dass die Versicherten in die-
sem Jahr selbstverständlich ein Sonderkündigungsrecht
haben, wenn die Beiträge in einer Krankenkasse erhöht
werden. Wir werden uns in den Ausschussberatungen
dafür einsetzen, dass diese Regelung über das erste Jahr
hinaus gilt. Denn angesichts dessen, was wir über Solida-
rität gesagt haben und was aus meiner Sicht auch über-
haupt nicht außer Kraft gesetzt wird, muss man die Mög-
lichkeit haben, aus dem Vertrag auszusteigen, wenn einer
der Vertragspartner die Bedingungen ändert.
Frau Kolle-
gin Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lohmann?
Habe ich richtig verstanden, dass Sie eben gesagt haben,
es ginge so gut wie ausschließlich darum, den Versicher-
ten ihre Unsicherheit zu nehmen und das Stieren auf den
30. September bzw. 1. Januar dadurch zu beseitigen, dass
man nunmehr jederzeit kündigen könne? Habe ich da-
rüber hinaus richtig verstanden, dass es in dem Gesetz-
entwurf eigentlich darum geht, dass man nach neuem
Recht zwar nicht mehr zum 31. Dezember, sondern am
15. Januar zum 28. Februar also mit einer Frist von sechs
Wochen kündigen kann, gleichzeitig aber 18 Monate ge-
bunden ist? Nach altem Recht könnte er jetzt kündigen,
aber durchaus unter Geltung des neuen Rechts später
erneut die Kasse wechseln.
zum 28. Februar machen.
Dann ist er für 18 Monate gebunden; nach dem alten
Recht wäre er für 15 Monate gebunden. Ich glaube, die-
ser Unterschied ist nicht so groß. Ich denke, das ist ganz
einfach ein Ausgleich der Interessen. Wir machen dieses
Gesetz, mit dessen Beschreibung ich in meiner Rede noch
nicht zu Ende war
Sie können sich gerne setzen , weil die Möglichkeit des
Kassenwechsels dazu geführt hat, dass es zu einer Flucht
in die billigen Betriebskrankenkassen und in die anderen
kleineren Kassen gekommen ist, die hinsichtlich der Bei-
tragssätze Angebote gemacht haben, die unter anderem
dadurch gerechtfertigt waren, dass vor allem junge und
gesunde Menschen in diese Kassen gewechselt sind. Vor
dem Hintergrund dieses Interessenausgleiches ist es ge-
rechtfertigt, länger an einen Vertrag gebunden zu sein.
Natürlich haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass wir
für dieses Jahr eine Einschränkung vornehmen; darum
muss man nicht herumreden. Die Frage ist doch nur, ob
diese Einschränkung vertretbar ist oder nicht. Ich persön-
lich halte sie für durchaus vertretbar, gerade weil es mög-
lich ist, aus dem Vertrag herauszukommen, wenn sich die
Bedingungen ändern sollten. Es ist wichtig, dass wir da-
mit meine ich uns alle dabei nicht vergessen, die Dinge
anzugehen, die tatsächlich in Richtung Risikostrukturaus-
gleich führen. Dazu brauchen wir transparente Struktu-
ren; dazu brauchen wir die entsprechenden Daten; und
dazu brauchen wir ganz einfach auch noch etwas Zeit. Ich
denke, diese Zeit können wir angesichts dieser vorläufi-
gen Regelung sinnvoll nutzen.
Sie wissen, dass die Grünen-Fraktion in diesem Zu-
sammenhang Schwierigkeiten mit einer anderen Rege-
lung hat, und zwar der der Mindestbeitragssätze. Auch
über diesen Punkt gilt es in den weiteren Verfahren noch
zu diskutieren. Das Wesentliche wird aber sein, dass wir
zu einem Verfahren kommen, in dem es tatsächlich um ei-
nen Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen und um
fairen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, Ein-
kommensschwachen und -starken, Jungen und Alten geht,
also um einen Wettbewerb um die Qualität bei der Ver-
sorgung, bei der Beratung und bei den präventiven Leis-
tungen.
Ich denke, dass wir auf einem vernünftigen und guten
Weg sind. Ich hoffe, dass wir bei dem schwierigen Prozess
hin zum Risikostrukturausgleich an einem Strang ziehen
und in konstruktive Beratung eintreten ohne am Ende
Karthago zerstören zu wollen.
Für die
Fraktion der F.D.P. spricht der Kollege Detlef Parr.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Ministerin, auch wenn Gesetzeslücken
dringend geschlossen werden müssen: Die handstreich-
artige Versagung einer Kündigungsmöglichkeit für die
Pflichtversicherten haben viele als schlechten Stil emp-
funden. Dieses Verhalten passt einfach nicht zu Konsens-
runden. Es zeigt vielmehr: Wenn es ernst wird, bleibt of-
fensichtlich vieles beim Alten.
Auch wenn Sie nun endlich, wie Ihre gesundheits-
politische Sprecherin, Frau Schmidt-Zadel, vorsichtig
richtig formuliert hat, den nicht intelligenten Arznei- und
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Katrin Göring-Eckardt
16391
Heilmittelbudgets ein Ende bereiten und die verfassungs-
rechtlich ohnehin nicht haltbare Kollektivhaftung außer
Kraft setzen wollen, fehlt nach wie vor eine konsistente
Politik, die den richtigen Rahmen für mehr Wettbewerb,
Wahlmöglichkeiten und Eigenverantwortung setzt.
Hoffnungen werden geweckt und teilweise auch erfüllt,
wie jetzt bei den Budgets. Wir begrüßen diese Entschei-
dung.
Nahezu gleichzeitig fallen Sie aber wieder in alte
Denkmuster zurück. Dabei sind wir uns doch eigentlich
einig: Es ist zu begrüßen, dass für Pflichtversicherte der
einmalige Kündigungstermin zum 30. September, der
dann zu Beginn des Folgejahres in Kraft tritt, aufgehoben
wird. Auch die Änderung des Prinzips bei Honorarver-
einbarungen für Ärzte und Zahnärzte ist richtig und not-
wendig. Auch nach unserer Ansicht sollen zukünftig zwi-
schen einer Kassenärztlichen Vereinigung und dem
zuständigen Landesverband einer Krankenkassenart Ver-
einbarungen über die Versorgung sämtlicher Mitglieder
dieser Kassenart getroffen werden.
Aber, Frau Schmidt-Zadel, gut gemeint ist noch nicht
wohl gelungen. Zur Lösung der durch Ihre bis heute starr-
köpfige Budgetpolitik entstandenen Probleme auch beim
Fremdkassenausgleich bedarf es aus unserer Sicht drin-
gend dreier Punkte: erstens einer verlässlichen Planung
durch feste Punktwerte statt Kopfpauschalen, zweitens ei-
nes unbürokratischen Verfahrens und drittens vor allem
einer Übergangsregelung, mit der die Vergütungen im
Osten schrittweise an das Westniveau herangeführt wer-
den können.
Es geht nicht an, dass die Folgen einer falschen Politik
auf dem Rücken der Ärzte im Westen beseitigt werden.
Eine bloße Umverteilung zulasten dieser Ärzte tragen wir
nicht mit.
Deshalb wird unsere Fraktion in der nächsten Woche
einen eigenen Gesetzentwurf einbringen, sodass wir
dann, Herr Kollege Fink, über vier Entwürfe diskutieren
können. Kernpunkte sind: Erstens. Die Vergütung im
Westen bleibt unangetastet. Zweitens. Eine Anhebung im
Osten erfolgt schrittweise innerhalb der nächsten drei
Jahre.
Dabei müssen wir darüber nachdenken, ob man nicht die
Regelung aufhebt, dass Mehreinnahmen aus dem Risiko-
strukturausgleich in den neuen Bundesländern nicht zur
Finanzierung höherer Vergütungen herangezogen werden
dürfen.
Sehr wichtig ist, dass wir der Ärzteschaft endlich Pla-
nungssicherheit geben. Feste Punktwerte sollten unseres
Erachtens nach ab dem 1. Januar 2002 vereinbart werden,
die ab einer bestimmten Leistungsmenge abgestaffelt
werden können, wie es auch die Union fordert.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Situation in
den neuen Bundesländern betrachten, stellen wir fest,
dass in Brandenburg längst die Alarmglocken läuten. Für
frei werdende Arztpraxen finden sich kaum noch
Nachfolger. Ein Versorgungsnotstand ist bereits jetzt ab-
zusehen.
Das hat viele Ursachen, Frau Kollegin Fuchs. Aber das
hängt auch mit den Dingen zusammen, über die wir hier
diskutieren. Deshalb müssen wir gerade für die Ärzte im
Osten Deutschlands Perspektiven für die Zukunft schaf-
fen, die kalkulierbar und berechenbar sind. Wir dürfen
auch die Bevölkerung dort nicht im Stich lassen, da sie un-
ter weiteren Einschränkungen sehr zu leiden hätte.
Mit festen Punktwerten kann dann auf zahlreiche
Sonderreglementierungen verzichtet werden. Der Fremd-
kassenausgleich wird auf seine eigentliche Funktion
zurückgeführt, nämlich für diejenigen da zu sein, die
ausnahmsweise außerhalb ihres Wohnortes eine ärztliche
Betreuung brauchen.
Nun zu den Krankenkassenwahlrechten. Diese Neu-
regelung schießt aus unserer Sicht weit über das Ziel hi-
naus. Für uns ist nicht akzeptabel, dass Versicherte, die
ihre Kasse wechseln, zukünftig für 18 Monate an dieses
Versicherungsverhältnis gebunden sein sollen. Lässt zwi-
schenzeitlich der Service einer Krankenkasse nach oder
werden dem Versicherten in bestimmten Antragsver-
fahren, zum Beispiel dann, wenn er eine Rehabilitation
benötigt, permanent Steine in den Weg gelegt, dann kann
er sich erst nach anderthalb Jahren wieder umentscheiden;
es sei denn, zwischendurch werden die Beiträge erhöht.
Das beschneidet unserer Auffassung nach die Wahlmög-
lichkeit in einer unangemessenen Weise.
Insgesamt verfestigt sich für uns damit der Eindruck,
dass diese Bundesregierung alles will, nur keinen Wettbe-
werb. Sie tut alles, um diesen nachhaltig zu unterbinden.
Mit den angekündigten Änderungen zum Risikostruk-
turausgleich und dem dort vorgesehenen Mindestbei-
tragssatz wird ein weiterer Pflock in Richtung Zerstörung
des Wettbewerbs eingeschlagen. Dies alles unter dem
Deckmantel zu verkaufen, man wolle den Wettbewerb ef-
fizienter gestalten, ist nicht akzeptabel. Damit setzen Sie,
Frau Ministerin, aus unserer Sicht fort, was Ihre Vorgän-
gerin Andrea Fischer begonnen hat, nämlich einer
falschen Politik wohlklingende Etiketten aufzukleben.
Runde Tische helfen hier nur bedingt weiter. Gefragt
ist vielmehr eine schlüssige Politik, eine Politik, die den
Wettbewerb tatsächlich als Instrument zur Reduzierung
der Kosten und zur Findung der besten Lösungen nutzt.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Detlef Parr
16392
Wir finden es erschreckend, dass und wie versucht wird,
Konsensrunden als Ersatz für konsequentes politisches
Handeln anzubieten.
Wer diese Runden dazu nutzt, eine Kassenart zu erpres-
sen, der dann offensichtlich nichts anderes übrig bleibt,
als dem Mindestbeitrag zuzustimmen, der mag sich kurz-
fristig im Lichte der Harmonie sonnen.
Auf Dauer wird, Frau Schmidt-Zadel, ein solches Vorge-
hen jedoch nicht funktionieren, weil es eine Politik gegen
die Versicherten und gegen die Patienten ist. Dies werden
diejenigen merken, die betroffen sind, nämlich die Bürger
im Lande.
Wir freuen uns auf die Beratungen aller Gesetzent-
würfe im Ausschuss.
Danke.
Nun gebe
ich der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Mit den Gesetzentwürfen von Regierung,
CDU und CSU soll bei den Honorarverhandlungen zwi-
schen Kassen und Vertragsärzten das Wohnortprinzip ver-
bindlich für alle Kassenarten eingeführt werden. Das be-
grüßen wir.
Denn im Ergebnis des zunehmenden Wechsels von
Versicherten vor allem zu Betriebskrankenkassen benach-
teiligt das Verfahren nach dem Kassensitz genau jene
Ärzte, die BKK-Versicherte behandeln, deren Kasse sich
in einem anderen Bundesland befindet, also nicht in ihrer
KV-Region.
Vor allem die Ärzte in den neuen Bundesländern mussten
dadurch zusätzliche finanzielle Benachteiligungen hin-
nehmen. Ärztliche Vergütungen müssen ungeschmälert
dort ankommen, wo die Menschen leben und wo sie me-
dizinisch versorgt werden.
Das angestrebte Ziel einer regional leistungsgerechteren
Verteilung der ärztlichen Honorare verdient deshalb un-
sere volle Unterstützung.
Wir sind weiter der Auffassung, dass Vertragsver-
handlungen zwischen den Kassenärztlichen Vereinigun-
gen und den zugehörigen Landesverbänden der Kassen
günstigere Voraussetzungen schaffen, um auf spezifische
Versorgungsnotwendigkeiten eingehen zu können. Aller-
dings reichen die regional zu erwartenden Honorarzu-
wächse keineswegs aus, um den Rückstand bei der Ver-
gütung der Ärzte in den neuen Bundesländern auch nur
annähernd auszugleichen. Auch das Vorhaben einer wei-
teren Anhebung der privaten Honorarsätze hilft da wenig,
denn der Anteil der Privatversicherten in den neuen Bun-
desländern ist vergleichsweise gering und wird auch in
Zukunft nicht steigen.
Meine Damen und Herren, der akute Handlungsbedarf
in den neuen Bundesländern wird auch nach diesen Re-
gelungen leider weiter bestehen. Mit anderen Worten: Für
das berechtigte Anliegen, die Vergütung der niedergelas-
senen Ärzte im Osten Schritt für Schritt auf das Niveau ih-
rer Kollegen im Westen anzuheben, bleibt die Regierung
weiter in der Pflicht.
An geeigneten Lösungsmöglichkeiten mangelt es
nicht. Erst vor kurzem haben Ihnen, Frau Ministerin, die
Gesundheitsminister des SPD-regierten Landes Sachsen-
Anhalt und des CDU-geführten Landes Sachsen im Na-
men aller Gesundheitsminister der neuen Bundesländer
geschrieben und einen praktikablen Vorschlag unterbrei-
tet. Im Ergebnis einer Änderung des § 85 SGB V läuft er
auf eine von den Selbstverwaltungen der Krankenkassen
und der Kassenärztlichen Vereinigungen zu vereinba-
rende Erhöhung der ärztlichen Vergütung von maximal
5 Prozent für die Jahre 2001 und 2002 hinaus. Wir unter-
stützen diesen Vorschlag und fordern die Bundesregie-
rung auf, ihn nicht nur aufzugreifen, sondern so rasch wie
möglich umzusetzen.
Auf die Frage, wie das Ganze zu finanzieren ist, ist zu
antworten: Das Ganze ist finanzierbar. Die benötigten
Mittel könnten durch eine deutlich wirksame Anpas-
sungsregelung bei den Arzneimittelfestbeträgen gewon-
nen werden, beispielsweise auch dadurch, dass die Regie-
rung die Kassenbeiträge der Arbeitslosenhilfebezieher
wieder auf das ursprüngliche Niveau anhebt. Mit Letzte-
rem könnte sie ihren ohnehin unverantwortlichen Griff in
das Einnahmeaufkommen der Kassen sogar wieder rück-
gängig machen.
Nun zur Veränderung des Kassenwahlrechts. Wir
denken, die Reform des Risikostrukturausgleichs duldet
keinen Aufschub. Wenn alles so bleibt, wie es ist, wird die
GKV in kurzer Zeit in immer preisgünstigere Kassen für
junge und gesunde und in immer teurere für ältere und
kranke Menschen zerfallen. Gleichzeitig werden der GKV
zunehmend Mittel entzogen, die für den Solidarausgleich
dringend benötigt werden. Das ist schon heute Entsolida-
risierung in Reinkultur und wäre früher oder später das
Aus für ein sozial gerechtes Gesundheitswesen.
Deshalb begrüßen wir, dass die Regierung mit dem Ge-
setzentwurf zur Neuregelung der Kassenwahlrechte
zu handeln beginnt.
Werter Herr Kollege Fink, wer jetzt Krokodilstränen
über eine vermeintliche Einschränkung der Kündigungs-
rechte der Pflichtversicherten vergießt, muss sich den
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Detlef Parr
16393
Vorwurf gefallen lassen, den Versicherten etwas Falsches
zu erzählen.
Erstens hat sich der ökonomische Wettbewerb der
Krankenkassen um Mitglieder und eben nicht um Qualität
schon nach wenigen Jahren als zweischneidiges Schwert
erwiesen.
Zweitens werden die Rechte der Pflichtversicherten,
die Kasse zu wechseln, keinesfalls beschnitten, sondern
am Ende sogar erweitert. Ich kann in dem Gesetz ein Kas-
senwechselverbot nicht erkennen. Ich sehe nur eine
Terminverschiebung und die Bindung auf 18 Monate. Ich
glaube, viele Menschen verstehen, dass dies gerade zum
Schutz und zur Stärkung des Solidargedankens nötig ist.
Für uns ist es bei allen Organisationsreformen, die bei
Krankenkassen vorgenommen werden, die Stärkung des
Solidargedankens entscheidend. Er hat höchste Priorität
und ist ein zentrales Element einer sozial gerechten Ge-
sundheitsversorgung. Wir werden diesem Gesetz zustim-
men.
Ich danke Ihnen.
Als
nächster Redner hat der Kollege Götz-Peter Lohmann von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Um es vorwegzuschicken: Auch ich begrüße diese Ge-
setzentwürfe sehr. Ich möchte mich insbesondere zum
Wohnortprinzip und zum Fremdkassenausgleich äußern.
Ich habe viele Veranstaltungen in meinem Bundesland
und auch in einigen anderen ostdeutschen Bundesländern
durchgeführt. Immer wieder kam der Vorwurf der Unge-
rechtigkeit
in Sachen Wohnortprinzip. In den zweidreiviertel Jahren
meiner Zugehörigkeit zum Gesundheitsausschuss habe
ich gelernt, dass man vielleicht manchen Ärzten nicht al-
les glauben und ihnen nicht alle Vorwürfe abnehmen darf.
Ich hatte aber immer, wenn es um das Wohnortprinzip
ging, den Eindruck, dass diese Vorwürfe in gewisser
Weise berechtigt waren.
Ich möchte das, was zu den vorliegenden Gesetzent-
würfen bereits gesagt wurde, nicht wiederholen. Gestat-
ten Sie mir aber einige dezidierte Hinweise und Meinun-
gen.
Der jetzt zur parlamentarischen Beratung vorgelegte
Gesetzentwurf über die Verbindlichkeit des Wohnortprin-
zips bei der Zuweisung der Kopfpauschalen in der ambu-
lanten vertragsärztlichen Versorgung trägt dazu bei, dass
viele bundesweit agierenden Betriebskrankenkassen mit
Sitz in den alten Bundesländern endlich gezwungen wer-
den, Gelder, die im Osten Deutschlands erwirtschaftet
wurden und werden, auch im Osten Deutschlands für die
vertragsärztliche Versorgung auszugeben.
Bis jetzt wurden das ist streng genommen ein uner-
träglicher Zustand die Punktwerte für die Vergütung
vertragsärztlicher Leistungen in den alten Bundesländern
durch im Osten erwirtschaftete Löhne subventioniert.
Nicht unerheblich so sehe ich das jedenfalls ist auch
folgender Punkt. Da von der Neuregelung auch Pendler
erfasst werden, sind neben den bundesweit agierenden
Betriebskrankenkassen in einem geringeren Umfang zu
Recht auch einige Orts- und Innungskrankenkassen be-
troffen.
Warum ist das so wichtig? Das Gesetz geht nicht zulas-
ten der Beiträge der Versicherten und damit der Beitrags-
satzstabilität. Das ist auch nicht notwendig, zumal gar
nicht einzusehen ist, warum ein Arzt in den alten Bundes-
ländern für die gleiche Leistung wesentlich mehr als ein
Arzt aus den neuen Bundesländern erhalten soll. Ich sage
das nicht, um eine Neiddebatte auszulösen. Von mir aus
können sie ruhig etwas mehr bekommen, aber nicht der-
art viel, wie es zurzeit der Fall ist. Dies gibt es derzeit so-
gar bei ein und derselben Kasse, wenn mit der für den Ver-
tragsabschluss zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung
in rechtswidriger Weise so könnte man das auch sehen;
manche Juristen sehen das so unterschiedlich hohe
Kopfpauschalen je nach Wohnsitz der Versicherten ver-
einbart werden. Auch diesem unwürdigen Treiben wollen
wir mithilfe unseres Gesetzentwurfes einen Riegel vor-
schieben.
Wir finden es auch richtig, dass die für die Vertrags-
verhandlungen jetzt zu ermittelnden Kopfpauschalen auf
die Versicherten und nicht auf die Mitglieder bezogen
werden. Warum ist das richtig? Dies ist allein schon des-
halb richtig, weil es auch bei der ärztlichen Behandlung
keinen Unterschied zwischen Versicherten und Mitglie-
dern gibt. Dabei ist es allerdings schon aus Gründen der
Rechtsklarheit erforderlich, dass alle mitversicherten Fa-
milienangehörigen dem Wohnsitz des versicherten Mit-
glieds zugerechnet werden.
Ich habe mir die Mühe gemacht und einmal für mein
Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ein rechneri-
sches Beispiel zu erarbeiten versucht. In Bezug auf die
finanziellen Folgen des Gesetzes gehen wir davon aus,
dass in Mecklenburg-Vorpommern etwa 15 Prozent der
Versicherten von der Neuregelung betroffen sein werden.
Die für diese Versicherten an die Kassenärztliche Vereini-
gung geleisteten Zahlungen werden vermutlich um rund
20 Prozent ansteigen. Das macht in Mecklenburg-Vor-
pommern real etwa 25 Millionen DM im Jahr oder etwa
3 Prozent der Gesamtvergütung aus.
Entsprechend niedriger fällt in absoluten Zahlen die
Vergütung der Ärzte in Westdeutschland aus. Dies findet
unsere Zustimmung, da niemand einen Anspruch darauf
hat, dass ungerechtfertigte Subventionen weitergezahlt
werden. Deshalb ist es nicht notwendig, auf andere Weise
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Ruth Fuchs
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die von diesem Gesetz bewirkten Mehrausgaben zu
decken.
Ich stimme der Kollegin Fuchs und dem Kollegen Fink
insofern zu, als es trotz dieser von mir genannten positiven
Erwartungen keinen Grund für Euphorie gibt. Es gibt noch
ausreichend Probleme. Ich möchte, sehr geehrte Frau Mi-
nisterin, auf den Brief der Ministerin Kuppe und des Minis-
ters Geisler hinweisen, die im Namen aller fünf Gesund-
heitsminister der ostdeutschen Bundesländer auf einige
Probleme aufmerksam machen. Ich möchte auch auf den
§ 85 Abs. 3 b SGB V hinweisen, wonach Möglichkeiten be-
stehen, zugunsten des Vergütungsniveaus der ambulanten
vertragsärztlichen Versorgung in den ostdeutschen Bun-
desländern Anregungen zu geben und zu handeln.
Mir persönlich machen insbesondere die erwähnten
Strukturprobleme Sorge. Es gibt in der Tat nicht in vielen,
aber in einigen der ostdeutschen Landstriche große Pro-
bleme, die hausärztliche Versorgung aufrechtzuerhal-
ten, vor allem in der Perspektive. Aber wir sind darüber
im Gespräch und haben einiges in Arbeit. Ich hoffe, dass
uns auch dies wiederum gelingen möge.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Aribert Wolf von der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Zu dieser späten Stunde erle-
ben wir in der Gesundheitspolitik Erstaunliches. Dinge
außerhalb des Parlaments hängen mit dem zusammen, was
wir innerhalb des Parlaments diskutieren. Deshalb lassen
Sie mich auf das eingehen, was heute außerhalb des Parla-
ments stattgefunden hat. Es ist interessant, dass die Bundes-
regierung heute endlich das Scheitern der rot-grünen Regle-
mentierungs- und Budgetierungspolitik eingestanden hat.
Denn diese Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der das zum Gegenstand hat, was Sie früher, als
wir es hier vertreten haben, heftig bekämpften, nämlich
im Arzneimittelbereich die Budgets abzuschaffen. All
das, was früher Inhalt rot-grüner Politik war, wird jetzt
rückwirkend abgeschafft, und zwar bis zum Jahr 1999.
Lesen Sie es nach! Sie wissen offensichtlich nicht, was
Ihre Regierung in die Gesetze schreibt. Es werden alle Re-
gresse ausgesetzt, einschließlich derer, die aus dem Jahr
1999 stammen.
Lassen Sie mich dazu drei Bemerkungen machen. Ers-
tens. Die Bundesregierung erklärt offiziell: Die rot-grüne
Gesundheitspolitik der letzten Jahre ist kläglich geschei-
tert. Man muss neue Wege gehen. Man ist bisher gründ-
lich an die Wand gefahren.
Zweitens. Dies ist für die Regierungskoalition eine
schallende Ohrfeige in Sachen politischer Glaubwürdig-
keit. Was Sie 1999 noch als die große Kehrtwende in der
Gesundheitspolitik gefeiert haben, nämlich die Ein-
führung der Budgets, schaffen Sie jetzt wieder ab: still
und leise, heimlich einkassiert, vorbereitet in etlichen Ge-
sprächen an so genannten runden Tischen. Darüber hinaus
klatschen Sie noch heftig Beifall zu dem, was Sie vor
kurzem im Parlament an Forderungen aus der Opposition
beschimpft und niedergeschrien haben.
Drittens. Sie beweisen damit das finde ich in der Ge-
sundheitspolitik besonders interessant , dass Sie in der
Tat keinen inneren Wertekompass, keine politische Ge-
samtschau und keine klare Linie haben.
Das ist genau wie in anderen Politikbereichen: heute so,
morgen anders und übermorgen wieder anders. Gleiches
gilt bei der Rente mit der Kanzlerlüge, dem vertagten
Atomausstieg, den Castortransporten und den Kampf-
einsätzen der Bundeswehr im Ausland.
Was noch gestern hoch gehaltene rot-grüne Position war,
wird heute über Bord geworfen und morgen wird wieder
eine andere Richtung eingeschlagen.
Auch in der Gesundheitspolitik wird dies auf Dauer
nicht gut gehen. Das, was Sie heute machen, ist Stück-
werk. Sie legen kein Gesamtkonzept vor. Sie bauen kein
Gesamtgebäude, in dem Baustein für Baustein eingefügt
wird. Das schaffen Sie jetzt nicht und erst recht nicht vor
den Wahlen. Sie verzetteln sich in Einzelmaßnahmen und
Einzelgesetzen.
Fragen Sie sich einmal ehrlich: Was ist bei Ihrer Ge-
sundheitspolitik für die Betroffenen und die chronisch
Kranken herausgekommen, seit es Rot-Grün gibt?
In der Tat nur Nachteile. Die chronisch Kranken
müssen beim Arzt um Verordnungen betteln, weil die
Ärzte Angst haben, dass ein solch Kranker ihr Budget
sprengt.
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen stehen unter
dem rot-grünen Budgetdruck mit täglich wachsenden Ver-
teilungsungerechtigkeiten. Für die Ostärzte wollen Sie
jetzt ein bisschen was tun, aber dies auf dem Rücken der
Westärzte austragen. Für die Beitragszahler bedeutet dies,
dass sie für ihre Krankenkassenbeiträge für immer unat-
traktivere Leistungen bald tiefer in die Tasche greifen
müssen. In Sachen Gerechtigkeit sind Sie trotz runder Ti-
sche kein Stück weitergekommen. Wir werden Sie daran
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Götz-Peter Lohmann
16395
messen, was Sie wirklich voranbringen und nicht daran,
was Sie an schönen Worten verkünden.
Frau Schmidt, es ist schön, wenn man nett zueinander
ist und wenn man miteinander redet. Aber entscheidend
sind in der Politik noch immer Taten und die politische
Umsetzung. Der von uns allen geschätzte ehemalige Bun-
despräsident Roman Herzog hat dies einmal in Worten
ausgedrückt und gesagt: In Deutschland mangelt es nicht
an Erkenntnissen. In Deutschland mangelt es an der Um-
setzung, am Anpacken und am Durchsetzen. Das gilt
zurzeit besonders in der Gesundheitspolitik.
Nur Einzelreparaturen. Dieses Prinzip haben Sie jetzt
verinnerlicht und danach handeln Sie.
Die Richtigkeit eines Satzes hängt nicht von dem Zeit-
punkt ab, zu dem er gesprochen wird, sondern dieser Satz
ist eine Grundwahrheit, die zu allen Zeiten gilt.
Fragen Sie sich doch einmal: Warum haben Sie Angst,
den Bürgern eine klare Linie aufzuzeigen?
Warum schlagen Sie sich mit diesen Einzelgesetzen
herum, die Sie uns auch heute präsentieren, statt eine
echte Gesundheitsreform anzupacken? Es gibt nur zwei
Möglichkeiten: Entweder haben Sie keine Linie deswe-
gen können Sie hier keine präsentieren oder Sie haben
eine, trauen sich aber nicht, diese dem Bürger zu erläu-
tern. Letzteres ist die wahrscheinlichere Variante. Sie wol-
len sich mit diesen Einzelreparaturen und den runden Ti-
schen Seid nett zueinander, alle dürfen ein bisschen
was sagen über die Wahl hinwegretten.
Das Schlimme ist: Mit diesen Einzelmaßnahmen ver-
lieren wir kostbare Zeit.
Wir haben schon die Jahre 1999 bis 2001 verloren. Aber
in der Gesundheitspolitik tickt die Zeitbombe der Demo-
graphie sogar noch schneller als in der Rentenpolitik. Die
Zeit ist kostbar. Deswegen halte ich es für eine Katas-
trophe, dass in Deutschland Rot-Grün in der Gesund-
heitspolitik bis heute schon drei Jahre verloren hat und
dass wir auch in den nächsten Jahren mit netten Ge-
sprächen viel Zeit verlieren werden.
Ihren Einzelgesetzen merkt man an, dass Sie keine
klare Linie haben, sondern sich mit Randproblemen auf-
halten und in massive Widersprüche verstricken. Schauen
wir uns einmal das Gesetz zum Wohnortprinzip bei Hono-
rarvereinbarungen an.
Jetzt kommt er zur Sache, weil die Dinge zusammen-
hängen. Es ist eine Gesamtschau nötig. Das ist das, was
Ihnen etwas abgeht, Frau Kollegin. Wir sehen die Dinge
zusammenhängend.
Das merkt man auch an Ihrem Gesetz.
Zum Wohnortprinzip bei Honorarvereinbarungen.
Zwei Punkte sind ja zu regeln. Zum einen ist zu fragen: Wer
verhandelt auf Kassenseite? Zum anderen müssen Sie end-
lich eingestehen, dass es bei Ärzten in Deutschland, was
den Honorarbereich angeht, in der Tat erhebliche Probleme
gibt. Das gestehen Sie jetzt endlich für die Ostärzte ein. Ich
prophezeie Ihnen: Sie werden es bald auch für die West-
ärzte eingestehen müssen.
Es ist ja ganz nett, wenn Sie weite Passagen unseres
Gesetzentwurfes abschreiben.
Aber dort, wo Sie abweichen, regeln Sie die Dinge in eine
völlig falsche Richtung. Ich kann Ihnen das an zwei Bei-
spielen erläutern.
Wenn wir darüber reden, wer verhandelt, ist es natür-
lich auch notwendig zu sagen, wie die Krankenkassen, für
die künftig Landesverbände verhandeln, mitbestimmen,
welcher Kurs in dem jeweiligen Landesverband verfolgt
wird. Wir sagen anders als Sie: Nicht umständliche Um-
wege über konstruierte Satzungsregelungen. Regeln Sie
es so, wie wir es regeln. Die Krankenkassen sollen Mit-
glied in den Landesverbänden werden, die für sie verhan-
deln. Damit ist es am besten möglich, mitzubestimmen
und Einfluss zu nehmen. Dies ist eine ganz einfache Maß-
nahme, Ihnen aber wieder einmal schwer zu vermitteln.
Zu dem Zweiten, Wichtigeren hat der Kollege Ulf Fink
schon einiges ausgeführt: Wie schaffen wir es, die prekäre
Honorarsituation der Ostärzte zu entschärfen? Es ist
noch niemals ein Patient dadurch gesund geworden, dass
man einem anderen, der ebenfalls am Tropf hing, den
Hahn zugedreht hat. Deshalb sollte man den Ärzten im
Westen, die auch unter Honorardruck und in einer schwie-
rigen Situation stehen, das Honorar nicht wegnehmen, um
es den Ostärzten zu geben. Dies ist der falsche Weg. Fra-
gen Sie einmal in Ihren Bürgersprechstunden auch in
den alten Bundesländern nach, was den Patienten in den
Arztpraxen heute schon an Cash abverlangt wird, weil das
Geld im Honorarbereich nicht reicht, um bestimmte
Dinge gerecht zu honorieren.
Jetzt fangen Sie in einer schwierigen Situation an, de-
nen, die ohnehin nicht genügend haben, Geld wegzuneh-
men, um es Anderen zu geben. Das wird nicht funktionie-
ren. Sie lösen damit keine Probleme, sondern Sie schaffen
damit neue Probleme. Im Übrigen ist es wenig erquicklich
für ein gemeinsames Miteinander in Deutschland, wenn
Sie eine Politik Ost gegen West machen. Machen Sie lie-
ber eine Politik für das gesamte Deutschland. Das geht
nur, wenn Sie die Budgetierung aufheben, um endlich ei-
nen Weg aufzuzeigen, wie gerechte Honorare in Ost und
West neu verhandelt werden können, so wie wir dies in
unserem Gesetzentwurf geregelt haben.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Aribert Wolf
16396
Meine Damen und Herren, auch im Bereich der Wahl-
rechte argumentieren Sie sehr seltsam. Es ist durchaus
schwierig, einem Bürger, der dieser Debatte unvoreinge-
nommen folgt, zu vermitteln, dass Sie verkünden: Wir
wollen mehr Freiheit, mehr Wahlrechte, und weil wir das
wollen, schaffen wir jetzt, im Jahre 2001, die Wahlrechte
komplett ab, indem ab dem heutigen Tage kein Mensch
mehr seine Krankenkasse verlassen darf. Das ist eine Lo-
gik, die ich persönlich nicht nachvollziehen kann. Wenn
ich will, dass die Menschen mehr Rechte haben, dann
muss ich ihnen diese Möglichkeiten auch heute belassen.
Dazu ist es nicht notwendig, Wahlrechte in diesem Jahr
überfallartig das müssen Sie einräumen abzuschaffen.
Horst Seehofer hat Recht, wenn er von einem heim-
tückischen Schlag gegen den Verbraucherschutz
spricht, den Sie hier auf den Weg gebracht haben. Der
Bundesverband der Verbraucherschutzzentralen sieht dies
ähnlich. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, wie dies auch die
Medien kommentieren. Das, was Sie hier exerzieren, ist
ein klassischer Kniefall vor den Krankenkassen-Lobby-
isten.
Die Frankfurter Rundschau schreibt unter der Über-
schrift Kränkelnder Konsens:
Doch was den Lobbyisten gefällt, muss für die
Gemeinschaft keineswegs gut sein.
Deswegen gebe ich Ihnen am Ende meiner Rede den
guten Ratschlag: Statt Politik für Lobbyisten zu machen,
sollten Sie lieber Politik für die Bürger und die Verbrau-
cher machen und endlich den Mut haben, diesem Haus
eine Gesamtschau Ihrer Gesundheitspolitik vorzulegen,
statt in irgendwelchen Zirkeln außerhalb des Parlaments
viel zu reden und hinterher nichts Konkretes auf den Weg
zu bringen.
Ich bedanke mich.
Als
Nächster hat der Kollege Dr. Martin Pfaff von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Heute geht es um ein Gesetz, das
für die zukünftige Gestaltung der Kassenwahlrechte in
der gesetzlichen Krankenversicherung grundlegender
nicht sein könnte. Es geht nämlich um die zukünftige Aus-
gestaltung des Zugangs und des Wechsels von Versicher-
ten zu den gesetzlichen Krankenkassen.
Wir wollen und wir werden die noch bestehenden Un-
gleichheiten zwischen Pflichtversicherten und freiwillig
Versicherten in der GKV beseitigen. Dies ist schon lange
überfällig.
Mit der Harmonisierung der Kassenwahlrechte ver-
bindet sich das Ziel, die kontraproduktive, unsinnige und
für das Gesamtsystem teure Hektik und Konzentration auf
einen Kündigungsstichtag, nämlich den 30. September,
abzuschaffen. Wir wollen und werden den Kassenwech-
sel der Versicherten im Jahresablauf verstetigen. Auch das
ist richtig und war schon lange überfällig. Es besteht eine
Übergangszeit, in der die Wahlrechte einmal für zwei Mo-
nate ausgesetzt werden. Nach altem Recht konnten die
Versicherten am 30. September zum 1. Januar des Folge-
jahres kündigen, nach dem Entwurf können sie zum
1. März kündigen. Es handelt sich um eine einmalige
übergangsweise Einschränkung, eine Notbremsung. Da-
nach besteht nicht weniger, sondern mehr Freiheit der
Wahl. Das ist die eindeutige Konsequenz dieser Maß-
nahme und keineswegs ein Offenbarungseid. Es ist die
konsequente Umsetzung dessen, was auch die Sachver-
ständigen gefordert haben.
Ich möchte gerne zitieren, was die Sachverständigen
zu diesem Thema in Bezug auf die fünf Wechselrunden
gesagt haben:
Zum einen haben die Kassen und ihre Verbände ihr
Verhalten inzwischen derart auf die beiden kritischen
Wechsel-Termine ... ausgerichtet, dass gelegentlich
sogar schon von einer weitgehenden Paralysierung
der GKV in der zweiten Hälfte eines Kalenderjahres
gesprochen wird. Denn im dritten Quartal konzen-
trieren sich die Kassen darauf, Kündigungen ihrer
Mitglieder abzuwehren oder Mitglieder ihrer Kon-
kurrenten abzuwerben; und im vierten Quartal sind
sie vollauf damit beschäftigt, den Vollzug eines Kas-
senwechsels ... zu sichern bzw. durch gezielte Halte-
und Rückholaktivitäten doch noch zu verhindern.
Die Gutachter fahren weiter fort:
Zum anderen haben GKV-Mitglieder offenbar zu-
nehmend erkannt, dass sie bei einem Wechsel zu ei-
ner beitragssatzgünstigeren Kasse bei den derzeit
weithin einheitlichen Versorgungsregelungen keine
nennenswerten Versorgungsnachteile befürchten
müssen, zumal sie ohnehin spätestens nach zwölf
Monaten wieder zu ihrer alten Kasse zurückkehren ...
können ...
Sie folgern daraus:
Als Folgerung aus der ersten Beobachtung erscheint
es zweckmäßig, eine Verstetigung der Wechslerpro-
zesse im Jahresverlauf anzustreben. ...
Nichts anderes wollen wir.
Ich zitiere weiter:
Die zweite Beobachtung lässt es zweckmäßig er-
scheinen, die Bindungsdauer nach der durch Aus-
übung des Kassenwahlrechts neu begründeten
Kassenmitgliedschaft gegenüber dem Status quo
zu verlängern, zum Beispiel auf zwei
Jahre.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Aribert Wolf
16397
Die Sachverständigen gehen davon aus, dass auf diese
Weise voreilige Wechselentscheidungen reduziert und die
Rationalität von Kassenwahlentscheidungen erhöht wer-
den. Die Planungssicherheit der Kassen würde steigen
und ihre Verwaltungsausgaben würden stabilisiert.
Ich sage: Das sind sinnvolle und wünschenswerte Ziele.
Nichts anderes streben wir mit diesem Gesetzentwurf an.
Ich denke, dieses Argument müsste für alle Menschen,
die guten Willens sind auch in diesem Haus und die
nach sachlichen Kriterien urteilen wollen, nachvollzieh-
bar sein. Im Übrigen appelliere ich ein wenig an Sie, das
größere Bild im Auge zu behalten. Wollen Sie denn wirk-
lich eine weitere Kündigungswelle, die nach Schätzung
von Fachleuten dem Gesamtsystem zwischen 1,7 und
2 Milliarden DM entziehen würde? Wollen Sie wirklich,
dass die Jungen und Gesunden in den virtuellen Betriebs-
krankenkassen mit Dumpingbeiträgen begünstigt wer-
den, während die Alten und Kranken sowie die Jungen
und Gesunden, die in den großen Versorgerkassen ver-
bleiben, dort höhere Beiträge zahlen? Das kann doch kein
Gewinn für die gesamte gesetzliche Krankenversicherung
sein.
Ich möchte aus einer großen überregionalen Zeitung
zitieren:
Die Ministerin hat die Weichen richtig gestellt: Op-
position und Verbraucherschützer, die den Katalog
kritisieren, haben nichts begriffen. Der ruinöse Wett-
bewerb vergisst die Kranken und gefährdet das Soli-
darprinzip.
Genau das wollen wir nicht und deshalb haben wir
heute diesen Gesetzentwurf eingebracht. Wir wollen den
Wettbewerb nicht einschränken, sondern wollen gegen-
über dem jetzigen Zustand einen Wettbewerb mit mehr
Chancengleichheit.
Noch viel schlimmer ist die Situation für diejenigen,
die die Problematik verstehen, aber meinen, aus den Pro-
blemen der Orts- und Ersatzkassen politisches Kapital
schlagen zu können. Da kann ich nur sagen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von Teilen der Opposition: Wer im
Trüben fischt, weiß nicht, was er schließlich an der Angel
hat.
Dass der Stichtag 30. September für einen Kassen-
wechsel in diesem Jahr ausgesetzt werden soll, ist spätes-
tens seit Ende März bzw. Anfang April bekannt. Dazu
möchte ich nichts weiter sagen. All diejenigen unter uns,
die für gleiche Wahlrechte aller, ob Arbeiter oder Ange-
stellte, und für die Einführung des Risikostrukturaus-
gleichs zuerst in Lahnstein und dann im Bundestag ge-
stimmt haben, frage ich: Finden Sie es wirklich richtig,
dass die Dumpingbeitragssätze der Gesunden über den Ri-
sikostrukturausgleich sogar noch subventioniert werden?
Denn die Beträge, die für sie vorgesehen sind, sind höher als
die Kosten, die sie tatsächlich verursachen. Finden Sie es
richtig, dass die Kassenlandschaft in Kassen für Junge und
Gesunde mit niedrigen Beitragssätzen und in Kassen für
Alte und Kranke mit hohen Beitragssätzen polarisiert wird?
Finden Sie es richtig, dass den großen Versorgerkassen
und auch dem gesamten System Beträge in dem Umfang,
den ich vorhin genannt habe, entzogen werden, die dann
bei der Versorgung der Alten und Kranken fehlen? Finden
Sie es richtig, dass den Kassen 2 Milliarden DM weniger
zur Verfügung stehen Sie scheinen das auf einmal ver-
gessen zu haben; denn Sie haben ja vorhin Krokodilsträ-
nen geweint, als Sie die Finanzsituation der Ärztinnen und
Ärzte beklagt haben , um die Einkommen der Ärzte, die
Budgets der Krankenhäuser und die Gewinne der Her-
steller von Heil- und Arzneimitteln zu finanzieren? Nein,
das finden Sie nicht richtig; denn Sie wollen ja, dass mehr
Geld in das System fließt. Trotzdem wollen Sie gleichzei-
tig dulden, dass dem System Geld entzogen wird.
Nein, solche Fehlentwicklungen wollte keiner von uns
in Lahnstein fördern. Niemand wollte die Strategien des
Rosinenpickens, also den Kampf um die jungen Gesun-
den. Auch Sie wollten das nicht. Sie das sage ich an die
Adresse der Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P.
dürfen nicht vergessen, dass Sie das Gesetz im Konsens
mit uns beschlossen haben. Sie waren es übrigens, die den
Betriebs- und Innungskrankenkassen in Lahnstein ihre
Sonderrechte erhalten haben. Wir wollten dagegen für
gleich lange Spieße und für Chancengleichheit im Wett-
bewerb sorgen.
Vergessen Sie nicht, dass Sie wesentlich Mitverantwortung
tragen. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie die von mir be-
schriebene Entwicklung begrüßen oder sogar gutheißen.
Zum Schluss: Wir alle sitzen im selben Boot und haben
ein vitales Interesse, dass dieses nicht leckschlägt oder
sich auf politischen Sandbänken festfährt. Die maßlose
Kritik von Teilen der Verbraucherschützer, aber auch von
Herrn Seehofer ignoriert den ruinösen Wettbewerb. Ihnen
liegen offensichtlich die jungen Gesunden eher am Her-
zen als die große Zahl der Alten und Kranken. Nein, das
alles ist kein heimtückischer Schlag gegen den
Verbraucherschutz und ebnet auch nicht den Weg hin zu
einer Einheitskasse. Es handelt sich vielmehr um einen
notwendigen Schritt in die richtige Richtung, nämlich um
die solidarische Krankenversicherung zu sichern und aus-
zubauen. Das wollen und werden wir auch tun.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Martin Pfaff
16398
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 14/5694, 14/5960 und
14/5957 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksa-
che 14/5694 soll zusätzlich an den Ausschuss für Angele-
genheiten der neuen Länder überwiesen werden. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Zwischenberichts der Enquête-Kom-
mission Recht und Ethik der modernen Medizin
Teilbericht zu dem Thema
Schutz des geistigen Eigentums in der Biotech-
nologie
Drucksache 14/5157
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert von der PDS und der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick wollen
ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einver-
standen? Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Wolfgang Wodarg von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Täglich lesen wir von neuen Fort-
schritten bei der Entschlüsselung des menschlichen Ge-
noms. 90 Prozent des Genoms seien bereits identifiziert.
Kürzlich kamen dabei zwei erstaunliche Ergebnisse zu-
tage. Erstens. Der Homo sapiens hat nicht, wie noch im
letzten Jahr angenommen, über 100 000, sondern wahr-
scheinlich nur 30 000 bis 40 000 Gene. Zweitens. Viele
Gene kodieren mehr als ein Dutzend unterschiedlicher
Proteine mit jeweils unterschiedlichen Funktionen und
Eigenschaften. Im Einzelfall kann sogar ein und dasselbe
Gen Tausende verschiedener Eiweißmoleküle hervorbrin-
gen. Das Leben in der Zelle ist also hochkomplex; deshalb
hat HUGO die internationale Human Genome Organi-
sation inzwischen einen Bruder bekommen. Er heißt
HUPO, Human Proteom Organisation. Diese Organisa-
tion hat die Aufgabe, die systematische Analyse der Zel-
leiweißbausteine und -phänomene zu koordinieren.
Doch jetzt zu den Patenten. Während Entdecker und
herkömmliche Forscher meist nur mit Ruhm und höherem
Gehalt belohnt werden, gibt es für Erfinder Belohnungen
mit Patenten. Das hat besonders im Bereich der Biotech-
nologie in letzter Zeit zu Fehlentwicklungen geführt, die
wir auch schon im Deutschen Bundestag gemeinsam be-
klagt haben.
Was ist der Grund für die heftige auch öffentliche
Kritik am Europäischen Patentamt in München? Der
Grund ist die Patenterteilungspraxis des Amtes, das seit
September 1999 die Biopatent-Richtlinie der Europä-
ischen Union zur Basis seiner Entscheidungen macht.
Seitdem gilt dort entsprechend der EU-Richtlinie aus-
drücklich und amtlich: Kann für ein Gen eine bestimmte
Funktion angegeben werden, so wird das muss dazu-
kommen dieses Gen selbst auch patentierbar bei der Er-
füllung sonstiger Voraussetzungen wie Neuheit und ge-
werblicher Anwendbarkeit. Ein Gen kann also mit einem
so genannten Stoffpatent belegt werden. Dies sichert dem
Patentinhaber das alleinige Recht zur kommerziellen Ver-
wertung nicht nur einer spezifischen Anwendung, son-
dern auch des Stoffs an sich.
Nun ist das Gen aber kein Stoff wie jeder andere. Es ist
eher mit einer Silbe vergleichbar, deren Bedeutung je
nach Sprache und Kontext sehr vielfältig sein kann. Ein
Gen kann Hunderte, ja Tausende unterschiedlicher Funk-
tionen wahrnehmen. Ich zitiere Dr. Helmut Blöcker, den
Leiter der Abteilung Genomanalyse bei der Gesellschaft
für Biotechnologische Forschung in Braunschweig:
Ich kann mir vorstellen, dass von den 40 000 Genen
eines Menschen 500 000 verschiedene Proteine ge-
macht werden, weil jeweils ein Gen unterschiedlich
abgelesen wird. ... Wenn man sich die vielen intra-
zellulären Regelkreise anschaut, wo welche Proteine
auf welcher DNA oder mit welchen Kofaktoren wir-
ken, dann ist das ein Gewusel wie auf dem Markt-
platz von Shanghai.
Er muss da gewesen sein. Die Braunschweiger waren
übrigens maßgeblich an der Sequenzierung des menschli-
chen Chromosoms 21 beteiligt. Dr. Helmut Blöcker weiß
also, wovon er spricht.
Wir haben uns in der Enquête-Kommission Recht und
Ethik der modernen Medizin intensiv mit der EU-Bio-
patent-Richtlinie beschäftigt. Wir haben dabei mit einer
Vielzahl von Experten Naturwissenschaftlern, Juristen
und Ethikern diskutiert. Eines wurde dabei sehr klar:
Die Mehrheit der Mitglieder der Enquête-Kommission
hält die Biopatent-Richtlinie der Europäischen Union für
eine unzureichende Lösung zum Schutz geistigen Eigen-
tums im Bereich der Lebenswissenschaften.
Die Enquête-Kommission steht mit dieser Auffassung
das ist Ihnen ja bekannt beileibe nicht allein auf wei-
ter Flur. Neben vielen Initiativen aus der Bevölkerung ha-
ben sich die Bundesärztekammer, der Ständige Ausschuss
der Europäischen Ärzte und der Weltärztebund wieder-
holt und nachdrücklich gegen eine Patentierung mensch-
licher Gene ausgesprochen. Herr Professor Hoppe hat
persönlich und kraft seiner Eigenschaft als Präsident der
Bundesärztekammer immer wieder auf die Gefahren einer
zu weit reichenden Biopatentierung hingewiesen. Ich zi-
tiere eine Erklärung von Herrn Hoppe vom 21. Februar
letzten Jahres:
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001 16399
1) Anlage 3
Es muss Klarheit darüber bestehen, dass menschliche
Gene oder Gensequenzen nicht patentierbar sind,
sondern lediglich Herstellungsverfahren und Verfah-
rensschritte für gentechnische Medikamente patent-
fähig sein können.
Unstrittig ist darin sind wir uns alle einig , dass die
teure und zeitraubende Entwicklung von Medikamenten
durch Schutzrechte abgesichert werden muss. Eine ganz
andere Dimension hat es jedoch, wenn nicht nur das in-
dustrielle Produkt, also das Verfahren oder das Medika-
ment, sondern auch seine natürlichen Grundlagen pa-
tentiert werden. Zum Beispiel hält eine deutsche Firma
ein Patent auf den Botenstoff Interferon ihn gibt es auch
in der Natur , der unter anderem zur Behandlung von
Leukämie eingesetzt wird. Als eine Konkurrenzfirma aus
derselben Substanz ein Medikament für einen ganz ande-
ren Zweck für die Rheumatherapie entwickelte,
musste sie dieses Medikament vom Markt nehmen, ob-
wohl der Patentinhaber kein vergleichbares Mittel anbot
oder auf den Markt bringen wollte. Da muss man etwas
tun. Es ist ja auch die Möglichkeit der Zwangslizensie-
rung vorgesehen. Darüber haben wir diskutiert.
Dies ist aber nur ein Beispiel, wie sich die Gewährung
weit reichender Stoffpatente negativ auf die Entwicklung
von Medikamenten und Therapeutika auswirken kann.
Ich habe recherchieren lassen, wie es um Patentansprüche
auf Teile des menschlichen Genoms bestellt ist. Eines der
Ergebnisse war: Nur drei Firmen erheben weltweit den
Anspruch auf 50 Prozent des menschlichen Genoms.
Wir wissen, dass die Genfunktionen nur selten expe-
rimentell gesichert werden. Der zeitliche Aufwand und
die damit verbundenen Personalkosten wären enorm
hoch. Vielmehr wird die Funktion der Gene zumeist per
Computeranalyse ermittelt. Die Fehlerquote liegt hier
nach Ansicht von Praktikern aus der Biotechbranche bei
etwa 10 bis 15 Prozent. Da gilt also: Wer ist schneller?
Wer hat die größten Claims am schnellsten abgesteckt?
Da geht es um Quantität statt Qualität. Hier besteht ein
dringender Handlungsbedarf. Ergänzungen zur geltenden
EU-Richtlinie müssen deshalb sicherstellen, dass Unter-
nehmen keine strategischen Global- oder Netzpatente
stricken können, dass die unangemessene Belohnung
durch zu weit abgesteckte Patentclaims unterbleibt.
Dazu ein konkreter Vorschlag: Heute ist es, wie gesagt,
gang und gäbe, dass die Sequenzierung des menschlichen
Genoms von Computern automatisch erledigt wird. Der
technische Vorgang der Entschlüsselung ist Routine. Ein ex-
perimenteller Nachweis über die Funktion eines Gens un-
terbleibt zumeist. Aber genau dies sollte meines Erachtens
in einer zukünftigen nationalen und europäischen Regelung
geändert werden. Wenn wir sicherstellen könnten, dass die
Funktion von menschlichen Genen nicht nur per Computer-
analyse ermittelt wird, sondern im Labor experimentell
nachgewiesen werden muss, hätte das erhebliche Vorteile.
Die Patentprüfer hätten es nicht nur mit Vermutungen und
Wahrscheinlichkeiten zu tun, sondern könnten die erfunde-
nen bzw. behaupteten Nutzanwendungen ganz konkret
nachvollziehen oder nachvollziehen lassen.
Ohne Zweifel sind in der molekularen Biotechnologie
Erfindungen mit hohem Arbeits- und Kapitalaufwand
verbunden. Patente erfüllen hier also einen wichtigen
Zweck. Sie machen Investitionen rentabel und schützen
die Unternehmen vor geistigem Diebstahl. Aber die
Rechte, die man einem Erfinder zugesteht, dürfen nicht so
weit gehen, dass sie anderen Erfindern den Mut nehmen.
Für derartig komplexe Regelungsfelder ist viel fachli-
che Vorarbeit erforderlich. Wir haben das erlebt. Wir ha-
ben in der Enquête-Kommission weitere forschungspoli-
tische, ethische und rechtliche Argumente erarbeitet, die
bei einer Umsetzung der EU-Biopatent-Richtlinie vom
Parlament beachtet werden sollten. Sie liegen auf dem
Tisch des Hauses und sind in ihrer Gänze und Schönheit
nachzulesen.
Ich halte fest: Durch die intensive Vorarbeit der En-
quête-Kommission sind wir für die kommenden Debatten
im Deutschen Bundestag bestens mit Argumenten verse-
hen. Den parlamentarischen Mitgliedern, den Sachver-
ständigen, aber auch den zahlreichen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Enquête sei hiermit deshalb von
Herzen für die spannende und ergiebige Zusammenarbeit
gedankt.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Scheu von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Genpatente sind ein stellver-
tretender Kampfplatz. Im Grunde geht es um die existen-
zielle Frage, wie weit die Menschheit die technische In-
betriebnahme der Natur treiben will.
Anlass für die Enquête war das entfesselte Patent der
Universität Edinburgh. Die Entschlüsselung der mensch-
lichen Erbinformationen, schreibt Professor Lenrach,
hat für das Selbstverständnis des Menschen einen ähnli-
chen Stellenwert wie die Verdrängung des ptoloemäi-
schen durch das kopernikanische Weltbild. Dazu hat
schon Nietzsche gesagt: Seit Kopernikus fällt der Mensch
aus dem Zentrum ins Nichts.
Ich möchte mich mit vier Thesen beschäftigen.
These 1. Das Patentrecht hat wertneutralen Charakter;
der Patentschutz ist im Wesentlichen wertneutrales In-
strument der Technologieförderung. Dieser Satz hält der
grundgesetzlichen Wertordnung nicht stand. Das Patent-
recht ist als Eigentumsrecht in die Wertordnung des
Grundgesetzes eingebunden und, wie sich gerade an den
Ordre-public-Vorschriften erweist, von rechtsethischen
Erwägungen beeinflusst.
These 2. Der menschliche Embryo in vitro oder in
vivo steht bis zum 14. Tag post Verschmelzung der Keim-
zellen nicht unter dem Schutz des Art. 1 Abs. 1 und Art. 2
Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Richtig ist: Wo
menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschen-
würde zu, jedenfalls nach Art. 1 Abs. 1 des Grundgeset-
zes. Nach den Erkenntnissen gerade der Genforschung
und der medizinischen Anthropologie gilt: Leben beginnt
mit der Verschmelzung.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Wolfgang Wodarg
16400
Aufgrund einer vollständigen biologischen Analyse ist
der menschliche Embryo von der Verschmelzung der
Keimzellen an ein menschliches Subjekt mit einer ganz
bestimmten Identität, das sich von diesem Zeitpunkt an
kontinuierlich entwickelt und in keinem nachfolgenden
Stadium als einfache Zellmasse betrachtet werden kann.
Daraus folgt: Als menschliches Individium hat es das
Recht auf eigenes Leben. Deshalb ist jeder Eingriff, der
nicht zum Wohle des Embryos geschieht, ein Akt, der die-
ses Recht verletzt.
Ein guter Zweck macht eine in sich schlechte Tat nicht
gut. Darauf beruht die Empfehlung der Enquête-Kommis-
sion, das Embryonenschutzgesetz förmlich als Patentie-
rungsschranke bei der Umsetzung der Biopatent-Richtlinie
aufzunehmen. Das Embryonenschutzgesetz ist nicht, wie
heute gesagt wird, ein obsoletes Relikt oder durch neue
wissenschaftliche Erkenntnisse überholt, wie etwa Ulrich
Mueller Gebt uns die Lizenz zum Klonen meint.
Im Gegenteil: Die tatsächlichen Entwicklungen müs-
sen die staatliche Schutzpflicht mit Nachdruck aktivieren.
Wer die Ethik nicht fühlen will, schreibt Ulrike Riedel
umfassend und zutreffend, muss das Recht hören. Darauf
beruht die dringliche Empfehlung, bei der Umsetzung der
Patentrichtlinie die Verbote des Embryonenschutzgeset-
zes ausdrücklich als Patentierungsschranken des grund-
gesetzlichen Ordre public notwendig im Gesetz zu for-
mulieren, wie es auch der Bundesrat vorschlägt.
Die Aussagen der Wissenschaft, es gebe für sie be-
stimmte Grenzen, tragen ihr stetiges Verfallsdatum in
sich. Die Eskalationsmodelle zur ethischen Bewertung
noch des Jahres 1997 sind aufgegeben. Die selbst gesetz-
ten Grenzen der Humangenetik sind, wie die Erfahrung
seit 1973 lehrt, eine Funktion des jeweils technisch Mach-
baren und des ökonomischen Imperativs. Propagiert und
praktiziert wird in homöopathisch kleinen Dosen, step by
step verabreicht, die Vulgärethik. Erlaubt ist, was gelingt.
Der Erfolg hat Recht und schafft Recht, sagt Ulrich
Lüke. Diejenigen, die heute noch sagen, das Klonen von
Menschen dürfe nicht Wirklichkeit werden, werden in ei-
nigen Jahren die medizinische Begründung für ebendiese
Praxis nachliefern. Die Avantgarde hat den Rubikon
mental längst überschritten und ihr Vorhaben wohl auch
bereits ins Werk gesetzt.
These 3 zur Erfindungshöhe dazu hat der Kollege
Dr. Wodarg schon vieles ausgeführt : Patentierbar ist nur
die Trias von Gensequenz, belegter Funktion und konkre-
ter gewerblicher Anwendung. Von Computern vorausge-
sagte Funktionen sind Vermutungen ohne Erfindungs-
höhe. Diese Konkretisierung im Gesetz kann deutlicher
werden; sie wird von den Erwägungsgründen 22 bis 24
der Richtlinie getragen. Sie entspricht der Stellungnahme
des Bundesrates in Ziffer 1 g, der lediglich die erfundenen
Veränderungen am biologischen Material patentieren
will.
Ich darf hier einen der Nestoren der deutschen Gen-
technik, Ernst-Ludwig Winnacker, in der Festschrift für
Rentorff Grenzen überschreiten, München 2001, zitie-
ren:
Patente werden auch dann erteilt, wenn die Beteilig-
ten gar nicht wissen, welche Funktionen diese, in
ihren Schrotschussansätzen sequenzierten Gene ei-
gentlich aufweisen. Sollen die Entdecker einer einzi-
gen dieser Eigenschaften zugleich auch die Rechte
für bislang nicht entdeckte Anwendungen erhalten,
die sich aus diesen Beobachtungen gegebenenfalls
ableiten? Wohl kaum.
So weit Professor Winnacker.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich mit diesem
Thema ebenfalls beschäftigt und formuliert:
Organe, Gewebe, Zellen und Gene werden vom
Menschen nicht erfunden, sondern in der Schöpfung
aufgefunden. Wir gehen von dem Grundsatz aus,
dass Leben als solches allen gehört und nicht paten-
tiert werden kann.
Lebewesen und deren Teile sind nicht patentierbar,
auch wenn sie biotechnische Veränderungen tragen.
Lediglich das Wissen von Funktionen in derart ver-
änderten Lebewesen sowie Verfahren, mit denen ver-
änderte Lebewesen hergestellt werden können, sind
patentierbar.
Die gleiche Einwendung liegt dem Schreiben des fran-
zösischen Staatspräsidenten Jacques Chirac an den Präsi-
denten der Kommission zugrunde, in dem er ausführt,
dass eine wirkliche Erfindung vorliegen muss, und die nur
dann, wenn eine Anwendung auf dem Gebiet der Diagnos-
tik, der Therapie oder der Vakzine vorliegt.
Das zeigt, dass die Auffassung unserer Enquête-Kom-
mission durchaus weit verbreitet ist. Es geht nicht um
Goldgräbertum, sondern um die echte wissenschaftliche
Leistung.
These 4 zur patentrechtlichen Beherrschbarkeit:
Lassen Sie mich einige Sätze vorweg sagen. Der Bundes-
kanzler formuliert:
Biomedizin und Gentechnik sind sicherlich in
Grenzbereiche vorgedrungen. Im Grunde allerdings
hat noch jeder Fortschritt der menschlichen Wissen-
schaft, der Technik mit der Befreiung des Menschen
aus natürlichen oder vorgefundenen Zwängen zu tun.
Deshalb sollten wir nicht die Zwänge als Argument
bemühen, den Forscherdrang einzudämmen.
Diametral anders Hans-Georg Gadamer:
Weil alle wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis
unter der Herrschaft des Marktes unaufhaltsam tech-
nisch umgesetzt wird, sobald sie Profit verspricht,
müssen wir die Grenzen fragwürdiger Forschung
weltweit setzen, zumal jeder Zuwachs an Erkenntnis
in seinen Konsequenzen unvorhersehbar ist.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Gerhard Scheu
16401
Dieses unkalkulierbare Risiko ist es vor allem, das
meine Kritik an den Forschungsbemühungen der
Gentechnologie begründet.
Zum Schluss eine Frage an den Rechtsausschuss. Die
Voraussetzungen von Technizität im Sinne des Patent-
rechtes hat der BGH mehrfach in der berühmten Ent-
scheidung Rote Traube wie folgt formuliert:
Technisch im Sinne des Patentrechts ist eine Lehre
zum planmäßigen Handeln unter Einsatz beherrsch-
barer Naturkräfte zur Erreichung eines kausal über-
sehbaren Erfolgs.
Die Frage ist, ob man angesichts der ungeheuren Hy-
perkomplexität des Netzwerks des Lebens, wenn es um
die Erbinformationsveränderung geht, sagen kann, dass
dieser planmäßige Einsatz der Naturkräfte des Gens und
der Proteine beherrschbar ist im Sinne eines kausal über-
sehbaren Erfolgs. Das bestreite ich. Man braucht sich ja
nur vorzustellen das kann man wohl auch bei Abgeord-
neten des Deutschen Bundestages voraussetzen , welche
ungeheure Komplexität an Zuständen in einer einzigen
Zelle vorhanden ist, wenn nur 10 000 Proteine in der Zelle
jeweils wirken, zeitlich verschoben, sachlich versetzt.
Und jedes einzelne Protein hat kausale Wirkungen, die
wir vorhersehen müssten. Das ist schlicht gesagt 210 000
oder 103 000. Die Physiker sagen, das ist mehr, als Ele-
mentarteilchen im Universum vorhanden sind.
Es gibt eine genetische Unschärferelation wie in der
Physik. Bei dieser ungeheuren Komplexität an Vielfalt ist
die Aussage, planmäßig vorhersehbar zu beherrschen,
welches kausal bewirkte Ergebnis eine Veränderung der
Erbsubstanz hat, eine Anmaßung.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich frage, ob die
Voraussetzung einer technischen Lehre unter diesen Be-
dingungen nachgewiesen werden kann. Denn es heißt
ich wiederhole den Satz :
Technisch im Sinne des Patentrechts ist eine Lehre
zum planmäßigen Handeln unter Einsatz beherrsch-
barer Naturkräfte zur Erreichung eines kausal über-
sehbaren Erfolgs.
Diese Frage zwingt uns zur Bescheidenheit und zur
Demut. Das sollte auch die Wissenschaft besser berück-
sichtigen, um mehr Glaubwürdigkeit zu erzielen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Angesichts der knappen Zeit werde ich ein wenig
schneller reden. Ich bitte um Verzeihung. Ich möchte mich
aber dennoch für die gute Arbeit in der Enquête-Kom-
mission und vor allem für die Arbeit der Sachverständi-
gen bedanken.
Das Patentrecht wurde geschaffen, um eine angemes-
sene Entlohnung für erfinderische Leistungen zu gewähr-
leisten und gleichzeitig sicherzustellen, dass sie öffentlich
und möglichst auch allgemein nutzbar gemacht werden.
Die Patente hatten also einen sehr großen Nutzen für die
Gesellschaft. Die Enquête-Kommission hat sich die Frage
gestellt, inwieweit die bisherigen Grundlagen des Patent-
rechtes auf lebendige Materie anwendbar sind. In diesem
Zusammenhang hat sich eine Vielzahl von ethischen,
rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen gestellt.
Eine große Mehrheit der Enquête-Kommission stimmt
darin überein, dass der Schutz des geistigen Eigentums
an biotechnischen Erfindungen kaum geglückt ist. Er
konnte auch nur in Ansätzen glücken, weil das klassische
Patentrecht, von dem zwangsläufig ausgegangen und auf
dem aufgebaut werden musste, zu Zeiten eines mecha-
nistischen Weltbildes entstanden ist und den komplexen
Anforderungen moderner Biotechnologie nicht genügt.
Insofern sagt auch die Enquête-Kommission in ihrer Stel-
lungnahme:
Die Begrifflichkeit des Stoffpatentes ist auf diese
Regelungsmaterie nicht anwendbar. Stoffpatente
könnten nur die stofflich materielle Dimension der
DNA erfassen, nicht ihren biologischen Wirkungszu-
sammenhang.
Wir setzen uns dafür ein, dass die EU-Patentrichtlinie
daraufhin nochmals grundlegend überarbeitet wird, und
unterstützen die Bundesregierung darin, eine entspre-
chende EU-Initiative zu ergreifen. Notwendig ist das
auch, weil diese EU-Richtlinie unmittelbar gilt und vom
Europäischen Patentamt weitgehend praktiziert wird. Es
gibt auch andere europäische Länder, die diese Auf-
fassung teilen und entsprechende Initiativen ergreifen.
Die Komplexität und die Probleme sehen wir bei-
spielsweise an der Produktion von Medikamenten gegen
die Krankheit Aids. Wir mussten erleben, dass die Ge-
sundheitsversorgung in Südafrika in diesem Bereich be-
droht war. Genauso sieht es in Brasilien aus, wo der Staat
Imitate herstellt, um die Gesundheitsversorgung zu si-
chern. Auch im Bereich der Landwirtschaft und der Er-
nährung entstehen ähnliche Probleme durch die Patentie-
rung von Pflanzen. Aus den Entwicklungsländern kommt
zunehmend die Klage, dass sich Pharma- und Saatgut-
konzerne die dortige Artenvielfalt an Heil- und Kultur-
pflanzen mit ihren Eigenschaften und Wirkstoffen paten-
tieren lassen. Die Menschen dort drohen leer auszugehen.
Aber auch die Bauern in der Europäischen Union und in
den USA fürchten die Saatgutmonopole und die erheb-
lichen Zusatzkosten, die sich aufgrund dieser Patente er-
geben.
Trotz aller Kritik stellt die nationale Umsetzung der
EU-Richtlinie eine rechtsethische Verbesserung gegen-
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Gerhard Scheu
16402
über der derzeitigen patentrechtlichen Situation dar, wenn
die von der Enquête-Kommission aufgestellten Kriterien
erfüllt werden. Im deutschen Patentrecht das muss man
auch sagen wird auf die Besonderheiten lebender Sub-
stanzen bisher überhaupt nicht adäquat eingegangen. Da-
mit öffnet es solchen Fehlentwicklungen Tür und Tor.
Wir als Fraktion werden uns dafür einsetzen, dass die
Vorschläge der Enquête-Kommission sowohl bei der
Überarbeitung der EU-Patentrichtlinie als auch bei der
Umsetzung aufgegriffen werden. Wir regen dazu an, neue
Instrumente zu finden und über eine gesetzliche Befris-
tung der Patentansprüche nachzudenken, solange die EU-
rechtlichen Rahmenbedingungen nicht angemessen ange-
passt sind. Wir werden im Verfahren konkrete Vorschläge
unterbreiten.
Frau Kol-
legin Höfken, erlauben Sie eine Zwischen- bzw. Ab-
schlussfrage des Kollegen Hüppe?
Ich
glaube, das regeln wir so.
Danke schön.
Für die
F.D.P. hat jetzt das Wort der Kollege Professor Edzard
Schmidt-Jortzig.
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Bereich
der Biomedizin gibt es wissenschaftlichen Fortschritt nur
durch Forschung. Wer wollte bestreiten, dass die aller-
meisten der neuen Möglichkeiten segensreiche Verbesse-
rungen für die Gesundheitspflege der Menschen bringen,
also Fortschritt darstellen? Forschung verlangt einen ho-
hen Mitteleinsatz, und das in der Regel über Jahre. Solche
Investitionen leisten nur zu Bruchteilen der Staat oder von
ihm ausgestattete Gesellschaften und Institute. Der aller-
größte Teil von Forschungsmitteln wird von Privatunter-
nehmen aufgebracht. Diese indessen brauchen für ihren
Einsatz einfach Rentabilität, das heißt wirtschaftliche
Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse. Eine solche lässt sich
eben nur durch Patentierung erreichen.
Das ist allseits unbestritten, sollte aber immer wieder
herausgestellt werden. Das wird nämlich von manchen
gern übersehen, die da meinen, Forschungsergebnisse
seien ein von jedermann kostenlos nutzbares Gut, bei dem
man Ertragsinteressen ganz außer Acht lassen könne.
Ohne wirksamen Patentschutz keine nennenswerte For-
schung und auf dem Feld der Biomedizin ohne wissen-
schaftliche Forschung kein therapeutischer Fortschritt.
Hinzu kommt ein Weiteres. Der Forscher hat ein Recht
darauf, seine Erfindungen grundsätzlich nach seinem Gus-
to zu verwenden. Schließlich hat allein er sie durch seine
Arbeit, seine Beharrlichkeit und seine Fantasie hervorge-
bracht. Sie sind, wie es so plastisch heißt, sein geistiges
Eigentum. Deshalb sichert ihm die Verfassung die Er-
trägnisse dieses seines Produktes als ausdrückliches
Grundrecht zu. Hier geht es keineswegs nur um Geld.
Vielmehr ist das Recht maßgeblich, über die eigenen For-
schungsresultate grundsätzlich selbst befinden und dispo-
nieren zu können. Auch dies sichert einzig eine lückenlose
Patentierung. Ohne wirksamen Patentschutz also auch
keine schöpferische Ergebnissicherung und ohne eine sol-
che keine Forschungsfreiheit.
Beides gilt speziell für den biotechnologischen Wis-
senschaftsbereich. Irgendwelche fundamentalistischen
Sperren dagegen aufzubauen wäre nicht nur entlarvend,
sondern auch schädlich. Übrigens trifft dies gleicher-
maßen bezüglich großer wie kleiner forschender Unter-
nehmen zu. Es ist jedenfalls eine Irreführung, wenn gele-
gentlich behauptet wird, Patente seien allemal ein
Machtinstrument pharmazeutischer Multis, mit dem Start-
up-Firmen und produktive Außenseiter ausgeschaltet wer-
den sollten. Eher wird umgekehrt ein Schuh daraus: Gerade
die kleinen, neuen Unternehmen brauchen verlässliche
Sicherungen für die Rentierlichkeit ihrer Erfindungen. Ihre
finanziellen Nachschussmöglichkeiten sind begrenzt und
die Marktmacht der Großen würde sie zur raschen Ver-
schleuderung ihrer schöpferischen Ressourcen zwingen.
Durch Patente aufgehalten wird nur der, der an den geis-
tigen Erkenntnissen anderer bequem partizipieren möch-
te, also ernten will, ohne zu säen.
Freilich gilt es auch das ist im Ansatz unbestritten
und wird, wenn auch mit unterschiedlichem Zungen-
schlag, in dem Teilbericht deutlich , das Patentrechts-
system auf diesem Feld zu schärfen sowie wirksamer und
innovationsfördernder zu machen. So hat sich beispiels-
weise für mich besteht daran jedenfalls kein Zweifel
eine gewisse Verwässerung bei den zulässigen Patentsub-
straten eingeschlichen, die beseitigt werden muss und
nach meiner Auffassung mit der EU-Biopatent-Richtlinie
auch beseitigt werden kann und sollte. Häufig werden
jetzt in der geltenden Praxis nicht mehr nur Erfindun-
gen, sondern auch Entdeckungen bzw. noch genauer:
Entdeckungsgegenstände patentiert. Im biotechnologi-
schen Umfeld muss aber darauf bestanden werden, dass
Menschen oder Teile des menschlichen Körpers ebenso
wenig Patentobjekte sein können wie überhaupt Leben,
einzelne Gene und/oder ein ganzes Genom. Auch das ist
unbestritten.
Sie sind vielmehr Bestandteile der Natur. Sie kann man
nur entdecken, nicht aber erfinden. Patentiert werden soll-
ten weiterhin nur Erfindungen.
Das trifft sich übrigens auch mit den ethischen Vorga-
ben. Der Mensch und sein, wie es heißt, biologisches Ma-
terial das ist nun einmal der Begriff sind keine Ware.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Ulrike Höfken
16403
Er ist ebenso wenig ausschlachtbar wie kommerzialisier-
bar. Dies darf und soll das Patentrecht nicht verwischen.
Patentierbar sind bei genetischen Elementen lediglich
Verfahren zur Isolierung das aber wohl , innova-
torische Anwendungen und wohl auch Funktionsklärun-
gen. Deshalb soll bei den so genannten Stoffpatenten
zwingend auf solche Elemente abgestellt werden. Das
wird von der EU-Biopatent-Richtlinie auch ausdrücklich
angemahnt. Eine Bekämpfung gegenteiliger Tendenzen,
die, wie gesagt, in der Praxis meines Erachtens vorhanden
sind, wird durch diese Richtlinie denn auch erst möglich.
Herr Kol-
lege Schmidt-Jortzig, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hüppe?
Sofort, ich will
nur diesen Gedanken abschließen. Dies gilt es auch
schon bei der Umsetzung der EU-Biopatent-Richtlinie
noch klarer zu machen. Insofern gibt es für den nationa-
len Gesetzgeber auch einen gewissen Gestaltungsspiel-
raum, der genutzt werden sollte. Meines Erachtens lässt
die Richtlinie eine solche Nachjustierung zu. Deswegen
bin ich, deswegen ist meine Fraktion wie wir deutlich
gesagt haben gegen eine Blockade dieser Richtlinie und
für eine Nutzung derselben für eine sinnvolle Verbesse-
rung des Patentrechts.
Herr Hüppe, bitte.
Vielen Dank. Herr Pro-
fessor Schmidt-Jortzig, wie beurteilen Sie, nachdem Sie
gerade gesagt haben, dass ein Bestandteil des menschli-
chen Körpers und ein Gen nicht patentiert werden können,
den neuen § 1 a Abs. 2 des Patentgesetzes in der Form des
Gesetzentwurfes zur Umsetzung der Richtlinie? Dort
heißt es wie folgt:
Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers
oder ein auf andere Weise durch ein technisches Ver-
fahren gewonnener Bestandteil, einschließlich der
Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, kann eine pa-
tentierbare Erfindung sein, selbst wenn der Aufbau
dieses Bestandteils mit dem Aufbau eines natürli-
chen Bestandteils identisch ist.
Ich stelle diese Frage unter Berücksichtigung der Tatsa-
che, dass Ihr Parteitag am vergangenen Wochenende Fol-
gendes beschlossen hat:
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung ist in diesem Punkt widersprüchlich und in die-
ser Form abzulehnen.
Ich muss Ihnen
ganz deutlich sagen, dass wir heute nur aber immerhin;
und auch wenn das Thema mittlerweile an das Ende des
Tages gerutscht ist, haben wir darauf bestanden über un-
seren Teilbericht sprechen. Über die Güte des von der
Bundesregierung vorgelegten Umsetzungsgesetzent-
wurfs diskutiere ich heute noch nicht mit Ihnen.
Diesbezüglich bin ich in der Tat der Meinung, dass man
noch einiges nachbessern könnte. Schon vor einem halben
Jahr habe ich gegenüber einer Berliner Zeitung ich
glaube, es war der Tagesspiegel ausdrücklich gesagt:
Wenn die Bundesregierung an diesem Punkt nicht nach-
bessert meines Erachtens lässt die Richtlinie das durch-
aus zu , wird sie Schwierigkeiten bekommen. Ich behalte
mir aber vor, das zu einem späteren Zeitpunkt noch ein-
mal zu sagen.
Im Übrigen wäre auch das möchte ich an dieser Stelle
sagen, weil wir eben mehr machen, als nur den Gesetz-
entwurf zu diskutieren die Wiedereinführung einer Neu-
heitenschonfrist, also einer so genannten grace period,
wünschenswert. Sie schützt vor Ausspähung der jeweili-
gen Entwicklungsarbeiten und sichert den forschenden
Unternehmen ihre wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit.
Herr Kol-
lege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl. Als
ceterum censeo schließlich bleibt weiterhin die Entwick-
lung eines Europäischen Patents zu fordern, damit in der
längst übernationalen Science-Community eine kontinen-
tale Einheitlichkeit des Rechtsschutzes erreicht wird und
die Segmentierungsbürokratie zurückgeschnitten werden
kann.
Ich glaube, dass wir unseren Teilbericht, über den wir
heute diskutieren, sinnvoll genutzt haben, vielleicht aber
noch besser hätten nutzen können, um diese Perspektiven
der Entwicklung deutlicher zu machen, anstatt uns an ein-
zelnen Punkten festzukämpfen.
Danke sehr.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Margot von Renesse
von der SPD-Fraktion das Wort.
Es ist ein weit verbrei-
teter Irrglaube, Herr Präsident, meine Damen und Herren,
das Biopatent sei eine Schöpfung der EU-Biopatent-
Richtlinie. Das ist keineswegs der Fall. Das Biopatent gibt
es in Deutschland und international seit mehr als 30 Jah-
ren. Daher sind die Begriffe, die Herr Wodarg zutreffend
dargestellt hat, schon längst Praxis.
Die Biopatent-Richtlinie hat aber, wie ich finde, einen
Fortschritt gebracht. Sie hat nämlich das Biopatent aus
dem breiten Strom der Erfindungsmethoden herausge-
nommen und gesonderten Regelungen unterworfen.
Keine einzige davon weitet das Biopatent gegenüber dem
früheren Rechtszustand aus. Alles wird enger definiert
und schärfer formuliert; die Voraussetzungen sind härter,
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
16404
als sie es je vorher waren. Die Biopatent-Richtlinie hat
bereits international Auswirkungen dergestalt, dass auch
die USA davon haben wir uns bei Celera informieren
können schon keine Patente mehr auf Sequenzierungen
erteilen. Das heißt, die Biopatent-Richtlinie hat ihre ge-
wünschte Wirkung schon weitgehend erzielt in natur-
wissenschaftlicher, aber auch in ethischer Hinsicht.
Die Biopatent-Richtlinie ist das einzige internationale
Rechtsdokument, das den Eingriff in die Keimbahnen, das
Klonen von Menschen und die Kommerzialisierung von
menschlichen Embryonen für grob rechtswidrig und des-
wegen für nicht patentierbar erklärt.
Wem die Taube auf dem Dach lieber ist als der Spatz in
der Hand, der möge so enden, wie die meisten enden, die
so denken, nämlich mit nichts, weil sie alles wollen.
Ich möchte mich mit zwei kritischen Punkten ausei-
nander setzen, die ich für wichtig halte. Herr Wodarg hat
die Stellungnahme zitiert, die der Präsident der Bundes-
ärztekammer, Herr Hoppe, vorgelegt hat. Wenn ich dort
lese, dass keine Patentierung von Genen erfolgen soll,
weil sonst die Kommerzialisierung von Medizinverfahren
drohe, dann wundere ich mich über den Mund, der das
ausspricht. Aber da bin ich offensichtlich allein. Die
Kommerzialisierung von Medizinverfahren ist etwas, was
ich von Ärzten landauf, landab kenne und worüber der
Gesundheitsausschuss viel spricht.
Ein anderes, viel wichtigeres Problem betrifft das gän-
gige Schlagwort von Greenpeace, von Opus Dei und von
den Naturreligionen, das sehr einprägsam ist, sich sehr gut
lesen und aussprechen lässt: Kein Patent auf Leben! Ich
muss ganz offen sagen: Hier protestiere ich im Namen
meiner Philosophie, meiner Religion und dessen, was wir
in Art. 1 des Grundgesetzes stehen haben. Der schiere
Biologismus, der Leben mit einem Genom gleichsetzt, ist
in meinen Augen unerträglich. Wie viele Substanzen ha-
ben wir nicht schon mit Leben, mit menschlicher Spezies
gleichgesetzt: Blut, Herz, Hirn! Wir haben uns jeweils so
wie ein Kind, das das erste Mal mit dem Flugzeug fliegt
und feststellt, dass über der Wolkendecke keine Engel
sind, vom Gegenteil überzeugen müssen.
Wer eine solche Vorstellung von menschlicher Spezies
hat, die Kant nicht hatte, der sich mit der Anatomie be-
schäftigt hat, was damals, wie Sie richtig gesagt haben,
mit zur kopernikanischen Wende führte, der die mensch-
liche Spezies und ihre Würde an ihrer Berufung zur Frei-
heit deutlich gemacht hat, einer Qualität, die nicht unter
dem Messer des Chirurgen und nicht unter dem Mikro-
skop des Biochemikers zu erkennen ist, der wird sich
noch eines Besseren belehren lassen müssen. Denn einei-
ige Zwillinge das sage ich Ihnen heute voraus; wir wer-
den es nicht mehr erleben sind eines fernen Tages in al-
lem, was sie gleichmacht, kalkulierbar; aber sie sind und
bleiben nicht gleich.
Das Typische des Menschen ist, dass man ihn nicht in
seiner Substanz sieht. Wir alle haben in der Schöpfungs-
geschichte gelernt: Wir sind aus Erde gemacht. Bei jedem
Beerdigungsritual werden wir daran erinnert, dass wir wie
alles mit uns Lebende auch darin sind wir verwandt zu
Erde werden. Welche Vorstellung von Heiligkeit von Sub-
stanz! Ich habe sie nicht. Sie ist mir nicht beigebracht wor-
den. Wenn andere glauben, sie müssten sie verteidigen,
weil man herausfinden könnte, dass sich vielleicht doch
nichts Besonderes im Menschen findet, so habe ich diese
Sorge nicht. Ich protestiere im Namen meiner Ethik gegen
eine solche biologistische Vorstellung von Leben und
vom Menschen.
Ein Letztes: Ich hätte es gut gefunden, wenn wir einen
gemeinsamen Text gefunden hätten. Wir waren nahe dran,
weil das Kernstück des Mehrheitsvotums die System-
grenzen des Patentsrechts markiert und aufzeigt, wohin es
weiterentwickelt werden muss. Am Ende der Fahnen-
stange sind wir noch nicht; das sieht auch die Bundesre-
gierung so. Was wir auf internationaler Ebene weiterent-
wickeln müssen, das haben wir gemeinsam verfasst. Das
Auseinandergehen in Mehrheit und Minderheit schadet
der Sache.
Danke sehr.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Werner Lensing von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir alle kennen die
bangen Fragen, die da lauten: Wird die Umsetzung der
EU-Biopatent-Richtlinie in nationales Recht die Men-
schen gar in die Abhängigkeit von global agierenden
Wirtschaftsunternehmen führen? Oder das Gegenteil:
Wird die Nichtumsetzung der Richtlinie medizinischen
Fortschritt vereiteln und vielen Kranken eine Heilung ih-
rer Leiden vorenthalten?
Meiner Ansicht nach sind beide Fragen mit einem ein-
deutigen Nein zu beantworten. Doch in diesen beiden
Fragen zeigt sich bereits beispielhaft die markante Ambi-
valenz, die zweifelsfrei mit der heutigen Beratungsthe-
matik verbunden ist.
Dabei will ich mich hier als einer, der das Minder-
heitsvotum der Enquête-Kommission mitgetragen hat,
in keiner Weise ausnehmen. Stimme ich doch auf der ei-
nen Seite durchaus mit der Stellungnahme der Mehrheit
der Enquête-Kommission darin überein, dass generell das
Recht der Patentierung im Bereich der Biotechnologie
verbesserungsfähig und auch verbesserungsnotwendig
ist. Dies gilt somit auch für die EU-Biopatent-Richtlinie.
Ich denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an
die Frage der Reichweite des Stoffschutzes und zugleich
an die Konkretisierung des Ordre Public.
Doch auf der anderen Seite werden, zumindest aus mei-
ner Sicht, mögliche Defizite der EU-Biopatent-Richtlinie so
stark betont, dass mit deren Umsetzung eine nicht verant-
wortbare Unterordnung der Menschheit unter wirtschaftli-
che Interessen nahezu vorprogrammiert zu sein scheint.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Margot von Renesse
16405
Natürlich kann ich Misstrauen und Sorgen, die sich in
der plakativen Forderung Kein Patent auf Leben mani-
festieren, wirklich bestens nachvollziehen. Ich denke aber,
diese Vorbehalte sind ich will es mir nicht zu einfach ma-
chen, will es aber doch sagen unter anderem durch die
Komplexität der infrage stehenden Materie bedingt.
Es wird vielfach wie ich meine, irrtümlich der Ein-
druck vermittelt, mit der Umsetzung der EU-Biopatent-
Richtlinie drohe die Gefahr, das gesamte deutsche Patent-
recht auf den Kopf zu stellen. Doch nicht von ungefähr
wurde diese Interpretation in der in dem Teilbericht er-
wähnten öffentlichen Anhörung von fast allen Patent-
rechtsexperten zurückgewiesen.
Deutlich wird dies am Hauptbeispiel, dem Stoffschutz,
der, wie wir wissen, die Reichweite des Patentschutzes
bestimmt. Dieser im Teilbericht konkretisierte und kriti-
sierte Stoffschutz ist keine Erfindung der EU-Biopatent-
Richtlinie, sondern Ausdruck unseres seit über 20 Jahren
auch im Bereich der Biotechnologie angewandten deut-
schen Patentrechts.
Auch schließt bereits das gültige deutsche Patentrecht
beispielsweise Nukleinsäuren oder Proteine, die in der
Natur vorkommen, vom Patentschutz nicht aus, solange
nur deren Funktion und gewerbliche Anwendung be-
schrieben werden.
An dieser Stelle komme ich zu den Fragen, die für mich
sehr wichtig sind und deren Behandlung mir eine Mit-
zeichnung des Mehrheitsvotums so schwer gemacht hat.
Wer über die Umsetzung der EU-Biopatent-Richtlinie
bzw. über eine Verbesserung des Patentrechts nach-
denkt, sollte folgende vier Punkte beachten:
Erstens. Im Bereich der Biotechnologie hat das Patent-
recht ebenfalls uneingeschränkte Berechtigung. Auch hier
müssen erfinderische Leistungen belohnt und dadurch das
Interesse an Forschung bewahrt werden.
Zweitens. Dass wirtschaftliche Interessen hierbei eine
Rolle spielen, ist grundsätzlich doch nicht verwerflich.
Wirtschaftliche Interessen sind nicht per se illegitim, son-
dern, wenn auch nicht in allen Fällen, der Motor unserer
sozialen Marktwirtschaft.
Dies gilt nicht zuletzt auch für junge Start-up-Unter-
nehmen, deren wesentliches so genanntes Betriebskapital
oftmals gerade die Patente sind.
Drittens. Eine objektive Aufbereitung muss alle Seiten
und alle Argumente berücksichtigen. Nicht genehme In-
teressen dürfen nicht von vornherein diskreditiert oder
kurzerhand ausgeblendet werden.
Viertens. Schon gar nicht dürfen Teile der Realität be-
wusst unbeachtet bleiben. So gehört zur Realität, dass un-
ser deutsches Patentrecht einen umfassenden Stoffschutz
seit langem kennt und dass es im Bereich der Biotechno-
logie in weiten Teilen nicht durch gesetzliche Normen
konkretisiert ist. Letzteres betrifft nicht nur die Abgren-
zung zwischen Entdeckung und Erfindung, sondern bei-
spielsweise ebenfalls den Ordre Public.
Gewiss, meine Damen und Herren, die EU-Biopatent-
Richtlinie kann nicht als der Weisheit letzter Schluss
angesehen werden; aber sie ist zumindest in Teilberei-
chen dennoch durchaus geeignet, notwendige Konkreti-
sierungen zu erwirken. Wer hingegen glaubt, mit der Ver-
hinderung der Umsetzung dieser EU-Biopatent-Richtlinie
in nationales Recht alle Probleme lösen zu können, der
dürfte sich irren. Zudem ist ein nationales Patentrecht
ohne internationalen Bezug sicherlich wenig effektiv.
Nicht zuletzt deswegen muss das deutsche Patentrecht
im Zusammenhang mit internationalen Vereinbarungen
wie dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte
der Rechte des geistigen Eigentums wie von Ihnen, Herr
Kollege Wodarg, schon angemerkt gesehen werden, die
natürlich auch für Deutschland bindend sind.
Im Einklang mit vielen Patent- und Europarechtsexper-
ten in unserem Lande gehe ich im Übrigen von einer recht-
lichen Verpflichtung zur Umsetzung dieser Richtlinie des-
wegen aus, weil Deutschland keine Nichtigkeitsklage
erhoben hat und selbst der Widerspruch der Niederlande und
Italiens bekanntlich keine aufschiebende Wirkung hat.
Im Rahmen der abschließenden Gesamtbewertung
erlaube ich mir zum weiteren Umgang mit der EU-Bio-
patent-Richtlinie folgende drei Anmerkungen:
Erstens. Da einer Umsetzung der EU-Biopatent-Richtli-
nie in nationales Recht angesichts des geltenden deutschen
Patentrechts keine grundsätzlichen Bedenken entgegenste-
hen, sollten mögliche Vorteile der EU-Biopatent-Richtlinie
nicht übersehen werden.
Zweitens. Gleichwohl ist bei der Umsetzung den auch
von mir nicht zu leugnenden berechtigten Bedenken un-
ter Ausnutzung der dem nationalen Gesetzgeber verblie-
benen Spielräume auf jeden Fall Rechnung zu tragen.
Drittens. Einwände, denen im Rahmen der Umsetzung
in nationales Recht nicht abgeholfen werden kann, müs-
sen gegebenenfalls durch eine Fortentwicklung des Pa-
tentrechts auf internationaler Ebene das betone ich
hier Berücksichtigung finden. So wäre nicht zuletzt eine
Überprüfung der Notwendigkeit des Stoffschutzes auf
EU-Ebene aus meiner Sicht durchaus zu begrüßen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Knoche vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Werner Lensing
16406
Wir haben wenig Debattenzeit. Ich bin mir sicher, es wer-
den noch viele flammende Reden gegen biologistische
Fundamentalisten gehalten werden, die jenseits der Prinzi-
pien und der Philosophie der Aufklärung angesiedelt wer-
den, doch die Mitglieder der Enquête-Kommission wären
die falschen Adressaten für derartige Unterstellungen.
Wir haben mit großer Verantwortung und eindringli-
cher Tiefe die Fragen der Moderne behandelt und einen
redlichen, aufrichtigen, klugen Versuch unternommen,
Antworten für das Parlament zu geben, wie mit diesen Fra-
gen umzugehen ist. Ich danke insbesondere Ihnen, Herr
Kollege Scheu, für Ihre Rede. Sie stellt dar, mit welchem
Verantwortungsbewusstsein wir uns damit befasst haben.
In der Tat: Sind die Gene die letzte zu kommerzialisie-
rende Ressource dieses Jahrhunderts? Das Lebendige ent-
hält die Ideen der Evolution. Die Biotechnologie greift auf
die intrinsische Kraft des Lebendigen zurück, sie erfindet
sie nicht. Auch deshalb sind die Phänomene des Lebendi-
gen den engen Regeln des Stoffpatents nicht zugänglich
und darum haben wir uns zu kümmern, denn das sind die
Vorgaben der europäischen Patentierungsrichtlinien.
Jegliche Form der Genpatentierung stellt eine Ent-
eignung des menschlichen Genoms dar. Es steht der
Menschheit nicht zu, gewerbliche Eigentumsrechte an
Genen und Gensequenzen zu vergeben. Die Entdeckun-
gen von Gensequenzen sind nun einmal keine Erfindun-
gen. Ihre Wirkungsmechanismen und Funktionen sind da,
waren da, auch wenn sie vorher nicht darstellbar waren.
Die Tatsache, dass sie nunmehr abbildbar geworden sind,
bedeutet nicht, dass das, was uns zu handhaben zugäng-
lich geworden ist, zugleich auch Gegenstand einer Erfin-
dung selbst ist. Diese Unterscheidung muss man machen.
Neueste Ergebnisse der Humangenomforschung zei-
gen uns: Die Funktionsweise von Gen, Gensequenz und
Protein ist noch längst nicht bekannt. Es ist mehr darüber
bekannt, dass sie Träger von Informationen sind.
Herr Präsident Winnacker hat im März dieses Jahres
erklärt, dass er es für erforderlich hält, lediglich Prozes-
spatente zu vergeben. Die Enquête-Kommission emp-
fiehlt, nur Verfahrenspatente zum Gegenstand der patent-
rechtlichen Regelung zu machen.
In der Wissenschaftsgemeinschaft wächst die Erkennt-
nis, dass die EU-Richtlinie nicht mehr dem Stand des Wis-
sens folgt.
Wir dürfen keine Gesetze verabschieden, die auf ein
längst überholtes Wissen zurückgreifen und dieses gar
festschreiben würden. Das wäre in der Tat innovations-
hemmend, gar forschungsfeindlich.
Frau Kol-
legin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Scheu?
Frau Kollegin
Knoche, die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-
Volhard hat angesichts der neuen biologischen Erkennt-
nisse geäußert: Vielleicht kann man zugespitzt formu-
liert bei keinem Gen, weder in der Fliege noch im Men-
schen, genau voraussagen, was es alles beeinflusst und
welche Funktion es hat. Ist Ihnen diese Äußerung be-
kannt?
Ich
bin sehr froh, Herr Scheu, dass Sie darauf verweisen. Frau
Professor Dr. Nüsslein-Volhard, ist wie wir alle wissen
Nobelpreisträgerin und hat wegweisende Forschungen
durchgeführt. Die Phänomene des Lebendigen, wie ich
es gern beschreibe, sind uns in ihren Wirkungsmechanis-
men heute nicht vollständig erklärbar. Das Wesen des Le-
bendigen bleibt ein Geheimnis. Wenn renommierte For-
scherinnen wie sie uns das öffentlich mitteilen, sollten wir
als Politikerinnen und Politiker das zumindest zur Kennt-
nis nehmen und daran denken, dass wir Gewissheit darü-
ber haben, dass wir nicht mehr wissen und in Gesetzes-
form gießen können, als Wissenschaftlerinnen wissen
oder was sie zugeben, noch nicht zu wissen. Ich glaube,
das ist eine sehr wichtige Mitteilung. Ich danke Ihnen für
diese Frage.
Aber sehr wesentlich ist, dass damit, dass wir keine
Stoffpatente erteilen, eine mögliche Nutzbarmachung für
medizinische und pharmakologische Entwicklungen nicht
verhindert wird, ganz im Gegenteil. Auch Herr Professor
Dr. Hoppe sagte heute, dass wir uns Fortschritte in der
Medizin selbst verwehren würden, würden wir den Nor-
men der Richtlinie folgen.
Im Übrigen hat sich in der Zwischenzeit durch eine et-
was nüchternere Betrachtung herausgestellt, dass wir hin-
sichtlich der europäischen Richtlinie überhaupt nicht un-
ter einem Umsetzungszwang stehen. Über die Argumente
der Niederlande, Frankreichs und Italiens ist in der Sache
noch nicht entschieden. Aber sehr wichtig ist mir, darauf
hinzuweisen, dass wir als Enquête-Kommission mit den
Ergebnissen, die wir dem Parlament heute vorstellen, in
der Tat ein großes Bemühen zeigen, Erkenntnisse über
eine mögliche medizinische Nutzung zugänglich zu ma-
chen, Forschung aber nicht zu behindern. Ich meine, das
ist eine wesentliche Voraussetzung, um zu erkennen, dass
wir dann, wenn wir Gesetze machen, zukunftsfähige Ge-
setze zu machen haben. Deshalb haben die Regierung und
die Koalition bereits beschlossen, die EU-Richtlinie als
solche einer Revision zu unterwerfen. Es wird sicher nicht
mehr lange dauern, bis man erkennt, dass die Enquête-
Kommission mit ihrem Bericht zukunftsweisende Emp-
fehlungen gegeben hat. Ich hoffe, wir werden in den
nächsten Debatten darauf positiv Bezug nehmen können.
Als letz-
ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kol-
lege René Röspel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich möchte einen Punkt des Teilberichts, den wir nur
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Monika Knoche
16407
sehr kurz angesprochen haben, herausgreifen, und zwar
die Frage: Welchen Einfluss haben Patente auf die For-
schung? Im Wesentlichen werden dazu zwei Antworten
genannt. Die erste ist: Patente fördern Forschung. Die
zweite ist: Patente blockieren oder behindern Forschung.
Ich bin der tiefen Überzeugung, dass für die meisten
technischen Gebiete die erste Antwort richtig ist und gilt,
dass Patente Forschung fördern, weil sie Anreiz und Be-
lohnung bieten und ihr Inhalt in der Regel begrenzbar ist.
Aber ich bin auch der Überzeugung, dass das für mindes-
tens einen Bereich, nämlich im Bereich der Patentierung
von Genen nicht gilt. Für ihn gilt die zweite Antwort.
Ich bin der Überzeugung und die wächst zunehmend in
mir , dass Patente dort Forschung behindern und blockie-
ren, weil Gene eine besondere Bedeutung haben.
Warum blockieren und behindern Patente die For-
schung? Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus der Praxis nen-
nen. Stellen Sie sich vor, da ist ein Forscherteam, das in
mühevoller Arbeit mehrere Jahre lang eine gesunde Zelle
und eine Krebszelle vergleicht und das Gen findet, das
möglicherweise die Krankheit hervorruft. Sie geben dies
in einen Computer ein und stellen fest: Die Sequenz ist be-
reits bekannt. Möglicherweise gibt es sogar jemanden, der
darauf bereits ein Patent angemeldet hat. Für diese
Gruppe stellt sich dann die Frage: Lohnt sich die weitere
Arbeit überhaupt oder tangieren wir Patentrechte? Kön-
nen wir an diesem Gen weiter forschen?
Herr Kol-
lege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Kortmann?
Wenn das nicht von meiner Re-
dezeit abgeht, ja.
Nein, das
geht nicht davon ab.
Gut.
Bitte
schön, Frau Kortmann.
Kollege Röspel, ich fasse
meine Frage kurz: Gibt es in Deutschland keine For-
schungsfreiheit?
Das ist eine gute Frage. In der Tat
ist Forschungsfreiheit grundgesetzlich garantiert. Wir ha-
ben im Mai letzten Jahres vom Bundesverfassungsgericht
bestätigt bekommen, dass es Forschungsfreiheit gibt.
Gene, die patentiert sind, sind nicht ausgenommen. Wer an
ihnen forschen will, darf dies tun.
Aber das ist das will ich betonen; das zeigt auch das
Beispiel, was ich im Anschluss bringen will die juristi-
sche Sichtweise. Es gibt aber noch eine andere Sicht-
weise. Die Forscher, die ich eben genannt habe, werden
sich überlegen müssen, wie sie nun angesichts des Patents
auf diesem entdeckten Gen weitermachen.
Wenn sie ihre Forschungsergebnisse irgendwann kom-
merziell nutzen wollen, dann haben sie zwei Wege, die sie
beschreiten können: Der erste geht über die Beantragung
einer Lizenz. Der zweite Weg geht darüber, dieses Patent
aus der Welt zu klagen. Beide Wege erfordern aber in
der Praxis viel Kraft, Zeit, Nerven und Geld. Die großen
Unternehmen, die über eine Rechtsabteilung, Patentan-
wälte und viel Geld verfügen, können gelassen bleiben,
wenn diese Wege beschritten werden. Aber ich frage:
Welche Chance hat in der Praxis diese kleine Forscher-
gruppe angesichts einer möglicherweise mehrere Jahre
dauernden Klage? In der Praxis sieht die Freiheit der For-
schung eben anders aus.
Ich will noch ein anderes Beispiel erwähnen, weil dies
auch von Herrn Winnacker in letzter Zeit häufig zitiert wird.
Die Fra-
gen sollen kurz gestellt und auch kurz beantwortet wer-
den. Was Sie machen, ist eine künstliche Verlängerung der
Redezeit.
Das nehme ich dann mit in
meine Redezeit hinein.
Mehrere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass
es ein bestimmtes Oberflächenmolekül an Zellen gibt, das
offenbar für das HI-Virus eine Funktion hat. Das heißt,
das Aidserregende Virus dockt offenbar an diesem Re-
zeptor an. Die Wissenschaftler haben diesen Vorgang be-
schrieben, das Gen identifiziert und sequenziert. Auf ein-
mal meldet sich eine amerikanische Firma und erklärt:
Das ist genau das Gen, das wir bereits patentiert haben,
CCR5. Allerdings haben die das Patent auf diesen Re-
zeptor zu einem Zeitpunkt bekommen, als sie noch gar
nicht wussten, wofür er dient. Diese Firma klagt jetzt auf
Zahlung von Lizenzgebühren bzw. Wahrung ihres Patent-
rechts. Das heißt, diejenigen, die diesen Rezeptor für die
Aids-Forschung entdeckt haben, stehen vor der Wahl, ob
sie ein Klageverfahren riskieren oder Lizenzgebühren
zahlen wollen.
Auch das ist eine Einschränkung von Forschungsfreiheit
in der Realität.
Die Wissenschaft das ist meine Erkenntnis in der letz-
ten Zeit wird gegenüber Genpatenten immer kritischer. Ich
darf Professor Ganten zitieren, der im Januar als Direktor
des Berliner Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Me-
dizin auf einem Ärzteforum der Bundesärztekammer sagte:
Die Vergabe von Patenten für einzelne menschliche
Erbinformationen behindert die Genforschung. Statt
einer Patentierung sollten diese Gensequenzen für eine
weitere Erforschung frei verfügbar gehalten werden.
Weiter sagte er: Die zunehmende Kommerzialisierung
der Genforschung darf die allgemeine Forschung nicht
behindern, indem wichtige Informationen durch Patente
zurückgehalten werden.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
René Röspel
16408
Was meint Herr Ganten, wenn er sagt, dass wichtige In-
formationen zurückgehalten werden? Bisher war es das
Interesse von Forschern, ihre Ergebnisse möglichst
schnell zu publizieren. Das haben sie auf Kongressen
durch Reden oder Poster oder in einer möglichst angese-
henen Zeitschrift getan.
Jetzt das stelle ich fest wächst der Trend zur Paten-
tierung von Forschungsergebnissen. Notwendiges Krite-
rium das haben schon Herr Wodarg und andere gesagt
für ein Patent ist Neuheit. Wenn Sie Neuheit haben wol-
len, dann heißt das, dass zukünftig Forschung für mindes-
tens ein oder zwei Jahre im stillen Kämmerlein bzw. La-
bor stattfindet, bevor womöglich mit einem Patentantrag
an die Öffentlichkeit getreten werden kann; es sei denn,
wir finden eine vernünftige grace period, wie das Herr
Schmidt-Jortzig erwähnte.
Es wird mir immer deutlicher: Patente auf Gene behin-
dern die Forschung. Ich will mit einem Zitat des Präsi-
denten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, also ei-
ner nicht unbedeutenden Organisation, der zudem ein
weltweit anerkannter Genforscher ist, nämlich Professor
Winnacker, enden.
Er sagte am 8. Januar dieses Jahres:
Gene sind in der Tat keine Erfindungen, sondern
Entdeckungen und können daher nicht patentiert
werden.
Ich
schließe die Aussprache. Wir haben damit den Zwi-
schenbericht der Enquête-Kommission Recht und Ethik
der modernen Medizin auf Drucksache 14/5157 zu dem
Thema Schutz des geistigen Eigentums in der Biotech-
nologie zur Kenntnis genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Sabine Jünger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufhebung der nationalsozialistischen Un-
rechtsurteile gegen Deserteure
Drucksache 14/5612
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich gebe bekannt, dass die Kollegin Margot von
Renesse und die Kollegen Bernd Wilz und Jörg van Essen
ihre Reden zu Protokoll geben wollen.1) Sind Sie damit
einverstanden? Das ist der Fall. Dann haben wir noch
zwei Redner.
Ich eröffne die Aussprache. Für den Antragsteller er-
hält zunächst die Abgeordnete Evelyn Kenzler das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es in unserem
Antrag? Im Zweiten Weltkrieg, der von deutscher Seite
darüber sind wir uns wohl alle einig ein ungeheuerli-
ches Verbrechen war, haben Zehntausende deutsche Sol-
daten nicht mehr mitgemacht. Sie haben den Kriegsdienst
für das Hitler-Regime verweigert und sind zum Gegner
übergelaufen, wie manche verächtlich sagen, oder, wie
ich sage: unter dem Risiko, ihr Leben zu verlieren, von der
falschen zur richtigen Seite gewechselt.
Eine solche Tat war subjektiv mutig, war objektiv gegen
das in der Menschheitsgeschichte schwerste Verbrechen
gerichtet und ist nach meiner Meinung aller Ehren wert.
Die Beweggründe der Soldaten mögen unterschiedlich
gewesen sein. Aber haben wir das Recht, uns heute hierü-
ber noch ein Urteil zu erlauben?
Die Militärjustiz der Nazis hat 30 000 Todesurteile ge-
gen Deserteure verhängt. Mehr als 20 000 davon wurden
vollstreckt. Mehrere Zehntausend Deserteure wurden zu
Zuchthausstrafen verurteilt oder in Konzentrationslager
oder Strafbataillone gesteckt. Die meisten sind dort ermor-
det worden. Heute gibt es nur noch circa 200 Überlebende.
Ich bin erst 20 Jahre nach der Befreiung vom Faschis-
mus geboren worden; wir haben gerade vor zwei Tagen
den 56. Jahrestag begangen. Vielleicht verstehe ich des-
halb umso eher die Enttäuschung der Betroffenen über die
gegenwärtige Regelung, ihren Protest, ihre Forderung
nach Gleichbehandlung mit anderen Opfergruppen
und ihre Ablehnung irgendwelcher Überprüfungen. Ich
glaube, dass es der Deutsche Bundestag den Opfern der
nationalsozialistischen Militärjustiz schuldig ist, die Un-
rechtsurteile per Gesetz aufzuheben,
ohne irgendeine rechtliche Grauzone zu hinterlassen oder
Entscheidungen im Einzelfall erforderlich zu machen,
und zwar auch, wenn zu erwarten ist, dass diese Ent-
scheidungen positiv ausfallen würden.
Die Betroffenen halten die geltenden Regelungen zu
Recht für diskriminierend. Ihre und ihrer toten Kamera-
den Rehabilitierung ist für den Bundestag in meinen Au-
gen ein Gebot des Anstandes, vor dem juristische Fines-
sen unangemessen erscheinen.
Der Vorsitzende der Bundesvereinigung der Opfer
der NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, selbst ein zum
Tode Verurteilter und ein unermüdlicher Streiter für Ge-
rechtigkeit gegenüber den Toten und den wenigen Leben-
den, hat sich an meine Fraktion mit der Bitte gewandt,
dieses Gebot im Bundestag zur Sprache zu bringen. Dem
sind wir mit unserem Antrag gefolgt. Wer oder was sollte
uns davon abhalten, mehr als ein halbes Jahrhundert
nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition den Opfern der
Militärjustiz Gerechtigkeit und Gleichbehandlung mit
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
René Röspel
16409
1) Anlage 4
anderen Opfern zuteil werden zu lassen und sie eindeutig
und ohne Vorbehalt zu rehabilitieren?
Unser Antrag greift einen Vorschlag der Fraktion der
SPD aus der 13. Wahlperiode wieder auf. Damit wollen
wir die SPD keinesfalls vorführen, sondern lediglich
den Überlegungsprozess etwas beschleunigen. Wir gehen
nur von der doch wohl berechtigten Annahme aus, dass
dieser Vorschlag damals genau überlegt war, juristisch
einwandfrei ist, keinem so langwierigen Prüfungsbedarf
unterliegt und heute im Bundestag mehrheitsfähig ist.
Ich hebe das damalige Engagement von Frau Däubler-
Gmelin und Herrn Volker Beck hervor und bitte die Ko-
alitionsfraktionen und die Regierung, ihre zögerliche Hal-
tung aufzugeben und zu bedenken, dass jeder Tag weiterer
Prüfung der Rechtslage eine moralische Tortur für die im-
mer weniger werdenden Opfer wird. Ich darf bei dieser
Gelegenheit auch an die Beiträge meiner eigenen Kolle-
gen aus der 13. Wahlperiode erinnern, nämlich an den
Beitrag des in der Gefangenschaft zum Antifaschisten ge-
wordenen Heinrich Graf Einsiedel, an den des ehemaligen
Deserteurs und Widerstandskämpfers Gerhard Zwerenz
sowie an den meines Vorgängers als rechtspolitischer
Sprecher der PDS, Uwe-Jens Heuer.
Die Wehrmachtsdeserteure verlangen Gerechtigkeit.
Die Staatskasse wird durch ihre Forderung nicht belastet.
Eine wohl verkraftbare finanzielle Belastung würde durch
die Verwirklichung von Teil III Ziffer 3 unseres Antrages
im Hinblick auf die erweiterten Zahlungen an Ehegatten
und Kinder von Wehrmachtsdeserteuren entstehen.
Es ist nach meinem Empfinden nicht vertretbar, dass zu
Beginn des neuen Jahrtausends immer noch nicht alles
historisch, politisch-moralisch und juristisch Notwendige
zur Wiedergutmachung von faschistischen Verbrechen
geschehen ist. Unser Antrag soll als ein Beitrag zur Her-
stellung von Gerechtigkeit verstanden werden.
Danke.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Volker Beck vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Der Antrag der PDS gibt uns
erneut Gelegenheit, über das Thema der Rehabilitierung
der Wehrmachtsdeserteure und der anderen Opfer der NS-
Militärjustiz zu debattieren. Eine konkrete Notwendigkeit
im parlamentarischen Sinne dafür gibt es nicht, weil der
Deutsche Bundestag aufgrund eines Antrags der Koali-
tion im Dezember letzten Jahres einstimmig beschlossen
hat, dass die durch das NS-Aufhebungsgesetz geregelte
Problematik der Opfer der Militärjustiz erneut Gegen-
stand einer Gesetzgebungsinitiative sein soll. Ich hoffe,
wir bleiben bei dieser Frage auch nach ideologischen Dis-
kussionen der Vergangenheit zusammen und werden das
Gesetz, das die Bundesregierung wie sie uns gesagt
hat noch in diesem Jahr einbringen will, gemeinsam
verabschieden. Ich kann nur sagen: Die Koalition wird die
Bundesregierung darin unterstützen, dieses Gesetz mög-
lichst bald einzubringen, da es wichtig ist, dass möglichst
viele der wenigen Betroffenen, die noch leben, erleben,
dass ihnen die Würde und die Ehre ohne Zweifel
zurückgegeben wird.
Es geht bei der Problematik der Deserteure nicht um
die Frage, ob mutige Männer zur richtigen Seite überge-
laufen sind. Es geht hier nicht um Mut. Es geht bei der
Frage nach der Rehabilitierung letztendlich darum: Hatte
das Dritte Reich, wie jeder andere Staat, ein Recht zur
Verurteilung von Deserteuren wir billigen das in unse-
rer Rechtsordnung durchaus zu oder war dieser Staat,
weil er ein Unrechtstaat war, weil er einen verbrecheri-
schen Angriffskrieg geführt hat, jeder Legitimität, von
seinen Bürgern Gehorsam zu verlangen, enthoben? Wir
müssen nach der Rechtsgrundlage, nach der ethischen
Grundlage für die Verurteilung von Deserteuren, ob sie
aus Feigheit, Angst oder aus Mut, politischer Überzeu-
gung und Widerstandsgeist beides hat es gegeben von
der Front entflohen sind, fragen. Ich glaube, in beiden Fäl-
len hatte das Dritte Reich kein Recht, von seinen Bürge-
rinnen und Bürgern Gehorsam zu verlangen, und hatte
deshalb auch keinen Strafanspruch gegen sie.
Das ist der entscheidende Ansatz, um beurteilen zu kön-
nen, welche Urteile aufgehoben werden müssen. Das sind
wahrscheinlich auch die Fragen, die sich die Bundesregie-
rung gegenwärtig stellt. Die Entscheidung darüber, welche
Paragraphen und welche Verordnungen in die Anlage zu § 2
des NS-Aufhebungsgesetzes aufgenommen werden, muss
danach fallen, aus welcher Perspektive man die Fragestel-
lung nach der Rehabilitierung der Deserteure letztendlich
stellt. Ich glaube, der richtige Ansatz muss lauten: Wo hatte
das Dritte Reich das Recht, Strafen auszusprechen?
Nach meiner Meinung hatte die NS-Militärjustiz nie-
mals das Recht, Strafen wegen Desertion, Fahnenflucht,
Kriegsdienstverweigerung oder anderer derartiger Verge-
hen zu verhängen. Selbstverständlich das haben wir im-
mer gesagt; das sagt auch der Bundesverband der Opfer
der NS-Militärjustiz war es rechtmäßig, wenn jemand
im Dritten Reich wegen Diebstahl oder ähnlicher Delikte
zu einer angemessenen Strafe verurteilt worden ist, aber
eben nicht wegen der eben genannten Tatbestände. Des-
halb sollten wir dafür sorgen, dass alle Todesurteile und
alle einschlägigen Verurteilungen wegen dieser Tat-
bestände aus der NS-Zeit aufgehoben werden.
Ich teile auch die im Antrag der PDS-Fraktion zum
Ausdruck kommende moralische Empörung darüber, wie
mit den Witwen und den Angehörigen der erschossenen
Deserteure umgegangen worden ist. Ich habe es nie ver-
standen, dass die entsprechende Richtlinie ich möchte
ganz offen sagen, dass wir uns darum bisher leider ver-
geblich bemüht haben nicht schon längst verändert wor-
den ist. Ich habe nie verstanden, wie es die Bundesrepu-
blik Deutschland erträgt, dass ein von Hitlers Schergen
erschossener Deserteur dem Finanzminister im Nachhi-
nein billiger kommt als ein Deserteur, der bis zum Zeit-
punkt des In-Kraft-Tretens der Richtlinie überlebt hat.
Worin hier die Logik besteht, war mir immer unklar.
Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode 167. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2001
Dr. Evelyn Kenzler
16410
Wer die Geschichte der Bundesrepublik nach 1945
kennt, weiß, dass die Witwen von Deserteuren bis 1991
keinen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung aus dem
Bundesversorgungsgesetz hatten und dass sie nicht nur
sozialrechtlich schlechtgestellt waren, sondern auch gesell-
schaftlich ausgegrenzt waren, weil sie als Angehörige von
Verrätern, also von Menschen, die Schande über ihre Fami-
lien gebracht haben, galten. Auch darüber sollten wir noch
einmal diskutieren. Vielleicht müssen wir den entsprechen-
den Erlass, der ohnehin ausgelaufen ist, nicht verlängern.
Vielleicht können wir im Kontext des Projekts Bundesstif-
tung für die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus,
dessen Realisierung sich die Koalition vorgenommen hat
ich möchte offen bekennen, dass dieses Projekt noch unter
einem gewissen Finanzvorbehalt steht , über die Frage, wie
mit den Witwen von Deserteuren umgegangen wird, erneut
diskutieren und wenigstens eine Geste zustande bringen. Ich
wünsche mir, dass dazu alle demokratischen Parteien einen
konstruktiven Beitrag leisten und Verantwortung für unsere
gemeinsame Geschichte übernehmen.
Vielen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5612 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur 20. Änderung
der Richtlinie 76/769/EWG des Rates zur
Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvor-
schriften der Mitgliedstaaten für Beschränkun-
gen des Inverkehrbringens und der Verwen-
dung gewisser gefährlicher Stoffe und
Zubereitungen
KOM 260 endg.; Ratsdok. 09773/00
Drucksachen 14/4170 Nr. 2.70, 14/5374
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Christian Ruck
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Auch hierzu sollen alle Reden zu Protokoll gegeben
werden, nämlich die der Kolleginnen Dr. Carola Reimann
von der SPD-Fraktion, Marie-Luise Dött von der
CDU/CSU-Fraktion, Birgit Homburger von der F.D.P.-
Fraktion und Eva Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion
sowie des Kollegen Winfried Hermann von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.1) Sind Sie damit einverstan-
den? Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung,
Drucksache 14/5374, ab. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis des Vorschlags für eine Richtlinie des Europä-
ischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richt-
linie 76/769/EWG eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt da-
gegen? Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS
gegen die Stimmen der CDU/CSU und bei Enthaltung der
F.D.P. angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Richtlinie 2000/52/EG der Kommission
vom 26. Juli 2000 zur Änderung der Richtlinie
80/723/EWG über die Transparenz der finanziel-
len Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten
Drucksache 14/5956
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Auch in diesem Fall ist vorgesehen, dass alle Reden zu
Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden
der Kollegen Lothar Binding, SPD, Hartmut Schauerte,
CDU/CSU, Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen,
Rainer Funke, F.D.P., und Heidemarie Ehlert, PDS.2) Sind
Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 14/5956 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall.
Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 11. Mai 2001, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.